Anarchisten!: Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen - zur kollektiven Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz, 1885-1914 [1. Aufl.] 9783839429280

Swiss anarchist newspapers at the dawn of the 20(th) century document the construction of collective identity by a perse

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German Pages 568 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Zeitraum
1.3 Aufbau der Arbeit
1.4 Forschungsstand
1.5 Methode
1.6 Quellen
1.6.1 Quellenbasis
1.6.2 Quellenkritik
1.6.3 Formale Quellenkritik
2. Von Identität und IdentitäterInnen
2.1 Probleme/Generelles
2.2 Identitätsforschung
2.2.1 Debatte
2.2.2 Rekapitulation
2.3 Kollektive Identität in dieser Arbeit
3. Von Anarchismus und AnarchistInnen
3.1 Anarchismus
3.1.1 Probleme
3.1.2 Kurze Geschichte des Anarchismus
3.1.3 Kurzgeschichte des Anarchismus-Begriffs
3.2 Der Anarchismus und die Schweiz
3.3 Die Schweiz und der Anarchismus
4. Von Vorläufern und Erleuchteten AnarchistInnen und Anarchismus in der anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914
4.1 Einleitende Worte
4.2 Deutschsprachige Zeitungen
4.2.1 Freie Gesellschaft
4.2.2 Junge Schweiz
4.2.3 Der Weckruf
4.2.4 Revolutionäre Bibliothek
4.2.5 Der Vorposten
4.2.6 Polis
4.2.7 Die Vorkämpferin
4.2.8 Der Sozialist
4.2.9 Arbeiter-Wille
4.2.10 Jahrbuch der Freien Generation
4.3 Zusammenfassung deutschsprachiger anarchistischer Zeitungen
4.4 Französischsprachige Zeitungen
4.4.1 Le Révolté
4.4.2 La Tête de Mort
4.4.3 L’Égalitaire
4.4.4 La Critique Sociale
4.4.5 L’Avenir
4.4.6 Le Réveil
4.4.7 L’Émancipation
4.4.8 L’action Anarchiste
4.4.9 La Voix du Peuple
4.4.10 L’Almanach Du Travailleur
4.4.11 L’union Syndicale
4.4.12 Le Boycotteur
4.4.13 L’exploitée
4.4.14 Bulletin de L’École Ferrer
4.5 Zusammenfassung französischsprachiger anarchistischer Zeitungen
5. Von Läusen und Unkraut AnarchistInnen und Anarchismus in der nicht-anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914
5.1 Einleitende Worte
5.2 Deutschsprachige Zeitungen
5.2.1 Neue Zürcher Zeitung
5.2.2 Arbeiterstimme/Volksrecht
5.2.3 Der Neue Postillon
5.2.4 Der Nebelspalter
5.3 Zusammenfassung deutschsprachiger nicht-anarchistischer Zeitungen
5.4 Französischsprachige Zeitungen
5.4.1 Gazette de Lausann
5.4.2 Le Peuple de Genève/Le Peuple Suisse
5.4.3 La Tribune de Genève
5.5 Zusammenfassung französischsprachiger nicht-anarchistischer Zeitungen
6. Schlusswort
6.1 Ergebnisse, Interpretation und Fazit
6.2 Bewertung und Ausblick
Abkürzungsverzeichnis
Quellen
Ungedruckte Quellen
Gedruckte Quellen
Literatur
Literatur mit Quellencharakter
Nachschlagewerke
Bibliografien
Darstellungen
Dank | 563
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Anarchisten!: Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen - zur kollektiven Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz, 1885-1914 [1. Aufl.]
 9783839429280

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Nino Kühnis Anarchisten!

Histoire | Band 76

Nino Kühnis (1978-2013) hat Geschichte, Informatik und Nordische Philologie in Zürich und Stockholm studiert und 2012 an der Universität Zürich seine Doktorarbeit abgeschlossen. Er war Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Zürich, Comic- und Musikverleger, Aktivist, Musiker, Grafiker, freier Journalist und Velomechaniker. Sein geplantes Forschungsprojekt »Freiräume: Mehr als freie Räume – Form, Formation und Transformation von materiellen und immateriellen Freiräumen in der Schweiz 1917-1987« bleibt Fragment. Zu seinen Forschungs- und Publikationsschwerpunkten zählten Anarchismus, soziale Bewegungen, Identität(en), Konsumkultur und Freiräume.

Nino Kühnis

Anarchisten! Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen – zur kollektiven Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz, 1885–1914

Gefördert vom Schweizerisches Sozialarchiv: Forschung Ellen Rifkin Hill. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophisches Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2012 auf Antrag von Prof. Dr. Béatrice Ziegler, Prof. Dr. Thomas Hengartner und Prof. Dr. Christian Koller als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Karikatur aus dem Nebelspalter vom 3.12.1898, Jg. 24, Nr. 48, S. 4. Abdruck mit freundlicher Genehmigung durch die Nebelspalter-Redaktion. Lektorat & Übersetzung: Inga Frohn Satz: Justine Haida, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2928-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2928-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 1. Einleitung | 11 1.1 Fragestellung | 14 1.2 Zeitraum | 15 1.3 Auf bau der Arbeit | 16 1.4 Forschungsstand | 17 1.5 Methode | 23 1.6 Quellen | 24 1.6.1 Quellenbasis | 24 1.6.2 Quellenkritik | 25 1.6.3 Formale Quellenkritik | 31

2. Von Identität und IdentitäterInnen | 35 2.1 Probleme/Generelles | 36 2.2 Identitätsforschung | 46 2.2.1 Debatte | 46 2.2.2 Rekapitulation | 85 2.3 Kollektive Identität in dieser Arbeit | 87

3. Von Anarchismus und AnarchistInnen | 93 3.1 Anarchismus | 93 3.1.1 Probleme | 93 3.1.2 Kurze Geschichte des Anarchismus | 95 3.1.3 Kurzgeschichte des Anarchismus-Begriffs | 125 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz | 130 3.3 Die Schweiz und der Anarchismus | 172

4. Von Vorläufern und Erleuchteten AnarchistInnen und Anarchismus in der anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914 | 191 4.1 Einleitende Worte | 191 4.2 Deutschsprachige Zeitungen | 193 4.2.1 Freie Gesellschaft | 193 4.2.2 Junge Schweiz | 199

4.2.3 Der Weckruf | 205 4.2.4 Revolutionäre Bibliothek | 213 4.2.5 Der Vorposten | 220 4.2.6 Polis | 231 4.2.7 Die Vorkämpferin | 239 4.2.8 Der Sozialist | 252 4.2.9 Arbeiter-Wille | 262 4.2.10 Jahrbuch der Freien Generation | 268 4.3 Zusammenfassung deutschsprachiger anarchistischer Zeitungen | 280 4.4 Französischsprachige Zeitungen | 289 4.4.1 Le Révolté | 289 4.4.2 La Tête de Mort | 295 4.4.3 L’Égalitaire | 297 4.4.4 La Critique Sociale | 310 4.4.5 L’Avenir | 320 4.4.6 Le Réveil | 333 4.4.7 L’Émancipation | 362 4.4.8 L’action Anarchiste | 374 4.4.9 La Voix du Peuple | 382 4.4.10 L’Almanach Du Travailleur | 409 4.4.11 L’union Syndicale | 420 4.4.12 Le Boycotteur | 427 4.4.13 L’exploitée | 434 4.4.14 Bulletin de L’École Ferrer | 443 4.5 Zusammenfassung französischsprachiger anarchistischer Zeitungen | 447

5. Von Läusen und Unkraut AnarchistInnen und Anarchismus in der nicht-anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914 | 465 5.1 Einleitende Worte | 465 5.2 Deutschsprachige Zeitungen | 466 5.2.1 Neue Zürcher Zeitung | 466 5.2.2 Arbeiterstimme/Volksrecht | 478 5.2.3 Der Neue Postillon | 484 5.2.4 Der Nebelspalter | 487 5.3 Zusammenfassung deutschsprachiger nicht-anarchistischer Zeitungen | 493 5.4 Französischsprachige Zeitungen | 501 5.4.1 Gazette de Lausann | 501 5.4.2 Le Peuple de Genève/Le Peuple Suisse | 511 5.4.3 La Tribune de Genève | 516 5.5 Zusammenfassung französischsprachiger nicht-anarchistischer Zeitungen | 525

6. Schlusswort | 535 6.1 Ergebnisse, Interpretation und Fazit | 535 6.2 Bewertung und Ausblick | 539

Abkürzungsverzeichnis | 541 Quellen | 543 Ungedruckte Quellen | 543 Gedruckte Quellen | 544

Literatur | 547 Literatur mit Quellencharakter | 547 Nachschlagewerke | 547 Bibliografien | 547 Darstellungen | 548

Dank | 563

Vorwort

Nun schon vor vielen Jahren meldete sich ein Student für die Besprechung des Themas seiner Lizentiatsarbeit, der einiges davor in einem meiner Forschungsseminare mit durchdachten und anregenden Voten aufgefallen war. Nun wollte er sich mit den anarchistischen Zeitungen und Zeitschriften beschäftigen, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in der deutschsprachigen Schweiz erschienen waren, und er wünschte sich meine Betreuung seines Vorhabens. Die deutlich spür-, aber im dann entstehenden Text nicht erkennbar lebensweltlich motivierte Untersuchung war von wissenschaftlichen und persönlichen Suchbewegungen begleitet und führte zu einem exzellenten Studienabschluss und zu meiner Aufforderung, sich die Ausdehnung der Arbeit zu einer Dissertation zu überlegen. Das vorliegende Buch dokumentiert, dass Nino Kühnis sich für die Weiterarbeit, also für die zusätzliche Untersuchung auch der französischsprachigen Publikationen und damit für die Promotion entschied und während der Ausarbeitung der Dissertation seine Leidenschaft für die Forschung erst richtig entdeckte. Er hat der wissenschaftlichen Community mit seinem Buch eine akribische und analytisch scharfe Untersuchung zu Prozessen der Selbst- und Fremddefinition am Beispiel einer politischen Bewegung hinterlassen. Forscherinnen und Forscher zu Anarchismus, zu Identitätsprozessen und zu sozialen Bewegungen werden die Arbeit mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis nehmen. Gleichzeitig steht das Buch leider für die Erinnerung an einen überaus bewussten, liebevollen und konsequenten Menschen, dessen Unfalltod für alle, die ihn gekannt haben, ein schreckliches und schmerzhaftes Ereignis bleibt. Béatrice Ziegler

1. Einleitung

»In jeder Tasche eine Bombe, angefüllt mit Dynamit, den Mordstahl in der einen, die Brandfackel in der anderen Hand – so stellt sich ein Gegner des Anarchismus in der Regel einen Anarchisten vor«1, fasste der polternde Anarcho-Kommunist Johann Most 1889 das bewegungsfremde Bild von AnarchistInnen, Anarchie und Anarchismus zusammen. Wenige Zeilen später folgte eine ausgedehnte bewegungsinterne Definition von AnarchistInnen, geprägt durch das Streben nach nichts als der »wirkliche[n] Freiheit für alle«2 . Für die vorliegende Arbeit ist nicht so sehr die Frage relevant, welche der beiden Projektionen einer anarchistischen kollektiven Identität korrekt ist – von ihrer Funktion her beurteilt sind sie es alle beide. Vielmehr interessieren Gestalt und Gestaltung dieser zugeschriebenen und bewegungseigenen kollektiven Identitäten, die exorbitante Diskrepanz zwischen ihnen, was sie trotz der augenscheinlichen Gegensätzlichkeit miteinander zu tun haben, sowie die möglichen Gründe dafür, was es mit der Schweiz des ausklingenden 19. Jahrhundert zu tun haben könnte, dass die eine Seite metaphorisch Ungeziefer und Läuse heranzog, während die andere von höheren Wesen und Erleuchteten sprach. Der Diskurs um Anarchismus als Teufelszeug respektive als erlösende Kraft fiel in der kurzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts3 in eine instabile Zeit: Wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich befand sich die Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Phase umfassender Dynamisierung.4 Der Wandel einer vornehmlich agrarwirtschaftlichen zu einer exportorientierten Ökonomie mit starken sekundären und tertiären Sektoren sorgte dabei für ein beeindruckendes Ausmaß an Reichtümern für eine kleine soziale Gruppe von Unternehmern.5 Für diese privilegierte Schicht, die zumeist aus einem heterogenen6 Bürgertum stammte, 1  |  Most, Kommunistischer Anarchismus, S. 9. 2  |  Ebd., S. 9. 3  |  Die gegensätzlichen Konzeptionen anarchistischer kollektiver Identität von AnarchistInnen und Nicht-AnarchistInnen bleiben auch in heutiger Zeit produktiv. Vgl. Kuhn, Militanz und Schwarze Blöcke, S. 73-74. 4  |  Vgl. zur Schweiz des Freisinns überblickend Maissen, Geschichte der Schweiz, S. 208237. Immer noch gültig sind Siegenthaler, Die Schweiz, S. 443-473, und Ruffieux, Schweiz des Freisinns, S. 639-730. 5  |  Siegenthaler, Die Schweiz, S. 453, Ruffieux, Schweiz des Freisinns, S. 716. 6  |  Neben einem progressiv-protestantischen, urbanistischen Bürgertum, das vornehmlich im Mittellandbogen angesiedelt war, fand sich in den Berg- und deren Randgebieten auch

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen

trug die Belle Epoque also einen mehr als passenden Namen. Eher weniger ›schön‹ dürfte das ausklingende 19. Jahrhundert der Bevölkerungsmehrheit vorgekommen sein. Nicht der Reichtum, der den Privilegierten des »heimliche[n] Imperium[s]« 7 Schweiz vorbehalten war, bestimmte ihren Alltag, sondern die Schattenseiten des strukturellen Wandels. Zunehmende Industrialisierung, massiver Bevölkerungsanstieg8, Wanderungsbewegungen in Richtung der Wachstumszentren und eine fortschreitende Urbanisierung lösten alte Bande auf und destabilisierten die Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Für das untere Ende des sozioökonomischen Gefälles in der Schweiz bedeuteten diese Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verschärft in der Gründerkrise 1875-18859 wachsende Lohnabhängigkeit10, Massenarmut und Pauperismus, Alkoholismus und eine um rund ein Drittel verringerte Lebenserwartung im Vergleich mit den Unternehmern.11 Diesen Missständen begegneten die Benachteiligten der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamisierung zumeist in Interessensgruppen verfassungskonform mit reformistischen Konzepten.12 Es gab aber auch Bewegungen, welche keine Lösung der Sozialen Frage in der symptomorientierten stetigen Amelioration sahen und sich systematisch und bewusst der Integration in den Staat verweigerten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie gerade in der institutionalisierten Herrschaft die Radix der Problematik orteten. Zu diesen Bewegungen ist die anarchistische zu zählen. Da sich AnarchistInnen in ihrem präfigurativen Selbstverständnis nicht nur inhaltlich konfrontativ zu Staat und Herrschaft positionierten, sondern gerade im ausklingenden 19. Jahrhundert auch mit Überfällen, Sabotageakten und Attentaten für ein gutes, statt nur ein besseres Leben kämpften, standen sie im Visier sämtlicher Regierungen Europas. Dank einer relativ weitgehenden Rede- und Denkfreiheit und der Gewährung politischen Asyls13 stellte die Schweiz eine Ausnahme

eine provinziell gefärbte, katholisch-konservative Bourgeoisie. Vgl. Ruffieux, Schweiz des Freisinns, S. 717. 7  |  Ruffieux, Schweiz des Freisinns, S. 716. 8 | In den Jahren zwischen 1880 und 1914 wuchs die Bevölkerung der Schweiz um 42%. Vgl. Siegenthaler, Die Schweiz, S. 450, Abb.1. 9  |  Vgl. Maissen, Geschichte der Schweiz, S. 222. 10  |  Vgl. Ruffieux, Schweiz des Freisinns, S. 716. 11  |  In Ländern mit vergleichbarem Industrialisierungsniveau, so Ruffieux, trat dieses sozioökonomische Gefälle schärfer auf. Vgl. Ruffieux, Schweiz des Freisinns, S. 717. Der von Siegenthaler angeführte Anstieg des Reallohns von Fabrikarbeitern, der sich von 1900 bis 1914 um 21 % erhöhte (vgl. Siegenthaler, Die Schweiz, S. 451-452) trügt: Aufgrund starker Inflation und hoher Mieten dürfte die Kaufkraft nicht parallel angestiegen sein. Vgl. dazu Maissen, Geschichte der Schweiz, S. 224 und S. 228. 12  |  Der in der Verfassung von 1848 und der Revision von 1874 verankerte, vergleichsweise offene direktdemokratische Reformweg, der zudem 1874 mit dem fakultativen Referendum und 1891 mit der Volksinitiative erweitert wurde, dürfte diese ›Demokratie der Gruppen‹ entscheidend begünstigt haben. Vgl für die ›Demokratie der Gruppen‹ Ruffieux, Schweiz des Freisinns, S. 678-685, Siegenthaler, Die Schweiz, S. 456-457, und Maissen, Geschichte der Schweiz, S. 227-228. 13  |  Vgl. Maissen, Geschichte der Schweiz, S. 208-209.

1. Einleitung

dar und bot seit den 1840er Jahren theoretisch einflussreichen Anarchisten14 und freiheitlichen Sozialisten eine temporäre Heimat. In verschiedenen Landesteilen weilten und agitierten Größen der Bewegung wie Wilhelm Marr, Michail Bakunin, Peter Kropotkin, Johann Most oder Errico Malatesta.15 Auch anarchistischen Attentätern wie Luigi Luccheni, Hermann Stellmacher, August Reinsdorf, Anton Kammerer oder Julius Lieske bot sie Zuhause und Agitationsplattform. In ihren Heimatländern oft verfolgt und illegalisiert, bot sich ihnen und lokalen AnarchistInnen in der Schweiz die Gelegenheit, mehr oder weniger unbehelligt Anarchistisches zu publizieren.16 Gemessen an einer relativ bescheidenen Anzahl17 von Aktiven entstand so eine breit gefächerte anarchistische Presse, die mit Zeitungen, Zeitschriften und Almanachen ihre Hauptaufgabe in der Aufklärung sah.18 Die nur selten mehr als sechs Jahrgänge bestehenden Organe verfolgten eine zweigleisige Strategie: Sie wurden für AnarchistInnen geschrieben, aber auch für alle die, die es noch werden sollten, und verfolgten damit die Doppelaufgabe, arrivierte Aktive in der Bewegung zu halten und ihr gleichzeitig neue zuzuführen. Inhaltlich wurde für die Ideologie der freien föderalistischen Assoziation von Interessengruppen und gegen zentralistische, hierarchische Herrschaft in all ihren Formen gearbeitet. Entsprechend der Aufgabe der Blätter finden sich zudem wiederkehrende Bekräftigungen, auf der (einzig) richtigen Seite zu stehen und die Methoden und Ziele anderer als falsch abzufertigen.19

14  |  Die maskuline Form ist hierbei bewusst gewählt. Zu Anarchistinnen in der Schweiz finden sich nur sehr spärlich Informationen. Da in der anarchistischen Weltanschauung immer wieder umfassende Gleichheit gefordert wird, nicht zuletzt auch auf geschlechtlicher Ebene, muss und kann angenommen werden, dass sich auch Anarchistinnen in der Bewegung befanden und engagierten. In der vorliegenden Arbeit verwendet der Autor deshalb die geschlechtsneutrale Schreibweise ›AnarchistInnen‹ wo keine Genderspezifik auszumachen ist und bestimmte Geni dort, wo eine Zuordnung machbar ist. 15  |  Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2-5, und Hutter/Grob, Die Schweiz und die anarchistische Bewegung. 16  |  Mehr oder weniger deshalb, weil sich die offizielle Schweiz vorbehielt. politische Agitation bei Bedarf als Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit der Eidgenossenschaft zu interpretieren und unter Rückgriff auf Artikel 70 der Bundesverfassung die Fehlbaren auszuweisen. Vgl. Maissen, Geschichte der Schweiz, S. 209. 17  |  Vgl. Müller, Bericht. Trotz der absoluten Größe wirkte die anarchistische Bewegung als beachtliche performative Kraft auf den politischen Diskurs ein, wie zu sehen sein wird. 18  |  Vgl. Schmück, Ein Forschungsbericht, S. 177. 19  |  Das Zeitungswesen poetischer auf den Punkt bringt Ferdinand Tönnies: »[D]ie Zeitung ist nunmehr das vorzüglichste, brauchbarste und am meisten gebrauchte Mittel, Meinungen bekanntzugeben, geltend zu machen, öffentlich zu verkünden und zu verteidigen, gegnerische Meinungen anzugreifen, gehasst und verachtet zu werden – die Mehrheit der Zeitungen ist der Kampfplatz, auf dem der unablässige Krieg der Gedanken und Meinungen am heftigsten entbrannt und in heissen Flammen lodert.« (zit. in: Imhof, Konkordanz und Kalter Krieg, S. 111).

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen

1.1 F r agestellung Diese und weitere Thematiken und Thematisierungen in der anarchistischen Presse lassen sich als kollektive Strategien lesen, der anarchistischen Leser- und Urheberschaft mehr als Nachrichten zu bieten. Vielmehr, so eine zentrale These dieser Arbeit, stellten die Zeitungen Identifikations- und Projektionsflächen dar, die einer Sozialen Bewegung Raum und Rahmen zur stetigen Konstitution und Rekonstitution ihrer kollektiven Identität boten. So gaben sie ihren AkteurInnen eine Möglichkeit, eine an Aktualitäten und vermittelten Traditionen angebundene anarchistische Lebensnarration auf- und auszubauen und sich als Teil einer Sozialen Bewegung zu imaginieren. Diese Momente herauszuarbeiten und ihre gleichwohl konstituierende wie konstruierende Wirkungsmacht zu zeigen, ist ein Hauptziel dieser Arbeit. Es sollen also Bemühungen registriert und untersucht werden, wie die anarchistische Gemeinschaft als solche geschaffen und am Leben erhalten wurde, in einer Zeit, in der das gesellschaftliche Umfeld alles daran setzte, just dies zu verhindern, zu stören und wo immer möglich zu zerstören. Nicht zuletzt verspricht sich die Arbeit dadurch auch die Möglichkeit, Veränderungen, Umorientierungen und fortschreitende Differenzierungen sichtbar machen zu können, die sich zu Charakteristika der Bewegung verdichten sollten. Anarchismus und AnarchistInnen waren in der betrachteten Periode nicht nur in der bewegungsinternen Presse ein Thema. Lassen hohe Publikationsdichte, Kongresse und anarchistisch organisierte und agitierende Projekte auch ein wohlwollendes, zumindest aber ein tolerantes Verhältnis zwischen der offiziellen Schweiz und dem Anarchismus vermuten, so sprechen der behördliche Umgang mit der Bewegung aber auch Ausrichtung und Wortlaut der Fremdwahrnehmung eine andere Sprache. Das in der nicht-anarchistischen Presse konstruierte und perpetuierte, sich hartnäckig haltende Konstrukt einer gefährlichen, heimatlosen und bis an die Zähne bewaffneten Bande20 führte zu einer weitgehenden, in geschürter Angst und Unkenntnis begründeten Ablehnung und Abneigung von AnarchistInnen in der Schweiz des Fin de Siècle. Der tiefe, ideologisch bedingte Graben zwischen AnarchistInnen und Nicht-AnarchistInnen wurde dadurch unterhalten und ausgebaut. Die Art und Weise, wie diese zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen konstruiert wurde, welche Metaphern weshalb zum Zug kamen und die Ausarbeitung möglicher Antworten auf die Frage, warum die wichtigsten politischen AkteurInnen der Zeit derart disparate kollektive Identitäten kreierten, stellt einen weiteren Fokus dieser Arbeit dar. Wie die universalistische anarchistische Gemeinschaft mit diesem Graben und anderen Schwierigkeiten umging, wie sie ihr bestehendes Bewegungssubstrat simultan zu erhalten und auszubauen versuchte, stellen weitere zentrale Fragen dieser Arbeit dar. Modern ausgedrückt sind es Fragen nach dem Identitätsmanagement, die klären sollen, wie trotz erheblichem gesellschaftlichen und offiziellen Gegenwind eine kollektive Identität konstruiert und beständig rekonstituiert wurde, die ein Engagement in der anarchistischen Bewegung attraktiv erscheinen ließ. Diese Fragestellung erscheint deshalb gewinnbringend, so die hier vertretene These, weil Gestalt, Gestaltung und Unterhalt der kollektiven Identität das Anar20  |  Vgl. stellvertretend »Confédération suisse: Le Conseil fédéral et les anarchistes«, Gazette de Lausanne, 18.2.1885, Jg. 86, Nr. 41, S. 2.

1. Einleitung

chistInnen-Sein in der Schweiz des Fin de Siècle zu weiten Teilen ausmachte. Eine changierendes, verwobenes Netz aus Abstrakta wie Werten und Idealen, Zielvorstellungen, Methoden, kollektiven Emotionen und Traditionen war es, das letztlich verantwortlich war für das Sein von AnarchistInnen und das für weitreichende Repressalien von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sorgte, die ihrerseits in Rückkopplung wiederum in die Konstruktion und Gestaltung der kollektiven Identität der Bewegung eingewoben wurden. Gerade in der anarchistischen Bewegung spielte die kollektive Identität eine Rolle von bedeutender Tragweite, da sie eine im klassischen Sinne weitgehend apolitische Bewegung darstellte und Realia kaum relevant waren. Nicht eine erhöhte Machtposition der eigenen Gruppe in Gestalt von Regierungsinstallation oder Regierungsbeteiligung war das Ziel anarchistischen Engagements, sondern vielmehr eine gerade davon befreite Gesellschaft, die keinerlei Machtpositionen mehr zulässt und in der bewegungseigenen, präfigurativen Konsequenz auch auf dem Weg dahin keine solchen duldet. Realia wie gut bezahlte Funktionärspositionen, finanzielle Absicherung garantierende Sekretariatsstellen oder soziale Aufstiegsmöglichkeiten waren dementsprechend für anarchistisch Bewegte zu keinem Zeitpunkt zu erwarten. Vielmehr stellten die Hoffung auf und der Glaube an umfassende individuelle und kollektive Freiheit und Solidarität den – zum betrachteten Zeitpunkt in weiter Ferne liegenden – Gegenwert dar, der zum Preis offizieller und gesellschaftlicher Missgunst erkauft wurde. Die konstatierte hohe konstitutive Wertigkeit von Abstrakta für die anarchistische Bewegung ist nur ein Argument, sich ihr mit der Theorie der kollektiven Identitätsforschung zu nähern. Ebenfalls für eine dahingehende Forschungsanlage spricht, dass sie Fragen nach Produktion und Affirmation ebensolcher Abstrakta nicht vor dem Hintergrund vorverurteilender Bewegungsprämissen löst und nicht grundsätzlich für dysfunktional erklärt, was nicht einer monolithisch, innerlich immer köharent imaginierten Normbewegung entspricht. Anders als andere Theorien zur Erforschung Sozialer Bewegungen geht der Ansatz der kollektiven Identität von einem beweglichen Netz aus, das von verschiedenen unterschiedlich produktiven und in ihrer Wirkungsmacht diskursiv dynamischen Noden zusammengehalten wird und auch Widersprüche zulässt respektive als konstitutives Element anerkennt. Mit einer pluralistischen Bewegung als Forschungsgegenstand, die sich unter anderem durch sich gegenseitig gleichzeitig befeindende und befruchtende Subströmungen auszeichnet, erscheint eine dahingehende Forschungsanlage angemessen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil eine geringere Distanz zwischen Methode und Gegenstand den optischen Grundsätzen entsprechend eine hochauflösende, differenzierte Skizze einer sozialphilosophischen Gemeinschaft verspricht, die eine radikale Umgestaltung der Zustände zu erreichen suchte, um die gerade in der vorletzten Jahrhundertwende ungeschminkt zutage tretende Soziale Frage zu lösen.

1.2 Z eitr aum Der gewählte Zeitraum der Untersuchung 1885-1914 ist besonders vielversprechend für die gewählten Fragestellungen. Die Ungnade, in die AnarchistInnen in der Schweiz fielen, erhielt mit dem bundesrätlichen Beschluss zur strafrechtlichen Verfolgung vom 28.2.1885 im Zuge der erwähnten geplanten Sprengung des Bundeshauses einen offiziellen Charakter. In den folgenden Jahren nahmen sowohl

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen

anarchistisch motivierte Attentate, als auch die Intensität der Repression durch die Regierungen Europas und der USA AnarchistInnen gegenüber zu. Wie die neueste Forschung zeigt, hatte der Anarchismus mit dem Beginn des 1.Weltkriegs seine erste Blütezeit in Europa hinter sich.21 1914 bietet sich nicht nur deswegen als geeignetes Ende der Untersuchung an. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs manifestierte sich eine grundlegende Spaltung der anarchistischen Bewegung an der Frage der Parteiergreifung im Kriegsfall.22 Zudem sorgte eine immer stärker werdende Orientierung potenziell Interessierter in Richtung des bolschewistischen Kommunismus dafür, dass selbst das politisch-polizeiliche Interesse an AnarchistInnen mehr und mehr abnahm.23 Die Aktualität der Thematik ergibt sich nicht zuletzt aus den Parallelen zum aktuellen Schaffen und Vorschieben neuer diffuser Feinde der Allgemeinheit. Auch sie – egal ob ›Öko-TerroristInnen‹, ›Hooligans‹ oder der ›Schwarze Block‹ werden vornehmlich stilisiert thematisiert, werden stereotypisiert und diabolisiert, sei es zum Zwecke sozialer Kohäsion oder zur politischen Profilierung, die auch in unserer Zeit in den meisten Fällen zum Preis der Einschränkung bürgerlicher Rechte erkauft wird.

1.3 A ufbau der A rbeit Die vorliegende Arbeit verfügt über einen dezidiert modularen Auf bau. Sie wird durch die daraus entstehende, wissenschaftsorientierte Aufgliederung klarer strukturiert und erleichtert so spezifische Zugriffe auf Einzelaspekte. Damit wird nicht nur der Nutzen für weiterführende oder anschließende Forschungen optimiert: Auch LeserInnen, die sich nur punktuell für Details interessieren, finden durch die starke Strukturierung ihre Informationen effizienter. Nach einleitenden Worten im vorliegenden 1. Kapitel zu historischem Setting, Fragestellung, Quellen, Auf bau und Forschungsstand wird im theoretischen Kapitel 2. Von Identität und IdentitäterInnen zunächst eine Diskussion der grundsätzlichen Problematik der Identitätsforschung vorgenommen, bevor eine detaillierte und kommentierte Nachzeichnung der Debatte mit anschließender Rekapitulation auf die Forschung 21 | Degen/Knoblauch, Anarchismus, S. 154. Spanien bildet dabei die große Ausnahme mit seiner im Bürgerkrieg 1936- 1939 v.a. in Katalonien zeitweilig nach anarchistischen Prinzipien aufgebauten Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur. Der erneute Aufschwung anarchistischer Konzepte in den 1960er und 1970er Jahren sowie seine Popularität in globalisierungskritischen Gruppen seit 1999 stellen die zweiten und dritten Blütezeiten dar, werden in dieser Untersuchung aus Platzgründen aber nicht verhandelt. 22  |  Dieser Konflikt schwelte bereits seit der zweiten Hälfte der nationalistisch überhitzten 1910er Jahre. Vgl. dazu exemplarisch für diesen Konflikt in seiner frühen Phase J.W., »L’Attitude des Anarchistes en cas de guerre«, Le Réveil, 2.12.1905, Jg. 6, Nr. 151, S. 1-2. 23  |  Ab 1916 wurde die gesonderte ›Registratur sämtlicher in Zürich niedergelassener Anarchisten‹ nicht mehr aktualisiert. Stattdessen wurde mit Anrainerstaaten lebhaft über den Austausch von Kommunisten-Karteien verhandelt. Vgl. Dubach, Strizzis, S. 36-41. Deshalb auf ein komplettes Verschwinden von AnarchistInnen aus dem Blickfeld der Bundesanwaltschaft zu schließen, wäre allerdings naiv, was nicht zuletzt die Aktenkundigkeit der v.a. in ihrer Spätphase anarchistisch orientierten Zürcher Gruppe ›Annebäbi‹ knapp 60 Jahre später beweist.

1. Einleitung

kollektiver Identität in den letzten rund 110 Jahren eingeht. Das Theoriekapitel schließt mit der Ausarbeitung eines akteurInnenspezifischen Fragenkatalogs für die vorliegende Arbeit. Kapitel 3. Vom Anarchismus und AnarchistInnen führt die LeserInnen näher an den Forschungsgegenstand Anarchismus und die Anarchismusgeschichte in der Schweiz heran, mit einer Übersicht über Probleme, kurzen Bewegungs- und Begriffsgeschichten sowie ausführlichen, ereignisgeschichtlich aufgebauten Kapiteln zum Verhältnis der anarchistischen Bewegung zur offiziellen Schweiz und umgekehrt. Das Herzstück der Arbeit, das Theorie und Quellen amalgamiert, findet sich in den Kapiteln 4 und 5. Während sich Kapitel 4. Von Vorläufern und Erleuchteten: AnarchistInnen und Anarchismus in der anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914 mit der bewegungsinternen Konstruktion und Gestaltung anarchistischer kollektiver Identität beschäftigt, wendet sich Kapitel 5. Von Läusen und Unkraut: AnarchistInnen und Anarchismus in der nicht-anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914 der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen zu. In beiden Kapiteln wird Wert darauf gelegt, die Presse wo immer möglich und sinnvoll im Wortlaut sprechen zu lassen, um der Sprache, die in der überwiegenden Mehrheit der bearbeiteten Fälle den Schlüssel zur Identitätskonstitution darstellte, den ihr zustehenden Raum zu geben. Beide Kapitel sind nach Sprache und nach Titeln geordnet und verfügen über gesonderte kurze Zusammenfassungen, die die Zwischenergebnisse konzis zusammentragen. Kapitel 6. Schlusswort trägt die Resultate der Betrachtung der bewegungseigenen und zugeschriebenen kollektiven Identitäten im vergleichenden Überblick zusammen und enthält die Synthese der Arbeit. Darin wird das relationale Verhältnis der beiden ermittelten anarchistischen kollektiven Identitäten thematisiert und analysiert und mehr als eine schraffierte Skizze einer Sozialen Bewegung möglich: Durch die poststrukturalistisch inspirierte Deutung finden sich in diesem die Arbeit beschließenden Kapitel darüber hinaus Erkenntnisse, die Anregung bieten zu weiterführenden Reflektionen über die Rollen von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung in der Konstitution von Wesen, Sinn und Bedeutung von Inhalten und Gestaltungen kollektiver Identität.

1.4 F orschungsstand Unter den Vorzeichen der kollektiven Identität ist die anarchistische Bewegung in der Schweiz im betrachteten Zeitraum noch nicht historisch untersucht worden.24 Auch ohne nationale Einschränkung wird der Themenkomplex Anarchismus und kollektive Identität rund um die Jahrhundertwende kaum verhandelt. Gordons Dissertation zur transnationalen anarchistischen Bewegung nach 2000 erwähnt zwar die Begriffe personaler und kollektiver Identität, eine detaillierte theoretische Einordnung der Begriffe fehlt aber leider.25 Auch die Arbeiten Manfredonias bemühen

24  |  Thematisch verwandte Aufsätze zur identitätskonstituierenden Funktion der anarchistischen Zeitung Der Weckruf (vgl. Kühnis, Skizze der Welt) und zu Konstruktion und Nutzung kollektiver Identität in der anarchistischen Presse der Schweiz des Fin de Siècle (vgl. Kühnis, ›We‹ is for Anarchism) entspringen dieser Dissertation. 25  |  Vgl. Gordon, Hier und Jetzt.

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den Begriff einer »identité libertaire«26. Seiner Beschäftigung mit stark konstitutiven und affirmativen Aspekten und Effekten von anarchistischen Chansons auf die anarchistische Identität geht aber weder im Essay von 1997, noch in der 2011 erschienen Monografie zum Thema eine detaillierte theoretische Diskussion von Identität als Forschungsansatz voraus.27 Unverständlich ist das vor allem deshalb, weil der Forschungsdiskurs zur Identitätstheorie just in der Zeitspanne zwischen dem Erscheinen von Manfredonias beiden Beiträgen massiv an Tiefe gewann. Bouhey widmet der Identität französischer Anarchisten in ihrer Netzwerkanalyse28 zwei umfangreiche Kapitel, in denen sie quellenorientiert identitätskonstitutive Elemente ebenso akribisch wie pragmatisch zusammenträgt, aufzeigt und inhaltlich analysiert.29 Allerdings fehlt auch bei ihr eine fundierte theoretische Diskussion.30 Die in der Schweiz publizierte anarchistische Presse der Jahrhundertwende gewann in jüngster Zeit vermehrt Aufmerksamkeit und wurde zum Gegenstand verschiedener historischer Arbeiten. So untersuchte Cantini in seiner Betrachtung der linken italienischen Presse in der Schweiz auch anarchistische Periodika31, während Zesso die in der Schweiz publizierte anarchistische italienischsprachige Presse zu seinem exklusiven Untersuchungsgegenstand machte.32 Neben diesen eher überblicksartigen Arbeiten finden sich eingehende Betrachtungen einzelner anarchistischer Titel. Schon etwas älter sind die Arbeiten Enckells zum Le Réveil33 und Khan-Akbars Abhandlung über die L’ Exploitée34 , während Fagagnini sich 2012 in seiner Analyse der Propagandatätigkeit der Zürcher Gruppe ›Weckruf‹ auch mit viel Elan dem gleichnamigen Organ Der Weckruf widmete.35 Die anarchistische Presse nach 1914 wurde bis anhin ebenfalls nur in Einzeltiteln Gegenstand 26  |  Erstmals in Manfredonia, Chansons et identité libertaire, S. 257. 27 | Manfredonia postuliert wohl, dass die »identité commune très forte« (Manfredonia, Libres! Toujours, S. 7) sei bei AnarchistInnen und dass mehrere Faktoren zu ihrer Schaffung beitrügen. Was für Faktoren das sind, abgesehen von der von ihm betrachteten Chansonproduktion, und ob und wie sie interagieren, diskutiert er nicht. Vgl. Manfredonia, Libres! Toujours, bes. S. 7-8, und Manfredonia, Chansons et identité libertaire. 28  |  Vgl. Bouhey, Les anarchistes. 29  |  Vgl. ebd., S. 67-91 und S. 217-239. Wurzeln anarchistischer Identität ortet Bouhey in der Vermittlung von Wissen und Ansichten über die Anarchie. Mündlich an Debatten, Diskussionen, privaten und öffentlichen Konferenzen oder an familiären Zusammenkünften, wo gemeinsam gesungen wurde. Da über diese Ereignisse kaum Zeugnisse vorliegen, greift auch Bouhey auf die hohe Präsenz von Identitätselementen in anarchistischen Drucksachen als Quellen ihrer Untersuchung zurück. Vgl. ebd., S. 67. 30  |  Lediglich in einem sehr knappen Satz wird postuliert, dass die Aufgabe von Identität die soziale Kohäsion sei. Vgl. ebd., S. 17. An anderer Stelle wird Identität synonym zum Begriff des »conscience de soi anarchiste« (Bouhey, Les anarchistes, S. 67) verwendet. 31  |  Cantini, La presse. 32  |  Zesso, La presse anarchiste. Offiziell erschienen ist ein die Resultate zusammenfassender Aufsatz: Zesso, Le Verbe Magique. 33  |  Enckell, Un journal anarchiste. 34 | Khan-Akbar, L’ Exploitée. Zur L’ Exploitée publizierte auch Enckell im Rahmen einer Quellenedition wertvolle Anmerkungen. Vgl. Enckell, L’ Exploitée. 35 | Fagagnini, Weckruf.

1. Einleitung

historischer Forschung.36 Eine überblicksartige Aufarbeitung zeitgeschichtlicher respektive zeitgenössischer anarchistischer Presse bleibt vielversprechendes Forschungsdesiderat.37 Darstellungen über den Anarchismus oder einzelne Aspekte davon in der Schweiz finden sich eher. Wird er dereinst zum Forschungsthema erklärt, so geschieht dies häufig und gewissermaßen gegen seine kollektivistische Gestalt in biografischer Form.38 Selbst der Aufsatz von Hutter/Grob, der diesen Umstand sogar beklagt, vermag sich dem Einlenken ins Biografische nicht zu entziehen.39 Eine weitere Emphase der Anarchismusgeschichte liegt in Portraits regional oder beruflich spezifizierter AnarchistInnen oder Anarchismen. Enckell beispielsweise erforschte die Geschichte der ›Fédération Jurassienne‹ 40, Vuilleumier anarchistische Uhrmacher41, Rebetez den Antimilitarismus bei AnarchistInnen und Anarcho-SyndikalistInnen der Westschweiz während des Ersten Weltkriegs42 und bei Thomann standen AnarchistInnen des Berner Juras und der Neuenburger Berge43 respektive der Städte und Gemeinden Le Locle, Sonvillier, Saint-Imier und La Chaux-de-Fonds44 im Zentrum des Forschungsinteresses. Für die Deutschschweiz liegt regionalgeschichtlich lediglich ein nicht in allen Details überzeugendes Kapitel zur Ostschweiz bei Specker45 vor. Wesentlich mit der Fremdwahrnehmung und den offiziellen Reaktionen auf den Anarchismus beschäftigen sich Palmieri für Genf 1885-1898 46, Burkhard zur Repression gegen AnarchistInnen im Kanton Neuenburg 1878-189547, Cruchon/Lefebvre zur Repression des Anarchisten Luigi Bertoni48 oder Gygax’ Lizenziatsarbeit über die bundesanwaltschaftliche Untersuchung 36 | Vgl. für die Zeitschriften La Pilule oder Tout va bien Mauron, Un journal anarchiste, resp. Porret, Tout va Bien. 37 | Mauron verzeichnete für die Jahre 1968-1974 rund 26 allein in der Westschweiz erschienene anarchistische und anarchoide Titel. Vgl. Mauron, Un journal anarchiste, S. 28. 38  |  V.a. zu Michail Bakunin gibt es eine Vielzahl von Biografien unterschiedlicher Qualität. Besonders erwähnt sei hier Brupbacher, Bakunin. Aber auch Peter Kropotkin, Johann Most und Errico Malatesta und deren Lebensläufe sind Gegenstand zahlreicher Werke, vermittels derer Informationen über die offizielle Schweiz und ihr Verhältnis zum Anarchismus herausgelesen werden können. Neuere Arbeiten, die über den biografischen Weg Einblick in die Lebenswelt von AnarchistInnen der Jahrhundertwende geben, sind zu Margarethe Hardegger-Faas (Bochsler, Ich folgte meinem Stern, Boesch, Gegenleben, Boesch, Biografie und Soziale Bewegung, sowie Schindler, Vie et luttes), zu den Gebrüdern Max und Siegfried Nacht (Portmann, Die wilden Schafe) sowie jüngst zu Louis Bertoni (Cruchon/Lefebvre, Anarchisme, Justice et répression étatique, Bottinelli, Louis Bertoni Une Figure de l’ anarchisme) erschienen. 39  |  Hutter/Grob, Die Schweiz und die anarchistische Bewegung. 40  |  Enckell, La fédération jurassienne. 41  |  Vuilleumier, Horlogers de L’ Anarchisme. 42 | Rebetez, L’ Antimilitarisme. 43  |  Thomann, Le mouvement anarchiste. 44  |  Thomann, Les hauts lieux. 45  |  Vgl. Specker, Links aufmarschieren, S. 262-273. 46  |  Palmieri, La bombe et la plume. 47  |  Burkhard, La répression. 48  |  Cruchon/Lefebvre, Anarchisme, Justice et répression étatique.

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der Anarchisten im Jahre 1885 unter dem späteren Bundesrat E. Müller49, während Feller sich auf die Ausweisungspraxis von AnarchistInnen aus der Schweiz der Jahre 1885 und 1898 in einem historischen Vergleich konzentriert50. Mit der Funktion des Anarchismus für die Einführung der Identifikationstechnik der Bertillonage beschäftigt sich, vornehmlich an Indizien orientiert, Schwager in einem Aufsatz.51 Leschs bald 100-jährige Dissertation beleuchtet das juristische Instrumentarium der staatlichen Repression und setzt sich näher mit den Anarchistengesetzen der Schweiz der Jahre 1894 und 1906 auseinander.52 Überblickende Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Anarchismus in der Schweiz, die ihren Forschungsfokus gegenstandsnahe auf die Bewegung als Kollektiveinheit legen und nicht (ausschließlich) auf Einzelpersonen, sind demgegenüber noch immer eine Seltenheit.53 Für einen ersten Eindruck müssen so weiterhin auf die tendenziöse hundertjährige Darstellung Langhards54, die ebenfalls streckenweise ideologisch eingefärbte Arbeit Biglers55 und die gelegentlich sehr wohlwollende Reihe Nettlaus56 zurückgegriffen werden, die ob ihrer hohen Faktendichte allerdings nach wie vor unabdingbar sind. Auch die umfassende Arbeit Gruners57 zur Arbeiterschaft in der Schweiz, die immerhin einige übergreifende Kapitel zu anarchistischen Zusammenhängen enthält und die ebenfalls beigezogen wurde, ist bald ein halbes Jahrhundert alt und bleibt sprachlich nicht immer der wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet. Arbeiten, die sich außerhalb der Schweiz mit der Presse des Anarchismus beschäftigen, sind zahlreicher erschienen. Für die deutsche Forschung ist an erster Stelle Drahns Abhandlung58 zu nennen, eine eigentliche Pionierarbeit auf dem Gebiet. D’ Ester59 folgte Drahn sehr dicht und stellt faktisch kaum eine Erweiterung dar. Vor allem in jüngerer Zeit ist die anarchistische Presse häufiger Gegenstand von Diplomarbeiten und Dissertationen. Schmücks in den 1980er Jahren geschriebene umfangreiche Magisterarbeit60, die anarchistische Publikationen von 1840 bis zum Ende des zweiten Weltkriegs akribisch verzeichnet, katalogisiert und charakterisiert, steht nicht allein da: Kaglin untersuchte die Presse des Anarchismus in Deutschland 1918-1933 inhaltsanalytisch in einer unveröffentlichten Diplomarbeit.61 Die Arbeiten von Jenrich62 und Maierbrugger63 weisen beide Mängel auf. 49  |  Gygax, Wegweisende Untersuchung. 50  |  Feller, Fremde Elemente. 51  |  Vgl. Schwager, Identifikationstechniken. 52 | Lesch, Anarchistengesetze. 53  |  Nicht zuletzt deshalb ist der vorliegenden Arbeit ein ausführliches kontextualisierendes Kapitel beigestellt. Vgl. Kap. 3. Vom Anarchismus und AnarchistInnen. 54  |  Langhard, Die anarchistische Bewegung. 55  |  Bigler, Der libertäre Sozialismus. 56  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie. Bde. 1-5. 57  |  Gruner, Die Arbeiter. 58  |  Drahn, Die Presse der Anarchisten. 59  |  D’ Ester, Anarchistenpresse. 60  |  Schmück, Der deutschsprachige Anarchismus und seine Presse. 61  |  Infolge Nichtvorliegens muss auf die Kritik Schmücks verwiesen werden.Vgl. Schmück, Forschungsbericht, S. 180. 62 | Jenrich, Presse. 63  |  Maierbrugger, Fesseln brechen nicht von selbst.

1. Einleitung

Jenrich befasst sich mit der anarchistischen Presse im Nachkriegsdeutschland, zitiert dabei aber hauptsächlich Sekundärliteratur64, Maierbrugger verwendet kaum Zitate, sodass seine Arbeit im Wesentlichen eine bibliografische bleibt. In jüngster Zeit erschienen interessante Arbeiten zu einzelnen anarchistischen Zeitschriften und Zeitungen, so von Puschner65 zu Erich Mühsams Publikation Kain und dessen Hauptstoßrichtungen, von Hemmerle66 zum teils in den USA, teils in Deutschland erschienenen Blatt Der arme Teufel und dessen Besonderheit bezüglich der Verortung zwischen Arbeiterbewegung und bildungsbürgerlichem Kulturtransfer sowie Durands67 Aufsatz zum pazifistischen Engagement in der deutschen anarchistischen Zeitschrift Die Aktion. Für die französischsprachige anarchistische Presse bietet Bianco eine überblicksartige Bibliografie an. Er kartiert mit großer Akribie die französischsprachige68, die französische69 und die in der Diaspora verweilende französischsprachige anarchistische Presse70 und vermerkt neben bibliografischen Angaben auch Details zu Herausgeber und Finanzierung. Abschließend fügt er eine Abhandlung über die anarchistische Presse als Mittel der Propaganda an.71 Auch für die französischsprachigen Zeitschriften existieren Einzelabhandlungen, wobei hier stellvertretend die umfangreiche Arbeit von Dardel72 zur Bildsprache von Les Temps Nouveaux genannt sei, dem nach Paris umgesiedelten Nachfolgeblatt der in dieser Arbeit behandelten Genfer Zeitung Le Révolté. Grundsätzlich ist in der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung in jüngster Zeit ein erhöhtes Forschungsinteresse bezüglich Anarchismus festzustellen. Dabei erlebt der Themenkomplex vor allem im amerikanischen und im englischen sowie im französischen akademischen Kreis73 seit Mitte der 2000er Jahre einen Aufschwung, wo er und seine historischen Ausprägungen74 Forschungsgegenstände verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen darstellen. Das schlägt sich nicht nur in vermehrten Publikationen zum Thema nieder, sondern auch in Vorlesungen, Seminaren, internationalen Forschungsgemeinschaften, Kongressen und eigenen Buchreihen. Ob es der neu lancierten Forschungsoffen64  |  Jenrich, Presse, S. 225-248. Die fehlenden Standortangaben der Quellen in der bibliografischen Zusammenstellung am Ende der Arbeit mindern ihren Wert zusätzlich. 65  |  Puschner, anarchistisch – sozialistisch – persönlich. 66  |  Hemmerle, Der arme Teufel. 67 | Durand, L’ engagement pacifiste de Die Aktion. 68  |  Bianco, Un Siècle de presse anarchiste d’ expression française. 69  |  Bianco, Un Siècle de presse anarchiste en France. 70  |  Bianco/Creagh/Riffaut-Perrot, Quand le coq rouge chantera. 71 | Gewissermaßen das Skelett seiner Bibliografie ist auch online zugänglich und mit Schlagwort-Suche und ähnlichen Annehmlichkeiten versehen worden. Vgl. http://bianco. ficedl.info (Stand 14.12.2010). 72 | Dardel, Catalogue des dessins, Dardel, L’ Étude des dessins, Dardel, »Les Temps Nouveaux«. 73 | Vgl. Amster, Contemporary Anarchist Studies, und Kuhn, Neuer Anarchismus in den USA, S. 138. 74  |  Speziell in der französischen Forschung werden in Studien anarchistische Siedlungsversuche immer wieder in den Fokus gerückt. Vgl. Beaudet, Les millieux libres oder Petitfils, Les communautés.

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sive, von der sich die deutschsprachige Forschung nur allmählich mitreißen zu lassen scheint75, gelingen wird, die seit über 150 Jahren produktiven Vorurteile und Diffamierungen auszuräumen, kann noch nicht beurteilt werden. Bereits seit den 1980er Jahren erfreut sich die kollektive Identität76 als Methode ungebrochen steigender Beliebtheit.77 Eine schier unüberblickbare Vielzahl an Arbeiten mit Wurzeln in unterschiedlichen Disziplinen nimmt sich dabei dem Thema in immer höherer Frequenz an – nicht nur, aber auch in der Erforschung Sozialer Bewegungen. Die Mehrzahl dieser Untersuchungen, die aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie den Sozial- und Kulturwissenschaften, der Psychologie und der Sozialpsychologie, aber auch aus der Neurobiologie oder der Medizin geboren werden, sind als Case Studies angelegt. Da in der Regel spezifische Gruppen mit auf die jeweiligen AkteurInnen zugeschnittenen theoretischen Ansätzen untersucht werden, wird eine einheitliche methodologische Praxis immer unwahrscheinlicher. Die betrachteten Typologien der personalen Identität einerseits und der ethnischen, nationalen oder geschlechtlichen kollektiven Identitäten andererseits werden dadurch immer mehr zu einem lose geknüpften Theorienetz, das gewisse produktive Noden teilt, je nach Ausrichtung und Zugriff aber auch neue, nur spezifisch Sinn machende Knotenpunkte aufweist, die für das Verständnis und die Konzeption von kollektiver Identität in der einen Fallbetrachtung gewinnbringend sein mögen, in einer anderen hingegen nicht. Die immer weiter fortschreitende methodische Durchdringung der Geisteswissenschaften untereinander verstärkt diese Eigenschaft. Was aus größerer Distanz betrachtet wie ein undurchsichtiger Nebel erscheinen mag, sollte dabei nicht als theoretische Schwäche, sondern als Chance, ja als Stärke interpretiert werden. Einerseits hat die Theorie durch ihr nicht in seiner Ganzheit kanonisiertes, dynamisches und bewegliches methodisches Rüstzeug nicht nur die Möglichkeit, sondern vielmehr die Aufgabe, näher an den Forschungsgegenstand heranzutreten, um laufend ihre Brauchbarkeit zu evaluieren. Andererseits erhöht just dieser Vorgang kontinuierlich die Versatilität und das Adaptionsvermögen der Methode. Dass diese fortwährende Verästelung in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung tatsächlich als Vorteil gelesen wird, lässt sich durch ihre ungebrochene Beliebtheit bestätigen: Dürfen Konferenzen, Workshops und Sammelbände als Richtungsmesser gelesen werden, steht der fortschreitenden produktiven Rhizomisierung auch in Zukunft nichts im Wege.78 75  |  Von 2005 bis 2009 sind in der Schweiz in allen Landessprachen nur rund sieben historische Arbeiten zum Anarchismus erschienen. Vgl. Bibliografie der Schweizergeschichte 2005-2009. Deutschland verzeichnet in den letzten fünf Jahren rund 25 deutschsprachige Titel, wobei Editionen mitgezählt wurden. Vgl. Bibliografie der deutschen Arbeiterbewegung 2006-2010. 76  |  Für eine kommentierte Aufarbeitung der Debatte vgl. Kap. 2.2 Identitätsforschung. 77 | Analysen der Methode selbst aus historischer Sicht sind weit seltener und werden i.d.R. während der Arbeit am Gegenstand abgehandelt. Vgl. dazu bspw. Giesen, Kollektive Identität. 78  |  Dazu genügt ein Blick in das Programm der 4-tägigen European Social Sciences and History Conference 2012 in Glasgow, wo Identität im Allgemeinen und kollektive Identität im Besonderen in unterschiedlichsten Zusammenhängen aus verschiedensten Disziplinen heraus angewendet wurde.

1. Einleitung

1.5 M e thode Um die an die Quellen gestellten Fragen beantworten zu können, wird bei der heuristischen, inhaltsanalytisch orientierten kritischen Lektüre auf Theorien der kollektiven Identität zurückgegriffen. Ein aus dem von vielen Disziplinen und Perspektiven gespeisten Methodenpool der kollektiven Identitätsforschung kondensierter und erweiterter Katalog von Komponenten und Fokusfeldern wird während der Lektüre gleichsam auf die Quellen angewendet, wie seine Tauglichkeit überprüft wird. Für eine Untersuchung unter identitätstheoretischen Vorzeichen spricht die Vielseitigkeit, Adaptivität und Unvoreingenommenheit der Untersuchungsmethode, die durch das Miteinbeziehen eines prinzipiell offenen und erweiterbaren Komponentensets eine hochaufgelöste Abbildung der betrachteten AkteurInnen verspricht. Ihre Struktur als mal dichter, mal loser gewobenes historisch spezifisches Netz mit changierenden, punkto Relevanz, Wirkungsmacht und Effektivität variablen Knotenpunkten ermöglicht eine hohe und vor allem vorurteilsfreie Abtastung der untersuchten Gemeinschaften. Da keine Prämissen bezüglich inhaltlicher Kongruenz, Organisationsform oder Ähnlichem einer identitätstheoretischen Untersuchung vorausgehen, wird die Funktionalität von Gemeinschaften nicht aufgrund ihrer Differenz zu einem wie auch immer gearteten Paradigma bewertet. Eine Beurteilung geschieht schließlich vielmehr aufgrund der erarbeiteten gemeinschaftsnahen Kategorien, beispielsweise hinsichtlich der Reichhaltigkeit ihres Repertoires an kulturellen Symbolisierungen und sozialen Praktiken. Versteifte sich der Blick auf einzelne, permanent präpotent geglaubte Kriterien, würde dem transitorischen Charakter nicht Rechnung getragen, der für das Funktionieren anarchistischer Gemeinschaften weit wichtiger zu sein scheint als die Vermeidung von Fraktionierungen und Faktionalisierungen oder die kategorische Einhaltung monolithischer Meinungseinfalt. In den Quellenbeständen der anarchistischen Presse wird die Auf- und Ausarbeitung von Konstruktion und Gestalt anarchistischer kollektiver Identität79 vornehmlich anhand der anarchistischen Selbstwahrnehmung betrachtet, die sich in der impliziten und expliziten Selbstdarstellung spiegelt. Spuren liegen (nicht nur, aber auch) in direkten Adressierungen an das respektive Schilderungen des anarchistischen ›Wir‹ . Im Blick sind dabei Form, Vielfalt, Frequenz und Konjunktur der in der weiter unten detailliert diskutierten Forschung als produktiv verstandenen Identitätskonstitutionskomponenten. Dazu zählen die inhaltsanalytische Eruierung der vermittelten positiven und negativen Hypergüter, von FramingProzessen, subidentitären Framing-Prozessen, Traditionalismen, Emotionalien und Selbstbezeichnungen, die in verschiedenen Text- und Bildsorten explizit oder implizit Erwähnung finden. Damit können Ideale ebenso wie Methoden, Formen der Rekuperation ebenso wie kollektive Kommemorationen, besungene Alliierte ebenso wie verachtete Feinde der AnarchistInnen des Fin de Siècle als vitale identitätskonstituierende Momente geortet und eingeordnet werden. Die in der Theoriedebatte erkannte historische Spezifik kollektiver Identitäten lässt zudem diachrone und synchrone Beurteilungen zu und verspricht damit auch Möglichkeiten zur 79  |  Diese Schreibweise (›anarchistische kollektive Identität‹ ) bezeichnet fortan die bewegungsintern konstruierte kollektive Identität, während die zugeschriebene kollektive Identität als ›kollektive Identität von AnarchistInnen‹ bezeichnet wird.

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Kartierung von Differenzierungen und/oder Paradigmenwechseln innerhalb der AkteurInnengruppe. Die Aufarbeitung der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen in der Fremdwahrnehmung drängt sich nicht nur durch ihre in der Forschung erkannte katalytische Funktion für die Selbstwahrnehmung als konstituierende Komponente80 auf. Auch ihre weit wirkungsmächtigere normative Kraft und Reichweite in Bezug auf das gesamtgesellschaftliche Verständnis, was, wer und wie AnarchistInnen sind, verlangt die Thematisierung der zugeschriebenen kollektiven Identität. Ermittelt werden soll sie anhand von Fragen nach Gestalt, Hypergütern, Methodik, Rhetorik, Metaphorik und Wertigkeitsapplikationen, die im Rahmen der Thematisierung von AnarchistInnen und Anarchismus die Berichterstattung der nichtanarchistischen Presse dominierten. Auch hier erweist sich die inhaltsanalytische kritische Lektüre von Lauftexten, Illustrationen und karikativem Bildmaterial als hilfreich. Nicht zuletzt dadurch soll auch ein Eindruck des Identitätsspielraums der Zeit entstehen, der Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung und die darin gegorenen und unterhaltenen kollektiven Identitäten flankierte. In diesem Rahmen soll auch die Beantwortung der Frage möglich werden, ob Anarchie-Begriffe Form und Funktion von Reizworten bereits im Fin de Siècle erreicht hatten und nicht erst, wie die Forschung postuliert, in den späten 1960er und 1970er Jahren.81

1.6 Q uellen 1.6.1 Quellenbasis Quellenbasis für die Perspektive von innen auf die Anarchistische kollektive Identität liefert die kritische Analyse von 24 in der Schweiz zwischen 1885 und 1914 erschienenen anarchistischen Periodika in deutscher und französischer Sprache.82 Sie sind im Schweizerischen Sozialarchiv Zürich, dem Centre International de Recherches sur l’ Anarchisme in Lausanne, der Bibliothèque de Genève in Genf, der Stadtbibliothek von La Chaux-de-Fonds, dem Schweizerischen Bundesarchiv in Bern, dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg und dem Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis in Amsterdam zugänglich. Die Fremdwahrnehmung wurde ermittelt durch die kritische analytische Aufarbeitung nicht-anarchistischer Presse im Hinblick auf den Umgang mit AnarchistInnen und ihrer Ausgestaltung von Anarchie-Begriffen. Vier anarchistische Schlüsselereignisse in der Schweiz lieferten die Rahmen für die Sampleerhebung: die geplante Bundeshaussprengung 1885, das tödliche Attentat auf Kaiserin Elisabeth 1898, die Silvestrelli-Affäre 1902 und die versuchte gewaltsame Befreiung des Anarchisten Georg Kilaschitzky 1907/1912. Als Spiegel der zeitgenössischen politischen Leitideen und 80  |  Vgl. Kühnis, Wir, S. 120-126. 81 | Der Nachweis von Anarchie-Begriffen als Reizworte für die zweite Anarchismusblüte wurde von Gabriele Voser in ihrer Dissertation für die deutschsprachige Medienlandschaft der Jahre 1968-1975 bereits erbracht. Vgl. Voser, Reizwort. 82 | Die ebenfalls in größerer Zahl in der Schweiz publizierten italienischsprachigen anarchistischen Zeitungen wurden infolge mangelnder Sprachkenntnisse des Autors nicht berücksichtigt.

1. Einleitung

der öffentlichen Meinung interpretiert, stützte sich der Autor hierbei auf bürgerlich-liberale, sozialdemokratische und politisch unabhängige83 Zeitungen, von denen eine breite Leserschaft angenommen werden und denen damit eine meinungsbildende Qualität zugeschrieben werden konnte.84 Die Quellen zur Fremdwahrnehmung wurden im Original oder auf Mikrofilmen in der Zentralbibliothek Zürich, der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern, des Schweizerischen Sozialarchivs in Zürich und der Bibliothèque de Genève in Genf untersucht. Die Aufnahme von zwei karikaturistischen Blättern in den Quellenkorpus mag auf den ersten Blick erstaunen, kolportieren Karikaturen und humoristische Textbeiträge doch immer nur ein Zerrbild der historischen Gegenwart einer Zeit. Ein Widerspruch, wo es doch gerade die Aufgabe von HistorikerInnen ist, vermittelte Bilder im historiografischen Prozess zu entzerren. Die Begründung der Wahl liegt allerdings gerade darin verhaftet: Die Karikatur ist wohl ein Zerrbild, aber eines »[...] welches das Wesentliche einer Sache oder Person oft klarer auf bewahrt hat, als eine offizielle Schilderung [...]« 85.

1.6.2 Quellenkritik In der Hauptsache stützt sich die vorliegende Arbeit auf Zeitungen als Quellen für die Konstruktion und die Gestaltung Anarchistischer kollektiver Identitäten. Der Griff zur Zeitung als Spiegel der Bewegung ergibt sich aus bewegungs- wie quellentechnischen Umständen. Aus nicht bewegungsimmanenter Perspektive ist diesen Quellen ein identitätskonstituierender Charakter zuzugestehen, da Zeitungen86 zu lesen immer auch zu lernen, zu verstehen, zu erkennen heißt. Durch die von der Leserschaft geleistete 83 | Die hierfür beigezogene humoristische Zeitschrift Der Nebelspalter wird mithin als »[...] gegen alles Ungerechte nach rechts und links sein humoristisches Gift versprühende [...]« (Bieler, Postillon, S. 4) Zeitung charakterisiert. Grundsätzlich Objektivität und Subjektivität und – damit verbunden – die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Ideologiefreiheit zu diskutieren, gehört nicht zu den Aufgaben dieser Arbeit, wenngleich sie in der historischen Arbeit immer wiederkehrende Gretchenfragen darstellen. Die politischen Verortungen der nicht-anarchistischen Zeitungen wurden übernommen von Blaser, Bibliographie, und verifiziert mit Wicki (Wicki, Barricades, S. 13) sowie Cantini (Cantini, Grütli, S. 39-55). 84  |  Vgl. zu Fragen der Verschränkung von Presse, Öffentlichkeit und Öffentlicher Meinung Imhof, Konkordanz und Kalter Krieg. 85 | Bieler, Postillon, S. 1. Auch Reussegger formulierte dazu bereits vor einem halben Jahrhundert ebenso blumig wie treffend: »Die Karikatur erkennt ihren Mann, seine Lüge, seine Wahrheit. Sie liefert das eigentliche Abbild der tausendfach getarnten Wirklichkeit.« (Reussegger, Ohne Putz und Tüncke, S. 15). 86 | Der Autor schließt sich der Definition Jägers an und fasst ein Presseerzeugnis dann als Zeitung auf, wenn es folgende Kriterien erfüllt: Die Aktualität wird dem Rhythmus der Erscheinungsweise entsprechend betont; es findet eine informatorische und/oder kommentierende Beschäftigung mit den wesentlichsten Formen des öffentlichen Lebens statt; aus der qualitativen und quantitativen Stoffwahl ist eine vom Erscheinungsort abhängige Orientierung zu erkennen; das Presseerzeugnis trägt das Erscheinungsbild einer Zeitung bzgl. Format, Papier und Gestaltung. Vgl. Jäger, Das Bild der Schweizer Presse, S. 12, i.O. in anderer Reihenfolge.

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kognitive Arbeit an und mit den an sich finiten Texten erhalten Zeitungen einen aktiv-passiven Doppelcharakter, der die Welt der LeserInnen nicht nur be-, sondern sie auch mitschreibt, da sie in die (Re)Konstitution der Welt der LeserInnen als Grundlage eingreift. Die Um- oder Mitgestaltung dieser Sinnwelten der LeserInnen, die aus dem Lektüre- und Verstehensprozess resultieren kann, ist dabei als mehrstufig zu verstehen mit stark variierender Wirkungsmacht. Letztere hängt von mehreren Faktoren ab und sowohl der Grad der ideologischen Kohärenz der LeserInnen mit den publizistisch vermittelten Weltdeutungen als auch die projizierte Glaubwürdigkeit des Mediums spielen eine wichtige Rolle. Hinzu kommt, dass weder KommunikatorIn noch RezipientIn über kognitive Allmacht verfügen und autonom bestimmen können, was und wer sie bei der Erlangung von Wissen und Verstehen beeinflusst und was und wer nicht, da sich die beiden gegenseitig beeinflussen, sei es durch eine unkritische Lesart durch die LeserInnen, weil sie Inhalte als vertrauenswürdig und glaubhaft einschätzen, sei es durch Rücksichtnahme von ZeitungsmacherInnen auf Verkaufszahlen und LeserInnenmonitoring, die auf Meinungsumfragen gestützte thematische Repositionierungen zur Folge haben. Weiter wirken indirekte Faktoren mit, die einen nicht unwesentlichen Anteil an der Transformation oder aber der Reproduktion von Gemeinschaften haben können.87 Eine Zusammenfassung der Situation zeigt dennoch an, dass der Hebel der Zeitungen der längere ist: Die Leserschaft informiert sich – oder eben genauer: wird informiert – im Idealfall in einer ihnen angepassten, angenehmen und verständlichen Sprache und Form über Geschehnisse, Ereignisse und Zusammenhänge weitgehend innerhalb ihrer kulturell abgesteckten Interessenslagen und Lebenszusammenhänge, die wiederum auf diese Weise perpetuiert und zementiert werden. In distinguierten Artikeln und Hintergrundberichten, in Kolumnen und Kommentaren, in charakteristischer Bildauswahl und -präsentation, in Karikaturen und zugekauften Beiträgen wird also weit mehr als nur informiert. Durch Format, Form und Sprache wird vermittelt, womit sich die LeserInnen auseinandersetzen, was sie also letztlich beschäftigt, interessiert und bewegt. Durch das Setzen des thematischen Kanons einer Zeitung – der seinerseits von gesamtgesellschaftlichen Kanons flankiert und beeinflusst ist und also nie völlig autonom sein kann – werden Interessenlagen und Fokusfelder ebenso gesetzt wie dokumentiert. Der historiografische Blick in die Zeitung lohnt sich damit doppelt, da sich in den Zeitungen ein eigentliches Vexierbild offenbart: Erkennbar wird sowohl die skizzierte Welt als auch die Welt der SkizziererInnen. In der in dieser Arbeit verhandelten Zeitspanne lohnt sich das besonders. Im Unterschied zum heutigen Modell bestimmten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert und noch bis in die 1960er Jahre hinein kleine Zeitungen das Bild der 87  |  Das schiere Lancieren eines Themas in einer bewegungsfernen, breit rezipierten Zeitung kann einen Diskurs provozieren, dem sich eine Soziale Bewegung nicht entziehen kann. Z.B. dann, wenn die Kernthemen der Bewegung in ihren Augen verkürzt oder verzerrt besprochen werden. Die Gemeinschaft sieht sich zur Stellungnahme gedrängt, bei der sie zur Richtigstellung und Reformulierung ihrer Hypergüter veranlasst wird. Dadurch werden die Hypergüter reproduziert und ihre Wichtigkeit für die Bewegung angezeigt. Im gleichen Zug können die Bewegungsgrenzen reformuliert oder neu gelegt werden, etwa indem die Gemeinschaft Abstand nimmt vom besagten Medium, dessen Sinnwelten und Ideologien. Vgl. dazu generell Kap. 2. Von Identitäten und Identitätern.

1. Einleitung

Presselandschaft Schweiz: »[...] Kaufzeitungen waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Mehrzahl zumeist kleine, lokale Zeitungen, welche oft lokalen, politischen Gruppierungen verpflichtet waren.«88 Die vornehmlich politischen Zeitungen89 wurden weitgehend über Abonnements oder den Verkauf von Einzelnummern finanziert90 und orientierten sich dementsprechend eher an den LeserInnen als an den Inserierenden, die heutzutage die inhaltlichen und thematischen Schwerpunkte bestimmen.91 Wirtschaftliche Faktoren waren auch im Fin

88  |  Kradolfer, Pressevielfalt Schweiz, S. 7. Derselben Ansicht ist auch Müller, der die politische Presse des Kantons Aargau im 20. Jahrhundert untersuchte (vgl. Müller, Geschichte der politischen Presse, S. 15). Wie Bollinger festhält, setzte im Gegensatz dazu der TagesAnzeiger schon seit Beginn an auf das Duo große Auflage/viele Inserate. Mit vergleichsweise niedrigen Abonnementspreisen eine hohe Auflage zu fahren, eigentlich eine klassische fordistische Massenproduktion also, stellte damals eine progressive Unternehmenspolitik dar. Vgl. Bollinger, Pressegeschichte 2, S. 117-119. 89 | Blum erklärt sich die pointierten politischen Haltungen der Schweizer Presse dieser Zeit mit dem politisch umkämpften Charakter der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Er konstatiert: »Jede neue Strömung, ob die konservative, die liberale, die demokratische oder die sozialistische, hatte ihre eigene Presse. Nicht wer Partei nahm, sondern wer neutral blieb, erregte Misstrauen.« (Blum, Gesellschaftswandel und Medienwandel, S. 191). 90  | Nicht zuletzt der Umstand, dass Aufrufe zur Rettung eines Blattes i.d.R. in Form von Werbung neuer AbonnentInnen gipfelten, und nicht als Aufrufe an Firmen, in der Zeitung zu inserieren, spricht für eine solche Einschätzung. Gemäß Blum gab es »[...] nur ganz wenige [Zeitungen, d.V.], die hauptsächlich Werbeträger waren« (ebd., S. 190). Anlass für diese Annahme gibt in seinen Ausführungen zum Zeitungswesen in der Schweiz von 1896-1930 auch Bürgin: Er zeichnet die Anzeigen als Einnahmequellen zur außerordentlichen Mehrkostendeckung aus, womit die Abonnements als Finanzierungsfundament zu verstehen sind. Vgl. Bürgin, Statistische Untersuchungen, S. 48. Müller hält dagegen fest, dass für gewisse Titel das Anzeigenwesen auch schon im beginnenden 20. Jahrhundert sehr wichtig war. Vgl. Müller, Geschichte der politischen Presse, S. 16-17. Diese These wird untermauert vom Fakt, dass der Tages-Anzeiger um 1900 in ca. 1,5 Meter großen Lettern auf das Verlagshaus pinseln ließ: »Verbreitetste Zeitung der Schweiz, bestes & wirksamstes Insertions-Organ« (Fotografie aus Kaufmann/Stieger, 100 Jahre Tages-Anzeiger, S. 204-205). Auch der Umstand, dass die NZZ vom 15.12.1912 rund 11 von 20 zur Verfügung stehenden Seiten für den Abdruck von Inseraten verwendete, spricht für eine frühe wichtige Rolle der Inserate (vgl. Neue Zürcher Zeitung, 15.12.1912, Jg. 133, Nr. 348). 91 | Da elektronisch keine Informationen über den finanziellen Aufbau der beiden größten deutschschweizerischen Tageszeitungen Neue Zürcher Zeitung und Tages-Anzeiger verfügbar waren, musste auf telefonische Auskünfte der zuständigen Personen der jeweiligen Verlagshäuser zurückgegriffen werden (NZZ Verlag resp. Tamedia AG). Die NZZ gibt eine Werbeabhängigkeit von ca. 70% an, der Tages-Anzeiger spricht davon, zu gut 66% von Werbeeinnahmen finanziert zu sein (Stand 16.10.2009). Selbstredend ist diese Zahl konjunkturabhängig und steigt in konjunkturell guten Zeiten ebenso an, wie sie in konjunkturschwachen Zeiten sinkt. Da die Presse die höchsten Anteile des Werbemarktes generiert (2003 waren es rund 71,8%), ist sie besonders stark von diesen Schwankungen betroffen. Vgl. Künzler, Das schweizerische Mediensystem, Abbildung 1, S. 13.

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de Siècle keine zu vernachlässigende Nebensache. Gerade anarchistische Blätter 92 verschwanden nach wenigen Nummern aus Geldmangel häufig wieder von der Bildfläche.93 Aufgrund ihrer Finanzierungssituation hatten Zeitungen der vorletzten Jahrhundertwende weitgehend ihren LeserInnen gerecht zu werden und standen damit noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts, als die Zeitung vor allem ein Mittel zum politischen Dialog war und die politische Aufklärung mit spezifischen redaktionellen Profilen vollzogen wurde, die partei- nicht aber meinungsunabhängig waren. Diese Profilierung schwand im beginnenden 20. Jahrhundert zusehends, nicht zuletzt auch durch das Aufkommen von Nachrichtenagenturen, die nicht mehr nur Nachrichten, sondern auch parteipolitisierte Kommentare gebrauchsfertig lieferten.94 Bis dahin sollten politische Strömungen und deren Sinnsysteme durch die Zeitungen aufrechterhalten, verfestigt und ausgebaut werden. Nicht zuletzt wurde so den LeserInnen auch eine der Gemeinschaft entsprechende Einordnung der Geschehnisse in der sie umgebenden Welt ermöglicht. Anders formuliert lieferten die Zeitungen täglich, wöchentlich, 14-täglich oder monatlich die Bedingungen für eine immer nur nahe an den Aspirationen einer Bewegung verlaufende Lebensnarration.95 Dies gilt insbesondere für die anarchistische Bewegung, die ihre Theorie vornehmlich in Diskussionen und Diskussionsforen entwickelte.96 Nicht selten sind sie darüber hinaus die einzigen anarchistischen Spu92  |  Fast in allen betrachteten Titeln sind wiederholt Spendenaufrufe zu finden. Vgl. Kap. 4. Von Vorläufern und Erleuchteten: AnarchistInnen und Anarchismus in der anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914 in dieser Arbeit. 93  |  Geldmangel ist indes nicht der einzige Grund für die auffällige Kurzlebigkeit vieler anarchistischer Zeitungen. Prägend sind auch die strukturellen Eigenheiten des Anarchismus selbst. Das hochgehaltene Prinzip der Herrschafts- und Zwanglosigkeit und der größtmöglichen individuellen Freiheit kann auch heißen, dass die Unlust der MacherInnen an der Weiterarbeit zur Einstellung des Blattes führen konnte. 94  |  »[...] In der Phase des Ersten Weltkriegs kam es immer häufiger zu einer Art geistiger Übernahme durch die Parteien. [...] Zur Zeitung gehörte ein [partei]politisches Credo, basta.« (Müller, Geschichte der politischen Presse, S. 20, mit präzisierender Ergänzung d.V.). 95 | Um eine permanente Wirkungsmacht zu erreichen, wurde eine möglichst hohe Frequenz angestrebt, aus finanziellen Gründen aber nicht immer erreicht. 96  |  Kropotkins Schriften bspw. erschienen beinahe vollständig zuerst als Zeitungsartikel. Vgl. Weber, Sozialismus als Kulturbewegung, S. 15, Anm. 10. Die HerausgeberInnen anarchistischer Zeitungen waren sich des identitätskonstituierenden und -reproduzierenden Mehrwerts ihrer Zeitungen durchaus bewusst, wie ein Geleitwort zum Erscheinen des zweiten Jahrgangs des französischsprachigen Blattes L’ Exploitée zeigt: »En créant l’ Exploitée, nous n’ avons pas créé tout simplement un journal de plus. Ce qui est infiniment plus important, c’ est qu’ il s’ est créé ainsi un centre de rendez-vous, une tribune où les exploitées de toute condition, de tout âge, de toute opinion, viennent avec confiance apporter leurs plaintes et demander les renseignements qu’ elles n’ osent demander ailleurs.« (La Rédaction, »Aux amis et amies de l’ EXPLOITÉE, L’ Exploitée, 7.6.1908, Jg. 2, Nr. 2, S. 1). Dt.Ü: »Mit der Erschaffung der L’Exploitée haben wir nicht einfach eine weitere Zeitung geschaffen. Wesentlich wichtiger ist, dass wir damit einen Treffpunkt geschaffen haben, eine Tribüne, an der Frauen in jeglichen Ausbeutungssituationen, jeglichen Alters, jeglicher Überzeugung vertrauensvoll ihre Klagen vortragen und Auskünfte erhalten können, die sie an anderen Stellen nicht zu erfragen wagen.«

1. Einleitung

ren von gemeinschaftsrelevantem Inhalt, die hinterlassen wurden. Andere von der Bewegung benutzte Kommunikationsmethoden wie das Affichieren von Plakaten oder Spuckzetteln im öffentlichen Raum, Vorträge, Konferenzen, Zusammenkünfte in familiärem Rahmen oder auf der Straße oder protokollierte Diskussionsrunden sind entweder nie verschriftlicht, oder aufgrund der drohenden Repressalien umgehend wieder vernichtet worden und als Quellen nicht mehr erhalten.97 Dass der Inhalt von Flugblättern wenn überhaupt, dann durch Zweitabdrucke98 in bewegungseigenen Zeitungen erhalten wurde, legitimiert die Wahl von Zeitungen als Quellen weiter. Ebenso, dass sie die einzigen erhaltenen mehrstimmigen schriftlichen Quellen der anarchistischen Bewegung des Fin de Siècle bleiben, die, anders als die überlieferten theoretischen Abhandlungen der Zeit, durch ihre Alltagsorientierung und ihren oft genug auch offen dargelegten universalistischen Charakter, der die LeserInnen zur Mitarbeit ermunterte, wesentlich bewegungsnäher waren. Frei von Problemen und Falltüren ist die Verwendung von Zeitungen als Quellen freilich nicht. Gerade als Seismografen einer pluralistischen Bewegung treten Unzulässigkeiten und Verzerrungen auf, basierten doch auch anarchistische und anarchoide Zeitungen auf einem Redaktionssystem, das Themen zuließ oder nicht, das solche setzte oder nicht. Wohl finden sich immer wieder Aufrufe zur inhaltlichen Mitgestaltung, aber es kann nicht restlos geklärt werden, ob der in einigen Blättern allgegenwärtigen Ermutigung zur Selbstermächtigung tatsächlich Folge geleistet wurde. In den einen Zeitungen verhindert eine konsequent anonyme Autorenschaft eindeutige Zuschreibungen der Texte, in anderen Blättern tauchen wohl verschiedenste Aliase auf, was aber letztlich auch noch kein Garant dafür ist, dass tatsächlich verschiedene AutorInnen agierten. Ob die Themenwahl der ZeitungsmacherInnen schließlich die zentralen Brennpunkte der anarchistischen Bewegung widerspiegelt oder nur diejenigen, einer schmalen Gruppierung mit ausgeprägtem Mitteilungsdrang und Zugriff auf die entsprechenden Produktionsmittel, bleibt damit ebenso offen wie die daraus zu schließende Folge, ob diese Themen tatsächlich die zu erwartenden Knotenpunkte des dynamischen Gewebes der kollektiven Identität abbilden. Anders formuliert stellt sich quellenkritisch die Frage, ob anarchistische Zeitungen als hundertprozentig akkurate Fahrtenschreiber verstanden werden können, oder ob lediglich Spartendiskurse von einer kleinen Gruppe Agitierender und Schreibender repräsentiert werden. Für beide Standpunkte sind Argumente zu finden, in Form von Kürzeln, die einmalig oder eben wiederholt auftreten, diachron wie synchron betrachtet. Als Folgefrage drängt sich auf, wie kohärent damit die in Zeitungen vermittelte und die tatsächlich vorherrschende anarchistische kollektive Identität und deren konstitutive Komponenten waren. Auch sie muss vor diesem Hintergrund offen bleiben. Zwar ist zu erwarten, dass im Falle einer längeren Periode von bewegungsirrelevantem Inhalt die LeserInnen abspringen und also, ökonomisch formuliert, die unsichtbare Hand eines 97  |  Einzelne abgerissene Spuckzettel finden sich in den Beständen der Politischen Polizei. Im Fall der Durchleuchtung der Zürcher Gruppe ›Weckruf‹ wurde ein Spuckzettel antimilitaristischen Inhalts sogar als Grund für das Einschreiten aufgeführt. Vgl. »Weckruf: Antrag der Bundesanwaltschaft«, BAR E21/14515. 98  |  Vgl. exemplarisch für den Abdruck von Flugblättern und Manifesten das auszugsweise reproduzierte Manifest der ›Fédération Communiste-Anarchiste de la Suisse Romande‹ in »Le communisme anarchiste«, Le Réveil, 9.2.1907, Jg. 8, Nr. 194, S. 1.

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Adam Smith das Blatt auf den Mülleimer der Geschichte trägt. Mit einer entsprechenden Finanzierung, etwa durch MäzenInnen, könnte eine Zeitung aber auch mehrere Jahrgänge überstehen, ohne dass eine Relevanz da wäre. Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil LeserInnenzahlen bei nicht-zeitgeschichtlichen Themen kaum mehr zu eruieren sind und eine Schätzung der Popularität an der Lebensdauer der Publikation und/oder an der Auflagenstärke abgelesen werden muss. Dies wiederum ist eine heikle Größe, die kritisch betrachtet werden muss. Gerade bei anarchistischen Blättern lag keine beglaubigte Auflage vor. Dagegen waren sich die VerlegerInnen bewusst, dass eine hohe Auflage eine breite Streuung und damit den Eindruck gesellschaftlicher Relevanz vermittelte. Das Problem der Verzerrung der Wirklichkeit, das jeder Spielart niedergeschriebener Realität eigen ist, ist also als Problem ebenfalls mitzudenken, auch wenn es in der vorliegenden Arbeit keine zentrale Rolle einnimmt: Die Frage, wieviel Objektivität man einer Quelle zutrauen kann, wenn man sie durch ihre Interpretationsleistung der Geschehnisse ohnehin als Weltenformantin für Bewegte versteht, verliert an Brisanz, da nicht die wiedergegebene Realität, sondern primär ihre Ausgestaltung interessiert. Zudem verheißt der zweite Teil der Arbeit, der sich der Fremdwahrnehmung von unterschiedlichen politischen Standpunkten widmet, eine diesbezügliche Nivellierung. Besonders für die Arbeit an den kontextualisierenden Kapiteln wurden zusätzlich zu den Zeitungen die Akten der Politischen Polizei konsultiert. Nicht nur erlauben diese eine Verortung der Bewegung in der offiziellen Wahrnehmung. Die Tatsache, dass alle berücksichtigten Zeitungen in den Akten Erwähnung finden und eigene Dossiers zu fünf von ihnen99 geschaffen wurden, verweist auch auf das Bedrohungspotenzial, das der Staat in ihnen vermutete und in sie hineinprojizierte. Die Akten der Politischen Polizei bieten darüber hinaus einen einzigartigen Blick auf die Wirkung der offiziellen Maßnahmen, der so im anarchistischen Milieu nicht zu finden gewesen wäre. So finden sich in Verhörprotokollen beispielsweise Informationen zu einem Drucker, der sichtlich eingeschüchtert werden konnte und sich schließlich freiwillig als Spitzel anbot.100 In den Untersuchungsberichten finden sich zudem allerlei Materialien zu Querverbindungen: beschlagnahmte AbonnentInnenlisten, Flugblätter oder Buchhaltungen von Zeitungsprojekten und – leider nur sehr selten – auch Fotografien von ZeitungsmacherInnen. Abgesehen von den Einblicken in die Struktur der anarchistischen Bewegung erhellen diese Quellen auch den praktizierten, den gelebten Anarchismus der Zeit in seinem hürdenreichen Alltag und ergänzen das Bild um eine Komponente, die anderweitig nur mit der Erschließung unzähliger Nachlässe und Autobiografien möglich gewesen wäre. Akten der Politischen Polizei, die zuweilen jeden Umzug und jede Fahne politisch missliebiger BewohnerInnen der Schweiz akribisch notierten, erweisen sich auch für die Zeit des Fin de Siècle als reiches und wertvolles Reservoir. Dies zumindest aus der Optik von HistorikerInnen. Aus staatsbürgerlicher Sicht bleiben sie Materialisierungen der bedenklichen Tendenz, Menschen trotz verfassungsmäßig garantierter Meinungsfreiheit aufgrund ihrer politischen Überzeugung auf Schritt und Tritt zu verfolgen. 99 | Vgl. BAR E21/14470 L’ Égalitaire, E21/14469 La Critique Sociale. BAR E21/14476 Freie Gesellschaft E21/14514- 14527 Le Réveil/Il Risveglio/Der Weckruf, E21/1451514519 Der Weckruf. 100  |  Vgl. dazu Kap. 4.2.3 Der Weckruf.

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1.6.3 Formale Quellenkritik 1.6.3.1 Zeitungen Die Mehrheit der anarchistischen und nicht-anarchistischen Quellen konnten dank der reichen Bestände des Schweizerischen Sozialarchivs in Zürich, des Centre International de l’ anarchisme CIRA in Lausanne, der Bibliothèque de Genève publique et universitaire in Genf, der Bibliothèque de la Ville in La Chaux-de-Fonds, der Zentralbibliothek Zürich, der Nationalbibliothek in Bern und im Bundesarchiv in Bern ausgewertet werden. Sie liegen entweder gebundenen oder lose im Original, auf Mikrofilm reproduziert oder fotokopiert vor. Lediglich zwei Titel – Die Freie Gesellschaft und der Le Révolté – mussten als Scans beim Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg respektive beim Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis IISG in Amsterdam bestellt werden. Dies soll deshalb hervorgehoben werden, weil eine derart reiche Quellenlage bei Weitem keine Selbstverständlichkeit darstellt, wie der Blick in Arbeiten nicht-schweizerischer AutorInnen zeigt, die statt einer Abundanz oftmals eine Absenz von Quellen oder deren Verstreutheit beklagen. Dass die Bestände über weite Strecken lückenlos sind, macht die Arbeit mit ihnen zu einer noch größeren Freude. Die Zeitungen, wo sie im Original konsultiert werden konnten, befinden sich ihrem Alter entsprechend in gutem bis ordentlichem Zustand. Da das verwendete Papier von anarchistischen Zeitungen oft das billigste gewesen sein dürfte, sind einzelne Titel und Ausgaben mittlerweile abgegriffen und sehr brüchig. Bei diesen qualitativ besonders kritischen Titeln liegen im CIRA Fotokopien der Originale vor. Abgesehen von der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), der Freien Gesellschaft, der Vorkämpferin sowie einer einzelnen Nummer des Weckrufs verwenden sämtliche Zeitungen bereits keine Frakturschriften mehr, was den Lesekomfort erheblich erhöht. Format, Auflage und Erscheinungsdauer variieren stark und werden titelspezifisch in den jeweiligen Kapiteln abgehandelt. Insgesamt umfasst der Quellenkorpus der vorliegenden Arbeit 24 anarchistische und sieben nicht-anarchistische Titel. Das entspricht rund 1200 Ausgaben anarchistischer Zeitungen. Die Auswertung der nicht-anarchistischen Presse erfolgte in Stichproben, wodurch sich die Analyse auf rund 400 Ausgaben reduzierte. Der Unterteilung in anarchistische und nicht-anarchistische respektive dort weiter in bürgerliche, sozialdemokratische oder neutrale Titel geht eine Einordnung der politischen Richtung voraus. Ein nur scheinbar banaler Akt, wie bei der Recherche mit mehreren Bibliografien klar wurde, die werkspezifisch politisch taxierten. Eine politische Einordnung von außen mag bei der Betrachtung einer jeden politischen Gemeinschaft ein Problem darstellen und damit von zentraler Bedeutung für ihr Verständnis durch ForscherInnen sein. In der Anarchismusforschung wird diese Unschärfe, die durch die Absenz von internen Anarchismusstandards und -definitionen bei der Einordnung entsteht, multipliziert. So erschwert der Anarchismus die Einordnung der Bewegung und ihrer Effekte letzten Endes zu einem guten Teil selbst. Das ist vor allem deshalb paradox, weil so die Deutungshegemonie abgegeben wird. Zeitungen, Pamphlete, Kleinschriften, Flugblätter und sonstige Verlautbarungen wurden selbstredend nichtsdestotrotz politisch eingeordnet – nur eben mit noch größeren Streuungsfehlern.101

101  |  Dieses Problem betrifft bei Weitem nicht nur die Forschung. Wie im Kapitel zur Fremdwahrnehmung zu sehen sein wird, ist es auch die Politische Polizei, die öffentliche Meinung

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Die Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus DadA102, auf die bei der Recherche zurückgegriffen wurde, klassifiziert infrage kommende Zeitungen und Zeitschriften beispielsweise nach den Schlagwörtern ›anarchistisch‹, ›anarchistische Tendenzen (libertäres Umfeld)‹ und ›nichtanarchistisch (linkes Umfeld)‹ . Als ›anarchistisch‹ gelten Soziale Bewegungen, Gruppen, Personen beziehungsweise Dokumentinhalte, die sich expressis verbis auf den Anarchismus oder anliegende Strömungen beziehen, von der anarchistischen Bewegung als zugehörig anerkannt werden oder die maßgebende anarchistische Eigenschaften aufweisen. Mit ›Anarchistische Tendenzen (libertäres Umfeld)‹ werden Soziale Bewegungen, Gruppen, Personen beziehungsweise Dokumentinhalte bezeichnet, die sich von anarchistischen Inhalten abgrenzen, aber wesentliche Elemente beziehungsweise Eigenschaften des Anarchismus enthalten, beziehungsweise durch Bündnisse oder personelle Überschneidungen eine gewisse Nähe zum Anarchismus zeigen. Als ›nichtanarchistisch (linkes Umfeld)‹ werden Gruppen beziehungsweise Dokumentinhalte mit linksradikaler beziehungsweise linker, undogmatischer Ausrichtung eingeordnet, die Berührungspunkte zur anarchistischen Bewegung beziehungsweise zum libertären Umfeld durch Überschneidungen bei Politikansätzen oder Themenfeldern, Solidarisierung, Beteiligung oder Beiträgen von AnarchistInnen aufweisen.103 So begrüßenswert der Versuch einer stringenten Klassifizierung ist, sind darin auch neue Fehlerquellen zu sehen. In Zeiten verstärkter Repression kann ein solches Raster zu Fehleinordnungen führen. Wer sich in den 1890er Jahren oder kurz nach 1898 oder 1901 nach einem anarchistischen Attentat expressis verbis auf den Anarchismus bezog, zog mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht nur eine weitreichende öffentliche Missgunst auf sich. Auch die offizielle Schweiz in Gestalt der Politischen Polizei wurde aufmerksam, was unangenehme Folgen haben konnte. Diese Szenarien führten dazu, dass – zumindest teilweise104 – versucht wurde, Anarchiebegriffe in Selbstbezeichnungen zu vermeiden. Wendet man nun die Kategorien der DadA an, so würden einige Zeitungen unter die gemäßigte Kategorie ›anarchistische Tendenzen (libertäres Umfeld)‹ fallen, obwohl sie dem Inhalt nach eindeutig anarchistisch sind. Durch die mangelnde Kontextsensitivität bei der politischen Einordnung entsteht so ein weiteres Verzerrungsmoment. Im Gegensatz zu den Richtlinien der DadA finden sich in den wichtigen Bibliografien Alfred Eberleins105 keine Hinweise darauf, wie eine Zeitung in seinen Werken zur anarchistischen Zeitung wird. Fritz Blaser106 informiert, dass er sich beim Aufbau seiner Bibliographie der Schweizer Presse an die »[...] ›Richtlinien für die historische Bibliographie der Presse‹, veröffentlicht im ›Bulletin of the International Committee

und der davon beeinflusste und diese beeinflussende Volksmund, die sich nur allzu oft kreativen Definitionen bedienten, um über irgendetwas urteilend sprechen zu können. 102  |  Online erreichbar unter: http://www.dadaweb.de (Stand: 6.3.2012). 103  |  Die ausführlichen Richtlinien der Klassifizierung der DadA finden sich online unter: http://ur.dadaweb.de/p-start.htm (Stand: 6.3.2012). 104  |  So lautet etwa die Selbstbezeichnung in der Freien Gesellschaft, die 1892 in Zürich erschien, nie ›Anarchisten‹ sondern ›wahre Sozialisten‹ oder ›Internationale Sozialisten‹, auch wenn die Hypergüter eindeutig anarchistisch sind. Vgl. Kapitel 4.2.1 Freie Gesellschaft. 105  |  Eberlein, Die Presse der Arbeiterbewegung und Eberlein, Internationale Bibliographie der deutschsprachigen Presse der Arbeiter- und sozialen Bewegungen. 106  |  Blaser, Bibliographie der Schweizer Presse.

1. Einleitung

of Historical Sciences‹ (Vol. VI, numbers 22-25, 1934)«107 gehalten habe. Gemäß diesen Richtlinien wird die politische Tendenz einer Zeitung verzeichnet, wenn sie »[...] aus dem Titel oder Untertitel ersichtlich war oder aus Leitartikeln ermittelt werden konnte [...]«108. So wird eine starke Emphase auf die Selbstverortung der ZeitungsschreiberInnen gelegt. Das ist einerseits zu begrüßen, da es den Fehler der Fremdzuschreibung weitgehend eliminiert. Allerdings nur, solange sich im Titel oder im Untertitel ein verwertbares politisches Schlagwort befindet. In den Leitartikeln wird bereits wieder inhaltsanalytisch ermittelt, sodass eine verfälschende Interpretation der Klassierenden zum Tragen kommen muss, da auch bei Blaser Anarchismus-Definitionen fehlen. Auch wenn Anarchismusforscher und Historiker Max Nettlau in seiner Geschichte der Anarchie in fünf Bänden keinen bibliografischen Anspruch erhob, war sein Werk eine große Hilfe bei der Quellensuche. Nettlau taxierte Zeitungen als anarchistisch wenn er »Hauptteile des Anarchismus« wie »[...] soziale Revolution, Verwerfung des Staatsapparats, Föderalismus und ähnliche [...]«109 thematisch umgesetzt sah. Dieser Ansatz erkennt zwar mit dem Begriff »Hauptteile« an, dass die Bewegung vielgestaltig ist und durchaus auch Widersprüche vorhanden sein können. Aber Nettlau impliziert damit auch einen eigentlichen Kanon im Anarchismus, den er mit der Ergänzung »und ähnliche« gleich wieder so weit aufreißt, dass den LeserInnen selbst überlassen wird zu entscheiden, was nun Hauptteil ist und was nur (unwichtiger) Nebenteil. So bewegungsnah Nettlaus taxonomische Geste auch sein mag, die LeserInnen zur Mitarbeit einzuladen, so wenig nützt sie in der Etablierung eines Einordnungsstandards.110 Da auch die vorliegende Arbeit keinen explizit bibliografischen Charakter hat, wurde auf die Ausarbeitung eines gänzlich neuen Klassifizierungsansatzes verzichtet. Stattdessen wurden die genannten thematisch relevanten Bibliografien und Werke bibliografischen Mehrwerts konsultiert und die darin als anarchistisch verzeichneten Titel zusammengetragen. Während der Arbeit an ihnen sollten diese Verortungen auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Als korrekt eingeordnet sollen Zeitungen gelten, wenn sie anarchistische Tendenzen und/oder Begriffe in Titel, Untertitel und/oder in weiten Teilen des Inhalts aufweisen. Unter anarchistischen Tendenzen wird dabei die Kolportage von Weltbildern, Sinnwelten und Deutungskonfigurationen verstanden, die mit denjenigen anarchistischer Klassiker weitgehend deckungsgleich sind. Als anarchistische Klassiker wiederum sind diejenigen Werke zu verstehen, die sowohl in der Jahrhundertwende als auch in neuesten Arbeiten zum Anarchismus als grundlegende anarchistische Werke eingestuft werden.111 Zusätzliche Verifizierung der Einordnung bietet die Verortung von Zeitungen als anarchistisch in anderen als anarchistisch verstandenen Zeitungen. 107  |  Ebd., S. XVI. 108  |  Ebd., S. XIX. 109 | Nettlau formuliert diese Kriterien anhand der Betrachtung und damit einhergehenden Verortung der österreichischen Zeitung ›Die Zukunft‹, die von 1879-1884 in Wien erschien. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 3, S. 521. 110  |  An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Nettlaus hier verwendetes Werk nicht als Bibliografie geschrieben wurde und damit lediglich als bibliografische Stütze verwendet werden kann. 111  |  So etwa Schriften Michail Bakunins, Peter Kropotkins, Max Stirners, Gustav Landauers, Erich Mühsams, Johann Mosts, Emma Goldmanns oder Rudolf Rockers.

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1.6.3.2 Polizeiakten Die Akten der Politischen Polizei liegen gut katalogisiert im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern vor. In erster Linie wurden die mit ›Anarchismus‹ verschlagworteten Bestände verwendet, darüber hinaus wurden auch Informationen aus einzelnen Personendossiers miteinbezogen. Wie zu erwarten ist, fehlen hie und da einige Dokumente, wenn man den Inhalt mit den Registern vergleicht. Nichtsdestotrotz sind die Bestände sehr reichhaltig. Da die Kantonspolizeien die Hauptzuträger der Politischen Polizei waren, lassen sich die Bestände des Bundesarchivs mit den Beständen der kantonalen Staatsarchive abgleichen und gelegentlich können einzelne Lücken überbrückt werden.112 Die Dokumente der Politischen Polizei sind formal sehr unterschiedlich. Es liegen maschinengeschriebene Kopien von Protokollen vor sowie gedruckte Berichte über erfolgte Unter- und Durchsuchungen. Ebenfalls gedruckt liegen Verzeichnisse ausgewiesener Personen vor. Zahlenmäßig dominierend sind aber handschriftliche Dokumente, die von den Kantonspolizeien teils auf Durchschlagpapier, teils auf offiziellen kantonalen Papierbögen nach Bern geschickt wurden. Zumeist sind diese kantonalen Briefe Antwortschreiben auf telegrammierte Kreisschreiben des Bundesanwalts, die ebenfalls in den Beständen vorhanden sind. Daneben finden sich in den Akten der Politischen Polizei immer wieder Kleinschriften, einzelne Nummern von Zeitungen, Zeitungsausschnitte oder Ähnliches. Generell sind sämtliche gesichteten Akten in passablem Zustand für ihr Alter und – von den zuweilen sehr expressiven Handschriften abgesehen – gut leserlich. Die von der Politischen Polizei eröffneten Akten verfügen schließlich über ein ähnliches Problem wie es schon bei den Zeitungen auftrat: Die Beantwortung der Frage, was AnarchistInnen ausmacht. Noch viel weniger als bei den verschiedenen pressegeschichtlichen Arbeiten ist bei Staatsschutzakten zu eruieren, wann und wieso jemand als AnarchistIn erfasst wurde. Eine Kategorisierung, die als Richtlinie hätte gebraucht werden können, konnte nicht gefunden werden. Die Vermutung liegt nahe, dass jeder diensthabende Polizist, vom öffentlichen Diskurs geprägt, weitgehend eigenmächtig bestimmte, was AnarchistInnen ausmachte und dementsprechend wer AnarchistIn war. Eine Fehleinschätzung von Menschen als AnarchistInnen konnte für die Bezeichneten drastische persönliche Folgen haben, wie zu sehen sein wird. Aber nicht nur das: Sie stellte auch deshalb ein Problem dar, weil sie nicht verifiziert oder falsifiziert werden konnte. Vielfach sind über die Erfassten nur Kurzinformationen verfügbar: Name(n), Namen der leiblichen Eltern, Geburtsort, Alter und Aufenthaltsort respektive Zielort bei Reisenden. Tauchten die Namen nicht an einer anderen Stelle auf, wo sie ausführlicher vorgestellt wurden, war eine fundierte qualitative politische Beurteilung durch die Polizei unmöglich. Und auch eine Beurteilung der Beurteilung wird damit verunmöglicht. Als direkte Quelle sind Polizeiakten deshalb also mit Vorsicht zu verwenden. Als Quelle für den bisweilen hysterischen Umgang mit dem Thema Anarchismus in der Schweiz des ausklingenden 19. Jahrhunderts hingegen liefern sie gerade in ihrer Gewissenhaftigkeit und Übersensibilität ein akkurates Bild ab.

112 | Dies ergab der Abgleich der Bestände des Bundesarchivs mit den Beständen des Staatsarchivs Zürich.

2. Von Identität und IdentitäterInnen »Die Identität ist der Teufel in Person und ungeheuer wichtig, sehr viel wichtiger als ich glaubte. Sie hängt unmittelbar mit den grundlegenden Fragen zusammen [...].«1

Die Frage nach den AnarchistInnen und damit auch nach der anarchistischen kollektiven Identität lässt sich weder für die Schweiz noch für andere Regionen und Nationen schlüssig beantworten. Eine versplitterte Gemeinschaft wie die der AnarchistInnen, die sich nicht auf eine Exegese aus einem grundlegenden Werk beschränkt, sondern im Gegenteil darauf erpicht ist, sich ihre Wahrheiten und Wirklichkeiten ohne jegliche Beschränkung selbst zu erarbeiten2, muss als hochgradig pluralistisch verstanden werden. Trotz dieses kaleidoskopartigen Fundaments lässt sich auch bei anarchistischen Gruppen Gemeinschaft feststellen. Mögen sich Methoden, Ziele und Ideen gelegentlich auch zuwiderlaufen3: Sie sind AnarchistInnen. Nur: Was sind AnarchistInnen? Was macht AnarchistInnen aus, wenn nicht ein Programm, eine diszipliniert eingehaltene Linie? Dass sie von außen als eine Gruppe wahrgenommen und thematisiert werden, dass sie sich auch selbst als Gruppe begreifen und zum Teil mit denselben Signifikanten umreißen4, lässt darauf schließen, dass sie als Gemeinschaft über eine gemeinsame Identität verfügen.5 Dass kollektive Identitäten eine zentrale Rolle spielen in Konstruktion, 1  |  Wittgenstein, Briefwechsel, S. 36. 2  |  Vgl. ausführlicher zu den einzelnen anarchistischen Strömungen Kap. 3. Vom Anarchismus und Anarchisten. 3  |  Zu beobachten etwa bei der anarcho-syndikalistischen Beschränkung auf die Befreiung der Arbeiterklasse, die dem ›klassischen‹ Anarchismusziel, der Befreiung aller Menschen, entgegensteht. Vgl. Degen/Knoblauch, Anarchismus. 4 | Diese beiden Punkte werden ausführlich behandelt in Kap. 4. Von Vorläufern und Erleuchteten: AnarchistInnen und Anarchismus in der anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914 und 5. Von Läusen und Unkraut: AnarchistInnen und Anarchismus in der nichtanarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914. 5  |  Wenngleich die Pluralität und damit ein Nebeneinander von unterschiedlichen kollektiven Identitäten dem Anarchismus philosophisch eingeschrieben ist, so ist eine Koexistenz unterschiedlicher Sub-Identitäten auch bei anderen Sozialen Bewegungen möglich. Hunt/ Benford halten in ihrem Beitrag gar fest: »The crucial point here is that any particular movement [...] has a multiplicity of collective identities.« (Hunt/Benford, Collective Identity, S. 445).

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Konstitution und Verlauf von Gemeinschaften wird in der Forschung nicht mehr angezweifelt.6 Wie und von wem sie konstruiert werden, soll in den folgenden Kapiteln ebenso Thema sein, wie die Aufarbeitung der dazugehörigen wissenschaftlichen Debatten und deren Kommentierung. Einleitend sollen im ersten Unterkapitel grundsätzliche Fragen und Probleme rund um den ebenso geläufigen wie schummrigen Begriff Identität thematisiert werden.

2.1 P robleme /G enerelles Was Identität sein soll, dazu haben sich schon viele geäußert und dementsprechend finden sich in Enzyklopädien vieler Richtungen Einträge dazu. Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Neurobiologie, Politologie, Kommunikationswissenschaften und weitere benachbarte Disziplinen haben je eigene Ansätze, Identitäten und ihre elementaren Rolle in Bezug auf das menschliche Leben in der Gesellschaft zu umschreiben und sich seiner Regeln anzunehmen. Es sollen an dieser Stelle in aller Kürze die Probleme der Felder Sozialpsychologie, Wissenschaftsphilosophie sowie Kulturwissenschaften beleuchtet werden zur Illustration der unterschiedlichen Problematiken, die perspektivenabhängig entstehen.7 Um möglichst allgemein verständliche Skizzen zu erhalten, wurde auf dem jeweiligen Fachgebiet entsprungene Enzyklopädien zurückgegriffen. Für die Sozialpsychologie8 geht Bierhoff in seinem Eintrag im Begriffswörterbuch Sozialpsychologie dem Phänomen unter dem Signifikant ›soziale Identität‹ auf den Grund. Im Zentrum des Forschungsinteresses steht eine Person, die sich eine soziale Identität zulegt respektive diese unterhält. Definiert ist die soziale Identität durch die Zugehörigkeit zu einer Binnengruppe, die sich ihrerseits von Fremdgruppen abzuheben sucht. Eine positive soziale Identität ist dann gegeben, wenn das Gruppenmitglied in einer relevanten Bewertungsdimension den Mitgliedern einer oder mehrerer Fremdgruppen voransteht. Statushohe Gruppen verfügen eher über positive, statusniedrige eher über negative soziale Identität. Auf diesem Gerüst lässt sich ein Streben nach Überlegenheiten in Vergleichsdimensionen konstruieren, die für eine betrachtete Gruppe zentral ist. Das Ergebnis dieser so erfolgten eigentlichen sozialen Kategorisierung ist ein Selbstbild für die Gruppenmitglieder, fundiert in ihrer Verortung. Dabei wird das Selbstbild als soziale Identität einer Person verstanden. Bierhoffs Forschungsprämisse beinhaltet demnach, dass der Mensch prinzipiell nach positiver sozialer Identität strebt. Dieses Streben kann sich unter Umständen in Mobilität (Verlassen der Binnengruppe), sozialer Kreativität (Neubewertung von ›zentralen‹ Vergleichsdimensionen) oder dem Engagement in sozialen Konflikten ausdrücken, mit der Motivation zu einer positiven sozialen Identität zu gelangen. Zwischen den Zeilen dringt bei Bierhoff die Vorstellung eines rationalen Einzelkämpfers durch und soziale Identität wird so zum beständigen Wettbewerb, in 6  |  Vgl. Robnett, External Political Change, S. 267 sowie exemplarisch Hunt/Benford, Collective Identity, Polletta/Jasper, Collective Identity, Castells, Power of Identity. 7  |  Die Wahl dieser Disposition erklärt sich mit dem zu erhoffenden Mehrwert für die Theorielegung dieser Arbeit. 8  |  Ganzer Abschnitt nach Bierhoff, Theorie der sozialen Identität.

2. Von Identität und IdentitäterInnen

dem alle gegen alle und jeder und jede für sich um Status und Ansehen kämpfen, die beide an einer scheinbar globalen Werteskala gemessen werden können. Dem Gemeinschaftsgefühl wird eine Wertigkeit abgesprochen und an der Stelle von Kompassion und Interesse als Grund für die Teilnahme an einer sozialen Identität wird eine Karriereleiter imaginiert, was nicht zuletzt ein eigentlich soziales Phänomen zur isolierten Privatsache einer großen Menge von Vereinzelten werden lässt. Mit wissenschaftsphilosophischem9 Blick definiert Schenk Identität als begriffliche Antipode zum Phänomen ›Unterschied‹. Das von ihm als zweiteilige Einheit begriffene, ungleiche Paar kommt dabei in unterschiedlichen Situationen zum Zug und bedarf deswegen auch verschiedener Definitionen. Das produktive Zusammenwirken der uneinheitlichen Einheit ist es dabei letztlich, das die Bestimmung der Individualität von Entitäten erst ermöglicht. Schenk unterscheidet die Kontexte, die als verschiedenartige Ausgangspunkte dienen und zum Schluss anwendungsorientierte Definitionen und Funktionsbestimmungen des Begriffspaars Identität/Unterschied haben müssen. Den kontextbedingten also unterschiedlichen Definitionen von Identität ist dennoch ein gemeinsamer Kern eigen: die inhärente Möglichkeit der »[...] Thematisierung des Beständigen/Erhaltenden in Unterscheidung zum Veränderlichen«10. Anders formuliert ist es dem Begriff durch seine Eigenschaft, Varianzen und Invarianzen markieren zu können, so erst möglich, die Dinge der Welt zu reflektierbaren Entitäten zu formen, sie als Objekte erkenn- und verhandelbar zu machen. Damit wird Identität als zweistellige Relation verstanden, die in beliebigen Gegenstandsbereichen sinnvoll angewendet wird. Gerade dadurch aber ist sie allgemeingültig definitorisch schwer zu fassen. Dieser Definitionsentwurf zeigt gut, wo eines der wesentlichen Probleme der zu erfassenden Breite von Identität als Begriff liegt: Wird ein definitorisch spezifischer Ansatz verfolgt, bleibt eine nur partikulär gültige Formulierung. Wird allgemeingültig verfasst, droht das Ergebnis der Bemühungen um eine Definition zum Gemeinplatz zu verkommen. Paradoxerweise führt gerade die vermehrte Diskussion dieser Problematik dazu, dass sich die Zersplitterung in Partikulardiskurse und -definitionen in den beteiligten Wissenschaften weiter verschärft. In kulturwissenschaftlicher Perspektive11 geht Straub in erster Instanz auf die Trennung von personaler und kollektiver Identität ein. Beide hätten ihre eigenen Forschungsschwerpunkte, die sich wohl gelegentlich durchkreuzten, ähnlich oder deckungsgleich sein könnten, dies aber nicht müssten.12 Bezüglich personaler wie kollektiver Identität steht eine festgestellte permanente Werdung von Identität im Fokus. Eine Werdung, die nie abgeschlossen ist, sondern stetiger Bestätigung und Wiederauffrischung bedarf, die einerseits in Formen der kollektiven Identität zu 9  |  Ganzer Abschnitt nach Schenk, Identität/Unterschied. 10  |  Schenk, Identität/Unterschied, S. 611. 11  |  Ganzer Abschnitt nach Straub, Identität. 12  |  Gegen eine allzu strikte definitorische Trennung von personaler und kollektiver Identität wenden Friedman/McAdam scharf gedacht ein: »In the first place, all identities are collective, in the sense, that every identity we claim requires some degree of (collective) social approbation for it to have meaning.« Personale Identität sei als Summe von Teilen von kollektiven Identitäten zu denken: »[...] What makes an individual‘s identity unique is not the singularity of the constituent parts but rather the combination or configuration of those parts.« (Friedman/McAdam, Collective Identity, S. 156-157, Anm. 1). Straub, Identität, S. 279.

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finden ist, andererseits auch im Forschungsfeld der personalen Identität auftritt als »[...] nicht zu besänftigende Unruhe eines in Bewegung geratenen Selbst [...]«13. Personale Identität existiert ontologisch gesehen demnach nicht. Vielmehr verbleibt sie immer im transitorischen Moment14: Sie bleibt immer Aspiration, steter Fluchtpunkt, prinzipiell unvollständig und unvollendet.15 Im Kern wird Identität also als ein immerwährendes, entelechetisches Konzept begriffen, bei dem das werdende Sein das Ziel ist.16 Die Inkongruenzen zwischen Person und Aspiration haben dabei keinen störenden, sondern einen konstituierenden Charakter. Im Sinne einer Dualität im Dialog entsteht in kulturwissenschaftlicher Sichtweise personale Identität als Summe von Differenzialität und Identität. Die interne Identität einer Person nennt Straub ipse-Identität, die aber nicht als alleinverantwortlich anzusehen ist für die Identität einer Person. Personale Identität ist in kulturwissenschaftlicher Optik demnach keine ausschließliche Eigenleistung. Konstitutiv sind auch die Reaktionen der ›anderen‹ auf das Selbst, konstitutiv ist der gesellschaftliche Kontext, der Aspirationen als sinnvoll erscheinen lässt, sie generell zulässt oder nicht.17 Auch Straub versucht sich in der Elaboration eines Kerns, der den immer zeit- und kulturspezifischen Identitäten von Personen eigen ist. Die Elemente Kontinuität, Konsistenz, Kohärenz sowie die Differenz zur Aspiration sind bei ihm die Faktoren einer Identität, die eine Plethora an Wertigkeiten zum Ergebnis haben können, von geglückter Identität über Verunsicherung bis zur Identitätskrise. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist personale Identität Grundlage des subjektiven Handlungspotenzials und der Autonomie des handelnden Subjekts. Bei der Nennung von Autonomie dürfen prägende Rahmenbedingungen wie Enkulturation und Sozialisation nicht vergessen gehen; eine strikt binäre Trennung

13  |  Ebd., S. 279. 14  |  Vgl. ausführlich zu dieser Denkfigur Straub/Renn, Transitorische Identität. 15  |  Straub schließt zusammenfassend: »[Personale, d.V.] Identität meint aspirierte, angestrebte, imaginierte Identität und als solche trägt sie zur Konstitution des Handlungspotentials [sic] einer Person bei und motiviert sie zu bestimmten Verhaltensweisen. Identität ist ein normativer, sozialer Anspruch, den Personen an sich und andere stellen können, wohl wissend, dass niemand diesen Anspruch jemals zu erfüllen in der Lage ist.« (Straub, Identität, S. 281). Diese Idee findet sich – unter Verwendung anderer Terminologie – auch beim Entwicklungspsychologen Erikson. Vgl. Erikson, Das Problem, S. 190-191. 16 | Auf den Punkt gebracht, in einem anderen Artikel Straubs: »Die Identität einer Person kann nicht als vorgezeichnete, substanziell bestimmte und zeitlebens stabile Einheit beschrieben werden. [...] Im Hinblick auf die moderne Gesellschaft lässt sich konstatieren: Die Identität ist in Bewegung geraten.« (Straub, Transitorische Identität, S. 13). Anders sieht das Erikson, der von einem teleologischen Sachverhalt ausgeht und eine in der Adoleszenz zu fixierende und hernach fixierte Identität imaginiert. Vgl. Erikson, Das Problem. 17 | Vgl. Straub, Identität, S. 281. Die Überlegung der Rück-Rückwirkung von Identitäten durch ›andere‹ auf Identitätsbedürftige und die Taxierung dieses Phänomens als konstitutives Moment finden sich übrigens bereits Jahrzehnte früher. In einem Aufsatz Erik H. Eriksons aus dem Jahr 1956 etwa: »Der Begriff ›Identität‹ drückt [...] insofern eine wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfasst.« (Erikson, Das Problem, S. 124).

2. Von Identität und IdentitäterInnen

von Autonomie und Heteronomie wird negiert.18 Kollektive Identität wird als Signifikant ohne real existierendes Signifikat gesehen. Eine unmittelbare Körperlichkeit fehlt und damit die Grundbedingung zur sprach- und handlungsfähigen Einheit. Dieser Logik folgend ist Kollektiven als sozialen Konstrukten eine ipse-Identität unmöglich. Straub hegt für den Begriff den Verdacht, ein »[...] leeres Zeichen ohne jeglichen Referenten [...]« zu sein, das »[...] eher beschwört als beschreibt, eher aufruft als anspricht, eher mobilisiert als erklärt.«19 Damit sieht er auch die Falle, die eine kollektive Identität sein kann, nämlich »[...] auch eine Zuflucht, die es gestattet, sich regressiven Verklärungen und Bestrebungen zu überlassen, sich im Kokon des imaginierten Eigenen einzurichten und vielleicht auch ›einzusperren‹«20. Das kursiv gestellte ›auch‹ ist dabei zentral: Die Schaffung einer Identität eines Kollektivs, also die Anwendung einer Identitätspolitik als effektives Mittel politisch handlungsfähige Gruppen im Hinblick auf die Erreichung eines (politischen) Ziels zu imaginieren, zu konstituieren und zu mobilisieren, ist wohl eine Möglichkeit. Aber: »Einen Automatismus, der die differentielle Bestimmung einer kollektiven Identität mit der gewaltsamen, symbolischen und ›praxischen‹ Exklusion und Nihilierung von Anderen und Fremden [...] kausal verknüpft, gibt es nicht. Nicht jede soziale Differenzierung ist eine Diskriminierung [...].«21 Weitgehend wertungsfrei wird kollektive Identität als eine erkannte Sammlung von Gemeinsamem in ausgesuchten, spezifizierten Aspekten einer variablen Mehrzahl von Personen verstanden.22 In Form eines Konsens bezüglich Denkarten, Erfahrungsräumen und/oder Erwartungshorizonten, die »[...] Anlässe und Anhaltspunkte für die kommunikative diskursive Aushandlung und Artikulation kollektiver Identitäten bieten [...]«23, ist sie nachzuweisen. Die kollektive Identität wird damit ebenso als Konstrukt verstanden wie die personale Identität. Sie ist existent, wenn sie im Denken oder Handeln der Kollektivmitglieder existiert und diskursiv verhandelt wird, da sie erst durch habitualisierte, routinierte Verhaltensformen als tacit knowledge gegenwärtig werde. Personale und kollektive Identität werden differenziert als Handlungsimpetus interpretiert. Dass nicht nur die Verfolgung von Zielen zur aktiven Teilnahme an einer Gemeinschaft verleiten kann, sondern auch die Nestwärme, die sie bietet, spielt auch in der kulturwissenschaftlichen Perspektive keine Rolle, wenngleich das Aufgehobensein in einer Gruppe von wesentlich Gleichgesinnten eine

18 | Einfacher formuliert: Die Selbstbestimmung ruht auf Bedingungen. Ein starkes Subjekt, das sich fundamental der Umwelt zu entziehen vermag, gebe es nicht. Vgl. Straub, Identität, S. 288. 19  |  Ebd., S. 293. 20  |  Ebd., S. 298, Anm. 94 (Herv. d.V.). 21  |  Ebd., S. 298. 22  |  Ebd., S. 298. »Der Ausdruck der kollektiven Identität stellt eine Chiffre für dasjenige dar, was bestimmte Personen in der einen oder anderen Weise miteinander verbindet, diese also erst zu einem Kollektiv macht, dessen Angehörige zumindest streckenweise einheitlich charakterisiert werden können, weil sie selbst sich (in gewissen Hinsichten) einheitlich verhalten und sich selbst einheitlich beschreiben.« (Ebd., S. 300 [Herv. i.O.]), formuliert Straub an anderer Stelle verständlicher. 23  |  Ebd., S. 299.

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Gemeinschaft für AspirantInnen ebenfalls durchaus attraktiv erscheinen lassen kann.24 Trotz dieser interdisziplinären Einstiegshilfen bleiben in der Thematik eine Menge Fragezeichen zurück. Um was handelt es sich genau bei Identität, einem Begriff der immer ubiquitärer verwendet wird und immer häufiger Titelblätter von psychologischen, ethnologischen, pädagogischen und soziologischen ebenso wie von historischen, literaturwissenschaftlichen, philosophischen und neurobiologischen Arbeiten ziert?25 Die verschiedenen wissenschaftlichen (und nicht-wissenschaftlichen) Diskurse haben sich bis heute schon so weit zersplittert, dass wohl Faktum bleiben wird, dass es Identität kaum je als von allen beteiligten Forschungsrichtungen abgesegnetes Konzept geben wird, das sich einfach im Singular benennen ließe.26 Arbeiten verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit ihren je eigenen Methoden, Interessenslagen und Erkenntnishoffnungen an einem Thema und kommen so zu unterschiedlichen Ergebnissen, die sich nicht zusammenfassen lassen, muss zwangsläufig eine Unschärfe bezüglich des bearbeiteten Begriffs entstehen. Der also von verschiedensten Seiten geformte und verwendete Identitätsbegriff muss in der Konsequenz immer mehr und mehr erklären, definieren, illustrieren und wird so in erster Linie breiter und breiter statt in die Tiefe zu wachsen. Die Identität beraubt sich dadurch der Feinfühligkeit für Ungleichheiten und Besonderheiten: Ihre ausladende Umarmung von verschiedensten Phänomenen (personale Identität, kollektive Identität, nationale Identität, geschlechtliche Identität, aber auch Corporate Identity unter anderem) und wissenschaftlichen Richtungen

24  |  Dass Emotionen eine nicht unbeträchtliche Rolle bei Konstitution und Unterhalt von kollektiver Identität spielen, betont v.a. die neueste Forschung. Vgl. stellvertretend Goodwin/ Polletta, Why Emotions Matter, S. 8-9, und Hunt/Benford, Collective Identity, S. 446-447. 25 | Eine Literaturrecherche allein im NEBIS-Verbund liefert schon knapp 4500 Titel, die seit 2005 zum Thema erschienen sind, verteilt über die oben genannten wissenschaftlichen Disziplinen. (Stand: 31.1.2012). Bei Niethammer findet sich eine (epische) Anmerkung zum konjunkturellen Aufschwung der Identitätsforschung. Mit Zahlen für Monografien in Deutschland und den USA von 1946 bis 2000 bestätigt er das hier festgestellte Anschwellen. Nach seiner Rechnung fand seit 1946 pro Jahrzehnt eine Verdoppelung der Erscheinungen zum Thema statt. Niethammers Recherchen zufolge übersteigt zudem die Anzahl an Titeln, die sich mit kollektiven Identitäten beschäftigen, diejenigen zu personaler Identität bei Weitem (Vgl. Niethammer, Kollektive Identität, S. 21-22, Anm. 23). Allerdings muss festgehalten werden, dass die Grenze zwischen kollektiver und personaler Identität in mancher Monografie nicht immer so klar gezogen wird, wie Niethammers Aufstellung das vermuten lässt. Niethammers Postulat von der‚Verdrehung‹ von Primat und Nicht-Primat bestimmter Identitätstypologien im Forschungskanon (Vgl. ebd., S. 55-70) ist mit Vorsicht zu genießen, weil sie die Idee einer weitgehenden Autonomie der Diskurse suggeriert, die so nicht stattgefunden hat, wie Straub m.E. zu Recht kritisiert (vgl. Straub, Identität, S. 292). 26  |  Wenigstens diese Ansicht teilen die verschiedenen Forschungsrichtungen. Straub formuliert das folgendermaßen: »Es gibt eigentlich nicht ›den‹ theoretischen Identitätsbegriff, sondern mannigfaltige Gebrauchsweisen, die allenfalls durch gewisse Familienähnlichkeiten verbunden sind und dadurch Konturen eines mehrere theoretische Strömungen umfassenden, sozial- und kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs erkennen lassen.« (Ebd., S. 278, Herv. i.O.).

2. Von Identität und IdentitäterInnen

lässt eine Definition, die den jeweiligen Besonderheiten Raum gibt, kaum zu.27 Das Bild von Identität, das Marquard bereits 1979 verwendet, um die Folgen des gleichzeitig in verschiedene Richtungen strebenden Forschens zu skizzieren28, trifft den Nagel auf den Kopf: Er spricht von einer zunehmend konturlosen, immer größer und nebulöser werdenden Wolke. Kaschuba spricht von Identität gar als einem »[...] Kodewort des Zeitgeistes – vielzitiert, vielstrapaziert, scheinbar jeder wirklichen Semantik bereits verlustig gegangen«29, das dadurch mit einer »epistemischen Unschärferelation«30 zu kämpfen habe. Harböck spricht von einer semantischen Ausfransung, bedingt durch die »[...] hohe Popularität und den damit verbundenen inflationären Gebrauch in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen [...]«31. Die Verwischung des Sprachgebrauchs geht mit einer fortschreitenden Metaphorisierung einher, wie Niethammer in seiner Tour d‘Horizon des neueren Diskurses feststellt. »Was ihm an Substanz verloren geht, wächst ihm an Konnotationen zu«32, moniert er und lässt sich in spöttischem Ton33 über die vielen kursierenden Ansätze zur Klärung und – vor allem – über ihre Neologismen aus.34 Die in immer neuen Schattierungen auftretenden Identitäten werden für Niethammer zu »semantischen Mollusken«35, Identität zum Plastikwort, das, frei nach Pörksen36, alles und nichts bedeuten kann, dabei aber immer wissenschaftlich klingt. Für die amerikanische Identitätsforschung plädieren Brubaker/Cooper37 in ihrem Essay für eine Abkehr vom alles meinenden und gerade dadurch immer ungenaueren Identitätsbegriff. Sie verharren dabei nicht in der Rolle der Kritik, sondern bieten eine Reihe von Alternativbegriffen an, die treffender bezeichnen, was Identität alles meint.38 Die fortschreitende Diffusität ist allerdings bei Weitem nicht das einzige Problem, das der Identitätsbegriff in sich trägt und das die Be27  |  Niethammer, Kollektive Identität, S. 38. 28  |  Marquard, Identität, S. 347. 29  |  Kaschuba, Kulturen, S. 7. 30  |  Ebd., S. 7. Kaschuba sieht dies allerdings nicht bedingungslos als nachteilig an. Trotz der Ungenauigkeit ließe sich nicht von der Hand weisen, dass Bilder vom Selbst und vom Anderen und vom Fremden entworfen würden, dass nationale, ethnische, soziale und geschlechtliche Wesensbestimmungen vollzogen würden, dass konstruktiver und dekonstruktiver Umgang mit »Geschichts- und Gegenwartskulissen« ablaufen würde, was Kaschuba unter »[...] Verhandeln kollektiver wie individueller Identitätszuschreibungen« (ebd., S. 7) subsumiert. 31  |  Harböck, Stand, Individuum, Klasse, S. 15. 32  |  Niethammer, Kollektive Identität, S. 30. 33  |  So spricht Niethammer vom »eitlen Tand solchen semantischen Geflirrs« (Ebd., S. 33). 34  |  Obgleich die Lektüre Niethammers Tiraden zum Schmunzeln anregt, ist zu erwähnen, dass Vorstellungen von ›Identitätsprothesen‹ oder ›vorgefertigten Identitätsbausätzen‹, so absurd sie isoliert klingen mögen, durchaus Denkfiguren sind, welche zur Klärung des gerade auch von Niethammer als komplex verschlagworteten Identitätsbegriffs beitragen können. Vgl. ebd., S. 30-33. 35  |  Ebd., S. 33. 36  |  Vgl. Pörksen, Plastikworte. 37  |  Brubaker/Cooper, Beyond ›Identity‹. 38 | In Anwendung auf verschiedene Case Studies führen Brubaker/Cooper die Begriffe Identifikation, Kategorisierung, Selbstverständnis, Soziale Verortung, Kommonalität, Verbundenheit und Gruppenhaftigkeit (identification, categorization, self-understanding, so-

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schäftigung mit ihm erschwert. Die Elastizität von Identität stellt eine weitere Krux dar. Die laufende zeit- und kulturspezifische Veränderung, die menschlichen Gesellschaften eigen ist, führt dazu, dass auch die Identitäten von Gesellschaftsmitgliedern nicht stehen bleiben, sei es als EinzelakteurInnen oder als Gruppe. Das mag im Hinblick auf die angestrebte Elaboration einer allgemeingültigen anthropologischen Theorie frustrierend sein. Aus historiografischer Perspektive ist dieser Umstand zu begrüßen. Ein dergestalt historisierter Untersuchungsgegenstand lässt die Versuchung gar nicht erst aufkommen, im Einzelfall die Materialisierung einer vermuteten Weltgeschichtsgrammatik erkennen glauben zu können. Wandeln sich also Gesellschaften zeit- und kulturspezifisch, so wandeln sich auch die Identitäten historischer AkteurInnen. Sie gehen auf veränderte Voraussetzungen ein und beziehen sie in ihr Tun und Sein mit ein, um nicht an Format, Relevanz und Strahlkraft einzubüßen. Nicht zuletzt die Historizität, die Identitäten so errichten, macht sie fruchtbar für historische Untersuchungen. Folge davon ist aber auch, dass sich die Forschung auf eher enge Zeitrahmen beschränken muss, wenn sie Identitäten untersuchen will. Dabei muss im Hinterkopf behalten werden, dass der Charakterzug des stetigen Werdens selbst bei kleinsten Zeitrahmen gegeben ist, der untersuchte Gegenstand also nie fixiert oder ausgegoren ist. Auch bei den in dieser Arbeit gewählten (Teil)Fragen nach Gestalt, Mutation und Verlauf von Identität darf daher nicht vergessen werden, dass fixierte Start- und Endpunkte, die für eine diachrone Betrachtungsweise Voraussetzung sind, in ihrer Klarheit einzig arbeitserleichternde Maßnahmen der ForscherInnen darstellen. Auch ohne den nur mehr schwer überblickbaren Definitionsdickicht, der unter den tippenden Fingernägeln der Forschungswelt munter sprießt, herrschen Probleme mit Identität vor. Ein vordringliches solches ist die Vielgesichtigkeit, die sich offenbart, wenn eine menschliche Gesellschaft, eine Gesellschaftsgruppe oder ein einzelnes Gesellschaftsmitglied betrachtet wird. Losgelöst von Fragen nach Beurteilung und Benennung sind verschiedene Arten von Identität festzustellen. Die weitverbreitete Annahme, dass es sich bei Identitäten und den Krämpfen der Menschen damit um ein postmodernes Problem handele, soll an dieser Stelle bezweifelt werden.39 Personale, kollektive und soziale Identität, nationale, geschlechtliche und ethnische Identität stehen und standen alle im Raum und beeinflussen und überlappen sich gegenseitig und in unterschiedlich starkem Maße. Während die Spielregeln bei der Konstruktion und die Verhältnisse der einzelnen Identitäten zueinander Gegenstand der Forschungsdiskussion sind, ist man sich über den konstruierten Charakter mittlerweile einig. Drängende Probleme sind in den Fragestellungen zu finden, die sich mit dem Autonomiegrad der Identitätskonstruktion beschäftigen: Ist eine Identität in ihrer Totalität frei wählbar, ist sie ausschließlich vom kulturellen Umfeld der IdentitätsträgerInnen bestimmt? Wenn es sich um eine Mischform handelt – was anzunehmen ist40 – in welchen Fragen cial location, commonality, connectedness, groupness) für die einzelnen Phänomene ein. Vgl. ebd., S. 14-21. 39  |  Mutter, Städterin und Müllerin war eine Frau auch schon im Mittelalter, ebenso wie ein Mann der Antike Bauer, Sportler und Hellene sein konnte. 40  |  Hall meint dazu: »Identität vernäht oder – um eine zeitgemäßere medizinische Metapher zu benutzen – verklammert das Subjekt mit der Struktur.« (Hall, Frage der kulturellen Identität, S. 182).

2. Von Identität und IdentitäterInnen

›regiert‹ die Selbst-, in welchen die Fremdbestimmtheit? Diese Fragen können an personale genauso wie an kollektive Identitäten gestellt werden. Betrachtet man die personale Identität genauer, so ist zu erkennen, dass mehrere Identitäten als Konstrukteurinnen am Werk sind. Dazu soll als postmodernes Beispiel die personale Identität einer arbeitenden, politisch organisierten Frau mit Migrationshintergrund imaginiert werden: Bei ihr spielen sowohl ihre soziale Identität als arbeitendes Gesellschaftsmitglied, ihre kollektive Identität als Mitglied einer politischen Bewegung, ihre geschlechtliche Identität, als auch ihre ethnische Identität eine tragende Rolle bei der Verortung in der Gesellschaft. Daraus erwachsen wiederum mehrere Probleme und Fragenkomplexe. Interferieren die einzelnen Identitäten? Wenn ja bei welchen Situationen und/oder Handlungen? Welche Identität genießt in welcher Situation den Vorzug und weshalb? Lässt sich die Strahlkraft einer Identität an ihrem Konstruktionscharakter ablesen? Wechseln sich die Identitäten in der Hegemonialstellung ab und wenn ja bei welchen Handlungen? Diese und andere Fragen werden in der Identitätsforschung in der Regel fallspezifisch beantwortet. Und genau das stellt ein weiteres systemisches Problem dar. Die Ergebnisse einer Untersuchung einer spezifischen Gruppe lassen sich nur schwer zu einem allgemeingültigen Muster und zu Aussagen zur (typologienunabhängigen) Konstruktion von Identität verdichten.41 Schwierigkeiten bereitet des Weiteren die Unbeständigkeit und die Zeitlichkeit von Identität. Da vornehmlich im erzählten Selbst oder aber in den ›anderen‹ Spuren des ›Wir‹ hinterlassen werden, findet sich Identität folgerichtig nur im Präteritum. Darüber hinaus kann man heute nie wissen, wer man morgen sein wird. Ob die stetige »Veranderung [sic]«42 letztlich zur Auslöschung der Identität führt, ist dabei schon länger eher eine Frage des Glaubens als der Wissenschaft. Entgegen Liebschs Verständnis bleibt meines Erachtens kein Wertevakuum zurück, sollte die Treue zur Identität auch nichtig sein. Vielmehr erhält das Selbst Raum, wenn es windschief statt kongruent zum ›Wir‹ steht, und kann so beispielsweise eine oppositionelle Identität ausarbeiten. Kurz: Es können neue Aspirationen gefasst werden – teilkongruent mit vergangenen Aspirationen oder auch nicht – ohne gleich der Schizophrenie anheim zu fallen.43 Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Erkenntnis des konstruierten Charakters von Identität. Sie verleitet zum Gedanken an eine aufgeklärte Gruppe von KonstrukteurInnen im Hintergrund, die von Eigeninteressen, böser Absicht, Machthunger oder – neudeutsch – einer Hidden Agenda geleitet einen Masterplan verfolgt und die potenziellen Gruppenmitglieder wie Schafe um sich schart, selbst aber identitätsimmun bleibt. Wenngleich solch ein Bild von IdentitäterInnen reizvoll scheint, weil es plakativ und damit politisch gut verwertbar ist, kann das Abklopfen von allem 41 | Studien mit Verallgemeinerungen zu gängigen Identitätstypologien gibt es hingegen wohl und zahlreich. Es sei hernach pro Feld ein Beispiel genannt. Zur kollektiven Identität der in dieser Arbeit stark berücksichtigte Giesen, Kollektive Identität, zu nationaler Identität immer noch von großer Wichtigkeit Anderson, Imagined Communities, zu ethnischer Identität Baumann, Ethnische Identität, zu geschlechtlicher Identität Frevert, Geschlechter-Identitäten, oder Butler, Unbehagen. Auf das Problem der Abhängigkeit von Case Studies gehen Hunt/Benford ein (Vgl. Hunt/ Bedford, Collective Identity, S. 448-449). 42  |  Arendt, Hannah, Vita Activa oder vom tätigen Leben, paraphrasierend zit. ohne genaue Angabe in, Liebsch, Identitäts-Fragen, S. 132. 43  |  Vgl. Liebsch, Identitäts-Fragen, besonders S. 132-133.

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auf Verbindungen hin schnell ins Sumpfgebiet der Verschwörungstheorien führen. Zu den Tücken der Identitätsforschung zu zählen ist auch, dass sich Ursache und Folge nur sehr schwer benennen lassen, wenn mehrere konstituierende Umstände produktiv sind. Gerade bei der in dieser Arbeit berücksichtigten Selbst- und Fremdwahrnehmungen tritt dieses Problem auf, wie weiter unten zu sehen sein wird: Beide Konstitutionskomponenten greifen auf, was in der jeweils anderen thematisiert wurde. Eine als falsch wahrgenommene Fremdwahrnehmung kann so durchaus Hand bieten, das eigene Profil in der Selbstwahrnehmung zu schärfen, je nachdem, was dem beabsichtigten Ziel der Gemeinschaft in einem bestimmten Moment nützlicher erscheint. Schließlich stellt die relationale Struktur der qualitativen Bestimmung ein weiteres Problem dar. Die ungeteilte Aufmerksamkeit soll dabei der Unmöglichkeit des Außenstehens bei Betrachtung und Bearbeitung des Forschungsgegenstandes gelten. Das Erkennen, Beschreiben, Verstehen passiert immer in einem kulturellen Kontext, der sich damit auch in der formulierten gewonnenen Erkenntnis festschreibt. Damit verfälscht er diese, trotz der im Forschungsdesign beschworenen Objektivität und der neutralen wissenschaftlichen Position. Wissenschaftsdiziplinen mit interpretatorischem und nicht empirischem Ansatz, und dazu ist die Historiografie wohl zu zählen, sind darüber hinaus mit dem Problem einer doppelten Verzerrung konfrontiert. Einerseits sind die Quellen immer vor bestimmten Hintergründen in einer bestimmten und zu dekodierenden Sprache verfasst worden, um für die anvisierte Zielgruppe verständlich und nachvollziehbar zu sein. Andererseits wird dem Forschungsgegenstand auch von den Interpretierenden ein kultureller Kontext eingeschrieben, dem diese verhaftet sind und dem sie nicht entfliehen können, da er sie in ihrer Lesart und Interpretation anleitet. Auch wissenschaftliche Texte sind Texte und damit Kulturleistungen, deren Zerrfehler zwar minimiert und bei jeder Rezitation aktualisiert und aufgeschoben, nie aber aufgehoben werden. Dies ein kurzer Überblick über Probleme, die bei der Beschäftigung mit Identität weitgehend typologieunabhängig auftreten.44 Der folgende Abriss der Forschungsdebatte diskutiert weiterführende und typologiegebundene Fragen. Eine allzu restriktive Beschränkung auf die Typologie der kollektiven Identität ist allerdings auch dort nicht angezeigt. Wie zu sehen sein wird, ist der Rückgriff auch auf typologiefremde Konzepte, die im Verlauf der Forschungsgeschichte erstellt wurden, durchaus Usus. So sind auch Überlegungen zur personalen Identität nützlich, da jedes Kollektiv letztlich aus Individuen besteht. Dennoch: Die Hauptaufmerksamkeit dieser Arbeit soll nicht dem Individuum gelten. Das anarchistische ›Wir‹, das den AkteurInnen Handlungsanleitung und Heimat war, soll im Zentrum stehen. Denn nicht zuletzt dieses ›Wir‹ ließ AnarchistInnen allem gesellschaftlichen und politischen Gegenwind zum Trotz in der Bewegung bleiben und spielte so in

44  |  Die Probleme verändern sich, je näher man der jeweiligen Typologie kommt. Alle Fragenkomplexe darzulegen, die den verschiedenen Unterarten eigen sind, soll nicht das Ziel dieses Kapitels sein. Genauso wenig ist Ziel, wie diese Ansätze oder wie die ihnen entspringenden Partikularforschungsergebnisse besprochen werden sollen. Einerseits ermangelt es dem Autor diesbezüglich an Expertise (und dies nicht erst in der Neurobiologie), andererseits tragen nicht alle Strahlen, die von der Discokugel Identität abgehen, zur Erhellung meiner Fragestellung bei.

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dem in dieser Arbeit erforschten Zusammenhang des AnarchistInnen-Daseins im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Abschließend sei bemerkt, dass der breite Reigen an Problemen zum Thema Identitätnicht dazu verleiten sollte, die Identität in einer Identitätskrise zu sehen.45 Trotz aller divergierenden Sichtweisen auf Gestalt, Konstruktion und Funktion von Identitäten kann meines Erachtens festgehalten werden, dass Identität von Weitem und ohne Lesebrille betrachtet vor allem Bedürfnis ist. Bedürfnis von Individuen wie von Gemeinschaften, des Ich, des ›Wir‹, der ›anderen‹, von Nationen, von Institutionen, von natürlichen und von juristischen Personen46. Identität ist einerseits Bedürfnis nach Verortung, andererseits stellt sie den IdentitätsträgerInnen einen Rahmen und Möglichkeiten bereit, konzise Lebens- oder Wesensnarrationen zu verfassen. Dass dieses Bedürfnis in einer Zeit des ausufernden Pluralismus und der schier grenzenlosen Ich-Gestaltungsmöglichkeiten47 Konjunktur hat, kann nicht weiter erstaunen.48 Aber dieses Bedürfnis ist nicht nur in ihr zu verorten. Waren vormals Religionen und Standeszugehörigkeiten wesentlich für die Verortung des Individuums in der Gesellschaft verantwortlich, so fanden sich im Laufe der menschlichen Geschichte immer mehr Optionen, die Zuordnung und Bündelung erlaubten: Politische ebenso wie individuelle Umstände, geschlechtliche ebenso wie ethnische Handlungshorizonte innerhalb von Gesellschaften ließen immer wieder und immer mehr Interessensgemeinschaften entstehen, die oft genug an45  |  Diese Erkenntnis wäre abgesehen davon auch nicht neu. Bereits 1979 kam Otto Marquard zum Schluss, dass die inflationäre Entwicklung der Diskussion von Identität nicht nur Ergebnisse, sondern auch Verwirrung bringt. »In wachsendem Maße gilt gerade bei der Identität: alles fließt. So werden die Konturen des Identitätsproblems unscharf; es entwickelt sich zur Problemwolke mit Nebelwirkung: Identitätsdiskussionen werden – mit erhöhtem Kollisionsrisiko – zum Blindflug.« (Marquard, Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz, S. 347). 46 | Der im alltäglichen Sprachgebrauch längst angekommene Begriff der Corporate Identity zeugt davon, dass sich bei Weitem nicht mehr nur natürliche, sondern auch juristische Personen mit Identitätssuche und -findung und der damit verbundenen Problematik auseinandersetzen. 47  |  Zumindest für die industrialisierten Länder Europas und Nordamerikas der Postmoderne gelten diese Phänomene als gesichert, auch wenn sie abhängig vom Identitätsspielraum regional in Intensität und Reichweite variieren. Vgl. Keupp, Identitätskonstruktionen. 48 | Harböck bezeichnet Beobachtungen zur zunehmenden Brüchigkeit, Hybridität resp. Pluralität postmoderner Identitäten im durch die Postmoderne vorgegebenen Imperativ als Kapriolen (vgl. Harböck Stand, Individuum, Klasse, Anm. 17, S. 16). Dem widerspricht etwa Hall (Vgl. Hall, Frage der kulturellen Identität), aber auch Keupp (Vgl. Keupp, Identitätskonstruktionen) und andere. In der Postmoderne ist das Feste aufgeweicht, das in der Vormoderne, in abnehmendem Ausmaß aber auch noch in der Moderne geherrscht haben dürfte. Ob eine totale Identitätsstarrigkeit überhaupt je herrschte, darf m.E. wie oben schon angeschnitten bezweifelt werden. Selbst in der Vormoderne war nicht alles eindeutig und klar geregelt, was kollektive und individuelle Identitäten angeht. Ein Blick in die Diskussion von mittelalterlichen Bürgerkämpfen in Europa deckt durchaus Durchlässigkeiten und Adaptionen von einzelnen Gruppenidentitäten auf, wenn es der Erreichung eines Ziels diente. Zumindest temporär wurde auf unikale Gruppenzugehörigkeit verzichtet und auf eine alternative, ebendiesem zu erreichenden Ziel besser dienende Gruppenzugehörigkeit gesetzt. Vgl. dazu exemplarisch Graus, Pest – Geißler – Judenmorde.

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derweitige Gemeinschaftsbande ergänzten oder durchkreuzten. Die wohl gehegten Grenzen zwischen innen und außen, die elaborierten Hypergüter, die Sinn- und Deutungswelten, kurz: die Werkzeugkiste der Identitätskonstruktion, sie sind keine Erfindung der Postmoderne, sondern waren weit vor ihr produktiv und werden es wohl auch weit nach ihr noch sein. Ungeachtet der vielen Probleme, die sich während der Arbeit an und mit ihr offenbaren. Nicht zuletzt dies soll diese Arbeit aufzeigen.

2.2 I dentitätsforschung 2.2.1 Debatte »Kollektive Identität ist [...] eine notwendige Illusion der Akteure, ohne die weder wir als Beobachter noch die Akteure selbst ihre sozialen Beziehungen verstehen könnten.« 49

Die bereits erwähnte Fülle an Essays, Monografien und Tagungsbeiträgen rund um das Thema Identität führte dazu, dass bei der Literaturauswahl starke Beschränkungen vorgenommen werden mussten, um überhaupt zu einem brauchbaren Überblick zu kommen. Arbeiten, die sich mit den Identitätstypologien der ethnischen, nationalen und geschlechtsspezifischen Identitäten befassen, mussten zugunsten der in dieser Arbeit fokussierten Art von Gemeinschaft zu weiten Teilen ausgeklammert werden. Die in der Folge näher vorgestellten Beiträge zur Identitätsforschung nehmen sich der kollektiven Identität von politischen Gemeinschaften an, deren Zugehörigkeit autonom gewählt wurden. Die im folgenden Überblick berücksichtigten Forschungsbeiträge beschäftigen sich vorrangig mit Identitäten dieser Typologie oder sind ganzheitlich angesetzte, theoretische Abhandlungen zum Phänomen Identität. Es ist dem Autor bewusst, dass es so definierte Gemeinschaften als Subgemeinschaften durchaus auch bei den durch dieses Kriterium soeben ausgeschlossenen Gemeinschaften geben kann50 und dass sich Identitätstypologien oft auch überschneiden und durchkreuzen. Angesichts der Publikationsdichte musste allerdings ein Schlüsselkriterium gewählt werden, und da AnarchistInnen AkteurInnen sind, die prinzipiell ethnisch- und gender-unspezifisch51 sind, bot sich eine Siebung unter den gewählten Vorzeichen an. Viele der berücksich49  |  Giesen, Kollektive Identität, S. 118. 50 | So könnte z.B. der anarchoide ›Syndikalistische Frauenbund‹ als autonom gewählte Subidentität der primordial codierten Gemeinschaft der Frauen interpretiert werden. Vgl. zum ›Syndikalistischen Frauenbund‹ Witkop, Der Syndikalistische Frauenbund. 51  |  Die Matriarchatsforscherin Claudia von Werlhof stellte im Gespräch mit Gabriel Kuhn im Jahr 2009 jedoch die These auf, dass dies Wunschdenken und der Anarchismus tatsächlich eine Männerbewegung sei. Vgl. Kuhn, Anarchie oder Akratie?, S. 93. Die Selbsteinsicht von Amster/DeLeon/Fernandez/Nocella/Shannon in Bezug auf die heutige Arbeit an anarchistischen Projekten geht in die gleiche Richtung. Vgl, Amster/DeLeon et.al., Contemporary Anarchist Studies, S. 6. Nichtsdestotrotz fungiert grundsätzliche Egalität immer wieder als Hypergut.

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tigten Werke entstammen wenig überraschend dem Forschungsgebiet der Sozialen Bewegungen, welche sich immer wieder und intensiv mit Identitätsfragen bei Gruppen auseinandersetzten, die – abgesehen von gemeinsamen Werten, Zielen und Vorstellungen einer besseren Welt – nicht zwingend etwas teilten. Dies trifft auch auf die Strömungen der anarchistischen Bewegungen zu. Die nachgezeichnete Forschungsdebatte kann und will ob der Aktualität des Themas und den laufenden Neuerscheinungen in der Forschungsliteratur keinen Absolutheitsanspruch erheben. Der erzielte Überblick soll dennoch die Möglichkeit geben, fundiert in Konzepte und Denkfiguren der Theorie der kollektiven Identität einzuführen. Ziel dieser Kartierung ist es nicht zuletzt, Argumente dafür zu liefern, weshalb der Ansatz der kollektiven Identität trotz aller Widersprüche und Unzulänglichkeiten einen geeigneten Ansatz darstellt, Soziale Bewegungen im Allgemeinen und den Zulauf in die und das Verbleiben in der anarchistischen Bewegung der vorletzten Jahrhundertwende im Speziellen zu erhellen. Bevor mit einem begriffsgeschichtlichen Abriss begonnen werden kann, ist anzumerken, dass Identität nicht nur als Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zu verschiedenen Konzeptionen führt. Auch disziplinimmanent finden sich zuweilen weit aufgefächerte Diskurse. Allein in der Philosophie gibt es gesonderte Felder, die das Thema aus je eigenem Blickwinkel mit eigenen Jargons verhandeln.52 Für den hier angestrebten Überblick der Identitätsdebatte ist die grundsätzliche sprachlogische Überlegung von Wichtigkeit, dass mit Identität ein Nicht-Unterschied bezeichnet wird.53 Identität ist demzufolge idealtypisch als totale Gleichheit mit etwas oder jemand anderem anzusehen. Auf dieser Vorstellung auf bauend sollen die verschiedenen Paradigmen aufgezeigt werden, die im Lauf der Forschungsgeschichte die Vorstellungen von Identität als gruppen- und einzelpsychologisches Phänomen prägten und damit den Grundstein für die in dieser schließlich angewendeten Theorieansätze legten.54 Mit der ohnehin schon umfassenden Frage nach Identität ist eine Kaskade von weiteren Fragen verknüpft, die lapidar sind und zuweilen funktionalen Charakter haben. Zum Beispiel die Prämisse, wie Menschen funktionieren. Das Forschungsinteresse, wieso Menschen sich eine bestimmte Identität zulegen respektive wieso sie an einer bestimmten Gemeinschaft teilnehmen, was seinerseits wiederum die zugelegte Identität beeinflussen wird, ist nicht zuletzt an ein Menschenbild der ForscherInnen gekoppelt. Das soll mit einem Gedankenexperiment illustriert werden. Wenn die Ausgangslage die Teilnahme an einer Sozialen Bewegung ist, stellt sich die Frage, wie der oder die Teilnehmende dazu kommt. Gibt das Eigeninteresse den Impuls wie in den 1960er Jahren proklamiert? Sind es präexistente Relationen unter bereits gesetzten AktivistInnen, also eine Art Solidarität von Ehemaligen untereinander, die zur Teilnahme führen wie in den 1970er Jahren vermutet? Ist es schlichtweg generell Solidarität und Altruismus wie in den 1980er Jahren angenommen? Ist eine Melange aus moralischem und selbstorientiertem Handeln Impulsgeberin, wie in den 1990er Jahren postuliert? Oder sieht es die Forschung der späten 1990er richtig, wenn sie annimmt, dass Mitglieder von Sozialen Bewe52  |  Abschnitt nach: Muck Identität, Lorenz, Identität, Dubiel, Identität. 53  |  In diesem Sinne wird Muck gefolgt. Vgl. Muck, Identität. 54 | Damit fällt auch die Identität als verwaltungstechnisches Instrumentarium im Sinne der Identifizierung aus dem Betrachtungsrahmen.

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gungen weder homines oeconomici noch willenlose AltruistInnen sind, sondern Menschen auf der Suche nach einem wünschenswerten Selbst? Schließlich: Können Menschenbilder überhaupt losgelöst von der jeweiligen Gesellschaftsstruktur angewendet werden oder ergibt sich eine zu große Verzerrung aus der Herauslösung der Individuen aus ihrem jeweiligen sozialen Kontext?55 Die Annahme, dass sich Menschen generell einordnen zu wollen scheinen, geht sogar darüber hinaus. Je nachdem, wie die Antwort auf die Impulsfrage ausfällt, erhält die kollektive Identität eine völlig andere Funktion und muss entweder als Karrieresprungbrett oder als Heimathafen oder beides in einer herauszufindenden Relation zueinander verstanden werden.56 Diese und andere mittelbare und unmittelbare Fragen umkreisen den Begriff Identität trabantenhaft. Deren Beantwortung erlauben Zielsetzung und Umfang dieser Arbeit aber nicht. Die intensive Verwendung und Diskussion von Begriff und Phänomen der Identität in Moderne und Postmoderne hat eine lange Tradition.57 Gedanken über Identität als logischen Begriff etwa sind in der Antike zu finden. Bei Aristoteles bedeutet die Nennung von Identischem und Demselben die Suche nach Einheit von etwas in relationalem Kontext zu etwas anderem. Er dachte das ›Dasselbe‹ dennoch weiterhin als Entität für sich und attestierte ihm eigene Eigenschaften, trotz allen Übereinstimmungen in relationaler Hinsicht.58 Ob dieser Gedankengang deswegen bereits als principium identitatis (A ≡ B) avant la lettre interpretiert werden kann, wie es schließlich in der Spätscholastik auftauchte, soll an dieser Stelle nicht ausdiskutiert werden.59 Dieses Prinzip findet sich ausformuliert erst in Lockes Schriften im 17. Jahrhundert. Locke beschäftigte sich mit Fragen nach Identität und Identischem aus einer kritisch-subjektivistischen Warte im Gegensatz zu tendenziell objektivistischen Fragestellungen, wie sie in Antike und Mittelalter verhandelt worden waren. Wahrnehmung und das wissende Subjekt übernahmen darin immer zentralere Rollen. Als Begriff stellt Identität ein Kunstprodukt der philosophischen Begriffssprache des Spätmittelalters dar. Es entstammt dem mittellateinischen Wortstamm idem und bezeichnet in der Logik den Zustand A ≡ B. Erst in der frühen Neuzeit wurde der Identitätsbegriff in die lebenden Sprachen Europas übernommen, ins Deutsche als Fachterminus im 18. Jahrhundert.60 Identität wandelte sich schließ55 | Damit fällt auch die Identität als verwaltungstechnisches Instrumentarium im Sinne der Identifizierung aus dem Betrachtungsrahmen. 56  |  Abschnitt nach Polletta/Jasper, Collective Identity, S. 289-292. 57  |  Der folgende Abschnitt hält sich an die Forschungsresultate von Levita, Begriff, Harböck, Stand, Individuum, Klasse, McClurg Mueller, Building, Niethammer, Kollektive Identität, und Wagner, Fest-Stellungen. 58  |  Abschnitt nach Levita, Begriff, S. 22-56. 59 | Dem Autor ist es ein Anliegen aufzuzeigen, dass das Thema quer durch die Denkgeschichte präsent ist. Eine angemessene philosophische Diskussion mit entsprechender ideengeschichtlicher Katalogisierung muss den Fachpersonen überlassen werden. 60 | Vgl. dazu Schenk, Identität/Unterschied, S. 611. In Meyers Großem KonversationsLexikon von 1908 findet man den Identitätsbegriff übersetzt mit ›Einerleyheit‹. Die anschließende Definition fasst diese als Gleichheit in allen Aspekten von etwas mit etwas anderem und gleichzeitige Verschiedenheit zu etwas noch anderem. Vgl. auch Niethammer, Kollektive Identität, S. 40-42.

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lich im 18. Jahrhundert unter Immanuel Kants und David Humes Überlegungen zu einem Begriff der Erkenntnistheorie und der Psychologie. Die Spuren der Neuzeit sind dabei deutlich im Begriff zu erkennen: Der angenommene Vertrag zwischen Identität und Materialität wurde aufgekündigt und führte nicht zuletzt dazu, dass das Subjekt von seiner Körperlichkeit getrennt gedacht werden konnte. Dadurch wurde das semantische Feld des Identitätsbegriffs um eine eigentliche Bipolarität erweitert. Der Grundstein zur Möglichkeit einer solchen Auftrennung wurde indes nicht erst mit Descartes’ Axiom ›cogito ergo sum‹ gelegt. Vielmehr stellte bereits in der Spätantike Boethius mit seiner Definition einer Person als vernünftiges Einzelwesen die Weichen in diese Richtung und nahm so schon damals deutlichen Abstand von der aristotelischen Vorstellung des menschlichen Wesens als Teil des großen Naturgeschehens.61 Die nach Descartes jedoch zweifelsohne breiter rezipierte Denkfigur des wesentlich zweigeteilten Menschen in Körper und Geist ermöglichte Fragen nach Wesen und Genesis von Identität in einer neuen Dimension. Es wurde nun deutlich psychologischer gefragt, wie eine erlangte Identität, die ja nun gerade nicht biologisch vorhanden ist, wie also eine solche maskenhaft aufgesetzte Identität die Fähigkeit haben kann, Innerstes widerzuspiegeln. Die begriffliche Entwicklung in Richtung eines erkenntnistheoretischen und psychologischen Begriffs wurde durch Etablierung und Konjunktur des Bewusstseins-Begriffs und – darauf auf bauend – des Begriffs des Selbstbewusstseins62 unterstützt und begünstigt. Die Kombination der beiden Begriffe Identität und Bewusstsein respektive die Erkenntnis, dass sie eng zusammenspielen, rückte Ersteren ein weiteres Stück hin zum Gebiet des psychischen Inneren des Menschen. Obgleich die Tonalität dieses Kürzestabrisses diesen Eindruck vermittelt, verlief die Begriffsgeschichte der Identität nicht linear und eindeutig. Es wäre vermessen anzunehmen, dass beispielsweise in der Aufklärung verbindliche Ansichten über Identität existierten. Vertraten in dieser Epoche Kartesianer die Ansicht, dass Identität von substanzieller Art sei, fasste John Locke sie als artspezifisch auf. Dispute gab es auch darüber, welche zutragenden Elemente welche Rollen spielten und wie diese im Entstehungsprozess von Identität einzuordnen seien. Breit wurde auch die Frage diskutiert, ob die zutragenden Elemente bereits vor der Werdung von Identität existierten und diese damit ausmachten, oder ob sie erst mit der Identität zusammen in Existenz treten würden, also lediglich symbiotisch existieren könnten. Die Fragen nach Identität führten also nicht erst in der Moderne und der Postmoderne durch ein weit verzweigtes und zerklüftetes Gebiet. An dieser Stelle sei exemplarisch auf Kant hingewiesen, der im 18. Jahrhundert im Hinblick auf die Entstehung von Identität von einer immer subjektiven Kontemplation ausging, die als einzige Erkenntnis bringen könne. Selbige sei durch ihre Subjektivität wahrnehmungsabhängig, womit die Ansätze und Denkweisen des kartesianischen Substanzialismus durchschnitten und verunmöglicht wurden. Außerhalb hätten die nach Kant individuell gewonnenen Einsichten keinerlei Gültigkeit und seien damit Erkenntnisse a priori. Nach Kant geht die Beobachtung des Selbst dabei nach 61  |  Levita, Begriff, S. 26. 62  |  »[...] Das wichtigste Merkmal der Persönlichkeit« (Levita, Begriff, S. 26) umreißt nach Levita die Fähigkeit sich selbst in verschiedenen Situationen bewusst als der- oder dieselbe wahrzunehmen. Dieses Bewusstsein wird ab der Aufklärung zum primären Kriterium des Menschseins.

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denselben Vorgängen vonstatten wie die Beobachtung irgendeines anderen Gegenstandes. »Die Identität, die ich mir selbst imputiere, darf nicht einfach als eine Eigenschaft dieser Person betrachtet werden, sondern liegt a priori beim wahrnehmenden Subjekt; sie ist eine unvermeidliche Fiktion dieses Subjekts«63, fasst de Levita Kant zusammen. Kants apriorische Erkenntnis operiert mit einer Wahrnehmungszentriertheit, die aus der jeweiligen Perspektive alles zum Objekt erklärt, wozu nicht zuletzt auch die Identität des Selbst zu zählen ist. Ontologisch bedeutet diese Erkenntnis, dass ein Objekt nur als Objekt eines Subjekts existiert.64 Begriffsgeschichtlich rückt deshalb mit Kant das Ich als denkendes Subjekt ins Zentrum des metaphysischen Interesses von Philosophie und Psychologie, währenddessen die Vorstellung von Identität als einem Ding an sich allmählich verblasst. Der Begriffsgeschichte widerfuhr mit Kant eine nachhaltig wirksame Verknüpfung von Fragen nach Identität mit Fragen um das Ich und die Forschung bemühte sich im Folgenden um eine Kartierung personaler Identität. Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine weitere wichtige Wende eingeläutet. R.H. Lotze65 erachtete fortan – mehr noch als Kant und die Kartesianer schon vor ihm – die Erinnerung als wesentliches Konstituens von Identität. Sprachlogisch musste daraus gefolgert werden, dass, wenn Erinnerung eine subjektive Leistung und wesentlicher Baustein von Identität ist, Identität mindestens teilhaftig ebenfalls zur Leistung des Subjekts, zum »Ergebnis von Reflexion«66 wird. Sie trat nach Lotze als Folge eines Willensaktes zu einer wie auch immer gearteten Identität auf. Der Grund für diesen Akt liegt nach Lotze und anderen Psychologen seiner Zeit in einem Bedürfnis nach Zusammenhang. Das Gefühl des Zusammenhangs wurde von ihm schließlich mit ›Ich‹ bezeichnet: Dieses ›Ich‹ sei »[...] einzig und allein die unsere psychischen Erlebnisse begleitende Wahrnehmung unseres Zusammenhanges«.67 Das, was gut 150 Jahre später als Identität zu verstehen sein wird, wird also bei Lotze (und dessen Ansätze verfeinernd eine Generation später auch bei Wundt68) aus seiner metaphysischen Stellung herausgelöst und individualisiert69 und damit – ganz dem positivistischen Zeitgeist entsprechend – auch zu einem empirischen Begriff, zur vermeintlich quantifizierbaren Größe. Das führte den Identitätsbegriff allerdings in eine Sackgasse. Denn so sehr es in einer naturwissenschaftlich orientierten Welt Sinn machen mag, Identität empirisch greifen zu wollen, so wenig ist das möglich. Als grundsätzlich spezifisch und individuell gedacht gerät Identität mit der Grundprämisse für empirisch zu belegende Modelle in Konflikt, beliebig wiederhol- und reproduzierbar zu sein, da sie nun von individuellen und nicht substanziellen Grundüberlegungen her gedacht wurde. Dies verunmöglicht wiederum das Auffinden von Gemeinsamkeiten durch Abstraktion, den eigentlichen Zweck einer jeden empirischen Untersuchung. Zudem liegt ein weiteres Grundproblem vor: Identität hat keine Einheit. Trotz streckenweiser 63  |  Levita, Begriff, S. 31. 64  |  Ebd., S. 31. 65  |  Vgl. Lotze. Medizinische Psychologie. 66  |  Levita, Begriff, S. 36. 67  |  Vgl. ebd., S. 36. 68  |  Vgl. Wundt, Grundrisse. 69  |  De Levita formuliert das blumiger: »[...] Wundt gibt jedem Ich seinen eigenen Platz, der methodisch unüberbrückbar vom anderen getrennt ist.« (Levita, Begriff, S. 37).

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Unzulänglichkeit zeigt der Gang zur Empirie Spektakuläres an: den Moment der definitiven Trennung von eher philosophischem und eher psychologischem Zugang. Doch auch nach dieser disziplinären Wende 70 vereinfachte sich die Debatte nicht. Neben vielen anderen blieb auch das Problem der Empirie und ihrer konzeptionellen Nachteile bestehen. Die Einschätzung von Identität als metaphysischer Entität sicherte zwar eine Kontinuität des Selbst zu, ignorierte darob aber deren sich ständig verändernde Natur. Die Einschätzung von Identität als Sammelbecken empirischer Daten, die den fließenden Charakter des Selbst bestätigten, vermochte derweil ihre Einheit und Kontinuität nicht zu erklären.71 Was in der psychologischen Debatte folgte, waren Versuche, diese beiden Aspekte zu vereinen, was zumeist in mehrstufigen Modellen von Identität gipfelte. Der Entwurf von William James, den De Levita als Begründer des modernen Identitätsbegriffs adelt 72 und den Harböck gar den ersten Identitätspsychologen nennt 73, ist ein Beispiel dafür. Das Selbst besteht bei James aus der Summe von ›Ich‹ (reines Ego) und ›Mich‹ (reflektiertes Ego). Darüber hinaus unterteilt er Letzteres weiter in materielles Selbst (Körper, Kleider, Besitz), soziales Selbst (Erkennung gespiegelt in den anderen) und geistiges Selbst (psychische Funktionen und Fähigkeiten), die in der Summe das reflektierte Ego bestimmten. Eine herausragende Leistung James’ ist die Erkenntnis der Wirkungsmacht der Anerkennung durch andere, die sich nach James im sozialen Selbst manifestiert. So verortet Harböck die »Soziogenese der Identität« 74, also die Einschreibung des Sozialen und des Kulturellen ins Personale, in James’ Überlegungen. Die Idee der Wichtigkeit der ›anderen‹ für die personale Identität wurde nach James weitergetragen und fortlaufend modifiziert. So etwa von Charles H. Cooley zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sein 190275 formuliertes Identitätskonzept geht von der Vorstellung aus, die personale Identität entstehe aus den angenommenen Vorstellungen der ›anderen‹ über das Ich.76 Das Individuum interpretiere schließlich diese getroffenen Annahmen, zu denen es gelangt, indem es deren Reaktionen auf eigene Aktionen analysiert. Bei Cooley ist somit das Selbst

70  |  De Levita wählt als Psychologe wenig überraschend einen psychologischen Blickwinkel. Dazu muss gesagt werden, dass sich die Identitätsproblematik nicht einfach von Disziplin zu Disziplin verschob. Vielmehr ist eine rhizomartige Aufgliederung zu imaginieren. Diese gilt es auch heute noch zu beklagen, wie der jüngste Forschungsüberblick zeigt. Vgl. Daphi, Soziale Bewegungen und kollektive Identität, S. 18. 71  |  Levita, Begriff, S. 44. 72  |  Vgl. ebd., S. 45-50. 73  |  Harböck, Stand, Individuum, Klasse, S. 46. 74  |  Ebd., S. 47. 75  |  Die englische Erstausgabe erschien gemäß Angaben in der Zweitausgabe 1902. (Cooley, Charles Horton. Human Nature and The Social Order. New York, [1902] 1964, zit. in: Cooley, On Self, S. 155). Wie Schubert festhält, blieb Cooley bei seinen theoretischen Leistungen: »He published his first major book in 1902; from that time on he never changed the basic foundations and main features of his sociological theory. Indeed, his extensive conceptions were already in place at the turn of the century [...].« (Cooley, On Self, S. 1-2). 76  |  Vgl. ebd., S. 155-175.

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nicht a priori gegeben wie noch bei Descartes: Es ist vielmehr das Ergebnis eines Interaktionsprozesses im Kontakt mit anderen.77 Breitere Rezeption in der Theorie der Sozialwissenschaft fand Identität erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Grundlegende Prämisse bei der sozialwissenschaftlichen Aneignung von Identität war, dass trotz Veränderungen, Rollenmutationen und Erfahrungen einem Subjekt immer das Bewusstsein bleibe, dasselbe zu sein. Seit den 1940er Jahren wurde in der US-amerikanischen Sozialpsychologie mit Identität die menschliche Fähigkeit bezeichnet, als verschiedene soziale Personen durchs Leben zu gehen und dennoch dieselbe Person zu sein. Als Identität erforscht wurde dieses Phänomen vornehmlich in zwei Schulen: symbolisch-interaktionistisch von George Herbert Mead sowie entwicklungspsychologisch von Erik H. Erikson, der Identität als lebensgeschichtliches Konzept begriff. Die Schule des Symbolischen Interaktionismus geht in der Internalisierung der Meinung der ›anderen‹ einen Schritt weiter. Mead 78 sah das Individuum als sich in einer symbolisch vermittelten Umwelt bewegend. Das Erlernen der Symbole geschieht in dieser Interpretation im Rahmen der Sozialisation, während Bestätigung und/oder Modifikation der Symbole in lebenslangen sozialen Interaktionsprozessen passieren. Für die Theorie der personalen Identität hatte dies eine erhebliche Auswirkung: Das reflektierte, ehemals dreiteilige ›Mich‹, von dem bei James nur ein Drittel fremdbestimmt war, wird als Mead‘sches ›me‹ neu vollends fremdbestimmt. Es bezeichnet das Sammelbecken der in Interaktionen erfahrenen und so internalisierten Fremderwartungen. Damit entsteht ein Bild von weitestgehend gesellschaftlich determinierter Identität.79 Erik H. Eriksons80 Ansatz schwenkt weg von den sozialpsychologisch orientierten Ansätzen James’, Cooleys und Meads und konzentriert sich auf die interne Komponente personaler Identität. Trotz seines in der freud‘schen Psychoanalyse verhafteten fachlichen Hintergrunds übte Eriksons Ansatz auch auf die sozialwissenschaftliche Aufarbeitung von Identität großen Einfluss aus. Identität heißt für Erikson die unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit und die damit verbundene Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen.81 Dabei schätzt er die Entwicklung der Persönlichkeit als psychosoziales, also sowohl subjektiv wie auch objektiv bedingtes Phänomen ein. Eriksons Ideen zur Identität bauen auf der Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums auf, die er dialektisch als Abfolge von Synthesen 77  |  »Self and Society are merely two sides of the same coin.« (Ebd., S. 12), wie Schubert Cooleys Überlegungen zum Thema in der Einführung zusammenfasst: »[...] The › lookingglass-self‹ can develop only by communicative interaction with its social surroundings.« (Ebd., S. 7. Herv. i.O.). 78  |  Vgl. Mead, Mind, Self and Society, S. 135-226. 79 | So sehr Meads starke Gewichtung des Sozialen im Hinblick auf dessen Einfluss auf die Entwicklung personaler Identitäten zu begrüßen ist, so sehr muss darauf hingewiesen werden, dass eine zu starke Betonung schnell in einen politisch einfach auszuschlachtenden Fatalismus umschlagen kann. Ein jedes Individuum würde mit diesem Rüstzeug zum fremdbestimmten, ohnmächtigen Produkt seiner gesellschaftlich-kulturellen Umgebung. 80  |  Vgl. Erikson, Kindheit und Gesellschaft. 81  |  Neben dieser Definition finden sich bei Erikson auch andere Verwendungsweisen des Identitätsbegriffs. Vgl. ebd.

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formuliert. Nach Erikson wird die Persönlichkeit eines Individuums aus lebensalterspezifischen thematischen Gegensätzen im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft produziert, die immer um einen dazugehörigen Konflikt herum produktiv sind. Identität wird als ein Teil eines Gegensatzpaares begriffen, das in die Lebensphasen Pubertät/Adoleszenz fällt.82 Konkret müsse jedes Individuum eine gelingende Mischung aus Anpassung und Opposition finden, die es erlaube, Übernommenes, neu Erfahrenes und Erlebtes so zu integrieren, dass der eingeschlagene Weg zu persönlicher Kontinuität und Konsistenz führe. Eine Identität ist nach Erikson erst dann erreicht, wenn auch die soziale Umwelt die individuelle Entwicklung als konsistent wahrnimmt und die subjektive und die objektive Wahrnehmung der Art, wie vom Subjekt assimiliert und abgegrenzt wird, übereinstimmen. Gelingt dies nicht, spricht Erikson von einem psychopathologischen Syndrom von Störungen. Identität wird damit nicht nur zum Stützpfeiler des Individuums, sie wird auch zur normativen Größe: Wird eine funktionierende, gesunde Entwicklung imaginiert und postuliert, wird alles, was davon divergiert, pathologisiert. Auch in anderen Aspekten ist bei Erikson Vorsicht geboten. Wenn man nun die Wertungen der aufgelösten Konflikte in Eriksons Schema anschaut, die besagten Spannungsfeldern lebensphasenspezifischer polarer Thematiken entspringen, so sind diese auffallend häufig kulturell codiert. Präferierte Konfliktlösungen sind bei Erikson nebst anderen Autonomie, Initiative, schöpferische Tätigkeit, Identität, also individualistische und subjektivistische Werte, die in westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften wohl erstrebenswert erscheinen mögen. In eher kollektivistisch orientierten Ethnien kämen aber unter Umständen gerade diese Werte nicht an erster Stelle. Damit verliert das Modell Eriksons einen Anspruch auf universelle Anwendbarkeit. Des Weiteren implizieren die von Erikson strikt an Lebensphasen gebundenen Konflikte ein teleologisches Wandern des Individuums durch nicht wiederkehrende Stadien der Persönlichkeitsfindung, wobei nach der Adoleszenz Identität fixiert vorhanden sein sollte. Nicht nur vor postmodernem Hintergrund, in dem Re-Orientierungen eher Regel als Ausnahme sein dürften, ist Identität meines Erachtens aber eher als lebenslanges Projekt zu denken, denn als einstufiger Prozess, der nach den jungen Jahren abgeschlossen wäre. Mead und Erikson stehen stellvertretend für die Dichotomie, die in dieser Zeit die Identitätsforschung prägte: Auf der einen Seite der Ansatz der Interaktionisten, der mit sozialen Theorien das Selbst als ein Derivat von sozialen Prozessen ausmachen zu können glaubte, auf der anderen Seite die individualistische Schule, die soziale Prozesse als Derivate der involvierten Individuen verstand. In beiden Schulen wurde aber erkannt, dass personale Identität in Interaktion mit restgesellschaftlichen Erwartungen entsteht. Weiter, dass das Individuum aufgeteilt ist in Prägung und Selbstreflexionsvermögen, eine subjektive und eine objektivierende Seite also, und dass in diesem Raum eine Balanceleistung zwischen Selbstbestimmung und Angepasstheit stattfindet, aus der Selbstbewusstsein entsteht. Die Einsicht, dass 82  |  Das dort verortete dialektische Paar lautet Identität und Rollendiffusion, der Konflikt in dieser Lebensphase heißt Gelingen der Integration von Erfahrungen. Vgl. ebd., S. 255258. In tabellarischer Form finden sich weitere Gegensatzpaare und dazugehörige Konflikte nach Lebensphase geordnet in ebd., S. 268. Wiederaufgenommen findet sich die Tabelle auch in Hausser, Identitätspsychologie, S. 78, und in Harböck, Stand, Klasse, Individuum, Tabelle 3, S. 51.

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das Balancieren zwischen zwei dynamischen Faktoren geschieht – dem individuellen Lebenszyklus und der im stetigen Wandel begriffenen Gesellschaft – fand zu diesem Zeitpunkt noch keinen Niederschlag in der Identitätsforschung. In den 1950er Jahren setzte eine direkte auf Identität basierende Normierung ein: Die Balance des Selbstbewusstseins wurde als gesellschaftliche Norm mit ›Identität‹ verschlagwortet. Normal war und eine gute Identität hatte man, wenn der Grad von Autonomie und Angepasstheit entsprechend den gegebenen konventionellen Kanons austariert war. In den 1960er Jahren wurden diese Erkenntnisse aufgegriffen. Gleichzeitig versuchte man aber durch die strukturell offen gedachte Identität des Individuums die Volkspsyche quasi vom Einzelfall her zu reformieren.83 De Levitas in dieser Zeit 84 formuliertes Identitätskonzept baut zu weiten Teilen auf den Überlegungen Eriksons auf. De Levita fokussiert dabei fast ausschließlich das Individuum und dessen personale Identität. Gruppenidentität wird nur verhandelt, wenn sie Auswirkungen auf die personale Identität der Gruppenmitglieder verheißt, wobei selbst dann Auswirkungen auf das Individuum im Zentrum stehen.85 Er verstand unter Gruppenidentität konstante Wesensmerkmale einer Gruppe: »Eine Nation, eine Partei, ein Debattierklub bleiben sich gleich, selbst wenn alle Mitglieder durch andere ersetzt werden.«86 Die elementaren Bausteine, von denen das Gelingen der Reproduktion einer Gruppenidentität abhänge, seien ein breites Feld von Regeln und Standards, Selektion beim Aufnehmen von Neumitgliedern, Ideologietransfer via Schulung und das Hoch- und Einhalten von Symbolen und Riten. Die personale Identität sieht De Levita wie Erikson in einer bestimmten Lebensphase ausgehandelt und als wesentlich fixiert an. Sie sei »[...] eine Konstante, die dem Ich die Synthese von Widersprüchen in der Persönlichkeit ermöglicht« 87. Identität erhält damit bei De Levita die Eigenschaft, durch Starrheit Flexibilität zu offerieren, um Veränderungen zu akzeptieren und diese ins Ich zu inkorporieren. Weiter stellt De Levita fest, »[...] dass alles, was eine Person ist, hat oder woran sie beteiligt ist, [...] Identitätsfaktor, d.h. zum Ausgangspunkt von Rollentransaktionen werden kann« 88. Unter Rollentransaktionen versteht er dabei die Veränderungen einer Rolle in Anpassung an eine sozial andernorts ausgeübte Rolle. Von großer Wichtigkeit für die nachfolgenden theoretischen Entwürfe von personaler und auch von kollektiver Identität ist seine Anmerkung, dass es keine

83  |  Vgl. Niethammer, Kollektive Identität, S. 59. Niethammer nennt in diesem Zusammenhang die Erkenntnis einer emanzipativen Identität des Individuums. Diese Denkfigur ermöglichte es, Verantwortung für geschichtliche und gesellschaftliche Brüche dem Individuum zuzuschreiben. 84  |  Das englische Original der in dieser Arbeit verwendeten Ausgabe erschien 1965 unter dem Titel »The Concept of Identity«. 85  |  De Levita postuliert eine große angenommene Analogie zwischen personaler Identität und Gruppenidentität. Vgl. Levita, Begriff, S. 68. 86  |  Ebd., S. 68. Vermutlich induktiv gefolgert in Rückgriff auf Erikson, der für das Individuum von einer in der Adoleszenz ausgebildeten, hernach aber fixierten personalen Identität ausging. 87  |  Ebd., S. 72. 88  |  Ebd., S. 246.

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identitätstypischen Eigenschaften gebe, sondern identitätstypische Verhaltensweisen.89 De Levitas Vorstellung einer persistenten Identität von Individuum und Kollektiv birgt einige Probleme. Die beständige Anpassung, die ein Leben im Austausch mit (wechselnden) Kollektiven und Umständen auch in den 1960er Jahren erforderte, wäre mit einer gänzlich fixierten Wesensart kaum gewinnbringend zu bewerkstelligen. Zudem hat diese Konzeption ein Menschenbild zur Folge, das Neuorientierungen als pathologische Ausnahmefälle taxiert. Die Folgen der Vorstellung einer persistenten Identität, namentlich die Installation geschlechts-, schicht-, und funktionsspezifischer Normalbiografien sind schließlich mit der Vorstellung von dynamischen Identitäten zu kontrastieren, die das stoische Ideal des semper idem zur Disposition stellen und durch ein immer wiederkehrendes ›Wer bin ich?‹ zu ersetzen gewillt sind.90 In den späten 1960ern stellte Orrin Edgar Klapp eine immer breiter angelegte kollektive Suche nach Identität fest. In diesem Rahmen entwickelte er einen identitätstheoretischen Ansatz, der ihm die Beantwortung seiner impliziten Frage ermöglichen sollte, was Menschen in Soziale Bewegungen treibt. Im Unterschied zu De Levita hielt er fest, dass Identität alles beinhalte, was eine Person legitim und verlässlich über sich selbst sagen könne, zentral sei aber die Responsivität der Umwelt auf die postulierte Identität. Demnach triggert bei Klapp das Soziale das Innere: Die vom Selbst formulierte Identität wird erst als solche produktiv, wenn sie von der sozialen Struktur gut geheissen und als glaubwürdig akzeptiert wird. Auch bei Klapp sind Identitätsprobleme die Folge, wenn die Diskrepanz zwischen postulierter und sozial akzeptierter Identität zu groß ist. Nach Klapp äußern sich Identitätsprobleme unter anderem in einer Flucht in Soziale Bewegungen. »It is plain that feelings like these [distractions, d.V.] may strongly motivate one to leave one‘s old life, to seek experiences by which to change one‘s self, to engage in collective behaviour or social movements which are not part of the old structure«91, hält Klapp fest, der damit Engagements in Sozialen Bewegungen pathologisiert.92 Nicht die Identität des Kollektivs ist es, die ein Individuum dorthin ziehe, sondern eine pathogene personale Identität, die es dorthin treibe. Eine weitere, wenn auch nicht annähernd ähnlich tendenziöse Feststellung Klapps ist, dass jede Identität über eine inhärente Wandelbarkeit verfüge93 und dass von Identität als einem immer wieder prozedural auszutarierenden Gleichgewicht auszugehen sei, das vom

89  |  Ebd., S. 72. 90  |  Vgl. dazu Niethammer, Kollektive Identität, S. 50. 91  |  Klapp, Collective Search, S. 14. 92  |  Mit explizitem Bezug auf die aufkeimenden studentischen Bewegungen der USA in den 1960er Jahren stellt Klapp mit essenzialistischem Einschlag fest: »Beatnik movements and troublemaking by university students in developping countries likewise need to be interpreted in the light of the effort to preserve or fabricate new identities – a need perhaps accentuated in females.« (Ebd., S. 16). Neben der Flucht in Kollektive konstatiert Klapp auch noch andere Auswege aus der Identitätskrise, namentlich Selbstmord oder Auswaschungen der fehlbaren Identitätselemente. Vgl. dazu ebd., S. 6. 93  |  »[...] It is always to some extent arbitrary, challengeable, and changeable – when people change their minds.« (Ebd., S. 6).

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Akteur und seiner Umgebung aufrechterhalten werden müsse.94 Klapps Konzepte einer niemals fixierten Identität, die dauerndem Unterhalt von Seiten des Selbst und der sozialen Umgebung bedürfe, stellten einen qualitativen Sprung in der Forschung dar. Dass die gesellschaftliche Responsivität eine wichtige Rolle in der Definition einer personalen Identität innehat, lehnt an Mead an, ändert aber dessen Vorzeichen. Klapp schwächt die Idee der performativen sozialen Responsivität ab, wenn er eine psychische Dysfunktionalität von Individuen verantwortlich für die Teilnahme an einer Gemeinschaft macht, da so wiederum das Individuum den Impulsgeber darstellt. So gedacht verkommen auch Bemühungen, eine kollektive Identität zu unterhalten, letztlich zu Symptomen eines Persönlichkeitsdefizits. Aus diesem bipolaren Spannungsfeld entwickelt sich eine unüberbrückbare Antinomie: Auf der einen Seite wird die ursprüngliche Performativität der Responsivität betont, auf der anderen Seite wird das Individuum als alleinverantwortlich für die Identität gedacht, da sie von dessen psychisch fehlerhaften Dispositionen angetrieben ist. Identität wird damit ein doppelter Ursprung eingeschrieben. In den 1970er Jahren formulierte im deutschsprachigen Diskurs Habermas die Loslösung der arbiträren Balance von Anpassung und Selbstbestimmung, wie sie die Arbeiten der Nachkriegszeit bestimmten: »[N]un war die Latte erheblich höher als bei Erikson gelegt worden: nämlich von der letztlich beliebigen Balance zwischen personaler und sozialer Identität auf die höchste Sprosse der Vernunft.«95 Antrieb war nach Habermas nun nicht mehr das Einpassen des Selbst in die Wertigkeitskanons, sondern das auf Vernunft basierende praktische Handeln. Dieses sah er produktiv in einer herrschaftsfreien Gesellschaft, die zukunftsoffen diskursiv verfahren könne, unabhängig von ›Wir‹ und die ›anderen‹, wie sie in Nationalstaaten gang und gäbe seien.96 Die Identitätsdebatte wurde im deutschsprachigen Raum zuweilen auch destruktiv geführt. Marquard betrachtete ebenfalls in den 1970er Jahren den Aufschwung der Identitätsdebatte äußerst kritisch. Die Konjunktur des Begriffs sei lediglich Kompensation für das Wegbrechen des Bleibens und der Konstanz, die eine Identität brauche, die aber durch die Beschleunigung des sozialen Wandels je länger je mehr schwinde.97 Seine Kompensationstheorie verhieß ein reziprok anwachsendes Verstrickungsbedürfnis des Individuums in sein sozial-kulturelles Umfeld und in die Geschichtlichkeit bei einem Anstieg der Möglichkeiten für das Individuum, Identität selbst zu bestimmen. Dieser impliziten Flucht in die Geschichte stellt Lübbe zur Seite, dass nicht zwingend und ausschließlich aus der Aufarbeitung der Geschichtsverstrickung Identität entstehen müsse, obschon auch er der Historie eine Identitätspräsentationsfunktion zuschrieb. Bei einem stark prägenden und identitätsverheißenden gegenwärtigen System könne auch dieses jene Rolle einnehmen. In beiden Fällen – der identitätsstiftenden Hebung einender Geschichtlichkeit oder sinnstiftender Gegenwart – ging es um die gelingende Konsensfindung in einer Gesellschaft, die ›Eigenes‹ von ›Fremdem‹ erfolgreich abzu94  |  »Indeed far from being a God-given quality fixed in us by birth, as so many regard it, it [die Identität, d.V.] is actually a fragile mechanism whose equilibrium needs constant maintenance and support from the proper environment, and it is quite easy for something to go wrong with it.« (Ebd., S. 5). 95  |  Niethammer, Kollektive Identität, S. 60. 96  |  Vgl. ebd., S. 60. 97  |  Vgl. Marquard, Schwundtelos und Mini-Essenz.

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heben versteht.98 Damit kann für die 1970er Jahre ein Wandel verzeichnet werden. In der deutschsprachigen Forschung wurde vermehrt nach dem Warum gefragt, wenn es um die Identität ging, während die Frage, ob Identität überhaupt ein relevantes soziales Phänomen sei, nicht mehr gestellt wurde. Auch in der US-Forschung manifestierte sich in den 1970er Jahren ein paradigmatischer Shift. Die Zäsur wurde vom Ansatz der Ressourcenmobilisierung99 herbeigeführt.100 Das neue Paradigma veränderte den Zugang zum Thema in eine naturwissenschaftlich anmutende Richtung. Auf der utilitaristischen Prämisse der Theorie der Rational Choice des Ökonomen Mancur Olson101 auf bauend, dass der Antrieb hinter jeder Partizipation an einem Kollektiv das Eigeninteresse des teilnehmenden Individuums sei, vermutete die Forschung hinter der Konjunktur von Sozialen Bewegungen nun ein kühl abwägendes Individuum, welches das Engagement in einem Kollektiv von einer Kosten/Nutzen Rechnung in Bezug auf das eigene individuelle Glück abhängig mache. Damit wurden die AkteurInnen zu inhaltlich weitgehend unbeteiligten Figuren umdefiniert und die kollektive Identität, mit der sich ein Mitglied identifiziert, verkam zu einer Art temporärer Maskerade ohne jedes wirkliche Identifikationspotenzial, die nach Gusto auf- und abgesetzt und umgetauscht werden konnte. So spielten gemäß Olson weder soziale Kontexte noch kulturelle Prägungen eine Rolle für die Wahl der Gemeinschaft, geschweige denn nur schwer quantifizierbare Charaktereigenschaften eines Kollektivs, wie die emotionale Stimmung, Werte oder Brüche in einer Gemeinschaft, an der das Individuum teilnimmt. An einem Kollektiv Partizipierende würden so zu, wie es im entsprechenden Forschungsjargon heißt, ›Free Riders‹, die frei zwischen Gemeinschaften changierten.102 Der Forschungsfokus verlagerte sich in der Folge fundamental. Nicht mehr so sehr die Gründe für den Zusammenschluss in einer Gemeinschaft aus Subjektsicht standen im Vordergrund. Gefragt wurde nach Art und Ausgestaltung der Ressourcenmobilisierung, die Gemeinschaften pflegten. Wie das Subjekt quasi vom Kollektiv zur Teilnahme verführt wurde, interessierte und rückte das Kollektiv ins Blickfeld der Forschung. Auch abgesehen von der Fra98  |  Vgl. Niethammer, Kollektive Identität, S. 61-62. 99 | In der US-amerikanischen Literatur tritt dieser Ansatz oft als RM abgekürzt auf. Vgl. den sich mit Problemen und Entwicklung dieses Ansatzes beschäftigenden Sammelband Morris/McClurg Mueller, Frontiers. 100  |  Laut einer von McClurg Mueller zitierten Auswertung sind in den 1970er Jahren 56%, zu Beginn der 1980er Jahre knapp 75% aller Artikel zum Thema Soziale Bewegungen und kollektives Handeln in den wichtigsten amerikanischen Fachzeitschriften unter dem Ressourcenmobilisierungsparadigma verfasst worden. Vgl. McClurg Mueller, Building, S. 3. 101 | Olson kritisiert in seinem kontrovers diskutierten Buch, dass Individuen immer gemäß ihrem rationalen Selbstinteresse handelten, selbst wenn sie in einer Gruppe agierten. Ausnahmen sieht er nur, wenn Zwang angewendet wird oder ein weiterer, nicht mit den Gruppenzielen zusammenhängender Anreiz für die beteiligten Individuen besteht. »[R]ational, self-interested individuals will not act to achieve their common or group interests. [...] The customary view that groups of individuals with common interests tend to further those common interests appears to have little if any merit.« (Olson, Logic, S. 2. [Herv. i.O.]). 102  |  Eingehend mit dem Problem der Vorstellung eines rein rational handelnden Subjekts im Zusammenhang mit Sozialen Bewegungen befasst sich Marx Ferree, Political Context, S. 36-40.

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ge, ob sich Individuen tatsächlich mechanistisch-egoistisch im Sinne ihres individuellen Vorteils verhalten, wie Olson das annahm, gilt es den Paradigmenwechsel zu kritisieren. So lässt die Konzentration auf Ressourcenmobilisierung wichtige Kritierien von Gemeinschaften außer Acht. Ganzen Faktorengruppen wie Entstehung, Formierung und Mitarbeit an Wertekanons wird die Relevanz abgesprochen. Der Verzicht auf diese Faktorengruppen ist wohl wesentlich auf das Menschenbild eines ausschließlich von Selbstinteresse gesteuerten Menschen zurückzuführen, das bei der Genesis der RM-Theorie produktiv war: Ziele und Präferenzen von Individuen seien bereits in der menschlichen Natur festgelegt und würden mit gelegentlichem Identitätspoker approximiert. Damit verkamen kollektive Hypergüter zu Instrumenten auf dem Weg zum individuellen Ziel und kollektive Erfahrung, Bedeutung, Intentionen, ideelle Werte und Emotionen bedurften als Pull-Faktoren keiner näheren Untersuchung mehr. Diese und andere Einwände wurden in den 1980er Jahren zunehmend lauter. Der Wunsch, die oben erwähnten abgeschriebenen Faktoren in der Taxonomie von Gemeinschaften zu berücksichtigen, wurde besonders in der Erforschung Neuer Sozialer Bewegungen in Europa geäußert, mit der Folge, dass der Ansatz der kollektiven Identität in der Dekade der 1980er an Boden gewann: »Collective identity was hard to miss, and its prominence in contemporary movements encouraged sociologists to assess its role in all movements, new and old.«103 Die kollektive Identität stützte sich zur Erklärung von Zusammenhalt und Engagement für kollektives Handeln in einer Gemeinschaft nun vornehmlich auf psychologisch-immaterielle und sozial konstruierte Güter: Werte, soziale Kontexte und Intentionen, auf die innerhalb einer Gemeinschaft abonniert wird. Seit Mitte der 1980er Jahre wurde und wird in der Erforschung von Sozialen Bewegungen an der Integration der beiden gegensätzlich anmutenden Ansätze gearbeitet.104 Sowohl die utilitaristische Ressourcenmobilisierung wie auch das semiotisch-symbolisch orientierte sozialkonstruktivistische Modell der kollektiven Identität komplettierten sich und ermöglichten einen hinreichend genauen Eindruck von Gemeinschaften. So wurden organisationelle Fakten ebenso in ihrer Wichtigkeit für Bestand und Betrieb einer Gemeinschaft anerkannt wie immaterielle Hypergüter. In diesem Amalgam wandelte sich auch die Vorstellung der AkteurInnen. Sie wurden nicht mehr rein als rational agierend imaginiert, sondern »[...] conceptualized as socially embedded with loyalties, obligations, and identities that reframe issues of potential support for collective action«105. Im deutschsprachigen Raum beschäftigte sich die Forschung Ende der 1980er Jahre mit soziologisch-strukturellen Dimensionen der Identität.106 Identität wurde neu als Leistung gedacht, die vornehmlich bei Interaktionen entstehe. Sie sei dann gelingend, wenn der gesellschaftlichen Integration des Individuums Vorschub geleistet würde. Als Ergebnis stellt sich schließlich ein Mehr oder ein Weniger an 103  |  Polletta/Jasper schreiben den Aufmerksamkeitsanstieg auch den ethnischen, homosexuellen und feministischen Bewegungen zu, die durch das bewusste Leben ihrer alternativen Identitäten neue Forschungsansätze evozierten. Vgl. Polletta/Jasper, Collective Identity, S. 283. 104  |  Für ein Beispiel eines Syntheseversuchs vgl. Friedman/McAdam, Collective Identity. 105  |  McClurg Mueller, Building, S. 5. 106  |  Vgl. Krappmann, Dimensionen, Harböck, Stand, Klasse, Individuum, S. 62-68.

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sozialer Interaktion des Individuums ein, abhängig von Selbstaufgabe und Selbstbehauptung im Interaktionsprozess gegenüber der Gesellschaft. Identität wird so nicht vom Individuum losgelöst aber als stark von sozialstrukturellen Begebenheiten abhängig imaginiert. Produktiv für die Identität ist demnach ein Balance-Akt des Individuums, das über Rollendistanz und Ambiguitätstoleranz verfügen können müsse, und das in Verbindung mit Empathie und der Fähigkeit zur Darstellung der eigenen Identität gegenüber des Interaktionspartners seine Position in gesellschaftlichen Interaktionen zu postulieren und zu verhandeln wisse. Ergebnis dieses Balance-Aktes sei die persönliche Identität, die so gedacht immer wieder von Neuem in Reibung/Messung an den herrschenden Werten einer Gesellschaft ausgehandelt werde. Die Identität des Individuums werde durch Erfüllen und Abstoßen von Erwartungen, die vom Selbst und/oder der Gesellschaft an das Individuum herangetragen werden und für das diese Kongruenz verlangen, determiniert. Wenn Krappmann in der Interaktion die Genese von Identität und ihre Wertigkeit vermutet, so kann außerhalb von sozialer Interaktion keine Identität entstehen. Es sind also soziale Faktoren, die der Identität eine Existenz ermöglichen. Krappmanns Ansatz birgt zwei Probleme: Einerseits trägt das Individuum bei ihm stark utilitaristische Züge. Das individuelle Interesse an der gesellschaftlichen Integration in Form einer Vielzahl sozialer Interaktionen wird als unikales Ziel und zentrale Motivation erachtet. Persönliche Aspirationen oder gesellschaftliche Erwartungen würden ohne Weiteres geopfert, wenn es der Erreichung des Ziels zuträglich sei. Menschen erscheinen so als EinzelkämpferInnen, die im Zeichen des Individualismus in die Identitätsschlacht ziehen. Die Konklusion Krappmanns, dass Identität eine soziale Konstruktion sei, mutet seltsam an neben der offensichtlich getroffenen Annahme eines immer schon vorhandenen Grundantriebs des Individuums, der dann seinerseits a priori existent und nicht sozial konstruiert wäre. Zudem lässt sich fragen, wieso ein solcher Grundantrieb, der klar als inneres Phänomen zu taxieren ist, keinen Eingang in die Skizze einer personalen Identität findet, wenn er derart produktiv eingeschätzt wird. Krappmanns Modell scheint als Lesehilfe zur Erarbeitung von Kommunikationsstrategien weit nützlicher denn als Identitätstheorie. Da er den Hypergütern eines Individuums eine konstitutive Rolle als produktive Elemente für die Erarbeitung und den Unterhalt einer Identität weitgehend abspricht, bricht ein zentraler Aspekt der Identität weg: das Innere. Diese Weglassung wiegt schwer, da just Werte, Ideale und Normen das Verhandlungsgut darstellen, mit dem das Individuum nach Krappmann stetig Abgleiche macht mit der vorherrschenden sozialen Identität der Gesellschaft. Krappmann sabotiert sich also letzten Endes selbst, wenn er die Konstruktion von Zielen und Sinn-Gegenständen als irrelevant abtut. In den 1990er Jahren zeichnete sich die Identitätsforschung durch eine weiter fortgeschrittene Pluriperspektivität und den daraus resultierenden multiplen Zugriffen auf Identität aus. Weiter hielt sich auch die getrennte Bearbeitung der beiden Typologien personale Identität und kollektive Identität. Zwar wurde seit mehreren Dekaden anerkannt und betont, dass das eine beim anderen mitspielt. Geforscht wurde dennoch entweder zum einen oder zum anderen. Ein Beispiel für die seit den 1990er Jahren gehäuft auftretende Verklammerung von personaler und kollektiver Identität lieferte Hausser 1997.107 Von einem psychologischen Start107  |  Vgl. Hausser, Identitätspsychologie.

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punkt aus definiert er Identität als einen intern vom Individuum selbst konstruierten Sachverhalt, der von außen mitbeeinflusst wird. Hausser betont aber, dass Zuschreibungen bestimmter Eigenschaften, Verhaltensweisen oder Charakteristika von außen oder durch andere nur dann identitätsrelevant seien, wenn sie auch intern prozessiert würden. Identität entsteht demnach konstruiert aus dem Zusammenspiel von Innenperspektive und intern prozessierter Außenperspektive und unterliegt simultan subjektiven und kulturell vermittelten Konstruktionsaspekten, wobei das Subjekt eine tragende Rolle spielt. Hausser entwirft dazu eine eigentliche mehrstufige Identitätsregulation des Subjekts, die in vier sich überlagernden Bereichen stattfindet: Situative Erfahrungen mit identitätsrelevanten Gegenständen und deren relationalisierende Bewertung, das Abgleichen mit Bedürfnissen und Interessen des Selbst sowie die abschließende Realitätsprüfung, ob die daraus resultierende Identität immer noch derjenigen entspricht, die das Individuum zu haben glaubt.108 Als Antrieb setzt Hausser einen Konsistenzwunsch des Individuums voraus, welcher mit der die Identitätsregulation abschließenden Realitätsprüfung erfüllt werden soll und der damit die ganzen vorgängigen Handlungen maskierend prägt. Erfahrungen und deren Verarbeitung laufen bei Hausser damit zwangsläufig darauf hinaus, dass vom konsistenzfixierten Individuum entweder die Realität an die Identität assimiliert wird oder aber die Identitätskomponenten an die abweichenden Erfahrungen angepasst werden müssen, was einen Identitätsshift bedeuten kann, der wiederum in extremen Fällen eine Identitätskrise begründen kann. Haussers Modell stellt einen äußerst differenzierenden, prozeduralen und relationalen mehrstufigen Prozess dar, birgt aber ein klassisches wissenschaftliches Problem: Es verlangt nach reproduzierbarem Ausgangsmaterial. Haussers Untersuchungsgegenstand aber ist in der Realität ein historisch eingebundenes Individuum109 und eben nicht ein zeitlich und kontextuell gelöster, universeller Platzhalter, frei von Präsuppositionen, wie es von naturwissenschaftlichen Modellen verlangt wird. Vielmehr trägt der Forschungsgegenstand Individuum Spuren der Zeit, in der er entworfen wurde, und konstituiert sich darüber hinaus auch aus einem Vielerlei von Prämissen und normierten Annahmen der ForscherInnen bezüglich Verhalten und psychologischer Disposition. Das Individuum und so auch den Menschen irgendwie zu imaginieren – in diesem Fall weitgehend autonom und stets die kognitive Kontrolle über seine innere und äußere Natur habend – durchkreuzt Haussers Vorhaben, durch ein vermeintlich universelles Individuum punkto Auf bau, Funktion und Wirkung von Identität zu einem universellen Resultat zu kommen. Tatsächlich werden so brauchbare Resultate von Untersuchungen verunmöglicht. Nämlich immer dann, wenn Prämissen über das psychologische Grundgerüst des untersuchten Individuums windschief zu dessen tatsächlicher Ausgangslage stehen. Dass das verzahnte Zweierpaar personale/kollektive Identität in den 1990er Jahren nicht nur die psychologische, sondern auch die sozialwissenschaftliche For-

108  |  Vgl. ebd., S. 1-67. 109  |  Hausser spickt seine Monografie zwar mit etlichen Zitaten. Allerdings bleibt verborgen, wieso »Claudia, 21, Studentin« oder »Maike, 16, Berufsschülerin« genau Kap. 1.1 Subjektive Bedeutsamkeit und Betroffenheit illustrieren. Wer weshalb was wie gefragt wurde, bleibt leider unaufgelöst. Vgl. für das genannte Beispiel ebd., S. 7.

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schung durchlief, wird bei Wagner deutlich.110 Personale Identität definiert er als Bewusstsein der eigenen Kontinuität eines Menschen über die Zeit hinweg und die Kohärenzvorstellung seiner Person. Kollektive Identität bezeichnet nach Wagner Identifizierungen von Personen untereinander; Gleichartigkeits- und Gleichheitsvorstellungen in einer Gruppe, die sie von Nichtangehörigen unterscheiden und abgrenzen. Identität sei sozialwissenschaftliche Interpretation beobachteter sozialer Phänomene, die Beständigkeit und Dauerhaftigkeit gegenüber Vergänglichkeit und Flüchtigkeit akzentuiert.111 Wagner formuliert also einen dritten identitätstheoretischen Ansatz, der auf der Erkenntnis der Wichtigkeit von Differenzen für die Identität auf baut, alternativ zu den Vorstellungen von hauptsächlich gesellschaftlicher Zuschreibung oder autonomer Erwerbung. Wagner sieht die Heraushebung eines Individuums oder Kollektivs aus dem gesellschaftlichen Kontext in der diskursiven Konstruktion von Differenz begründet. Einerseits diene Identität dabei als Zeichen für die Frage nach der Handlungsfähigkeit des Menschen.112 Andererseits würden in der differenzbedingten Schaffung von Alterität Herrschaftsverhältnisse erkennbar. Schaffung von Differenz und die Herausbildung von Gegen-Identitäten sind die Ergebnisse, die mit einer differenztheoretischen Herangehensweise erreicht werden können. Auch wenn Wagner Kritiken anbringt,113 ist es dieser auch von ihm als ausbau- und verbesserungswürdig taxierte Ansatz, den er als Zugang zu Identitäten in Forschungsarbeiten empfiehlt.114 Neu ist Wagners Absicht, Identität von Kontinuität und Kohärenz gelöst zu betrachten, da diese ohnehin meist nur

110 | Wagner, Fest-Stellungen. 111 | Vgl. ebd., S. 63-65. Dass auch der immer wieder in der Forschung festgestellte Wunsch nach Stabilität, Kontinuität und Kohärenz Kulturleistung ist, wird weder von Wagner noch von anderen ForscherInnen bemerkt. 112  |  Vgl. ebd., S. 60. 113  |  Ein Kritikpunkt Wagners fußt auf der Erklärung von Identitäten als reine Konstruktionen, womit ihnen eine bloß fiktive Natur angeheftet wurde. Fakt ist aber, so Wagner, dass Gruppenzugehörigkeitsgefühle real existent seien. (Vgl. ebd., S. 65-72). Und sie können durchaus auch sprachliche und physische Wirkungsmacht entfalten. Ein einfaches Beispiel für diese Feststellung ist das Phänomen von sich fanatisch mit ›ihren‹ Klubs identifizierenden Fußballfans, die bis zur Hinnahme körperlicher Versehrung reicht. Das schlägt sich bei denselben Akteuren auch sprachlich nieder, indem sie einerseits auf den Klub und ihre Fangruppierung sowie andererseits auf ihre Fangruppierung und sich selbst mit einem allumfassenden ›wir‹ oder ›uns‹ referenzieren. 114  |  Seine Ergänzungen sind eher historiografischer Natur als identitätstheoretischer und werden darum nur in dieser Fußnote vorgestellt. So weist Wagner die ForscherInnen an, keine historische Konstanz zu implizieren und dem Kausalitätsdenken nicht anheim zu fallen. Weiter soll auf die jeweils spezifische Repräsentation der Vergangenheit hingewiesen werden, die immer im Blick auf die Schaffung von Gemeinsamkeiten hin geschrieben und kolportiert werde. Nie dürfe vergessen werden, dass diese Kolportationen Aneignungen von Geschichte zu einem bestimmten Zwecke seien, nämlich zur Erhaltung von Identität. Die stille Annahme von Kontinuitäten in den jeweiligen Geschichten sei es oftmals erst, die es ermögliche, Gegenwart mit Vergangenheit zu erklären. Stattdessen findet Wagner, dass es vielmehr Aufgabe der Historiografie sei, genau diese Umstände des konstruktiven Charakters von Geschichte darzulegen (Vgl. ebd., S. 69-71).

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historiografische und/oder identitätspolitische Kunstgriffe seien, um eine Kohärenz in der Gegenwart zu beschwören: »Die gegenwärtige Welt ist weder schlicht ›da‹, noch durch die Vergangenheit vorbestimmt; sie ist die Schöpfung aus einer Vielfalt von Möglichkeiten, die in dem gerade vergangenen Moment bestanden. Jedes Schreiben über Identität ist in Gefahr, ein Fest-Schreiben, ein Still-Stehen zu werden, das diesem Charakter der Welt und der Menschen in ihr nicht gerecht werden kann.«115

Der von Wagner favorisierte dekonstruktive Differenzansatz ermöglicht die Erschließung einer neuen Dimension im Umgang mit Identitätsfragen. Nicht mehr nur Organisationsfragen und politische Ämter als Erfolgsindikatoren, nicht mehr nur Hypergüter und Lebensnarrationen sind damit im Zentrum, sondern die produktiven Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die den Kontext stellen, in dem es zu diesen Hypergütern und Lebensnarrationen kommen kann. Der Schritt auf die Metaebene verrät viel über die Konstruktion, aber noch mehr über die Intentionen, wieso und wie Identitäten konstruiert werden. Er birgt aber auch Falltüren. Waren bisher entweder alle Gesellschaftsmitglieder oder aber das autonome Individuum Baumeister, liegt es mit dem differenztheoretischen Ansatz nahe, macht- und herrschaftshungrige IdentitäterInnen im Hintergrund zu vermuten. Das soll Wagners löblichen Versuch, alle konstitutiven Elemente miteinzubeziehen, die zu einer Identität beitragen, nicht diskreditieren. Gerade in der Historiografie aber stellt es ein massives Problem dar, Dinge zu sehen, die nicht sichtbar sind. Weiter problematisch ist hier wie eigentlich bei jedem dekonstruktivistischen Ansatz, dass die betrachteten AkteurInnen lediglich zum Mittel zum Zweck der Aufdeckung eines größeren Zusammenhangs degradiert werden und als Gruppe an sich dem Fokus entschwinden. Gegen Ende der Dekade veröffentlichte Giesen zwei Arbeiten116 zur kollektiven Identität. Er schließt sich dabei dem Forschungskonsens an, dass kollektive Identitäten soziale Konstrukte sind, die Selbstdeutung und gesellschaftliche Gemeinschaftsbezüge verschränken. Von großer Wichtigkeit sei dabei die Einbettung der entworfenen Selbstbilder in gruppenintern verbindliche kulturelle Weltbilder. So würden diese an Überzeugungskraft gewinnen und präventiv eine Suche der Gemeinschaftsmitglieder nach Alternativen verhindern, falls Zweifel ob der Richtigkeit ihrer Selbstbilder aufkommen sollten. Giesen plädiert für eine Berücksichtigung verschiedenster Ansätze, die die Identitätsforschung bis in die späten 1990er Jahre prägten. Um eine umfassende Skizze anlegen zu können, bedarf es laut Giesens These gerade umgekehrt des Andenkens dieser fehlbaren Modelle in Kombination mit neuen Kriterien und Taxonomiestrategien.117 So würden alle Möglichkeiten gedacht, etwa bezüglich Motivation und Verpflichtung von Gemein115 | Ebd., S. 72. Statt die Geschichte in Geiselhaft zu nehmen, sollten Spuren der Vergangenheit wie bspw. traditionelle Handlungsweisen und ihre Adaptionen in der Gegenwart vermehrt Beachtung finden, wirft Wagner in die Debatte ein. Diese Adaptionen oder Interpretationen schlössen die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft einer Person oder eines Kollektivs und würden so die Identität dieses Akteurs prägen. Vgl. ebd., S. 72. 116  |  Vgl. Giesen, Kollektive Identität, und Giesen, Identität und Versachlichung. 117  |  Giesen, Identität und Versachlichung, S. 401.

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schaftsmitgliedern, und eine hinreichende Skizze der Gemeinschaft würde erst möglich. Dazu gehört die Vorstellung von persönlich unbeteiligten IdentitäterInnen, die ihr gläubiges Kollektivsubstrat verführen, dazu gehört die Vorstellung des Gemeinschaftsmitglieds als rational berechnende autonome Einheit, die sich immer nur die Identität zulegt, die ihr am meisten bringt. Dazu gehört ein ritualzentriertes Modell, das die innen/außen-Frage zum einzig relevanten Kriterium erklärt, und dazu gehört auch das Identitätsmodell, das von einem unveränderbaren kulturell-mystischen Kern ausgeht, der eine Gemeinschaft durchgehend prägt, ohne dass diese Einfluss darauf nehmen könne. Ergänzend zu diesen in der unikalen Totalität fehlbaren aber dennoch fruchtbaren Modellen, schlägt Giesen eine Einteilung von Identitäten nach Codierungsart vor, also nach der Art und Weise, wie und aufgrund welcher Kriterien von einer Gemeinschaft Grenzen konstruiert werden. Diese Grenzen, zentralen Unterscheidungen und Codes würden sich als Rahmen von Erklärungswelten einer bestimmten Gemeinschaft manifestieren, so Giesens These. So etwa in Formen praktischen Handelns oder gemeinschaftsspezifischer Rituale, die immer auch Abbilder von Interessen derjenigen sozialen Lagen sind, denen sie entspringen. Giesen legt drei grenzkonstruierende Kriterien fest, kollektive Identitäten zu ergründen. Er unterscheidet die gemeinschaftsspezifischen Codierungen in a) primordial codierende Gemeinschaften mit erlaubter Mitgliedschaft aufgrund übereinstimmender unveräußerbarer Merkmale wie Ethnizität, Geschlecht oder Ähnlichem. In b) traditionalistisch codierende Gemeinschaften mit Inklusion, wenn Kongruenz festzustellen ist bei tendenziell diffuseren Kriterien, wie einem gemeinsam abonnierten Verhaltenskatalog. Schließlich führt Giesen die Kategorie c) universalistisch codierender Gemeinschaften ein, die durch die konstitutive Spannung zwischen Diesseitigem und einer Erlösungserwartung charakterisiert sind. Diese verfügten über das größte Inklusionspotenzial, da ihnen ein missionarischer Inklusionsdrang eigen sein könne118 Gültig ist eine kollektive Identität nach Giesen dann, wenn die spezifischen Selbstbehauptungen von anderen als Identität anerkannt werden. Die Kritik Giesens an monokausalen Erklärungsversuchen der kollektiven Identität ist noch immer nachvollziehbar. Leicht befremdend wirkt sie, wenn er mit einer pointierten Priorisierung der FramingProzesse von Gemeinschaften selbst auch von einem primär konstituierenden Merkmal ausgeht. Diese Konzentration auf die unterschiedlichen Grenzziehungsmechanismen in Giesens Essay ist wohl erklärbar mit seiner Forschungsabsicht, kollektive Identitäten zu kategorisieren. Mangelnden Weitblick kann man Giesen deswegen nicht vorwerfen, zumal er in seinen Formulierungen wiederholt darauf hinweist, dass bei einer seinen Kategorien folgenden Stratifikation scharfe Trennlinien inexistent seien. Dennoch ist der Wunsch des Ordnens in der Forschungsgestaltung durchaus spürbar, gerade auch in der nicht-prioritären Aufarbeitung von konstruktions- und konstitutionsrelevanten Identitätselementen. Begrüßenswert ist Giesens erfrischend unorthodoxer Ansatz, Methoden und Herangehensweisen nicht kategorisch zu verwerfen, sobald sie über bestimmte Unzulänglichkeiten verfügen. Mit vielen Teilantworten weiter zu kommen, als ewig (und vergeblich) auf die eine wahre Antwort zu warten, scheint dem Autor bei der hier besprochenen komplexen Materie äußerst nützlich. Wenngleich Giesen in seiner Monografie zum Thema, die ebenfalls 1999 erschien, mehr Raum zur Verfügung stand und er 118  |  Ebd., S. 397-399.

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die Kategorien nach Framing-Prozessen dementsprechend ausladender illustrierte, so verharrte er auch hier im Fokus auf diese.119 Der praktische Aspekt der Identitätskonstruktion beinhaltet die Nennung kommunikativer Situationen, in denen gefestigt, versichert und/oder alteriert wird, was einer Gemeinschaft wichtig ist. Damit erhält ebenfalls Gestalt, was sich gehört, um konform zu sein.120 Auch betont Giesen die soziale Situation als konstitutiv für die kollektive Identität, die sich im Austausch der sozial differenten AkteurInnen ergibt. Soziale Situationen wie Gemeinschaftlichkeit oder Unterdrückung als polare Beispiele ließen bestimmte Identitäten in bestimmten sozialen Situationen erfolgreich werden, während anderen Identitäten kein Erfolg vergönnt sei.121 Als elementare Triggerkomponente kommt auch in Giesens Monografie die Anerkennung der kollektiven Identität durch die anderen hinzu,122 die durch gemeinsames Handeln evoziert werde, dem Giesen somit ebenfalls eine stark konstitutive Rolle zuschreibt. Dazu zu zählen seien auch die diskursive Arbeit von und an der Gemeinschaft, die aus einem stetigen Wechselspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung gespeist werde. Dabei versuche die Gemeinschaft, die Diskrepanz vom Selbstbild zum anerkannten, rückprojizierten Bild des Selbst mit verschiedenen Taktiken so klein wie möglich zu halten. In seiner Monografie entwirft Giesen ein umfassendes, detailliertes und weitgehend fallunabhängiges Instrumentarium, mit dem Identitäten von Gemeinschaften untersucht werden können. Auch wenn streckenweise die Kriterien auf postmodernen Gemeinschaften liegen, so ist Giesens Konzept auch auf Gemeinschaften älteren Datums anwendbar, wie er im zweiten Teil seines Buches auch mit illustrativen Beispielen historischer Szenarien von Romantik, Modernismus und NS-Deutschland glaubhaft belegt. Als problematisch erweist sich die Konzeption Giesens lediglich bei der Prämisse, dass Gemeinschaften kategorisch versuchten, ihr Selbstbild mit der Fremdwahrnehmung in Einklang zu bringen. Widerständige oder marginalisierte Gemeinschaften, so ist zu beobachten, foutieren sich zuweilen inhaltlich um rückprojizierte Bilder des Selbst oder deuten negative Askriptionen positiv um. In der US-amerikanischen Forschung der 1990er Jahre schenken Somers/Gibson 1994 einem neuen Aspekt Beachtung, der das Verständnis von Kollektiven und sozialen Bewegungen verbessert: Sie betonen die Wichtigkeit der Narration und der Narrative bei der sozialen Konstituierung von Identität. Die Basis für die tägliche Identitätskonstitution stellten »[...] the projections, expectations, and memories derived from a multiplicity but ultimatively limited repertoire of available social, public, and cultural narratives«123 dar. Narrative werden von Somers/Gibson als

119  |  Für die Ausführungen seiner Codierungstypen verwendet Giesen annähernd dreimal so viel Platz wie für die Schilderung der Situationen, in denen die Grenzziehungen passieren wie Reden, Gedenkfeiern oder anderen standardisierten gemeinsamen Aktivitäten von Gemeinschaftsmitgliedern. Vgl. Giesen, Kollektive Identität, Codierungs-Typen S. 24-82, und Grenzziehungsrituale S. 82-102. 120  |  Ebd., S. 82-84. 121  |  Ebd., S. 118. 122  |  Vgl. ebd., S. 118-131. 123  |  Somers/Gibson, Reclaiming the Epistemological, S. 38-39.

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wesentlich prägend für die Identität bezeichnet124, da sie Hand böten, diese zu etablieren.125 Verortungen des Selbst, Sinnkonstruktionen oder Integrationsversuche passierten immer im Rahmen von raum-, zeit- und machtabhängigen Arten der Narrativität126, die durch zeit- und raumspezifische Regeln, Praktiken und Institutionen determiniert seien.127 Damit werden Narrativität und die ihr eigene Relationalität letztlich als Impulsgeberinnen der kollektiven Identität erkannt, wobei multiple Narrationsmuster produktiv seien: Ethnie, Familie oder die wirtschaftliche Situation könnten allesamt maßgebend sein für die Sinnkonstruktion.128 Letztlich verstehen Somers/Gibson Narrative damit indirekt auch als handlungsanleitend: Stellt die kollektive Identität den Handlungsimpetus dar und wurzelt sie ihrerseits in produktiven Narrativen, so sorgten diese letztlich dafür, dass Individuen in Kollektive integriert würden und darin bestehen könnten, was ein Handeln für das und im Sinne des Kollektivs erst ermöglicht. Ein Vorteil der Betonung der Wichtigkeit von Narrativen liegt im Hervorstreichen der historischen und sozialen Spezifik kollektiver Identitäten. Außerdem ermöglicht der Ansatz von Somers/Gibson kollektive oder im Namen des Kollektivs begangene Handlungen auch dann zu verstehen und zu bewerten, wenn sie dem rationalen Eigeninteresse der Mitglieder eines Kollektivs im Extremfall diametral gegenüberstehen. Die Taxonomie von Kollektiven entlang gemeinschaftsfremder Dimensionen wird zwar auch so nicht aufgehoben, da Somers/Gibson Narrative als zeit- und raumspezifisch und also sozial und nicht gemeinschaftsintern reglementiert verstehen. Dennoch bringt der Fokus auf Art und Ausgestaltung der gemeinschaftseigenen Kommunikationsstrategien die Forschung näher an die Gemeinschaft heran im Versuch, sie zu begreifen. Trotz ihrer Fokussierung auf diesen Aspekt betonen Somer/Gibson, dass die Narrative nur eine Dimension der Identität darstellten, die mit weiteren – variablen und fixierten – Dimensionen kombiniert werden müssten, um zu einem umfassenden Bild der kollektiven Identität zu gelangen.129 Der US-Forscher Stephen Mennel stellte 1994 die in der Forschung weitgehend kanonisierte Trennung von personaler und kollektiver Identität infrage. »Human beings have never [...] been solitary animals: their self-images and we-images have always – since the acquisition of the uniquely human capacity for self-reflection – been formed over time within groups of interdependent people, groups, that have on the whole steadily increased in time.«130 In Rückgriff auf die Theorien Meads rät Mennel ab von einer binären Trennung von Individuum und Gesellschaft. Er hält stattdessen fest: »[I]t‘s easy to see that individual self-images and group we-images are not separate things.«131 Die immer komplexer werdende Schichtung, die Identität als Phänomen darstellt, ist nach Mennel mit der Suche nach der Wir-Ich-Balan124  |  Andernorts lassen Somers/Gibson sogar verlauten, das Narrativ sei eine »ontological condition of social life« (ebd., S. 38). 125  |  Etwas poetischer formuliert das Jan Assmann 1997: »Wir sind die Geschichten, die wir über uns zu erzählen vermögen.« (Assmann, Moses, S. 34). 126  |  Vgl. Somers/Gibson, Reclaiming the Epistemological, S. 40 und S. 64-69. 127  |  Vgl. ebd., S. 67. 128  |  Vgl. ebd., S. 67. 129  |  Vgl. ebd., S. 67. 130  |  Mennel, Formation, S. 176. 131  |  Ebd., S. 179 (Herv. i.O.)

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ce zu ergründen, die Aufschluss gibt über die Zeit, in der sie Gültigkeit hat, da sie wesentlich vom gesellschaftlich geprägten und sozial erlernten Habitus abhängig sei. Mennel geht damit einerseits von einem homo apertus und andererseits von einer sehr großen gesellschaftlichen Wirkungsmacht aus, welche die Selbsterfahrung entscheidend prägt.132 Mennels Kritik, auch in Untersuchungen der kollektiven Identität keine allzu strikte Trennung zwischen Makro- und Mikroebene vorzunehmen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Wenn sie als mutual produktiv erkannt wird, darf keiner der beiden Pole, weder personale noch kollektive Identität als dominant erachtet werden. Genau dieser Gefahr fällt Mennel aber anheim, wenn er Identitäten als rein gesellschaftlich gegeben einschätzt, wodurch Individuen gewissermaßen zu gesellschaftlichen Effekten stilisiert werden, die sich fatalistisch ihrer schicksalsgleichen Identität zu ergeben hätten. Weiter zu bemängeln an Mennels Text ist, dass er keine Verfahrensbeispiele anführt, wie das Individuums-/Gesellschaftsgeflecht entwirrt werden soll. Hunt/Benford/Snow widmen 1994 ihre Aufmerksamkeit den Framing-Prozessen im Rahmen ihrer Erforschung von kollektiven Identitäten Sozialer Bewegungen. Mittels dieser simultan inkludierenden und exkludierenden Verortungen der Gemeinschaft würden Identitäten als interaktionistische Errungenschaften wesentlich bestimmt.133 Den damit konstituierten Grenzen komme dabei die Aufgabe zu, die ›objektive‹ Welt zur Sinnhaftigkeit hin zu simplifizieren und zu kondensieren »[...] by selectively punctuating and encoding objects, situations, events, experiences and sequences of actions within one‘s present or past environments«134 . Neben Grenzen würden so auch Bewusstsein und Verhandlungen, Feinde, Gegner und Freunde Ergebnisse von Framing-Prozessen, die kollektive Identität konstituieren und unterhalten. Als eigentliches Vakuum innerhalb der festgesetzten Grenzen werden die Kollektive dennoch nicht verstanden. Allerdings schreiben Hunt/ Benford/Snow die Verantwortung für das Übersetzen von externen Faktoren in Frames den Organisationsebenen der jeweiligen Gemeinschaften zu, womit sie eine immer hierarchische Aufgabenteilung und Struktur implizieren. Nicht nur Ausarbeitung, Ausbau und Unterhalt des Framing-Prozesses, auch der FrameAlignment-Prozess, der versucht Bewegungsframes und personale Frames in eine zumindest teilhafte Kongruenz zu bringen, obliege damit der Organisationsebene.135 Neben dem Framing erachten Hunt/Benford/Snow auch die Fremdwahrnehmung und deren Internalisierung als konstitutiv für die kollektive Identität, ebenso wie der Umgang einer Gemeinschaft mit ihrer Geschichte.136 Mit dem Modell des Framing-Prozesses tragen Hunt/Benford/Snow der dynamischen Qualität konstitutiver Grenzen von Gemeinschaften Rechnung. Ihr ausschließliches Verorten der 132  |  Vgl. ebd., S. 193. 133  |  »[...] Framings that mark and bound a movement and its activities in space and time are central to the construction of SMO [Social Movement Organisations, d.V.] actors’ collective and personal identites.« (Hunt/Benford/Snow, Identity Fields, S. 195). 134  |  Hunt, Robert A, Benford, Robert D., Master Frames and Cycles of Protest, in: Morris, Aldon D., McClurg Mueller, Carol. (Hg.). New Haven, 1992, S. 137, zit. in: Hunt/Benford/ Snow, Identity Fields, S. 190. 135  |  Ebd., S. 190-192. 136  |  Ebd., S. 195.

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aktiven Rollen auf der Organisationsebene von Bewegungen impliziert aber, dass Entwicklung, Veränderung und das ideologische Tragen der sozialen Welten einer Bewegung ausschließlich von einem Kader besorgt wird. Folge davon ist einerseits, dass so nur autoritäre und hierarchisch stark gestaffelte Bewegungen untersucht werden können, da basisdemokratische Bewegungen wirkungsmächtige Kader oftmals gar nicht entstehen lassen. Andererseits werden die Partizipierenden einer Bewegung so zu stillen KonsumentInnen degradiert, deren Mitgliedschaft also weitgehend zu einem Akt der Massenanreicherung reduziert wird. Das wiederum hieße, dass das einzelne Individuum, sofern es nicht im Kader wirkt, für die produktive Ausgestaltung der Gemeinschaft irrelevant wäre. Calhoun kommt bei seiner Beschäftigung mit Identität 1994 zu dem Schluss, dass Identität als generelles Problem der conditio humana zu verstehen sei. Die Moderne habe der Problematik allerdings Vorschub geleistet mit ihren zeittypischen Erscheinungen wie der Loslösung von Selbst und Körper oder dem Wegbrechen von allumfassenden Bewertungs- und Identitätsschemata. Die Vorstellung eines integralen und fixierten Kerns einer Identität deklariert er als essenzialistisch, wenngleich gewisse essenzialistische Kriterien zur Aufklärung einer Identität durchaus hilfreich seien.137 Gleichzeitig warnt er aber davor, dass auch Theorien wie der soziale Konstruktivismus im Zuge einer Überbetonung der sozialen Determination in die Essenzialismusfalle tappen könnten. Für Konstitution und Reproduktion von Identität sieht Calhoun verschiedene ineinandergreifende Komponenten verantwortlich. Da in einer in Bezug auf gesellschaftliche Normen differierenden Identität immer auch Subdifferenzen auszumachen seien, ist es nach Calhoun Aufgabe der Identitätspolitik, jeweils eine gemeinschaftsspezifische Identität zu betonen, die hernach als essenziell zu verstehen ist: die kategoriale oder primäre Identität. Diese wirke einigend und interagiere mit anderen vorherrschenden Identitäten. Weiter seien – ebenfalls miteinander interagierend – Selbstund Fremderkennung von zentraler Bedeutung für Identitäten. Identitätspostulate seien dabei zwingend angewiesen auf ein Publikum, dessen Responsivität eine Verortung der Postulierenden überhaupt erst ermöglicht. Damit ist Identität nach Calhoun den herrschenden sozialen Bedingungen und Veränderungen ausgesetzt, und nicht reine, sondern historisch spezifisch verzerrte und abgeänderte Spiegelung der Selbstwahrnehmung. Der herrschende soziale Kontext sei es auch, der Identitäten eine Signifikanz zuschreibt138, abhängig davon, ob gesamtgesellschaftlich Kohärenz oder Inkohärenz mit moralischen Diskursen der jeweiligen Gemeinschaft herrscht. In Absetzung von essenzialistischen, utilitaristischen und sozialdeterministischen Positionen, skizziert Calhoun Identität als immer wer137  |  Calhoun führt an, dass gerade in poststrukturalistischer Herangehensweise, die ihrerseits Fragmentierung und Widersprüche aufdecken und so Eindeutigkeiten als imaginiert überführen will, ein Problem besteht: die Diskrepanz zwischen akademischer Theorie und gelebter Praxis. Als Beispiel für eine solche Diskrepanz nennt er die Frauenforschung, die häufig mit poststrukturalistischen Mitteln arbeitet, und dabei aber gerade durch die an sich essentialistische Kategorie den wohl stärksten gemeinsamen Nenner im Frau-Sein hat. Vgl. Calhoun, Social Theory, S. 14-15. 138 | Es ist m.E. davon auszugehen, dass IdentitätsträgerInnen von der Signifikanz ihrer Identität selbst überzeugt sind oder zumindest etwas Positives für sich daraus gewinnen können, gerade und v.a. in der Moderne.

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dendes Projekt, an dem das Selbst teilnimmt und das mehr oder weniger von den Ressourcen Erfahrung, Möglichkeit, Kultur und sozialer Organisation befeuert wird.139 Calhouns Denkfigur, dass Identitätspolitik gemeinschaftsintern von einer Subgruppe gemacht und vom Rest befolgt werde, leistet der Vorstellung Vorschub, dass ein Großteil der IdentitätsabonnentInnen lediglich abnickende Funktion hat. Die daraus resultierende Vorstellung von unbeteiligten IdentitäterInnen relativiert er aber.140 Calhounschreibtauch, dass personale Identitäten erheblichen Einfluss auf die kollektive Identität haben könnten, in der sie sich einfänden. Eine Rolle als aktive MitgestalterInnen formuliert Calhoun für das Gros aber nicht.141 Des Weiteren muss der Lesende bei Calhouns Essay in Konsequenz auch annehmen, dass ein Kader, das den Kurs ausarbeitet, den das Fußvolk dann zu leben hat, inhärente Grundbedingung von politisch-sozialen Gemeinschaften sei. Wie bei Hunt/ Benford/Snow fliegen auch bei Calhoun nicht-hierarchische Gruppierungen damit tel quel durch das Theorienetz. Zudem scheint die Möglichkeit widerständigen, innerkollektiven Verhaltens nicht mitgedacht worden zu sein. Damit wird ein Laborzustand einer Gemeinschaft imaginiert, dem kaum eine Soziale Bewegung entsprechen dürfte. Hall nähert sich der kollektiven Identität 1996 von einer poststrukturalistischen und differenztheoretischen Warte. Er verwendet den Identitätsbegriff ausschließlich in marginalisierenden Anführungsstrichen, um anzuzeigen, dass der Begriff dekonstruiert und für ungültig erklärt wurde. Dennoch kommt er nicht umhin, ihn zu gebrauchen, da die Dekonstruktion keinen valablen Ersatzbegriff an seine Stelle gesetzt hat.142 Das Wiedererkennen von gemeinsamen Ursprüngen, von geteilten Charakterzügen einer Gruppe, von Solidarität und Loyalität dieser gegenüber bezeichnet Hall in der Folge nicht als Identität, sondern als Identifikation. Diese sei als dauernder Prozess zu verstehen, der Totalität nie erreichen könne, sondern immer im Potenzialis verweilen müsse.143 Die Identität144 erhält nach Hall ihre Bedeutung aus ihrer Eingewobenheit in einen Diskurs, der das Markieren und Schaffen symbolischer Grenzen und damit auch des konstitutiven Außen mitbestimme, das für die Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Selbst von großer Wichtigkeit sei. Hall geht von Identität als Phänomen aus, das nie vereint, sondern fragmentiert, gebrochen und vielteilig konstruiert ist und sich über verschiedene, oftmals sich durchkreuzende und antagonistische Diskurse, Praktiken und Positionen formiert. Damit ist Identität sowohl in der konstanten

139  |  Calhoun, Social Theory, S. 28. 140  |  Ebd., S. 29. 141  |  Dabei liegt ein Beispiel für die Macht der IdentitätsabonnentInnen ganz nah: Allein die Wahl einer umstrittenen calhoun‘schen Primäridentität könnte einen Massenexodus aus einer Gemeinschaft zur Folge haben. Ein, um es vorsichtig zu formulieren, gewisser Einfluss auf Gestaltung und Gestalt eines Kollektivs kann den Mitgliedern einer Gemeinschaft also kaum abgesprochen werden. 142  |  Hall, Who Needs ›Identity‹?, S. 2. 143  |  Ebd., S. 2-3. 144  |  Der Einfachheit halber wird auch für Hall der Begriff Identität verwendet statt des von ihm vorgeschlagenen Terminus Identifikation, zumal er sich inhaltlich mühelos in die kritischen Identitätsdefinitionen anderer berücksichtigter AutorInnen einreiht.

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Transformation begriffen als auch von höchster historischer Spezifität.145 Innerhalb der Repräsentation entstehen nach Hall unter Benutzung von Geschichte, Sprache und Kultur Identitäten. Die (vermeintlich) homogene Einheit, die eine nie fertig konstituierte Identität anbietet, wird so als konstruierte Form der Schließung gedacht, entstanden im Spiel von Macht und Exklusion.146 Im poststrukturalistischen Sinne ist Identität folgerichtig ontologisch nur durch ihre Beziehungen, was sie ist. Und so also auch nicht unwesentlich das, was sie nicht ist.147 Der Diskurs ist in Halls Einschätzung mächtig, übermächtig aber nicht, wenn er Identität definiert als temporäre Vernähung eines Subjekts mit dem vom Diskurs als verfolgenswert vorgegebenen Positions-Subjekt. Es gibt bei Hall also eine weitere Ebene, in der das Subjekt prinzipiell außerhalb des Diskurses bestehen kann. Hall merkt denn auch an, dass die Wertigkeit der Erfahrung des Subjekts verloren ginge, wenn der Diskurs omnipotent gedacht würde.148 Deswegen plädiert er für eine Verquickung von diskursiver und psychoanalytischer Ebene bei der Analyse von kollektiven Identitäten. Wenn Hall Identität und ihre Konstruktion mit poststrukturalistischem Rüstzeug hinterleuchtet, kommt er, wie bei dieser Methode üblich, zur großen Glocke, in der gesellschaftliche Vorgänge passieren. Werden mit dieser Herangehensweise auch politische Zusammenhänge und Dispositionen erkennbar, die ansonsten verborgen geblieben wären, so muss beanstandet werden, dass nicht unbedingt Neues zu Gemeinschaften und deren Konstitution dabei herausschaut. Vielmehr wird die Betrachtung einer Gemeinschaft und der Entstehung ihrer Identität Instrument für eine Kritik am Machtdispositiv, das sehr vieles zu determinieren scheint.149 Die in Halls Verständnis alles umspannende Glocke steht als repressives Regulativ nicht nur außerhalb der Menschen, sondern ist qua Normen und Regeln in sie eingeschrieben. Dennoch scheint das Subjekt aber stellenweise aus diesem Determinationsgefüge austreten zu können. Wäre ein Austreten unmöglich, so wäre die Vorstellung Halls hinfällig, dass das Subjekt immer nur partiell dem vom Diskurs vorgegebenen Positionssubjekt entspricht. Von wem wie und wann ausgetreten werden kann und von wem wie und wann nicht, erläutert Hall ferner nicht. 145  |  »Precisely because identities are constructed within, not outside, discourse, we need to understand them as produced in specific historical and institutional sites within specific discursive formations and practices, by specific enunciative strategies.« (Ebd., S. 4). 146  |  Ebd., S. 4. 147  |  Ebd., S. 4. Hall bezeichnet diese Feststellung als »radically disturbing recognition«. Leider ist nicht zu eruieren, was genau ihn befremdet. Möglich wäre der Umstand, dass mit einer Theorie, deren ursprüngliches Ziel es war, vermeintliche Eindeutigkeiten zu entlarven, höchstselbst wieder Ausschließlichkeiten produziert werden. 148 | Ebd., S. 11-12. Eine Ansicht, zu der auch Foucault schließlich gelangte, als er die Verortung von Individuen in einer Gesellschaft als das Resultat mehrerer Mechanismen erkannte: Historisch-spezifische Praktiken wie auch normative Selbstregulation und Technologien des Selbst im Umgang damit seien dafür verantwortlich. Vgl. zu einer Foucault-Kritik ebd., S. 12-13. 149 | Paradoxerweise taucht bei dieser Herangehensweise zudem das Problem auf, dass das eigentliche Ziel, nämlich die Dekonstruktion von angeblich unverrückbaren, natürlich scheinenden Gegebenheiten, darauf hinausläuft, dass die monolithischen Kräfte durch ein neues, allumfassend mächtig erscheinendes Dispositiv – den Diskurs – ersetzt wird. Vgl. zu diesem Grundproblem Butler, Körper von Gewicht, S. 30.

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Mit zunehmender Konjunktur ist Identität auch in den 2000er Jahren viel beachtetes und zuweilen auch fundamental kritisiertes Thema. Niethammer beispielsweise hält die kollektive Identität noch im Jahr 2000 für ein nicht geglücktes Konzept.150 Wortgewaltig ortet er ein grundlegendes Problem im Begrifflichen: »Die Bestimmtheit des Ausdrucks übertönte die Vagheit des Inhalts, der regelmäßig zeitspezifische Bezüge zu religiösen Ersatzbildungen und zu verlorenen oder erschütterten gesellschaftlichen Traditionen, Selbstverständlichkeiten, Unbewusstheiten erkennen ließ.«151 152 Als fester Kern sieht Niethammer für Gemeinschaften einzig das Abgrenzen vom Nicht-Identischen als produktiv an, womit er Identität wesentlich als konflikthaft imaginiert. Im Falle eines kollektiven Konflikts »[...] verflüchtigt sich jedoch die situative Vagheit subjektiver Balancen und muss mit der beinharten Notwendigkeit des Sozialen durch objektivierende Kriterien der Inklusion und Exklusion ersetzt werden.«153 Da im Laufe der Konflikteskalation als Letztbegründungen gemäß Niethammer immer Glaubensfragen, angeblich Natürliches oder primordiale Begebenheiten zum Zuge kommen, ist der kollektiven Identität eine Fundamentalismus- und Gewalttendenz inhärent.154 Des Weiteren sträubt sich Niethammers Innerstes vor der kollektiven Identität, weil sie irreduzible politisch-kulturelle Einheiten formiert, die sich ihrer eigenen Hinterfragung verweigern.155 Spätestens hier ist Niethammer zu kritisieren. Einerseits geht er von einem überholten Bild kollektiver Identitäten aus, indem er sie als unelastisch und bar jeder Anpassungsressource imaginiert. Eine Ansicht, die quer steht zu neueren und neuesten Forschungsresultaten, die gut begründet vom Gegenteil ausgehen.156 Weiter zu kritisieren ist, dass Niethammer als Ausgangspunkt die Eigenschaften einer bestimmten Typologie von Identität benutzt, sie in der Analyse aber auf alle Typologien von kollektiven Identitäten anwendet. Nationale oder ethnische Identitäten können aber rein von Struktur und Funktion her kaum Gültigkeit als Blaupausen beispielsweise für Identitäten von Neuen Sozialen Bewegungen haben, die in der Regel autonom und bewusst gewählt werden. Sogar innerhalb ein- und derselben Subgruppe einer bestimmten Typologie kollektiver Identität sind zuweilen

150  |  Vgl. Niethammer, Kollektive Identität. 151  |  Ebd., S. 625. 152 | Wieso diese Offenheit genau ein Problem ist, kann der Autor auch nach 600 Seiten Niethammer nicht nachvollziehen, zumal fixierte, starre Wahrheiten m.E. in der Wissenschaft verdächtiger sind als unscharf begrenzte Felder, die v.a. kontextsensitiv Erkenntnis versprechen. 153  |  Niethammer, Kollektive Identität, S. 625. 154  |  Ebd., S. 625. Darüber hinaus sieht Niethammer in der kollektiven Identität gar das vermittelnde Glied zwischen Kultur und Gewalt, da ihre Ausprägung Letztere fördere und legitimiere. Vgl. ebd., S. 625. 155  |  Ebd., S. 631. 156 | So etwa als Case Study mit Fokus auf die feministische ›National Organisation of Women‹ (NOW) in Reger, More Than One Feminism. Mit Blick auf die US-Studentenbewegung der 1960er Jahre Robnett, External Political Change, bes. S. 271. Theoretisch ausformuliert wendet sich Whittier gegen die Vorstellung von sozialen Kollektiven als geschlossenen Monaden. Vgl. Whittier, Meaning and Structure.

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unterschiedlichste Positionen auszumachen.157 Das zweifelsohne wichtige Identitätskonstruktionsmerkmal der Abgrenzung gegenüber den anderen zudem zum Trigger emporzustilisieren, der allen anderen Inhalten erst Gestalthaftigkeit ermögliche, erscheint kausalistisch. Polletta/Jasper sehen 2001 in der kollektiven Identität den eigentlichen Motor von Sozialen Bewegungen, wollen sie aber nicht als kausalistische Wurzel anderer Phänomene verstanden wissen. Konkret produktiv ist die kollektive Identität nach Polletta/Jasper bei der Kreation kollektiver Zentralaussagen, bei der Rekrutierung, bei strategischen und taktischen Entscheidungen und bei Bewegungsergebnissen. Sie könneaber auch Grund sein für die Trennung eines Individuums von einer Gemeinschaft. Kollektive Identität kanalisiert nach Polletta/Jasper Worte und Handlungen, ermöglicht Selbstbehauptungen und Taten und delegitimiert andere. Sie sei immer historische Konstruktion und stelle Kategorien zur Verfügung, die Individuen benutzen, um ihre soziale Welt aufzuteilen und Sinn darin zu sehen.158 Darüber hinaus figuriere sie als – meist imaginierte – Wahrnehmung einer Relation zu Gleichen. Den Bärenanteil der Konstruktionsleistung schreiben Polletta/ Jasper wie Niethammer dem und den ›anderen‹ zu, wenngleich es zum Gelingen auch auf die Akzeptanz derjenigen ankomme, auf welche die Identität angewendet werde.159 Soziale, ökonomische und politische Verhältnisse werden als verantwortlich gezeichnet für ihre Herausbildung wie auch die als weitgehend unabhängig verstandene Kultur. Niederschlag finden kollektive Identitäten gemäß Polletta/Jasper in kulturellen Materialien wie beispielsweise Narrationen, Symbolen oder verbalen Stilen.160 Um zu einem vollständigen Bild einer Gemeinschaft zu gelangen, reiche eine ermittelte kollektive Identität aber nicht aus, da sie eher als Teil eines Gemeinschaftscharakters zu verstehen sei. Dass in der Forschung verschiedene Phänomene mit kollektiver Identität bezeichnet würden, was eine griffige Definition a priori verunmögliche, nimmt bei Jasper/Polletta großen Raum ein.161 Eine wichtige Erkenntnis Polletta/Jaspers ist, dass vermeintlich klar rational bearbeitete Felder wie Taktik, Organisationswahl oder Zielbesprechungen ebenfalls unter 157  |  Ein einfaches Beispiel für die Diversität ist ein in aller Kürze angedachter Vergleich der nationalen Identitätskonstruktionen von Kanada und der Schweiz. Erlaubt ein Blick in die Einwanderungsgeschichte Kanadas das Erkennen einer eher universalistischen Gemeinschaft, so vermittelt die Beschäftigung mit der schweizerischen Einwanderungspolitik eher ein Bild einer traditionalistischen Gemeinschaft. In Anbetracht der jeweiligen Geschichten und Agenden dieser beiden Nationalstaaten und ihrer u.a. daraus resultierenden wesentlich verschiedenen kollektiven Identitäten, schimmert erkennbar durch, dass eine Vereinheitlichung allein dieser einen Identitätstypologie eine starke Verzerrung der tatsächlichen Gegebenheiten bedeuten kann. 158  |  Polletta/Jasper, Collective Identity, S. 298. 159 | Polletta/Jasper illustrieren dies mit dem Beispiel der Hispanics in den USA. Damit erhält ihre Definition eine gewisse Schummrigkeit, da von einer Selbstzuschreibung die Rede ist, die aber dennoch den Charakter einer Fremdzuschreibung haben sollte. Vgl. ebd., S. 285. 160  |  Als weitere Beispiele werden Rituale oder Bekleidung aufgezählt. Vgl. ebd., S. 285. 161  |  In mancher Studie ist bspw. unklar, ob kollektive Identität nun die von der Gemeinschaft selbst gegen innen so verstandene und gepflegte Identität ist, oder die von innen gegen außen getragene oder die von außen zugeschriebene oder die von außen wahrgenommene Identität bezeichnet. Vgl. ebd., S. 289-292.

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dem Einfluss stünden, wer man ist, und damit auch ins Einzugsgebiet der Identität fielen.162 Polletta/Jasper gehen davon aus, dass kollektive Identitäten vor allem zugeschrieben sind. Auf die dabei entstehenden Probleme wurde weiter oben schon bei anderen AutorInnen hingewiesen: Den betroffenen Gemeinschaften bleibt so als konstitutiver Akt vornehmlich das Absegnen von Ein- und Zuordnungen über ihre Köpfe hinweg, wodurch sie in eine passive Rolle gedrängt werden. Man kann sich zudem fragen, wie groß die Wirkungsmacht gemeinschaftlichen Abnickens einer der Gemeinschaft zugetragenen Identität überhaupt sein kann, wenn die Definitionsmacht weitgehend der Restgesellschaft zugeteilt wird. Eine andere Folge der Konzentration auf die ›anderen‹ bedeutet, dass die Suche nach der kollektiven Identität einer Gemeinschaft ausschließlich in kulturellen Materialien der Fremdwahrnehmung erfolgt. Dagegen sprechen neueste Forschungsresultate, die zeigen, dass auch strukturelle Spezifika wie beispielsweise Organisationsformen durchaus Einfluss auf kulturelle Umstände haben.163 Weiter problematisch ist, dass Polletta/ Jasper trotz ihrer Erkenntnis, dass in der Forschung verschiedene Identitäten von Gemeinschaften unter dem Begriff kollektive Identität subsumiert werden, durch unpräzisen Gebrauch zuweilen selbst zu dieser Konfusion beitragen.164 Heikel ist des Weiteren auch, dass alle Erkenntnisse, die Polletta/Jasper darlegen, aus Case Studies über verschiedene Bewegungen aus verschiedenen Zeiten und Systemen zusammengetragen wurden. In Zusammenarbeit mit Jeff Goodwin verfassten die bereits erwähnten Jasper/ Polletta 2001 einen weiteren wichtigen Artikel. Darin betonen sie den wissenschaftlichen Gewinn des Miteinbezugs von kulturell codierten und damit gesellschaftsspezifischen Emotionen in die Kartierung der kollektiven Identität einer Gemeinschaft.165 Emotionen seien zu verstehen als eine unter mehreren produktiven Komponenten. Kollektive Identitäten verfügten über verschiedene Aspekte, rationale aber eben auch irrational-emotionale, die der Mobilisierung oder dem Erhalt von Gemeinschaften in verschiedenen Situationen unterschiedlich stark zugutekämen.166 Emotionale Aspekte wie Gruppensolidarität, Sympathie oder Motivation, stehen für Goodwin/Jasper/Polletta damit nicht in ausschließender Konkurrenz zu rationalen Aspekten wie Strategie, Struktur und Taktik.167 Als Zuneigung gegenüber Gruppenmitgliedern und Antipathie gegenüber Nicht-Mitgliedern werden 162  |  Ebd, S. 293. 163  |  Vgl. etwa Reger, More Than One Feminism, Whittier, Meaning and Structure oder Robnett, External Political Change. 164  |  Vgl. bspw. Polletta/Jasper, Collective Identity, S. 297. 165 | Damit sind Goodwin/Jasper/Polletta nicht die Ersten. Mit psychoanalytischem Zugang wurde etwa in den 1950er und 1960er Jahren versucht, das Engagement in Kollektiven über Emotionen zu erklären. Vgl. bspw. für die 1950er Jahre Hoffer, der bei Bewegten einen Mangel an gefestigter (personaler) Identität ortete, die deswegen in einer kollektiven Identität aufgehen wollten. Vgl. Hoffer, The True Believer. In den 1960er Jahren blies Klapp wie bereits erwähnt in ein ähnliches Horn. Vgl. Klapp, Collective Search, bes. S. 11-14 und S. 47-70. Für eine detailliertere Verzeichnung der Emotionen in der Bewegungssforschung siehe Goodwin/Jasper/Polletta, Why Emotions Matter. 166  |  Deutlicher macht das ein immer wieder zu beobachtendes Muster: Während Entsetzen gut mobilisiert, ist es eher fundierter Inhalt, der aktiv hält. 167  |  Goodwin/Jasper/Polletta, Why Emotions Matter, S. 3-6.

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Emotionen zu einem tragenden Teilaspekt kollektiver Identitäten. Emotionen, die sämtliche sozialen Handlungen und Verhältnisse durchdringen, werden von Goodwin/Jasper/Polletta als Hauptaspekt aufgestellt. Allein semantisch werden sie dadurch wieder zu mehr als nur einer Komponente. Und diese semantische Tendenz spiegelt sich in der Einschätzung der Wirkungsmacht von Emotionen durch Goodwin/Jasper/Polletta wider. Für den Erfolg einer Identität könnten Emotionen sogar losgelöst von Aspirationen und Bewegungszielen funktionieren.168 Auch wenn Goodwin/Jasper/Pollettas Einsicht zu loben ist, dass es nicht nur materialistische Ziele sein können, die Menschen an Bewegungen binden, so ist doch zumindest Einhalt geboten bei den streckenweise deutlich exklusiv klingenden Formulierungen169 über Emotionen und ihre Bedeutung für die kollektive Identität. Nur noch Affektion und Sympathie als Pullfaktoren zu sehen, scheint verkürzt. Eine allzu große Diskrepanz zwischen Gemeinschafts- und Individuumszielen dürfte ziemlich sicher zu einem Bruch zwischen Kollektiv und Individuum führen, auch wenn sich die entsprechenden Individuen gut aufgehoben fühlen. Eine weitere Schwierigkeit stellt die Flüchtigkeit von Emotionen dar. Gerade wenn sie Teil eines Emotionsmanagements sind, wie Goodwin/Jasper/Polletta es einschätzen, können sie zum banalen Vehikel taktisch-strategischen Kalküls verkommen. Eine andere Gefahr ist die schier unmöglich aufzuzeichnende Unmittelbarkeit von Emotionen, die durch ihre reflektierte Niederschrift bedroht ist.170 Gerade im Hinblick auf die Untersuchung von nicht-zeitgeschichtlichen AkteurInnen kann das zum Problem werden, da keine Überprüfung mehr stattfinden kann. Schließlich ist der stark subjektive Charakter von Emotionen hervorzustreichen: Ihre Einordnung dürfte eng an individuelle Biografien gebunden sein. Kollektive Emotionen anzunehmen bleibt also immer ein Stück weit Spekulation. Umso mehr, wenn sie nur in kondensierter und dramaturgisch stark bearbeiteter Form vorliegen, wie in Aufrufen oder anderen narrativ kanonisierten kulturellen Produkten. Oyserman weist 2001 auf den Umstand hin, dass die Erkenntnis der Wertigkeit von kollektiver Identität und ihr Einfluss auf Personen nicht zuletzt auch davon abhängt, in welcher Gesellschaftsstruktur sich die Untersuchung zuträgt. Sie trägt damit der von anderen AutorInnen so oft beschworenen kulturellen Wirkungsmacht erstmals umfassend Rechnung. Wird in indiviualistischen Gesellschaften von stabilen, distinkten Individuen ausgegangen, so ist gemäß Oyserman ein Individuum in einer kollektivistisch orientierten Gesellschaft eher als soziales, situationsgebundenes Produkt zu verstehen, dem das Kollektiv immer schon stärker eingeschrieben ist und der Einfluss der kollektiven Identität dementsprechend grö-

168  |  »Strong feelings for the group make participation pleasurable in itself, independently of the movement‘s ultimate goals and outcomes.« (Ebd., S. 9). 169  |  So etwa hier: »The ›strength‹ of an identity, even a cognitively vague one, comes from its emotional side.« (Ebd., S. 9 [Herv. i.O.]). 170 | Andere Aufnahmetechniken wie Film- oder Tonmaterial können diesen Verzerrungsfehler theoretisch und unter gegebenen Umständen umgehen. Allerdings müsste dazu das Material ungeschnitten sein, um die emotionale Ursprünglichkeit zu bewahren. Mit seiner überdeutlichen Präsenz stellt gerade das Medium Film mit Aufzeichnungsgeräten und der Lichtsituation zudem immer eine klar erkennbare Ausnahmesituation dar und bietet Anreiz zur bewussten Selbstdarstellung, womit ein anderer verzerrender Fehler auftreten würde.

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ßer und gewichtiger.171 Von der Wertigkeit abgesehen hat die kollektive Identität in beiden Varianten großen Einfluss auf die Ausprägung des Individuums. Bei Produktion und Erfahrung des individuellen Selbst nämlich stellen nach Oyserman die ›anderen‹ das elementare Kriterium, da sie und ihre Identität die Möglichkeit des Vergleichens erst entstehen ließen. So gesehen wird letztlich auch personale Identität soziales Produkt, weil sie als in Interaktion mit Kontexten kreiert verstanden wird, die geprägt sind von Werten, Sitten und Normen der ›anderen‹. Die Konstitution einer Gemeinschaft fände genauso wie die Konstitution der Gruppenmitglieder in Relation zu anderen Gemeinschaften statt, womit das Framing von Gemeinschaften nicht nur für die Gemeinschaften selbst eine wichtige Rolle bekommt, sondern auch für das Individuum, dessen personale Identität anhand bestimmter kollektiver Identitäten konstituiert werde. Obschon Oyserman der kollektiven Identität in den entsprechenden gesellschaftlichen Kontexten eine beachtliche Tiefenwirkung zuschreibt, verwendet sie keine Ressourcen für die Abklärung, wie diese genau zustande kommt. Etwas als prägenden Aspekt zu erkennen, diesen hernach aber nicht näher zu ergründen, stellt eine verpasste Chance dar, Klarheit in den Nebel der Identitätsforschung zu bringen. Die Idee der Relationalität ebenso wie die These, dass sowohl kollektive wie personale Identität Produkte des jeweiligen sozialen Umfelds sind, stellen für die Identitätsforschung neue und wichtige Impulse dar. Zweifelsohne am stärksten und originellsten ist allerdings Oysermans konsequentes Denken der Kulturabhängigkeit der Identität. Whittiers Beitrag zur Diskussion 2002 verortet kollektive Identitäten als tragende Pfeiler von Sozialen Bewegungen, die Whittier als sich wandelnde Cluster von SubakteurInnen versteht. Kollektive Identitäten schafften Grenzen und bestimmten so Signifikanzen von Bewegungen entscheidend mit.172 Je nach Bewegung variieren gemäß Whittier die Rollen kollektiver Identitäten. Sie könnten Mobilisierungsfaktoren darstellen aber auch Ausgangspunkte von Dekonstruktionen gesellschaftlicher Ungleichheiten oder symbolischer Degradationsmuster sein.173 Ihre Ausgestaltung geschehe in sich gegenseitig bedingenden interpretativen Prozessen.174 Kollektive Identitäten sieht Whittier als Interpretationsleistungen kollektiver Erfahrungen einer Gruppe, geleistet durch die Partizipierenden in steter

171  |  Oyserman, Self-Concept and Identity, S. 507-508. 172 | Whittier sieht kollektive Identität nicht als einzige für den Zusammenhalt verantwortliche Instanz. Auch den SubakteurInnen gemeinsame Herausforderungen (challenges) spricht sie kittende Funktion zu. Da die hier aufgefächerte Debatte zur Erhellung der kollektiven Identität dient, muss für Weiterführendes zu Funktion und Funktionieren Sozialer Bewegungen auf die Literatur verwiesen werden. Vgl. etwa Meyer/Whittier/Robnett, Social Movements. 173  |  Whittier, Meaning and Structure, S. 290. 174  |  »Hegemonic culture constrains and influences movements [...] and activists simultaneously incorporate and challenge dominant definitions of their group and discourses about their issue. At the same time, movement participants produce new discourses, collective identities, and frames that can make their way into the state and dominant institutions [...]. Activists, their opponents, and authorities all strategize about these interactions and modify their structure, discourse, and collective identities over time in response to each other.« (Ebd., S. 294).

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Rückversicherung mit der hegemonialen Machtstruktur, die sie umgibt.175 Whittier betont, dass externe kulturelle Kontexte ebenso wie interne strukturelle Dynamiken bei der Ausformung kollektiver Identität von Sozialen Bewegungen im Allgemeinen eine Rolle spielten. Beide Elemente, Struktur und Kultur interagierten nicht nur, sondern konstituierten sich vielmehr gegenseitig. Damit würden in der kollektiven Identität Erfahrungen, Ansichten und die hegemonialen, strukturellkulturellen Hintergründe verklammert, vor denen die Erfahrungen eingeordnet werden und aus denen die Ansichten eines Kollektivs reifen.176 Neben der Vorstellung von kollektiver Identität als einem plurigenetischen und nicht-statischen Phänomen ist in Whittiers Beitrag ein weiterer Punkt zentral: Die Beobachtung, dass in einer Gemeinschaft, die in sich selbst Sub-Gemeinschaften vereint, multiple, zuweilen auch widersprüchliche kollektive Identitäten koexistieren, von denen mal die eine, mal die andere in der ihr übergeordneten kollektiven Identität Wirkungsmacht erlangt.177 Eine Vorstellung, die das Phänomen der kollektiven Identität zusätzlich dynamisiert. Whittiers synthetisierender Entwurf von kollektiver Identität als zutiefst relationalem Baustein Sozialer Bewegungen vereint die Erkenntnisse der neuesten Forschung. Gleichzeitig legt sie den Blick frei auf die grundsätzliche Problematik dieser Vorstellungen. Werden Verwobenheit und Interaktion kultureller und struktureller Elemente von Gemeinschaft und Gesellschaft in der gebotenen Tiefe gedacht, entsteht aus Seilschaften, Querverweisen und Verbindung ein immer dickerer Knäuel, dessen Entwirrung umso unmöglicher wird, je genauer man hinschaut. Anders als bei teleologischer geprägten Forschungen früherer Jahre löst sich mit der am Dekonstruktivismus geschulten Abkanzelung von linear kausalistischen Ursache/Wirkungspaaren selbstredend auch die Existenz eines Urspungs auf. Das kann forschungstechnisch zu erheblichen, zuweilen unlösbaren Schwierigkeiten führen, da so letztlich alle Fäden im Knäuel zu Effekten werden. Auch Robnett kommt in ihrer Untersuchung 2002 zu dem Schluss, dass kollektive Identitäten mit einem relationalen Ansatz am besten zu erklären seien. Die Interaktionen von externen politischen und internen kulturellen und organisationellen Elementen seien es, die Bestärkungen, Modifikationen oder Transformationen von kollektiven Identitäten auslösten.178 Am Anfang einer Transformation steht laut Robnett das externe Ereignis, das von einem dialektischen Wechselspiel externer und interner Faktoren gefolgt wird, was sich in einer transformierten kollektiven Identität niederschlage. Beeinflusst werde die Transformation in einem dritten Schritt zudem von der bereits bestehenden kollektiven Identität, in der sich sowohl interne wie externe Faktoren bereits manifestiert hätten.179 Robnett hält aber auch fest, dass kollektive Identität laufend verhandelt wird und es nicht zwingend externe Ereignisse braucht, damit eine Gemeinschaft ihre Identität anpasst oder verändert: Auch gemeinschaftsinterne strukturelle Anpassungen, etwa in der Organisationsform, könnten zu massiven Veränderungen der kollektiven

175  |  Ebd., S. 302. 176  |  Ebd., S. 305. 177  |  Zum gleichen Schluss kommt auch Reger, More Than One Feminism. 178  |  Vgl. Robnett, External Political Change, S. 266 und S. 279. 179  |  In enger Bindung an ihren Untersuchungsgegenstand formuliert Robnett den dritten Punkt als Manifestation von Rasse, Klasse und Geschlecht (Vgl. ebd., S. 267).

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Identität führen.180 Sie betont, dass externe Ereignisse als Impulsgeber fungieren könnten, wenn signifikante interne Veränderungen ausblieben, da externe Ereignisse den Positionierungsdruck in einer Gemeinschaft erhöhten. Die nun verschobenen Möglichkeiten und Grenzen von Veränderungen führten zu einem dialektischen Spiel zwischen althergebrachten Positionen und neuer Ausgangslage, die sich in den kollektiven Identitäten niederschlügen.181 Die kulturellen und/ oder organisationellen Faktoren, die letztlich zur Bestärkung, Modifikation oder Neubildung kollektiver Identitäten führen können, imaginiert Robnett dabei als instabil und wandelbar. Das macht kollektive Identitäten zu zeitgebundenen, historisch spezifischen Synthesen des kulturellen Kapitals, das Mitglieder in Gemeinschaften hineintragen und mit externen Ereignissen in Beziehung setzen.182 Die Wirkungsmacht kollektiver Identität wird so gut sichtbar, da die Veränderungen in den meisten Fällen messbare Konsequenzen haben. Entweder positive in Form von Neurekrutierungen oder negative in der Gestalt eines Exodus. Obwohl Robnett in ihrem Beitrag die Relationalität bei der Konstruktion und (Re)Konstitution von kollektiven Identitäten betont, verbleiben die externen Faktoren relativ unberührt von internen Positionierungen. So geht leicht unter, dass auch die Restgesellschaft von Identitäten kleiner Gruppen geprägt werden kann. Maßnahmen des ›War on Terror‹, wie sie seit dem 11.9.2001 in Industrienationen ergriffen wurden, wären kaum durchsetzbar, wenn es nicht Gemeinschaften gäbe, die sich rhetorisch und methodisch auf den Terrorismus beziehen würden und damit – medial verdichtet und überhoben – reihum Sicherheitsdiskurse losgetreten hätten, die geradezu charakteristisch für die entsprechenden Gesellschaften dieser Nationen wurden. Wie Whittier geht Reger in ihrem Essay von 2002 davon aus, dass multiple (Sub-)Identitäten nicht zwingend ein Zeichen pathologischer Gemeinschaften sein müssen. Sie erkennt in ihrer Untersuchung im sich befruchtenden Nebeneinander diversifizierter, eingebundener Identitäten sogar ein bestärkendes Moment für die kollektive Identität der Gesamtgemeinschaft.183 Ihr bleibedadurch, so Whittier, eine Gruppendiversität erhalten, die mehr für Mobilisierung und Erhalt des Gemeinschaftssubstrats leisten kann, als eine homogene, unflexiblere Identität. Die nach Reger beim Zusammenkommen und Interagieren von Individuen in einem Gemeinschaftskontext entstandene kollektive Identität artikuliert Ziele und Überzeugungen einer Gruppe. Sie könne neben dieser kulturellen Prägung aber auch strukturelle Spuren in sich tragen. Beispiele dafür fänden sich in Gemeinschaften, bei denen die Struktur normativ auf ihr Weltbild wirkte.184 Die kollektive Identität sei von variablem Charakter, genauso wie die Mitglieder, die Ziele oder die gruppenexternen Faktoren, in der sich die Gemeinschaft konstituiert.185 Den externen Faktoren schreibt Reger eine Sonderrolle zu: Sie seien das initial determinierende Element einer jeden Gemeinschaftskonstitution. Eine Differenzierung des kollektiven Selbst vom anderen schaffe erst den Raum, in dem sich die Gemeinschaft

180  |  Vgl. dazu ebd., S. 269-284. 181  |  Ebd., S. 268-271. 182  |  Ebd., S. 269-284. 183  |  Reger, More Than One Feminism, S. 171, für den Beleg der These S. 175-182. 184  |  Vgl. ebd., S. 179. 185  |  Ebd., S. 173.

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finden und bestimmen könne.186 Hunt/Benford betonen 2004 die Doppelrolle der kollektiven Identität, gleichzeitig Vorläufer und Ergebnis von Gemeinschaften und gemeinschaftlicher Arbeit an und in ihr zu sein. Die kollektive Identität hat für sie einen breiten Wirkungsbereich, der sich von der Partizipationsmotivation bis zur Beeinflussung von Lebensverläufen und Gefühlswelten erstreckt. Hunt/ Benford plädieren für einen pluridisziplinären Zugang, da die kollektive Identität selbst über unterschiedliche Aspekte wie sozialpsychologische Identifikations- und Motivationsmomente oder soziologische strukturell-kulturelle Prozesse verfüge.187 Sie sehen die kollektive Identität als Identifikation von Individuen mit einer Gemeinschaft im kognitiven, emotionalen und moralischen Sinn.188 Dabei sei sie im stetigen Zustand der Produktion und Reproduktion, die oft gleichzeitig mittels in Interaktion stehenden Aliierten, Oppositionellen und einem Beobachtenden ausgeführt werden, seien diese real existierend oder nur imaginiert. Kollektive Identität figuriert so als immer wieder neu ausgearbeiteter kultureller Kontext, als »dialectical relationship«189. Bewusstsein190 ebenso wie Grenzen und deren Verhandlungen sind zentral und überlappend bei der Schaffung kollektiver Identität. Nach Hunt/ Benford stellt diese somit eine kulturelle Repräsentation von Sinnwelten dar.191 Die Vorstellung der Wichtigkeit von oppositionellen ›anderen‹ wird ergänzt um die Denkfigur des Backlash. Als Backlashes bezeichnen Hunt/Benford von einer Gemeinschaft getriggerte Antworten der ›anderen‹, die ihrerseits zu Gegen-Gegenantworten führen, die in die kollektive Identität einfließen. Kollektive Identität wirkt so stärker fremdbestimmt, als wenn die Opposition einfach nur der Boden wäre, von dem sich die Gruppe abstieße.192 Demarkation und Framing gegenüber der Opposition wie auch im eigenen Feld und sogar in der eigenen Gemeinschaft bezeichnen Hunt/Benford als zentral für die Schaffung und den Unterhalt einer kollektiven Identität.193 Durch Grenzkonstruktionen und Bewusstseinsbildung würdekollektive Identität in Form kultureller Güter dinglich, zum Beispiel in Bewegungsnarrationen.194 Die gemeinschaftstypischen Narrationen würden dabei 186  |  »Activists define collective identities in opposition to other groups in society, including targeted groups [...]. Groups enact boundaries to distinguish between members and nonmembers. [...] This differentiation from the rest of society allows members to create a ›free space‹ or social movement community, in which to define their culture, ideologies, and collective action goals. Boundaries can be symbolic marked through use of language, signs, symbols, artifacts or, as I argue, can be delineated through organizational structure.« (Ebd., S. 173). 187  |  Hunt/Benford, Collective Identity, S. 434. 188  |  Definition in Rückgriff auf Polletta/Jasper, Collective Identity, S. 284. 189  |  Hunt/Benford, Collective Identity, S. 436. 190  |  Vgl. Hunt/Benford, S. 434-436, die Marx/Engels, Weber, Durkheim, Mead und Berger/Luckmann als theoretische Wegbereiter der kollektiven Identität als Phänomen ansehen. 191  |  Ebd., S. 447. 192 | Vgl. ebd., S. 449. Da Hunt/Benford den Ursprung bei der Gemeinschaft verorten, könnte die Denkfigur des Backlash auch als Argument gegen die Fremdbestimmung gelesen werden. 193  |  Ebd., S. 443. 194  |  Weiter zählen Hunt/Benford symbolisches Kulturgut, sprachliche Eigenheiten, Erzählungen und Diskussionen dazu.

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weitgehend denselben Themen folgen: Konversion, Kontinuität, Verbundenheit und Konflikt.195 Angeregt werden könnten sie sowohl intern wie extern, ihr Aufgabenbereich umfasse unter anderem Aktivierung, Re-Aktivierung, Verlängerung oder Verstärkung der Partizipation von Individuen an der Gemeinschaft. Emotionsmanagement sehen Hunt/Benford als durchaus wichtige und wirkungsvolle, aber weitgehend autonome Ergänzung von Identitätskonstruktionsprozessen an.196 Hunt/Benfords Einschätzungen der Elemente und Abläufe bei Konstruktion und Unterhalt kollektiver Identität deckt sich mit anderen Erkenntnissen neuester Forschungen. Ihre Terminologie ist jedoch zuweilen irreführend. Das interaktive Wechselspiel, bei dem die Identität mal aktiv als Urheberin und mal passiv als Produkt in Erscheinung tritt, bezeichnen sie etwa als dialektisch, was meines Erachtens irreführend ist. Da Dialektik als Prozess bekanntlich zu einer Synthese, einem Ziel führt, ist die Nomenklatur Hunt/Benfords eine äußerst unglückliche. Zumal sie selbst betonen, dass es sich bei der kollektiven Identität nie um ein Ergebnis handele, sondern um ein stetig in Produktion seiendes und immerzu werdendes Phänomen. Das steht aber nun diametral zur Vorstellung eines dialektischen Prozesses, der mit der in der Interaktion von These und Antithese entstandenen Synthese ganz klar ein wenngleich nur vorläufiges Ergebnis hat. Weiter unklar bleibt, wieso Emotionen zwar als relevant, nicht aber als propere Formanten von kollektiver Identität gewertet werden, obschon Hunt/Benford sie durchaus als wichtiges Element der Arbeit mit dem Bewegungssubstrat taxieren. Auch in der neuesten Forschung finden sich kontradiktorische Thesen und Entwürfe. Weitgehend isoliert für ForscherInnen nach 1960 stuft Castells 2004 in seiner Arbeit etwa die festgestellte Identitätspluralität von Gemeinschaften als Quelle von Kontradiktion und Stress und damit als negativ ein.197 Da er kollektive Identität als sinnstiftenden Prozess erkennt, sieht er in multiplen Identitäten vornehmlich Konfliktpotenzial. Dass Gemeinschaften und Individuen trotz der internen Mehrzahl von Identitäten funktionieren, erklärt sich Castells deshalb mit einer Primäridentität, um die herum sich andere Identitäten hierarchisch gruppierten.198 Identitäten sieht Castells als von den AkteurInnen gemachte Quellen des Sinns an. Sie würden durch Individuationsprozesse199 konstruiert und entfalteten sich erst mit ihrer Internalisierung voll, sodass sie zum Ausgangspunkt der Sinnkonstruktion würden. Die Primäridentität skizziert Castells als raum- und zeitresistent und denkt sie abhängig von Geschichte, Geografie, Biologie, produktiven und reproduzierenden Institutionen. Damit trage sie als soziale Konstruktion Spuren der kontextuellen Machtzusammenhänge in sich, in denen sie entstanden sei. Aber durch die als zeitimmun imaginierte Primäridentität sind fortwährend auch Elemente enthalten, die bei der Erstkonstruktion symbolischen Inhalt und Sinn bestimmten. Je nach Funktion der Identitäten, also ob sie zur staatserhaltenden Legitimation genutzt werden, als Überlebensstrategien im Widerstand oder als Anlass, gesamtgesellschaftliche Missstände durch Alternativen zu ersetzen, differenziert Castells Identi195  |  Ebd., S. 446. 196  |  Ebd., S. 446-447. 197  |  Castells, Power of Identity, S. 6. 198  |  Ebd., S. 7. 199  |  Mit Individuation ist das Erlangen einer bestimmten Eigenart durch ein Gruppenmitglied gemeint. Vgl. Reading, Dictionary of Social Sciences, S. 105.

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tätssubtypen aus. Bei allen gleich sei, dass vornehmlich in einer Identität verweilt, wer sie konstruiert, da so deren symbolischer Inhalt weitgehend mitbestimmt werden könne und die Mitglieder eine engere Bindung erführen.200 Castells Vorstellung von Primäridentität impliziert, dass es möglich sei, Normen und Institutionen getrennt von Individuen zu verstehen: Ihre kontextgeprägten sozialen Rollen könnten sie sich nicht aussuchen, ihre Identität aber durchaus autonom erschaffen. Ein solches punktuelles Austreten aus der normativen Lebenswelt, die einen im Hinblick auf ein anderes Kriterium dann aber doch prägen soll, scheint unglaubwürdig.201 Des Weiteren widersprechen sich meines Erachtens die Vorstellung einer historisch immer spezifischen Identität, die durch wandelbare Einflüsse wie dem geschichtlichen Kontext einer Bewegung ausdifferenziert ist, und der Ansatz eines zeitgeistresistenten Identitätsnukleus, der sich um alle weltlichen Veränderungen foutiert. So könnte Identität in ihrem Kern nie dynamisch sein, sondern nur in vergleichsweise irrelevanten Subidentitäten Aktuelles inkorporieren. Notgedrungen wäre solchen Gemeinschaften damit eine exorbitante Kurzlebigkeit eingeschrieben. Nicht zuletzt würde Castells Entwurf des eingefrorenen Nukleus die Übersetzung ihrer Symbole und Inhalte in Gemeinschaftsmitglieder langfristig verunmöglichen und Missverständnisse und missglückte Identifikationen provozieren. Denn Gemeinschaften, die sich nicht mit neuer sozialer Energie aufladen können, dürfte kaum ein langes Leben und Wirken beschieden sein, vor allem dann nicht, wenn ihre Primäridentität aus jeglichem zeitgeistigen Rahmen fiele. Besonders in beschleunigten Zeiten wie der Postmoderne würde kollektive Identität damit immer mehr zu einem Phänomen auf Zeit, dessen Anpassung gar nicht gefragt ist. Harböck erachtet 2006 Identität als problematisches Gebilde, das aber dennoch zur Erhellung von Sozialen Bewegungen beitragen könne. Wie die überwältigende Mehrheit neuerer AutorInnen sieht Harböck Identität als soziales Konstrukt an.202 Anders als Niethammer versucht er, diesen Umstand historiografisch fruchtbar zu machen und nicht in der Betrachtung von negativ ausgefallenen Beispielen von kollektivem Identitätsmanagement in der Geschichte zu verharren. Harböck fügt zur Prämisse der sozialen Konstruktion von Identitäten ergänzend die Überlegung hinzu, »[...] dass Identitätskonstruktionen ganz wesentlich in Kindheit, Jugend und erster Berufstätigkeit aufgebaut werden [...]«203. Damit erkennt Harböck eine Art Vorzeichnung der Identität einer Person, die durch die Lebenswelt des Individuums geprägt sei, sodass eine vollständig autonome Konstruktion unmöglich werde. Vielmehr entsteht und existiert bei ihm die subjektive Identität eingebettet in die das Individuum umgebende Kultur, die von den im kulturellen Mikro- und Makrokosmos existenten Identitäten geschliffen, modifiziert und mitgebildet werde. Identität verklammert demnach Subjekt und Struktur und verfügt damit über die Eigenschaft, gleichzeitig unabhängig und fremdbestimmt zu sein. »Identität [...] ist also über kollektive kulturelle Sinnsysteme zu erklären, zu verstehen und zu beschreiben«204, kommt Harböck zum Schluss. Weiter betont er die Wichtigkeit 200  |  Castells, Power of Identity, S. 7. 201  |  Vergleiche für eine geradezu diametrale Einschätzung der Verwobenheit von Gesellschaft und Individuum auf Foucault und Butler aufbauend Hall, Who Needs `Identity`?. 202  |  Harböck, Stand, Individuum, Klasse, S. 16-19. 203  |  Ebd., S. 19. 204  |  Ebd., S. 30.

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vom äußeren und inneren Element, die in Verschränkung Identität erst existieren lassen. Für eine treffende Identitätsanalyse sei deshalb sowohl das Ausmaß des Identitätsspielraumes in Form einer Kartierung von Normen und Repression zu erarbeiten, als auch spezifische kollektive Deutungsmuster, mit denen sich die Untersuchten identifizieren. Als Determinanten der Identität fungieren damit nach Harböck einerseits Hypergüter, deren Erfüllung den Lebenssinn der am Kollektiv Teilnehmenden bestimmen. Andererseits sei für die Identitätskonstruktion die Lebensnarration bestimmend, also die Schaffung und Aufrechterhaltung des eigenen Lebens als narrativ funktionierende und für das Selbst und Außenstehende nachvollziehbare Abfolge im Sinne eines konsekutiven Erzählstranges. Beide Elemente fänden jeweils in einem spezifischen und ebenfalls zu eruierenden kulturellen Kontext statt und inkorporierten diesen auch. Durch die Internalisierung von Hypergütern und Lebensnarrationen werde Identität schließlich konstruiert und dadurch das Subjekt mit der kulturellen Struktur verklammernd in Beziehung gesetzt. Sichtbar wird die erfolgte Internalisierung nach Harböck überall dort, wo sich internalisierte Sinnsysteme niederschlagen. Problematisch ist bei Harböcks Modell einer individuellen Identität, die beeinflusst und geprägt ist von einer produktiven, kollektiven kulturellen Identität und diese auch selbst beeinflusst und mitprägt 205, dass sie von einer zweiseitigen Singulärität ausgeht. So sehr Harböcks Vorstellung von mutual bedingten Verfestigungen von Selbst und Gesellschaft begrüßenswert erscheint, so birgt sie die Gefahr, eine Einteiligkeit der Gesellschaft zu antizipieren. Das simplifiziert die gesellschaftliche Realität, da diese immer eine Vielzahl an orts- und zeitgebundenen kulturellen Identitäten bereithält, die durchaus auch standes- und gruppenübergreifend wahrgenommen werden und dadurch – mindestens im Potenzialis – auch produktiv sein können. Die Vorstellung einer dominanten Leitkultur, die keine Nebentöne duldet, muss als zweifelhafte Wunschvorstellung abgebucht werden.206 So sehr die Vorstellung einer Leitkultur zur Instrumentalisierung und innenpolitischen Konditionierung wertvoll sein mag, so wenig taugt sie zur akkuraten Beschreibung von Gesellschaften, zu denen immer auch deviante Gruppen gehören. Eine Tour d’Horizon der neuesten Forschung fördert in erster Linie die Erkenntnis zutage, dass trotz teils fundierter und gut argumentierter Kritik 207 ein ungebrochenes Interesse an Identitätsfragen besteht.208 Diese neuesten Titel widmen sich größtenteils sehr spezifischen Fragen rund um einzelne Aspekte der 205  |  Seine ausformulierte These ist zu finden in ebd., S. 44-45. 206  |  Neben angeblichen Leitkulturen gab und gibt es in Gesellschaften immer auch eine Vielzahl alternativer produktiver Sinnsysteme, die nur teilweise oder gar nicht mit den leitkulturellen Vorgaben kohärent sind. Vgl. für Beispiele in spätmittelalteralterlichen Städten Graus, Pest – Geißler – Judenmorde, oder in der Formationsfrage diesem widersprechend Hartung, Gesellschaftliche Randgruppen. 207  |  So etwa in Brubaker/Cooper, Beyond ›Identity‹ oder Hall, Who needs ›Identity‹?, welche die sozialen Phänomene nicht in Abrede stellen, die Identitätsbegriffe aber als unzutreffend weil zu ungenau verurteilen. 208 | Das zeigt ein Blick in Verzeichnisse wissenschaftlicher aber auch populär-wissenschaftlicher Neuerscheinungen und eine Literaturrecherche sowohl mit englischen wie auch deutschen Suchbegriffen. Vgl. auch die dahingehende Bemerkung in Abdelal/Herrera/ Johnston/McDermott, Measuring Identities, S. 9.

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Identitätskonstruktion. So fokussieren 2007 die AutorInnen in Schmid/Krzymianowskas209 Sammelband die deutsche Erinnerungskultur und die daraus gegorene Geschichtsschreibung und argumentieren dabei mit dem Instrumentarium der Typologie nationaler Identitäten.210 Bereits 2002 beschäftigte sich Roudometof211 in ähnlicher Art und Weise mit nationaler Identität. Im Gegensatz zu Schmid/ Krzymianowska stößt er mit seinem Ansatz auf Ergebnisse, die auch in der Erörterung kollektiver Identität von Bedeutung sind. Die (Re-)Produktion von Mythen und Ritualen, der Entwurf einer eigenen Geschichte mit selektiven Emphasen und Weglassungen oder Unterhalt und Weitergebung eines kollektiven Gedächtnisses sind Elemente, die durchaus Geltung haben können bei selbst gewählten Gemeinschaften, auf die sich auch diese Arbeit konzentriert. Ebenfalls mit dem spezifischen Aspekt der kollektiven Erinnerung und ihrer Verbindung zur kollektiven Identität beschäftigt sich der Sammelband Macks212 von 2008. Vor allem die Beiträge von Booth213 und Poole214 beschäftigen sich mit dem Einfluss des kollektiven Gedächtnisses auf kollektive Identitäten.215 Allerdings ist der Identitätsbegriff bei Booth so eng an sein Fallbeispiel gebunden, dass er in Bezug auf die angedachte Identität einer Gruppe keinen Sinn macht.216 Poole seinerseits greift als Beispiele für seine Erläuterungen auf Nationen zurück und ist daher mit meinem Forschungsvorhaben ebenfalls schwer in Kohärenz zu bringen.217 Im Überblick betrachtet fungiert Macks Sammelband hervorragend als Zeugnis der Entwicklung der Identitätsforschung im größeren Rahmen: Die überwiegen209  |  Schmid/Krzymianowska, Politische Erinnerung. 210  |  Wie in anderen Arbeiten zu nationalen Identitäten wird auch hier von IdentitäterInnen ausgegangen. Diese würden die kollektive Erinnerung aus politischem Interesse schmieden, so dass die eigene Geschichte für die Nation am schmerzlosesten zu lesen ist. Damit würden die Rahmenbedingungen intakt gehalten, um den Status quo weiterhin zu akzeptieren, sodass eine Fortführung des herrschenden Systems unter bestehenden Vorzeichen weiterhin denkbar ist. Vgl. ebd. 211  |  Roudometof, Collective Memory. 212  |  Vgl. Mack, Collective Memory & Collective Identity, und darin v.a. Teil 4. 213  |  Booth, The Work of Memory. 214  |  Poole, Memory, Responsibility and Identity. 215  |  Die anderen Beiträge beschäftigen sich mit Bedeutung, Formanten und Genesis kollektiver Gedächtnisse resp. sind eindeutige Case Studies, die in Bezug auf meine Fragestellung keinen direkten Einfluss haben. Vgl. allg. Mack, Collective Memory. 216 | Booth beschäftigt sich mit Verantwortungsfragen von Gesellschaften, Staaten und Unternehmen für Taten, die von anderen Generationen begangen wurden, woraus er eine an Pertinenz anlehnende Definition von Identität formuliert. Gegen den in dieser Arbeit verwendeten Gebrauch wendet Booth sich explizit. In seinem Text werde Identität nicht »[...] used in its popular cultural signification, as a sort of individual or collective self-definition« (Booth, The Work of Memory, S. 238). Für die Beschäftigung der deutschen Forschung mit dieser Thematik vgl. stellvertretend Assmann, Der lange Schatten. 217 | Schwer heißt nicht unmöglich: Wie bereits erwähnt gibt es auch Gemeinsamkeiten und übergreifende Konzepte zwischen den einzelnen Typologien der Identitätsforschung. So ist die Feststellung Pooles, dass die Übertragung von nationalen kollektiven Gedächtnissen auf kulturellen Wegen passiert (Vgl. Poole, Memory, Responsability and Identity, S. 281) durchaus auch für politische Gemeinschaften zutreffend.

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de Mehrheit der neuesten Erscheinungen zum Thema gehen immer mehr in der Spezialisierung und in Teilfragen der kollektiven Identität auf. Der Umstand, dass sich die Debatte um kollektive Identität zur Zeit um Details dreht, kann dahingehend verstanden werden, dass das Konzept von Identität als soziales Phänomen im Großen und Ganzen im Forschungskanon angekommen sein dürfte. Dafür spricht auch, dass in neuesten Forschungsdesigns kaum mehr Seiten darauf verwendet werden, die wissenschaftliche Relevanz kollektiver Identitäten zu betonen.218 Vielmehr werden theoretische Entwürfe einfach verwendet und kombiniert, um so nahe wie möglich an den Forschungsgegenstand heranzukommen.219 Dieser Meinung sind auch Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott, die 2009 vorwiegend konzeptionell zu einer Festigung der kollektiven Identität als wissenschaftliche Methode ansetzen und sie zu systematisieren versuchen.220 Sie sind in der Analyse Brubaker/Cooper nicht unähnlich, formulieren aber eine klärende Definition, anstatt eine totale Abkehr vom Identitätsbegriff zu fordern.221 Sie halten in ihrem in der Politikwissenschaft verwurzelten Essay fest, dass Identität von verschiedenen AkteurInnen und Gruppen geteilt werden könne und verstehen Identität deshalb als kollektives Konzept. Obwohl die meisten Analysen, die ihrem Aufsatz im Sammelband folgen, auf Betrachtungen von ethnischen Identitäten fußen, begreifen Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott kollektive Identität immer als mindestens mitbeeinflusst von religiösen, klassen- und geschlechterbasierten Assoziationen.222 Des Weiteren hinterfragen sie die Einschätzung, kollektive Identität als Agens für Handlungen oder bestimmte Verhaltensweisen anzusehen, kritisch. Motivation sei als eigenständiges Forschungsfeld zu begreifen, das wohl von kollektiver Identität beeinflusst werden könne, nicht aber als identisch mit ihr verstanden werden sollte.223 Schließlich versuchen Abdelal/Herrera/ Johnston/McDermott eine Katalogisierung der Methoden der Identitätsforschung und führen im methodologischen Inventar Umfragen, Inhaltsanalysen, Diskursanalysen, Ethnografie sowie Kognitives Mapping und Experimente zur Ergründung kollektiver Identität. Sowohl als Methode als auch in Relation zum Untersuchungsgegenstand und der Quellenlage würden diese über spezifische Vor- und Nachteile verfügen, die den ForscherInnen unterschiedliche Zugänge zu und Zugriffe auf AkteurInnen ermöglichten oder verunmöglichten. Nicht eine Methode sei als global richtige zu verstehen. Es müsse vielmehr von AkteurIn zu AkteurIn und von Quellenlage zu Quellenlage abgewogen und entschieden werden, welche 218  |  Das gilt mittlerweile auch für die deutschsprachige Forschung. Vgl. dazu jüngst ihren einen Sammelband eröffnenden Forschungsüberblick Daphi, Soziale Bewegungen, S. 13. 219 | Ein Beispiel dafür ist Mwenda Ntarangwis Monografie East African Hip Hop: Youth Culture and Globalization, die von einer aus verschiedenen kollektiven Identitäten zusammengesetzten Identität bei ostafrikanischen HipHopperInnen berichtet und also einen identitätstheoretischen Ansatz verwendet, der auch in älteren Schriften angewendet wird. Vgl. Ntarangwi, East African Hip Hop, bes. S. 20-66. 220  |  Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott, Measuring Identitiy. Einen nicht konsolidierenden, sondern überblicksartigen dahingehenden Versuch findet sich für die deutschsprachige Forschung seit Dezember 2011 auch in Daphi/Rucht, Wir und die Anderen. 221  |  Vgl. Brubaker/Cooper, Beyond ›Identity‹. 222  |  Vgl. Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott, Measuring Identity, S. 3. 223  |  Vgl. ebd., S. 4.

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Methode am meisten Ergebnisse verspreche. Kollektive Identität wird sodann als soziale Kategorie positioniert und zweiteilig verstanden. Zum ›Content‹ als sinnstiftende Seite kollektiver Identität zählen Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott die definitorischen Regeln der Gruppenmitgliedschaft, gemeinsame und geteilte Ziele, das Selbst definierende ›andere‹ sowie die gemeinschaftsspezifischen Weltanschauungen, die die Welt für die Gemeinschaftsmitglieder kategorisierbar und verständlich machen.224 Diese vier gemeinschaftsinhaltlichen Komponenten sind als interagierend zu verstehen.225 Unter ›Contestation‹ als regulatorische Seite wird der variable Grad der innergemeinschaftlichen Übereinstimmung über den Content-Bereich verstanden. Die diskursive Contestation bestimme demnach, wie viele der kollektiven Gemeinsamkeiten von den Gruppenmitgliedern erfüllt sein müssen, um in einem historischen Moment zur Gemeinschaft zu gehören.226 Mit dieser Rahmenstellung gelingt es Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott die konzeptionelle Flexibilität der kollektiven Identität zu erhalten, ohne sie in die Beliebigkeit abrutschen zu lassen. Ziele können so in der diachronen Betrachtung innerhalb einer Gruppe variieren und werden als in ihrer Dominanz diskursiv ausgehandelt verstanden. Gleiches gilt für Mitgliedschaftskriterien oder die Einschätzungen der Gemeinschaft durch Außenstehende, wobei Art, Umfang und Ausgestaltung der Mutationen nach Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott stets in der Hand der Gemeinschaft liegen. Insgesamt gelingt es den AutorInnen durch die Einordnung der vielen identitätstheoretisch relevanten Aspekte in ein analytisches Framework, dass kollektive Identität sowohl den stetig werdenden Charakter beibehält ohne ungreif bar zu werden, als auch den Gemeinschaften vermittels des produktiven Content/Contestation-Prinzips die Möglichkeit teils fundamentaler Richtungswechsel einräumt, ohne dies gleich als Identitätskrise zu verstehen.227 Dass sich trotz stetiger Weiterentwicklung und immer genauerem Hinsehen gewisse fundamentale Grabenkämpfe in der Identitätsdebatte bis in die jüngste Forschung halten konnten, belegt Karolewskis Monografie aus dem Jahr 2010. Er vertritt die Ansicht, dass sich im Sinne des cultural turns eine Zäsur in der Identitätsforschung ergeben habee. Identitäten seien vor dem Bruch stark gewesen, unter anderem da sie den IdentitätsträgerInnen einen fundamentalen und persistenten Sinn vermittelt hätten. Postmoderne Identitäten hingegen seien flüssig und kontextsensitiv und damit als schwächer und flüchtiger zu bezeichnen. Mit diesem ungebundenen und weitgehend individualisierten Identitätskonzept suggeriert Karolewski für die Postmoderne eine rapid wechselnde soziale Ordnung, die jegliche Persistenz und Dauerhaftigkeit unterminiert.228 Auch vermittelt er damit wieder die Vorstellung von Identität als einer Ressource im Gegensatz zur jüngst verbreiteteren Vorstellung als Attribut. Mit einer solchen Einschätzung erhält sie wieder eine utilitaristische Färbung. Wenig erstaunlich untersucht Karolewski in seiner Arbeit denn auch Funktionen von kollektiver Identität wie Identitätspolitik oder die Lösung kollektiver Dilemmas. Überraschend dagegen ist Karolewskis Ansatz, die scharfe Trennung zwischen personaler und kollektiver Identität infrage 224  |  Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott, Identity as a Variable, S. 18-19. 225  |  Ebd., S. 30. 226  |  Ebd., S. 19-20. 227  |  Ebd., S. 17-32. 228  |  Karolewski, Citizenship and Collective Identity, S. 23.

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zu stellen: Beide seien gleichermaßen von den Funktionen kollektiver Identitäten betroffen, argumentiert er, und damit letztlich desselben Ursprungs. Das Ziehen von Grenzen, das Bilden von Gruppen werde kognitiv benutzt, um sich in einem ersten Schritt sozial als Gruppe zu kategorisieren und darauf auf bauend in einem zweiten Schritt als Individuum zu einem Selbstkonzept gelangen zu können.229 Karolewski versteht das Selbstkonzept als kontextabhängig, was eine dynamische, wandelbare personale Identität bedeutet. Die Identifikation eines Individuums mit einer Gemeinschaft und der einsetzende Wertetransfer bedeutet nach Karolewski in der Konsequenz eine Depersonalisierung der teilhabenden Individuen, die allerdings erst mit der Wahrnehmung von außen zu ihrer Entfaltung komme.230 Insgesamt versteht Karolewski Identität als Ergebnis eines Prozesses von Aktivierung und Kategorisierung, bei dem soziales Beurteilen ebenso wichtig ist, wie die soziale Anerkennung von geäußerten Identitätsbehauptungen.231 Somit habe kollektive Identität neben der kognitiven auch eine politische Funktion, die von IdentitätspolitikerInnen verwertet würde. Die Debatte in all ihren kon- und divergierenden Aspekten ist, wie hier in Kürze wiedergegeben werden konnte, seit mehr als einem Jahrhundert in vollem Gange und Probleme und Schwierigkeiten werden weiter eingegrenzt, während mit kontinuierlich geschärftem Blick neue geortet werden. Als gemeinsamer Kern des sich immer weiter ausdifferenzierenden Forschungsdiskurses kann immerhin die Einsicht über den konstruktivistischen Charakter kollektiver Identität gewertet werden, der in der Forschungsgemeinde weitestgehend akzeptiert ist. Abschließend sei mit einem Beispiel hervorgehoben, dass zumindest fraglich ist, inwiefern sich die Erkenntnisse der Forschungsdebatte auf das tägliche Leben in Gemeinschaften und in deren Identitätspolitik durchschlagen. Brodwins Untersuchung von 2005 zeigt, dass der konstruktivistischer Erkenntnisgewinn nicht zwingend zur Elimination des Biologismus führte. Brodwin weist aus medizinischer Perspektive mit Sinn fürs Gesamtgesellschaftliche auf den Fakt hin, dass im Zeitalter der Biotechnologie ein Zusammengehen von Identitätspolitik und Genetik zur Tagesordnung gehöre: »Tracing one‘s ancestry – via a pattern of mutations on the Y-chromosome or mitochondrial DNA – is no longer just a laboratory technique, but also a political act.«232 Genetische Beweisführung »[...] has become a new way to imagine and legitimize one‘s fundamental social connections«.233 Ein Faktum, das der vornehmlich konstruktivistisch gehaltenen Identitätsforschung wie ein Schlag ins Gesicht vorkommen muss. Dass nach Brodwin heutzutage das öffentliche Verlangen nach Anerkennung von Gruppen ebenso wie private Zugehörigkeitsgefühle mit Genetik untermauert würden, sei auch ein Beispiel für wissenschaftlichen Kontrollverlust.234 »In the contemporary terrain of research, geneticists’ modernist commit229  |  Im Prozess des Self- und Xeno-Stereotyping projiziert das Individuum die Stereotypien, die für die Gemeinschaft entworfen wurden, als gültig auf sein Ich. Ebd., S. 24. 230  |  Ebd., S. 24. 231  |  Ebd., S. 25. 232  |  Brodwin, Genetic Knowledge and Collective Identity, S. 139. 233  |  Ebd., S. 139. 234 | Brodwin erwähnt zwei Beispiele von Völkern in Afrika und Indien, die eine jüdische Identität annahmen, nachdem bei genetischen Tests das »Cohen Modal Haplotype«-Genom in ihrer DNA festgestellt wurde. Vgl. ebd., S. 140.

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ments [...] compete with projects of collective mobilization and the redressing of historical wrongs«235, fasst Brodwin die Lage konzis zusammen. Es könnte also durchaus sein, dass sich die Aufgaben der Identitätsforschung in der Gegenwart und der nahen Zukunft noch weit über den Forschungsgegenstand hinaus erstrecken werden.

2.2.2 Rekapitulation Die Forschungen zu kollektiver Identität und der Rückgriff auf sie zur Erklärung sozialer Ereignisse und Verhaltensweisen stellen ein Gebiet dar, das von vielen Disziplinen mit unterschiedlichen Ansätzen bearbeitet wurde. Obschon bereits in älteren Epochen als philosophisches Problem formuliert, erfährt die kollektive Identität in den 1960er Jahren einen regelrechten Aufmerksamkeitsschub, da mit den Neuen Sozialen Bewegungen neue AkteurInnen auftreten, die sich deutlich von Sozialen Bewegungen unterscheiden. Mit Identitätskonzepten wurde der Umstand zu erklären versucht, dass nicht mehr klassenbasiert, sondern interessenbasiert sozial agiert und mobilisiert wurde.236 In diachroner Betrachtung der Debatte sind wohl grobe Linien zu erkennen, was das Verständnis (oder: die Vermutung) angeht, wie Identität von wem wozu erzeugt oder gelebt und umgesetzt wird. Immer aber sind auch zu jedem Zeitpunkt Gegenpositionen zu finden, die kontrastierend formuliert sind. Unterschiedliche Einschätzungen und Erklärungsmuster finden sich sowohl in den Zugriffen der einzelnen Disziplinen, als auch disziplinimmanent. Diese Kontroversen, und mögen sie auch noch so fundamentale Punkte wie das Verständnis vom Menschen und dessen Grundmotivationen betreffen, sind allerdings nur ein Aspekt des Debattenverlaufs. Eine andere Realität ist ein weitreichender Konsens bezüglich Genesis, Ausgestaltung und zutragenden Elementen zu kollektiven Identitäten. Sind die in den jeweiligen Case Studies untersuchten Gemeinschaften auch noch so unterschiedlich und werden sie auch aus noch so verschiedenen Winkeln beleuchtet, so treten einige Punkte immer wieder auf und können als gemeinsame Nenner der jüngeren Forschung verstanden werden. Als wichtige und prägende Eigenschaften der kollektiven Identität erkennt eine Mehrheit der ForscherInnengemeinschaft soziale Konstruktion, Dynamik, Wandelbarkeit, Kontextsensitivität, Relationalität, multiple Ursprünge, eine festgestellte produktive Verklammerung von Individuum und Kollektiv im Rahmen der Identitätsgenesis und der Identitätsreproduktion sowie die Denkfigur eines mutualen Produktions- und Unterhaltsverhältnisses in Form der Interaktion von Gemeinschaftsmitgliedern und Nichtmitgliedern an. Hervorzuheben ist auch das Eingeständnis, dass das Thema über einen hohen Komplexitätsgrad verfügt und mit monokausalistischen Erklärungsansätzen arg verzerrt werden würde. Diese erkannte Komplexität wird gerade von der jüngsten Forschung illustriert, die sich vermehrt auf das Entwirren der Relationalitäten und der Klärung einzelner Komponenten

235  |  Ebd., S. 142. 236  |  »In a sense, collective identity replaced class consciousness as the factor that accounts for mobilization and individual attachments to new social movements.« (Hunt/Benford, Collective Identity, S. 437). Vgl. für eine Einschätzung Neuer Sozialer Bewegungen aus europäischer Sicht Kriesi, Neue Soziale Bewegungen.

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verschrieben zu haben scheint. Eine Vereinfachung der rhizomartigen Identitätsdebatte dürfte demnach auch in der nahen Zukunft nicht zu erwarten sein. Dazu trägt auch bei, dass in den neuesten Aufsätzen und Monografien der Versuch, eine allgemeingültige Definition oder Charakterisierung von Identität zu finden, als Ding der Unmöglichkeit beschrieben wird. Stattdessen werden im Rahmen von Case Studies möglichst auf den Einzelfall zutreffende Antworten auf Fragen gesucht und gefunden, die dann in der Hoffnung in den Raum gestellt werden, dass sie auch bei anderen Gruppen wenigstens teilhaftig Licht ins Dunkel werfen mögen.237 Statt an einer universal gültigen sozialen Weltformel wird in der jüngsten Identitätsforschung vermehrt an einem buntscheckigen, immer nur skizzierten Bild gearbeitet, dessen Detailtreue sich reziprok zum Betrachtungsabstand verhält. Nicht zuletzt wachsen mit den vermehrt am historisch gebundenen Einzelfall gewonnenen Erkenntnissen auch Einsicht und Akzeptanz, dass Menschen wohl ähnlich sein können, nicht aber gleich sein müssen, weder als Individuum noch als Gemeinschaft von Individuen. Mit der Konzentration auf den Einzelfall und darüber hinaus auf einzelne Teilaspekte des Einzelfalls werden in der differenzierten Forschung immer weniger eindeutige, typologieunabhängige und allgemeingültige Definitionen, Erklärungen und Modelle von Identität formuliert. Aufgrund des stets werdenden Charakters der Identität wäre das wohl ohnehin nicht erwünscht, wenn man Nietzsches Diktum Glauben schenkt, dass nur definierbar ist, was tot ist.238 Das zur Regel gewordene Wegbrechen und Fehlen solcher starren Definitionen hinderte und hindert ForscherInnen indes nicht daran, auch weiterhin mit Identitätskonzepten an Situationen und Verhältnisse des menschlichen Lebens heranzutreten, um sie besser verstehen zu können. Mit Weitsicht werden diese aber in jüngster Zeit vornehmlich so formuliert, dass sie zentralen Aspekten der Identität wie Wandelbarkeit, Beweglichkeit und dem aspirativen Charakter Rechnung tragen.239 Trotz aller ihr erwachsenden Unzulänglichkeiten liegt viel Gewinn in der adaptiven, kontextsensitiven identitätstheoretischen Betrachtung sozialer Gemeinschaften, da sie eine Beurteilung von Sozialen Bewegungen erlaubt, die mit anderen Theorien aufgrund ihres methodologischen Instrumentariums verkürzend als dysfunktional eingeschätzt würden und ein Verständnis der historischen AkteurInnen erschwerten.

237  |  Wie sinnvoll das ist, wird zu sehen sein. Vgl. zu dieser Entwicklung hin zu Case Studies Hunt/Benford/Snow, Collective Identity, S. 448-449. 238 | Der dem Untersuchungsgegenstand einiges näher stehende Stuart Hall sieht das ganz ähnlich: »[T]he question, and the theorization, of identity [...] is only likely to be advanced when both the necessity and the ›impossibility‹ of identities, and the suturing of the psychic and the discursive in their constitution, are fully and unambiguously acknowledged.« (Hall, Who Needs ›Identity‹?, S. 16). 239  |  Z.B. jüngst in Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott, Identity as a Variable.

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2.3 K ollek tive I dentität in dieser A rbeit »Any movement that seeks to sustain commitment over a period of time must make the construction of collective identity one of its most central tasks.«240 »[Identities are] among the most normatively significant and behaviorally consequential aspects of politics.« 241

Wie die Aufarbeitung der Debatte um kollektive Identität zeigte, widmet sich die jüngste Identitätsforschung vermehrt Partikularaspekten, die sie mit immer fokussierterem Blick fürs Detail im Hinblick auf Funktion und Konstitutionskraft für kollektive Identitäten von Gemeinschaften herausarbeitet. Da die überaus meisten Arbeiten zu kollektiver Identität Case Studies sind 242, gilt es indes im Hinterkopf zu behalten, dass die Evaluation von Identitätsaspekten oder -formanten und die daraus resultierende Einschätzung der kollektiven Identität jeweils gemeinschaftsspezifisch erfolgten. Eine unmittelbare Folge davon ist, dass starre, universale Definitionen von kollektiver Identität und Ranglisten von identitätsrelevanten Faktoren und Elementen ebenso wenig als Blaupausen brauchbar sind, wie direkte, unreflektierte und angepasste Übertragungen von Ergebnissen aus Betrachtungen von AkteurInnen auf andere Gemeinschaften. Denn bereits Nuancen von Unterschieden bei Gemeinschaften, seien sie strategischer, politisch-philosophischer oder struktureller Art, können erhebliche Unterschiede für die Nützlichkeit von Identitätsfaktoren in Bezug auf die Untersuchung und Einschätzung einer Gemeinschaft bedeuten. Beispielsweise kann in einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft die Erreichung einer Kaderposition für Gemeinschaftsmitglieder durchaus Ziel sein. Demnach ist es legitim anzunehmen, dass die Gemeinschaftsteilnahme zumindest im Potenzialis auch aus karrieristischen Überlegungen erfolgt ist und also das materielle Eigeninteresse als potenzieller Push-Faktor für Gemeinschaftsteilnahme imaginiert werden kann. Denn schließlich stünden so im Falle einer Mitgliedschaft nicht nur geteilte Wertvorstellungen und Gemeinschaftsgefühle zur Verfügung, sondern eben auch individuelle Vorteile wie Prestige, ein höheres Einkommen oder ein gehobener Status in anderen Dimensionen. Bei Gemeinschaften mit flachen Hierarchien fielen diese Vorteile weg, weswegen das materielle Eigeninteresse als Push-Faktor, falls überhaupt, eine deutlich geringere Rolle spielen dürfte. Die Identitätsfrage deswegen als diskursiv gelösten, völlig autonomen Forschungsschwarm zu imaginieren, in dem irgendwelche, lediglich durch eine Kontrollgruppe unterfütterten Behauptungen als Forschungen in den wissenschaftlichen Orbit entlassen werden können, wäre aber falsch. Gegen eine so implizierte Beliebigkeit sprechen nicht zuletzt die angesprochenen Konsense bezüglich sozialer Konstruktion, Mutualität, Relationalität, Dynamik, Wandelbarkeit, Kontextsensitivität oder multiplen Ursprüngen von Identitäten. Auch die 240  |  Gamson, Commitment, S. 27. 241  |  Smith, Civic Ideals, S. 302. 242  |  Meta-Werke sind indirekt auch auf solche gestützt, da sie sich auf Beispiele aus der Anwendung berufen.

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festgestellte, mutual produktive Verklammerung von Individuum und Kollektiv und vom Innen und Außen einer Gemeinschaft in der Restgesellschaft zeigt, dass das Konzept der kollektiven Identität durchaus einen für vielerlei Gemeinschaften fruchtbaren Boden darstellt, auf dem erhellende Einsichten in Gruppen gewonnen werden können. Dies gelingt vor allem dann, wenn sich die Forschung bewusst ist, dass der Ansatz der kollektiven Identität keinen straff gestalteten Katalog bereithält, der auf jedwede Gemeinschaft von Beginn an passt und dies als Chance und nicht als Mangel interpretiert. Betrachtungen von Gemeinschaften mit identitätstheoretisch geschärftem Blick sind im Gegenteil vor allem gewinnbringend, wenn die Eigenheiten der betrachteten Gruppe ins Forschungsdesign miteingearbeitet werden. Sie versprechen dann tiefere Erkenntnisse, wenn die jeweiligen Methoden gewählt und verfolgt werden, die in Bezug auf die Art der Gemeinschaft und der verfügbaren Quellen, die eine Skizzierung von ihnen erlauben, auch wirklich Sinn machen. Die Auswahl an Methoden243 ist relativ gering, sie umfasst Umfrage, Inhaltsanalyse, Diskursanalyse, Ethnografie, kognitives Mapping oder Experimente als Zugriffsmöglichkeiten, die aber einzeln oder kombiniert guten Aufschluss über die kollektive Identität einer Gemeinschaft geben können. Mit einer zielgruppenspezifischen Methodenwahl, einem dem Forschungsgegenstand angepassten Identitätsverständnis und einem entsprechenden weitgehenden Verständnis für die untersuchte Gemeinschaft können schwerwiegende Abbildungsfehler a priori ausgeschaltet werden. Darüber hinaus, und darin liegt ein unbestrittener Vorteil dieses Zugangs, geschieht die Beurteilung der Gemeinschaft aus einer gemeinschaftsnahen Perspektive. Das wiederum führt meines Erachtens zu einer authentischeren Skizze, als wenn nach gemeinschaftsfremden Dimensionen kategorisiert wird und Maßstäbe gewählt werden, die für die Gemeinschaft selbst weitgehend irrelevant sind. Im Rahmen dieser Arbeit soll nicht eine Definition von kollektiver Identität per se entstehen, sondern vielmehr eine Charakterisierung der ihr zutragenden konstitutiven Faktoren. Eine Definition impliziert immer auch ein Finitum, ein fertiges Produkt. Kollektive Identität soll in dieser Arbeit aber nicht als erreichtes Ergebnis, sondern als fortwährender Prozess verstanden werden, der stets ent-, nie aber feststeht. Erst der umsichtige Blick zurück ist es, der in einem historischen Moment eine bestimmte kollektive Identität erscheinen lässt, da sie laufend neu konstituiert und konstruiert wird und immer nur Projekt ist. Wie sich die Identitätsforschung mehr oder weniger einig ist, ist sie nicht als monolithisches Phänomen zu verstehen, die im Durchlaufen eines Flussdiagramms eruiert werden kann. Vielmehr ist kollektive Identität als mal dichter, mal loser geknüpftes Gewebe zu verstehen, das, zusammengehalten von gemeinschaftsspezifischen, in ihrer Spannkraft changierenden Noden von Fall zu Fall und von Zeit zu Zeit unterschiedliche Formen und Ausprägungen annehmen kann, abhängig von prävalenten Zielen und Vorstellungen, von Struktur und Strategie, von Summe und Ausprägung von Subidentitäten, von Gemeinschaftsmitgliedern und deren personalen Identitäten, von gesamtgesellschaftlichen Kontexten, von intern verhandelten Normen und Regeln, vom zeitgeistigen Richtig und Falsch und der gruppeninternen Reaktion darauf, von gemeinschaftsinternen und -externen Ereignissen und Begebenheiten politischer 243 | Vgl. dazu die angewendeten Methoden der bisherigen Identitätsforschung dargestellt in Abdelal/Herrera/Johnston/McDermott, Measuring Identity.

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und gesellschaftlicher Natur. Die Berücksichtigung dieser Elemente respektive ihrer Spuren lässt ein Bild der kollektiven Identität einer Gemeinschaft entstehen, das verschiedenene Aspekte aus verschiedenen und auch wechselnden Perspektiven zu intergrieren vermag und damit einer pluralistischen Sozialen Bewegung gerecht zu werden verspricht. Um konkret ein Bild der kollektiven Identität von AnarchistInnen des Fin de Siècle zu erhalten, wurden initial das Sensorium für sämtliche gemeinschaftsbegünstigende Faktoren aufrechterhalten und mit den Eigenheiten der betrachteten Gemeinschaft abgeglichen. Auf ihre Wirkungsmacht für eine Gemeinschaft hin wurden Rituale genauso wie Nutzen-Überlegungen, kulturelle Symbolisierungen und ihre Kraft ebenso wie die Vorstellung von IdentitäterInnen, vermutete Machtinteressen ebenso wie Hoffnungen auf Statusgewinn aber auch die Kraft der spontanen Sympathie abgeklärt, um die blinden Flecken des eingeengten Forschungsblickes zu minimieren und eine möglichst verzerrungsfreie Skizze anlegen zu können. Denn wer von Beginn an ausschließlich auf eine Theorieoption setzt und damit verkürzenderweise die notwendige Ausgewogenheit einer jeden Theoriebildung zwischen Selbstbestimmung und Versachlichung riskiert, der »[...] kann bestenfalls den Vorzug stromlinienförmiger Paradigmentreue beanspruchen — eine angemessene Beschreibung historischer Formen von Gemeinschaftlichkeit vermag sie [die dergestalt verkürzte Analyse, d.V.] kaum zu bieten«244. Die Auswahl der berücksichtigten produktiven Komponenten kollektiver Identität der anarchistischen Gemeinschaft geschah in Anlehnung an die Bewegung und ihre Agenda, die ihrerseits aus kulturellen Produkten in Form von Zeitungen und Almanachen, also bewegungseigenen Kommunikationsmitteln abgeleitet wurde. Im Zentrum des Interesses stehen damit primär die artikulierte Selbstwahrnehmung, die mittels Backlash ebenfalls darin produktive Fremdwahrnehmung sowie die Fremdwahrnehmung als Spur des historischen Identitätsspielraums. Entlang dieser Zusammenhänge wird nach folgenden, als konstitutiv verstandenen Identitätskomponenten gesucht: positive und negative Hypergüter, Framing-Prozesse, subidentitäre Framing-Prozesse, Traditionalismen, traditionalistische Rekuperationen245 sowie in die Physis transzendierte kollektive Kommemorationen, Emotionalien246 und Geusenwörter247 die zu Elaboration und Festigung der kollektiven Identität beitragen, die gleichzeitig als Stütze und Motivationsmotor der hier betrachteten Gemeinschaft betrachtet wird. Damit wird ein spezifizierter Maßstab zur Eruierung kollektiver Identität angesetzt, um die Eigenheiten der betrachteten 244  |  Giesen, Identität und Versachlichung, S. 401. 245 | Unter der traditionalistischen Praxis der Rekuperation ist das Aufgreifen und Einweben von antagonistischen Geschichtskonstruktionen und -narrativen in die eigene Bewegungstradition zu verstehen. Der Begriff der Rekuperation wurde aus der Rechtsextremismusforschung entlehnt, die dort das gleiche Phänomen – allerdings unter umgedrehten Vorzeichen – beschreibt. Vgl. Franz/Höh/Taube, »Protest«, S. 255-256. 246 | Als Emotionalien sollen Komponenten verstanden werden, die ihre identitätskonstituierende Qualität aufgrund ihrer emotionalisierenden erhalten resp. dadurch akzentuiert werden. 247 | Unter Geusenwörtern wird die linguistische Reappropriation von prinzipiell pejorativen, dysphemistischen Fremdbezeichnungen durch die Bezeichneten verstanden, die dadurch eine inhaltliche Umdeutung und Aufwertung erfahren.

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AnarchistInnen der Schweiz an der Schwelle zum 20. Jahrhundert herausarbeiten zu können, sodass eine Skizze der Gemeinschaft von gebührender Genauigkeit durch einen Einblick in ihre Welt vorgenommen werden kann. Der oben geäußerten Charakterisierung von kollektiver Identität als soziales Phänomen liegt, wie bei jeder identitätstheoretischen Forschung, ein bestimmtes Identitätsverständnis zugrunde. Es ist dies eine Synthese, die im Forschungsüberblick entstanden ist. Das Verständnis wurde zweifelsohne durch den Blick auf die in dieser Arbeit untersuchte Materie geschärft und scheint mir daher vor allem für historische Zugriffe auf kollektive Identitäten von selbstgewählten Sozialen Bewegungen von Nutzen. Weitgehend entlang des diesbezüglich herrschenden Forschungskonsens gehe ich bei kollektiver Identität von einem sozial konstruierten Phänomen aus, das eng in historische Gemeinschafts- und Gesellschaftskontexte eingebunden ist und sich im ständigen Fluss konstruiert und rekonstruiert und auch konstituiert und rekonstituiert wird, und zwar sowohl von internen als auch von externen Diskursen. Kollektive Identität wird plurigenetisch, zumindest in Teilaspekten heterogen und abhängig von einer changierenden Reihe ursächlicher Aspekte gedacht, die sich gegenseitig beeinflussen und verstärken können, aber nicht müssen. Sie soll explizit nicht als unabhängige, homogene und persistente Monade imaginiert werden, die vom Geschehen um sie herum unbeeindruckt rein intern von einer kleinen Gruppe von IdentitäterInnen fix konstruiert und perpetuiert wird. Eine solche Vorstellung würde unter anderem die hier betrachtete Gemeinschaft als funktional gestört erscheinen lassen, auch wenn sie sehr wohl prosperierte, wie zu sehen sein wird.248 Kollektive Identität soll vielmehr als komplexe, produzierte und produktive, relational geprägte Verklammerung verstanden werden, die ohne soziale Interaktion und der damit einhergehenden positiven oder negativen Anerkennung keine Wirkungsmacht zu entfalten imstande ist. In der vorliegenden Arbeit liegt der Forschungsfokus auf AnarchistInnen in der Schweiz der Jahre 1885-1914. Für diese knapp 30 Jahre andauernde Periode wurde das theoretische Konzept der kollektiven Identität gewählt, weil es nicht nur harte utilitaristische Elemente als Pull-Faktoren hin zu einer Gemeinschaft anerkennt. Wenn nur Machtgewinn oder eine Erweiterung des Einflussspektrums in der Gesellschaft – also sogenannte politische Faktoren – als Pull-Faktoren anerkannt werden, so können Soziale Bewegungen wie der Anarchismus nur fehlerhaft beurteilt und verstanden werden. Die Bekleidung (hoher) politischer Ämter kommt in anarchistischer Perspektive als Ziel nicht nur nicht vor: Vielmehr wird, wie einleitend schon bemerkt, explizit deren Erodierung gefordert. Soll eine gebührend genaue Skizze der Gemeinschaft der AnarchistInnen der Jahrhundertwende angefertigt werden, macht es also keinen Sinn, beispielsweise von Olsons Idee der Rational Choice als Wurzel allen Tuns auszugehen, die Mitgliedschaft in Gemeinschaften immer nur als Akt des individuellen Avancements zu sehen infolge des alles determinierenden Selbstinteresses.249 Stattdessen soll die Gemeinschaft der AnarchistInnen mit der Betrachtung von der Gemeinschaft nahe stehenden Faktoren approximiert werden. Dazu gehören gemeinsam geteilte Vorstellungen des richtigen Lebens, der richtigen Methoden, der Ziele, Demarkationen gegen außen und gegen innen, gemeinsame Feinde, sich in der stetigen Überarbeitung befindende Selbst248  |  Vgl. dazu Robnett, External Political Change. 249  |  Vgl. Olson, The Logic.

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wahrnehmungen, -bezeichnungen und -darstellungen, mannigfaltige Reflexionen der Fremdwahrnehmung, die Konstruktion der eigenen Vergangenheit aber auch emotionale Faktoren wie Wertschätzung oder Abschätzung oder das Sentiment des Aufgehobenseins. Dies sind allesamt Elemente, die in der Forschung zur Skizzierung einer kollektiven Identität als wichtige Faktoren bezeichnet werden und die andererseits in den Quellen mit inhaltsanalytischer kritisch-heuristischer Lesart eruierbar sind. Der Zugang über die kollektive Identität scheint deshalb geeignet für eine Betrachtung der Gemeinschaft der AnarchistInnen. Gerade auch aus historischen Gründen. Abgesehen von politischem und gesellschaftlichem Gegenwind und einer weitgehenden Marginalisierung schaute für AnarchistInnen der letzten Jahrhundertwende bei einer Teilnahme nicht viel heraus, außer Teil einer Gemeinschaft zu sein, der man sich verbunden fühlte. Kollektive Identität darf deshalb in der hier betrachteten Sozialen Bewegung der AnarchistInnen nicht nur als Kittfaktor, sondern muss vielmehr als zentraler Pfeiler der Bewegung angesehen werden, was eine Annäherung via Selbst- und Fremdwahrnehmung, Hypergüter, kollektiv festgelegter Feinde und ihrer Einschätzung, gemeinsam Feind von allen und allem zu sein umso mehr legitimiert. Mit der Herausarbeitung der kollektiven Identität der hier fokussierten AkteurInnen winkt so eine gemeinschaftsnahe und damit entsprechend genaue Skizze einer Bewegung, die nicht nur sich selbst der größte Strohhalm war, sondern die instrumentalisiert auch der politischen Landschaft der Zeit von großem Nutzen war, wie zu sehen sein wird. Nicht zuletzt soll damit ersichtlich werden, dass Identität mehr ist als eine Klammer und mehr als »[...] eine positive soziale Norm, welche die Stillung des Hungers auf Erlösung des Unidentischen der alltäglichen Erfahrung suggeriert«250, sondern Ziel an sich.

250  |  Niethammer, Kollektive Identität, S. 36.

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3. Von Anarchismus und AnarchistInnen 3.1 A narchismus 3.1.1 Probleme Nicht nur die Beschäftigung mit kollektiver Identität birgt bei näherem Hinsehen Probleme. Auch der Anarchismus stellt einen Themenbereich dar, der alles andere als klar definiert ist. Die bewegungstypische Uneindeutigkeit findet sich sowohl in vorherrschenden philosophisch-politischen Weltanschauungen als auch in real existierenden Projekten, die sich selbst als anarchistisch bezeichnen oder so fremdbezeichnet werden. Ein alle Bereiche abdeckendes Problem stellen die Anarchismus-Begriffe und ihre kaum je wertfreie Verwendung dar. Wenngleich ›Anarchie‹, ›Anarchist‹, ›anarchistisch‹, ›Anarchismus‹ in den Medien relativ häufig verwendete Begriffe waren und sind1, so wurden sie äußerst selten der ursprünglichen Bedeutung entsprechend eingesetzt. Die zudem überwiegend negativen Konnotationen, die Anarchismus-Begriffen eingeschrieben wurden, lassen sie kaum ohne Wertung oder politische Funktion auftauchen. Den Reizwort-Charakter, den sie nicht zuletzt durch derartige Verwendung erhielten, konnte für die Jahre 1968 und 1975 bereits nachgewiesen werden.2 Die negative Besetzung der Begriffe ist aber bereits im auslaufenden 19. Jahrhundert zu beobachten und auch ihr politischer Gebrauch ist kein Novum. AnarchistInnen wurden schon in dieser Zeit mit politischem Kalkül Wilden, Mördernund Banditen, Geisteskranken, Läusenundlästigem Insektenvieh gleichgesetzt, wie zu sehen sein wird.3 Diese in der nicht-anarchistischen Presse anzutreffenden Kontexte bewirkten nicht nur vorwiegend negative Konnotationen bei Nennungen von Anarchismus-Begriffen. Vielmehr entstanden daraus politisch instrumentalisierbare Begriffe. Mit dem so geschürten und perpetuierten Schreckgespenst Anarchismus wurde politisch legitimiert, diffamiert, il1  |  Wenn in der Folge das Präteritum zur Beschreibung des Phänomens verwendet wird, so geschieht das hauptsächlich, um die Leserlichkeit zu verbessern, nicht aufgrund der Absenz der Problematik. 2 | Vgl. dazu allg. Voser, Reizwort. Auch Schmück macht dahingehende Beobachtungen. Schmück, »Anarchie«. Für die Verklärung der Anarchismus-Begriffe in jüngster Vergangenheit, v.a. im Zusammenhang mit der Antiglobalisierungsbewegung vgl. Kuhn, Militanz und Schwarze Blöcke, S. 73-74. 3  |  Vgl. dazu in dieser Arbeit 5. Von Läusen und Unkraut: Fremdwahrnehmung von AnarchistInnen in der nicht-anarchistischen Presse der Schweiz 1885–1914.

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legalisiert und marginalisiert, je nach Anspruch und Absicht der VerwenderInnen. Folgt man der Verwendung in heutigen Medien, wird der Begriff noch breiter eingesetzt. VelofahrerInnen der Stadt Zürich sind genauso Anarchisten4 wie politische TheoretikerInnen von damals es waren und ein von Selbstmordattentätern und militärischer Willkür im heutigen Irak erzeugtes Klima der Angst wird genauso mit dem Anarchiebegriff in Verbindung gebracht, wie Tumulte nach einem Fußballspiel. Noch immer aber wird der Begriff auffallend häufig eingesetzt, um gewalttätige Auseinandersetzungen von Gruppen mit der Polizei zu umschreiben, obschon deren UrheberInnen aus ganz anderen politischen Schulen stammen mögen. Diese Verwischung des Gegenstandes blieb bei Weitem nicht nur FremdbetrachterInnen vorbehalten.5 Anarchistisch, so scheint es, ist immer noch alles, was irgendwie wild und betont anders ist, anarchistisch ist alles, was nicht der Norm entsprechen mag oder kann.6 Der Offenheit der Begriffe entspricht die Offenheit der Bewegung. Die gängige Zusammenfassung von Gruppierungen mit zum Teil massiv differierenden Ideen- und Deutungswelten unter dem begrifflichen Dach Anarchismus stellt ein weiteres Problem dar. Will man den polygenen Gegenstand umfassend und korrekt bearbeiten, müssten unzählige ideen-, ereignis- und organisationsgeschichtliche Verläufe gezeichnet werden, einiger grundlegender Gemeinsamkeiten wie dem gemeinsamen Streben nach Gleichheit, Gerechtigkeit, föderalistischen Kom-

4  |  Jegliches Gespür für Anarchie-Begriffe lässt bspw. Metzler vermissen. Seine Anarchismusdefinition – man bemerke: nicht Anarchiedefinition – umschreibt die großzügige Auslegung von Verkehrsregeln im stadtzürcherischen Verkehr. Vgl. Metzler, Beat. »Hindernisfahrt für Erwachsene«, Tages-Anzeiger, 26.5.2010. Jg. 118, Nr. 11, S. 9. 5  |  Auch in der Selbstdefinition bemüht man sich, so offen wie möglich zu bleiben. Dies zeigt ein Blick in den Katalog zur Filmreihe über Anarchismus im Zürcher Barackenkino Xenix, der wohl 1985 oder 1986 erschienen ist, und im wesentlichen Übersetzungen von Texten bietet, die beim anarchistischen Kongress in Venedig auflagen. Im Text »Anarchie und Anarchismus: zum Methodenstreit in der postmodernen Wohlfahrt oder: Eine Reise ins Glück« (ohne AutorInnenangabe) heißt es u.a. »Jeder Aufstand, der sich gegen Unterdrückung, gegen Herrschaft und Macht allgemein richtet, ist anarchistisch. Und Zweck und Ziel der Revolte: Herrschaftslosigkeit und Freiheit, in welcher Form auch immer, ist die Grundlage des Anarchismus. All die Vielfalt an anarchistischen Ideen aller Richtungen und Zeiten kann man auf den einen Nenner bringen: Ablehnung von Autoritäten und Streben nach Freiheit, in Bezug auf die Gesellschaft, aber und vor allem auch innerhalb der revolutionären Bewegung.« (Barackenkino Xenix, Anarchismus, S. 3). 6 | Anarchie-Begriffe konnten umso besser für die Diffamierung und Konditionierung von Missliebigen verwendet werden, je diffuser die Begriffe waren. In Kombination mit Repressalien sorgte die Diffusität auch für eine Breitenwirkung in der Unterdrückung von widerständischen oder anderweitig devianten Gruppen. Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 424.

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munen und nach einer staaten-, herrschafts- und klassenlosen 7 Gemeinschaft zum Trotz.8 Neben der bewegungsinternen Pluralität stellen auch die ausgesprochene Kurzlebigkeit und die tendenzielle Non-Linearität ein Problem dar. Viele AkteurInnen setzten sich und ihre Publikationen nicht über längere Zeit für eine anarchistische Strömung ein. Das ermöglicht zwar die Illustration des Schillerns, der Wandlungsfähigkeit und damit nicht zuletzt der darin begründeten stetigen Aktualisierung der Bewegung. Eine umfassende diachrone Betrachtung, die eine bestimmte anarchistische Gemeinschaft der Schweiz in ihrem geschichtlichen Verlauf beobachtet, wird dadurch aber verunmöglicht. Diesbezüglich gilt Wittkops Einschätzung für anarchistische Gruppierungen in Deutschland auch weitgehend für Schweizer Verhältnisse, wenn er konstatiert: »In der anarchistischen Richtung gab es nur ständig fluktuierende Gruppen und Sekten, die sich meistens gegenseitig befehdeten, überregionale Zusammenschlüsse so gut wie nie zustande brachten und nur eine verwirrende Menge von kleinen Zeitschriften und Blättern von kurzer Lebensdauer mit häufig wechselnden Namen und Redakteuren herausgaben.«9 Quellenkritisch erschwerend ist der Fakt, dass ein guter Teil der Mobilisierung in rhetorisch ausgefeilten Reden stattfand, deren Inhalte, vor allem aber auch deren para- und non-verbales Potenzial mangels Aufzeichnungstechniken verloren ging. Ebenso dürfte es Spuck- und Handzetteln ergangen sein, von anderen Dokumenten wie Adresslisten ganz zu schweigen, die wohl auch mutwillig von ihren UrheberInnen zerstört worden sein dürften.

3.1.2 Kurze Geschichte des Anarchismus Gibt es den Anarchismus nicht, ist es auch verzerrend, von der Geschichte des Anarchismus zu sprechen. So sehr sich Wege zum Ziel, Ausdrucksformen, Utopien oder Wille zur und Form von Organisation von Gruppierung zu Gruppierung unterscheiden, so sehr differieren sie von Region zu Region10 und von Nation zu 7 | Was einend klingt, ist bei genauer Betrachtung bereits wieder differenzierend infrage zu stellen. Schon bei den für den klassischen Anarchismus wegweisenden Autoren PierreJoseph Proudhon, Max Stirner, Michail Bakunin, Sergej Netschajeff und Peter Kropotkin differiert das Verständnis, was denn genau Herrschaft sei. Vgl. Cattepoel, Der Anarchismus, S. 169-170, Guérin, No Gods No Masters, S. 7-214 und S. 269-343. 8  |  So sehr sich der individualanarchistische Ansatz Max Stirners und der streng proletarisch orientierte Anarcho-Syndikalismus der Jahrhundertwende gegenüberstehen mochten, so beruhen sie dennoch nicht auf völlig verschiedenen Standpunkten. Das spiegelt sich im über weite Strecken gleichartigen Aufbau anarchistischer Lehren wider. Vgl. dazu Cattepoel, Der Anarchismus, S. 17-118. 9  |  Wittkop, Unter der Schwarzen Fahne, S. 187. Die die Regel bestätigenden Ausnahmen sind natürlich auch zu finden. So etwa die Zeitung Freiheit, die 25 Jahrgänge zählte oder der in dieser Arbeit abgehandelte Le Réveil, der 40 Jahrgänge erreichte. 10  |  Vgl. dazu exemplarisch und für die Schweiz spezifisch die unterschiedlichen Verläufe der gemeinsamen Geschichte von Arbeiterbewegung und Anarchismusformen in der Westund der Deutschschweiz. Dazu generell Langhard, Die anarchistische Bewegung, S. 1-185 (Westschweiz) resp. 186-327 (Deutschschweiz). In geraffter Form und ergänzt, siehe 3.2. Der Anarchismus und die Schweiz.

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Nation11. Diese Arbeit stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und macht es sich deshalb nicht zum Ziel, im vorliegenden Kapitel jede Gruppierung, die irgendwann und irgendwo in der langen und bunten Anarchismusgeschichte auftaucht, zu erwähnen. In dieser kurzen Geschichte soll versucht werden, relevante, das heißt überregional wirksame und erkennbare Phänomene, Ereignisse und Verläufe in der Geschichte der anarchistischen Bewegung und seiner AnhängerInnen knapp zu umreißen. Ziel des Kapitels soll sein, den LeserInnen eine Einschätzung und eine Verortung des Anarchismus zu ermöglichen. Zur besseren Orientierung geschieht dies gegliedert nach ideengeschichtlichen, organisationsgeschichtlichen und ereignisgeschichtlichen Gesichtspunkten. Wohl auch auf der Suche nach Traditionalität zeichnet der bewegungsnahe Anarchismushistoriker Max Nettlau in seiner Ideengeschichte12 des Anarchismus freiheitliche Denkmodelle und Bewegungen seit der griechischen Antike nach. Er entwirft ein Bild der Weltgeschichte als Abfolge geistiger und materieller Kämpfe gegen Autoritäten, die dem Anarchismus den Weg geebnet hätten. Anhaltspunkte sind Nettlau dazu unter anderem die in vielen Gesellschaften anzutreffenden chiliastischen Mythen, die oft gerechte gesellschaftliche Zustände beschrieben, wie sie letztlich auch für den Anarchismus prägend seien. Die der anarchistischen Weltdeutung eigene Vorstellung vom grundsätzlich guten Menschen finde sich schon bei Zenon13, der daraus schloss, dass die Menschen schließlich eine staatenlose Gesellschaft bejahen und fordern müssten und auch würden. Bei Karpokrates von Alexandrien14 stellt Nettlau gewisse Parallelen zu Kropotkin fest, wenn jener eine vollkommene Gütergemeinschaft befürwortet. Auch im Mittelalter ließen sich freiheitliche Bewegungen ausmachen, wenngleich sie häufig an religiöse Gruppen und/oder Sekten gebunden sind.15 So etwa Anfang des 13. Jahrhunderts die ideell an Amalrich von Bena anschließenden ›Brüder und Schwestern des freien Geistes‹, »[...] die sich außerhalb der Gesellschaft und ihrer Gesetze, Sitten und Gebräuche stellten und von der Gesellschaft auf den Tod bekämpft wurden«16. Im frühen 15. Jahrhundert verortet Nettlau die ›Böhmisch-Mährischen Brüder‹ um Peter Chelcicky als anarchistische Sekte, die »[...] von bewusster Friedfertigkeit, ausdauerndem Assoziationsgeist und Verzicht auf weltliche Herrschaft«17 charakterisiert waren und eine eigentliche Gegenbewegung zu den nationalistisch-autoritären Hussiten darstellten. Keine Erwähnung bei Nettlau und Voser findet eine weitere religiöse

11  |  Vgl. dazu Woodcock, Anarchism, S. 257-442, an Woodcock anlehnend auch für die in dieser Arbeit betrachtete Zeitspanne Voser, Reizwort, S. 59-146. Ausschweifend und ungemein detailreich auch Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 1-Bd. 5. 12  |  Vgl. für die Zeitspanne von der Antike bis 1864 Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 1. 13  |  320-350 v. Chr. 14  |  Zu Karpokrates konnten keine Lebensdaten ausfindig gemacht werden. 15  |  Nettlau empfindet es als »unendlich schwer« in dieser Epoche antiautoritäres Gedankengut von freiheitlichen, proto-anarchistischen Gruppen zu extrahieren. Grund dafür sei die religiöse Verhüllung sowie die »[...] Entstellung ihrer Taten durch die stets reaktionären Chronisten« (Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 1, S. 21). 16  |  Ebd., S. 23. 17  |  Ebd., S. 23.

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Gruppe, der durchaus eine proto-anarchoide Ader zugestanden werden kann.18 Die in Zürich verwurzelten Täufer19, die neben Gott keine Autoritäten akzeptierten und folglich konsequent alle Staats- und Kircheninstitutionen ablehnten. Die Täufer weisen mehrere Parallelen zu anarchistischen Gruppen der Neuzeit auf. Auch bei ihnen fanden sich von den gleichen Grundsätzen ausgehend Subgruppierungen die ein breites Spektrum abdeckten, das von geduldiger Ertragung von Schikanen (wie etwa bei Amischen zu beobachten war und ist) bis zur gewaltsamen Mission der Ungläubigen (wie etwa bei den Münsteraner Täufern) reichte.20 Weitere Ansätze und Forderungen, die man in neuzeitlichen anarchistischen Gruppierungen findet, lassen sich ebenfalls im 16. Jahrhundert bei französischen Utopisten ausmachen. Darunter fällt beispielsweise der Grundsatz (vor allem) zu tun, was man will, oder die Aufgabe der freiwilligen Unterwerfung unter die Tyrannenherrschaft, so bei François Rabelais21 oder Etienne de la Boëtie22 . Im 18. Jahrhundert wird im Zuge der Auf klärung von Denis Diderot 23 der Vorschlag geäußert, die Vernunft an die Stelle der Gesetze zu stellen. Ihm gestand Nettlau zu, »[...] in manche seiner Schriften die klarsten anarchistisch gedachten Bemerkungen [...]«24 eingestreut zu haben. Dazu zu zählen sind sicherlich die Worte: »Je ne veux ni donner ni reçevoir des lois.«25 Erste offene Proklamierungen anarchistischer Ideen finden sich bei Sylvain Maréchal26, der sich gegen Gesetze, Herrschaft und Religion und für die soziale Revolution aussprach.27 Im England des 17. Jahrhunderts ist es Gerrard Winstanleys Bewegung der ›Digger‹, die Land besetzten und es ihren Ansprüchen entsprechend bebauten. Auch ihnen, die mit direkten Aktionen und einem ausgeprägten Hang zur Autonomie frappante Ähnlichkeiten mit anarchistischen Gruppierungen aufweisen, wurde von Nettlau eine Vorläuferfunktion attestiert. Ebenfalls in England zeichneten sich im 18. Jahrhundert William Godwins28 Schriften durch freiheitliche Ideen aus. Seit den 1840er Jahren schließlich kam es durch Pierre18  |  Lediglich in Dierses Begriffgeschichte finden sich ebenfalls dahingehende Beobachtungen. Vgl. Dierse, Anarchie, Anarchismus, S. 269-270. 19  |  Die Täufer, auch Wiedertäufer oder Anabaptisten genannt, gehen auf einen Zirkel um die schließlich von der Stadtzürcher Obrigkeit in der Limmat ertränkten Felix Manz und Konrad Grebel zurück und stellten den ›linken Flügel‹ der Reformation dar. Täufer fanden Ausbreitung in ganz Europa nachdem sie 1527 in den sogenannten ›Schleitheimer Artikeln‹ aufgesetzt in Schleitheim SH ihre Glaubensgrundsätze formulierten. Diese schlossen u.a. die Ablehnung von Eiden, Kriegsdienst, Steuern und Obrigkeiten ein sowie den Wunsch, zu einer Gemeinschaft mit gleichen Werten zusammenzufinden resp. diese herbeizuführen. 20  |  Vgl. zur Geschichte der Täufer allgemein Goertz, Die Täufer. 21 | 1494/1483-1553. 22 | 1530-1563. 23 | 1713-1784. 24  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 1, S. 41. 25 | Zit. in ebd., S. 42. Dt.Ü: »Ich möchte weder Gesetze machen, noch Gesetzen unterworfen sein.« (Übersetzung stammt aus: Max Nettlau: Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864. Verlag Der Syndikalist, Berlin 1925). 26 | 1750-1803. 27  |  Vgl. Voser, Reizwort, S. 21. 28 | 1756-1836.

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Joseph Proudhon29 und Max Stirner30 zu ersten frühen anarchistischen Werken, die im anarchistischen Milieu auch im 20. Jahrhundert noch breit rezipiert werden sollten. Dasselbe gilt für Schriften der zweiten Hälfte des 19. und vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Für diese Periode kann eine eigentliche Blüte anarchistischer Schriften ausgemacht werden. Dazu zu zählen sind Titel von unter anderem Michail Bakunin, James Guillaume, Elisée Reclus, Peter Kropotkin, Errico Malatesta, Emma Goldmann, Gustav Landauer, Erich Mühsam oder Rudolf Rocker.31 Sowohl Begriffe wie Inhalte dessen, was mit ›anarchistisch‹ und ›Anarchismus‹ in Verbindung gebracht werden sollte32, entstanden in der Verbindung mit der Formulierung von sozialphilosophischen Zielen, Deutungswelten und Idealen mit und bei Proudhon und sind bei ihm in wesentlichen Zügen, was sie später auch bleiben sollten33: die Bezeichnung eines Sammelbeckens von Ideen, die ihr gemeinsames Ziel in einer vollständigen ökonomischen, politischen und moralischen Freiheit der Gesellschaftsmitglieder sehen, die frei assoziiert in Absenz jeglicher Autoritäten kooperativ und solidarisch zusammenleben, egal welchen Geschlechts, Alters oder Standes.34 AnarchistInnen lehnen darüber hinaus jegliche Form menschlicher Organisationen ab, mit deren Hilfe ideologischer, politischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Zwang ausgeübt wird. Angestrebt wird stattdessen die freiwillige Assoziation mündiger, emanzipierter Menschen, die nach selbst mitbestimmten Regeln leben. Ob die nach anarchistischem Ideal konsensuell ausgehandelte öffentliche Meinung nicht einfach nur eine Entsprechung des mit staatlicher Gewalt durchgesetzten Zwangs ist, hat Oberländer gefragt.35 Sprachlogisch geht einem wie auch immer gearteten konsensuell verabschiedeten Regelwerk eine Beipflichtung eines jeden Gemeinschaftsmitglieds voraus. Damit kann bestenfalls von Selbstnötigung gesprochen werden, die sich dann doch wieder deutlich vom unfreiwilligen Zwang unterscheidet. Die dem Anarchismus eigene Institutions- und Staatsfeindlichkeit leitet sich aus dem angestrebten und oben bereits erwähnten Ideal der Herrschaftslosigkeit ab, das für unvereinbar mit der Existenz von Institutionen angesehen wird. Deswegen wird neben dem Staat auch 29 | 1809-1865. 30 | 1806-1856. 31  |  Für eine ausführliche Spurensuche nach anarchistischen Wurzeln in früheren Epochen der Zivilisationsgeschichte bis und mit 1864 siehe Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 1. 32  |  In dieser Arbeit wird die in diesem Abschnitt angelegte Definition verwendet. Vgl. für die Begriffsgeschichte Kap. 3.1.3 Kurzgeschichte des Anarchismus-Begriffes. 33  |  Aufgrund des Umfanges dieser Arbeit muss auf eine Betrachtung und akribische Nachzeichnung des inhaltlichen Wandels von Begriffen und Inhalten außerhalb der gesetzten zeitlichen Grenzen verzichtet werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass in jüngster Zeit im Rahmen einzelner anarchistischer Strömungen die dem US-amerikanischen Neo-Anarchismus zuzuschreiben sind, ernsthaft das Wegkommen von »some dead European dudes« (zit. ohne Angabe in: Kuhn, »Neuer Anarchismus«, S. 69) gefordert wird oder der Anarcho-Primitivist John Zerzan Michail Bakunin als »alter, langweiliger Mist«, bezeichnet (zit. in: Kuhn, »Rewilding« oder Regressing, S. 114). 34 | Voser, Reizwort, S. 22. Weitgehend deckungsgleich formulierte Bakunin 1870 Ziele und Wege. Vgl. Bakunin, Whom am I?, S. 147-149. 35  |  Oberländer, Der Anarchismus, S. 34. Dieser Frage geht auch Woodcock in den Werken Kropotkins nach. Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 201-202.

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konsequent die Abschaffung von Parteien, Verbänden, Kirchen und des institutionalisierten Rechts gefordert.36 Da AnarchistInnen Ideologien als geronnene Herrschaftsverhältnisse interpretieren, denen sie entspringen, sind sie in ihrer letzten Konsequenz theoriefeindlich, was zur Ungreif barkeit des Anarchismus entscheidend beitragen dürfte. Gleichzeitig ist es diese Absenz von eigentlichen Leitschriften und allgemeingültigen Exegesen, die den Anarchismus dynamisch, wandelbar und aktuell halten. Großes Ziel der AnarchistInnen ist die föderalistische Selbstorganisation der autonomen und sich selbst in allen Potenzialitäten realisiert habenden Persönlichkeiten: die Anarchie.37 Auch wenn Anarchismus nicht als ein einheitliches, sozialphilosophisches Lehrgebäude skizziert werden kann38, lässt sich feststellen, dass anarchistischen Weltdeutungen eine Reihe von gemeinsamen Prämissen zugrunde liegt. Die wahrscheinlich wichtigste betrifft das Menschenbild. Den Menschen verstehen AnarchistInnen abhängig von der natürlichen und der sozialen Umgebung, wobei Letzterer eine wichtige Rolle zukomme. Bakunin folgend taucht erst im sozialen Austausch mit anderen Individuen mittels Sprache Freiheit und Menschsein auf. Die soziale gegenseitige Hilfe, so hielt Kropotkin etwa Nietzsches Ideen von der ›Natur des Menschen‹ entgegen, sei im Menschen verankert.39 Mit dieser Herangehensweise rühre das aus anarchistischer Sicht falsche Verhalten der Menschen von nicht intakten oder zumindest nicht idealen materiellen und sozialen Bedingungen her, wozu Ressourcenknappheit, ›falsche‹ Erziehung, Werte oder Gesellschaftsmodelle gezählt werden. Hervorzuheben sind die daraus zu folgernde Betonung der Wichtigkeit von Erziehung sowie das für AnarchistInnen charakterisierende verkettete, vererbende Denken. Dieses ist letztlich dafür verantwortlich, dass die Institutionen zu Alleinverantwortlichen für das Übel des Status quo gemacht werden, da sie die Bedingungen diktierten, unter denen es überhaupt erst entstehen könne. Vor diesem Hintergrund überrascht die zweite große Gemeinsamkeit aller anarchistischen Gruppierungen nicht: das Bedürfnis nach Ab- und Wegbrechen der herrschenden Institutionen und Gesellschaftssysteme. Die Wege zu diesem Ziel fallen dann aber wieder sehr unterschiedlich aus. Vom Märtyrerdasein, über reine Propaganda bis zur gewaltsamen Revolution sind sehr viele Wege beworben, ausprobiert und abgekanzelt worden in der gut 160jährigen Geschichte der Bewegung. Eine weitere rekurrierende Fragestellung betrifft das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft. In anarchistischer Perspektive steht die individuel36 | Diese Verdichtung bezieht sich auf die gängigen Zielsetzungen und Leitbilder der vorletzten Jahrhundertwende. Da aktuelle anarchistische Theorien außerhalb des hier angesetzten Forschungsfokus liegen, sei verwiesen auf die sich damit beschäftigenden Sammelbände Kuhn, Vielfalt Bewegung Widerstand, Knoblauch/Degen, Anarchismus 2.0 und Amster/DeLeon/Fernandez/Nocella II/Shannon, Contemporary Anarchist Studies. 37  |  Nach Lösche, Anarchismus, S. 17-18. Lösche folgen in dieser Definition sämtliche berücksichtigten neueren Werke zum Thema. 38 | Lösche wendet sich gar gegen eine Geschichte und Definition von Anarchismus überhaupt, die sich immer an größten gemeinsamen Nennern orientierte, da der Anarchismus damit de-historisiert, d.h. seinem jeweiligen historischen Kontext entrissen werde. Für unzulängliche Definitionen und daraus entstandene Fehlzuordnungen und Verwirrungen um den Gegenstand siehe Lösche, Anarchismus, S. 8-16. 39  |  Vgl. Voser, Reizwort, S. 24.

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le Freiheit über dem Gemeinwohl, da dieses als Folge der Ersteren angenommen wird. Mit der Erlangung der individuellen Freiheit komme die natürliche Güte erst zur Entfaltung, die wiederum das Gemeinwohl anstrebe, wie Kropotkin kausalistisch verkettet.40 Auch Bakunin sieht großes Potenzial für das Individuum in der Gemeinschaft. Der Mensch würde nur durch das Gespräch mit anderen »[...] zum menschlichen, d.h. zum denkenden Wesen. Seine Individualität [...] seine Freiheit sind also das Produkt der Gesamtheit.«41 Ohne die gleichen individuellen Rechte der Gesellschaftsmitglieder sei eine solche letztlich unmöglich, denn Ungleichheiten und Privilegien töteten »Geist und Herz der Menschen«42 . Eine weitere Prämisse stellt der bedingungslose Glaube an eine natürliche Güte im Menschen dar. Im Gegensatz zu Systemen, die von einem archetypisch Bösen im Menschen ausgehen, der deshalb beherrscht werden müsse, versteht der Anarchismus den Menschen als von Natur aus gut und harmlos.43 Diese menschliche Güte stelle einen schlummernden Urzustand dar, den alle Menschen in sich trügen, weswegen die Zeit immer reif, das Individuum stets mündig für eine Revolution sei. Dies hat zur Folge, dass AnarchistInnen – im Gegensatz zu marxistischen und sich theoretisch darauf beziehende Gruppierungen – einen direkten Übergang in die Freiheit als durchaus möglich erachten und zu dem Schluss kommen, dass es keiner wie auch immer gearteten Übergangsphase oder Übergangsdiktatur bedürfe, um die Menschen reif für die Freiheit zu machen. Die Entfremdung zwischen dem Wesen des Menschen und seiner historischen Existenz liege in einer Organisationsform einer Gesellschaft begründet, die die freie Entfaltung zugunsten von Subordination unter Machtdispositive behindere. Werden diese Machtdispositive nun beseitigt, so die anarchistische Logik, würde damit auch der Entfremdung ein Ende gesetzt. Als Folge entfalteten sich die natürlichen sozialen Eigenschaften der Menschen: die freiwillige Kooperation, die gegenseitige Hilfe44 und der Drang, aus eigenem Antrieb ein menschenwürdiges Dasein für alle zu schaffen. Abgesehen von einzelnen Subgruppen45 werden Religionen von AnarchistInnen in der Regel abgelehnt. Denn Religionen stellen im anarchistischen Verständnis nicht nur den Rahmen für die Anerkennung der Herrschaft Gottes, nein: Sie stellen nach Bakunin vielmehr die eigentliche Wurzel der Autorität dar. Es rühre jede irdische oder menschliche Autorität unmittelbar von der geistlichen respektive 40  |  Vgl. Kropotkin, Eroberung. 41  |  Bakunin, Drei Vorträge, S. 245-246. 42  |  Bakunin, Gott und der Staat, S. 109. 43  |  Voser, Reizwort, S. 24-25. Woodcock verwendet nicht den Begriff der natürlichen Güte, sondern attestiert AnarchistInnen inhaltlich dasselbe Grundprinzip unter dem Namen »natürliche Sozialität«. Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 19. 44 | Dies v.a. das Steckenpferd von Kropotkin, der einen Gegenentwurf zum küchendarwinistischen Alle-gegen-Alle erarbeitete. Im Rahmen einer Monografie legte Kropotkin dar, dass hochentwickelte Arten wie Ameisen oder Bienen artenimmanent nach dem Kooperationsprinzip aufbauten. Vgl. Kropotkin, Gegenseitige Hilfe. Ironischerweise gruppiert sich die Gemeinschaft just bei diesen beiden Tierarten um Königinnen herum. 45  |  So stellt man sich sicher nicht ins Abseits, wenn man Leo Tolstois Werke als von religiösen Positionen beseelt bezeichnete. Vgl. stellvertretend für den religiös-pazifistischen Anarchismsus bspw. Tolstoi, Aufruf an die Menschheit.

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göttlichen Autorität her: »[...] Die Fiktion Gott ist [...] die Heiligung und die geistige und moralische Ursache aller Sklaverei auf Erden [...].«46 Diese Gottesfiktion führe durch ihre göttliche Qualität zu Unterschieden und damit zur Ungleichheit einerseits zu nicht-göttlichen Individuen und andererseits innerhalb der nicht-göttlichen Spezies Mensch, wenn sie in Papst, Bischof, Priester und so weiter unterteile, die alle in spezifischen Verhältnissen und Rangordnungen stünden und über spezifische Privilegien verfügten. So interpretiert stehen Religionen als Orte der Gottesideen, als hierarchisierende, Ungleichheit schaffende Herrschaftsprinzipien der Freiheit der Menschen im Wege. Die Ungleichheit und die damit verbundene Machtverteilung innerhalb der Religionen finde in der weltlichen Realität im Staat ihre Entsprechung, da der Staat als weltliche Entsprechung der Religionssysteme zu begreifen sei. Bis in die Neuzeit hinein nehme der Staat sogar expliziten Rückbezug auf die autoritären Herrschaftsprinzipen der Religionen, da sie sich oftmals durch göttliches Recht begründet legitimierten. Erhaltung, Pflege und Ausbau dieses Herrschaftsprinzips schließlich lägen in der Natur der Privilegierten, die darob die Aufrechterhaltung der Ungleichheit der Menschen und also die Unfreiheit bedingten und befürworteten. Auch wird in der Religion der Grundstein dafür gesehen, sich metaphysischen Abstraktionen wie der Religion oder der Nation nicht nur zu widmen, sondern auch zu opfern, etwa im Falle eines Krieges. Kulturelle Effekte wie die Vorstellung drohenden Unheils bei einer etwaigen Erhebung gegen die bestehende Ordnung (Gottes) und die Hoffnung auf die Auflösung der erfahrenen Ungerechtigkeit wurden von staatlicher Seite auch nach der Trennung von weltlichen und geistlichen Machtsystemen aufrechterhalten. Die Religionen stellten und stellen in anarchistischer Perspektive ein Instrument dar, die Unterdrückung der Menschen zu legitimieren47. Autoritätsgläubigkeit, die letztlich freiwillige Subordination und die Mutlosigkeit der Unterdrückten als Effekte von Religionssystemen stellten feste Stützen des Status quo dar, die die Machtverhältnisse reproduzierten. Deswegen sei eine Überwindung der Religionen auf dem Weg in eine humane Zukunft unumgänglich, wie Bakunin festhält: »[S]olange die religiösen Ideen und Kulte nicht gänzlich aus der Einbildung der Völker ausgelöscht sein werden, wird die vollständige Befreiung des Volkes unmöglich bleiben.«48 Weitere gemeinsame Nenner anarchistischer Strömungen sind Fragen um Form und Folgen von Eigentum. Die als ungerecht empfundene Verteilung von Eigentum in einer Gesellschaft und das missbräuchlich als Ausbeutungsinstrument eingesetzte Eigentum werden in anarchistischer Perspektive kritisiert und zur Abschaffung empfohlen.49 Diese Einschätzung führt zu einer radikalen Ableh46  |  Bakunin, Gott und der Staat, S. 180. 47 | Eine Vorstellung, die auch Napoleon I. teilte, wie Rocker herausarbeitete. Napoleon meinte dereinst: »Die Gesellschaft kann nicht ohne die Ungleichheit des Besitzes bestehen, die Ungleichheit nicht ohne die Religion. Wenn ein Mensch vor Hunger stirbt neben einem, der übersatt ist, könnte er sich unmöglich damit abfinden, gäbe es nicht eine Macht, die ihm sagt: Das ist Gottes Wille; hier auf Erden muss es Reiche und Arme geben, dort, in der Ewigkeit, wird es anders sein.« (zit. in: Rocker, Nationalismus und Kultur, Bd. 1, S. 62). 48  |  Bakunin, Gott und der Staat, Anhang, S. 255. 49 | Das betrifft nicht alle Strömungen. Individualanarchistische TheoretikerInnen wie Stirner werden als »Anhänger des Privateigentums« (Borgius, Die Ideenwelt des Anarchismus, S. 8) beschrieben.

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nung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das nicht zuletzt auf einer nichtparitätischen Verteilung von Eigentum auf baue. Die kapitalistische Wirtschaftsform wurde als unmoralisch, ungerecht und unmenschlich kritisiert und anders als bei Marx nicht als notwendiges Stadium der historischen ökonomischen Entwicklung hingenommen.50 Der ganz große Unterschied zwischen der freiheitlichen, anarchistischen und der autoritär-sozialistischen Idee Marx’ liegt aber im Kausalitätsverständnis: Bei Bakunin bedingt der Staat das kapitalistische Wirtschaftssystem und stellt das Wurzel des Übels dar, bei Marx liegt es gerade umgekehrt. Dementsprechend stellt in anarchistischer Perspektive die Verstaatlichung von Eigentum auch kein wünschenswertes Ziel dar, da dies letzten Endes staats- und systemerhaltend wirke. Denn ohne den Staat lasse sich keine ungerechte Eigentumsverteilung aufrechterhalten. Klar definierte Ziele sind, abgesehen von der Abschaffung der oben genannten Ursachen der herrschenden Unfreiheit und damit letztlich der Abschaffung jeglicher Form von Herrschaft – bei Bakunin Pandestruktion genannt 51 – bei wenigen anarchistischen DenkerInnen zu finden. Grund dafür dürfte nicht das mangelnde Vorstellungsvermögen der anarchistischen TheoretikerInnen sein. Vielmehr ist der Wunsch Vater des Gedankens, nicht schon bestimmte, in Herrschaftsverhältnissen gegorene Imaginationen vorzulegen, die der tatsächlichen und totalen freien Entfaltung der Gedanken und Möglichkeiten hernach im Wege stehen könnten. Auch wenn kaum Skizzen und Vorstellungen post-revolutionärer, anarchistischer Zustände zu finden sind, so lassen sich über Differenzsemantik und Negativausschlüsse eine Reihe konstitutiver Elemente der Anarchie ausmachen. Dazu zählen sicherlich umfassende Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Menschen entsprechende Arbeit ist ebenfalls Thema, wo das ›Danach‹ thematisiert wird. Vernunft, Wahrheit und Gewissen werden als Maximen proklamiert für den zwischenmenschlichen Umgang im Zustand der individuellen und kollektiven Freiheit. Freie Assoziationen und Föderalismus sind ebenso präsent in Schriften zur Zeit nach der Revolution wie die Absenz von Autoritätsgefügen und deren normativen Kondensaten. Wie so häufig beim Anarchismus beläuft es sich aber nicht exklusiv auf diesen bescheidenen Kanon. Punkto Güterverteilung etwa gehen die Vorstellungen bereits auseinander.52 Die Anarchie wird nicht oder zumindest nicht nur als paradies-ähnlicher Endzustand dargestellt. So wird unter anderem von Malatesta kein ›himmlisches Reich‹ in der Anarchie gesehen, sondern entelechetisch der Weg an einen aspirierten Horizont, der sich stetig ändert und immer idealer, aber nie ideal wird: »[D]ie Anarchie ist der Weg, über den jeder Fortschritt, jede Vervollkommnung im Interesse aller Menschen zu gehen hat.« 53 50 | Marx’ Kapitalismusanalyse scheidete die anarchistischen Geister. Während Bakunin und Kropotkin sie anerkannten, sprach Pierre Ramus von der wissenschaftslosen Irrlehre des Marxismus. Vgl. Voser, Reizwort, S. 33. 51  |  Vgl. Cattepoel, Der Anarchismus, S. 88. 52  |  Bei Bakunins Kollektivismus wird die Verteilung der Güter nach individuellem Arbeitsertrag als richtig und gerecht empfunden. Kropotkins kommunistischer Anarchismus verlangt, dass alle nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen berücksichtigt werden sollen, womit Kropotkin die Unvergleichbarkeit verschiedener Arbeiten in Rechnung stellt. 53  |  Malatesta, Anarchie, S. 82.

3. Von Anarchismus und AnarchistInnen

Wohl am deutlichsten zeigt sich die Vielteiligkeit des Anarchismus in der Mannigfaltigkeit der Methoden und Wege zur Anarchie. Es bestand eine große Zahl an Ideen, wie die Herrschaftslosigkeit zu erreichen sei. Deswegen soll in diesem Abschnitt versucht werden, die Gemeinsamkeiten der Vielzahl anarchistischer Wege zum Ziel herauszuarbeiten werden. Zu diesem Kanon gehört die Präfiguration, also die Überzeugung, dass das Ziel wesentlich schon im Weg zum Ziel stecken müsse.54 Ergebnis davon ist die den anarchistischen Bewegungen eigene föderative und hierarchiefrei Vorgehensweise bei ihrer Arbeit. Als bedeutendes Kriterium sticht dabei auch der Wunsch hervor, bewusst nicht nach politischer Macht zu streben. In präfigurativer Manier wird deshalb auch bei der Propaganda ohne Zwang gearbeitet: Eine Teilnahme an der anarchistischen Sache basiert auf freiwilliger Bekenntnis zu ihren Prinzipien. Aufklärung, Überzeugung, Beispiel und Erziehung sind bei Proudhon, Godwin, Landauer die gewählten propagandistischen Methoden. Ein weiteres Element des anarchistischen Methodenkanons stellt die Direkte Aktion dar, die oftmals unzulässigerweise mit der Gewaltfrage synonym verhandelt wird. Direkte Aktionen können von Einzelpersonen oder im Kollektiv beschlossen und durchgeführt werden und stellen in der Regel eine Ergänzung zu den bewusstseinsbasierten Kampfmethoden dar. Verstanden werden sie als retournierende Kostproben der ›Macht der vielen Einzelnen‹. Zu Direkten Aktionen sind Streiks, Boykotte, Sabotage-Akte, Steuer- oder Militärdienstverweigerungen oder Ungehorsam zu zählen, aber auch soziale Experimente mit Beispielcharakter oder die soziale Revolution werden damit bezeichnet. In der Periode der 1880er Jahre wurde vornehmlich von sozialrevolutionären und anarcho-kommunistischen Kreisen auch die ›Propaganda der Tat‹, also die Durchführung terroristischer Akte als Direkte Aktionen angesehen und entsprechend propagiert.55 Obschon nur von 54  |  Die die Regel bestätigende Ausnahme dürften die Ideen von Geheimbünden sein, die zuweilen bei Bakunin zu finden sind. Allerdings sieht er ihre Rolle als sehr marginal, und betont diese Qualität auch immer wieder. Oberländers Hypokrisie-Vorwurf (Vgl. Oberländer, Der Anarchismus, S. 35-36) scheint mir deshalb etwas an den Haaren herbeigezogen, wenn man Bakunin selbst sprechen lässt: »All that a well-organized society [im Sinne eines anarchistischen Geheimbunds, d.V.] can do is, first, to play midwife to the revolution by spreading amongst the masses ideas appropriate to the masses’ instincts, and to organize, not the Revolution’s army – for the people must at all times be the army – but a sort of revolutionary general staff made up of committed, energetic and intelligent individuals who are above all else true friends of the people and not presumptuous braggarts, with a capacity for acting as intermediaries between the revolutionary idea and the people’s instincts.« (Bakunin, Program and Object, S. 183). 55  |  Empfohlen wurde die Propaganda der Tat für alle anarchistischen Gruppierungen am Kongress der Sozialrevolutionäre vom 14.-19.7.1881 in London. Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 3, S. 202-231. Nettlau schreibt den Erstgebrauch des Begriffes Jules Montels zu, der ihn im Bulletin der ›Fédération Jurassienne‹ am 9.6.1877 erstmals erwähnte, wenngleich ähnlich Wortschöpfungen schon früher bei Kropotkin (1873) und Bakunin (1870) aufgetaucht seien. Vgl. ebd, Bd. 2, S. 243-244. Nach Tuchman wurde der Begriff der Propaganda der Tat 1878 von Paul Brousse erstmalig verwendet: »Die Idee [des Anarchismus, d.V.] ist auf dem Vormarsch und wir müssen alles daransetzen, die Propaganda der Tat ins Leben zu rufen. Der Weg zum Beginn der Revolution führt durch eine königliche Brust.« (Brousse, Paul, o.A., zit. in: Tuchman, Der stolze Turm, S. 96). Laqueur dagegen ortet die Wurzeln der Pro-

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einer Subgruppe bejaht und von wenigen Einzelpersonen ausgeführt56, wurden Terrorismus und Anarchismus seither häufig als Paar gedacht verwendet. So dicht, wie die veröffentlichte Meinung des ausgehenden 19. Jahrhunderts vermuten lässt, lagen die beiden allerdings nicht beieinander. Zweifelsohne wurde aktionistische Gewalt von bestimmten TheoretikerInnen gutgeheißen und propagiert. Genauso wurde von anderen allerdings dagegen gehalten. Zudem steht selbst bei einer einstimmigen Empfehlung der Propaganda der Tat auf einem Kongress die Frage im Raum, wie AnarchistInnen diese Idee aufgenommen haben, die verabschiedet wurde – und ob überhaupt. Schließlich spricht auch der paradigmatische Wandel gegen eine anhaltende Verquickung von Anarchismus und Terrorismus. Peter Kropotkin oder Johann Most beispielsweise befürworteten anfänglich die Gewaltanwendung zwecks Entflammung der revolutionären Masse. Sie schwenkten aber aufgrund des ausbleibenden Erfolges bereits in den 1890er Jahren um und lehnten Terrorakte Einzelner fortan ab.57 Der Umschwung der beiden einst flammenden Befürworter der Propaganda der Tat hatte allerdings nur bedingten Einfluss. Auch gut zehn Jahre nach dem Stimmungswechsel bei Kropotkin und Most wurden noch Attentate im Namen des Anarchismus verübt.58 Es wird allerdings bezweifelt, ob die AttentäterInnen immer auch AnarchistInnen waren.59 Dennoch bot die Rhetorik der meist individuell und spontan agierenden anarchistischen Attentäter sowie der vor allem in den 1880er Jahren verbreitete Verbalradikalismus bewegungseigener Medien, Staaten und Medienöffentlichkeiten Gelegenheit, Staffagen wie die ›Schwarze Internationale‹ zu konstruieren, die als straff geführte

paganda der Tat beim ›Helden des Risorgimento‹ Carlo Pisacane. Im anarchistischen Milieu sei sie als Konzeption auf die italienischen Anarchisten Errico Malatesta und Carlo Cafiero zurückzuverfolgen. Vgl. Laqueur, Terrorismus, S. 47. 56  |  Vgl. Voser, Reizwort, S. 40. 57  |  So schrieb am 17.9.1892 Most im Artikel »Zur Propaganda der Tat« in seiner Freiheit: »[...] Wer die Gesamtbilanz betreffs des Nutzens und Schadens dieser Art der Agitation ziehen könnte, dem würde ein moralisches und faktisches Defizit in das Antlitz starren, dass ihm Hören und Sehen vergehen machte.« (Rocker, Rudolf. Most, S. 356-357, zit. in: Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 3, S. 337). 20 Jahre früher erachtete Bakunin – in Verbund mit und unter blindem, später bitter enttäuschtem Vertrauen in den revolutionären Heißsporn Sergej Netschajew – den Terrorismus als gangbaren Weg ins Glück (Vgl. dazu die unmissverständlichen, bei Langhard zitierten Auszüge aus Bakunins/Netschajews »Die Prinzipien der Revolution« wo es abschließend im Originalzitat heißt: »Gift, Dolch, Strick etc.; die Revolution heiligt alles ohne Unterschied.« (Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 38). Minimal abweichend übersetzt dieselbe Passage auch in Cattepoel, Der Anarchismus, S. 84). Nach dem Bruch mit Netschajew schwenkte Bakunin aber bereits im Sommer 1870 wieder ab von dieser Taktik. Vgl. Voser, Reizwort, S. 40, und Cattepoel, Der Anarchismus, S. 184, Anm. 330. 58  |  So bspw. das tödliche Attentat vom 6.9.1901 auf den US-Präsidenten MacKinley, verübt durch den polnischen Anarchisten Leo Czolgosz. 59  |  Vgl. dazu Laqueur, Terrorismus, S. 14, der Vizetelly zitiert: »Es ist schwierig, ihnen [den Anarchisten, d.V.] die zahlreichen Übel, vor allem die Ermordung von Herrschern, zur Last zu legen« (Vizetelly, E.a., The Anarchists, New York, 1912, S. 293, zit. in: Laqueur, Terrorismus, S. 15).

3. Von Anarchismus und AnarchistInnen

Terrororganisation geschildert wurde,60 tatsächlich aber reine Fiktion war: »[S] ie existierte nur in der Phantasie der Polizeipräsidenten und Presse.«61 Auch als Fiktion mangelte es ihr aber nicht an realen Implikationen. Gerade die Präsenz omnipräsenter, ungreif barer Fiktionen eines anarchistischen Schreckgespensts reichte als Vorwand, Bürgerrechtsbeschränkungen ohne große Gegenwehr zu verfügen. Die innere Sicherheit legitimierte im 19. Jahrhundert Denk-, Artikulations-, Presse-, Organisations- und Agitationsverbote für anarchistische Inhalte in Europa ebenso wie flächendeckende Überwachungen. Auch der freigiebige Austausch von Polizeidaten zwischen europäischen Staaten wurde mit Verweis auf diese immer diffuse Bedrohung beschlossen respektive institutionalisiert. Das Verhältnis Anarchismus/Terrorismus stellte und stellt in der Anarchismusforschung einen eigenen Untersuchungsgegenstand dar, wobei die Ergebnisse von echtzeitlichen psychologisch-psychiatrischen Pathologisierungen62 über das Zusammengehen der beiden bis hin zu entschuldigenden Gegengewalttheorien63 oder soziologischen Erklärungsversuchen64 reicht. Dass diesem Aspekt der Anarchismusgeschichte große Aufmerksamkeit zukommt, ist wirkungsgeschichtlich betrachtet berechtigt.65 Dem Terrorismus im Anarchismus sollte aber trotz seines spektakulären Naturells nicht die Hauptrolle zugewiesen werden. Dazu war er ein zu marginaler Bestand60 | Zweifelsohne bestanden nationale und internationale Kontakte zwischen individuellen AnarchistInnen und auch zwischen Gruppierungen und Projekten. Auch wenn dies in der Forschung niemand bestreitet, betont Bouhey es explizit in ihrer Untersuchung des anarchistischen Netzwerks in Frankreich 1880-1914 (Vgl. Bouhey, Les Anarchistes). So hält bspw. Woodcock 1975 fest: »Anarchism was international in theory and to a great extent in practice even if it was only sporadically so in organizational terms.« (Woodcock, Anarchism, S. 249). Ein Grund dafür, dass nicht nur Propagandamaterial international kursierte, sondern auch die VerfasserInnen des Propagandamaterials, war »[...] the fact that the life of the dedicated revolutionary often forced him to go into temporary exile or even seek an entirely new home abroad« (Woodcock, Anarchism, S248). Die Wanderungen geschahen auf individueller Ebene. Eine durchorganisierte, nationenübergreifend abgesprochene Terrorismusorganisation blieb auch in Zeiten erhöhter anarchistischer Migration politische Fiktion. Vgl. Laqueur, Terrorismus, S. 14. 61  |  Laqueur, Terrorismus, S. 50. Dass die Konstrukteure des Schreckgespenstes zuweilen selbst an es zu glauben begannen, deutet auf den Nachdruck hin, mit dem die Fiktion als Realität verkauft wurde. Anders kann die Besorgnis erregende Aussage des US-amerikanischen Polizeioffiziers Henry Titus zum Anarchismus-Problem nicht erklärt werden: »The only proper way to deal with these fellows [gemeint sind AnarchistInnen, d.V.] is to go to their meetings armed with a sawed off gun and shoot the speakers when they begin to rant.« (New York Times, 9.9.1901, S. 3, zit. in: Bach Jensen, The United States, S. 18). 62  |  Vgl. Lombroso, Die Anarchisten. 63  |  Vgl. Kropotkin, Peter. Anarchism, in: Encyclopaedia Brittanica, 11. Aufl. London, 19101911, zit. in: Voser, Reizwort, S. 42. 64  |  Vgl. Kedward, Die Anarchisten. 65  |  Laqueur betont, dass die ›Ära der Attentate‹ politisch ohne größere Bedeutung blieb. (Vgl. Laqueur, Terrorismus, S. 15). Dem möchte ich widersprechen. Im Hinblick auf Innenpolitik und Polizeiarbeit hatten die als anarchistisch verkauften Attentate und ihre mediale Nachbereitung erhebliche Auswirkungen. Vgl. dazu spezifisch für die Schweiz Kap. 3.3 Die Schweiz und der Anarchismus.

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teil. Im Rahmen der Geschichtsschreibung des Anarchismus sollte er deshalb als das behandelt werden, was er ist: ein Aspekt unter vielen.66 Die Gewaltfrage im Anarchismus stellt sich des Weiteren separat vom Terrorismus-Zusammenhang und ist eng an Konzeptionen und Definitionen des Gewaltbegriffs gebunden. Obwohl die Gewaltfreiheit als Ziel und Motivation in den meisten Schriften anarchistischer TheoretikerInnen zentraler Bestandteil ist, wird aktionistische Gegengewalt gebilligt.67 Dies wird deshalb nicht als Widerspruch wahrgenommen, weil Gewalt, selbst wenn sie in physisch dringlicher Form initial von AnarchistInnen ausging, als Antwort auf die omnipräsenten staatlichen Bedingungen, die die Unfreiheit der Menschen bedingten und aufrechterhielten, interpretiert wurde. In der anarchistischen Weltdeutung wird damit selbst initiale Gewalt zur Notwehr umgedeutet, die quasi als Nebeneffekt zudem auch eine größere Resonanz hätte generieren sollen.68 Die Dogmenfreiheit im Anarchismus findet ihren programmatischen Niederschlag in verschiedenen Standpunkten. Die Vielzahl an durchaus auch in prägenden Punkten differierenden Subgruppen koexistiert teils in feindseliger, teils in friedfertiger Manier im Anarchismus-Gefäß, in das sie sich nur zum Teil selbst verorteten. Die anschließende illustrative69 Schilderung der wichtigsten anarchistischen Strömungen der Jahrhundertwende fällt aus Platzgründen sehr knapp aus und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.70 Ein starker Flügel in der anarchistischen Bewegung war seit den 1840er Jahren der individualistische Anarchismus. Diese Strömung gründet im wesentlichen auf Max Stirners Vorstellungen einer Gesellschaft als Sammelsurium von freien und frei kooperierenden Individuen. Dieses für Stirner und Individualanarchisten erstrebenswerte Ziel könne nur erreicht werden, wenn die Gesellschaftsmitglieder sich durch einen bedingungslos gelebten Individualismus der Wirkungsmacht aller moralischen und sozialen Fesseln entzögen. Das andernorts pejorative Adjektiv ›egoistisch‹ wird denn auch umgedeutet in Richtung von selbstbestimmt und unabhängig. Eine Vereinigung von Egoisten stellte ob der Freiheits- und Autonomieerfahrung in der Deutungswelt Stirners eine echte Alternative zum fremdbestimmten Leben in der bestehenden Gesellschaft dar. 66  |  Vgl. zur Einschätzung des Stellenwerts des Terrorismus im Anarchismus auch Guérin, Anarchismus, S. 9. 67 | So etwa bei Bakunin: »Um eine radikale Revolution zu machen, muss man also die Stellungen und Dinge angreifen, das Eigentum und den Staat zerstören, dann wird man nicht nötig haben, Menschen zu zerstören [...].« (Bakunin, Michail. Programm und Zweck der revolutionären Organisation der Internationalen Brüder, abgedruckt als Anhang in: Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 451). 68  |  Vgl. allg. zur Gewaltfrage Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 449-456. 69  |  Für eine detaillierte Aufschlüsselung und Charakterisierung einzelner anarchistischer Strömungen vgl. Knoblauch/Degen, Anarchismus, S. 14-25, Oberländer, Der Anarchismus, S.67-398, Voser, Reizwort, S. 45-51, Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2, S. 5-65, S. 107-124, S. 228-236, Bd. 3, S. 5-19. 70  |  Die folgende Einteilung richtet sich im Wesentlichen nach Voser, Reizwort, und Woodcock, Anarchism. Es lässt sich mühelos Literatur finden, in der zusätzliche oder andere Subgruppen aufgezählt werden. Im Unterschied zu diesen lassen sich die bei Voser und Woodcock erwähnten Strömungen in fast aller Literatur zum Thema finden und bilden so einen Forschungskanon.

3. Von Anarchismus und AnarchistInnen

Ebenfalls häufige Erwähnung findet die anarchistische Strömung des Mutualismus, die maßgeblich von Pierre Joseph Proudhons Schriften geprägt ist. Charakteristisch ist bei MutualistInnen die stärkere Betonung des sozialen Elements. Im Hinblick auf eine Gesellschaft, die von Gleichheit und Gerechtigkeit geprägt ist, entwarf er eine mutualistische Tauschwirtschaft, die die Zinswirtschaft kollabieren lassen sollte. Das Prinzip der Gegenseitigkeit würde gewährleistet sein durch Bescheinigungen der geleisteten Arbeitszeit an einem Produkt. Da Produktionsmittel in kollektiven Besitz stünden, könnten alle Güter zum tatsächlichen, durch Kapitalzinsen unbeeinflussten Selbstkostenpreis getauscht werden. Mit dem Wegfallen von Zinsen schließlich würde auch das Eigentum kollabieren. Typisch für den Mutualismus ist darüber hinaus der Ansatz, dass die bestehende Gesellschaft nicht durch eine punktuelle Revolution umgestürzt werden müsse, sondern sich durch gezielte, graduelle Änderungen selbst transformieren würde, um in einer Gemeinschaft von föderativ freiwillig zusammengeschlossenen Kommunen und Arbeitsgenossenschaften zu münden, wie sie Proudhon als Ideal vorschwebte. Das theoretische Gerüst des kollektivistischen Anarchismus71 fußt hauptsächlich auf Michail Bakunins Schriften und Reden. Es hatte zu den Zeiten der ersten Internationalen Arbeiter Assoziation (I.A.A.) ab 1864 und bis in die 1880er Jahre hinein ein großes Publikum und kann als Gegenentwurf zur autoritär sozialistischen Vorstellung Marx’ gesehen werden.72 Bakunin und nicht unwesentlich auch der Belgier César de Paepe 73 schlossen sich in einigen zentralen Punkten den Vorstellungen des Mutualismus an. Sie entwickelten Proudhons Ideen aber weiter und radikalisierten sie in gewissem Sinne. So lehnte Bakunin den bei den MutualistInnen durchaus geduldeten Privatbesitz ab und forderte ausschließlich kollektiven Besitz von Boden und Produktionsmitteln. Der bedeutendste Unterschied findet sich wohl in der Ansicht Bakunins, dass ausschließlich eine, wie er es nennt, Pandestruktion die Genesis einer neuen Gesellschaft ermöglichen würde. Gemeint ist damit die bedingungslose Zerstörung aller Elemente, die den Status quo stützten und reproduzierten. Ein weiteres wichtiges Prinzip betraf die Konsumgüterverteilung: Die kollektivistische Losung war es, dass allen das Erzeugnis ihrer Arbeit zustehen sollte.74 Im Ende der 1870er Jahre aufkommenden kommunistischen Anarchismus wurde diese Losung umgeformt. Nicht mehr die Arbeitsleistung, sondern die Bedürfnisse rückten ins Zentrum des Interesses. Die Schule des kommunistischen Anarchismus fußte wesentlich auf Peter Kropotkins und Errico Malatestas Schriften und Überlegungen und hatte seine Blütezeit in den 1880er und 1890er Jahren bis knapp vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Seinen Namen dürfte diese Strömung von der Betonung der Kommune haben. Sie war als lokale, frei assoziierte und im wirtschaftlichen Austausch mit anderen Kommunen stehende Einheit Ausgangspunkt der ersehnten freien Gesellschaft. Die Berücksichtigung der Bedürfnisse wurde deshalb der eingesetzten Arbeit vorgezogen, weil die Bewertung einer 71  |  Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2, S. 107-124. 72  |  Vgl. Voser, Reizwort, S. 47-48. 73  |  Eine Kehrseite der Kanonisierung ist, dass immer wieder wichtige ZuträgerInnen durch die Ritzen der Geschichte fallen. Im Falle De Paepes sei hier für einmal Gegensteuer gegeben. Vgl. dazu De Paepe in eigenen Worten in Guérin, No Gods No Masters, S. 221-229. 74  |  Vgl. Voser, Reizwort, S. 48.

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Arbeitsleistung bereits ein autoritärer Akt sein, den es auszumerzen bedürfe. Im kommunistischen Anarchismus ging man nicht nur von natürlichen Konsumationsbedürfnissen aus, sondern auch von natürlichen Arbeitsbedürfnissen, sodass kein Ungleichgewicht entsteht zwischen Produktion und Konsumation. Außerdem drückt bei dieser Strömung auch explizit die Vorstellung des Guten im Menschen durch. So wurde davon ausgegangen, dass der Mensch nur nimmt, was er wirklich benötigt, sodass selbst rationierte Güter nicht durch Gier verknappt würden. In den späten 1890er Jahren setzte eine eigentliche philosophisch-programmatische Änderung in der anarchistischen Ideengeschichte ein. Im Rahmen der Strömung des Anarcho-Syndikalismus verschob sich die Aufmerksamkeit des an und für sich universalistischen Anarchismus hin zu einer klassenorientierten Bewegung.75 Der Anarcho-Syndikalismus hielt sich bis in die 1930er Jahre und stellte ironischerweise die bis dato erfolgreichste Strömung dar, wenn Zulauf und Massentauglichkeit als Kriterium ins Feld geführt werden. Er stellte die strukturelle Offenheit des Anarchismus hintan in Bezug auf die Klasse seiner AnhängerInnen und engte den Blick auf die ArbeiterInnen ein.76 Diese stellten zu Syndikaten zusammengeschlossen die zentralen AkteurInnen auf dem Weg in die neue Gesellschaft dar. Einerseits waren sie Revolutionsherde in der bestehenden Struktur: Durch Organisation und Agitation sollte mithilfe eines letzten Endes gesamtgesellschaftlichen Generalstreiks die Überwindung des Kapitalismus gelingen. Andererseits waren die Syndikate aber auch als Keimzellen der zukünftigen, gerechten Gesellschaft gedacht, die nach der sozialen Revolution die Grundeinheiten stellten. Die Strömung des religiösen oder pazifistischen Anarchismus greift auf das Werk Leo Tolstois zurück. Obschon Tolstoi in seinem Entwurf einer neuen, gerechten Gesellschaft auf das ›wahre Christentum‹ als Fundament setzt, wird er aufgrund der umfassenden, radikalen Kritik an Kirche, Staat, Militär, Gesetzen und ungerechter Eigentumsverteilung zum Anarchismus gezählt. Mehr noch als die Kritik an genannten Institutionen dürften es seine Vorstellungen einer staatenlosen Ordnung, eines grundlegenden Gemeineigentums und einer sozialen Gerechtigkeit gewesen sein, die eine derartige Taxonomie auch heute noch rechtfertigen. Charakteristisch für den religiösen Anarchismus ist des Weiteren die bedingungslose Distanzierung jeglicher Gewaltanwendung. Die Gesellschaft sollte sich moralisch erneuern und sich mit den Mitteln zivilen Ungehorsams durchsetzen. Nicht zuletzt die Vorstellungen einer Konsumgüterverteilung nach dem Bedürfnisprinzip sowie das Anstreben einer genossenschaftlichen Produktionsweise banden diese Strömung an den Anarchismus. Für die die Strömung des Anarcho-Sozialismus, die nach der Jahrhundertwende an Auftrieb gewann, waren maßgeblich Gustav Landauers Schriften von Belang. Ausgangspunkt seiner Ideen war die Erkenntnis, dass die gerechte Gesellschaft sich nicht irgendwann von selbst einstellen würde. Auch dann nicht, wenn die mündliche und schriftliche Propaganda die Bevölkerungsmehrheit erreicht 75  |  Vgl. ausführlich zum Anarcho-Syndikalismus Russel, Wege zur Freiheit, S. 57-75. 76 | Linse konstatiert in den anarcho-syndikalistischen Ansichten der Weimarer Zeit in Deutschland nicht nur einen Wechsel des angepeilten Substrats. Im Vergleich mit dem klassischen Anarchismus des deutschen Kaiserreichs spricht Linse dem Anarcho-Syndikalismus einen entschieden wirtschaftlichen Charakter zu und gleichzeitig die politische Orientierung ab. Vgl. Linse, Organisierter Anarchismus, S. 23.

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haben würde. Stattdessen betonte Landauer die Macht des Exempels. Die gerechte Gesellschaft sollte nicht erwartet, sondern vielmehr erarbeitet und exemplarisch aktiv umgesetzt werden. In der Vorstellung Landauers waren das Einzelzellen, die sich in Bünden, Siedlungen und Genossenschaften zusammenschließen und so aktiv leben würden, was sie erreichen wollten. So wird die Anarchie nicht zuletzt zum stetigen, nie abgeschlossenen Projekt. Sie bleibt permanente Revolution, die dynamisch konzipiert und nie realisiert oder fertig ist. Im Exempel sah Landauer nicht zuletzt auch eine propagandistische Maßnahme, ohne die es unmöglich sein würde, zu einer nachhaltig veränderten Gesellschaft zu kommen. Erziehung im Sinne einer Bewusstseinsschaffung schien Landauer unabdingbar zur Erosion des Kapitalismus. Trotz ähnlicher historischer Wirkungsphase entfernte sich der Anarcho-Sozialismus im Gegensatz zum Anarcho-Syndikalismus nicht vom universalistischen Ansatz der älteren anarchistischen Strömungen und engte sein Substrat nicht nach Klassenkriterien ein. Die hier in gegebener Kürze charakterisierten Richtungen stellten die prägendsten Denkweisen im Anarchismus in den überblickten Jahren 1885-1914 dar. Dennoch darf dieser Abriss nicht als vollständiger Katalog verstanden werden. Einerseits sind die Grenzen zwischen den einzelnen Strömungen permeabel, andererseits schwingt bei einer Zuteilung in Kategorien immer auch der Blick der Zuteilenden mit und manch eine Schrift, die einer Strömung zugerechnet wird, könnte in veränderter Perspektive auch zu einer noch spezifischeren Subströmung gezählt werden.77 Die vorgestellten Richtungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts können aber zweifelsfrei als prominenteste ideengeschichtliche Taktgeber der Anarchismusgeschichte der Zeit betrachtet werden. Soll eine hinreichend tiefenscharfe Skizze der Geschichte des Anarchismus angefertigt werden, so muss der Blick auch auf die Organisationsgeschichte fallen. Gesellschaftsgründungen, Konferenzen, Kongresse und die dort gemeinschaftlich verabschiedeten Resolutionen spielten eine wichtige Rolle. Gründung und Betrieb von Organisationen waren dank regelmäßiger und unregelmäßiger Treffen Orte, wo Ideen und thematische Schwerpunkte weiterentwickelt werden konnten. Identitätstheoretisch gesprochen stellten sie zudem nicht zuletzt auch Rituale dar, die zur Perpetuierung der Bewegung einen erheblichen Beitrag leisteten. Allerdings ist ihre Aussagekraft für die anarchistische, klassischerweise organisationsfeindliche Bewegung nicht unumstritten. So blieb manche anarchistische Gruppierung Kongressen aus prinzipiellen Gründen fern. Dass die Organisationsfrage Thema war, zeigt sich auch am Kongress von Amsterdam 1907, dem größten, der überhaupt je stattfand 78:

77 | Mit der anarchistischen Dogmenfreiheit geht eine schier unüberblickbare Anzahl an Varianten und sie bezeichnenden Ismen einher. Als zeitgenössisches illustrierendes Beispiel sei hier der Kollapsimus genannt, eine Spielart des Anarcho- Primitivismus, der sich seinerseits auf den Öko-Anarchismus bezieht resp. sich ihm anschließt. Vgl. Kuhn, Rewilding or Regressing, S. 118, Anm. 37. 78 | Der Kongress »[...] gilt mit Recht als eines der bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte der anarchistischen Bewegung, die weder vorher noch nachher eine ähnlich denkwürdige Versammlung ihrer Prominenz aufzuweisen hatte« (Oberländer, Der Anarchismus, S. 38). Der Kongress fand vom 24.-31.8.1907 statt und brachte rund 80 Delegierte aus euro-

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Wenn (internationale) Organisation in der Bewegung auch umstritten war, so war sie unbestreitbar auch genuiner Ausdruck der nationenübergreifenden Aspekte der anarchistischen Ideen und Bewegungen. Eine Beachtung dieses Aspekts erscheint deshalb legitim. Die anarchistische Organisationsgeschichte80 lässt sich grob in fünf Perioden gliedern.81 Die Beteiligung an der ersten Internationale 1864-1872, die Gründung einer anarchistischen Internationale 1872-1889, die versuchte Annäherung an die sozialdemokratische Internationale 1889-1896, die Versuche eine zweite anarchistische Internationale zu etablieren 1896-1914 und schließlich die Periode 1919-1939, welche 1923 die anarcho-syndikalistische Internationale hervorbrachte und unterhielt. Die Geschichte des organisierten Anarchismus beginnt mit der Einberufung der Internationalen Arbeiter Assoziation (I.A.A.), der 1. Internationale.82 Von einer Resolution eines französischen Komitees von Mutualisten und Kollektivisten83 angeregt84, wurde die I.A.A. am 28.9.1864 in London nach langwieriger Vorgeschichte gegründet.85 Die Wahl des Hauptsitzes fiel auf die englische Metropole, da die Mitglieder des 21-köpfigen Zentralkomitees86 dort vor Ausweisungen geschützt waren. Die Kontrolle des Zentralrats geriet relativ früh in autoritär-sozialistische Hände.87 Zumindest die frühen Kongresse der I.A.A. waren dennoch weitgehend antiautoritär

päischen, nord- und südamerikanischen und asiatischen Staaten zusammen. Vgl. zum Verlauf Oberländer, Der Anarchismus, S. 38-39, Woodcock, Anarchism, S. 249-252. 79  |  Woodcock, Anarchism, S. 251. Die anzitierte Resolution geht zurück auf einen Antrag des Schweizers Amédée Dunois. Vgl. Oberländer, Der Anarchismus, S. 39. Gegen ein Verständnis von reihum organisationsfeindlichen AnarchistInnen äußert sich Linse: »Anarchie und Organisation schließen sich nicht aus; die anarchistische Ideologie hat lediglich spezifische Formen von Ordnung sowohl in der staatenlosen Zukunftsgesellschaft wie in der sie herbeiführenden und präfigurierenden anarchistischen Bewegung im Auge.« (Linse, Organisierter Anarchismus, S. 17). 80 | Dieser Abschnitt stützt sich punkto Periodisierung im wesentlichen auf Woodcock, Anarchism, Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bde.2-3, und Voser, Reizwort. 81  |  Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 224. 82  |  Vgl. zur Geschichte der I.A.A. und ihrem anarchistischen Kontext Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2, S. 65-106 und S. 171-205, Woodcock, Anarchism, S. 223-256. 83  |  Diese Einschätzung stammt von Voser, Reizwort, S. 53. Woodcock umschreibt die Akteure politisch als »more or less orthodox Proudhonians« resp. eine Person als »near-anarchist of another kind«. Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 225. 84  |  Es handelt sich im die St. Martin’s Hall Resolution. Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 225. 85  |  Vgl. dazu Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2, S. 65-74. 86  |  Das Zentralkomitee wird in der Literatur auch Zentral- oder Generalrat genannt. 87  |  Voser, Reizwort, S. 53.

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dominiert.88 Bereits auf den Kongressen in Genf im September 1866 und in Basel drei Jahre später begann eine immer stärkere Polarisierung in autoritäre Sozialisten und antiautoritäre Kollektivisten die I.A.A. zu charakterisieren.89 Im September 1871 schließlich versuchte Marx, der »[...] keinen Finger gerührt hat, zur Gründung der Internationale beizutragen [...]«90, auf einer außerordentlichen geheimen Konferenz in London, diese staatssozialistisch umzuformen und die Taktiken dementsprechend anzupassen. Der antiautoritäre Flügel hingegen hielt an der Idee der größtmöglichen Autonomie der Föderationen und Sektionen fest. Darüber hinaus wurde versucht, die Macht des Zentralkomitees einzudämmen, das 1871 unter Marx’scher Vorherrschaft stand.91 Das definitive Zerwürfnis zwischen den beiden Lagern in der I.A.A. ereignete sich beim Kongress in Den Haag vom 2.-7.9.1872. Dort kam es zum Ausschluss der antiautoritären Theoretiker James Guillaume, Adhemar Schwitzguébel und Michail Bakunin. Letzterem war eine Teil- und Stellungnahme am Kongress unmöglich, da die Reise nach Den Haag durch Länder geführt hätte, in denen Haftbefehle gegen ihn bestanden. Dies war Marx bekannt, sodass gemeinhin von einer politischen Wahl des Kongressortes ausgegangen werden muss.92 Nach dem Ausschluss von Bakunin, Guillaume und Schwitzguébel konnte Marx die I.A.A. relativ ungehin-

88  |  An keinem Kongress der Assoziation fanden nach Nettlau autoritär-sozialistische Vorschläge und/oder Resolutionen Mehrheiten. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd 2, S. 86. 89  |  »At the Geneva Congress the line of division between libertarians and authoritarians within the International was already beginning to show sharply«, (Woodcock, Anarchism, S. 226). Beim Basler Kongress schließlich traten die Differenzen der Flügel in der I.A.A. deutlich auf. Druckstelle dabei war die Frage um Erbschaftsrechte oder -steuern, die der antiautoritäre Flügel völlig verwarf, um gleiche Startbedingungen für alle schaffen zu können, während Marx auf eine gesetzliche Erweiterung der Erbschaftssteuer und eine Beschränkung des Erbschaftsrechts setzte. Vgl. Voser, Reizwort, S. 120. 90  |  So polemisch in Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2, S. 73. 91  |  Festgehalten sind die antiautoritären Bestrebungen im sogenannten Zirkular von Sonvillier, das 1872 von der kollektivistisch orientierten ›Fédération Jurassienne‹ verfasst wurde. Das Zirkular war eigentlich ein offenes Protestschreiben gegen die geheime ›Generalratskonferenz‹ von Marx, in der er sich einer autoritär-marxistischen Mehrheit versichern wollte. Dabei sollten u.a. Verbote gewisser Bezeichnungen einzelner Sektionen durchgesetzt werden. So sollten etwa die Adjektive ›kollektivistisch‹, mutualistisch‹, ›kommunistisch‹ nicht aber ›marxistisch‹ zur näheren ideologischen Bezeichnung von Sektionen der Internationale verboten werden. Das Zirkular betonte den embryonalen Charakter der Internationale, aus der schließlich die Neue Gesellschaft entstehen würde und die darum zwingend frei von Doktrin und Zwängen sein müsse. Das Zirkular wurde an viele Sektionen der I.A.A. versandt mit der Bitte, zu diesen Vorkommnissen Stellung zu beziehen. Unterzeichnet wurde es schließlich von den Sektionen Spaniens, Italiens und Belgiens. Sympathien für die formulierten Anliegen bekundeten Frankreich, Holland und England, die der wachsenden Macht des Generalrates der 1. Internationale ebenfalls kritisch gegenüberstanden. Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2. S. 192-193 und Wittkop, Unter der Schwarzen Fahne, S. 92-93. 92  |  Vgl. zum Den Haager Kongress und dem antiautoritären (Gegen-)Kongress in St. Imier Langhard, Die anarchistische Bewegung, S. 60-66, Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2, S. 192-205, Voser, Reizwort, S. 54-55.

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dert93 strategisch umformen. Allerdings wandten sich auch andere antiautoritären Kräfte und Sektionen von der I.A.A. ab und sie dünnte in der Folge immer mehr aus.94 Die antiautoritären Kräfte der ›Fédération Jurassienne‹ gründeten an einem Gegenkongress vom 15.-16.9.1872 auf diese Ereignisse hin eine explizit antiautoritäre und autonomistische, nicht aber rein anarchistische internationale Organisation im jurassischen St. Imier, dem anarchistischen Epizentrum der Zeit.95 Sie behielten den Namen I.A.A. bei, da sie sich als rechtmäßige Erbverwalter der ursprünglichen Internationale ansahen. Die neue I.A.A. verabschiedete ihr nur in einem Punkt dezidiert anarchistisches Programm96 auf dem ersten97 offiziellen antiautoritären Generalkongress in Genf vom 1.-6.9.1873. Darin wurde unter anderem der Generalrat nicht nur geschwächt, sondern abgeschafft.98 Der zeitgleich ebenfalls in Genf stattfindende autoritäre I.A.A. Kongress war schwach besucht, was als Zeichen für die Popularität der antiautoritären sozialistischen Richtung in den 1870 Jahren gelesen werden kann.99 Trotz des Zulaufs zerfiel die im antiautoritären Konsens aufgebaute Internationale wieder, wenngleich sie nie offiziell aufgelöst wurde. Bald wurde klar, dass die Opposition zu Marx’ autokratischen Ideen die einzige eindeutige Gemeinsamkeit war.100 Interne Querelen wie die immer noch auftretenden Streitereien der antiautoritären und der autoritären Flügel trugen ihren Teil ebenso dazu bei, wie die verschärfte Repression in den meisten europäischen Ländern.101 Die zunehmende Fixierung der I.A.A. einerseits auf die belgische Föderation, und andererseits vor allem auf die ›Fédération Jurassienne‹ zeigte sich zudem als wenig vorteilhaft. Belgien als vergleichsweise liberaler Ort verschwand durch die Hinwendung der belgischen Föderation zur Sozialdemokratie von der anarchistischen Landkarte.102 Und auch die Schweiz bot sich je länger je weniger an. Die prominente Rolle der ›Fédération Jurassienne‹

93 | Nach Woodcock wurden auch in Marx-nahen Kreisen kritische Stimmen laut ob der Legitimität des Kongresses von Den Haag und den dort gefassten Beschlüssen. Marx’ autokratisches Verhalten wurde auch I.A.A. intern kritisiert. Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 232. 94  |  Voser schreibt dazu: »Die marxistische Rumpforganisation blieb praktisch ohne Unterstützung [...].« (Voser, Reizwort, S. 53). 95  |  »Sur le terrain international, le coeur de L’anarchisme battait à Saint-Imier [...].« (Thomann, Les hautes lieux, S. 53) Dt.Ü: »Auf internationaler Ebene schlug das Herz des Anarchismus in Saint-Imier.« Bei Thomann findet sich auch eine historische Fotografie des effektiven Gründungsorts, des Hôtel de la Maison de Ville in der Rue Francillon 2, das später umbenannt wurde in Hôtel Central. Vgl. Thomann, Les hautes lieux, S. 51-54. 96  |  Wenn auch nur in einem Punkt explizit, so war die anarchistische Absicht zwischen den Zeilen unübersehbar. Woodcock, Anarchism, S,231. 97  |  Wohl traditionalistisch motiviert und verpflichtet verstand die neue I.A.A. den Genfer Kongress als sechsten Kongress und zählte also weiter, statt die neue Ära mit einer Neuzählung zu markieren. 98  |  Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 63-65. 99 | Woodcock unterstreicht dies: »[O]ne can safely assume that from 1872 to 1877 the Bakuninists commanded a following far greater than the Marxists.« (Woodcock, Anarchism, S. 230). 100  |  Vgl. ebd., S. 234. 101  |  Vgl. ebd., S. 240. 102  |  Oberländer, Der Anarchismus, S. 37.

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als »Wiege der internationalen anarchistischen Bewegung«103 übertrug sich nämlich auch auf deren Niedergang104, der das Ende der I.A.A. einläutete. Der Kongress der antiautoritären I.A.A. im belgischen Verviers 1877 sollte der letzte sein, obschon er gut besucht war und eine Resolution verabschiedete, die zumindest nach außen ein Bild von Einigkeit und Stärke vermittelte. Das Bedürfnis nach einer internationalen Organisation schwand trotz des Absterbens der antiautoritären I.A.A. nicht. Auf eine Initiative von belgischen Anarchisten hin wurde im Juni 1880 die Gründung einer ausschließlich libertären Internationale lanciert.105 Der internationale sozialistisch-revolutionäre Kongress fand schließlich vom 14.-19.7.1881 in London unter Mitwirkung von 43 Delegierten statt. Es wurde erneut eine antiautoritäre, explizit libertäre106 Internationale gegründet, wiederum mit der Bezeichnung I.A.A.107 Statt der Selbstbezeichnung wurde auf dem Londoner Kongress per Resolution das Studium von chemischen und technischen Wissenschaften diskutiert und empfohlen und zur Propaganda der Tat108 aufgerufen.109 In den folgenden Jahren erschütterte eine Reihe von anarchistisch motivierten Attentaten europäische Staaten wie auch die USA, was maßgeblich zur Ausformung der auch heute noch vorherrschenden Assoziationen von Bomben, Terroristen und blindwütiger Gewaltanwendung mit Anarchismus beitrug. Außer dem nun fast vollständigen Unverständnis von Nicht-AnarchistInnen für die Bewegung von außen und einer identitätskonstituierenden Note innerhalb der Verbleibenden brachte diese Kongressresolution vor allem flächendeckende Repressalien mit sich. Als Organisation scheiterte auch die zweite antiautoritäre I.A.A. Das per Resolution verabschiedete Korrespondenzbüro, das die einzelnen Föderationen, Gruppen und Einzelpersonen zusammenhalten sollte, kam genauso wenig zustande wie der geplante Folgekongress 1882. Auch die Versuche, weitere internationale anarchistische Kongresse auf die Beine zu stellen, scheiterten entweder völlig oder vermochten nur wenige Aktive zu mobilisieren.110 103  |  Ebd., S. 37. 104 | Mehr zur Geschichte der ›Fédération Jurassienne‹ siehe Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. 105  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 3, S. 177, Woodcock, Anarchism, S. 241. 106  |  Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 241. 107  |  Eine Durchsicht der bei Nettlau abgedruckten Protokolle des Kongresses ergab, dass keine spezifische Selbsteinschätzung gewählt wurde. Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 3, S. 202-223. 108 | Die Resolution wurde von Kropotkin verfasst und im Le Révolté vom 23.7.1881 und einigen anderen Zeitungen mit »leichten Veränderungen« (Nettlau) abgedruckt. Sie findet sich im Wortlaut wiedergegeben in Nettlau, Geschichte der Anarchie, Band 3, S. 221, wo u.a. folgende Empfehlung an alle der I.A.A. angeschlossenen Föderationen abgegeben wird: »[...] Es ist von strikter Notwendigkeit, alle Anstrengungen zu machen, durch Taten die revolutionäre Idee und den Geist der Empörung in dem Teil der Volksmassen zu propagieren, der sich noch abseits von der Bewegung befindet und Illusionen über die Legalität und die Wirksamkeit der legalen Mittel hegt.« 109  |  Für eine minutiöse Nachzeichnung der Verhandlungen dieses Kongresses vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 3, S. 202-231. 110 | Die geplanten Kongresse Barcelona 1884 und Paris 1887 fanden nie statt, die Kongresse in Paris 1889 und Chicago 1893 waren nur spärlich besucht und lieferten

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Mit der Gründung der sozialdemokratisch orientierten II. Internationale 1889 in Paris begann die dritte Periode des organisierten internationalen Anarchismus. Da eigene Organisationsversuche fehlschlugen, probierten anarchistische Kräfte in der II. Internationale Einsitz und Einfluss zu nehmen. Grunde dafür waren – neben dem offensichtlichen eigenen Unvermögen – das Selbstverständnis als SozialistInnen und ihre Selbstwahrnehmung als einzig legitime Erbverwalter der ersten I.A.A.. Kam es beim Gründungsprozess noch nicht zu Schwierigkeiten, so führten inhaltliche und methodische Uneinigkeiten zwischen dem sozialdemokratischen Gros und den anarchistischen Minderheiten beim zweiten Kongress in Brüssel 1891 zum Rauswurf oder Einlassverbot.111 Zum eigentlichen Eclat kam es auf dem Kongress in Zürich vom 6.-12.8.1893. Nach Marginalisierungen ihrer politischen Überzeugung und Motive durch deutsche Sozialdemokraten112 wurden die gut 60 anwesenden AnarchistInnen113 aus dem Saal geprügelt.114 Die in Zürich verfasste Resolution, wonach nur noch denjenigen Sozialisten Beitritt erlaubt würde, die die Notwendigkeit politischer Aktion bejahten, wurde am Londoner Kongress der II. Internationale von 1896 noch verschärft: Auf Einladungen an zukünftige Kongresse wurde fortan der Zusatz »Anarchists will be excluded«115 gedruckt. Der Londoner Kongress von 1896 markiert denn auch den endgültigen Bruch der radikalen Sozialisten in ein antiautoritäres und ein autoritäres Lager.116 Der Wille zur genuin anarchistischen Organisation nahm erst 1907 wieder Gestalt an in Form eines Kongresses in Amsterdam. Dieser Kongress wird verstanden als»[...] eines der bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte der anarchistischen Bewegung, die weder vorher noch nachher eine ähnlich denkwürdige Versammlung ihrer Prominenz aufzuweisen hatte«117. Trotz der Vielzahl an mentalen Großkalibern, wie Woodcock sie nennt118, war auch der Kongress von Amsterdam von keine Ergebnisse bzgl. der weiteren Vorgehensweise. Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 243244. 111 | Während die spanische Sektion am zweiten Kongresstag aus dem Saal gewiesen wurde, wurde den belgischen AnarchistInnen schon gar kein Zutritt gewährt. Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 234-235. 112 | Allen voran August Bebel. Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 318-327, Woodcock, Anarchism, S. 245. 113  |  Woodcock, Anarchism, S. 245. 114  |  Wie tief der Rauswurf den AnarchistInnen ging oder wie gewalttätig dieser gewesen sein musste, zeigt die Wortmeldung des italienischen Anarchisten Luigi Molinari am flugs einberufenen Gegenkongress im Kasino Aussersihl in Zürich vom 8.8.1893: »Wir dürfen auf keinen Fall auf den Arbeiterkongress zurückkehren, und wenn wir es dennoch tun wollen, so dürfen wir es nur bewaffnet tun«. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 322. 115  |  Woodcock, Anarchism, S. 248. 116  |  Dieser internationalen entspricht die lokale Entwicklung in Zürich nicht. Dort duldete die SP von 1905 bis 1920 – wenn auch widerwillig und mit gelegentlichen Ausschlussversuchen – eine innerparteiliche Linksopposition, die anarchistisch und anarcho-syndikalistisch beeinflusst war und entsprechende Positionen vertrat. 117  |  Oberländer, Der Anarchismus, S. 38. Abgesehen von Errico Malatesta glänzten v.a. jüngere Aushängeschilder der Bewegung mit ihrer Präsenz, so etwa Emma Goldman, Rudolf Rocker, Luigi Fabbri, Alexander Schapiro und Pierre Monatte. 118  |  Woodcock, Anarchism, S. 249.

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Glaubens- und Richtungskämpfen geprägt. Zwischen gewissermaßen klassisch anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Positionen baute sich ein inneranarchistischer Konflikt auf, der sich letztlich um das Solidaritätsprimat drehte. Stand bei Monattes anarcho-syndikalistischer Richtung die ökonomische Solidarität im Vordergrund, so war es bei Malatesta die moralische Solidarität, die keine Klassenschranken zuließ. In Amsterdam wurde also in der Folge diskutiert, ob der Anarcho-Syndikalismus mit seiner Reduktion auf eine Klasse in Methode und Ziel nicht dem anarchistischen Grundziel widerspräche: der kompletten ökonomischen, politischen und moralischen Befreiung der Menschheit als Ganzes. Abgesehen von der raumergreifenden Syndikalismusdebatte119 bot auch die Organisationsfrage Diskussionsstoff. Hierbei einigte man sich auf eine Internationale, die aber den Beteiligten größtmögliche Autonomie einräumt. Ein die Internationale verbindendes, fünfköpfiges Korrespondenzbüro sollte Archiv der Internationale sein und die Beziehungspflege der Beteiligten vereinfachen.120 Dieses Büro konnte aber nicht verhindern, dass auch diese zweite explizit anarchistische Internationale verpuffte.121 Bereits der zweite, auf das Jahr 1909 geplante Kongress fand nicht statt und auch das Bulletin dieser Internationale ging nach nur zwölf Nummern 1911 ein, als das Korrespondenzbüro seine Türen schloss.122 Der Beginn des Ersten Weltkriegs von 1914 verhinderte einen neuerlichen anarchistischen internationalen Kongress. Von deutschen, französischen und englischen Gruppen auf Herbst 1914 einberufen123, hätten auch hier wieder Organisationsfragen und die Neugründung der antiautoritären Internationale im Mittelpunkt stehen sollen.124 Der Kriegsausbruch sollte nicht nur in dieser Frage das Finden einer gemeinsamen anarchistischen Position verhindern. Auch der drohende Krieg und eine anarchistische Positionierung ihm gegenüber mussten die lokalen und nationalen Föderationen nun isoliert vornehmen. Der Krieg, mit anderen Worten, brachte weitere Unruhe ins anarchistische Lager und hinterließ »[...] einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Anarchismus [...]«125. Wichtige Theoretiker wie Peter Kropotkin, Jean Grave oder Charles Malato unterstützten die Entente.126 Andere, stellvertretend etwa Rudolf Rocker oder Errico Malatesta, bezogen Gegenpositionen und betonten in antimilitaristischem Duktus, dass Kriege sich »ausschließlich um die Interessen der herrschenden Klasse, nicht der Völ-

119  |  Bei Oberländer finden sich die Beiträge von Monatte und Malatesta im Originalton. Vgl. Oberländer, Der Anarchismus, S. 325-335 (Monatte) und S. 335-341 (Malatesta) sowie S. 342-346 für die diversen Anträge nach den beiden Voten. 120  |  Zu den Mitgliedern des Korrespondenzbüros wurden Errico Malatesta, Rudolf Rocker, Alexander Schapiro, John Turner, und Jean Wilquet bestellt. Vgl. Oberländer, Der Anarchismus, S. 39. 121  |  Woodcock trifft den Nagel auf den Kopf wenn er bemerkt, dass »[...] a familiar pattern was repeated« (Woodcock, Anarchism, S. 251). 122  |  Oberländer, Der Anarchismus, S. 39. 123  |  Geplant waren die Tage vom 29.8.-6.9.1924. Vgl. Linse, Organisierter Anarchismus, S. 311. 124  |  Ebd., S. 311-312. Die geplanten Traktanden finden sich ebd. S. 312, Anm. 20. 125  |  Oberländer, Der Anarchismus, S. 39. 126  |  Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 202.

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ker«127 drehten. Im Zuge des chauvinistischen Zeitgeistes waren aber auch TheoretikerInnen zu finden, die dem anarchismusimmanenten Antimilitarismus nicht immer treu blieben.128 Der vielgesichtigen Bewegung, der mit dem Aufschwung des Anarcho-Syndikalismus eine prononcierte Partitionierung widerfuhr, sollte eine weitere interne Separation nicht erspart bleiben.129 Linse führt zudem ins Feld, dass sich die anarchistische Bewegung in der unmittelbaren Vorkriegszeit in einem Moment mit Organisationsfragen beschäftigte, in der es vermutlich nachhaltiger gewesen wäre, eine der Kriegssituation angepasste konspirative Organisationsform zu finden. So hätte zumindest der Versuch gestartet werden können, während der Kriegszeit Einfluss auf revolutionäre Strömungen zu nehmen. Das misslang dem Anarchismus aber und trug wohl nicht unwesentlich dazu bei, dass sich die anarchistische Bewegung mit Kriegsbeginn selbst in der Bedeutungslosigkeit versenkte.130 Nach den Zerwürfnissen innerhalb der anarchistischen Bewegung kurz vor und während des Ersten Weltkriegs regenerierte sich in der Zwischenkriegszeit vor allem die anarcho-syndikalistische Strömung. Die Richtung, die seit der Jahrhundertwende stetig an Zulauf genoss, sollte sich auch nach den Kriegsjahren als massentauglichste und mobilisierungsfähigste erweisen. Kurzfristig waren anarcho-syndikalistische Kräfte Teil der III. Internationale, die im Juli 1920 gegründet wurde. Die rigide Führung dieser autoritären, bolschewistisch geführten I.A.A. führte aber bald zum Austritt der anarcho-syndikalistischen Kräfte. Auch das Verweilen in der pseudo-syndikalistischen Profintern, die ein Jahr später in Moskau gegründet wurde, hielt weitgehend aus denselben Gründen nicht lange an. Der Wunsch nach internationaler Organisation hatte allerdings weiterhin Bestand, sodass an der am 25.12.1922 in Berlin eine anarcho-syndikalistische Internationale begründet wurde. Die dritte antiautoritäre Internationale, der Kontinuität halber131 erneut I.A.A. genannt, versammelte Delegierte von Syndikaten aus zwölf Ländern und vertrat bei ihrer Gründung bereits mehr als eine Million Organisierte.132 Die zwischenzeitlich mehr als drei Millionen Anarcho-SyndikalistiInnen vereinende I.A.A. vermochte sich dennoch nicht zu halten und verlor bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs stetig an Bedeutung. Grund dafür waren die sich installierenden faschistischen Diktaturen Italiens, Portugals, Argentiniens und Deutschlands sowie der Spanische Bürgerkrieg, welche die großen Föderationen systematisch unterdrückten und verfolgten und ihr Schicksal so über weite Strecken besiegelten 127  |  Linse, Organisierter Anarchismus, S. 313. 128  |  Z.B. Erich Mühsam, wie Linse herausarbeitete. »Die Tagebücher Erich Mühsams zeigen, dass zu dieser Zeit ein heftiger innerer Konflikt zwischen seinem anarchistischen Kredo und dem gesellschaftlich dominanten Chauvinismus in ihm tobte, bei dem der Anarchismus einige Zeit den kürzeren zog.« (Ebd., S. 314). 129 | Auch auf nationaler Ebene kamen Organisationen nicht um dieses Problem herum, wie Linse für Deutschland festhält. Vgl. ebd., S. 313. 130  |  Ebd., S. 304. Er formuliert diesen Gedanken zwar gezielt für die deutsche Situation. Der lässt sich m.E. aber problemlos übertragen auf andere nationale Bewegungen sowie auch auf die internationale Bewegung, die parallel zur deutschen Bewegung fast alle Relevanz einbüßte. 131  |  Woodcock, Anarchism, S. 254. 132  |  Voser, Reizwort, S. 59.

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oder in den Untergrund verbannten.133 Die anarcho-syndikalistische I.A.A. hatte ihren Sitz bis 1932 in Berlin und migrierte danach in wechselnde Exile, unter anderem nach Amsterdam, Madrid und Stockholm. Sie existiert noch heute und residiert in Oslo, von wo aus noch immer Kongresse organisiert werden.134 Neben der Ideen- und Organisationsgeschichte hatte der Anarchismus auch ereignisgeschichtliche Implikationen. Mit der Konjunktur der dargestellten Entwürfe und Methoden anarchistischer Gruppierungen einher ging die mediale Aufmerksamkeit, wenngleich die gesamtgesellschaftliche Resonanz nicht einziger Auslöser für Kampagnen von und in der Öffentlichkeit war, wie zu sehen sein wird.135 Statt den zahlreichen kleinen und kleinsten anarchistischen Gehversuchen136 sind es vorwiegend die wenigen Großprojekte, die historiografisch immer wieder aufgegriffen werden und deshalb auch die im kollektiven anarchistischen Gedächtnis zu finden sind. Vornehmlich sind dies die Pariser Kommune137, die sogenannte 133 | Vgl. Oberländer, Der Anarchismus, S. 45, Voser, Reizwort, S. 59, Woodcock, Anarchism, S. 254-255. 134  |  Der 24. Kongress der I.A.A. fand vom 4.-6.12.2009 in Porto Alegre in Brasilien statt. Quelle: http://www.iwa-ait.org (Stand 20.4.2010). Die anarcho-syndikalistische I.A.A. hält sich also bis zum heutigen Tag, auch wenn der kulturelle Einfluss, den die AnarchistInnen der Jahrhundertwende auf die Gesellschaft hatten, ausbleibt. Vgl. dazu Cattepoel, Der Anarchismus, S. 127-128. Woodcock sieht das lange Überleben der arbeiterorientierten I.A.A. im Gegensatz zu den traditionell kurzlebigen, puristisch anarchistischen Internationalen begründet im größeren Pragmatismusgrad und der Realitätsbezogenheit der Ersteren. »The anarchist purist [...] is an individualist working with other individualists; the syndicalist militant – even when he calls himself an anarcho-syndicalist – [...] develops an organizational outlook, and this makes him more capable of carrying out fairly elaborate plans and of keeping a complex association working over a long period.« (Woodcock, Anarchism, S. 255). 135 | Vgl. Kap. 5. Von Läusen und Unkraut: AnarchistInnen und Anarchismus in der nicht-anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914. 136  |  Anarchistischen und anarchoiden Kommunen und Experimenten wie Schulen u.ä. im Frankreich der Belle Epoque widmet Beaudet ihre akribisch recherchierte Monografie. Vgl. Beaudet, Les milieux libres. Bouhey spricht zwar auch von »milieux anarchistes«, verwendet den Begriff aber eher in seiner soziologischen Bedeutung und liefert sozialgeschichtliche Details aus drei verschiedenen sozio-geografischen Gegenden in Frankreich in denen anarchistische Agitation auf fruchtbaren Boden traf. Vgl. Bouhey, Les Anarchistes, S. 183-189. Deutsche Kommunen, die dem Anarchismus zumindest in Spuren enthalten, werden v.a. in der wissenschaftlichen Literatur zur Lebensreformbewegung abgehandelt. Vgl. stellvertretend Buchholz/Latocha/Peckmann/Wolbert, Die Lebensreform. Eine überblickende Abhandlung anarchistischer Projekte und Kommunen in der Schweiz ist ein Forschungsdesiderat, einzig der immer wieder heranzitierte ›Monte Verità‹, der sich entgegen den Mystifikationen zumindest betriebswirtschaftlich nicht allzu lange mit anarchoiden Ansätzen aufhielt, ist mehrfach untersucht worden. Vgl. Schwab, Monte Verità. 137  |  In der Nacht zum 18.3.1871 erhob sich die Pariser Arbeiterschaft gegen die Regierung, die nach dem Friedensvertrag von Versailles eingesetzt worden war, und die v.a. für sich selbst und die reichen Oberschichten wirtschaftete. Nach der Bewaffnung versuchten verschiedene VertreterInnen der bis dahin massiv unter Hunger leidenden Arbeiterschaft in den folgenden zwei Monaten, Paris und Frankreich zu einem losen Zusammenschluss von souveränen Gemeinden zu transformieren. Die Mitglieder des ihr vorstehenden Gemeinde-

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Machno-Republik in der post-zaristischen Ukraine138, die Münchner Räterepublik139 und die Situation in der spanischen Provinz Katalonien während des spanischen Bürgerkriegs 1936-1939140, in der nach anarchistischen Prinzipien gelebt, rats (frz. Commune) gehörten dabei verschiedenen politischen Strömungen an, auch den AnarchistInnen. Die Pariser Kommune wurde am 26.5.1871 blutig niedergeschlagen und soll 20.000-30.000 Gefallene hinterlassen haben. Vgl. für eine kritische Bestandsaufnahme und Einschätzung Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2, S. 148-170. 138  |  Die von Nestor Machno angeführte, bäuerlich geprägte anarchistische Bewegung der Ukraine konnte von 1918-1922 nach gewaltsamer Enteignung und Vertreibung deutscher und österreichischer Grundbesitzer einige anarchistische Ziele umsetzen: Eine Neuverteilung des Landes wurde vollzogen, Gefängnisse wurden abgeschafft, Alphabetisierungskampagnen wurden durch-, umfassende Volksrechte eingeführt und Gemeinden wurden von unabhängigen, lokalen Räten verwaltet. Die Bewegung wurde schließlich durch die Rote Armee der Bolschewiki niedergeschlagen. Vgl. Stowasser, Träume und Wirklichkeit, S. 14-29. Vgl. auch den ausführlichen Augenzeugenbericht Arschinoff, Geschichte der Machno-Bewegung. 139  |  Die unter maßgeblicher Beteiligung von Anarcho-Sozialisten wie Erich Mühsam und Gustav Landauer am 7.4.1919 resp. am 13.4.1919 ausgerufene Erste resp. Zweite Räterepublik wurde am 3.5.1919 mit der Ermordung Landauers und der Internierung Mühsams für 15 Jahre blutig beendet. Sie hinterließ rund 600 Gefallene – dazu sind auch umgebrachte rechtsradikale Geiseln der Rotgardisten zu zählen. Die militärische Niederschlagung geschah auf Geheiß des Sozialdemokraten Johannes Hoffmann, der dazu die reaktionären preussischen Freikorpseinheiten einsetzte. 140  |  In Katalonien gelang es den bewaffneten anarchistischen und anarcho-syndikalistischen ArbeiterInnen, die in der ›Federacion Anarquista Ibérica‹ (FAI) und der ›Confederacion General de Trabajadores‹ (CNT) zusammengeschlossen waren, Militärputsche von General Franco abzuwehren und stattdessen Städte und Dörfer nach anarchistischen Prinzipien zu organisieren. In anderen spanischen Städten wurde ebenfalls versucht, gegen die faschistischen und von Mussolini und Hitler unterstützten Putschisten vorzugehen. Dies misslang aber oft und führte zu beispiellosen Massakern an in der CNT organisierten ArbeiterInnen. Betriebe, Cafés, Museen, aber auch Felder wurden kollektiviert. Einzelne Bauern zogen es vor, weiterhin für sich zu wirtschaften, was zugelassen wurde. Bei der Unterstützung der Verteidigung Madrids 1936 starb schließlich eine der Leitfiguren, der Anarchist Buenaventura Durrutti. Ein Rückschlag für die Bewegung und der Anfang vom Ende des anarchistischen Widerstands/Experiments in Spanien. Maßgeblich zum Niedergang trug Stalins realsozialistische UdSSR bei, die zwar – als einziger europäischer Staat nicht ›neutral‹ – den Republikanern Waffen lieferte, aber streng darauf achtete, dass sie von den zuvor völlig unbedeutenden Kommunisten Spaniens verteilt und organisiert wurden. Daneben, in einer Art Zweifrontenkrieg, säuberten Stalins AgentInnen zunächst das katalanische Hinterland, dann auch die Städte von AnarchistInnen und ihren Projekten. Die im gegenseitigen Einverständnis getroffenen Kollektivierungen wurden nach und nach rückgängig gemacht, sodass innerhalb der Republikaner bald ein – auch offen ausgetragener – Zwist zwischen AnarchistInnen und KommunistInnen begann, der zusätzlich zur Schwächung der antifaschistischen KämpferInnen beitrug. Im Februar 1939 triumphierten schließlich die faschistischen Truppen und marschierten in Barcelona ein. Vgl. Stowasser, Träume und Wirklichkeit, S. 112-134. Wittkop liest darüber hinaus bereits in der langen Tradition der Autonomiebestrebungen spanischer Provinzen, besonders der katalonischen, eine Neigung zum Anarchismus. Vgl. Wittkop, Unter der schwarzen Fahne, S. 222. Generell zum spanischen Anarchismus in geraffter Form Witt-

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organisiert und gewirtschaftet wurde. Interessanterweise sind es aber nicht so sehr diese Großprojekte, die für gewöhnlich zur Skizzierung der AnarchistInnen und damit des Anarchismus beigezogen werden. Isoliert durchgeführte, terroristische Aktionen Einzelner verfügten über weit größere Definitionskraft für die öffentliche Meinung als die Organisation einer Widerstandsarmee Machnos oder die Kollektivierung von öffentlichen Verkehrsmitteln Barcelonas. Letzten Endes haben sich die attentatsreichen 1890er Jahre, die als »blutiges Jahrzehnt«141 als charakteristisch anarchistisch in die Geschichte gerettet. Dass daraufhin dem Anarchismus und seinen Anhängern das Antliz krankhafter Mörder anhaftete, die nach nichts als Chaos und Zerstörung trachteten, kann kaum erstaunen: In der Dekade der 1890er forderten als anarchistisch deklarierte Attentate 60 Todesopfer und 200 Verletzte.142 Tatsächlich fanden anarchistische Attentate und Attentatsversuche schon früher statt, so etwa im Frühling und Frühsommer 1878 mit dem Attentat von Max Hödel im deutschen Unter den Linden auf den deutschen Kaiser Wilhelm I.143 Und sie hielten auch bis weit über die 1890er Jahre an, wie etwa die Ermordung des spanischen Ministerpräsidenten José Canalejas vom 12.11.1912 durch den spanischen Anarchisten Manuel Pardiñas zeigt. Ihre Blüte erlebten sie, zu Beginn noch theoretisch untermauert, mit der Propaganda der Tat in den 1880er und 1890er Jahren. Zwar distanzierte sich selbst der glühendste Befürworter Johann Most 1892 von der Propaganda der Tat.144 Diese inneranarchistischen Meinungsumschwünge kop, Unter der schwarzen Fahne, S. 222-246. Woodcock, Anarchism, S. 70-88. Wie immer sehr detailliert zum spanischen Anarchismus in früheren Jahren Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 3, die Jahre 1868-1881 betreffend S. 100-118, 1881-1886 betreffend S. 287311, schließlich Bd. 5, die Jahre 1889-1891 betreffend S. 120-146, die Jahre 1890-1893 betreffend S. 335-361. Mit dem katalanischen Experiment befasst sich ein Großteil der Literatur zum Anarchismus. 141  |  So benannt z.B. in Tuchman, Der stolze Turm, S. 102. Bach Jensen prägte den Begriff »Decade of Regicide« (Vgl. Bach Jensen, The United States, S. 16) für diese von mehreren Attentaten auf Königs- und Regierungshäupter geprägte Periode. 142  |  Die Opferzahlen nach Deflem, Wild Beasts, S. 277. Für die ganze Periode des »‚golden age of anarchist terrorism‹« verzeichnet Bach Jensen 150 Todesopfer und 460 Verletzte, was für die Zeit eine große Zahl war, bedenkt man die vergleichsweise ineffektiven Waffen mit ihrer kleinen Reichweite. Vgl. Bach Jensen, The United States, S. 16. 143  |  Am 11.5.1878 verfehlten drei von Hödel abgegebene Schüsse allesamt ihr Ziel, den deutschen Kaiser Wilhelm I. Dr. Karl Noibling, dessen Schrotflintenschüsse den Kaiser am 2.6.1878 trafen und ihn schwer verwundeten, konnte keinerlei Verbindung zum Anarchismus nachgewiesen werden. Er wurde in eine sozialdemokratische Ecke gedrängt. Diese willkürliche Verquickung führte – sehr zur Freude Bismarcks – dazu, dass am 22.10.1878 die Sozialistengesetze angenommen wurden, denen noch im Mai auf Antrag Bismarcks eine Mehrheitsunterstützung versagt blieb. Vgl. Wittkop, Unter der Schwarzen Fahne, S. 191-192. Vgl. zu Hödels Attentat Carlson, Anarchism in Germany, S. 115- 137, zu Noibilings Versuch ebd. S. 139-171. 144  |  Most, der »[...] an Stelle des Herzens eine Sturmglocke hatte« (Rocker, Johann Most: das Leben eines Rebellen. o.O. 1924, o. Seitenangabe, zit. in: Wittkop, Unter der Schwarzen Fahne, S. 188), distanzierte sich anlässlich des Attentatsversuchs von Alexander Berkman vom 23.7.1892 auf den Großindustriellen Henry Clay Frick in Pittsburgh, USA ein erstes Mal von der Propaganda der Tat. Wie Nettlau festhält, soll Most davor nicht nur Apologien und

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hatten auf die Zuordnungen der öffentlichen Meinung allerdings kaum Einfluss. Lange Zeit galt die Losung: Attentate waren anarchistisch, AnarchistInnen also AttentäterInnen, ganz egal, welcher politischen Überzeugung die AttentäterInnen tatsächlich angehörten.145 Die Verteufelung von AnarchistInnen ging zuweilen sogar über das sprichwörtliche hinaus: Der amerikanische Historiker Richard T. Ely beschrieb Anarchismus 1893 in einem Artikel als »‚the most dangerous theory which civilisation has ever had to encounter‹ and its rebellion against the state comparable to Satan’s revolt against God«146. Dieses Verständnis spielte auch in den juristischen Umgang mit AnarchistInnen hinein. Nahezu alle vermeintlich oder tatsächlich an Anschlägen Beteiligten wurden zum Tode verurteilt. Dabei spielte es zuweilen keine Rolle, ob die Schuld den Tätern in gewissen Fällen nicht nachgewiesen werden konnte.147 Neben der Fremdzuweisung stützte auch das Verhalten der Überführten die erwähnte Fremdwahrnehmung. So bekannten sich AttentäterInnen oftmals zu ihren Taten und nutzten die mediale Aufmerksamkeit bei Verhaftung, Gerichtsfall und Urteilsvollstreckung, um Propaganda für die anarchistische Sache zu machen. Neben der identitätsstiftenden Komponente eines solchen Attentats für den AttentäterInnen war die Vorstellung des Gerichtssaals als propagandistische Bühne eine der wenigen Gemeinsamkeiten bei anarchistisch motivierten Attentaten.148 Neben den Überzeugungsbekundungen in ihren Plädoyers bekannten sich nicht wenige Anarchisten auch kurz vor ihrer Exekution zum Anarchismus oder beschwörten bei dieser Gelegenheit die Rache, die ihrer Exekution folgen werde.149 Einige wenige konnten der Hinrichtung durch die ObrigDithyramben verfasst haben, sondern ehemals auch an Planung, Finanzierung und Inszenierung von terroristischen Attentaten beteiligt gewesen sein. Vgl. Nettlau, Die Geschichte der Anarchie, Bd. 3, S. 382. 145 | Bach Jensen stellt heraus, dass bei Weitem nicht alle Attentate der 1890er Jahre anarchistisch waren: »[T]he authors of many of these deeds were clearly revolutionaries and nationalists who did not share the anarchists’ desire to abolish hierarchical forms of centralized authority. [...] the culprits were in fact revolutionary socialists or deranged persons.« (Bach Jensen, The United States, S. 39-41, Anm.6). 146  |  Ely, Richard T. ›Anarchy‹. Harper’s Weekly. Nr. 37. 23.9.1893. S. 1226, zit. in: Bach Jensen, The United States, S. 17. 147  |  Vgl. für den Fall Saccho und Vanzetti Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. 148 | Was die einzelnen Attentäter zu ihrem Tun bewog, differiert häufig. Das hängt mit den i.d.R. isoliert individualistisch geplanten und durchgeführten Delikten zusammen. Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, Attentäter psychologisch zu durchleuchten und allenfalls Gemeinsamkeiten und Muster zu finden, im »gnadenlosen Krieg der gegen die Bourgeoisie erklärt wurde« (Emile Henry zit. in: Guérin, No Gods No Masters, S. 396). Ein Blick in Gerichtsprotokolle und Briefwechsel von Inhaftierten dürfte sicherlich einen guten Einblick in die Motivationstruktur geben. Vgl. für Emile Henry, der am 12.2.1894 im Pariser Café Terminus eine Bombe zündete und für 22 Verletzte und 1 Toten verantwortlich war: Henry, Letter to the Governor. 149  |  Das tat z.B. der französische Anarchist und Attentäter Ravachol. Nach einem explosiven Racheakt am 11.3.1892 auf den Richter Benoît und einem weiteren Bombenattentat auf den zuständigen Staatsanwalt Bulot am 27.3.1892 wurde er zum Tod durch die Guillotine verurteilt. Beide Attentate waren Racheakte für Polizeiübergriffe auf eine Reihe anarchistischer Demonstranten im Pariser Vorort Clichy. Seine Hinrichtung nahm er am 11.7.1892

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keit mittels Selbstmord entgehen150, andere wurden zu langen Haftstrafen begnadigt.151 Durch die politische Konstruktion einer international vernetzt agierenden geheimen AnarchistInnengemeinschaft152, konnten vermehrt Repressalien durchgesetzt und durchgeführt werden.153 Dazu gehörten Massenverhaftungen und -folterungen von verschiedensten politisch progressiv denkenden Gruppierungen. Mit der Schaffung von expliziten Anarchisten-Gesetzen wurden auch auf legalistischer Ebene Maßnahmen ergriffen.154 Neben den national spezifischen Gesetzen wurde mit einem letzten Ausruf »Vive L’Anarchie« an. Vgl. Tuchman, Der stolze Turm, S. 105. Auch für Ravachol fanden sich Rächer, die sich mit Dynamit gegen dessen Verhaftung, Verurteilung oder Hinrichtung protestierten, so z.B. Théodule Méunier. Das nährte die Angst und die Alarmbereitschaft sowohl der Pariser Polizei als auch der involvierten Personen bei Ravachols Gerichtsverhandlung. In einer kurzen Notiz der Freien Gesellschaft heißt es, dass dem zuständigen Polizeikommisar die Wohnung gekündigt wurde und er kein anderes Haus zur Miete fand aus Angst der VermieterInnen vor Racheakten. Vgl. dazu »Soziale Rundschau: Frankreich -- Polizeikommissär«, Freie Gesellschaft, 28.5.1892, Jg. 1, Nr. 6, S. 24. 150  |  So z.B. Louis Lingg, ein Verurteilter des Schauprozesses rund um die Haymarket Tumulte im amerikanischen Chicago von 1885. Er wurde angeklagt am Rande einer illegalen Mobilisierung der Chicagoer Arbeiterschaft eine Bombe in eine Polizistenreihe geworfen zu haben. Ziel der Mobilisierung war es, für den Acht-Stunden-Tag zu demonstrieren. Lingg wurde inhaftiert. Noch während der Haft schluckte er in die Zelle geschmuggeltes Knallquecksilber und machte sich zu einer Ikone des Anarchismus, indem er mit seinem Blut kurz vor Eintritt seines Todes »Lang lebe der Anarchismus« an die Zellenwand schrieb. Vgl. Tuchman, Der stolze Turm, S. 90. 151  |  So wurde etwa Reinhold Rupsch, der einzige reuige Täter beim missglückten Attentatsversuch auf das Niederwalddenkmal am 12.2.1885, begnadigt. August Reinsdorf und Emil Küchler, die auf ihren Positionen beharrten und nicht an der Richtigkeit ihres Tuns zweifelten, wurden am 7. resp. 12.2.1885 hingerichtet. Reinsdorf meinte zu seiner Tat: »[...] Hätte ich noch zehn Köpfe, so würde ich sie mit Freuden für dieselbe Sache auf das Schafott legen.« (ohne Angabe, zit. in: Langhard, Die anarchistische Bewegung, S. 262). 152  |  Die weiter oben bereits erwähnte Konstruktion der ›Schwarzen Internationale‹ ist nur ein Beispiel. Ein weiteres ist die mysteriöse ›La Mano Negra‹-Affäre in der spanischen Provinz Andalusien 1883. Gemäß Offizieren der Guardia Civil hatte sich die geheim organisierte ›La Mano Negra‹ zum Ziel gesetzt, alle Landeigentümer zu ermorden. Die politisch motivierte Inszenierung der ›Schwarzen Hand‹ hatte zur Folge, dass alle bekennenden spanischen AnarchistInnen sistiert und in der Hoffnung auf Geständnisse und Namen gefoltert und z.T. zum Tode verurteilt wurden. Die Folgen für die anarchistische Bewegung in Andalusien war verheerend: Von 30.000 Mitgliedern blieben nach der flächendeckenden Verfolgung noch 3.000 Aktive übrig. ›La Mano Negra‹ blieb derweil unaufgedeckt. Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 345. 153 | Vgl. für den Umgang mit AnarchistInnen in Spanien Tuchman, Der Stolze Turm, S. 111-114. 154 | Die sogenannten Anarchisten-Gesetze wurden in vielen europäischen Staaten eingeführt. In der Schweiz 1894 relativ spät verabschiedet und 1906 ergänzt (Vgl. Kap. 3.3 Die Schweiz und der Anarchismus), erließ England als erstes einen inhaltlich etwa deckungsgleichen Explosive Substance Act am 9.6.1884 zeitgleich mit Deutschland. Österreich zog nach am 27.5.1885, Frankreich am 2.4.1892, 12.12.1893, 18.12.1893 und am 25.7.1894 folgten Verschärfungen und Ergänzungen. In Italien trat das entsprechende Gesetz am 19.7.1894 in

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auch gesamteuropäisch gegen den Anarchismus vorgegangen. Davon zeugen die Anti-Anarchismus-Kongresse, die 1898 in Rom und 1904 in St.Petersburg einberufen wurden. Initialzündung für den Kongress in Rom war die Erdolchung der Kaiserin Elisabeth von Österreich in Genf durch den Anarchisten Luigi Luccheni, für das Abhalten des St.Petersburger Kongresses war der Impuls die Ermordung des US-Präsidenten William McKinley durch den Anarchisten Leon Czogolz. Der Preis der Attentate war hoch, der Gegenwert klein: Sie werden in der Anarchismusforschung als »[...] a series of heroic and useless and sacrificial acts which neither furthered the cause of anarchism nor lessened the weight of injustice borne by nineteenth-century man«155 eingeschätzt. Die Illegalisierung durch die Anarchisten-Gesetze zwang die Bewegung schließlich in den Untergrund. Dies erschwerte zwar den staatlichen Zugriff, erfüllte aber letztlich weitgehend die Absicht der Regierungen: Die Reichweite des Anarchismus konnte merklich eingedämmt werden und eine anarchistische Massenbewegung konnte so kaum entstehen. Trotz der konzertierten legalistischen Unternehmungen hielten anarchistische Attentate die Regierungen Europas und der USA noch bis ins 20. Jahrhundert hinein in Atem. Die fortlaufenden Attentate waren es auch, die die Regierungen weiter anstachelten in ihrem Unterfangen, den Anarchismus zu entpolitisieren und weiter dem Verbrechen zuzuschreiben.156 Mit der Erstarkung der anarcho-syndikalistischen Richtung kamen allmählich auch neue Tendenzen auf, die die deutlich auf Attentäter zugeschnittenen Maßnahmen nicht abzudecken vermochten. Andere Direkte Aktionen lösten die Propaganda der Tat ab und wurden zu neuen Manifestationen anarchistischen Gedankenguts in der Öffentlichkeit. Der Wille, rasch die Revolution herbeizuführen, materialisierte sich nun vielfältiger. Sabotage, (General-)Streik und Boykott kamen als weit massentauglichere Kampfmittel mit Doppelfunktion hinzu: Sie schüchterten UnternehmerInnen ein und bauten das Selbstwertgefühl von Unterdrückten auf. Vor allem die Vorstellung des Generalstreiks entwickelte eine Zug- und Schlagkraft, die Attentate Einzelner nie hatten.157 Von Frankreich aus erstarkte der Anarcho-Syndikalismus in der Schweiz, in Deutschland, England, Holland, Belgien, Böhmen und Skandinavien, vor allem aber wie oben erwähnt in Spanien. Kraft. Vgl. für juristische Details Lesch, Anarchistengesetze, S. 2. Voser folgt gemäß Fußnote (Voser, Reizwort, S. 12, Anm. 41) Langhard, und gibt für die Anarchisten-Gesetze Frankreichs 1881 als Einführungsjahr an. Diese Zahl tritt in der Literatur ansonsten nicht auf. 155  |  Woodcock, Anarchism, S. 294. 156  |  Geradezu programmatisch dafür liest sich die Botschaft Theodor Roosevelts and den amerikanischen Kongress, die er nach der Ernennung zum Präsidenten als Ersatz für den ermordeten McKinley ausrichtete. U.a. heißt es darin: »Anarchy is a crime against the whole human race; and all mankind should band against the anarchist. His crime should be made an offense against the law of nations [...]«. Auszüge der Botschaft Roosevelts sind abgedruckt in Langhard, Anarchistische Bewegung, Beilage IV, S. 466-471, hier zitiert ebd, S. 471. 157  |  Gemäß Langhard geht die Idee des Generalstreiks als anarchistisches Kampfmittel auf die 1901 erschienene Broschüre La grève générale der ›Gruppe für Propaganda durch Broschüren, Lieder und Affichen‹ aus dem belgischen Lüttich zurück. Die Gruppe setzte sich aus Delegationen anarchistischer Gruppierungen aus Paris zusammen. Vgl. ebd., S. 166-172.

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Trotz der Popularisierung, die dem Anarchismus so widerfuhr158, wurde er seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs vom Kommunismus als breiter rezipierte, radikale sozialphilosophische Tendenz allmählich abgelöst.159 Die in der Zwischenkriegszeit maßgeblich anarcho-syndikalistisch geprägte Bewegung kollabierte als Massenbewegung weitestgehend mit dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs. Fortan spielte die antiautoritäre, libertäre Spielart des Sozialismus einige Jahrzehnte lang keine tragende Rolle mehr in den Befreiungsbewegungen der westlichen Welt. Die Geschichte des Anarchismus – und parallel dazu seine Verfolgung – waren aber nie zu Ende.160 Fortbestand, Fortentwicklung und Verfolgung von AnarchistInnen in den europäischen Diktaturen bis und mit dem Zweiten Weltkrieg, eröffnen eine Serie chronologisch unmittelbar anschließender Untersuchungsgegenstände.161 Der Wiederauf bau der anarchistischen Strömungen in Europa nach den Weltkriegen162, das Wiederaufkommen anarchistischer Tendenzen sowohl in den Studentenbewegungen der späten 1960er Jahre163 als auch in den Jugendrevolten und alternativen Bewegungen der 1980er Jahre, die Adaptionen der anarchistischen Ideen und Deutungswelten durch die Bewegung der Autonomen sowie der HausbesetzerInnenszenen westlicher Großstädte164 und schließlich die Renaissance anarchistischer Methoden und Organisationsformen in der pluralistischen Anti-Globalisierungsbewegung165 seit den späten 1990er Jahren stellen weitere Ka158  |  Vgl. Voser, Reizwort, S. 69-71. 159  |  Die Über- und Niedergänge der einzelnen anarchistischen Bewegungen in Europa gestaltet sich regional unterschiedlich. Vgl. für eine detaillierte Analyse Woodcock, Anarchism, und Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2-5. 160 | Woodcock sprach vom Tod der Bewegung der mit dem physischen Tod der ersten Garde spanischer AnarchistInnen 1939 infolge der Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg eingetreten sei. In der mit einem Postscriptum ergänzten und in dieser Arbeit verwendeten Ausgabe, widerruft er diese Aussage gewissermaßen in Referenz auf die Jugend und Studentenbewegungen der 1960er Jahre, aber auch auf andere Beispiele für anarchistische Gruppierungen und Gemeinschaften seit 1939. Vgl. Woodcock, Anarchism, S. 443-451 (Epilog), und ebd., S. 452-463 (Post- script). Cattepoels Einschätzung von 1979 stimmt mit diesem Widerruf überein. Vgl. Cattepoel, Der Anarchismus, S. 168, Punkt II. 161  |  Siehe dazu den Sammelband von Graf, Anarchisten gegen Hitler, der in Essays verschiedener Autoren den Verlauf der einzelnen anarchistischen Bewegungen während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und den Niederlanden nachzeichnet. Für Frankreich empfiehlt sich zudem Sahuc, Un regard noir, und Berry, A History. 162 | V.a. Forschungen zu Deutschland sind diesbezüglich ergiebig, auch wenn »[...] der Anarchismus in Deutschland als gesellschaftspolitisch relevante Theorie und Praxis seit dem Ende der Weimarer Republik ›ausgestorben‹ zu sein [...]« (Raasch, 68 und die Folgen, S. 31) schien. Vgl. Raasch, 68 und die Folgen, Degen, Die Wiederkehr, Degen, Anarchismus in Deutschland. Für Frankreich finden sich in Bourseillers Betrachtung der Geschichte der ›Ultra-Gauches‹ auch anarchistische anarchoide und neo-anarchistische Strömungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Vgl. Bourseillier, Histoire Générale, S. 181-503. 163  |  Vgl. hierzu für Deutschland Henning/Raasch, Neoanarchismus, Holzapfel, Vom schönen Traum, Raasch, 68 und die Folgen. 164  |  Vgl. mit gesamteuropäischen Blickwinkel Katsificas, The Subversion. 165 | Vgl. Curran, 21st Century Dissent, und ebenso schwärmerisch wie bewegungsnah Gordon, Hier und Jetzt.

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pitel der Anarchismusgeschichte dar, auf die hier nur hingewiesen werden kann. Das soll deshalb an so prominenter Stelle geschehen, da diesbezüglich besonders in Schweiz noch große Forschungslücken bestehen. Ein Umstand, der nicht zuletzt deshalb erstaunen muss, weil die Schweiz mit der Jugendbewegung 1980 in Zürich und den ersten großen Anti-WTO-Protesten 1998 in Genf erneut die Heimat war von zumindest anarchoiden Bewegungen, die in Atlantika Widerhall fanden. Überblickend lässt sich sagen, dass die Geschichte des Anarchismus von einer inhaltlichen Diffusität und einer geschichtlichen Diskontinuität charakterisiert ist. Beides, die inhaltlichen und die chronologischen Zäsuren sind zu einem guten Teil in der permanenten staatlichen Repression begründet, die der Bewegung gegenüberstand. Es wäre aber verfehlt, diese monokausal für den Verlauf der Anarchismusgeschichte verantwortlich zu machen.166 Für die abermaligen Brüche und Neuanfänge, für die ideengeschichtliche Auffächerung, für die zahlreichen Strömungen, Splittergruppen und Schulen ist vielmehr auch die dem Anarchismus immanente Theorie- und Organisationslosigkeit verantwortlich zu machen. Sie ist es, die den Anarchismus im Singular unwirklich und einen übergreifenden Bewegungscharakter undefinierbar machen. Sie erschwerte eine einheitliche, überregionale Entwicklung, verunmöglichte sie vielleicht sogar. In diesem Sinne ist es nicht erstaunlich, wenn die Bewegung in klassischer Forschungsoptik als erfolglos beurteilt wird. Allerdings greift die Bewertung anhand der Höhe von Mitgliederzahlen, von parlamentarischem Machteinfluss, von politischen Erfolgen oder nachhaltiger Wirkungsgeschichte bei der Sozialen Bewegung des Anarchismus nicht wirklich. Schließlich ging es den AnarchistInnen explizit nicht darum, zentralistisch, parteipolitisch und einheitlich zu sein und aufzutreten. Mit freier Assoziation und einer Föderation der Freiwilligkeit war gerade vielmehr das Gegenteil das Ziel. Soll der Anarchismus und seine Wirkungsmacht bewertet werden, so müssen seine Struktur und sein Selbstverständnis berücksichtigt werden. Den Erfolg von Anarchismus als politischer Philosophie an der Zahl eingereichter Volksinitiativen, Petitionen oder errungenen Parlamentssitzen zu messen, verfälscht eine Beurteilung. Als Kriterium eignet sich eher ein Blick in Organisation und Vorgehen neuer politischer AkteurInnen. Ob bei der politischen Arbeit anarchistische Wege beschritten und ebensolche Methoden angewendet werden, lässt weit treffendere Aussagen darüber zu, ob anarchistische Weltanschauungen über Aktualität und Schlagkraft verfügen. Dass sich im November und Dezember 2009 unzufriedene StudentInnen in ganz Europa mit Direkten Aktionen wie Besetzungen über die von der Politik 1999 verabschiedete Bolognareform Luft machten, dass im Mai 2011 in Spanien und im Oktober und November desselben Jahres weltweit im Rahmen von ›Occupy Wallstreet‹ Bewegungen neben Direkten Aktionen wie Platzbesetzungen konsensorientierte Generalversammlungen auf einer breiten Ebene praktizierten, zeigt zumindest an, dass Anarchismus kein Theorie-Kartenhaus aus der Mottenkiste des vorletzten Jahrhunderts ist, sondern durch seine Struktur ein aktuelles Sammelsurium dynamischer und praktikabler Agitationsformen und Herangehensweisen geblieben ist

166  |  Anders sieht das Linse, der in der Repression sogar den Existenzgrund des Anarchismus während der deutschen Kaiserzeit sieht. Vgl. Linse, Organisierter Anarchismus, S. 376.

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3.1.3 Kurzgeschichte des Anarchismus-Begriffs 167 Der Beginn der Begriffsgeschichte ist im Antiken Griechenland angesiedelt. Dort entstand der Begriff ›an-archia‹, der zunächst technisch zur Bezeichnung von führer- oder herrscherlosen Gruppen wie Heeren oder Seefahrern eingesetzt wurde.168 Die erste politische Verwendung findet sich bei Xenophon169, der unter ›an-archia‹ ein Jahr verstand, in dem es keinen Herrscher gab. Aristoteles und Plato170 verwendeten den Begriff ›an-archia‹ pejorativ zur Bezeichnung der Degeneration der Demokratie. Diese setzte dann ein, wenn eine funktionierende Demokratie in den Zustand der Gesetzlosigkeit umschlug. Da im antiken Griechenland der Zustand der Regierungs- und Herrscherlosigkeit mit Unordnung und Zügellosigkeit gleichgesetzt wurde, mit negativ verstandener Ungebundenheit und sittlicher Zuchtlosigkeit, kann eine negative Färbung schon damals geortet werden. Umso mehr, als dazu kam, dass das maßlose Streben nach Freiheit zu völliger Gesetzlosigkeit führe, was nicht zuletzt das ursprüngliche Gefühl für Gut und Böse verdrängte. Mittelalterliche Kirchengelehrte verwendeten ›Anarchie‹ synonym für das Wesen Gottes. Grund dafür war die Übersetzung von ›archos‹ als ›principium‹, also als Anfang. Anarchie war damit, was ohne Anfang war, also absolut seiend. Politisch wurde der Begriff im Mittelalter nur an wenigen Stellen verwendet, was sich erst mit der verstärkten Aristotelesrezeption wieder ändern sollte. In diesem Rahmen wird auch der bis dahin nur griechische Begriff in die lateinische und in Nationalsprachen überführt. Im 15. und 16. Jahrhundert knüpfte Machiavelli171 wieder an Plato und Aristoteles an, als er im Rahmen seiner Abhandlung von Staaten in drei gute Herrschaftsformen unterteilte.172 Den drei als gut verstandenen Systemen Monarchie, Aristokratie und Demokratie wies er drei spezifische Entartungen zu: die Tyrannei, die Oligarchie und die Anarchie. Erasmus von Rotterdam173 betrachtete – wie später auch Calvin174 und Thomas Hobbes175 – Tyrannei und Anarchie als pathologische Entartungen jedweder Staatsformen an, wobei die Anarchie als die verwerflichere der beiden gewertet wurde. Bei Denis Diderot176 findet sich das genaue Gegenteil. Zwar sind 167 | Dieses Kapitel stützt sich auf Ludz/Meier, Anarchie, Anarchismus, Anarchist, und Dierse, Anarchie, Anarchismus. Da sich die beiden Artikel eher ergänzen, wurde auf die genaue Ausweisung von Textstellen zugunsten einer höheren Lesefreundlichkeit verzichtet. Ludz/Meiers Beitrag erschien 1972 und wurde 2004 unverändert wiederveröffentlicht. Weiter wurde auf Schmück, »Anarchie«, und Voser, Reizwort zurückgegriffen, die ihre diesbezüglichen Abschnitte hauptsächlich auf Ludz/Meier aufbauen. 168  |  So etwa bei Homer im 8. Jahrhundert v. Chr., aber auch bei Herodot (490-425/420 v. Chr.) oder Euripides (482-408 v. Chr.) 169  |  580-480 v. Chr. 170  |  384-355 v. Chr resp. 427-347. v. Chr. 171 | 1469-1527. 172 | So Ludz/Meier, Anarchie, Anarchismus, Anarchist, S. 57. Dierse verzeichnet John Case als Urheber dieser Dreiteilung. Vgl. Dierse, Anarchie, Anarchismus, S. 270. 173 | 1466-1536. 174 | 1509-1564. 175 | 1588-1699. 176 | 1713-1784.

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Anarchie und Tyrannei auch bei ihm Entartungen, aber er schätzt die Anarchie als kleineres Übel als die Despotie ein, zumal Letztere Unterdrückung bringe, Erstere immerhin Humus der Revolution sei und damit die gesellschaftliche Regeneration vorantreiben würde. Friedrich von Schlegel177 tat es Diderot gleich: »Der absolute Despotismus ist [...] ein ungleich größeres politisches Übel, als selbst Anarchie.«178 Wenn es auch das kleinere war, so galt Anarchie auch bei Schlegel und Diderot noch immer als Übel. Auch Gottlieb Fichte179 verwendete den Anarchie-Begriff in einem negativen Sinn, obschon er die ansonsten durchaus libertäre Position vertrat, dass es das oberste Ziel eines Staates sein sollte, sich selbst überflüssig zu machen.180 Seit der Französischen Revolution kam es zu einer immer weiteren Verbreitung des Anarchie-Begriffs, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhielt. Parallel dazu setzte sich die Abwertung des Begriffs fort. Anarchie wurde immer mehr zu einem Schlagwort in Publizistik und Propaganda und so »[...] zu einem Mittel der politischen Diffamierung mit Hilfe der Sprache«181. Der Anarchie-Begriff wurde fast ausschließlich182 im negativen Sinn gebraucht. Während Pierre-Joseph Proudhon Anarchie anfänglich identisch mit Karl Marx zur Bezeichnung der planlosen Produktionsweise verwendete, besetze er die Begriffe ab 1840 mit seiner Schrift ›Qu’estce que la propriété?‹ eindeutig positiv, indem er die Anarchie als erstrebenswertes Gesellschaftsideal festsetzte. Im selben Werk bezeichnete sich Proudhon auch selbst als ›anarchiste‹.183 Für den deutschen Sprachraum findet nach den ersten Erwähnungen184 eine Wendung zum Anthropologischen statt. Anarchie, respektive ›anarchia‹ bezeichnete nicht mehr die Absenz von Senat, Gerichten und Gesetzen in einer Gesellschaft, sondern wurde in anthropologischem Licht als Charakteristikum gesehen und wurde als Eigenschaft des prähistorischen, vorstaatlichen Zusammenleben angenommen, ebenso wie sie als Bezeichnung einer Gesellschaft mehrerer Familien ver177 | 1772-1829. 178 | Schlegel, Friedrich, Versuch über den Republikanismus, Textauszug in: Vester, Michael (Hg.), Die Frühsozialisten 1789-1848. Bd. 2. Reinek b. Hamburg, 1971. S. 37f., zit. in: Schmück, »Anarchie«, S. 9, Anm. 7. 179 | 1762-1814. 180  |  Schmück, »Anarchie«, S. 10. 181  |  Dierse, Anarchie, Anarchismus, S. 274. 182  |  Eine Ausnahme ist bekannt: Marx verfasste im Mai 1872 die Broschüre ›Angebliche Spaltungen in der Internationale‹, in der er gegenüber den Vorwürfen des Zirkulars von Sonvillier Stellung nimmt. In Marx’ Antwort findet sich – neben Verunglimpfungen Bakunins als Intriganten, der eine Diktatur in der Internationale errichten wolle – die Formulierung, dass die Anarchie das Ziel aller Sozialisten und der proletarischen Bewegung sei. Vgl. Voser, Reizwort, S. 122 und Schmück, »Anarchie«, S. 10. 183  |  Dies erstaunt in einer Zeit, in der diese Begriffe ausschließlich negativ besetzt waren. Ebenfalls libertär gesinnte ZeitgenossInnen nannten sich der stark negativen Konnotationen wegen kaum AnarchistInnen. Auch in den 1870er Jahren vermieden etwa noch federführende Figuren der ›Fédération Jurassienne‹ aus denselben Gründen eine dahingehende Selbstbezeichnung. Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 320. Schmück schließt daraus, dass eine gewisse Koketterie Proudhons mit dem politischen Radikalismus nicht ganz auszuklammern sei. Vgl. Schmück, »Anarchie«, S. 20. 184  |  Zu finden in Johann Micraelius’ Lexicon Philosophicon: Terminorum Philosophis Usitatorum, aus dem Jahre 1661, zit. in: Schmück, »Anarchie«, S. 10, Anm. 11.

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standen wurde, die sich gegenseitig verteidigen ohne einen gemeinschaftlichen Oberherrn anzunehmen.185 Vor allem Ersteres deckt sich mit dem Verständnis Kants186 von Anarchie: Sie bedeutete für ihn Gesetz und Freiheit ohne Gewalt. Das Brockhaus’sche Conversations-Lexikon von 1814 verstand dagegen unter Anarchie einen »Volksverein ohne gemeinschaftliche Regierungsform«.187 In der Erläuterung zum Begriff wurde sie dennoch in ein negatives semantisches Feld gestellt, indem sie als Zustand der Unordnung und Auflösung definiert wurde.188 Die 1819 erschienene Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste griff sowohl die Idee der prähistorischen Ansätze als auch die aristotelische Idee der Anarchie als Degeneration der Demokratie auf und differenzierte in der Folge in eine vorhergehende und in eine nachgehende Anarchie.189 Darunter wurde einerseits eine ursprüngliche, eher positiv konnotierte Organisationsform verstanden. Andererseits gleichzeitig aber auch eine einer anderen Organisationsform nachfolgende und somit eher negativ konnotierte. Eine eindeutig positive Wertung erfuhr der Anarchie-Begriff bei einem der Gründungsväter der literarischen Strömung ›Junges Deutschland‹, bei Ludwig Börne190. Er hielt fest: »Freiheit geht nur aus Anarchie hervor – [...] so haben wir die Lehren der Geschichte verstanden«.191 Diesen sowie Proudhons anti-etatistischen Ideen schloss sich um 1843 Moses Hess192 an, der erste Vertreter des frühen Anarchismus in Deutschland.193 Im Gegensatz zu Anarchie lassen sich für die Begriffe Anarchist, Anarchismus oder anarchistisch keine griechischen oder lateinischen Bedeutungsursprünge finden.194 Die französische Entsprechung des AnarchistInnen-Begriff ›anarchiste‹, tritt das erste Mal im Jahr 1791 auf195; 1793 wurde es als diffamierendes Schlagwort von den meisten Parteien in Frankreich zur Diskreditierung eines politischen Gegners eingesetzt.196 Ursprünglich als gehässige Bezeichnung für Jakobiner verwendet, wurde der Anarchiste-Begriff bereits 1792 mit einem durchwegs negativen, abwertenden Akzent versehen. Der deutsche Anarchist-Begriff wurde ab 1793 weitgehend analog zum französischen verwendet, wenngleich sich auch kritische Stimmen zum polemischmanipulativen Gebrauch finden lassen.197 Nichtsdestotrotz hat sich im deutschsprachigen Raum aber »[...] die rein negative, polemisch-diffamierende Bedeutung der Begriffe ›Anarchie‹, ›Anarchist‹ und ›Anarchismus‹ im späten 18. und frühen 19. 185  |  So vom Lexikografen Scheidemantel (k.A.), Johann C. Adelung (1732-1806) oder Johann G. von Justi (1705-1771). Vgl. Ludz/Meier, Anarchie, Anarchismus, Anarchist, S. 68. 186 | 1724-1804. 187  |  Zit. in: Schmück, Anarchie, Anarchist und Anarchismus, S. 4. 188  |  Ludz/Meier, Anarchie, Anarchismus, Anarchist, S. 68. 189  |  Schmück, »Anarchie«, S. 11. 190 | 1786-1837. 191  |  Zit. in: Schmück, »Anarchie«, S. 12. 192 | 1812-1875. 193  |  Schon um 1850 wechselte Hess allerdings das Lager und vertrat fortan Marx’ Überlegungen und bezeichnete Proudhon als bürgerlich. 194  |  Ludz/Meier, Anarchie, Anarchismus, Anarchist, S. 79. 195  |  Ebd., S. 79. 196  |  Schmück, »Anarchie«, S. 15-16. 197 | So etwa bei den Enzyklopädisten C. von Rotteck und Carl Wecker im Jahre 1819 in ihrem Bestreben, den Anarchie-Begriff aus der aktuellen, von der französischen Revolution stark beeinflussten Tagespolemik herauszulösen. Vgl. Ludz/Meier, Anarchie, Anarchismus, Anarchist, S. 69-71.

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Jahrhundert durchgesetzt«198. Eine neuerliche Abwertung erfuhr der außerhalb der Bewegung fast ausnahmslos negativ konnotierte Anarchismus-Begriff in den in dieser Arbeit betrachteten 1880er, 1890er und 1900er Jahren. Gründe dafür liegen im weitgehend politischen Gebrauch der Presse. Mindestens Mitschuld am negativen Bild in der Öffentlichkeit dürften aber auch die mit Verbalradikalismus getränkten Flügel der bewegungseigenen Presse haben. Nicht zuletzt sie selbst verquickten die Lexeme Anarchie, Anarchismus, AnarchistIn und anarchistisch mit entfesselter, unstillbarer Zerstörungswut, mit Bildern von zu allem entschlossenen RächerInnen. Ähnlich wie bei Proudhon fand eine positive Adoption der Begriffe Anarchismus und Anarchist von Mitgliedern des antiautoritären Flügels der ersten Internationale 18641872 statt. Im Versuch, mit den gängigen und normativen Missverständnissen und Fehleinschätzungen der öffentlichen Meinung über die Anarchie aufzuräumen, hielten sie dazu zunächst an der Schreibweise ›An-Archie‹ fest. Das übersahen Gegner innerhalb und außerhalb der I. Internationale aber.199 Auch die Anhänger des antiautoritären Flügels selbst verwendeten alsbald die Schreibweise ohne Bindestrich, was mitunter auch von AnarchistInnen selbst als monumentaler Irrtum taxiert wurde. So formulierte der Anarchist Leval Gaston noch rund 100 Jahre später 1969: »Alles in allem hat die öffentliche Meinung die Phantasie Proudhons nicht beachtet und sich geweigert, sich [dessen Sinngebung, d.V.] zu unterwerfen. Vielmehr blieb die negative Bedeutung des Wortes Anarchie erhalten. Und seit 1840 haben sich die Anarchisten unermüdlich, aber völlig unnütz darum bemüht, die öffentliche Meinung dazu zu veranlassen, etwas anzunehmen, was sie nicht will. Und wir haben uns, weil wir hartnäckig darauf bestehen, den Sinn des Wortes gegen den allgemeinen Willen zu verändern, außerhalb der öffentlichen Meinung gestellt.«200

Diese Ansicht hat auch im 21. Jahrhundert noch Gültigkeit. Denn obschon seit der Jahrtausendwende neue anarchistische Strömungen entstanden sind, heißt anarchistisch im nicht-anarchistischen Gebrauch noch immer wild, chaotisch, gefährlich, destruktiv und gewaltaffin, im besten Fall außergewöhnlich, auffällig und selbstdarstellerisch, was aber je nach kultureller Prägung ebenfalls negativ aufgefasst werden kann.201 Bezüglich der Selbstbezeichnung stellt Kuhn zwei gegenläufige Tendenzen fest. Für die Situation in den USA scheinen Anarchie-Begriffe bis in die 2000er Jahre nicht negativ konnotiert gewesen zu sein, eine anarchistische Identität schien »verhältnismäßig unbelastet«202, wie er schreibt.203 198  |  Schmück, »Anarchie«, S. 17. Davon ausgenommen sind selbstredend die anarchistischen Schriften. 199  |  Dies wohl absichtlich, wie Kropotkin meinte. Schließlich half auch dieser Mosaikstein dabei, die Behauptung zu stützen, dass es die einzige Bestrebung von AnarchistInnen sei, Unordnung und Chaos anzustiften. Vgl. Kropotkin, Peter. Worte eines Rebellen. Wien-Klosterneuburg, 1922. S. 69, zit. in: Schmück, »Anarchie«, S. 22. 200  |  Leval, Gaston. Pour une renaissance du mouvement libertaire, in: Anarchicie Anarchia nel mondo contemporaneo. Atti del Convegno promosso dalla Fondazione Luigi Einaudi (Torino, 5, 6 e 7 dicembre 1969. Turin, 1971. S. 591, zit. in: Oberländer, Der Anarchismus, S. 12. 201  |  Vgl. Degen/Knoblauch, Anarchismus, S. 7. 202  |  Kuhn, »Neuer Anarchismus«, S. 62. 203  |  Die Einschätzung scheint mir ein wenig unrealistisch. Genau wie in Europa auch war die Berichterstattung rund um das anarchistische Attentat auf Präsident McKinley 1901

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Ein nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme entstandenes Vakuum führte zum massenhaften Aufgreifen von Anarchie-Begriffen in Selbstbezeichnungen, was letztendlich auch zur Inhaltsentleerung der Begriffe führte: »[D]ank einer gemeinsamen Anstrengung von AktivistInnen, JournalistInnen und AkademikerInnen wurde der Anarchismus quasi über Nacht von seiner Obskurität befreit und zu einem Allerweltsbegriff«204 im Zuge der erhöhten Aufmerksamkeit nach den Anti-WTO-Protesten in Seattle 1999. Die Situation der Anarchie-Begriffe und ihrer semantischen Felder in Europa blieb sich dagegen gleich, da eher inhaltliche Neudefinitionen bemüht wurden als nomenklatorische: »[E]s fehlte das Vakuum an radikalen Selbstbezeichnungen, das der Anarchismus in den USA zu füllen imstande war.«205 Die abschließende Frage nach dem Verhältnis von Begrifflichkeit und Stereotypisierung kann zu keiner klaren Antwort führen. Wie zu sehen war, sind Begrifflichkeiten und Bezeichnungen geformt. Genauso aktiv und passiv gestaltet sind auch die Stereotypisierungen, die gleichzeitig aus ihnen resultieren und sie bedingen. Was in der Stereotypisierung gipfelt, fußt letztlich auf einer endlosen Abfolge von Aktionen und Reaktionen von Beteiligten und Unbeteiligten in Form von bewegungseigener und bewegungsfremder Presse, den veröffentlichten politischen Meinungen und dem, was die immer mehrteilige Öffentlichkeit für sich herausnimmt und verwertet.206 Wer in diesen verschränkten Prozessen Huhn und/oder Ei ist, ließe sich wohl mit einer umfassenden Diskursanalyse ermitteln. Da eine solche nicht Hauptteil dieser Arbeit ist, bleibt sie Forschungsdesiderat.

durchwegs negativ, politisiert und pejorativ, was an den Anarchie-Begriffen kaum vorbeigegangen sein dürfte. Vgl. zur Berichterstattung nach dem Attentat Bach Jensen, The United States. Auch die alles andere als korrekte Verlautbarung des FBI in den 1960er und 1970er Jahren, dass die wenigen Schlüsselfiguren der New Left Bewegungen in den USA nur anarchistische Aktivitäten im Sinn gehabt hätten, deutet darauf hin, dass die Anarchie-Begriffe zumindest in den späten 1970er Jahren noch eine diffamierende Wirkung gehabt haben. Vgl. für die ›red-baiting‹-Strategien der US-amerikanischen Bundespolizei FBI inner- und unterhalb den New Left-Gruppen Blackstock, Cointelpro, S. 149-171. Dass sich diese über mehr als 80 Jahre perpetuierten negativen Konnotation in knapp 20 Jahren aufgelöst haben sollten, erscheint mir unwahrscheinlich. 204  |  Kuhn, »Neuer Anarchismus«, S. 62-63. 205  |  Ebd., S. 64. 206 | Anders sieht das Varias, der die Stereotypisierung der anarchistischen Bewegung kausalistisch als Folge der sprachlichen Ungenaugkeit bezeichnet. Bei Varias mimen die verschwommene Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung ganz klar das sprichwörtliche Huhn und die Stereotypisierung das Ei. »Confusion was also evident in public consciousness as the urge to equate anarchists with terrorists often proved overwhelming. From this blurring of the lines emerged a stereotyping of the movement.« (Varias, Paris and the Anarchists, S. 166, Herv. i.O.). Dass AnarchistInnen diese weitgehend medial konstruierte Brücke nie gelöst hätten, liegt nach Varias’ These daran, dass sie ästhetisch die Phase des »[...] ›glorious terror‹ of the French Revolution [...]« (ebd., S. 166) reflektieren und zitieren wollten. Vgl. ebd., S. 166-167.

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3.2 D er A narchismus und die S chweiz Wie bereits gezeigt wurde, tangierten sich der Anarchismus und die Schweiz an mehr als einem Punkt der Geschichte. Neben Organisationen, die Kongresse abhielten, hatte die Schweiz vor allem mit AnarchistInnen als Einzelpersonen zu tun. Dank einem anfänglich liberalen, im Verlauf des 19. Jahrhunderts aber immer restriktiveren Asylgesetz207 war die Schweiz temporäre Wahlheimat vieler anarchistischer Theoretiker, die sie als Agitations- und Propagandabühne rege nutzten. Der Preis dafür war eine lückenlose Überwachung208 und mit fortlaufender Zeit immer häufiger und schneller auch die Ausweisung209. Trotz drohender Strafen wurden anarchistische Zeitungen, Kleinschriften, Pamphlete und Abhandlungen in der Schweiz geschrieben, gedruckt und vertrieben. Dabei wurde nicht nur für den Binnenmarkt produziert. Auch Länder, in denen anarchistische Inhalte verboten waren wie Frankreich, Österreich und Deutschland wurden bedient. Die Fülle an verschiedenen Zeitungen vermag ob der relativ kleinen Zahl210 an Aktivisten 207  |  Vgl. Im Hof, Mythos Schweiz, S. 185-190. Im Hof schreibt, dass es Flüchtlingen ohne Lobby schwer gefallen sein dürfte, Asyl zu bekommen, weil sich niemand für sie einsetzte. Gemäß einem Artikel des Weckruf dürfte dabei auch die Menge an verfügbarem Geld eine Rolle gespielt haben. Asylsuchende mussten eine Kaution von CHF 1500-2000,- hinterlegen, wenn sie Asyl beantragten. Vgl. Knonauer, »Das schweizerische Asylrecht«‚ Der Weckruf, 7.1905, Jg. 3, Nr. 14, S. 3-4. Gruner/Dommer halten fest, dass die »grosse Mehrheit der Schweizer« die seit 1888 einsetzende Verschärfung resp. deren Einschränkung des Asylgesetzes befürwortete. Auch die verstärkte Überwachung, selbst wenn sie nicht-ausländische SozialistInnen betraf, wurde als »[...] natürliche Folge der Gefahren, denen die Schweiz ausgesetzt gewesen war und wohl auch in Zukunft sein würde« (Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 253) erachtetet und dementsprechend durchgewunken. 208  |  Vgl. dazu die Akten der Politischen Polizei im Bundesarchiv generell zu AnarchistInnen und Anarchismus BAR E21/14041-14060 und – wohl exemplarisch für Kantone mit größeren Städten – spezifisch für Zürich BAR E21/14059. 209  |  Vgl. für eine Liste ausgewiesener AnarchistInnen in den Jahren 1879-1902 Langhard, Anarchistische Bewegung, Anhang 5, S. 472-479. 210  |  Absolute Zahlen zur anarchistischen Bewegung sind schwierig zu finden und zudem eine delikates Problem. Als selbstdefinierte kollektive Bewegung musste es den AnhängerInnen ein Anliegen sein, eine möglichst breite Abstützung zu haben, auch um ihre Methoden und Ziele rechtfertigen zu können. Selbsteinschätzungen tendieren daher dazu, sehr hohe MitstreiterInnenzahlen auszuweisen. Offizielle Schätzungen sind ebenfalls mit Vorsicht zu verwenden, da auch diese Bezifferungen ein Politikum sein konnten: Zwecks Isolation der Aktiven oder zur Aufrechterhaltung des kollektiven Sicherheitsempfindens wurde tendenziell tief beziffert. Zahlen aus der bürgerlichen oder anderweitig nicht- resp. antianarchistischen Presse wurden ebenso verdreht und entweder heruntergespielt, oder, um die Angst in der Bevölkerung vor einer drohenden inneren Gefahr zu schüren, maßlos übertrieben. So konnte es vorkommen, dass aus 1200 beschlagnahmten anarchistischen Broschüren auch schon mal 150.000 wurden. Vgl. »Das »Soldaten-Brevier«, Der Vorposten, 3.1907, Jg. 1, Nr. 11, S. 4. Exemplarisch für das daraus entspringende Dilemma der Bezifferung der anarchistischen Bewegung soll hier der Verfasser der 1885 bundesrätlich veranlassten AnarchistenUntersuchung zitiert sein. Müller meinte: »Die stärksten anarchistischen Gruppen [...] zählen nicht über 20, höchstens 30 Mitglieder und meist finden sich nur 4, 5, 6 Genossen, selbst

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in der Schweiz vorerst zu erstaunen: Zwischen 1885 und 1914 erschienen in deutscher und französischer Sprache 24 Titel.211 Die hohe Publikationsdichte und die relativ großen Auflagenzahlen kann man als Zeichen dafür deuten, dass bewusst für eine breitere, internationale anarchistische Leserschaft geschrieben wurde.212 Die Schweiz tritt in der Anarchismusgeschichte aber nicht nur als einigermaßen sicherer213 Publikationsort auf. Sie übernahm auch organisationsgeschichtlich eine in grösseren Städten.« (Müller, Bericht, S. 173). Demgegenüber steht die Schätzung eines ehemals in Genf aktiven Anarchisten in der Zeit, der in einem Interview von schweizweit 5000 Anarchisten und 2000 Nihilisten sprach. Vgl. Müller, Bericht, S. 85. Aufzeichnungen der Politischen Polizei schließlich sind ebenfalls nur als Grobschätzung zu gebrauchen, da sie nur allzu oft Personen als AnarchistInnen brandmarkten, die gar nichts mit Anarchismus zu tun hatten. Beispiele aus dem »gigantischen Haufen an Groteskem« (Engeler, Grosser Bruder, S. 43), der das unermüdliche Zusammentragen und Archivieren ergab, lassen sich in Engeler, Grosser Bruder, und Dubach, Strizzis, finden. In einer Verlautbarung von 1910 vor dem Nationalrat führte Bundesrat Ludwig Forrer nicht ohne Stolz an, alle in der Schweiz lebenden Anarchisten dank einer 1902 eingeführten Kartei mit Namen zu kennen. Das Total belief sich auf 150 Peronen in 25 Städten. Vgl. dazu Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 428 und Engeler, Grosser Bruder, S. 49. Oberländer hält fest, dass der Wirkungsbereich des Anarchismus generell immer auf kleine Minderheiten beschränkt blieb und eine Massengefolgschaft nur mit Kompromissen mit der Gewerkschaftsbewegungen gewonnen werden konnte, wie etwa in Frankreich, Italien und Spanien. Er betont, dass »keineswegs alle Anarchisten [Kompromisse] zu akzeptieren bereit waren« (Oberländer, Der Anarchismus, S. 13). Weiter problematisch in der akkuraten Bezifferung sind die laufenden Neugründungen von Gruppierungen und Kollektiven. Diese ließen eigentlich auf ein großes Reservoir an organisationswilligen AnarchistInnen schließen. Tatsächlich sind aber häufig dieselben Namen zu lesen in immer neuen Konstellationen, so die Gruppierungen überhaupt Lesbares zurückgelassen haben oder mehr als ein Mitglied zählten, was bspw. bei Bakunins zahlreichen Bünden oft nicht der Fall gewesen zu sein schien: »Bakunin liebte es, obskure, verschwörerische Organisationen ins Leben zu rufen, deren einziges Mitglied er oft selbst blieb.« (Hutter/Grob, Schweiz und Bewegung, S. 115, Anm. 41). 211 | Die nicht berücksichtigte italienischsprachige anarchistische Presse der Schweiz zählte von 1872-1914 rund 18 Titel, die italienische Ausgabe des Le Réveil nicht mitgezählt. Während die älteren Titel lediglich in der Schweiz erschienene Blätter mit klarer italienischer Orientierung sind, war mehr und mehr auch die Situation in der Schweiz Thema. Vgl. Zesso, La presse anarchiste italienne, und Zesso, Le verbe magique. 212 | Für eine solche Einschätzung spricht die Formulierung Nettlaus: »Nun traten die Schweizer in die Bresche« in Bezug auf anarchistische Publikationen nach der Jahrhundertwende. Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 302-303. Auch das zweijährige Verbot des Weckruf in Deutschland (vgl. BAR E21/14059 [8/42]) unterstreicht die internationale Reichweite schweizerischer anarchistischer Zeitungen. 213  |  Ein Beispiel von auf bundesrätliches Geheiß hin konfiszierten und/oder verbotenen anarchistischen Zeitungen ist die in Neuenburg gedruckte Solidarité, Organ der Westschweizer Sektionen der 1. Internationale. Bereits am 6.9.1870 wurde die Solidarité konfisziert, die tags zuvor zur Unterstützung der Pariser Revolution vom 4.9.1870 aufgerufen hatte,. Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 29-30. Auch die anarchistische Zeitung Avant-Garde wurde unterdrückt. So erließ der Bundesrat am 10.12.1878 eine Weisung an die Post, die Avant-Garde nicht mehr zu transportieren. Des Weiteren beorderte er die Neuenburger

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Vorreiterrolle ein. Mit der Spaltung der Westschweizer Internationalen-Sektion ›Fédération Romande‹ in einen kollektivistisch-anarchistischen und einen liberalen Flügel 1871 wurde auf lokaler Ebene eine Entwicklung vorweggenommen, die sich 1872 mit denselben Akteuren später in der I.A.A. wiederholen sollte. Der kollektivistisch-anarchistische Flügel gab sich bei seiner Gründung vom 12.11.1871 in Sonvilier den Namen ›Fédération Jurassienne‹ und nahm fortan eine »[...] herausragende Stellung in der Geschichte der anarchistischen Bewegung ein: Sie [die ›Fédération Jurassienne‹, d.V.] bildete den Prototyp anarchistischer Selbstorganisation [...].«214 Als solcher war sie auch die treibende theoretische und organisatorische Kraft hinter der ab 1872 bestehenden antiautoritären Internationalen. Wie die ›Fédération Jurassienne‹ nahm die antiautoritäre I.A.A. eine föderalistisch-kollektivistische Form an und gestaltete sich als internationaler Zusammenschluss völlig autonomer Sektionen.215 Die ›Fédération Jurassienne‹ bezeichnete sich selbst nie als anarchistisch, wenngleich sie ihren Grundsätzen nach »[...] bei einem vollgültigen Anarchismus angelangt [...]« war.216 Der in fast allen Ländern seit 1874 anhaltende Verfall der anarchistischen Bewegungen ergriff die ›Fédération Jurassienne‹ erst 1876.217 In der Forschungsliteratur werden für den Niedergang vornehmlich wirtschaftlich bedingte Umwälzungen innerhalb des Industriezweiges der Uhrenmacherei angeführt, in dem sehr viele Mitglieder der Fédération beschäftigt waren. So sehen Hutter/Grob »eindeutig ökonomische Ursachen«218: »Die Einführung des Fabriksystems 1876-1878 besiegelte das Schicksal der Bewegung, soziale Indifferenz trat an Stelle des anarchistischen Solidaritätsprinzips.«219 Voser weist auf die 50%ige Arbeitslosigkeit bei den Uhrenmachern nach Einführung der Fabriken hin, die durch die ›Fédération Jurassienne‹ nicht abgefedert werden konnte.220 Nettlau führt den Maschinismus und die steigende amerikanische Konkurrenz in der Uhrenindustrie an sowie die Tendenz jurassischer Gruppen, nunmehr autonom agieren zu wollen, was die Arbeiter verunsicherte und isolierte.221 Gruner sieht den langsamen Zerfall in der personellen und ideologischen Umdisponierung von einem utopistischen Anarchismus hin zu einem terroristischen Anarchismus begründet 222 und erklärt die sinkende Popularität und rückläufige Mitgliederzahlen Regierung, den Herausgeber der Zeitung Paul Brousse mit Nachdruck dazu »[...] zu bewegen, den Druck und die Verbreitung derselben sofort einzustellen« (o.A., zit. in: ebd., S. 125). 214  |  Hutter/Grob, Schweiz und Bewegung, S. 92. 215 | Der antiautoritären Internationale schlossen sich die Föderationen Italiens, Spaniens und Belgiens an. Vgl. Voser, Reizwort, S. 122. 216  |  Vgl. dazu Bigler, Der libertäre Sozialismus, S. 160. Bigler vermutet, dass sich die Jurassier wegen der mehrheitlich pejorativ gebrauchten und stark negativ konnotierten Anarchismusbegriffe in der Zeit nicht als solche bezeichneten. Auch Thomann spricht von den Mitgliedern der ›Fédération Jurassienne‹ als »les anarchistes jurassiens« (z.B. in Thomann, Les hauts lieux, S. 6). 217  |  Voser, Reizwort, S. 126. 218  |  Hutter/Grob, Schweiz und Bewegung, S. 93. 219  |  Ebd., S. 93. 220  |  Voser, Reizwort, S. 127. 221  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 293. 222  |  Dieses Auseinanderdriften fand im bereits stark zusammengeschmolzenen Kreis auf den letzten beiden Kongressen der ›Fédération Jurassienne‹ statt, bei der sich eine interne

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weiter mit finanziellen Unvermögen bei Krisen oder Streiks.223 Ursächlich dürfte am ehesten eine Kombination aus den postulierten Gründen gewesen sein.224 Ergebnis war jedenfalls die Besiegelung der Geschichte der ›Fédération Jurassienne‹ mit dem einberufenen Kongress 1880.225 Parallel zu den wirtschaftlichen Faktoren entstand eine öffentliche wie offizielle antianarchistische Stimmung, die sich ab Mitte der 1870er Jahre laufend verschärfte. In einem vitiösen Zirkel bewirkte diese eine Radikalisierung der Bewegung, was im Umkehrschluss den Missmut der nicht-anarchistischen Bevölkerung anschwellen ließ. Eine Beispiel für diese gegenseitig sich befeuernde Praxis der Radikalisierung sind die Kommunenfeiern, die anarchistische Kreise in Bern 1876 und 1877 abhielten. Beide endeten wegen Mitführens von roten Fahnen in Massenprügeleien mit Publikum und Polizei. Ebenfalls an einer roten Fahne sollte sich knapp ein halbes Jahr nach der ersten Kommunenfeier eine subtilere Form staatlicher Repression zeigen. Nachdem der achte Kongress der antiautoritären I.A.A. vom 26.-27.11.1876 mit dem Saal des Schwellenmätteli einen Tagungsort in Bern gefunden hatte, wurde der Pächterin Baumgartner von den Berner Behörden mit der Kündigung gedroht, wenn sie die gehisste rote Fahne vor ihrem Lokal dulden würde.226 Während die Übergriffe von 1876 noch juristische Folgen für drei die

Spaltung in einen kollektivistisch orientierten Teil und einen anarcho-kommunistischen Teil vollzog. Gruner nennt den letzteren Teil immer wieder in unnötig dramatisierender Weise ›terroristisch‹. Auch in anderen Passagen erscheint Gruners Wortwahl wissenschaftlich gewagt, bspw. wenn er von ausländischen Anarchisten als »sehr eigenwilligen Fremdlingen« (Gruner, Die Arbeiter, S. 840) spricht oder sich auf die Schweiz wiederholt mit dem Begriff »unser Land« bezieht und damit seinem Text eine patriotisch- nationalistische Note verleiht durch den so entstandenen Ausschluss nicht-schweizerischer LeserInnen: »Unser Land wird [...] Schauplatz des Treibens internationaler Revolutionäre.« (Gruner, Die Arbeiter, S. 837). Vgl. auch Gruner, Die Arbeiter, S. 837-844. Zum Ablauf der ›Fédération Jurassienne‹ vgl. Voser, Reizwort, S. 129-130. 223  |  Gruner hält lapidar fest: »Im Moment, da der Arbeiter materielle Hilfe erwartet, bieten ihm die Führer Utopien.« (Gruner, Die Arbeiter, S. 830). Als weiteren Grund des Mitgliederexodus führt Gruner die zunehmenden Möglichkeiten der organisierten Arbeiterschaft an, auf parlamentarisch-demokratischem Wege Einfluss zu nehmen. So wurde 1874 bei der Bundesverfassungsrevision das Referendum eingeführt, ab 1891 bestand die Möglichkeit, Volksinitiativen einzureichen. Beides stellten politische Instrumente dar, derer sich in den Kantonen und im Bund zunehmend auch Arbeiter bedienen konnten. Vgl. Gruner, Die Arbeiter der Schweiz, S. 828-831. Für Details zu den politischen Rahmenbedingungen der Schweiz in dieser Periode vgl. Ruffieux, Schweiz des Freisinns. Der These, dass die Amelioration die Umwälzung ersetzt haben könnten und eine Massenbekehrung eingesetzt hätte, die revolutionär gesinnte AnarchistInnen zu reformerisch arbeitenden SozialdemokratInnen transformierte, relativiert Gruner gleich selbst. So führt er an, dass »die direkte Demokratie [...] nicht eben fruchtend für die noch jungen sozialdemokratisch resp. sozialistisch argumentierenden Parteien und Arbeiterbünde« (Gruner, Parteien in der Schweiz, S. 131) gewesen sei. 224  |  Cattepoel signalisiert zudem Interesse an psychologischen Prozessen, wenn er Resignation als Grund anführt. Vgl. den hart formulierenden Cattepoel, Der Anarchismus, S. 168. 225  |  Thomann, Les hauts lieux, S. 6. 226  |  Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 70.

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Demonstration bedrohende Bürger hatte227, wurden 1877 nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden, Polizisten und Gaffern ausschließlich Demonstranten verurteilt.228 Schwerer als die verordneten staatlichen Strafen wog allerdings das Verbot einer neuerlichen Kommunenfeier in Bern für das Jahr 1878. In kausalem Rückgriff auf den »blutigen Auftritt«229 1877 erließ die Berner Polizei ein generelles Demonstrationsverbot für den 17. und 18.3.1878. Zur effektiven Durchsetzung des Verbotes wurde daraufhin das Militär auf Pikett hin aufgeboten.230 Dahingehend Wasser auf die repressiven Mühlen war die Häufung von anarchistisch motivierten Attentaten auf europäische Monarchen im ausklingenden siebten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts231. Die gleiche Funktion erfüllten Dithyramben auf solche Attentate in anarchistischen Zeitungen sowie das »[...] Bekenntnis der damals bedeutendsten Anarchisten zum kommunistischen Anarchismus«232 und zur Propaganda der Tat. Das öffentliche Ansehen des Anarchismus und die Repression verhielten sich in der Folge weiterhin reziprok: Ersteres schwand, Letztere blühte.233 Dabei hatte die Repression nur teilweise den vom Staat beabsichtigten Effekt. Zwar konnte die Bewegung in der Schweiz mit Folgen und Folgesfolgen der Repression dezimiert werden. Rück- oder Wegzüge von AnarchistInnen aus der Schweizer Bewegung waren durchaus zu verzeichnen. Handkehrum ergriff die Verbleibenden eine Radikalisierung, wenn auch zumeist auf der verbal-theoretischen Ebene. So etablierte ironischerweise die Repression die Propaganda der Tat 227  |  Bußen von je CHF 30,- und Entschädigungen von je CHF 15,- mussten von drei Personen an das Organisationskomitee der Demonstration geleistet werden. Vgl. ebd, S. 68. 228  |  Die Strafen betrugen 60, 40, 30 und 10 Tage Gefängnis und die solidarische Übernahme der entstandenen Kosten. Sechs Personen wurden zudem für drei Jahre des Kantons Bern verwiesen. Vgl. Langhard, S. 73. 229  |  Gruner, Die Arbeiter, S. 835. Gruner ortet im »blutigen Auftritt«, in der »von beiden Seiten heimlich ersehnten Strassenschlacht« die Eröffnung der terroristischen Phase im schweizerischen Anarchismus. (Vgl. ebd., S. 835-836), die er als strategisch geplant und theoretisch unterfüttert erachtet. Mit dieser These bleibt Gruner allein, obwohl sich bei Kropotkin zu dieser Zeit mühelos Stellen finden lassen, die den propagandistischen Wert einer Eskalation durchaus willkommen heißen. Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 2, S. 258. Allerdings wäre es zu einfach, die Position Kropotkins als alleingültig anarchistische zu verstehen. James Guillaume bspw. war die damit einhergehende Stempelung zum Aufrührer alles andere als genehm. Als freischaffender Privatlehrer war er auf ein sauberes Image angewiesen. Damit stand er diametral zu den damaligen Überzeugungen von Kropotkin und Brousse. Diese glaubten in dieser Phase noch fest an die Propaganda der Tat und dass mit Terror die Sympathie der Massen zu erreichen sei. Vgl. Gruner, Die Arbeiter, S. 836-837. 230  |  Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 75. 231  |  Dazu gezählt wurden die oben bereits erwähnten Attentatsversuche Max Hödels und Karl Noibilings auf den deutschen Kaiser Wilhelm am 18.5.1878 resp. am 2.6.1878. 232  |  Voser, Reizwort, S. 130. 233  |  Augenscheinlichste Formen der Repression in der Schweiz waren die Ausweisungen von ausländischen Anarchisten. In dieser Zeit betraf dies Errico Malatesta (29.5.1879, nochmals 1891), Peter Kropotkin (23.8.1881), deutsche und österreichische Anarchisten (1884 bis 1885), und italienische Gesinnungsgenossen (1890-1905). Für eine tabellarische Aufstellung der Ausweisungen vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, Anhang 5, S. 472-479.

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als einzig gangbarer Weg zum Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Dass in der Propaganda der Tat das Allheilmittel lag, glaubten auch August Reinsdorf, Hermann Stellmacher, Anton Kammerer, Michael Kumics und Julius Lieske.234 Die fünf in der Schweiz angesiedelten anarchistischen Exilanten aus Deutschland und Österreich machten sich auch an die Umsetzung der theoretisch von immer mehr Kehlen besungenen Methode. Sie versuchten den deutschen Kaiser zu sprengen (Reinsdorf 1883), erschlugen zwecks Mittelbeschaffung Apotheker, Bankiers und Geldwechsler (Kammerer und Kumcis 1883, Kammerer und Stellmacher 1884), versuchten Polizeichefs zu erschießen (Kammerer 1884, Lieske 1885) und übten Raubmorde an Polizeiagenten aus (Stellmacher 1884).235 Die Schweiz diente ihnen dazu als Planungsort, ausgeführt wurden die Attentate in Österreich, Frankreich und Deutschland. Diese und weitere anarchistisch motivierte Attentate trugen einen großen Teil zur Diffamierung des Anarchismus in der Öffentlichkeit bei, zumal die Täter brutal vorgingen und teilweise auch Kinder erschlugen, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befanden. Fortwährende verbalradikale Apologien dieser Attentate in der bewegungseigenen Presse der 1880er und 1890er Jahre taten das ihrige, um die von Regierung und Politik geschürte sprichwörtliche »Anarchisten-Angst«236 gedeihen zu lassen. In der Folge wurde das rote Tuch Anarchismus immer röter.237 Viel mehr vermochte der auf dem Londoner Kongress 1881 eingeschlagene Weg mit Emphase auf der Propaganda der Tat nicht zu bewirken: »Die Sozialrevolutionäre waren eben nur wenige und die wirklich aktionsfähigen und opferbereiten Männer unter ihnen waren noch unendlich spärlicher vorhanden«238. Was die terroristische Phase dem Anarchismus gebracht hat, ist nur auf den ersten Blick einfach zu beantworten. Nettlau ist sicherlich beizupflichten, wenn er konstatiert, dass die Chancen zu einer Etablierung als Massenbewegung so definitiv nicht gut standen: »Das indifferente Volk blieb unberührt und das sozialdemokratische und gewerkschaftliche Volk blieb ebenso unberührt. [...] Ein geistiger und morali234  |  Voser beschreibt die vier schließlich zum Tode verurteilten Raubmörder und Attentäter als eigentliche terroristische Gruppe, geht aber weder auf Personen noch auf Attentate genauer ein. Vgl. Voser, Reizwort, S. 130. 235  |  Vgl. für Eckdaten und Details bzgl. Taten und Personen Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 249-286. Gruner/Dommer pochen auf eine getrennte Betrachtung des Attentatsversuchs von Reinsdorf auf Kaiser Wilhelm. Sie verpassen es allerdings anzuführen, weshalb dieses Attentat nicht in einer Reihe mit den Attentaten Kammerers, Stellmachers, Kumics und Lieskes stehe. Gruner/Dommer erwähnen weiter die zeitliche Nähe des Beginns der Attentatserie zu einer anarchistischen Konferenz in Zürich, die vom 5.-7.8.1883 stattfand. Mangelnde Quellen lassen allerdings keine Aussagen zu etwaigen Verbindungen zu. Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 220. 236  |  Hutter/Grob, Schweiz und Bewegung, S. 111-112. 237  |  Hutter/Grob verorten sogar eine Wahrnehmungsverschiebung der öffentlichen Meinung in diesen Jahren. Galten politische Emigranten und Freiheitskämpfer bis anhin als Opfer, so wurden sie neu als Täter angesehen. Anarchisten wurden zusehends als innere Bedrohung empfunden. Ebd., S. 111-112. Auch Gruner/Dommer stellen einen Wertewandel in der Betrachtung von Asylsuchenden fest: Antimonarchische Freiheitshelden seien zu zerstörungswütigen gemeinen Verbrechern umgedeutet worden. Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 423-424. 238  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 3, S. 332.

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scher Kontakt mit dem Volk bestand nirgends«239. Allerdings verhießen die Attentate auch die Möglichkeit, Märtyrer und Momente kollektiver Kommemoration zu schaffen, womit Traditionen und Rituale für die Bewegung etabliert werden konnten. Diese Phase hatte damit nicht nur eine gemeinschaftszerstörende, sondern auch gemeinschaftskittende Funktion. Nichtsdestotrotz dürften die Attentate für die breite Masse keine attraktivitätssteigernde Wirkung auf den Anarchismus ausgeübt haben. Dass er, ob der dominanten Rolle von Emigranten in der schweizerischen Bewegung zudem als importiert geschildert wurde, tat das Übrige, um ihn nachhaltig zu diskreditieren.240 Diese Kerbe wurde vom Umstand vertieft, dass im anarchistischen Milieu immer wieder Spitzel aufflogen, die von ausländischen Regierungen als Agents Provocateurs eingesetzt und dafür bezahlt wurden, lokale Gruppierungen zu Taten aufzureizen, um sie bei der schließlichen Begehung der Taten zu überführen und so eine Ausweisung zu erwirken.241 Ein Engagement in anarchistischen Kreisen mochte dadurch auf Außenstehende umso unattraktiver gewirkt haben.242 Dennoch wäre es falsch, diese medial aufgebauschten Vorkommnisse überzubewerten und anarchistische Ideen und Weltdeutungen als rein ausländisches Phänomen zu verstehen. Diese vermochten durchaus auch Schweizer und Schweizerinnen243 zu begeistern. Ihre größte Reichweite hatten anarchistische 239  |  Ebd., Bd. 3, S. 332. 240  |  Hutter/Grob, Schweiz und Bewegung, S. 111-112. Interessanterweise stellt Bach Jensen dasselbe Sentiment auch in den USA fest. Vgl. Bach Jensen, The United States, S. 17. 241 | Vgl. für verschiedene Beispiele Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 235-241. 242  |  Vgl. zuweilen tendenziös und mit eigentümlichen Begriffen hantierend Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 215-223 und Carlson, Anarchism in Germany, S. 321-393. 243  |  Über die Rolle der Frauen in der anarchistischen Bewegung der Schweiz, die hier nur deshalb bloß in einer Fußnote Thema ist, weil sie nicht zum integralen Forschungsgegenstand dieser Arbeit gehört, ist, abgesehen von einer biografischen Arbeit über Paulette Brupbacher-Raygrodski (Vgl. Alge, Die Brupbacherin) und dem in jüngster Zeit sehr gut dokumentierten Leben und Wirken der zeitweilig anarcho-syndikalistisch und anarcho-sozialistisch agitierenden Margarethe Hardegger (Vgl. Bochsler, Ich folgte meinem Stern, Boesch, Gegenleben, Boesch, Biografie und Soziale Bewegung, Schindler, Vie et luttes) m.E. kaum publiziert worden. Eine Betrachtung weiterer anarchistischer oder anarchoider Aktivistinnen wäre ebenso angebracht wie wünschenswert. Zu Anarchistinnen außerhalb der Schweiz sind ebenfalls bloß einige wenige Werke erschienen. Auch sie liegen in der großen Mehrzahl in Form von Biografien vor. Weitaus am häufigsten Beachtung findet dabei die russisch-jüdische Emigrantin Emma Goldmann, aber auch über – im deutschsprachigen Raum mehr oder weniger bekannte – Anarchistinnen wie Mollie Steimer, Elizabeth Gurley Flynn, Voltrairine de Cleyre, Agnes Smedley oder Rose Pesotta liegen biografische Abhandlungen vor, die mehrheitlich aus Selbstzeugnissen oder Nachlässen schöpfen. Vgl. Bluestein, Fighters, Fraad Baxandall, Words on Fire, Avrich, An American Anarchist, MacKinnon/MacKinnon, Agnes Smedley, Leeder, Gentle General. Neben dem biografischen Ansatz finden sich auch gruppenorientierte, diachrone Betrachtungen von Anarchistinnen in bestimmten Zusammenhängen und historischen Perioden. Vgl. für die ›Mujeres Libres‹ in Spanien Bianchi, Feministinnen in der Revolution, für die russischen Attentäterinnen um die Gruppe ›Fritschen‹ Schmieding, Aufstand der Töchter. Einen eigenen Weg geht Schmidt, indem sie bei ihrer

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Ideen in der Schweiz im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Genf, dem Berner Südjura und dem Neuenburger Hochjura.244 Nach einer vor allem die Uhrenindusbiografischen Vorstellung anarchistisch agitierender Frauen immer wieder deren Vernetzung untereinander hervorhebt und betont. Sie vermag so einen kaleidoskopischen und ertragreichen Einblick zu geben in die Kämpfe und Krämpfe von Anarchistinnen im beginnenden 20. Jahrhundert. Nicht zuletzt schimmern dabei auch Mühen mit der eigenen Bewegung im Allgemeinen durch, die ziemlich deutlich aufzeigen, dass die Gleichstellung wohl ein Ziel der Anarchisten war, aber eher selten gelebt wurde. Vgl. Schmidt, Schönere Hüte. Gesamtüberblicke sind die Ausnahme. Einzig für Anarchistinnen in der ersten Blütezeit des Anarchismus in den USA konnte eine glänzende, gesamtheitliche Arbeit gefunden werden, die sich ähnlich wie Schmidt an Biografien zumindest orientiert. Vgl. Marsh, Anarchist Women. Das Forschungsdefizit in Bezug auf An- archistinnen, ihre Ideen- und Lebenswelten ist demnach kein spezifisch schweizerisches. Das erstaunt nicht nur, aber auch im Zusammenhang mit der breit gefächerten feministischen Forschung, schließlich nahmen Anarchistinnen in manch feministischem Kampf eine Vorreiterinnenrolle ein. Die Bekämpfung der normativen Kleinfamilie und der institutionalisierten ›Endstation Ehe‹, der Kampf für ökonomische Unabhängigkeit, die Kämpfe für eine befreite weibliche Sexualität, für emotional unverbindliche Promiskuität oder die Freie Liebe: sie alle wurden von Anarchistinnen formuliert und sie alle sollten früher oder später die Agenden feministischer Kämpfe bis in unsere Zeit hinein füllen. Der Mangel an Forschung über Frauen in der anarchistischen Bewegung kann viele Ursachen haben, spiegelt aber in jedem Fall die Tatsache wider, dass das Geschlechterverhältnis in der Bewegung alles andere als paritätisch war. Eine mögliche Erklärung für die geringe Anzahl aktiver Anarchistinnen sieht Schmidt in der Doppelfront, mit der sie sich konfrontiert sahen: Opposition erwuchs ihnen sowohl aus zeitgenössischer feministischer Richtung wie auch aus Teilen der offensichtlich v.a. in der Aspiration egalitär orientierten Anarchisten der Zeit, denn Frauen galten »[...] noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts auch dem Anarchisten als eine Art Besitz« (Schmidt, Schönere Hüte, S. 17-20), wie Schmidt quellenmäßig gut dokumentiert festhält. Beide Oppositionen konnten nicht umgehen mit dem prinzipiellen Antiessenzialismus, der den Forderungen der feministischen Anarchistinnen zugrunde lag, wie Marsh glaubt. Vgl. Marsh, Anarchist Women, S. 171-174. Diese Doppelfront hielt sich überraschend lange, wie Bianchi für Anarchafeministinnen im Spanischen Bürgerkrieg feststellte. Vgl. Bianchi, Feministinnen in der Revolution, bes. S. 83-105. Ob sich dieser Unmut in einer weit kleineren weiblichen Beteiligung an der Bewegung abzeichnete, wäre möglich, gesichert ist es allerdings nicht. Eine deutlich anderes Bild vermittelt Avrichs Versuch einer Oral History des US-amerikanischen Anarchismus. Seine Interviews, die eine Innenansicht der Bewegung von 1880-1930 liefern, führte Avrich mit 180 Bewegungsmitgliedern, wovon 72, also gut 40% Frauen sind. Vgl. Avrich, Anarchist Voices. Das kann die windschiefen Dominanzverhältnisse in der Bewegung natürlich nicht geradebiegen. Aber es wirft ein anderes Licht auf die Einschätzung von Werlhof, die von einer Tradition der Frauenunfreundlichkeit in der anarchistischen Bewegung ausgeht, und dies mit essenzialistisch angehauchten Argumenten wie der Absenz von Pflanzen oder farbigen Kleidern in bewegungseigenen Lokalen zu erklären versucht. Vgl. Kuhn, Anarchie oder Akratie?, S. 95-96. 244  |  Lösche und Bigler vermuten in der Uhrenmacherei, die in diesen Regionen vielen Arbeitern Beschäftigung war, einen triftigen Grund, weshalb gerade da verhältnismässig weite Teile der Bevölkerung sich anarchistischen Utopien zuwandten. 75% der rund 13.000 Uhrenarbeiter arbeiteten unabhängig und selbstständig zu Hause mit ihren eigenen Werk-zeugen in weitgehend autonomen Dorfgemeinschaften, womit sie wussten, dass ein guter Teil dessen was Ba-

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trie hart treffenden Krise245 und der partiellen Umstellung der Produktionsbedingungen in diesem Industriezweig von individueller Heimarbeit zur Fabrikproduktion, zogen sich mehr und mehr Uhrenarbeiter aus der anarchistischen Bewegung zurück. Die Popularitätsbaisse wurde vom bereits erwähnten Anstieg an Repression zusätzlich unterstützt. Beide Phänomene trugen zur temporären Schrumpfung der Bewegung bei. Nachhaltig vermochten allerdings weder die massenhaften Ausweisungen noch andere Repressalien das »[...] reiche Leben vieler interessanter fremder und einiger sehr tüchtiger einheimischer Anarchisten [...]«246 am Blühen zu hindern. Dabei wurde nur wenig unversucht gelassen, um genau diesen Effekt zu erreichen, wie in Kapitel 3.3 Die Schweiz und der Anarchismus zu sehen sein wird. Als kleiner Exkurs sei an dieser Stelle erwähnt, dass das bloße Kleben eines Plakates in der Hochphase der medial geschürten Anarchismusangst bereits massive negative Folgen haben konnte. Das belegt exemplarisch das Aufheben um das ›Manifest der Anarchisten‹247, das am 18.8.1889 schweizweit affichiert wurde. Dieses Plakat führte zu einer zwei Monate andauernden Untersuchung und zur Anklage der drei Anarchisten Albert Nicollet, Felix Darbellay und Ferdinand Henzi am 29.10.1889. Geahndet werden sollte ihr Verstoß gegen Art.46 und 48 des Bundesstrafrechts: Sie hätten zu Zusammenrottung, Gewalt und Widerstand respektive Rache gegen Bundesbehörden und Bundesbeamte aufgerufen.248 Der Präzedenzfall, der damit wohl geschaffen werden sollte, misslang. Obwohl die drei Schweizer Anarchisten im Zeugenstand betonten, weiterhin den Weg des Anarchismus beschreiten zu wollen ungeachtet des gefällten Urteils, wurden sie freigesprochen.249 Die anarchistische Bewegung und ihre Propaganda verkunin träumte, lebbar war. Zur Frage nach Gründen, wieso die Ideen gerade in der Juraregion griffen gibt es verschiedene Ansätze, die in dieser Arbeit nicht näher betrachtet werden können. Vgl. Lösche, Anarchismus, Voser, Reizwort, und Bigler, Der libertäre Sozia-lismus in der Westschweiz. 245 | 1873 erfasste eine wirtschaftliche Krise mit langer nachfolgender Depression die Schweiz. Bis 1877 ging der Uhrenexport um 60% zurück. Erst nach 1887 setzte eine Erholungsphase ein, die einher ging mit technisch-organisatorischen Anpassungen wie der Fabrikarbeit, die die Heimarbeit partiell ablöste. Vgl. Ruffieux, Schweiz des Freisinns, S. 685- 686. 246  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 294. 247  |  Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 154-162, Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 294-295. Auch weitere anarchistische Plakate und Flugblätter führten zu (hochgespielten) Prozessen, Verhaftungen und Ausweisungen. So das Erinnerungsplakat an die in Chicago der Todesstrafe zugeführten Anarchisten am 11.11.1890 (vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 295, Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 162-164) oder das Flugblatt mit dem Titel La guerre des pauvres contre les riches vom 10.12.1893 (Vgl. Gruner/ Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 256, Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 164). 248  |  Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 156. 249  |  Interessant ist, dass die erste in den Zeugenstand berufene Person eine Anarchistin war: die in La Chaux-de-Fonds wohnhafte Martha Wirz. Obwohl ihrer Aussage zu entnehmen ist, dass sie eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Manifests spielte, taucht ihr Name weder in der Anklage auf noch in irgendeiner weiterführenden historischen Arbeit. Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 156. Zu diesem und weiteren Prozessen gegen anarchistische Aktivisten und Publizisten ebd, S. 154-165, Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und

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schwand in der Folge zwar auch nicht, nahm aber merklich ab.250 Die nun nur noch vereinzelten Aktiven, die sich um die Herausgabe anarchistischer Organe kümmerten, lassen sich in den letzten 15 Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem in der Westschweiz finden. Nach der Emigration des Le Révolté nach Paris 1885 wurden verschiedene anarchistische Zeitungen herausgegeben. Bis zum erneuten Anschwellen der Bewegung um 1900 erschienen die Zeitungen L’Egalité, La Critique Sociale und L’Avenir.251 Darüber hinaus wurden zahlreiche Kleinschriften publiziert, vornehmlich Übersetzungen von deutschen (1888 ›La Peste religieuse‹) oder russischen Schriften (1896 ›Aux électeurs‹, ›Le Mensonge politique‹, und ›Abstention‹).252 Die AnarchistInnen verstummten also nicht nach der großen Repressionswelle 1885, entgegen der Absicht des Bundes, der mittels Bundesanwaltschaft wiederholt versuchte, sie zu unterbinden. So wurden etwa Carlo Frigerio, Luigi Bertoni253 und Emile Held als Herausgeber des Almanacco socialista-anarchico per L’anno 1900 dafür angeklagt, gegen die 1894 eingeführten Anarchistengesetze254 verstoßen und in ihrem Jahreskalender zu gemeinen Verbrechen aufgerufen zu haben.255 Der Präzedenzfall gelang auch mit den neuen, eigens für die Aburteilung von AnarchistInnen geschaffenen Gesetzen nicht: Frigerio, Bertoni und Held wurden freigesprochen und schrieben und agitierten weiter. Bertoni gab mit dem Le Réveil/Il Risveglio knapp zwei Monate nach dem Urteil gar eine neue, zweisprachige anarchistische Zeitung heraus, die nicht nur eine der langlebigsten anarchistischen Zeitungen überhaupt werden sollte, sondern auch für eine veritable Staatsaffäre sorgte, wie weiter unten zu sehen sein wird. Auch in der deutschsprachigen Schweiz kam es nicht zu einem Absterben des Anarchismus. Vornehmlich in Zürich und St. Gallen hielt sich die Bewegung. Das lag nicht zu geringen Teilen an deutschen anarchistischen Exilanten, die weiterhin Versammlungen ab- und Gruppierungen unterhielten, den stetig drohenden256 Wirtschaft, S. 256-263, Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 294-295. Vgl. auch Kap. 3.3 Die Schweiz und der Anarchismus. 250  |  Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 294. 251 | Vgl. 4.4 Französischsprachige Zeitungen. 252  |  Nach Nettlau, Geschichte der Anarchie. Bd. 5, S. 296. 253  |  Der v.a. aber nicht nur in der Genfer Bewegung agitierende Tessiner Bertoni kann als eine der aktivsten Figuren des Schweizer Anarchismus bezeichnet werden. Er tritt in 292 Dossiers der Politischen Polizei auf, wie Casagrande eruierte, und ist damit die bestüberwachte politische Person in der Schweiz. Fritz Platten, der Platz 2 belegt, verfügt über 183 Einträge. Vgl. Casagrande, Mises en fiche, S. 64. Vgl. zu Bertonis Leben unter der Lupe der Politischen Polizei auch Cruchon/Lefebvre, Anarchisme, Justice et Répression. Bzgl. seines Vornamens sind sich die Quellen uneinig. Sowohl ›Luigi‹ als auch auch ›Louis‹ sind verzeichnet. Der Einfachheit halber wird in dieser Arbeit konsequent ›Luigi‹ verwendet. 254  |  Die Anarchistengesetze werden ausführlich in 3.3 Die Schweiz und der Anarchismus besprochen. 255  |  Konkret angeklagt wurde, weil im Almanach Auszüge aus Errico Malatestas 1899 erschienener Kleinschrift ›Contro la monarchia: Appello a tutti gli uomini di progresso‹ zu lesen waren, worin nach Meinung der Bundesanwaltschaft zu gemeinen Verbrechen aufgerufen wurde. Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 302. 256 | Die Gründe für eine Ausweisung konnten vielfältig sein. Reden und Aufforderungen zu anarchistischen Verbrechen, Versuche mit Explosivstoffen, Betreibung von Propagan-

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Ausweisungen und der allgemeinen Repression zum Trotz. Versammlungen waren oftmals der einzige Treffpunkt, da der Anarchismus in der Schweiz über keine dauerhaften sozialen Milieus verfügte, wie Nettlau festhält.257 Organisation und Agitation verstärkten sich erst wieder in den späten 1890er und frühen 1900er Jahren. Dabei standen sie unter dem Einfluss anarcho-syndikalistischer und antimilitaristischer Ideen. Bis dahin wurden lediglich zwei Zeitungen betrieben, die dem Anarchismus zugerechnet werden können: 1892-1893 Die Freie Gesellschaft und 1899-1900 Die Junge Schweiz Fritz Brupbachers258, die sich zwar formell zuweilen einen antianarchistischen Anstrich gab, inhaltlich aber als anarchoid bezeichnet werden kann.259 Kleinschriften dieser Zeit waren ebenfalls selten in der Deutschschweiz. Nettlau verzeichnet lediglich die 16-seitige Breitseite Alfred Sanftlebens gegen den nun ständig eingesetzten Bundesanwalt. Sie erschien 1898 unter dem Titel ›Unser Scherb!‹.260 1900-1920 bekam die Bewegung neuen Schwung. Es begann sich eine linksradikale Opposition zu formieren, die zum Teil personelle Überschneidungen mit dem linken Flügel der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) hatte. Etliche SozialistInnen autoritärer wie antiautoritärer Richtungen fanden sich in dieser Opposition wieder. AnhängerInnen des Pazifismus oder des religiösen Sozialismus waren genauso zu finden wie VerfechterInnen des Bolschewismus, des Anarchismus und des Anarcho-Syndikalismus. Zudem formierte sich langsam eine antimilitaristische Bewegung, die ihr Epizentrum, wie die linksradikale Opposition auch, in Zürich hatte. Auf beide Verbünde übten anarchistische und anarchosyndikalistische Gedankengänge in den ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts einen nicht geringen Einfluss aus, der auf die sozialdemokratische Arbeiterbewegung durchdrückte.261 Daneben hatte sich um die Gruppe ›Weckruf‹ in Zürich ein autonomer, anarchistischer Zirkel gefunden, der in verschiedenen Feldern agitier-

da, sich in Verbindung Setzen mit Gesinnungsgenossen im In- und Ausland, Teilnahmen an (auch bewilligten) Demonstrationen an denen anarchistische Inhalte transportiert wurden, Mitgliedschaft in und/oder Leitung von unabhängigen sozialistischen Vereinen, Hochrufe auf die Anarchie, Apologien anarchistisch motivierter Verbrechen schriftlicher oder mündlicher Art. Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 310-314. 257 | Während Nettlau von keinerlei anarchistischen Milieus zu der Zeit in der Schweiz spricht (Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 298), ist die Biografie Margarethe Hardegger-Faas’ Zeugin davon ab, dass es sehr wohl Versuche gab, Anarchismus nicht nur zu diskutieren, sondern auch in Kommunen gemeinsam zu leben. Für eine kurze Skizzierung der mir bekannten Siedlungsversuche, vgl. Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. 258  |  Petersen kolportiert eine Fehldiagnose, wenn er schreibt, dass die von Brupbacher tatsächlich im Alleingang herausgegebene »Jung-Schweiz« (Petersen, Radikale Jugend, S. 203) – gemeint ist wohl die Junge Schweiz – eine Kollaboration von »sechs bis acht deutschen und Schweizer Anarchisten« gewesen sei. (Petersen, Radikale Jugend, S. 203). Trotz falscher Seitenangabe in der entsprechenden Fußnote konnte diese fehlerhafte Einschätzung auf Gruner/ Dommer zurückgeführt werden. Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 258, und nicht ebd., S. 425 wie Petersen in seiner Fußnote schreibt. 259 | Vgl. 4.2.2 Junge Schweiz. 260  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 299. 261  |  Voser, Reizwort, S. 132.

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te.262 Die von der politischen Polizei nach 1905 auch offiziell durchleuchtete Gruppe vereinte lokale und internationale Mitglieder.263 Robert Scheidegger und Ernst Frick ebenso wie Erich Mühsam, Max und Siegfried Nacht, Werner Karfunkelstein, Mathias Malaschitz, Johannes Holzmann und andere wirkten dabei entscheidend mit. Das augenscheinlichste Elaborat der Gruppe war der 1903-1906 regelmäßig, 1907 als Einzelnummer erschienene Weckruf, der zeitweilig eine Auflage von 4000 Exemplaren erreichte.264 Daneben organisierte die Gruppe zahlreiche Referate in Zürich und der Region, Erinnerungsfeiern, wöchentliche Diskussionsabende265, verlegte Broschüren wie 1905 ›Zur Abwehr‹ oder ›Antimilitaristisches‹ und als regelmäßige Beilage ab 1905 Der Antimilitarist. Nach der letzten regulären Nummer verstummte die Gruppe als solche. Einzelne Mitglieder finden sich in anderen Gruppierungen wieder, so zum Beispiel Ernst Frick, der sich in der antimilitaristischen Bewegung engagierte. Außerhalb der Gruppe ›Weckruf‹ wurde der Einfluss anarchistischen Gedankenguts in der antimilitaristischen Bewegung am deutlichsten sichtbar. Vor allem in der Periode der großen sozialen Konflikte zwischen dem Streikjahr 1905 und dem Landesgeneralstreik 1918. Am 1.10.1905 formierte sich in Luzern die ›Antimilitaristische Liga‹266, deren Organ Der Vorposten 19061907 immer klarer anarchistisch aufrat. Die Liga war ein gesamtschweizerischer Zusammenschluss von 42 Delegierten aus allen Landesteilen, die 4000-8000 AnhängerInnen vertraten.267 Ihre Hauptaufgabe lag darin, die SPS zu einer völligen Ablehnung des Militärs zu bringen. Das Militär erwies sich aus taktischer Sicht als gute Zielscheibe: Es wurde regelmäßig gegen Streiks eingesetzt und konnte von der Liga als Feind der ArbeiterInnen positioniert werden. Zudem konnten so PazifistInnen in der Partei angesprochen werden. Anarchistischen Kräften in der 262  |  Ein Manifest der Gruppe ›Weckruf‹ findet sich in »Was wollen die Anarchisten?«, Revolutionäre Bibliothek, 1905, Nr. 1, S. 3-7. Eine ebenso detaillierte wie fundierte Auseinandersetzung mit der Propaganda der Gruppe ›Weckruf‹ bietet die Lizenziatsarbeit Fagagnini, Weckruf. 263  |  Vgl. für die ›Weckruf‹-Untersuchung knapp Kühnis, Skizze der Welt, S. 66. Die Quellen zur Durchsuchung der Gruppe ›Weckruf‹ sind ergiebig und verdienten mehr Aufmerksamkeit. Vgl. BAR E21/14515/(167) -E21/14519. 264 | Entgegen der fehlerhaften Einschätzung Petersens war der Weckruf weder eine deutschsprachige Version des Le Réveil, noch wurde er von Fritz Brupbacher betrieben. Vgl. Petersen, Radikale Jugend, S. 203 und S. 263. 265  |  Tag und Ort variierten dabei. 1904 traf sich die Gruppe sonntags jeweils um 15 Uhr bei Albert Reitze an der Badenerstr. 258 in Zürich-Aussersihl. Vgl. »Gruppe ›Weckruf‹«, Der Weckruf, 23.7.1904, Jg. 2 Nr. 9, S. 4. 1906 wurde der Diskussionsabend der Gruppe ›Weckruf‹ immer mittwochs im Saal des Restaurants Eintracht am Neumarkt 5 im Zürcher Niederdorf um 20 Uhr abgehalten. Vgl. die Einladung dazu in Weckruf, 1.1906, Jg. 4 Nr. 1, S. 4. 266 | Analog zu den 1894 ergriffenen legislativen Maßnahmen zur Eindämmung des Anarchismus versuchte der Bundesrat 1901 ein Antimilitaristen-Gesetz durchzubringen, um gegen antimilitaristische Zeitungen vorgehen zu können. Die geplante Ergänzung des Bundesstrafrechts von 1853, die all diejenigen mit Gefängnis bestraft hätte, die Militärpflichtige zu einer erheblichen Verletzung ihrer Dienstpflicht verleitet oder zu verleiten versucht hätten, kam aber nicht zustande. Nach einem Referendum wurde der Art.48bis 1903 mit großer Mehrheit verworfen. Dubach, Strizzis, S. 29. 267  |  Petersen, Radikale Jugend, S. 206.

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Liga selbst war das Militär allerdings nicht nur aus diesen beiden Gründen ein gutes Ziel. Für sie lag bedeutend mehr in der Abschaffung des Militärs. Sie witterten vielmehr die Chance, dem bürgerlichen Staat mithilfe einer stetig wachsenden Partei ein Gewaltmittel zu entziehen, um damit einfacher und schneller dessen Demontage einläuten zu können. Nachdem die völlige Ablehnung des Militärs am SPS-Parteitag in Olten von Februar 1906 ausblieb, war die Liga ihrer Existenzberechtigung beraubt und versandete.268 Einen starken Einfluss hatte der Anarchismus auch auf die sozialistische Jugend dieser Zeit. In sozialdemokratischen Jugendorganisationen, den sogenannten ›Jungburschenvereinen‹269, fanden anarchistische und anarcho-syndikalistische Ansätze besonders in den Jahren 1907-1915 ein großes Echo. Besonders in der Sektion Zürich-Aussersihl fanden antiautoritäre Attitüden Eingang.270 Der »Radikalisierungsschub«, wie Petersen die Hinwendung zu anarchistischen und – vor allem – anarcho-syndikalistischen Überlegungen nennt, fiel nicht zufällig zeitlich mit der Revolution in Russland zusammen. Die bis dahin eher chiliastische anarchistische Bewegung erhielt mit dem Aufkommen der eher pragmatischen anarchosyndikalistischen Richtung einen Realitätsbezug, der sie massentauglich machte. Die Popularität dieser Schule mit Fixierung auf die Arbeiterklasse wurde durch die Russische Revolution von 1905 noch verstärkt: Weite Teile der sozialistischen Jugend glaubten sich anhand der proletarischen Machtdemonstration in Russland an der Schwelle einer neuen Zeit. Gelesen wurden neben anarcho-syndikalistischen Schriften auch Kropotkin, Ferrer und Stirner.271 Wie tief der Einfluss des Anarchismus tatsächlich reichte, zeigt sich in der Sektion Aussersihl. Diese veranlasste per Beschluss die »[...] Abschaffung jeden Vorstandes und jedes Vorsitzenden, da es einem freien Menschen unwürdig sei, sich von einem Vorsitzenden regieren 268  |  Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 287-290. 269  |  Dem geschlechtlich eindeutigen Namen zum Trotz gab es nicht nur Burschen in den Jugendorganisationen. Bereits 1903 wurde die Idee gemischter Sektionen in der Sektion Zürich-Aussersihl so heftig diskutiert, dass die Versammlung geschlossen werden musste. Vgl. Petersen, Radikale Jugend, S. 168. 1907 scheiterte ein erster einjähriger Versuch der Aufnahme von Mädchen. Der Grund des Scheiterns war ein nur allzu adoleszenter, wie einem Diskussionsbericht über die Aufnahme von weiblichen Mitgliedern von 1910 zu entnehmen ist: »Am Anfang waren die Mitglieder ziemlich vollzählig erschienen, aber nach und nach verschwanden sie alle; statt an die Versammlung zu gehen, gingen sie paarweise spazieren.« (Bericht über die Sitzung des Mädchenvereins Wipkingen vom 13.10.1910, in: Protokollbuch des Mädchenvereins Wipkingen 1910-1919, Archiv des Jungburschen-Verein, Ar.5.20.6. (Standort: SozArch), zit. in: Petersen, Radikale Jugend, S. 168, Anm. 119). Ab 1909 wurden Mädchen definitiv in die Jungburschenvereine aufgenommen, wobei die geschlechtliche Trennung aufrechterhalten wurde. 1909 wurde in Winterthur die erste Mädchensektion gegründet, Zürich-Wipkingen und Winterthur-Töss zogen 1910 nach. Das von der sozialistischen Jugend geäußerte Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Geschlechter lässt sich durch die Struktur der Vereine nicht untermauern: Die Mädchen blieben mit einer Beteiligung von gerade 20% in der Unterzahl. Vgl. Petersen, Radikale Jugend, S. 227. 270 | Wenn liniertes Papier verschmäht wurde, weil es eine bestimmte Richtung beim Schreiben vorgäbe, so ist das durchaus von der Wurzel her gedacht, auch wenn Petersen es als pubertär-oppositionelles Verhalten abtut. Vgl. ebd., S. 265. 271  |  Vgl. ebd., S. 266-268.

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und das Wort geben zu lassen«272 . Die Aussersihler Sektion entwickelte sich unter anderem dank diesen programmatischen Neuausrichtungen immer mehr auch zum Anziehungspunkt für radikale Kräfte, die oftmals alles andere als jugendlich waren.273 Auch wenn anarchistisches Gedankengut in kaum einer anderen Sektion der Jungburschen so intensiv adaptiert wurde wie in Aussersihl, fühlten sich dogmatisch-marxistische Kräfte wie Robert Grimm und – vor allem – Fritz Platten berufen, diese Einflüsse zu unterbinden. Wohl entsprach es Plattens Plan, via Jugendorganisationen eine Opposition zum Reformismuskurs in der Mutterpartei und letztlich eine Radikalisierung der Partei zu erwirken. Allerdings sollte dies auf autoritär-sozialistischem Grund geschehen. Zentralisierung von Organisation und Taktik standen auf Plattens Plan und gerade nicht eine weitere Diffusion. Platten polemisierte in der Folge massiv gegen die Jungburschen. Er forderte wiederholt die Aufhebung der Autonomie, den Beisitz von Erwachsenen im Zentralrat, den Anschluss an die Partei und die Auflösung des Organs der Jungburschen in den Jahren 1910-1912.274 Eine Parteimehrheit fand Platten damit nicht.275 Dennoch schwand die Begeisterung für anarchistische Konzeptionen mit dem Winter 1910/1911 zusehends und kam gemäß den Erinnerungen des Jungburschen Willi Münzenberg 1912 zu einem Stillstand.276 Stattdessen wurde zusehends ein dogmatisch-marxistischer, deutlich von Lenins bolschewistischer Agitation beeinflusster Kurs performativ.277 Dass der anarchistische und anarcho-syndikalistische Einfluss auf die Arbeiterbewegung und JungsozialistInnen gerade in Zürich so stark gewesen ist, ist nachvollziehbar. Das Zentrum der anarcho-syndikalistischen Bewegung dieser Zeit hatte seinen Sitz in der Limmatstadt. Ein weiterer Grund liegt in der Arbeit von unermüdlich agitierenden Einzelpersonen. Immer wieder Erwähnung in diesem Zusammenhang finden die erste Gewerkschaftssekretärin Margarethe HardeggerFaas und der Arbeiterarzt Fritz Brupbacher.278 Hardegger-Faas agitierte einerseits mit Beiträgen in französisch- und deutschsprachigen Zeitungen und redigierte 272  |  Münzenberg, Willi. Die Dritte Front. Aufzeichnungen aus 15 Jahren proletarischer Jugendbewegung (1929). 2. Aufl. Frankfurt a.M., 1978, S. 74, zit. in: Petersen, Radikale Jugend, S. 268. 273  |  Petersen, Radikale Jugend, S. 282-283. Unter den Radikalen fanden sich vornehmlich bärtige französische, deutsche und österreichische Anarchisten im Exil, wie Petersen festhält. 274  |  Ebd., S. 284-287. 275  |  Ebd., S. 290. 276  |  Ebd., S. 271-272. In der Zeit der Niederschrift seiner Memoiren war Münzenberg Kommunist, was die Erinnerung an seine Zeit als anarchistisch beeinflusster Jugendlicher geschliffen haben dürfte. 277  |  Bereits 1917 wurde in Versammlungen »das Hohle und Falsche der anarchistischen Phrasen« (Anklagerede Willi Münzenbergs im Ausschlusverfahren Schulze, zit. in: Petersen, Radikale Jugend, S. 405) gegeißelt und Ausschlussverfahren eröffnet, wenn Jungburschen anarchistische Ansichten äußerten. Für den Paradigmenwechsel in den Jungburschenvereinen, der nicht ohne interne Opposition vonstatten ging, vgl. Ebd., S. 401-419. 278 | Hardegger-Faas und Brupbacher stellen zweifelsfrei die medial exponiertesten deutsch-schweizerischen AgitatorInnen dieser Periode dar. Dementsprechend präsent sind sie auch in der historischen Aufarbeitung. Allerdings waren sie lediglich zwei von vielen Ak-

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auch drei Jahre lang das offizielle Organ des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes, Die Vorkämpferin sowie deren französisches Schwesterblatt L’Exploitée.279 In dieser Zeit entwickelte Hardegger-Faas ein anarchistisches Profil und genau das war ihrer Ansicht nach auch der Grund dafür, dass sie von der sozialdemokratisch orientierten Herausgeberkommission zum Rücktritt vom Redaktionsposten der Vorkämpferin bewogen wurde.280 Darüber hinaus organisierte Hardegger-Faas Referate von Gustav Landauer in Bern und Zürich und war Mitherausgeberin des anarcho-sozialistischen Blattes Der Sozialist.281 Brupbacher war zwar Mitglied der SPS,282 beschäftigte sich aber immer mit Syndikalismus und Anarchismus. Wie Hardegger-Faas agitierte er schriftlich und mündlich. So wirkte Brupbacher als Herausgeber der Zeitschrift Junge Schweiz, verfasste aber auch Monografien zu Bakunins Leben und Werk, die er auch in Form von Referaten vortrug.283 Brupbacher war ebenso wie Hardegger-Faas gut vernetzt und im regen Austausch mit AnarchistInnen aus der Schweiz und aus dem Ausland. Darüber hinaus verband die beiden eine enge Freundschaft.284 Nebst der Verdichtung und aktiven Einzelpersonen waren es kollektive Ereignisse, die den anarchistischen Ideen in der Schweiz Vorschub leisteten. Dazu gehört der Streik der Zürcher Maurer 1905, welcher der anarcho-syndikalistischen Bewegung einen großen Zulauf beschied. Er zeigte, dass anarchistische Ideen in diesen Jahren einigen Einfluss auf die Arbeiterbewegung und die sozialen Auseinandersetzungen zu nehmen vermochten.285 Nicht zu unterschätzen ist auch das kolportierte Gedankengut der oben bereits erwähnten ›Antimilitaristischen Liga‹. Sie verklammerte eine vom Anarchismus inspirierte Konzeption des Antimilitarismus mit der Arbeiterbewegung indem sie darauf aufmerksam machte, dass im Streikfall Arbeiter als Soldaten gegen andere Arbeiter eingesetzt wurden. Dass die Armee herbeigerufen wurde im Arbeitskampf war durchaus keine Seltenheit. Zwischen 1880 und 1914 sind rund 38 solcher inneren Einsätze zu verzeichnen.286 Wohl tivistInnen. Der These der vorliegenden Arbeit folgend soll Einzelpersonen nicht mehr Raum gegeben werden als historiografisch nötig. 279  |  Vgl. zu diesen beiden Titeln 4.2.7 Die Vorkämpferin und 4.4.13 L’Exploitée. 280  |  »Nun kommt man und sagt, ich passe nicht mehr zu Euch. Das finde ich nicht – ich gehöre zu Euch.« Nach der politischen Entscheidung der Kommission des Arbeiterinnenverbands, Faas-Hardegger des Redaktionspostens zu entheben, lehnte sie allfällige Anträge dennoch weiterzumachen a priori ab. Sie wolle »[...] nicht länger unter einer Kommission arbeiten, die meine Anschauungen für schädlich hält. Solch ein Leben ist eine Qual – ich habe sie über vier Jahre lang gekostet.« (Faas-Hardegger, »Abschied«, Die Vorkämpferin, 1.4.1909, Jg. 3 Nr. 12, S. 1). 281  |  Vgl. für Hardegger-Faas eingehend und gutmütig Boesch, Biografie und Soziale Bewegung, Boesch, Gegenleben, Bochsler, Ich folgte meinem Stern, Schindler, Vie et combat. 282  |  Die Krämpfe, die Brupbacher mit der SPS und die SPS mit ihm hatte, schildert er in eigenen Worten in Brupbacher, Worte eines Revoluzzers. 283 | Auch Brupbacher ist Gegenstand mancher Monografie. Vgl. Lang, Kritiker, Ketzer, Kämpfer, oder autobiografisch Brupbacher, 60 Jahre Ketzer. 284  |  Das gilt mindestens für die Jahre 1900-1940, wie Boeschs Schaubilder zeigen. Vgl. Boesch, Biografie und Soziale Bewegung, S. 381-383. 285  |  Vgl. Voser, Reizwort, S. 134. 286  |  Degen, Antimilitarismus, S. 368.

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nicht zuletzt wegen der Anbandelung der ›Antimilitaristischen Liga‹ mit anarchistischen Kreisen äußerte der sozialdemokratische Meinungsführer Hermann Greulich wiederholt seinen Unmut über diese Vereinigung, die auch eine stattliche Anzahl an SPS-Mitgliedern beherbergte. Wahrscheinlich aus parteistrategischem Kalkül versuchte Greulich wiederholt, die AnhängerInnen von antimilitaristischen, antiparlamentarischen und anarchistischen Überzeugungen zum Austritt aus der SPS zu bewegen. Seinen Versuchen und Appellen zum Trotz passierte tatsächlich das schiere Gegenteil und ganze SPS-Sektionen traten der Liga als Kollektivmitglieder bei.287 Durch die positive Resonanz beflügelt entschloss sich die Zürcher Sektion der ›Antimilitaristischen Liga‹ dazu die Methoden zu ändern. Dem Kampf gegen das Militär sollte mit einem Generalstreik Nachdruck verliehen werden: Man wagte den Schritt von reiner Propagandaarbeit zur Aktion. Der vor allem im Weckruf angekündigte und herbeigesehnte Generalstreik 1906 blieb dann allerdings aus: Die Arbeiterschaft war entgegen den Erwartungen der AgitatorInnen der Liga (noch) nicht für derartige Direkte Aktionen zu mobilisieren. Daraufhin machte sich in der Liga Resignation breit. Trotz ausgebliebenen Generalstreiks in Zürich 1906 blieb die Stadt an der Limmat Zentrum des Anarcho-Syndikalismus. Auch in der Westschweiz hatten sich um 1900 anarcho-syndikalistische Organisationen herausgebildet. Sie verfügten 1902-1904 über eine in dieser Richtung agitierende Zeitung namens L’Émancipation und griffen den Generalstreik als revolutionäres Kampfmittel auf. Die Westschweizer Gruppen waren in ihrer Ausrichtung von französischen und belgischen Schriften geprägt 288. Aber auch der seit 1900 in Genf erscheinende Le Réveil/Il Risveglio, der dem Streik mehrere Artikel widmete, scheint prägend gewesen zu sein.289 Darüber hinaus wurden zahlreiche Vorträge zum Thema veranstaltet. Am 8.10.1902 kam es unter Beteiligung von Anarchisten und Anarcho-Syndikalisten im Streikkomitee zu einem Tramführer Streik in Genf, der sich schließlich zu einem Generalstreik ausweitete.290 31 Gewerkschaften schlossen sich dem Streik an und nahmen – trotz der Verbote seitens der Genfer Regierung – an Umzügen teil, die teilweise zu kleinen Scharmützeln mit dem Militär führten.291 Am 11.10.1902 wurden die beteiligten Anarchisten Luigi Bertoni, Karl Steinegger und ein gewisser Croisier von »Geheimpolizisten«292 als Streikführer festgenommen. Gleichentags erlaubte die Bundesversammlung dem Bundesrat, eine bis zu 2000 Mann starke Truppe nach Genf zu entsenden, um die Ordnung wiederherzustellen und den Streik zu beenden. Von 2000 aufgebotenen Soldaten schlossen sich 321, also mehr als 15% dem Streik an und verweigerten den Dienst. Die Politik des Bundes verfehlte ihr Ziel grosso modo aber nicht. Am 287  |  Voser, Reizwort, S. 134. Erst am Parteitag in Bern 1917 distanzierte sich die SPS als Partei klar von der Armee. 1917- 1932 verweigerten die parlamentarischen Vertreter der Partei jedem Militärbudget konsequent die Zustimmung. 1935 kam die SPS wieder von dieser Haltung ab und erkannte den bewaffneten Grenzschutz wieder an. Vgl. Degen, Antimilitarismus. 288  |  Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 166-175. 289 | Die entsprechenden Artikel erschienen am 4.9.1900 (Octave Dubois), 18.8.1900 (Octave Dubois), am 22.12.1900 (B.T.), 19.1.1901 (ohne Autor). Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 175-176. 290  |  Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 304. 291  |  Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 179. 292  |  Ebd., S. 179.

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11.10.1902 beschlossen einzelne Gewerkschaften am Montag den 13.10.1902 die Arbeit wieder aufzunehmen und taten das auf öffentlichen Plakaten auch kund. Die Einschüchterung zeigte Wirkung. Am 14.10.1902 wurde der Streik für beendet erklärt. Damit begann das juristische Nachspiel, das zu rund 40 Ausweisungen nicht-schweizerischer Anarchisten und Prozessen gegen die verweigernden Soldaten führte. 17 Mann wurden vor ein eidgenössisches Kriegsgericht gestellt und erhielten Gefängnisstrafen von bis zu vier Monaten und den Entzug der bürgerlichen Rechte und Ehren während eines Jahres. 108 weitere Soldaten wurden vom Militärdepartement Genf mit Arrest bedacht. Die angeblichen Streikführer Bertoni, Steinegger und Croisier hatten sich am 12. und 13.11.1902 vor Gericht zu verantworten.293 Sie nahmen dabei keinen Abstand von ihren Taten. Das Genfer Gericht verurteilte Bertoni zu einer unbedingten, Steinegger und Croisier zu bedingten Gefängnisstrafen von unter einem Jahr.294 Weder die Mobilmachung des Militärs noch die verhängten Strafen schmälerten die Attraktivität des Anarcho-Syndikalismus und seiner Methoden in den freiheitlichen, antiautoritären Kreisen der Westschweiz. Die Enttäuschung über die nur langsamen oder ganz ausbleibenden Fortschritte der nicht parteilich organisierten Gewerkschaften, ließ vor allem in der Waadt einige Gewerkschaften eine anarcho-syndikalistische Kursänderung vornehmen. Diese unabhängig agitierenden Gewerkschaften schlossen sich am 22.10.1905 in Neuenburg zur ›Fédération des unions ouvrières de la Suisse romande‹ (FUOSR) zusammen.295 Ein Zusammenschluss mit den deutschschweizerischen Gruppen gleichen Zuschnitts wurde dabei nicht explizit angestrebt.296 Die FUOSR hatte 1906-1914 mit der La Voix du Peuple eine eigene Zeitung, die 19101914 mit Le Boycotteur zudem eine unabhängige Beilage führte. Die immer breitere Rezeption anarcho-syndikalistischer Tendenzen ließ auch den noch immer im Pariser Exil wohnhaften Alt-Aktivisten James Guillaume hellhörig werden. Guillaume sah eine Wiederauferstehung der ›Fédération Jurassienne‹ kommen, blieb damit aber allein, »[...] weil man weder die Wiederkehr einer legendär gewordenen Vergangenheit, noch eine gänzliche Anschmiegung an die Pariser Organisation CGT [Confédération Générale du Travail, d.V.] wollte, noch für praktisch hielt [...]« 297 in den neuen Organisationen. Darüber sah Guillaume im aktivistischen Eifer hinweg. Er trat mit vielen Leuten zusammen, mit Auguste Spichiger, Adhémar Schwitzguébels Söhnen, mit Brupbacher und Hardegger-Faas, und versuchte in einem fort die verschiedenen Bewegungen, Ideen und Regionen zusammenzubringen. Im Klimax seines zweiten Agitationsfrühlings schlug Guillaume 1908 in Nyon gar ein Zusammengehen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und der FUOSR vor.298 Seine Bemühungen hatten mäßigen Erfolg und die Verbindun-

293 | Vgl. für eine ausführliche Darstellung Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 182185. Das komplette Gerichtsprotokoll wurde von der Zeitung L’Émancipation auf 14 Seiten in einer Sondernummer gedruckt. Vgl. L’Émancipation, 19.11.1902, Jg. 1, Numéro spécial. 294  |  Nach Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 175-185. Bertoni wurde am 7.3.1903 begnadigt. Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 185, Anm. 1. 295  |  Vgl. Voser, Reizwort, S. 133. 296  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 309. 297  |  Ebd., S. 310. Die CGT war die Dachorganisation der Syndikate von Paris. 298  |  Ebd., S. 309.

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gen waren jeweils von nur kurzer Dauer.299 Dazu kam eine immer lauter werdende Kritik am Anarcho-Syndikalismus, vornehmlich aus den Reihen der Genfer Anarchisten um Bertoni, die ›les purs‹ genannt wurden. Die Kritik Bertonis, die Guillaume in Verweis auf ihm in der Sache gleichgesinnte Franzosen wie Jean Grave verwarf, schlug allmählich in eine eigentliche Polemik um. Die zusehends persönlichen Zwiste zwischen Guillaume und Bertoni und zwischen Jean Wintsch und Guillaume bildeten sich in der ganzen anarchistischen Bewegung ab, die sich in verschiedene Flügel zerstritt.300 1911 zeigt sich die Situation in der romanischen Schweiz weitgehend zerfahren. Die anarcho-syndikalistischen Züge, die Gewerkschaften in Genf, Lausanne und dem Jura dereinst angenommen hatten, verblassten allmählich, angezeigt und beschleunigt durch einen Redaktions- und Richtungswechsel in der FUOSR-Zeitung La Voix du Peuple. Guillaume äußerte die Befürchtung, dass damit auch die letzten anarcho-syndikalistischen Ansätze erodiert würden, was sich auch bewahrheiten sollte. Im Winter 1911 war die FUOSR nur noch ein Schatten ihrer selbst. Auch Guillaumes Versuch, einen anarcho-syndikalistischen Dachverband nach dem Vorbild der Pariser CGT zu gründen, scheiterte. Die nun wieder dominante anarchistische Stoßrichung in der Westschweiz kam vor allem durch ihre Persistenz zu dieser Hegemonialstellung. Das Austreten und Absterben ganzer Sektionen, Affinitäten zum Zentralismus sowie das langsame Verschwinden des Anarcho-Syndikalismus machte die kritischen AnarchistInnen Genfs zu den SiegerInnen im Kampf um die Diskurshoheit der antiautoritären Bewegung der Westschweiz der 1910er Jahre. Die anhaltenden internen Richtungsstreite und Querelen hatten Folgen in bezug auf das Mobilisierungspotenzial: Ein steigender Interessenmangel von ArbeiterInnen sowohl an anarcho-syndikalistischen wie anarchistischen Ideen der Reorganisation von Gesellschaft und des Arbeitsmarktes manifestierte sich immer deutlicher. Der Basisschwund ergab sich nicht nur aus der ausbleibenden Rekrutierung neuer Kräfte, sondern erfasste auch Aktive, die sich aus der Bewegung zurückzogen hatten oder sich der Sozialdemokratie anschlossen. In der Folge schrumpfte die Bewegung– erneut – auf eine kleine Gruppe von AktivistInnen.301 Ihnen blieb der Le Réveil/Il Risveglio als Organ erhalten. Aber auch Bertonis beständige Agitation auf Versammlungen, Druck und Vertrieb von Literatur und das Pflegen des anarchistischen Netzwerks vermochten das Verblassen der anarchistischen Bewegung in der Westschweiz bis zum Kriegsbeginn nicht zu stoppen.302 Dass Zürich Zentrum des Anarcho-Syndikalismus blieb, wurde durch die innere Zerrissenheit der Westschweizer Bewegung wesentlich begünstigt. Die verschiedenen Zeitungen, die Diskussion und Bewegung aktuell und dynamisch hielten, zeichneten sich denn auch nicht durch persönliche Differenzen aus, wie es in der Westschweiz immer mehr der Fall war. Zu den bereits erwähnten Titeln kamen 1909-1914 Der Sozialist und 1910 der Arbeiter-Wille sowie 1910-1914 das Jahrbuch der freien Generation hinzu. Ebenfalls zu erwähnen ist 1906-1908 die Zeitschrift Polis, die eine Sammlung der sozialistischen Intellektuellen zum Ziel hatte. Verbindungen zu anderen, nicht zürcherischen sozialistischen Intellektuellen unter der Ägi299  |  Ebd., S. 316. 300  |  Ebd., S. 317-318. 301  |  Ebd., S. 317-319. 302  |  Ebd., S. 319-320.

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de James Guillaumes ließen einen internationalen Kreis gedeihen, der 1907 seinen Höhepunkt hatte und ein inspirierendes sozialistisch-intellektuelles Klima entstehen ließ. Trotz der relativen inneranarchistischen Eintracht misslang 1909 erneut der Versuch, einen Generalstreik durchzuführen. Erst »im Zürcher Generalstreik von 1912 kam die anarcho-syndikalistische Tendenz erstmals zum Durchbruch«303, da der 24-stündige Protest-Generalstreik unter anderem in Rückgriff auf die Generalstreikdoktrin Brupbachers stattfand.304 Darin plädierte Brupbacher für eine umfassende Respektlosigkeit der ArbeiterInnen gegenüber den Herrschenden. Erst eine solche löse die proletarischen Klassen primär von den herrschenden Klassen, schließlich seien Erstere nur allzu sehr vereinnahmt durch die »[...] bürgerlichen Vorstellungen über Familie, Erziehung und Moral in der Erziehung in Familie, Schule und Militär [...]«305. Der von Brupbacher begrüßte und geförderte Streik brachte die Bi-Polarität der SPS ans Tageslicht: Er erhellte den Graben zwischen der Parteiführung und der tendenziell weiter links stehenden Masse. Die SPS leitete daraufhin ein Ausschlussverfahren gegen Brupbacher ein, um die Stimme der anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Linksopposition zum Schweigen zu bringen und die Partei unter reformistischem Vorzeichen zu einen. Das vor allem von Greulich und Grimm forcierte Unterfangen gegen Brupbacher sollte allerdings vorerst noch keine Früchte tragen.306 Mit dem Beginn des 1. Weltkriegs geriet die innerparteiliche Auseinandersetzung der SPS um Anarchismus und Sozialismus in den Hintergrund, auch wenn sie immer wieder aufflackern sollte.307 Ein weiterer diesbezüglicher Konflikt ereignete sich innerhalb der Jugendorganisation der SPS. Der Richtungsstreit endete mit der Spaltung der bereits oben eingeführten ›Freien Jugend‹ (ehemals Jungburschen), nachdem sich diese grosso modo auf eine autoritäre, dogmatisch marxistische Richtung einschwörte. Die Unzufriedenheit eines Teils der Jungburschen mit dieser Politik sowie mit politischen Ränkespielen innerhalb des Zentralvorstandes führte 1917 schließlich zur Gründung der Gruppe ›Forderung‹. Diese nun abgespaltene Opposition wies genau die anarchistischen Tendenzen auf, die die Jungburschen 303  |  Voser, Reizwort, S. 136. 304  |  Nach Gruner/Dommer ähnelten sich Brupbachers Doktrin und die Massenstreiktheorie Robert Grimms sehr, sodass beide Doktrinen als theoretische Basis des Zürcher Generalstreiks angesehen werden müssen. Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 411. Ferner zu Ablauf, Taktik und Ergebnissen des Streiks ebd., S. 414-420. 305 | Brupbacher paraphrasierend in Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 411. 306 | Interessant und einmal mehr allzu menschlich erscheint die Feststellung Gruner/ Dommers: »Störend für Grimm erschien an Brupbacher übrigens weniger seine für ihn fehlerhafte These [über den Generalstreik als Kampfmittel, d.V.] als sein wirklicher Einfluss auf die Massen. Denn dadurch schmälerte er denjenigen seiner missgünstigen Nebenbuhler.« (Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 419). Das Ziel, die Partei auf die eine, eigene Seite einzuschwören, lässt sich auch bei Brupbacher finden, wie ein Blick in sein Tagebuch kurz nach einer Parteiversammlung 1909 zeigt: »Versammlungseindruck: am wichtigsten ist es, militants zu bilden, die werden von selber die Drahtzieher à la Greulich, Adler, Pflüger unnütz machen.« (Brupbacher, Tagebuch, 18.12.1909 (TB 15), zit. in: Petersen, Radikale Jugend, S. 222). 307  |  Voser, Reizwort, S. 135-139.

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dereinst auch ihr eigen nannten, die sie nun aber unter der Federführung Willi Münzenbergs verdammten. Die oppositionelle Gruppe ›Forderung‹ verbreitete ihre Ansichten noch 1917 zunächst im einmaligen Karikaturblatt Waibelianer, dann in einer regelmäßig erscheinenden Zeitung Die Forderung bis 1918. Jakob ›Joggi‹ Herzog308, ein temperamentvoller Draufgänger, spielte in dieser Gruppe ›Forderung‹ eine zentrale Rolle und nahm mit anderen Gruppenmitgliedern aktiven Anteil an den Novemberunruhen, die vom 15.-17.11.1917 in Zürich-Aussersihl stattfanden.309 Animiert vom erfolgreichen Staatsstreich in Russland instrumentalisierte die Gruppe ›Forderung‹ eine Demonstration der ›Freien Jugend‹. Im Anschluss an die Demonstration wurde die Gruppe ›Forderung‹, die zuvor in flammenden Reden und Flugblättern unter anderem zum Sturz der Regierung aufgerufen hatte und dazu aufrief, mit Bajonetten gegen Militär, Kapitalismus und Polizei vorzugehen, fast vollständig verhaftet.310 Emotional hochgeschaukelt und durch die Ereignisse in Russland euphorisiert wurden Barrikaden gebaut und heftige Straßenschlachten entbrannten bis in die frühen Morgenstunden, bei dem auch Schusswaffen auf beiden Seiten eingesetzt wurden, die drei Arbeitern und einem Polizisten zum tödlichen Verhängnis wurden. Die Folge waren Gefängnisstrafen von bis zu zehn Monaten für die als Rädelsführer verstandenen Vorstandsmitglieder der ›Freien Jugend‹, die die Demonstration ursprünglich geplant hatten.311 Die Repression gegen die Jungburschen nahm schlagartig zu: Das Sekretariat und die bewegungseigene Buchhandlung wurden durchsucht, die Adresskartei beschlagnahmt. Der Fund von zwei Bomben im Jungburschenumfeld sowie von der Bundesanwaltschaft gezielt gestreute Gerüchte über Verbindungen zum Ausland wurden den Jungburschen vollends zum Verhängnis. Noch im November 1917 forderte der Zürcher Regierungsrat die schweizweite Auflösung der sozialistischen Jugendorganisation, Willi Münzenberg wurde per bundesrätlichem Beschluss ausgewiesen und General Willes Drängen auf ein Verbot der Jungburschenpresse wurde vom Bundesrat am 1.3.1918 nachgegeben.312 Die Gruppe ›Forderung‹ indes wurde nicht aufgelöst. Sie vermochte an einer Reihe von Demonstrationen weitere unorthodoxe Aktionen und Krawalle zu provozieren und dadurch aktionsorientierte ehemalige Mitglieder der sozialistischen Jugendorganisation zu mobilisieren.313 Verhaftungen und 308  |  Vgl. Petersen, Radikale Jugend, S. 406-419, Jost, Linksradikalismus, S. 121-137. 309 | Für die Novemberunruhen und die Folgen vgl. Petersen, Radikale Jugend, S. 412-413 und S. 430-434. Insgesamt war die Gruppe politisch heterogen. Anarchistische und kultursozialistische Überlegungen, die die Bewusstseinsbildung der Einzelnen betonten, standen genauso für die Gruppe ›Forderung‹ wie eine pointierte Oppositionspolitik, die sich in jugendlichem Aktionismus erschöpfte und um jeden Preis Krawalle provozieren wollte. Kurz nach der inoffiziellen Konstiution der Gruppe wurde am Rande einer Demonstration der Arbeiterunion gegen die Teuerung bspw. das Nobelhotel Baur au Lac entglast. Daraufhin spaltete sich die ›Freie Jugend‹ Zürichs. Vgl. ebd., S. 408. 310  |  Ebd., S. 431. 311  |  Vgl. Jost, Linksradikalismus, S. 155. 312 | Petersen, Radikale Jugend, S. 434. Auch das Nachfolgeblatt Genfer Volks-Zeitung wurde nach wenigen Nummern verboten. Vgl. Jost, Linksradikalismus, S. 156. 313 | So wurde am Rande einer Demonstration vom 14.6.1918 in der Bahnhofstraße in Restaurants eingedrungen, die Gäste verjagt und die Schließung der Lokale befohlen. Vgl. Petersen, Radikale Jugend, S. 435.

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andere repressive Maßnahmen verfehlten ihre abschreckende Wirkung; vielmehr boten sie neue Anlässe zu Protesten und Zusammenkünften der unzufriedenen Jugend.314 Am Ende der Spirale standen auf der theoretischen Seite General Willes Postulate, die Jugendlichen endlich scharf zu bestrafen. Auf der praktischen Seite bedeutete die Eskalation einen säbelschwingenden Kavallerieeinsatz gegen protestierende Jugendliche am 17.6.1918315 in Zürich und weitere gewaltsame Aktionen mit Toten und Verletzten in Basel.316 Die Taktik der Gruppe ›Forderung‹, größere Demonstrationen zu benutzen, um Zusammenstöße mit Ordnungskräften zu provozieren, wurde auch in andere Schweizer Städte wie Biel exportiert.317 Die Gruppe ›Forderung‹, die ab Frühling 1918 unter wechselnden Namen318 auftrat, und die mit ihnen sympathisierenden ehemaligen Mitglieder der Jungburschenvereine lösten sich inhaltlich allmählich von anarchistischen Prinzipien. Sie glichen sich dem Zeitgeist entsprechend immer mehr den autoritär-kommunistischen Positionen an, die die außerparlamentarische Linke in der Schweiz in diesen Jahren bald dominieren sollte. Im Rahmen des Bankangestelltenstreiks vom 30.9.-1.10.1918319 vermochte die Gruppe um Herzog ihre Taktik ein letztes Mal umzusetzen.320 Wiederum im Kuckucksverfahren nutzte die nun als ›Internationale revolutionäre Sozialisten‹ auftretende Gruppe ›Forderung‹ eine Fremdmobilisierung, um zu agitieren. Der ideologisch321 und logistisch322 von der Arbeiterunion spontan unterstützte Bankangestelltenstreik weitete sich am Mittag des zweiten Streiktages zu einem Generalstreik aus. Dieses Druckmittel zeigte Wirkung. Wohl mit ein Grund, wieso die Gruppe ›Forderung‹ in Flugblättern postulierte, den Generalstreik aufrechtzuerhalten bis Arbeitslosigkeit, Hunger und Verelendung der ArbeiterInnen beseitigt waren. Dennoch wurde am Abend des 1.10.1918 mit großer Mehrheit der Generalstreik abgebrochen. In der Folge versuchte die Gruppe ›Forderung‹ wenigstens die Bekanntmachung des Abbruchs zu verhindern, was ebenfalls misslang. Für diese eigenmächtige Aktion, die dem Willen der Mehrheit der Delegierten der Arbeiterunion widerstrebte, erntete die Gruppe Antipathien, nicht zu314  |  Zu dieser zählte auch ein kleines informelles Grüppchen Studierender, wie Jost festhält. Vgl. Jost, Linksradikalismus, S. 153. 315  |  Vgl. ebd., S. 159. 316  |  Petersen, Radikale Jugend, S. 434, Anm. 469 (Zürich) und S. 441-443 (Basel). 317  |  Der Export gelang allerdings nicht überall, wie das Beispiel Berns zeigt. Jost, Linksradikalismus, S. 160-161. 318  |  Dazu gehörten ›Kommunistische Gruppe Zürich‹, ›Internationale revolutionäre Sozialisten‹ (Ebd., S. 157) oder ›Kommunistische Partei‹ (Ebd., S. 171). 319  |  Vgl. ebd., S. 166. 320 | Davon ausgenommen sind Einzelaktionen von Mitgliedern der Gruppe um Herzog. Allerdings waren weder Agnes Seifritz‹ militante Reden vor Soldaten noch Johann Josef Bruggmanns Wurf einiger Knallfrösche unter die Kavallerie von Relevanz für den Verlauf des Generalstreiks. Beide wurden umgehend aufgegriffen, Bruggmann darüber hinaus mit dreimonatiger Haft bestraft. Vgl. ebd., S. 171. 321  |  Im Streik ging es u.a. um die Anerkennung des Koalitionsrechts der Bankangestellten durch den Verband Zürcherischer Kreditinstitute namens Bankensyndikat. 322 | Die streikunerfahrenen Bankangestellten waren angewiesen auf Hilfe bei der technischen Organisation des Streikes. Geleistet wurde diese von Straßenbahnern, die am 30.9.1917 dienstfrei hatten.

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letzt auch aus den radikalen Sektionen. Die Drahtzieher Bruggmann und Herzog wurden daraufhin am 4.10.1918 aus der SPS ausgeschlossen.323 Mit dieser Aktion verlor die Gruppe ›Forderung‹ das letzte Quäntchen Relevanz, das sie für die organisierte Arbeiterschaft hatte. Ihre freilich vor allem auf der Motivationsebene elektrisierende Wirkung auf die Arbeiterschaft hatte sie selbst erledigt. Auch wenn sie im politischen Sinn nichts erreichten, verfehlte ihre radikale Propaganda ihre Wirkung nicht. Sie fiel auf einen fruchtbaren Boden in einer Lebenswelt, die oft genug von Hunger und Armut flankiert war, während nur wenige hundert Meter entfernt in der gleichen Stadt Überfluss herrschte324 und ein paar tausend Kilometer weiter in Russland vorgemacht wurde, was möglich sein könnte. Die Gruppe ›Forderung‹ vergraulte das Substrat allerdings mit ihrem Auftritt am Bankangestelltenstreik so gründlich, dass ihre Propaganda bereits beim Landesgeneralstreik von 1918 nicht mehr zu greifen vermochte.325 Andererseits lieferte die Gruppe den bürgerlichen Kräften Munition, die ein immer umfassenderes Militäraufgebot bei Arbeitskämpfen forderten und guthießen. Sie gaben vor, in der Gruppe das politische nutzbare ›wahre Gesicht‹ der ArbeiterInnen zu erkennen, anstatt was sie tatsächlich war: eine Gruppe jugendlicher RevolutionärInnen, die lediglich thematische Impulse zu geben imstande war, der eine Massenwirkung aber versagt blieb.326 Diese auch in der bürgerlichen Presse breitgetretene Fehlinterpretation befeuerte den Bundesrat in seiner Taktik, immer größere Truppenaufgebote zu stellen, was sich letztlich als höchst kontraproduktiv erwies. Nicht zuletzt die für den Bankangestelltenstreik getroffenen Mobilisierungen veranlassten ArbeiterInnenorganisationen, den Landesstreik überhaupt durchzuführen, wie Voser meint.327 Den Streik also, »[...] in dem wir einen Höhepunkt anarcho-syndikalistischer Aktion in der Schweiz erblicken können«.328 Die Generalstreiks in Basel vom 31.7.-7.8.1919 und in Zürich vom 1.-4.8.1919 bildeten die Höhepunkte der auch nach den Ereignissen beim Generalstreik in Genf andauernden Arbeitskämpfe. Auch in diesen Fällen gelang aber ein Durchbruch anarchistischer oder anarcho-syndikalistischer Konzepte nicht. Parallel zum Rückgang der großen Arbeitskämpfe verschwand auch der anarchosyndikalistische Einfluss auf die organisierten ArbeiterInnen. Geradezu programmatisch ist in diesem Zusammenhang auch der massive Terrainverlust des linken

323  |  Jost, Linksradikalismus, S. 167-169. 324 | Dieser Interpretation des Lebenswelt von Joggi Herzog und seinen MitstreiterInnen durch Schriftsteller Kurt Guggenheim von 1953 gibt die umtriebige, lang jährige Aktivistin Anny Klawa-Morf recht, die als erstes Mädchen Mitglied im Jungburschenverein wurde und dort oftmals als Einzige im Vorstand tätig war. In einer ihr gewidmeten Ausgabe von Josts Arbeit zum Linksradikalismus in der Schweiz notierte sie mit Bleistift unter die Passage Guggenheims, die die klaffenden Gegensätze von ArbeiterInnen und Besitzenden schildert: »ja so war es. A.K.-M.« Vgl. die dem Nachlass von Anny Klawa-Morf entstammende Ausgabe im Schweizerischen Sozialarchiv Zürich, Signatur R712, Jost, Linksradikalismus. S. 172. 325  |  Ebd., S. 171. 326  |  Vgl. ebd., S. 171-172. 327  |  Voser, Reizwort, S. 137. 328  |  Ebd., S. 137. Dies unterstreicht die regionalen Unterschiede verschiedener anarchistischer Gruppierungen sehr deutlich, war der Anarcho-Syndikalismus in der Westschweiz zu diesem Zeitpunkt doch schon seit mehreren Jahren kein großes Thema mehr.

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Flügels der SPS, ablesbar an der klaren Wahlniederlage der revolutionären Kräfte am 6.4.1919.329 Verschwinden sollten nicht nur libertäre Impulse in der SPS, verschwinden sollten nach und nach auch die libertären Bewegungen in der Schweiz. Die bolschewistischen Gruppen verstanden es, die verbleibenden freiheitlichen Kräfte gänzlich in sich aufzusaugen. Selbst Fritz Brupbacher und Max Tobler widerstanden dem Zeitgeist nicht. Hoffnung und Hunger auf eine radikale Veränderung der Zustände waren nach wie vor groß und das Angebot verlockend: Anders als AnarchistInnen konnten BolschewistInnen tatsächliche revolutionäre Erfolge vorweisen. Und: Im historischen Moment konnten die freiheitlichen Kräfte ja »[...] nicht ermessen, in welchem Grade die in Zürich als Revolutionäre geltenden Russen sich von der Freiheit abwenden würden, um kommunistischer Polizeistaat zu werden«330. Nachdem einzelne AnarchistInnen und die verbleibenden Mitglieder der Gruppe ›Forderung‹ schließlich integriert werden konnten, wich die anfängliche Offenheit der bolschewistischen Richtung rasch. Spätestens mit dem Zusammengehen mit der SPS-Linken Anfang März 1921, was schließlich in der Gründung der Kommunistischen Partei (KPS) gipfelte, wurde das in ihr verbleibende libertäre Gedankengut beinahe vollständig unterdrückt: »Abgesehen von der Teilnahme einzelner Schweizer Anarchisten am Spanischen Bürgerkrieg fand eine Wiederaufnahme anarchistischen Gedankenguts auf breiterer Ebene auch in der Schweiz erst wieder innerhalb der Protestbewegung der 1960er Jahre statt [...].«331 Neben den separat betrachteten Entwicklungen der deutsch- und westschweizerischen Gruppen verfügte auch eine dritte Gruppe von AnarchistInnen über Perfomativität in Bezug auf die Fremdwahrnehmung vom Anarchismus in der Schweiz seit den 1870er Jahren: Die italienischen AnarchistInnen. Sie suchten vor allem seit den 1890er Jahren Asyl und Arbeit in der Schweiz und vergaßen dabei ihre politischen Ansichten nicht. Im Unterschied zu anderen Gruppen mit ausländischer Beteiligung, waren sie eine relativ homogene und geschlossene Gemeinschaft; italienische AnarchistInnen blieben weitgehend unter sich.332 Ebenfalls einzig329  |  Selbstredend stärkte dies den reformistischen Flügel, der nun einige taktische und strategische Bereinigungen in der Partei vornehmen konnte. Auf reformistischen Kurs gebracht, erlebte die Zürcher SP einen Popularitätsschub, der sie das sprichwörtliche ›Rote Zürich‹ verwirklichen ließ. Unter diesem Mantel lief allerdings bei Weitem nicht alles glatt für die Arbeitskämpfe. U.a. verantwortete und rechtfertigte die SP am 15.6.1932 den Schusswaffeneinsatz gegen streikende Heizungsmonteure in der sogenannten ›Blutnacht von Zürich‹. Vgl. Tackenberg/Wisler, Hutlose Bürschchen, S. 9, 11-23, 32-37. 330  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 322. 331  |  Voser, Reizwort, S. 138. 332 | Ob und inwiefern das mit einem glühenden Nationalismus zusammenhängt, den Nettlau den ItalienerInnen per se und den italienischen AnarchistInnen im Speziellen zuschreibt, kann nur vermutet werden. Semantisch ist Nettlaus Abriss aus heutiger Sicht zweifelhaft. So spricht er von einer »italienischen Denkweise«. Andererseits sollte man den Inhalt seiner Aussage nicht gleich mit vom Tisch wischen. Die Wirkung der nationalistischen Propaganda Italiens während des Risorgimentos darf nicht unterschätzt werden. Es ist m.E. gut vorstellbar, dass der kulturelle, in diesem Fall nationalistische Wertekanon durchaus seinen Einfluss geäußert haben dürfte, auch auf an sich internationalistische Bewegungen wie den Anarchismus. Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 301.

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artig an ihnen war, dass sie sich nicht auf eine Region oder eine Stadt begrenzten, sondern in allen Landesteilen lebten und agitierten. Projizierte Wurzellosigkeit, Ungreif barkeit und ein als konspirativ wahrgenommener Separatismus dürften mit dazu beigetragen haben, dass die »Antipathie, ja der zeitweilige Hass«333 von weiten Teilen der Bevölkerung gegenüber italienischen AnarchistInnen und ArbeiterInnen als historisch spezifisches Merkmal des ausgehenden 19. Jahrhunderts verstanden werden kann. Die unter anderem auf den oben erwähnten Suggestionen fußende, ablehnende Haltung wurde zusätzlich befeuert von einem tief gründenden Nationalismus, der Herkunft mit psychologischen Eigenschaften verband. Diese Verklammerung äußerte sich beispielsweise in kruden Vorstellungen über das italienische Wesen an sich.334 Der Diabolisierung dienlich war ebenfalls eine außergewöhnliche hohe Delinquenz: Die Kriminalstatistiken der Zeit zeigen, dass bis zu einem Drittel der erfassten Delikte ItalienerInnen zugeschrieben werden konnte.335 Einen entscheidenden Anteil an der (Re-)Konstitution der Furcht vor ItalienerInnen im Allgemeinen und vor italienischen AnarchistInnen im Besonderen hatten die anarchistischen Attentate auf republikanische und monarchische Führer. Denn sowohl die Ermordung von Frankreichs Präsident Sadi Carnot 336, das tödliche Attentat auf Spaniens Ministerpräsident Antonio Canovas del Castillo337, als auch das einzige tödlich verlaufene Attentat von Anarchisten in der Schweiz, die Erdolchung der österreichischen Kaiserin Elisabeth in Genf338 wurden von italienischen Anarchisten verübt. Als Multiplikator kam hinzu, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker eine wachsende Überfremdungsangst breit machte. Resultat war »eine gewisse xenophobe Abwehrstimmung gegen die Bedrohung schweizerischer Werte durch ›unschweizerische‹ Einflüsse [...]«.339 Im Rahmen dieser Abwehrstimmung340 kam es gelegentlich auch zu physischen Über333  |  Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 332. 334  |  Im Rahmen eines Gutachtens zum italienischen Anarchisten Luigi Luccheni schrieb der hinlänglich bekannte Auguste Forel 1898, dass der Täter ein »äusserst impulsives Wesen, grosse Eitelkeit, viel Willensschwäche, Leidenschaften und grosse Suggestibilität« von seinen Eltern geerbt hätte, »[...] wozu die grausamen Instinkte der italienischen Rasse traten« (o.A., zit. in: Ebd., S. 359, Anm. 1). 335  |  So etwa in der Stadt Genf, wie Langhard festhält. Vgl. ebd., S. 333. Das führte dazu, dass Zürich am 2.2.1898 eine Einwanderungsklausel einführte, die nur noch denjenigen ItalienerInnen eine Niederlassung erlauben wollte, die über einen beglaubigten reinen Leumund verfügten. Vgl. ebd., S. 331. Da dieser stadträtliche Beschluss jedoch gegen den schweizerisch-italienischen Niederlassungsvertrag verstieß, wurde er am 30.3.1898 wieder außer Kraft gesetzt. Im Nationalrat wurde am 8.6.1899 ein Antrag behandelt, der die Kündigung der schweizerisch-italienischen Verträge forderte, um den in Zürich ein Jahr zuvor verfassten Beschluss auf Bundesebene durchzusetzen. Der Nationalrat beschloss stattdessen die Prüfung eines Zusatzabkommens, das am 31.1.1901 von Italien auch per Dekret erlassen wurde und die Handhabung von Passpapieren strikter regelte. Vgl. ebd., S. 334. 336  |  Am 24.6.1894 in Lyon erdolcht von Sante Jeronimo Caserio. 337  |  Am 8.8.1897 im spanischen Santa Agueda erschossen von Michele Angiollilo. 338  |  Am 10.9.1898 in Genf erstochen mit einer Feile von Luigi Luccheni. 339  |  Im Hof, Mythos Schweiz, S. 190. 340 | Einmal mehr muss hinter die Wortwahl Gruner/Dommers ein Fragezeichen gesetzt werden. Zum hier behandelten Phänomen der ablehnenden Haltung gegenüber italienischen

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griffen, Bekanntestes Beispiel sind die sogenannten Italienerkrawalle, die sich vom 27.-31.7.1896 in Zürich-Aussersihl zutrugen. Rund 10.000 Personen ließen ihrem Unmut freien Lauf und griffen 22 von ItalienerInnen bewohnte Häuser an.341 Italienische AnarchistInnen standen aber nicht nur um Visier der Selbstjustiz. Gemessen an den Ausweisungen stellten italienische AnarchistInnen den größten Teil der anarchistischen Bewegung in der Schweiz in den 1890er Jahren.342 Sie nahmen an Kongressen teil, zum Beispiel im Januar 1891 im Tessiner Dorf Capolago343 und verfassten und verlegten einige Zeitungen wie beispielsweise 1891 Pensiero e dinamite oder 1893 Primo Maggio.344 Auch wenn sie hier gesondert behandelt werden im Kontext Anarchismus und Schweiz: Der Bund machte keine Ausnahmebehandlung. Wie andere nicht-schweizerische AnarchistInnen auch wurden sie wenn möglich ausgewiesen. Tatsächlich waren es hauptsächlich italienische AnarchistInnen, die die Ausweisungsregister des Bundes füllten.345 Handlungsbedarf war immer dann gegeben, wenn Agitation oder Propaganda betrieben wurde, da sie nach bundesanwältlicher Meinung dadurch die innere oder äußere Sicherheit der Schweiz oder anderer Staaten gefährdeten. Das reichte als Grund, eine Ausweisung verfügen zu können. Mit einer gesetzlichen Grundlage, die solches ahndete, aber weder die Gefährdung als solche noch den Anarchismus selbst näher definierte, war der Rechtssprechung ein großer Ermessensraum vergönnt.346 Und dieser Ermessensraum wurde genutzt. Für eine Ausweisung konnte bereits GastarbeiterInnen schreiben sie von einer »[...] natürlichen Abneigung der Schweizer Arbeiter gegen die ausländischen Lohndrücker [...]« (Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 437, Herv. d.V.). Ins gleiche Kapitel gehen Formulierungen wie »Wirrkopf namens Peduzzi« (ebd., S. 443) oder »der harmlose, weil geistesverwirrte Peduzzi« (ebd., S. 444), der selbst beim antianarchistischen Langhard einfach »Anarchist Peduzzi« (Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 352) war. 341  |  Ebd., S. 331. 342  |  Ebd., S. 335. 343  |  Ganz im Banne der beschworenen Anarchismus-Angst wagte sich der Bundesanwalt höchstpersönlich nach Capolago mit der Ermächtigung, Truppen aufzubieten. Dabei stellte er fest, dass er und seine zutragenden Informanten hinters Licht geführt worden waren: Der Kongress wurde vorverlegt und fand andernorts statt. Es sollte sich zudem herausstellen, dass der Kongress sozialdemokratischer Ausrichtung war und lediglich deshalb AnarchistInnen zugegen waren, weil die Partito Socialista Italiana ihre Positionierung zum Anarchismus im Hinblick auf die nächsten Wahlen diskutieren wollten. Gruner/Dommer fassen zusammen: »Der erste Akt [der Anarchistenjagd, d.V.] war eine derartige Blamage für jene, dass man Wiederholungen hätte ausschliessen sollen.« (Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 260-261). 344  |  Nach Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 296. Für weitere Titel mit Erscheinungsdatum und heutigem Standort vgl. Zesso, Le verbe magique, S. 137-138. 345  |  Vgl. Im Hof, Mythos Schweiz, S. 188. Im Hof schreibt im Rahmen der Ausweisungen, dass »vor allem Italiener betroffen waren« (ebd., S. 188). Dem muss beigefügt werden, dass v.a. im Anschluss an gewaltsame Aktionen, die in anarchistischem Namen begangen wurden, fast schon prinzipiell ausgewiesen wurde, was irgendwie nach Anarchismus aussah. 346  |  Die definitorische Unschärfe wurde wohl aus genau diesem Grund beibehalten: Ohne klare Definition kann als AnarchistIn bezeichnet werden, wen man dafür hält. Nur so lässt sich die Verdächtigungspraxis der Politischen Polizei und das »Willkür-Regime« (Gruner/

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die Teilnahme an der Verteilung eines anarchistischen Flugblattes reichen, wie ein Fall in Genf zeigt.347 Von solchen Delikten abgesehen schienen die italienischen AnarchistInnen die feindselige Grundstimmung ihnen gegenüber nicht besonders zu nähren: »Von 1891 bis 1898 machten sich die italienischen Anarchisten wenig bemerkbar, so dass nur vereinzelte Massnahmen notwendig wurden.«348 Eine dieser Maßnahmen war die Ausweisung des anarchistischen italienischen Theoretikers Errico Malatesta.349 Der bereits 1879 Ausgewiesene befand sich trotz eines Bannes 1891 widerrechtlich in der Schweiz. Am 11./12.6.1891 wurde er schließlich aufgrund eines italienischen Auslieferungsgesuches verhaftet, wobei das Bundesgericht dem Auslieferungsgesuch keine Folge leistete. Die Schweizer Behörden taxierten es als politisches und nicht als gemeines Verbrechen, wenn Malatesta zu Unordnung aufrief und dahingehende Flugblätter und Plakate klebte. Die Proklamationen, Fahnen und Pamphlete Malatestas und anderer AnarchistInnen seien demzufolge als politische Delikte zu werten.350 Auch wenn Malatesta aufgrund dieses bundesgerichtlichen Verdikts nicht ausgeliefert wurde, bedeutete das nicht, dass er in der Schweiz bleiben konnte. Ihm wurde lediglich die Freiheit zugestanden zu wählen, an welcher Grenze er ausgewiesen wurde. Ebenfalls mit massenhaften Ausweisungen endete der sogenannte ›Italienerzug‹ im Mai 1898. Unruhen in Mailand351, Turin und Florenz Anfang Mai 1898 bewegten italienische AnarchistInnen dazu, Aktionen und eine gemeinsame Rückkehr von Exil-ItalienerInnen in solidarischer Absicht zu organisieren. An einer Versammlung am 9.5.1898 in Lausanne wurde ein Trauerstreik für den Folgetag beschlossen. Demonstrationen und Kundgebungen in Lausanne, Montreux und Vevey folgten, die die ›Partenza per L’Italia‹ forderten und eine geplante kollektive Abreise von Genf nach Mailand wurde organisiert. Vor der letzten Etappe wurde der Zug gestoppt. Mithilfe des Militärs wurden die Rückreisenden am 14.5.1898 entwaffnet, die Anführer verhaftet und die 250 teilnehmenden ArbeiterInnen in die Hände der italienischen Polizei eskortiert. Die verkappte Auslieferung wurde bald publik und brachte den Bundesbehörden Kritik und Empörung von allen politischen Seiten ein. Zwar stritt der Bundesrat in der darauf erfolgten National- und Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 262) erklären, das spätestens nach dem Genfer Attentat von 1898 die Ausweisungspolitik der Schweiz dominierte. 347  |  Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 336. 348  |  Ebd., S. 338. 349 | Im Wesentlichen nach Hutter/Grob, Schweiz und Bewegung, S. 100-101 und Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 340-344. 350  |  Gegen diese Beurteilung stemmt sich Langhard. Er bezeichnet sie als »entschieden unrichtig« (Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 344). Vgl. zum schmalen Grat zwischen politischem und gemeinem Verbrechen auch Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 263-265. 351  |  Die Mailänder Bewegung hatte rund 70 Gefallene zu verzeichnen, die sich in Barrikadenkämpfen gegen eine Erhöhung der Brotpreise wehrten. Die Erhöhung war eine staatliche Maßnahme, die hohen Kosten der Risorgimento-Politik zu sozialisieren. Engeler schreibt, dass der Protest der Mailänder Bevölkerung ein waffenloser gewesen sei (Engeler, Grosser Bruder, S. 37). Gruner/Dommer schließen sich dem italienischen Autor Fernando Manzotti an, der von initialer Gewalt der Regierung ausgeht, der daraufhin mit Gegengewalt begegnet worden sei. Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 443.

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Ständeratsdebatte ab, die de-facto-Auslieferung von 250 ArbeiterInnen veranlasst zu haben. Bei der eingehenden Prüfung des Vorfalls stellte sich das aber als Unwahrheit heraus. Mehr noch: Der Bundesrat wies die eskortierenden Truppen sogar an, bei Widerstand von Waffen Gebrauch zu machen, wie ein Telegramm an die Tessiner Behörden zeigt.352 An Zynismus kaum zu überbieten war dabei das in der nationalrätlichen Behandlung des Vorfalles vorgebrachte bundesrätliche Argument, die Italiener hätten ja selbst in ihre Heimat gewollt.353 Ebenfalls drastische, wenn nicht noch drastischere Folgen für italienische und andere AnarchistInnen in der Schweiz und in Europa hatte das erste auf Schweizer Boden verübte anarchistische Attentat. Der italienische Arbeiter Luigi Luccheni erstach die Kaiserin Elisabeth von Österreich am 10.9.1898 an den Gestaden des Genfersees mit einer Feile. Im Interesse der anarchistischen Sache, wie er selbst sagte.354 Er wehrte sich bei der Verhaftung nicht und distanzierte sich auch im Prozess am 10.11.1898 weder von der Tat noch von seinen Überzeugungen. Die Tat Lucchenis verschlechterte das Bild von AnarchistInnen in der Öffentlichkeit entscheidend, nicht zuletzt weil die volksmündlich Sissi genannte Kaiserin eine Sympathieträgerin war.355 Die nicht-anarchistische Presse der Schweiz empörte sich ausnahmslos und forderte die Ausweisung aller AnarchistInnen, freilich ohne abzuklären, ob Luccheni tatsächlich Anarchist war.356 Parallel zum totalen Sympathieverlust der anarchistischen Bewegung stieg die Repression an, die nun erstmals auf internationalem Parkett stattfand: Die auf Ende November 1898 in Rom einberufene internationale Konferenz zur Bekämpfung des Anarchismus357 war 352  |  Der Wortlaut der Anweisung des Vizepräsidenten des Bundesrates findet sich abgedruckt in Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 349: »[...] Alle Rädelsführer sind in Haft zu nehmen. Die übrige Mannschaft ist als mittellos in kleinen Trupps an die Grenze zu eskortieren und dort den italienischen Behörden zu übergeben [...] Gegen Widerstand sind die Waffen zu gebrauchen«. Bundesrat Müller dementierte, die militärische Abschiebung veranlasst zu haben. Das entsprechende »[...] Telegramm sei gegen den Willen des Bundesrates an die Tessiner Behörden gegangen« (ebd., S. 352). 353  |  Ebd., S. 352. Für die vorgebrachten juristischen Rechtfertigungen vgl. Engeler, Grosser Bruder, S. 37-38, Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 345-353, Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 299. 354  |  Nettlau führt Zweifel an, ob Luccheni Anarchist war: »Seitens der Genfer und anderer Anarchisten hatte ihm gegenüber eine faktische Teilnahmslosigkeit bestanden.« (Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 300-301). Er vermutet, dass Lucchenis Tat durch die »allseitige Niedertretung italienischer Arbeiter« in der Schweiz motiviert war. Luccheni wurde 1912 tot in seiner Zelle aufgefunden. Offiziell wird Suizid als Todesursache angegeben, allerdings wurde dies in der bewegungseigenen Presse aufgrund von Indizien und Ungereimtheiten bezweifelt. Vgl. beispielsweise »Lucheni [sic]: Mort par persuasion«, La Voix du Peuple, 29.10.1910, Jg. 5, Nr. 44, S. 2. 355 | Im Hof macht an Lucchenis Attentat die Fremdwahrnehmung von anarchistischen Flüchtlingen als Terroristen fest. Vgl. Im Hof, Mythos Schweiz, S. 188, Kritik in Hutter/Grob, Schweiz und Bewegung, S. 117, Anm. 83. 356  |  Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 356. 357 | Mit der Konferenz beschäftigt sich eingehend Bach Jensen, The International AntiAnarchist Conference, Deflem, Wild Beasts, ferner Bach Jensen, The United States. Vgl. dazu auch BAR E21/14027.

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eine direkte Folge des Luccheni-Attentats. Als Tatort musste sich die Schweiz nicht nur den Vorwurf gefallen lassen, Anarchistenhort zu sein, sondern es wurde ihr auch eine Verschärfung der Asylgesetze abgerungen. Aus der Schweiz wurde fortan offiziell nicht mehr ausgewiesen, sondern ausgeliefert: »Ausgewiesene durften nun nicht mehr in das Land ihrer Wahl ausreisen, sondern waren direkt den Behörden ihres Heimatstaates zu überstellen.«358 Auf Druck der umliegenden Staaten wurden von Bundesanwalt Scherb zudem weitere Zugeständnisse zum Austausch von Daten vermeintlicher und echter AnarchistInnen gemacht.359 Außerdem verpflichtete sich die Schweiz – wie alle 21 am Kongress anwesenden Staaten – gesetzliche Rahmen zu schaffen, um das gemeinsam beschlossene Bündel von Verboten durchzusetzen. Dazu zählten der illegale Besitz und die Anwendung von explosiven Stoffen, aber auch die Mitgliedschaft in anarchistischen Organisationen, der Vertrieb anarchistischer Propaganda sowie jegliche gegenüber AnarchistInnen angebotene Hilfestellung.360 Auch spezielle Anarchismus-Observatoren sollten eingesetzt werden361 und Schwager hält fest, dass auch die Einführung der Identifikationstechnik 362 der Bertillonage in der Schweiz letztlich auf die Anti-Anarchismuskonferenz zurückzuführen sei.363 Im Gegensatz zur Konferenz in Rom war 358  |  Engeler, Grosser Bruder, S. 35. 359  |  1903 schließlich wurde das Zentralpolizeibüro unter der Schirmherrschaft der Bundesanwaltschaft eingerichtet, über das der internationale Nachrichtenfluss fortan passierte. Engeler, Grosser Bruder, S. 35. 360  |  Vgl. Deflem, Wild Beasts, S. 278. 361  |  Umgesetzt wurden nur wenige der verabschiedeten Punkte: »[T]he legislative and political actions against the anarchists called for at the conference had not materialized« (Bach Jensen, The United States, S. 19), fasst Bach Jensen die russische Position zusammen, die zur Einberufung des zweiten internationalen antianarchistischen Kongresses führen sollte. 362  |  Zu Zweck, Aufbau und Anwendung anthropometrischer Signalemente vgl. Schwager, Identifikationstechniken, S. 43-44. 363  |  Die aus heutiger Sicht verständliche These der Verquickung von Terrorismus und der Einführung neuer Identifikationstechniken überträgt Schwager in ihrem Beitrag auf die Belle Epoque. Vgl. Schwager, Identifikationstechniken. Verbindliche Belege existieren aber kaum, »[...] angesichts der zeitgenössisch weitverbreiteten Angst vor anarchistischen Gewalttaten erstaunlich« (ebd., S. 46), wie Schwager selbst festhält. Ihre These hält sie in der Folge lediglich mit Indizien aufrecht. So gilt bspw. bereits der Umstand als Beleg, dass der Bund es war, der bei der Einrichtung anthropometrischer Messämter in der Schweiz die Initiative ergriff. Dies wird deshalb als Beleg gewertet, weil auch der Bund es war, der Sprengstoffdelikte, die mit den 1894 geschaffenen Anarchisten-Gesetzen geahndet wurden, behandelte und aburteilte. In einer Equation des Stils ›einmal antianarchistisch = immer antianarchistisch‹ führt Schwager diese Doppelrolle des Bundes als Argument an, um der Neueinführung der Bertillonage ein antianarchistisches Momentum abzulesen. Vgl. Schwager, Identifikationstechniken, S. 48. Wenn solche und noch indirektere Indizien (Vgl. bspw. ebd., S. 50) die schlagendsten Argumente sind, müsste m.E. die These überdacht werden. Denn gerade in der Zeit des Fin de Siècle ließ es sich i.d.R. keine politische Instanz und/oder Gruppe nehmen, politische Anliegen in Rückgriff auf die drohende AnarchistInnen-Gefahr durchzupeitschen. Dass die offizielle Schweiz nun in einem einzigen Fall eine diametral gegenteilige Strategie fahren sollte, nur um schon bald wieder in der alten antianarchistischen Rhetorik weiterzuoperieren, scheint mir unwahrscheinlich.

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der zweiten internationalen antianarchistischen Konferenz364 weit weniger Erfolg beschert. In Reaktion auf das tödliche Attentat des Anarchisten Leon Czogolz auf US-Präsident William McKinley 1901 berief Russland am 14.3.1904 einen Kongress in St. Petersburg ein.365 Mit zehn teilnehmenden Staaten hatte die Konferenz weit weniger Gewicht als ihre Vorgängerin in Rom und auch das verabschiedete »Secret Protocol for the International War on Anarchism«366 hatte kaum Folgen. Frappanterweise unterzeichneten weder die USA noch Italien, obschon sie die zwei Hauptbetroffenen der jüngsten anarchistischen Attentate367 waren.368 Die gefassten Beschlüsse der ersten Konferenz 1898 in Rom wogen bedeutend schwerer. Für nicht-schweizerische AnarchistInnen bedeuteten sie in der Regel Landesverweise. Sowohl die Anzahl, als auch die relative Willkür der Ausweisungen nahm im Anschluss an die Konferenzen erheblich zu. Dabei wurde ein solches Ausmaß erreicht, dass auch bürgerliche Kräfte Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit äußerten.369 Das strikte Einhalten der gesetzlichen Formulierungen konnte auch zu anderweitig heiklen Situationen führen, wie zwei Zwischenfälle mit dem Anrainerstaat Italien zeigen, die schließlich in der sogenannten Silvestrelli-Affäre mündeten.370 In beiden Fällen waren Artikel des in Genf wirkenden Anarchisten Luigi Bertoni Ausgangspunkt.371 Im Le Réveil erschien am 8.6.1901 der heroisierende Artikel Bertonis »Pour un martyr de la liberté« über den Anarchisten Gaetano Bresci, der am 29.7.1900 den italienischen König Umberto I. umgebracht hatte.372 Berti, der 364  |  Für die zweite Konferenz vgl. Bach Jensen, The United States. 365  |  Deflem, Wild Beasts, S. 278. 366  |  Ebd., S. 279. 367  |  Am 29.7.1900 erschoss der in den USA residierende italienische Anarchist Gaetano Bresci den italienischen König Umberto I. 368  |  Inhaltlich drehte sich das Protokoll erneut um Polizeikooperation und Informationsaustausch. Es sollte eine Art antianarchistische Interpol gegründet werden. Vgl. dazu Bach Jensen, The United States. Die fehlende Motivation der USA zur Mitunterzeichnung des Protokolls sieht Bach Jensen im Fehlen einer nationalen Polizei in den USA zu diesem Zeitpunkt. Das FBI wurde erst in den 1920er Jahren zu einer solchen Kraft ausgebaut (vgl. ebd., S. 16). Hinzu kamen nationalstaatliche Interessen: Die USA wollten sich als souveräner Staat nicht an konservative Monarchien wie Russland binden. Diese Unlust teilte laut Bach Jensen auch Italien, das darüber hinaus etliche italienische Exil-AnarchistInnen hätte wiederaufnehmen müssen (vgl. ebd., S. 16). 369  |  Vgl. Engeler, Grosser Bruder, S. 36. Langhard hält fest, dass Auslieferungsgesuche auch nach den erneuten Verschärfungen des Umgangs der Schweiz mit Anarchisten mitunter abgelehnt wurden. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 395-403. 370  |  Ein Titel, der sich auf die Silvestrelli-Affäre konzentriert, ist bisher nur in italienischer Sprache erschienen. Gatani, L’affare Silvestrelli. Auf einigen Seiten beschäftigen sich Cruchon/Lefebvre mit der Silvestrelli-Affäre. Vgl. Cruchon/Lefebvre, Anarchisme justice et répression, S. 28-33. Einige Zeilen widmet Casagrande der Affäre. Vgl. Casagrande, Mises en fiche, S. 75-76. 371  |  Der folgende Abschnitt im Wesentlichen nach Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 403-412, Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 429-431 sowie Engeler, Grosser Bruder, S. 39-40. 372  |  Vgl. L.B., »Pour un martyr de la liberté«, Le Réveil, 8.6.1901, Jg. 2, Nr. 12, S. 1 und Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 404.

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italienische Geschäftsträger in der Schweiz, verlangte daraufhin die Eröffnung eines Verfahrens wegen Verletzung der Anarchisten-Gesetze im Sinne einer Aufreizung. Gestützt auf ein bundesanwältliches Gutachten teilte das Politische Departement Berti am 10.7.1901 mit, dass aus juristischer Perspektive die Apologie des Königsmordes Bertonis nicht ahnbar sei und damit auch nicht geahndet werde, sehr zum Missfallen Italiens. Am 18.1.1902 erschien wiederum im Le Réveil ein Artikel, der von Italien als beleidigend aufgefasst und verurteilt wurde. Thema war die Verwicklung Umbertos I. in die unrechtmäßige Vernichtung von Akten aus der Crispi-Zeit.373 Erneut war ein binationales Seilziehen die Folge, bei dem der Bundesrat auf formaljuristische Korrektheit pochte: Im Falle von Beleidigungen fremder Souveräne auf Schweizer Boden hätte der beleidigte Souverän selbst Klage einzureichen, befand man in Rückgriff auf ein Gutachten der Bundesanwaltschaft. Der italienische Diplomat Silvestrelli hingegen verlangte bundesrätliche Initiative zur Belangung des Le Réveil. Das gegenseitige Verharren auf den Positionen führte schließlich zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Italien und der Schweiz am 10.4.1902. Der Le Réveil trat sehr zum Unmut der Behörden derweil nicht leiser374, wie ein Blick ins eidgenössische Bundesblatt zeigt. Darin kam eine den Fall behandelnde nationalrätliche Kommission am 22.5.1902 zum Schluss, dass die schweizerischen Behörden und die Bevölkerung die Exzesse der anarchistischen Presse beklagten und verurteilten und keineswegs gewillt seien »[...] die Ruhe und den Frieden im Lande und die guten Beziehungen der Schweiz zu den auswärtigen Staaten durch Aufwiegler ungestraft stören zu lassen«.375 Bertoni versuchte die Aufmerksamkeit zu nutzen und rief in derselben Nummer zu einer Versammlung mit dem Thema Massenstreik in Lausanne auf. Das brachte ihm ein Sprechverbot ein, an das er sich aber nicht hielt. Bertoni wurde schließlich abgeführt und verhört. Die diplomatische Situation beruhigte sich erst am 25.7.1902376 wieder. Nachdem die diplomatische Vertretung der Schweiz zwischenzeitlich an Belgien übertragen wurde377, wurde mit deutscher und österreichisch-ungarischer Vermittlung die Neubesetzung der jeweiligen Diplomatenstellen beschlossen und die Situation entschärfte sich. Die Affäre blieb indes nicht ohne Folgen. Legislativ 373  |  Vgl. »Brevi note: Crispi«, Le Réveil, 18.1.1902, Jg. 3, Nr. 41, S. 3, übersetzt in Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 406-407. 374 | Langhard erwähnt einen Zweitabdruck des umstrittenen Artikels im Le Réveil am 18.3.1902, der zur Eskalation der Situation beigetragen hätte. Es existiert allerdings keine Ausgabe, die an diesem Tag erschien. Weder die Nummer davor (15.3.1902), noch die Nummer danach (29.3.1902) enthalten Zweitabdrucke des besagten Artikels weder im französischen, noch im italienischen Teil des Blattes. Vgl. Le Réveil, 15.3.1902, Jg. 3, Nr. 45, resp. Le Réveil, 29.3.1902, Jg. 3, Nr. 46. Erst in der Ausgabe vom 26.4.1902 wird das Thema der Silvestrelli-Affäre aufgegriffen, in dessen Rahmen es aber lediglich zur Bekräftigung der bezogenen Positionen kommt. Vgl. L.B., »La Rupture«, Le Réveil, 26.4.1902, Jg. 3, Nr. 48. Ein Zweitabdruck liegt auch in dieser Nummer nicht vor. 375  |  Bundesblatt 1902, II, S. 965, paraphrasiert in: Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 412. 376 | Vgl. »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 26.7.1902, Jg. 123, Nr. 205, Abendblatt, S. 2. 377 | Vgl. A.F., »Affäre Silvestrelli«, Neue Zürcher Zeitung, 18.4.1902, Jg. 123, Nr. 107, Zweites Abendblatt, S. 2.

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manifestierte sich die Silvestrelli-Affäre am 30.6.1906, als auch in der Schweiz ein Apologiegesetz in Form einer Ergänzung des Bundesstrafrechts eingeführt wurde, das Verherrlichungen von anarchistischen Verbrechen ahndete.378 Die Aussage Russels, »[...] dass der Anarchismus vieles anzieht, was an der Grenze von Wahnsinn und gemeinem Verbrechen angesiedelt ist«379, vermag eine weitere Episode aus dem Milieu italienischer AnarchistInnen in der Schweiz zu illustrieren. Der Arbeiter Carlo Machetto führte am 22.12.1902 ein Sprengstoffattentat auf die Genfer St. Peterskirche durch, das sich gegen den amtierenden Staatsratspräsidenten hätte richten sollen. Das Attentat brachte 319 Fenster und eine Tür zum Bersten.380 Macchetto bezeichnete sich selbst nicht als Anarchisten, ordnete seine Tat aber im Gespräch mit anderen als Antwort auf das abgelehnte Amnestiegesuch der Streikführer von 1902 ein.381 In Haft gesetzt, wurde versucht, Machetto für einen weiteren Sprengstoffanschlag zur Rechenschaft zu ziehen. Am 14./15.8.1902 wurden bei Sisikon im Kanton Uri Dynamitpatronen auf den Schienen des Bahnkörpers montiert, die bei der Passage eines Zuges hätten explodieren und den Zug aus den Schienen heben sollen. Dieses – vermutete – Ziel des Attentats, hätte dazu geführt, dass die Reisenden, zu denen in diesen Tagen der italienische König Emanuel III. zählte, mitsamt dem Zug in den Vierwaldstättersee gestürzt wären. Die AttentäterInnen reüssierten aber nicht. Es barsten lediglich einige Fenster ob der Detonation und der Schotter des Bahnkörpers wurde aufgewühlt.382 Machetto konnte der Sprengstoffanschlag von Sisikon schließlich nicht definitiv zugeschrieben werden. Er machte sich allerdings auch außerhalb des Attentats auf die St. Peterskirche mit delinquentem Verhalten bemerkbar. So prahlte er damit, Munitionsdepots ausgeräumt zu haben und dass er jede Geldkasse zu öffnen verstehe.383 Gewisse Vergehen schien er nachweislich begangen zu haben, andere waren frei erfunden. Kaum erstaunlich mutet deshalb die Tatsache an, dass selbst Machettos Glaubwürdigkeit als Anarchist angezweifelt wurde, da ihm kein Umgang mit Anarchisten nachgewiesen werden konnte, was in zu dieser Zeit mit den akribisch geführten Personendossiers der Politischen Polizei kein Husarenstück gewesen sein dürfte.384 Stattdessen wurde ein psychiatrisches Gutachten veranlasst. Seit 1885, so heißt es darin, habe Machetto »Zeichen von Geistesstörung 378  |  Vgl. zu Form und Funktion der Ergänzung der Anarchistengesetze von 1894 Kap. 3.3 Die Schweiz und der Anarchismus. Vgl. zur Silvestrelli-Affäre knapp Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 429-431 und ausführlich Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 403-413. 379  |  Russel, Wege, S. 54. 380  |  Vgl. dazu BAR E21/14415. 381  |  Diese Interpretation wurde in Polizeicommuniqués an Zeitungen bereits vor der Verurteilung Machettos verschickt. Gezielt falsch informierend wurde sie als Meinung der anarchistischen Zeitung Le Réveil präsentiert. Tatsächlich findet sich keine dahingehende Interpretation im Le Réveil, Vgl. die das Thema behandelnden Artikel »Beaucoup de bruit pour rien«, Le Réveil, 3.1.1903, Jg. 4, Nr. 65, S. 2, G.H., »Cette affaire n‹est pas claire«, Le Réveil, 17.1.1903, Jg. 4, Nr. 66, S. 2 und »???«, Le Réveil, 31.1.1903, Jg. 4, Nr. 67, S. 1. 382  |  Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 421. 383  |  Ebd., S. 420. 384 | »Sichere Anhaltspunkte über Machettos Verkehr mit Anarchisten liessen sich nicht ermitteln« (ebd., S. 421), schreibt Langhard dazu. Nettlau erwähnt ihn überhaupt nicht.

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gezeigt. Seit 1897 ist bei ihm eine ausgesprochene Geisteskrankheit vorhanden; sie äussert sich durch Halluzinationen und Wahnideen, zu welchen Geistesschwäche hinzugetreten ist.«385 Machetto wurde in der Folge nicht als Anarchist verurteilt. Seine Zurechnungsfähigkeit wurde ihm aberkannt und er wurde als »[...] gemeingefährlicher Geisteskranker in Verwahrung gehalten [...]«.386 Nach diesen Ereignissen wurde es still um italienische AnarchistInnen in der Schweiz. Sie füllten wohl weiterhin Ausweisungsregister und -statistiken, traten aber nicht mehr durch gesonderte Aktionen hervor. Wie oben gezeigt, fand radikale außerparlamentarische Politik im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein verhältnismäßig großes Gehör in der Schweiz. In diese Blütezeit fielen auch die Zürcher ›Bomben-‹ oder ›Anarchistenprozesse‹ von 1907 und 1912.387 Die Prozesse gingen auf einen misslungenen Befreiungsversuch des polnischen Anarchisten Georg Kilaschitzky zurück, der in Haft saß wegen eines Auslieferungsgesuchs Russlands. Gesucht wurde er als Mittäter des Attentats auf den russischen Eisenbahndirektor Iwanow. Unter lauten Protesten auch der parlamentarischen Linken bewilligte das Bundesgericht das russische Auslieferungsgesuch. Mitglieder der anarchistischen Gruppe ›Weckruf‹ wollten eine Auslieferung verhindern, respektive Kilaschitzky aus der Untersuchungshaft befreien.388 Das sollte in der Nacht des 3.6.1907 mit der Befestigung einer Bombe 385  |  Ebd., S. 422. 386  |  Ebd., S. 422. 387  |  Abschnitt nach Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 30-53 und S. 195-228, Boesch, Biografie und Soziale Bewegung, S. 53 und S. 69-77. 388  |  Die Gruppe ›Weckruf‹ stellte einen informellen und volatilen Zusammenschluss von einheimischen und zugewanderten AnarchistInnen in Zürich dar, die sich propagandistisch betätigten. Namen, die im Weckruf-Zusammenhang auftauchen sind Eduard Riedlin und Matthias Malaschitz, die bereits 1901 an der Herausgabe einer anarchistischen Zeitung scheiterten. Polizeihauptmann Rappold geht von Eduard Riedlin als Kopf der geplanten anarchistischen Monatsrevue aus, Bundesanwalt Kronauer spricht von einer Gruppe »Presscommission« mit den Mitgliedern Eduard Riedlin, Karl-Otto Vöckler, Mathias Malaschitz und Edmund Klein. Vgl. StaZH P239.6b (119:5) resp. StaZH P239.6b (119:3524). Ferner waren in der Gruppe aktiv Moritz Likier, Friederich-Louis Kunz, Albert Reitze, Ernst und Paul Werner Frick, Robert und Jakob Scheidegger, Max und Siegfried Nacht, Israel Feingold, Werner Karfunkelstein, Simcka Bersohn, Wolfgang Sattler und Johannes Holzmann, die alle an der Herausgabe der Zeitung Der Weckruf und mehrerer Kleinschriften und Broschüren arbeiteten. Vgl. Portmann, Die wilden Schafe, S. 78. Abgesehen von der publizistischen Tätigkeit organisierte die Gruppe auch Referate und Zusammenkünfte in der Stadt Zürich und der näheren Umgebung, wo anarchistische Themen vorgestellt und besprochen wurden. Das brachte der Gruppe auch Zulauf von staatlicher Seite ein und sie wurde am 20.7.1905 Gegenstand einer bundesrätlich angeordneten umfassenden Durchleuchtung. Anlass dafür war die Vermutung der Politischen Polizei, dass die Gruppe Spuckzettel mit antimilitaristischem Inhalt gedruckt und verbreitet haben sollte. Vgl. für den Bericht, der aus der Polizeiaktion hervorging »Weckruf: Antrag der Bundesanwaltschaft«, BAR E21/14515. Die bei der Aktion beschlagnahmten Drucksachen, auch persönliche, sind noch immer im Bundesarchiv zu finden, obwohl sie z.T. nicht in Zusammenhang mit der Polizeiaktion standen. Wie bspw. drei Notizbücher von Siegfried Nacht (BAR E21/14522 und BAR E21/14523) mit den Spuckzetteln zusammenhängen, ist beim besten Willen nicht eruierbar. Die Betroffenen verlangten ihre Unterlagen

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am Geländer der Polizeikaserne in Zürich gelingen. Während der Befestigung gerieten die beiden Weckruf-Chefredaktoren Robert Scheidegger und Ernst Frick, der österreichische Anarchist Othmar Zorn und James Reich an den diensthabenden Wachpolizisten Ernst Beck, der schließlich von Frick mit einer Faustfeuerwaffe bedroht wurde. Es entstand ein Gerangel und Schüsse fielen, die aber niemanden verletzten und die vier Anarchisten konnten schließlich fliehen. Zur Verwischung der Spuren blieb aber keine Zeit und es blieben mehrere Patronenhülsen zurück. Die Bombe konnte nicht montiert werden, musste aber weg. Durch eine Aussparung in einem Rinnstein im Arbeiterquartier Zürich-Aussersihl versuchte Robert Scheidegger die Bombe, die er gemäß eigener Aussage auf sich trug389, in der Kanalisation zu entsorgen. Das Loch erwies sich indes als zu klein und die Bombe landete so nicht in der Kanalisation, sondern in neugierigen Kinderhänden, die im glitzernden Gegenstand ein Spielzeug vermuteten. Nachdem drei Kinder die Bombe an der Ecke Zweierstrasse/Gartenhofstrasse aus dem Gullydeckel gefingert hatten, detonierte sie doch noch und betraf gänzlich Unbeteiligte. Die Sympathie, die eine spektakuläre Befreiungsaktion Kilaschitzkys bei der parlamentarischen Linken zumindest im Potenzialis noch hätte generieren können, war damit dahin. Gehässige und distanzierende Artikel in den Zeitungen ließen auch in der sozialdemokratischen Presse nicht lange auf sich warten. Nachdem zunächst pauschal RussInnen hinter der Tat vermutet wurden, schwenkte der Blick bald auf die Gruppe ›Weckruf‹. Der bedrohte Wachtpolizist Beck identifizierte Ernst Frick als Haupttäter und ein Haftbefehl wurde ausgestellt. Frick hatte sich im Nachgang der missglückten Befreiung kurzfristig nach Bern abgesetzt und beschaffte sich umgehend bei Margarethe Faas-Hardegger ein falsches Alibi. So konnte er beruhigt nach Zürich zurückkehren und am Weckruf weiterarbeiten. Frick wurde stattdessen kurz nach seiner Ankunft festgenommen. Bei einer Hausdurchsuchung wurden Patronen und Patronenhülsen gefunden, die identisch waren mit den am Tatort liegengebliebenen. Die Zürcher Bezirksanwaltschaft erhob Anklage gegen Frick wegen Mordversuchs an Wachtpolizist Beck. Am 30.10.1907390 wurde Frick diesbezüglich vom Geschworenengericht freigesprochen, vornehmlich dank der falschen Alibis Hardegger-Faas’ und anderer Freunde. Viereinhalb Jahre später, am 12.3.1912, wurde der Fall unter Staatsanwalt Franz Glättli neu aufgerollt. Grund dafür war eine Aussage Robert Scheideggers, der 1912 wegen Saccharinschmuggels391 und Gegenstände in persönlichen Schreiben zurück, erhielten sie aber nicht immer. Vgl. dazu die Schreiben von Wilhelm Baumgartner und Siegfried Nacht an den Bundesanwalt in BAR E/21/14520 (8/7). 389  |  Vgl. Scheideggers Aussage zitiert in Boesch, Biografie und Soziale Bewegung, S. 69. 390 | Vgl. »Schwurgericht in Pfäffikon«, Neue Zürcher Zeitung, 30.10.1907, Jg. 128, Nr. 301, Erstes Morgenblatt, S. 3. Der Freispruch wird in einem anderen Artikel (»Aus dem Gerichtssaal: Die Bombenaffäre [...]«, Neue Zürcher Zeitung, 25.11.1912, Zweites Abendblatt, S. 2) auf den 11.10.1907 datiert. 391  |  Der Saccharinschmuggel war für AnarchistInnen, aber auch für andere ›Deklassierte‹ im Zürich der 1900er und 1910er Jahre einer der lukrativsten Wege zu Geld zu kommen. Der ›Zucker der Armen‹ war in Deutschland und Österreich – aus protektionistischen Gründen, nämlich um die Zuckerrübenindustrie (künstlich) am Leben zu erhalten – verboten. Saccharin, das süßer war als Zucker und in flüssiger, pulverförmiger Form oder en bloc erhältlich war, konnte gut geschmuggelt werden. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nahm der

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in deutscher Haft saß. In einem Brief bekannte er sich schuldig, die Polizeikaserne in Zürich mit vier Genossen überfallen zu haben. Grund seines Geständnisses war die Hoffnung, seine Frau Klara und seine Kinder möglichst schnell wieder zu sehen. In seinem umfassenden Geständnis nannte er auch Namen der anderen am Kasernenüberfall Beteiligten. Der Brief Scheideggers und sein anschließendes Verhör sowie weitere belastende Aussagen von Paul Frick, ließen die Glaubwürdigkeit Ernst Fricks und Hardegger-Faas’ sinken. Die Aussagen Paul Fricks führten sogar dazu, dass nun nicht mehr nur der Kasernenüberfall zur Debatte stand, sondern auch ein späteres Vergehen Ernst Fricks: der 1908 lancierte Angriff auf die Limmattaler Straßenbahn. Damit wollte Frick seine Solidarität ausdrücken mit den zunächst für bessere Arbeitsbedingungen streikenden und dann dafür entlassenen Straßenbahnarbeitern. Die Umsetzung seiner revolutionären Pflicht nahm dabei gewalttätige Züge an. Zusammen mit seinem Bruder Paul, Othmar Zorn und Ernst Uhlshöfer brachte Ernst Frick die letzte fahrende Straßenbahn in Schlieren schwarz vermummt zum Stillstand, zerschlug eine Scheibe, trieb die beiden Passagiere schreiend in die Flucht und verprügelte die streikbrechenden Tramführer.392 Nach erneut eingeleiteter Untersuchung befand das Zürcher Obergericht zwar am 20.6.1912, dass es den Fall aus rechtlichen Gründen nicht neu beurteilen lassen könne. Dafür wurde der Chef der Politischen Polizei, Bundesanwalt Otto Kronauer aktiv. Er nahm das Verfahren bezüglich des Polizeikasernenüberfalls und dasjenige des Straßenbahnüberfalls unter Anwendung der Anarchistengesetze auf Bundesgerichtsebene auf. Die Verhandlung fand vom 26.-30.11.1912 in Zürich statt.393 Nach einem viertägigen Prozess wurden Ernst Frick zu einem Jahr und Robert Scheidegger zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Der Urteilsspruch hatte auch zur Folge, dass Anklage gegen die Hardegger-Faas wegen Falschaussage erhoben wurde. Hardegger-Faas wurde wegen der Angabe eines falschen Alibis zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Georg Kilaschitzky, dem die Aktion des Kasernenüberfalls ursprünglich galt, nützte die ganze Aktion und die mit ihr einhergehende mediale Aufmerksamkeit in drei Gerichtsverfahren nichts. Der polnische Anarchist wurde bereits zwischen Mai und Mitte Juni 1907 heimlich ausgeliefert 394 und in Russland bei einem Fluchtversuch aus dem Gefängnis erschossen. Neben diesen Entwicklungen waren es kleinere Projekte, die in der Schweiz den anarchistischen Ideen Vorschub leisten sollten. Dazu gehören anarchistische

Saccharinschmuggel immer professionelleren Charakter an und wurde von Kartellen dominiert. Vgl. Merki, Zucker gegen Saccharin, S. 200-205. 392  |  Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 93-95 und S. 201-202. 393 | Bochsler schreibt von einer großen medialen Aufmerksamkeit: »Noch vor dem Prozess erscheinen die ersten Zeitungsartikel und schüren die Erwartungen der Leserschaft auf sensationelle Enthüllungen aus dem Milieu der Anarchisten.« (Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 212). Die in dieser Arbeit berücksichtigte nicht-anarchistische Presse bestätigte eine dahingehende Hysterie nicht. Das Ausmaß der Berichterstattung hielt sich in Grenzen. Vgl. Kap. 5. Von Läusen und Unkraut: AnarchistInnen und Anarchismus in der nicht-anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914. 394  |  Vgl. »Lokales: Erst jetzt«, Neue Zürcher Zeitung, 11.6.1907, Jg. 128, Nr. 160, Erstes Abendblatt, S. 2.

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Gruppen, Lese- und Agitationszirkel395. Aktenkundig sind in Bellinzona die Gruppe ›Humanitas‹ 1891 396, in Genf die ›Groupe Initiative individuelle‹ 1890397, der ›Club de L’avenir‹ 1894398, der ›Club populaire‹ 1896399, die Gruppe ›Karlen‹ 1897400, der ›Cercle libertaire‹ 1898 401, das ›Syndicat Mixte International‹ 1901-1905402, die ›Groupe du Réveil‹ 1902-1908 403 sowie die Gruppe ›Germinal‹ 1905-1908 404. In Neuenburg bestand der ›Cercle des études sociales‹ 1898 405, in La Chaux-de Fonds die ›Groupe libertaire‹ 1904 406, in Biel die ›Groupe d’études sociales de Bienne‹407, im Wallis um 1907 die ›Groupe Libertaire Valaisan‹408, in Zürich die bereits erwähnte Gruppe ›Weckruf‹ 1903-1906409, die anarcho-sozialistische Gruppe ›Freiheit‹ 1909 sowie in Luzern die Gruppe ›Auf bau‹ 1909 410. In Bern bestand der ›Inter-

395  |  Berücksichtigt wurden Vereine, die nicht bereits im Titel eine eindeutig nationale Ausrichtung hatten und damit zumindest theoretisch andere Nationalitäten ausschlossen. So wurde bspw. bei der Aufzählung der ›Anarchistisch- sozialistische deutsche Verein in Genf‹ (BAR E21/13967) nicht berücksichtigt. Eine umfassende Aufarbeitung anarchistischer Milieus der Schweiz der Jahrhundertwende stellt nach wie vor ein Forschungsdesiderat dar. 396 | BAR E21/13965. 397 | BAR E21/13961. 398 | BAR E21/13968. 399 | BAR E21/13975. 400 | BAR E21/13976. 401 | BAR E21/13978. 402  |  BAR E21/13982. Das ›Syndicat Mixte International‹ traf sich donnerstags um 1930 Uhr, wechselte allerdings öfters den Ort. Daneben organisierte die Gruppe auch extrakurrikuläre Veranstaltungen. Vgl. »Revue du Mouvement ouvrier: Syndicat Mixte International«, L’Émancipation, 24.8.1902, Jg. 1, Nr. 9, S. 3. 403 | BAR E21/13984. 404  |  BAR E21/13986. Vgl. einen Aufruf für eine Veranstaltung der Gruppe in »Propagande«, L’Action Anarchiste, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 405 | BAR E21/13977. 406 | BAR E21/13985. Das Genfer Kürzel (GE) auf dem Dossierumschlag ist falsch, die Gruppe agitierte in La Chaux-de- Fonds. 407  |  Darauf lässt zumindest die Urheberschaft einer Ankündigung zweier Informationsveranstaltungen mit James Guillaume und Fritz Brupbacher zum Thema Anarcho-Syndikalismus schließen. Vgl. Groupe d’études sociales de Bienne, »Conférences Guillaume-Brupbacher«, La Voix du Peuple, 7.9.1907, Jg. 2, Nr. 36, S. 3. Ein Aufruf zur Konferenz findet sich auch im Le Réveil in »Conférence Guillaume Brupbacher«, Le Réveil, 7.9.1907, Jg. 8, Nr. 211, S. 2. 408  |  Vgl. »Chronique Valaisanne«, Le Réveil, 9.2.1907, Jg. 8, Nr. 194, S. 2. 409  |  Vgl. Kühnis, Skizze der Welt. 410  |  Die Gruppen ›Freiheit‹ und ›Aufbau‹ finden Erwähnung in der anarcho-sozialistischen Zeitung Der Sozialist als Andockstellen für Interessierte. Im Unterschied zu Gruppen anderer Städte sind für Zürich weder Adressen noch, Sitzungsfrequenzen oder Kontaktpersonen (sog. Gruppenwarte) gelistet, was in den allermeisten Fällen auch für Luzern gilt. Vgl »Der Sozialistische Bund«, Der Sozialist, 15.7.1909, Jg. 1, Nr. 11, S. 88. Luzern bildet eine Ausnahme: Es wird von 14-täglichen Treffen der Gruppe berichtet, die allerdings nur auf Einladung von Gruppenwart Hermann Frei hin besucht werden konnten. Vgl. »Der Sozialistische Bund«, Der Sozialist, 15.6.1911, Jg. 3, Nr. 12, S. 96.

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nationale Arbeiterverein Bern‹ 1888 411, die Gruppe ›Jung Bern‹ 1894 412und die von Margarethe Hardegger-Faas 1909 begründete Gruppe ›Hammer‹413, die sich in regelmäßigen Abständen »[...] zur gemeinsamen Lektüre, zu Diskussionen und zur Organisation politischer Anlässe« 414 traf. Oftmals zählten diese Gruppen wenige Mitglieder und waren von kurzer Lebensdauer. Sie erwiesen einen vergleichsweise hohen Durchsatz an Personen, wobei gewisse Namen wiederholt auftauchen. Die Organisation von Solidaritätsbekundungen mit verfolgten AnarchistInnen außerhalb der Schweiz zählte ebenfalls zu den Möglichkeiten, als AnarchistInnen in der Öffentlichkeit kollektiv aufzutreten und so anarchistische Identität zu konstituieren und zu unterhalten. Der berühmteste diesbezügliche Fall sind die Kundgebungen für die unschuldig415 zum Tode Verurteilten Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti.416 Rund 5000 Menschen nahmen an der Protestdemonstration in Genf am 22.8.1927 kurz nach Bekanntgabe des vollstreckten Urteils teil. Die Demonstration stürmte unter anderem das Völkerbundgebäude und verwandelte den Glassaal mit Steinwürfen in einen großen Scherbenhaufen.417 Der Fall Sacco und Vanzetti vermochte aber nicht erst im Nachhinein zu mobilisieren. Bereits am 5.12.1924 fand in Zürich eine akribisch überwachte Protestkundgebung statt, die von rund 1500 Personen besucht wurde. Rund zwei Jahre später fanden am 1.11.1926 400 Personen den Weg ins Zürcher Volkshaus, um eine Protestnote an die US-Regierung zu verabschieden.418 Die Proteste häuften sich 1927 wieder 411 | BAR E21/13992. 412 | BAR E21/13966. 413 | Vgl. Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 116-119. Mit Ausnahme der Gruppe ›Weckruf‹, der eine eigene bundesanwältliche Untersuchung gewidmet wurde (Vgl. BAR E21/14515-14519) finden sich für die anarchistischen Gruppen der Deutschschweiz nach 1900 im Bundesarchiv Bern keine gesonderten Dossiers. 414  |  Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 117. 415 | 1977 wurde von Gouverneur Dukakis eine Verkündung der Nicht-Schuld Sacco und Vanzettis bzgl. des vorgeworfenen Verbrechens – eines Raubüberfalls vom 15.4.1920 – erwirkt. 416  |  Das Schicksal der beiden italienischen Anarchisten in Boston stellte von Beginn an eine identitäre Wegmarke für AnarchistInnen dar. Bereits zum ersten Todestag legte Erich Mühsam eine szenische Bearbeitung des Falles Sacco und Vanzetti vor. Das Stück blieb auch aus dramaturgischen Gründen sehr nahe an der Realität gemäß Autor Mühsam: »Der historische Ablauf der Ereignisse hat ein Drama von so ungeheurer Dringlichkeit geschaffen, dass der dich- terischen Erfindung so gut wie nichts zu tun übrig blieb.« (Mühsam, Staatsräson, S. 109). Vgl. zum Prozess allge- mein Ortner, Zwei Italiener, Strauss-Feuerlicht, Sacco und Vanzetti, Fast, Sacco und Vanzetti in literarischer Manier, und Lyons, Sacco und Vanzetti, der die beiden zuweilen sehr begeistert und pathetisch zu proletarischen Märtyrern schreibt. 417 | Vgl. Lyons, Sacco und Vanzetti, S. 9 und S. 248. Nach dem weitgehenden praktischen Zerfall der Internationalität der Arbeiterbewegung durch den Ersten Weltkrieg, waren die weltweit durchgeführten Demonstrationen für Sacco und Vanzetti wichtige kollektive Ereignisse um zu zeigen, dass die viel besungene internationale Solidarität doch mehr als eine Worthülse war. Versammlungen, Ausschreitungen und Generalstreiks gab es im Anschluss an die Verkündung der Urteilsvollstreckung in Nord- und Südamerika, Europa, der Sovietunion, Südafrika und Asien. (Vgl. ebd., S. 8-9 und S. 198-207). 418  |  Dubach, Strizzis, S. 136-138.

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schweizweit, als alle Rekurse abgelaufen und das Todesurteil für Sacco und Vanzetti rechtskräftig wurde. Rund zwei Wochen vor der Vollstreckung des Urteils fand am 10.8.1927 in Basel um 16 Uhr ein Solidaritätsstreik statt. Die Arbeit wurde in vielen Betrieben eingestellt und 12.000 ArbeiterInnen fanden sich zu einer Kundgebung auf dem Marktplatz ein, nachdem die SP Basel, die KP und die Versammlung der Vorstände aller Gewerkschaften darauf mobilisiert hatten.419 Auch in Lausanne fand am 24.8.1927 ein 24-stündiger Solidaritätsstreik statt. In Zürich kam es zu zwei Ansammlungen von insgesamt über 2000 Menschen auf dem Helvetiaplatz, auf denen ein Proteststreik gefordert wurde. Dieser blieb aber ebenso aus wie die im Vorfeld befürchteten Ausschreitungen.420 Neben Gruppenversammlungen und Demonstrationen boten vor allem anarchistische Konferenzen Gelegenheit zu Treffen und Diskussionen und damit zur Etablierung und Schärfung der anarchistischen Bewegung der Schweiz. Auch diese Konferenzen blieben nicht vom Staatsschutz unbeaufsichtigt.421 Die nachhaltigsten anarchistischen Projekte dürften hingegen diejenigen pädagogischen Zuschnitts gewesen sein. Am bekanntesten und historisch am besten aufgearbeitet ist die ›École Ferrer‹422 in Lausanne.423 Am 1.11.1910 wurde die anarchistische Schule gegründet und mit einer 28-köpfigen Klasse in Betrieb genommen.424 Die Ferrer-Schule unterschied sich von der öffent419  |  Lyons, Sacco und Vanzetti, S. 241. Bei Dubach findet sich zudem ein Hinweis auf eine gleichentags in Basel detonierte Bombe. Vgl. Dubach, Strizzis, S. 139 420 | Vgl. die zusammengestellten Zeitungsberichte zur Solidaritätsbewegung in Lyons, Sacco und Vanzetti, S. 239-252. 421  |  Vgl. für die beiden anarchistischen Konferenzen in Genf 1890 BAR E21/13941 und 1918 E21/13959. Auch bloß projektierte Kongresse wurden aufmerksam verfolgt. Vgl. für die nie realisierten Genfer Kongresse von 1900 BAR E21/13951, resp. für 1901 E21/13951. 422  |  Die Benennung der Schule richtet sich nach dem spanischen Anarchisten Francisco Ferrer, »[...] le fondateur en Espagne de nombreuses écoles faites en dehors de L’Etat et de L’Eglise, mais pour le seul bien de L’enfant [...]«, [dt.Ü: »der Gründer von zahlreichen Schulen in Spanien, außerhalb des Staates und der Kirche und allein für das Wohl der Kinder«] wie Wintsch in seiner Abhandlung über die ›École Ferrer‹ in Lausanne schreibt. Ferrer wurde 1909 exekutiert, »[...] accusé sans preuve d’avoir été L’instigateur de la grève générale de Catalogne – exécution politique qui fit vibrer tout L’Europe libérale et avancée« (Wintsch, Jean Dr., L’École Ferrer. Genf, 1919, S. 10) Dt.Ü: »ohne Beweise beschuldigt, verantwortlich für den Generalstreik in Katalonien zu sein – eine politische Hinrichtung, die das gesamte liberale und fortgeschrittene Europa erzittern ließ.« Vgl. für die bewegte Geschichte der Ferrer-Schule Wintsch, L’École Ferrer, und Heimberg, L’École Ferrer de Lausanne. 423  |  Libertäre Ferrer-Schulen wurden nach dem Vorbild der Modernen Schule von Barcelona im frühen 20. Jahrhundert in verschiedenen Städten der Welt gegründet. Die Moderne Schule New York entstand 1909 und siedelte 1911 nach Stelton, New Jersey um, wo sie bis 1953 existierte. Weitere Schulen finden sich in São Paulo in Brasilien oder im norditalienischen Clivio. Die Zäsur des Ersten Weltkriegs machte sich auch im Unterhalt libertärer Schulen bemerkbar: Die meisten wurden in dieser Zeit geschlossen. Unterricht, Bildung und Ausbildung blieben allerdings bis in die heutige Zeit wichtige Themen der anarchistischen Bewegung. Vgl. Enckell, Introduction, S. 10-11. Vgl. für die mittlerweile 100jährige Tradition libertärer Bildung und Ausbildung in Großbritannien Shotton, No Master. 424  |  Der Schule ging ein anarcho-syndikalistisch portiertes Sonntagsschulprojekt voraus, das ab Februar 1905 im Volkshaus Lausanne abgehalten wurde: »En vérité, cette création

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lichen Schule durch einen veränderten Lehrplan.425 Es gab keine Hausaufgaben, keine Noten und keine Bestrafungen. Statt Religionsunterricht gab es pro Jahr sieben bis acht Lektionen zum Thema Sexualhygiene, in denen unter anderem Geschlechtskrankheiten vorgestellt wurden. Ebenfalls neu war die Zusammenarbeit mit Berufsleuten im Schulunterricht. In ihrer neunjährigen Geschichte zeichnete sich die Ferrer-Schule aber nicht nur durch ihren fortschrittlichen Lehrplan aus. Auch die Struktur setzte neue Akzente. So kannte die Ferrer-Schule nur geschlechtlich gemischte Klassen. Und: Die Geschicke der Schule wurden nicht nur von der Pädagogischen Kommission bestimmt. Neben dem Comité de la ›Société de l’École Ferrer‹ hatten auch Gewerkschaften und Eltern Einsitz und Mitspracherechte, wenn es um die Ausrichtung der Schule ging. Prägend für die Ferrer-Schule in Lausanne waren aber auch allerlei existenzielle Kämpfe. Der wohl folgenreichste davon war der Zwist der Schule mit dem Lehrer »M.A.«426, wie Schulchroniker Wintsch ihn nennt.427 Zwar wurde dessen Untauglichkeit schnell bemerkt und M.A. wurde bereits nach drei Monaten im Januar 1911 entlassen. Dennoch fügte er der Schule nachhaltigen Schaden zu, indem er die Geldmittel der Schule kraft der flachen Hierarchien auf der Bank einfror. Erst nach vier Jahren konnte das Geld gerichtlich freigestritten werden. Wie so viele andere anarchistische Projekte krankte damit auch dieses an einem Subsistenzmangel. Das war aber nicht der einzige Grund, wieso die Ferrer-Schule ihre Tore nach einem zehrenden Existenzkampf neun Jahre nach ihrer Eröffnung am 15.4.1919 wieder schloss. Wintsch erklärt, dass die Schließung mit dem Abflachen der Arbeiterbewegung kurz nach dem Ersten Weltkrieg und der darauf folgenden allgemeinen Krise zusammenhing.428 Auch die schuleigene Zeitschrift, das Bulletin de L’École Ferrer wurde nur wenig älter und stellte im Mai 1921 den Betrieb ein. Rund zehn Jahre vor der ›École Ferrer‹ wurde im Walliser Dorf Bagnes im Jahr 1900 die ›École Libre‹ eröffnet, die 43 Jahre lang Bestand hatte.429 Wenngleich keine expliziten Bezüge zum Anarchismus auszumachen sind, kann die ›École Libre‹ doch als anarchoides Vorbild verstanden werden.430 Wie später in der ›École Ferrer‹ wurden die Klassen gemischtgeavait été précédée d’un essai plus modeste de grouper tous les dimanches les enfants des ouvriers [...] depuis février 1905.« (»L’École Ferrer de Lausanne: Un peu d’histoire«, Bulletin de L’ École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 1) Dt.Ü.: »In Wahrheit war dieser Gründung ein bescheidenerer Versuch vorausgegangen, seit Februar 1905 [...] jeden Sonntag die Arbeiterkinder zu versammeln.« 425 | Vgl. für eine ausführliche Charakterisierung Heimberg, L’École Ferrer de Lausanne, S. 20-28. 426  |  Vgl. Wintsch, Un Essai, S. 11-16. 427  |  Vgl. Wintsch, L’École Ferrer. Wintsch zeigte sich schon früh begeistert von der Idee, die neue Gesellschaft in Kindern entstehen zu lassen. Bereits fünf Jahre vor der Eröffnung der anarchistischen Ferrer-Schule in Lausanne schwärmte er von einem hierarchiefreien Lernumfeld, wie er es in Pâtis in der Nähe von Paris beim Schulprojekt ›La Ruche‹ gesehen hatte. Vgl. dazu Dr. Wintsch, »La Ruche«, Polis, 12.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 11-13. 428  |  Vgl. Wintsch, Un Essai, S. 3. 429  |  Vgl. Deslarzes-May, L’École Libre de Bagnes (2000), S. 19-20. 430 | Dafür spricht die Begeisterung des anarchistischen Milieus über sie. Im Le Réveil hieß es: »Seule une école libre donnera des hommes libres. Que les camarades y songent et s’en préoccupent. Et en attendant, aux élèves, à L’instituteur, aux montagnards de Bagnes,

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schlechtlich unterrichtet und anstelle von Konkurrenzkampf und Leistungsdruck stand in antiautoritärer Manier die gegenseitige Hilfe, der freie Wille, laizistische Prinzipien und die Etablierung von unabhängigen Individuen auf dem Lehrplan. Der einzige Lehrbeauftragte von 1900-1927, Alphonse Michaud, fasste den pädagogischen Zweck der Schule in einem Rapport folgendermaßen zusammen: »A nous d’éclairer les enfants et les hommes; à eux seuls de choisir la route qu’ils jugent la meilleure.«431 Neben den Schulprojekten lassen sich auch konkrete anarchistische Siedlungsprojekte in der Schweiz des jungen 20. Jahrhunderts ausmachen.432 Dazu sind Kommunen- und Siedlungsversuche zu zählen, bei denen versucht wurde, anarchistische Theorie in die Praxis umzusetzen. Zu ihnen ist leider nur wenig bekannt, auch aufgrund fehlender oder verschwundener Quellen.433 Durch die Biografie Margarethe Hardegger-Faas’ hat man immerhin Kenntnis von drei Versuchen, die anarcho-sozialistischen Ideen Landauers zu leben und exemplarischer Wegweiser für die gerechte Gesellschaft der Zukunft zu sein. Der Berner Pflugweg 5, der ›Villino Graziella‹ in Minusio und die ›Alte Vogtei‹ im zürcherischen Herrliberg waren für eine jeweils begrenzte Zeit Orte, wo Personen sich ein Leben außerhalb der kapitalistischen Ordnung organisierten. Hardegger-Faas etwa funktionierte 1912 ihr eigenes Elternhaus am Pflugweg 5 in Bern zur Kommune um.434 Dazu gehörte die gemeinschaftliche Bewirtschaftung des Gartens, kollektive Freizeitgestaltung, eine gemeinsame Haushaltskasse und das gemeinsame Essen. Im Zentrum der Gemeinschaft am Pflugweg 5 stand allerdings das Politisieren im ›Arbeitoutes nos sympathies! Ils nous ont montré qu’on peut se passer de L’État et de L’autorité. Imitons-les partout sans retard.« (»L’École libre de Bagnes«, Le Réveil, 10.8.1907, Jg. 8, Nr. 209, S. 2) Dt.Ü.: »Nur eine freie Schule führt zu freien Menschen. Das sollten sich die Genossen überlegen und sich darum bemühen. Währenddessen geht unsere ganze Sympathie an die Schüler, den Lehrer und die Montagnards aus Bagnes! Sie haben uns gezeigt, dass man ohne Staat und Autorität auskommen kann! Lasst es uns ihnen überall gleich tun, ohne zu warten.« 431  |  Dt.Ü.: »Es steht uns zu, die Kinder und Menschen aufzuklären; ihnen allein steht es zu, den Weg zu wählen, den sie als den besten erachten.« Vgl. den Artikel »L’École libre de Bagnes«, Le Réveil, 10.8.1907, Jg. 8, Nr. 209, S. 2, der den entsprechenden Rapport von Michaud zitiert. Anders als diese Selbsteinschätzung heben die wenigen historischen Arbeiten zur ›Ecole Libre‹ in Bagnes mit sozial- und politgeschichtlichem Fokus den laizistischen Ansatz der Schule als zentral hervor im damals deutlich in konservative und liberale Lager gespaltenen Tal des Wallis. Vgl. Deslarzes-May, L’École Libre de Bagnes (2000), S. 25, resp. Gabbud, Bagnes, S. 664. Während Deslarzes-May, die ›Ecole Libre‹ in Bagnes aber immerhin in Beziehung setzt zu den libertären pädagogischen Projekten in Lausanne der Zeit (Deslarzes-May, L’École Libre de Bagnes (2000), S. 23), bezeichnet Gabbud die Schule als »liberal-radikal« (Gabbud, Bagnes, S. 664). Die oben zitierte anarchistische Begeisterung erlaubt zumindest die Setzung eines Fragezeichens hinter die Einschätzung der ›Ecole Libre‹ als liberales Projekt, zumal diese politische Philosophie oft als Antipode zur anarchistischen verhandelt wurde. 432  |  Nur weniges von und wenige der Kommunen sind indes bekannt. M.E. wartet hier ein fruchtbares Feld der Schweizer Geschichte noch auf seine Bestellung. 433  |  Vgl. Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 435. 434  |  Namentlich bekannte KommunardInnen des Pflugwegs waren Hardegger-Faas und ihre beiden Töchter Olga und Lisa, Toni Waibel, Hans Brunner, Michael Burgmeier, Ignaz Rebosu, Heinrich Wagner, und Franz Sibilsky. Vgl. Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 233-261.

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ter-Diskussions-Club‹, in dem Hardegger-Faas als geistige Ziehmutter agierte. Die Kommune am Pflugweg implodierte 1916 mit dem Wegzug von Hardegger-Faas und die Zimmer des Hauses wurden wieder gewöhnlich vermietet. 1914 scheiterte der Versuch, eine libertäre Kolonie in der Gegend Asconas zu gründen am Finanzmangel. Zwar waren Geschäfte zum Unterhalt der Kolonie – so der Vertrieb der angebauten Güter unter dem Produktenamen ›Colona‹ – bereits weitgehend eingefädelt. Es fehlt aber an Devisen zum Kauf von Land zum effektiven Auf bau einer Siedlung.435 Ein geglückter Versuch einer anarchistischen Siedlung findet sich im zürcherischen Herrliberg ab 1918. Mitglieder verschiedener sozialistischer und anarchistischer Gruppen siedelten in der ›Alten Vogtei‹ auf dem Landgut Busenhard. Die Finanzierung war durch den wohlhabenden Pelzhändler Bernhard Mayer gesichert, der sich auch anderweitig mit materieller Unterstützung anarchistischer GenossInnen hervortat.436 Neben Ehemaligen der Zürcher Gruppe ›Forderung‹ und angehenden AkademikerInnen sozial-religiöser Gesinnung siedelten in der ›Alten Vogtei‹ zunächst auch Hardegger-Faas und andere Mitglieder der Berner Gruppe ›Hammer‹, die aber bereits im März 1919 enttäuscht wieder auszogen.437 Auch diese Kommune verstand sich als avantgardistische Pionierstätte »[...] wo der Geist der Gemeinschaft lebe, wo der Mensch Zweck sei + nicht die Wirtschaft [...]«438. Geprägt war die Herrliberger Kommune von landwirtschaftlicher Arbeit im Gemüseanbau, im Unterhalt von zehn Kühen, einem Pferd und einer Sau sowie einer Gemeinschaftstischlerei. An stetigen Zwisten zwischen intellektuellen und proletarischen SiedlerInnen einerseits und am Leistungsdruck andererseits, der von den Zinsforderungen von Geldgeber Mayer angetrieben wurde, zerbrach die ›Alte Vogtei‹ um 1920.439 Ein dritter Siedlungsversuch wurde 1919 in Minusio gestartet. Das kommunitäre Leben im ›Villino Graziella‹, einer alten Mühle mit angrenzendem Zweithaus und dem vegetarischen ›Cafe Popolare‹ bestand immerhin fünf Jahre lang.440 Auch im ›Villino Graziella‹ prägte landwirtschaftliche Arbeit das tägliche Leben der Siedlung. Es wurden Gemüsebeete angepflanzt und Hühner gehalten, um dem utopischen Ziel der Autarkie so nahe wie möglich zu kommen. Der Betrieb einer Reformbäckerei sollte die nötigen Devisen einbringen, um das Fehlende zukaufen zu können. Des Weiteren wurde eine Tischlerei unterhalten. Neben der Arbeit spielte auch im ›Villino Graziella‹ politische Lektüre und Diskus435  |  Vgl. Boesch, Biografie und Soziale Bewegung, S. 80-81 und Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 257-262. 436 | Obschon Mayer Sozialist war und sich diese Einstellung auch einiges kosten ließ – u.a. finanzierte er Kuraufenthalte von Peter Kropotkin und Ernst Frick auf dem ›Monte Verità‹ –, blieb er immer Geschäftsmann. Sein Darlehen für den Landkauf in Herrliberg über CHF 75.000,- ließ er sich nach Gewährung einer zinsfreien Startphase mit 5% verzinsen, Vgl. Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 306. 437  |  Vgl. Boesch, Biografie und Soziale Bewegung, S. 92-93, Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 306-319. 438  |  Kleiber, Max, o.A., zit. in: Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 308. 439  |  Namentlich bekannte KommunardInnen der ›Alten Vogtei‹ waren Hardegger-Faas mit Olga und Lisa, Hans Brunner, Theodor Langmaak, Adolf Böwig, Friederich Hoffmann, Karl Graf, Max Kleiber, Anna Kleiber, Walter Deuchler, Walter Kölliker und Jakob Zogg. 440 | Vgl. Boesch. Biografie und Soziale Bewegung, S. 95-106 und Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 323-345.

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sion eine wichtige Rolle. Gelegentlich wurden auch Veranstaltungen abgehalten. Schließlich zogen sich kontinuierlich immer mehr KommunardInnen zurück aus dem einfachen, gemeinschaftlichen Leben, das ›Cafe Popolare‹ wurde auf eigene Rechnung von einem ehemaligen Siedler fortgeführt. 1924 und 1925 blieben nur noch Hardegger-Faas und Hans Brunner übrig, die ihre Heimat in Minusio konsequenterweise in ›Villa Graziella‹ umtauften, und damit einen Schlussstrich unter die langsame Auflösung der Kommune zogen.441 Eine gesonderte Rolle nimmt das ebenfalls im Tessin umgesetzte vegetabilische442 Sanatorium von Ida Hoffmann und dem holländischen Millionärssohn Henri Oedenkoven oberhalb des Lago Maggiore bei Ascona ein.443 Dem magischen Berg der Wahrheit, dem ›Monte Verità‹, ist im Unterschied zu den oben genannten Projekten ein zweites Leben als Chiffre vergönnt, seit er – zumeist im Zusammenhang mit der Lebensreform-Bewegung – immer wieder herangezogen und skizziert wird als die progressive Stätte Europas dieser Zeit.444 Die Geschichte des ›Monte Verità‹ beginnt mit der Wiedertaufe einer 94.000 m2 umfassenden Hügellandschaft durch eine fünfköpfige Gründergruppe im November 1900. Wenngleich die Gegend mit ›Monescia‹ bereits einen Flurnamen hatte, wurde sie nun ›Monte Verità‹ genannt. Vor Ort wurden verschiedene lebensreformerische Ansätze verfolgt, gepflegt und propagiert. Neben der weitaus am stärksten betonten vegetabilischen Ernährungsweise fanden auch Ideen wie die Freikörperkultur, der Ausdruckstanz, Sonnen- und Freiluftbäder, eine naturgemäße Lebensweise, das Bestärken der Frauenemanzipation oder das Leben der ›freien Ehe‹ Eingang in den Forderungsund Angebotskatalog des Sanatoriums und seiner BetreiberInnen. Wie vielen anderen bot das Sanatorium damit auch AnarchistInnen eine Projektionsfläche, so zum Beispiel dem Münchner Anarchisten Erich Mühsam, der im Anschluss an einen Besuch eine kritische Zeitschrift namens Ascona 445 zum ›Monte Verità‹ ver441 | Namentlich bekannte KonmmunardInnen des ›Villino Graziella‹ waren HardeggerFaas mit Olga und Lisa, Hans Brunner, Ignaz Rebosu, Max Steudner, Alois Gobmeier, Hermann Engelhardt. 442  |  Die vegetabile Ernährungsform, die auf dem Gelände des ›Monte Verità‹ zur Verbesserung aller Lebensfragen angebotenen wurde, verzichtete nicht nur auf den Verzehr von tierischen Produkten, sondern untersagte auch die Konsumation von Salz, Tabak und Alkohol. 443 | Der folgende Abschnitt im Wesentlichen nach Schwab, Monte Verità, und Green, Mountain of Truth. 444  |  Green etwa sieht im ›Monte Verità‹ die Gegenkultur begründet, in dem er ihn als Brutstätte progressiver Kunst, Kultur und Politik darstellt, die von Dada bis zum modernen Tanz entscheidende Impulse gab. Seine Untertitel sprechen diesbezüglich Bände: »A Nature Cure Resort, An Artists’ Quarter, An International Center of Anarchism, A Source of Dada, The Home of Modern Dance, A Style of Feminism, A Branch of Psychotherapy, A Land of Adventure« (Green, Mountain of Truth, S. 156-181). Der oft genug romantisierende und verklärende Umgang mit der Geschichte des ›Monte Verità‹ hält bis heute an. So finden sich auch bei Voswinckel Ungenauigkeiten, die ob der Bewunderung für den »Ort der Kraft« in der »sakralen Topographie« – oder eben seiner historiografisch kupierten Variante – entsprungen sein dürfte. So wird die Präsenz Michail Bakunins in Ascona mit derjenigen von Erich Mühsam gekoppelt, obschon rund dreißig Jahre dazwischen lagen und völlig verschiedene Motivationen zum jeweiligen Aufenthalt dort geführt haben. Vgl. Voswinckel, Freie Liebe und Anarchie. 445  |  Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 305.

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fasste. Für das Treiben auf den Hügeln über Ascona hatte er aber oftmals eher Hohn als Bewunderung übrig.446 Parallelen zwischen der auf dem ›Monte Verità‹ angebotenen Lebenswelt und derjenigen des Anarchismus sind am ehesten im bedingungslosen Individualismus zu finden oder aber im theoretischen Streben nach einer umfassenden Emanzipation der Frau. Vor allem aber dürfte es die Idee eines gemeinschaftlichen Lebens gewesen sein, die ursprünglich von der fünfköpfigen GründerInnengruppe angestrebt wurde, die AnarchistInnen neugierig gemacht haben dürfte.447 Die Zielsetzung eines kollektiven Modells wandelte sich indes binnen eines Jahres zu einem marktwirtschaftlich orientierten Sanatoriumsbetrieb: »Im so genannten Richtungsstreit [...] setzte sich die kapitalkräftigere Seite durch, und die Unterlegenen mussten den Monte Verità verlassen.«448 Was blieb, fasste Mühsam 1905 folgendermaßen zusammen: »Der Monte Verità bietet heute für den sozialen Beobachter kein grosses Interesse mehr. Es ist ein Sanatorium wie andere auch, nur eben ein vegetarisches.«449 Gemäß Schwabs Forschungsresultaten muss der ›Monte Verità‹, vom eigenen Mythos gelöst, als Ort gesehen werden, auf dem »[...] eine alternative Existenzweise in einem kapitalistischen Umfeld vorgelebt wurde, die viele [...] animierte, selbst über ihr Verhältnis zu der sie umgebenden Gesellschaft nachzudenken«450. Von einer weitreichenden Umgestaltung der sozialen oder ökonomischen Verhältnisse, wie AnarchistInnen das in eigenen Siedlungsversuchen anstrebten, blieb das Sanatorium weit entfernt. Dass von einem Austausch der erwähnten anarcho-sozialistischen Kommune ›Villino Graziella‹ in Minusio mit dem ›Monte Verità‹ nichts bekannt ist, unterstreicht diese Feststellung.451 Der ›Monte Verità‹ schloss seine Pforten unter der Ägide von Hoffmann und Oedenkoven 1920 in einem Jahr, in dem fast alle aktiven AnarchistInnen der Jahrhundertwende sich entweder zurückgezogen hatten, gestorben waren, oder in der erstarkenden Kommunistischen Bewegung und Partei aufgingen.

446  |  Mühsam identifizierte sich nie wirklich mit dem Sanatorium. Dass er vom ›Salatorium‹ sprach und eine Ernährung mit Beefsteak, Wein und Zigarre den Äpfeln, Pflaumen, Bananen und verschiedenen Nüssen vorzog, spricht ebenso für seine Skepsis wie seine herablassenden, spöttischen Kommentare zur Kleidung und allgemeinen Erscheinung der anderen Kurgäste. Vgl. Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 129-130. 447  |  Tatsächlich, so Schwab, entwickelte sich Ascona selbst um die Jahrhundertwende zu einem Zentrum für Leute mit sozialistisch-anarchistischer Einstellung. Nettlau schreibt ebenfalls vom Aufenthalt verschiedener, allerdings meist isolierter Anarchisten in Ascona seit 1899. Vgl. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 315. Schwabs Erklärungsversuch, dass die Häufung in Ascona u.a. daran lag, dass »[...] die Schweiz als Asylland für die Anarchisten weiterhin attraktiv war [...]« (Schwab, Monte Verità, S. 146) greift m.E. nicht ob den beobachteten kontinuierlichen Verschärfungen des Asylrechts gerade für AnarchistInnen. Vgl. auch 3.3. Die Schweiz und der Anarchismus. 448  |  Schwab, Monte Verità, S. 260-261. 449  |  Mühsam, Ascona, S. 30, zit. in: Schwab, Monte Verità, S. 261. 450  |  Schwab, Monte Verità, S. 266. 451 | Von einem Austausch ist zumindest nichts zu lesen, weder in Literatur zum ›Monte Verità‹ noch in ebensolcher zum Siedlungsprojekt in Minusio.

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3.3 D ie S chweiz und der A narchismus Wie gezeigt werden konnte, kann nicht von einer herzlichen, von gegenseitigem Respekt geprägten Beziehung zwischen dem Anarchismus und der Schweiz gesprochen werden. Im Folgenden soll mit der Skizzierung staatlicher Vorgehensweisen und Maßnahmen erhellt werden, wie die offizielle Schweiz die Eradikation der anarchistischen Bewegung vorzunehmen gedachte. Schon vor 1885 versuchte der Schweizer Staat, unliebsame AnarchistInnen an der Agitation zu hindern. Das weitaus am häufigsten angewendete Mittel dazu war die Ausweisung, die kantonal oder bundesrätlich verfügt wurde. Während Ausweisungen auf Bundesebene nach Art. 70 der Verfassung ausschließlich Nicht-SchweizerInnen betrafen, konnten – je nach kantonaler Gesetzgebung – auch kantonale Ausweisungen ausgesprochen werden. Ein anderer, in der Wirkung analoger Weg war die Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung.452 Beide Methoden, die kantonale Ausweisung und die Nichtaufnahme fanden vornehmlich bei Schweizer AnarchistInnen und AntimilitaristInnen Anwendung. Die Behörden begründeten bundesweite Ausweisungen in der Regel mit Verstößen gegen das politische Agitationsverbot, das Nicht-SchweizerInnen bei der Aufnahme auferlegt wurde. Diese Praxis bewährte sich schon relativ früh. So wurde beispielsweise der deutsche Wilhelm Marr, Herausgeber der Blätter der Gegenwart für sociales Leben 453 bereits 1845 ausgewiesen, bevor er seinen Wohnort Lausanne zum »[...] Mittelpunkt eines jungen, neuen Europa [...]«454 machen konnte, das sich gegen die autoritär-kommunistischen Tendenzen Wilhelm Weitlings auflehnte. Auch Peter Kropotkin, der gemäß seinen Memoiren erst in der Schweiz Anarchist wurde, wies der Bundesrat am 23.8.1881 aus. Als Grund wurde ein Artikel455 Kropotkins angeführt, in dem er die Ermordung des russischen Zaren Alexander II. als Erfolg beschrieb.456 Damit erfüllte er den Tatbestand, unter dem nach Art. 70 ausgewiesen werden konnte: Er beging auf schweizerischem Gebiet Handlungen, »[...] welche in ihrem Resultat geeignet sein konnten, die innere wie äussere Sicherheit der Eidgenossenschaft zu gefährden [...]«.457 Zu glauben, die Bespitzelung hätte sich in dieser Zeit auf asylsuchende, ausländische AnarchistInnen beschränkt, wäre naiv. Tatsächlich wurde alles beschattet, was sich irgendwie mit der Sozialen Frage befasste. Auch über den gemäßigten Zürcher Sozialdemokraten Hermann Greulich war bereits in einer Fiche von 1878 zu erfahren, dass er »Rädelsführer, Agitator, Redner in den Arbei452  |  Vgl. den Artikel »Unser Vaterland«, Der Vorposten, 1.1907, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. Für ein Nichtgestatten der Aufenthaltsbewilligung aus politischen Gründen zeigt sich Zürich exemplarisch, das Luigi Bertoni nach seiner Ausweisung aus Genf 1907 die Übersiedlung nach Zürich nicht gestattete. Vgl. »Bertoni – Hauth«, Der Vorposten, 2.1907, Jg. 1, Nr. 10, S. 3. 453 | Die von Marr redigierten Blätter der Gegenwart für sociales Leben erschienen acht Nummern lang ab Dezember 1844 monatlich in Lausanne. Vgl. Nettlau, Max, »Bibliografie der Anarchie in deutscher Sprache«, Jahrbuch der freien Generation, 10.1910, Bd. 2, S. 124. 454  |  Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 1. 455 | Vgl. Kropotkins Artikel im Le Révolté vom 30.4.1881, auszugsweise wiederabgedruckt in Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 85. 456 | Zu Kropotkin Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 78-89, zu seiner Ausweisung speziell ebd., S. 85-89. 457  |  Langhard, Politische Polizei, S. 275.

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terversammlungen der Internationalen [ist, d.V.]« und »[...] in seinem Blatte öfters rechtschaffene Bürger besudelt [habe], ein entschiedener Feind der besitzenden Klasse, eine sehr bekannte Persönlichkeit in der Schweiz und Deutschland«458 sei. Ausweisungen stellten aber nicht die einzige Methode dar, anarchistische Propaganda zu behindern oder zu unterbinden. So brachte am 4.9.1870 ein Aufruf zur Unterstützung der Pariser Revolution in der Solidarité dem damaligen Organ der ›Fédération Jurassienne‹ tags darauf die bundesrätlich angeordnete Konfiskation ein. Die Druckerei hielt darüber hinaus vom Präfekten von Neuenburg die Weisung, nichts mehr für die Solidarité zu drucken.459 Auch anderen Druckereien wurde nahe gelegt, keine anarchistischen Zeitungen zu drucken, da andernfalls der Abzug staatlicher Aufträge drohe. Ein gewichtiges Argument, zumal die meisten Druckereien von Staatsaufträgen lebten.460 Dieselbe subtile Unterdrückung wie die Solidarité erfuhr 1878 auch die Avant-Garde des ehemaligen Pariser Kommunarden Paul Brousse. Sie wurde am 10.12.1878 in einem Jahr eingestellt, in dem in Europa einige Attentate auf Monarchen ausgeübt wurden und die bürgerliche Presse den hetzerischen und oft genug auch apologetischen Artikeln in anarchistischen Zeitungen zumindest Mitschuld daran zuschrieb.461 Die Schließung ganzer Zeitungen durch den Staat zog dabei weite Kreise. So fiel nicht nur ein Propagandakanal weg: Für agitierende AnarchistInnen hatte die Unterbindung auch wirtschaftliche Folgen. Ging eine Zeitung ein, fiel der ohnehin kleine Lebensunterhalt der BetreiberInnen aus. Das erwies sich vor allem deshalb als Problem, weil die Arbeitssuche für bekennende und bekannte AnarchistInnen zusätzliche Schwierigkeiten bot. James Guillaume etwa fand aufgrund der öffentlichen Verquickung seiner Person mit dem Anarchismus keine Stelle in der Schweiz. Da er als Literaturlehrer mit Privatunterricht nicht genügend verdienen konnte, musste er nach Frankreich auswandern, um ein Auskommen zu finden. Auch der Anarchist Auguste Spichiger wanderte 1887 nach New York aus, um wirtschaftlich überleben zu können. Oftmals stellte die Emigration die einzige Möglichkeit dar, der sprichwörtlichen ›trockenen Guillotine‹ zu entkommen, die von Staat und Arbeitgebern in einem gemeinsamen Effort gespannt wurde. Nicht immer brachte die trockene Guillotine den gewünschten Erfolg: Spichiger und Guillaume kehrten im Laufe der 1890er und 1900er Jahre in die Schweiz und in die Bewegung zurück. In manchen Fällen reichte die Drohung, Person und Familie an den Rand der Existenz zu drängen. Adhémar Schwitzguébel, der sich zur gleichen Zeit wie Spichiger und Guillaume mit konkreten wirtschaftlichen Drohungen konfrontiert sah, zog sich nach offenem Boykott aus der anarchistischen Bewegung zurück. Mehr noch: Das verdiente Mitglied der ›Fédération Jurassienne‹ und Teil des Herausgeberkollektivs der Avant-Garde wurde »[...] durch bittere Not getrieben, Adjunkt des Arbeitersekretärs Greulich für die romanische Schweiz zu werden«462 – was in anarchistischem Blick offensichtlich fast noch schlimmer war als hartes Brot.463 Maßregelungen von AnarchistInnen über die Arbeit stellten kein historisch spezifisches Phänomen der 1880er Jahre dar. Bereits 458  |  Engeler, Grosser Bruder, S. 250. 459  |  Vgl. ebd., S. 29-30. 460  |  Vgl. ebd., S. 108. 461  |  Vgl. ebd., S. 103 462  |  Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 297. 463  |  Vgl. Voser, Reizwort, S. 128

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1846 wurde in der NZZ Fabrikeignern und Handelsleuten diese effektive Methode zur politischen Ruhigstellung von Kommunisten empfohlen.464 Für 1893 ist eine Schwarze Liste bei den Berner Stellmachern und Schmieden bekannt465 und auch im 20. Jahrhundert wurde dieses Vorgehen fortgesetzt. Aus dem Jahr 1906 ist ein Fall bekannt, bei dem die Bundesanwaltschaft Arbeitgeber über (angebliche) Anarchisten informierte, die in der Folge kaum Anstellungen fanden, die länger als 14 Tage dauerten.466 Am 15.6.1910 wurde die Zeitung Hoch- und Tief bau, das offizielle Organ des Schweizerischen Baumeister- und Zimmermeisterverbandes, um eine Beilage erweitert, die alphabetisch alle Arbeiter aufführte, die am Streik vom 13.6.1910 teilgenommen hatten. Die 14-seitige schwarze Liste umfasste 1716 Namen verschiedener Nationalitäten und wurde mit folgender Ermahnung eingeleitet: »Wir ersuchen unsere Mitglieder keinen der genannten Arbeiter einzustellen.«467 Eine handschriftliche Notiz auf der Quelle deutet daraufhin, dass die Politische Polizei unmittelbar Kenntnis von der Liste hatte.468 Auch 1911 wurden anarchistische Aktivisten der trockenen Guillotine ausgesetzt und sahen sich zur Emigration gezwungen.469 Dass die Verquickung von Anarchismus mit der eigenen Person zu massiven ökonomischen Problemen führen konnte, war den AkteurInnen durchaus bewusst. Bestätigung dafür ist die Tatsache, dass die ›Antimilitaristische Liga Zürich‹ von der Verfassung eines Manifests absah, das von allen Mitgliedern und SympathisantInnen hätte unterzeichnet werden sollen: Man wolle der Politischen Polizei die Arbeit nicht auch noch abnehmen.470 In ihrer kritischen Haltung blieb die anarchistische Bewegung damit nicht allein. Zuweilen regte sich auch in der parlamentarischen 464  |  Vgl. einen entsprechenden Artikel aus der NZZ vom 16.1.1846, zit. in: Jost, Surveiller et punir, S. 13. 465  |  Vgl. »Mouvement social: Berne«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 4. 466  |  Dies wird beklagt im Artikel »Selbstbiografie eines Schweizers in Paris«: »Einige Monate nachdem meinem Austritte bei obengenannter Firma [Schlosserei Vaucher & Bieler in Fleurier, d.V.] wurde ich von deren Besitzern als Anarchist denunziert. [...] Ich wurde dann überall, wo ich hinkam, von der Polizei bei den Meistern als Wühler und Hetzer denunziert und konnte höchstens 8-14 Tage an einer Stelle bleiben, [...] da man einen Anarchisten nicht behalten wollte. Durch das Treiben des Bundesanwaltes Kronauer war ich gezwungen, die Schweiz, mein ›teures‹ Vaterland zu verlassen.« (Schaggi, »Biografie eines Schweizers in Paris«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 2). In der gleichen Nummer erwähnt derselbe Autor explizit den Begriff der ›Schwarzen Liste‹. Vgl. Schaggi, »Proletarierlos«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. Vgl. zu Schwarzen Listen ab 1906 auch Cantini, La police vaudoise, S. 99. 467  |  Cantini, La police vaudoise, S. 99. 468  |  »Remis à la Sûrete par N. Gilliéron. 17.VI.10.P.« [dt.Ü.: »Der (Staats)Sicherheit durch N. Gilliéron übergeben. 17.6.10.P.«] lautet die Notiz. Vgl. StaVD, KVII b 22, 1910, Nr. 3002, reproduziert in: Cantini, La Police Vaudoise, S. 101. Unklar bleibt, ob und wie die Politische Polizei bei der Erstellung dieser Listen Hand bot. 469  |  Der Drucker Barraud und Louis Baud gingen im Spätherbst 1911 nach Paris, da sie »[...] bei den Arbeitgebern als Syndikalisten verschrien [...]« (Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 318) dastanden und in der Schweiz arbeitslos blieben. 470 | »Dies und Das: Manifest unserer Genossen in Genf«, Der Vorposten, 6.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 4. Vgl. zur trockenen Guillotine auch »Die antimilitaristische Propaganda in der Schweiz«, Der Vorposten, 8.1906, Jg. 1, Nr. 5, S. 3.

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Politik Widerstand gegen Überwachung und Gedankenpolizei. Gegen die Anklage beispielsweise, dass die Avant-Garde mit ihrer scharfen Schreibe die äußere Sicherheit der Schweiz gefährde, wurde eine Interpellation eingereicht. Die blieb allerdings erfolglos: Wegen völkerrechtswidrigen Aufrufen zum Mord an Menschen wurde Brousse zu Buße, Gefängnis und Ausweisung verurteilt.471 Nicht nur in arbeitstechnischer Hinsicht scheinen Sympathien oder aktives Agitieren für den Anarchismus hinderlich gewesen zu sein. Auch VermieterInnen wurden über die politischen Vorlieben ihrer MieterInnen informiert, was oft zu negativen Bescheiden bei der Vergabe von Wohnungen führte.472 Die erste konzertierte bundesweite Aktion gegen den Anarchismus fand im Winter und Frühling 1885 statt. Aufgeschreckt durch eine Serie von in ihrer Echtheit zu bezweifelnden473 Briefen, die von einer geplanten Sprengung des Bundeshauses474 durch Anarchisten berichteten, fasste der Bundesrat am 26.2.1885 den Beschluss, »eine strafrechtliche Verfolgung ›gegen diejenigen Individuen zu eröffnen, die auf schweizerischem Gebiete zur Begehung von gemeinen Verbrechen im In- oder Auslande augefordert oder auf andere Weise versucht haben die verfassungsmässige Ordnung und die innere Sicherheit des Landes zu stören‹«475. Gemeint war damit vordergründig das Attentat auf das Bundeshaus, insgesamt aber eine Durchleuchtung der anarchistischen Bewegung im Ganzen. Die Leitung übernahmen Bundesanwalt Eduard Müller, Untersuchungsrichter Dedual und Untersuchungsrichter Berdez für die Ost- beziehungsweise die Westschweiz sowie als Hilfskräfte die kantonalen Polizeien. Die Warnund Drohbriefe bildeten eine dünne Beweislage für die Untersuchung, da sie keinerlei Adressen oder Namen enthielten. Des Weiteren wurden sie an verschiedenen Orten aufgegeben, nämlich die Warnbriefe in St. Gallen (25.1.1885), Frauenfeld (1.2.1885), Winterthur (4.2.1885) und wieder Frauenfeld (17.2.1885), der sogenannte Wabernbrief ebenfalls in Winterthur (31.1.1885). Zudem waren sie vermeintlich von verschiedenen Händen geschrieben. Die Untersuchung begann trotz Zweifel am 471  |  Vgl. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 122-136. Zur Verhandlung Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 130-131. Bundesanwalt Morel hielt fest, dass nicht der Druck vom Ausland der Grund für eine Unterdrückung der Avant-Garde sei, es sei sein Anliegen. 472  |  Vgl. »La chasse au logement«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 2-3. Auch andere, für ArbeiterInnen abweisende Kriterien wurden bei der Wohnungsvergabe berücksichtigt, wie z.B. eine kleine Anzahl Kinder. Ob darin gewissermaßen eine proto-eugenische Maßnahme des Bürgertums zu sehen ist, wie dies der oder die anonyme AutorIn milde suggeriert, kann schlüssig weder be- noch widerlegt werden. Vgl. ebd., S. 2. In Genf wurden VermieterInnen von der Politischen Polizei vor ›schlimmen Folgen‹ gewarnt, sollten sie AnarchistInnen bei sich einziehen lassen. Vgl. L.B., »Chronique genèvoise: La police s’amuse«, Le Réveil, 16.9.1900, Jg. 1, Nr. 6, S. 2. 473  |  Zu dieser Einschätzung gelangt Engeler in Hinweis auf die Kenntnisse des damaligen Zürcher Polizeihauptmanns Jakob Fischer, einem »intimen Kenner der Anarcho-Szene«, der »[...] das angebliche Komplott ins Reich der ›Mystifikationen‹ [...]« (Engeler, Grosser Bruder, S. 14) verwies. Im beginnenden 1885 waren Mystifikationen in Form angedeuteter Sprengungen durchaus kein Einzelfall: So flog etwa in Hamburg eine geplante Sprengung der Börse am 27.1.1885 als Mystifikation auf. Vgl. »Dernier courrier: Hambourg«, Gazette de Lausanne, 28.1.1885, Jg. 86, Nr. 23, S. 3. 474  |  Vgl. Kühnis, »Es dynamitiert gewaltig«. 475  |  Müller, Bericht. S. 67.

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Realitätsgehalt des beschriebenen Vorhabens.476 Aufgrund der Absender der Briefe wurde die Täterschaft in der Ostschweiz vermutet, wo denn die Anstrengungen auch größer, die Maßnahmen strenger waren als in der Westschweiz. Nahm man die Briefe ernst, und das wollten und mussten die Untersuchenden und ihre Auftraggeber, so drängte die Zeit zur Aufklärung des Falles. Die Voreiligkeit der Berichterstattenden drohte dabei die von der Untersuchungsleitung erhofften Fortschritte dank dem Überraschungeffekt, der in plötzlichen flächendeckend Haussuchungen lag, zu vereiteln. So wurde die Untersuchung am 27.2.1885 mit der Verhaftung von allen als gefährlich geltenden Anarchisten in St. Gallen und Bern ohne hinreichendes Aktenstudium477 losgetreten. Sowohl die Auswertung der Hausdurchsuchungen wie auch die Verhöre der Verhafteten brachten keine Erkenntnisse bezüglich eines vermuteten Komplotts. Auch die weiteren Hausdurchsuchungen, die sich in der Ostschweiz und in Bern den ganzen März über, in anderen deutschschweizerischen Städten auch auf den April erstreckten, vermochten das nicht. Aber sie bewiesen auch nicht, dass die Sprengung des Bundeshauses reine Mystifikation wäre: Im Laufe der Untersuchung wurden Zeitungsartikel und Korrespondenzen gefunden, die solches und ähnliches Vorgehen grundsätzlich für empfehlenswert und nötig bezeichneten und die hierauf von Bundesanwalt Müller als weitere Beweismittel taxiert wurden.478 Unter dem Strich brachten die Untersuchungen bis und mit dem 25.3.1885 keine Einsicht bezüglich der angeblich geplanten Sprengung des Bundeshauses, wohl aber eine Vielzahl an Informationen über das Personal, den Bestand, die Hintergründe, die Organisation und das Vorgehen von AnarchistInnen in der Deutschschweiz. Auch die Westschweiz blieb von der Untersuchung, die immer auch den Zweck einer Durch- und Untersuchung von AnarchistInnen an und für sich hatte, nicht verschont. Einer der Briefe, die als weitere Beweismittel taxiert wurden, war in Montreux aufgegeben worden, zwei in La Chaux-de-Fonds. Die Redaktionsräume der anarcho-kommunistischen und deutlich formulierenden479 Zeitung Le Révolté, »[...] welche damals [bis 1885, d.V.] noch in 476  |  Müller schreibt: »Mochten nun auch nach diesen Briefen berechtigte Zweifel darüber bestehen, ob es sich bei der ganzen Sache nicht um eine blosse Mystification handle, so erschien nach allem bisher Gesagten [...] der Moment doch gekommen, um über das Treiben der Anarchisten in der Schweiz überhaupt und insbesondere mit Bezug auf das möglicher Weise wirklich geplante Attentat auf das Bundesrathshaus eine eidgenössische Untersuchung zu veranstalten [...].« (Müller, Bericht, S. 67). 477 | Müller bedauerte dies genauso wie die überstürzten Presseberichte. Vgl. Müller, Bericht, S. 76-77. Nichtsdestotrotz wurden 31 Personen in Bern und St. Gallen verhaftet sowie drei in Zürich. Sie wurden unterschiedlich lange festgehalten; die raschesten Entlassungen erfolgten nach drei Tagen, gewisse Anarchisten saßen bis zum Ende der Untersuchung in Haft. »War die Massregel auch hart und mochte man auch Unschuldige treffen, entschiedenes und sofortiges Handeln war durch den Ernst der Sache geboten« (Müller, Bericht, S. 77), lautete die Rechtfertigung des Bundesanwalts. 478  |  Die Beweismittel sind Kommentare und Artikel der anarchistischen Zeitungen Rebell und Freiheit. Sie sind auszugsweise zitiert in Müller, Bericht, S. 85-87. 479 | Mit der Übersiedelung nach Paris verschärfte sich der Ton des Le Révolté dahingehend, dass »[...] ein grosser Unterschied zwischen Le Révolté und Freiheit auf den heutigen Tag nicht zu machen sein dürfte« (Müller, Bericht, S. 113), wie Müller meint. Von einem zahmen Blatt kann beim Le Révolté allerdings zu keiner Zeit gesprochen werden. Die Ausgabe

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Genf erschien und als Parteiorgan für die Westschweiz und Frankreich betrachtet wurde [...]«480, wurden am 28.2.1885 genauso durchsucht, wie die Wohnorte der dringend Tatverdächtigen am 27.2.1885. Des Weiteren wurden auf Weisung des eidgenössischen Untersuchungsrichters so ziemlich alle mit einer Hausdurchsuchung konfrontiert, die vermeintlich oder tatsächlich mit Anarchismus zu tun hatten. Bei Druckern, Arbeitervereinen, Einzelpersonen fand man schließlich anarchistische Literatur, Proklamationen, Briefe, Adressen und Deckadressen die alle ausgewertet wurden, wodurch auch für die Westschweiz gute Einblicke in die Organisation der programmatisch Unorganisierten gewonnen werden konnte. Man fand also vieles, aber anarchistische UrheberInnen eines Komplotts, das die Sprengung des Bundeshauses im Sinn hatte, fand man nicht. Die gesuchten UrheberInnen ließen sich auch nicht bei den hinlänglich als Agents Provocateurs bekannten Personen finden, die ebenfalls von Hausdurchsuchungen betroffen waren und von denen man wusste, »[...] dass solche Leute die äussere und innere Sicherheit der Schweiz gerade so gut gefährden, wie die Anarchisten selbst [...]«481. Am 31.3.1885 wurde schließlich der vermeintliche Schöpfer der ganzen Geschichte, der Heidener Coiffeur Wilhelm Huft, in Untersuchungshaft genommen. Dies, nachdem ein Handschriftenvergleich eines von ihm betreffend eines anderen Falles deponierten Protestschreibens an die St. Galler Kantonspolizei mit Fotografien des sogenannten Wabernbriefes von zwei Expertenstellen für positiv befunden wurde. Ebenfalls wurde von grafologischen Experten versichert, dass auch die beiden Briefe von La Chaux-de-Fonds, derjenige von Montreux, die vier Warnbriefe und zwei weitere Drohbriefe von Huft stammten.482 Huft beteuerte indes bei allen Verhören483 seine Unschuld. Nach dem letzen erhängte er sich in seiner Zelle mit einem Taschentuch am Türgriff. Im Laufe der Untersuchung stellte sich Huft als sprachgewandt und fantasiereich heraus, sodass sich die Vermutung der Untersuchungsrichter anbietet, die geplante Sprenvom 23.7.1881 etwa enthielt den Aufruf: »[...] Es ist von strikter Notwendigkeit, alle Anstrengungen zu machen, durch Taten die revolutionäre Idee und den Geist der Empörung in dem Teil der Volksmassen zu propagieren, der sich noch abseits von der Bewegung befindet und Illusionen über die Legalität und die Wirksamkeit der legalen Mittel hegt.« (zit. in: Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 3, S. 221). 480  |  Müller, Bericht, S. 103-104. Zur Übersiedelung nach Paris findet sich im Le Révolté Nr. 3 vom 10.5.1885 die trockene Anmerkung: »Infolge der drakonischen Massregeln, welche die schweizerische Regierung gegen den ›Révolté‹ anwandte, musste derselbe auswandern.« (zit. in: Müller, Bericht, S. 113). 481  |  Müller, Bericht, S. 113. 482 | Gygax veranlasste im Rahmen seiner Lizenziatsarbeit eine schriftkundliche Neubeurteilung der Briefe. Die beigezogene Expertin kam zum Schluss, dass »[...] die dargestellten Befunde, die für eine Urheberidentität zwischen dem fraglichen und dem Vergleichsmaterial sprechen, nicht überzeugend [waren]. [...] Abweichende Befunde wurden nicht gewürdigt.« (zit. in: Gygax, Wegweisende Untersuchung, S. 44-45). 483  |  Das erste Verhör in Untersuchungshaft fand am 1. und 2.4. statt, das zweite am 8.4., das dritte schließlich am 13.5.1885. Vgl. für Teilreproduktionen dieser Verhöre Müller, Bericht, S. 131-135. In ebd., S. 140, wird auch von einem Verhör am 11.3. berichtet, das wohl im Rahmen der ersten Welle von Verhaftungen in St.Gallen, Bern und Zürich geschah und das er antreten musste wegen seiner Freundschaft zum österreichischen anarchistischen Organisator Josef Klinger.

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gung des Bundeshauses sei lediglich ein raffiniertes Konstrukt eines Friseurs mit blühender Fantasie. Huft war nachweislich weder Anarchist noch Sozialdemokrat noch Agent Provocateur, noch folgte er anderweitigen politischen Idealen. Im Gegenteil, wie in Müllers Bericht festgehalten wird: »Lug‹ und Eitelkeit, Perfidie und Niederträchtigkeit, grenzenlose Eitelkeit und nimmersatte Skandalsucht, das sind die Charaktereigenschaften Hufts, wie sie uns die Untersuchung in grellstem Lichte zeigt.«484 Für Huft als Urheber spricht, dass er sich in einigen Punkten des Verhörs widersprach. Dennoch: Die zuweilen stark psychologisierende Art, in der sich Müller über die Korrespondenz und den Lebenswandel Hufts und seinen Umgang mit Frauen auslässt, die letzten Endes in einem Bild eines narzisstischen Gefühlssadisten endet, das so eigentlich nichts mit dem Fall zu tun hat, mutet seltsam an.485 Die Untersuchenden kamen zum Schluss, »[...] dass unserer vollen Überzeugung nach die That des Huft einzig und allein auf Rach- und Skandalsucht und auf seine Freude am Erfinden und am Schreiben zurückzuführen ist«486 und nicht auf ein anarchistisches Komplott, wie die Briefe suggerierten. Die eigentliche Motivation der Untersuchung, das angebliche Attentat auf das Bundeshaus, war also eine großartige Täuschung, die aber gemäß Müller im Moment des Geschehens ernst genommen werden musste, weil in anarchistischen Kreisen Anschläge gegen die Schweizer Regierung als Reaktion auf die immer zahlreicheren bundesrätlich verfügten Ausweisungen diskutiert wurden. Die Untersuchung kann für den Bundesrat als Erfolg bezeichnet werden, obwohl er offenbar einem der wohl folgenreichsten Scherzbriefe der jüngeren Schweizer Geschichte aufsaß und auch die Delikte, die geahndet werden konnten, sehr dünn gesät waren: »Alles, was den gegenwärtig in der Schweiz lebenden Anarchisten nachgewiesen werden konnte, beschränkt sich auf den Schmuggel anarchistischer Literatur nach benachbarten Staaten.«487 Der Wert der Untersuchung lag vielmehr in den sattsam erhobenen Personalien, die Müller denn auch immer wieder als Kern der Untersuchung auswies. So konnte Einblick genommen werden in Organisation, Struktur, Anzahl, Vorgehensweise der Anhänger »der Partei«, wie Müller – auch am Schluss der Untersuchung noch terminologisch falsch – festhält.488 Die Untersuchung brachte zutage, dass die Bedeutung der anarchistischen Bewegung in der Schweiz nicht in ihrer Masse lag. Die Schlussfolgerungen, dass die Gefahr vielmehr im Fanatismus der wenigen Führer und in der Presse liege, die zur Nachahmung anreize und auffordere und damit auch diejenigen anziehe, die aus purer Eitelkeit oder Skandalsucht an der Bewegung interessiert seien, wäre ohne die gründliche Durchleuchtung nicht möglich gewesen. Auch die Erkenntnis, dass verhältnismäßig wenige SchweizerInnen in der Bewegung aktiv waren, wäre wohl nicht zutage getreten. Weitere Erkenntnisse waren, dass die ausländischen Agitatoren sich vor allem wegen der Ausnahmegesetze in ihren Heimatländern in der Schweiz aufhielten und ihr Kampf in erster Linie den Zuständen in ihren Heimatländern galten und ihrTun vor allem den Schmuggel 484  |  Müller, Bericht, S. 147. 485  |  Ebd., S. 125-127. 486  |  Ebd., S. 167. 487  |  Ebd., S. 179. 488 | Auch ging aus diesem allgemeinen Teil ein Verzeichnis mit 120 Namen und deren Vernetzungen hervor. Dieses Dokument konnte leider nicht aufgefunden werden. Vgl. eine Anspielung ebd., S. 173.

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anarchistischer Schriften, die Erhaltung und Pflege von sozialen Kontakten, und die Arbeitssuche für Genossen in der Schweiz umfassten. Aufgrund der erhobenen Daten hält Müller fest, dass die anarchistische Bewegung in der Schweiz 1885 bereits den Höhepunkt überschritten habe, auch durch die Spaltung, die mit der Frage um die Propaganda der Tat als Kampfmittel einherging. Diese machte er verantwortlich für die schwindenden Mitgliederzahlen anarchistischer Vereine. Dennoch wird »unausgesetzte Wachsamkeit und energisches Vorgehen gegen alle Ausschreitungen [...]«489 für geboten erklärt, auch in Bezug auf die Umsetzung der bereits bestehenden Gesetze. Das bestehende Bundesstrafrecht und seine Brauchbarkeit gegenüber Anarchisten sei erwiesen. Art. 70 der Bundesverfassung erlaube zudem, »[...] die hervorragendsten Führer, die rührigsten Agitatoren und die verbissensten Mostianer aus dem Lande [...]«490 zu weisen und damit das anarchistische Treiben zu brechen. Den Versuch, anarchistische Propaganda auf administrativem oder gesetzgeberischem Weg zu verfolgen und zu verbieten, erachtete Müller als unnötig, da die Bewegung ohnehin im Niedergang begriffen sei und die Illegalisierung ihr Auftrieb verschaffen könnte. Gerade durch die Zugänglichkeit dieser Medien schließlich seien Arbeiter abgekommen von der Most’schen Anarchismusvariante. Die Schaffung einer Politischen Polizei lehnte Müller aus Praktikabilitäts-, aber auch aus bürgerrechtlichen Gründen ab. Es bestünden, »[...] natürliche Abneigungen unseres Volkes gegen alles, was Polizei heißt, namentlich aber gegen eine politische Polizei [...]«491 und des Weiteren drohe ein Übereifer einer Politischen Polizei. Stattdessen schlug der spätere Bundesrat eine Zentralstelle vor, der alle Kantone periodisch Berichte abzuliefern hätten, welche die Zentralstelle, dann an andere Kantone weiterleite.492 Die sich auch hier aufdrängenden Bedenken, damit einen Grundstein für einen Überwachungsstaat zu legen, in dem bestimmte politisch-soziale Ansichten und ihre AnhängerInnen kartiert werden, äußerte Müller überraschenderweise nicht. Als wirksamstes Mittel der Bekämpfung des Anarchismus erachtete Müller primär ohnehin die Beseitigung seiner Wurzeln, der Not und dem Elend der ArbeiterInnen: »Sorge man dafür, dass dem Arbeiter für sich und die Seinigen körperliche und geistige Gesundheit bewahrt bleibe und dass er für die Tage der Krankheit, der Arbeitsunfähigkeit und für den Fall seines Todes sich und die Seinen gegen Noth und Elend sicher stellen kann«493, so Müllers Vorschlag zur nachhaltigen Bekämpfung des Anarchismus. Dieser sei nicht von ungefähr entstanden, sondern »[...] weil grosse Kreise der Menschheit wirklich Noth leiden oder doch im Kampfe um’s Dasein keine Aussicht haben, sich aus ihrer elenden Lage durch eigene Arbeit zu befreien [...]«494. Bereits vier Jahre nach der Untersuchung Müllers sollte die Idee einer Politischen Polizei auf Bundesebene entgegen seiner Empfehlung trotzdem umgesetzt werden. Bestanden vor 1848 bereits einzelne Politische Polizeien unter kantonaler

489  |  Ebd., S. 181. 490  |  Ebd., S. 181. 491  |  Ebd., S. 182. 492  |  Ebd., S. 182-183. 493  |  Ebd., S. 183. 494 | Ebd., S. 183. Müller lässt hier durchschimmern, dass er den Anarchismus als rein proletarische Bewegung ansieht.

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Hoheit, so wurden mit Art. 57495 (nach 1874 Art. 70) der Verfassung von 1848 auch dem Bund staatsschützende Befugnisse zugesprochen. Der Bundesrat wies die Kantone zwar schon in den frühen 1880er Jahren vermehrt darauf hin, die Tätigkeiten von AnarchistInnen auf schweizerischem Territorium zu überwachen. Der Ausbau der Politischen Polizei sollte aber erst 1888 geschehen, nachdem die Schweiz vom deutschen Staatsminister Puttkamer darauf hingewiesen wurde, dass sie ein Herd anarchistischer und sozialdemokratischer Agitation sei und etwas unternehmen müsse, damit das deutsche Kaiserreich nicht weiterhin gezwungen sei, Agents Provocateurs auf seiner Lohnliste zu unterhalten.496 Nach einigen politischen Winkelzügen497 willigte die Schweizer Regierung ein, Maßnahmen zu ergreifen. Das argumentative Fundament zur Organisation der Politischen Polizei war demnach die fortwährende Angst vor dem Anarchoterrorismus.498 Besiegelt wurde sie mit dem konfidentiellen Kreisschreiben des Bundesrates499 vom 11.5.1888. Dieses wies acht Grenzkantone an, »[...] ihre Aufmerksamkeit auf die öffentlichen und geheimen Versammlungen sowie auf die Zeitungen und Publikationen, in welchen Fragen unserer sozialen Organisation und der politischen oder sozialen Organisation anderer Staaten behandelt und diskutiert werden [...]«500 zu richten und ohne weitere Einladung dem Justizdepartement Bericht zu erstatten, und zwar ungeachtet dessen, wie die Nationalität der Organisierten und Versammelten aussahen.501 Von Interesse waren dabei »[...] alle Notizen, welche geeignet sind, über deren [gemeint sind in diesen Kreisen Aktive, d.V.] Namen, Herkunft, Beschäftigung, Subsistenzmittel und Antecedentien [...]«502, die die kantonalen Polizeidirektionen zu sammeln hatten. Auch die Wechsel der Wohnorte hatten die Kantonalen Polizeien gemäß Kreisschreiben minutiös zu verzeichnen und zu berichten.503 Das 495 | Art. 54 wurde ungeändert als Art. 70 in die Verfassung von 1874 übernommen. Im Wortlaut: »Dem Bund steht das Recht zu, Fremde, welche die innere oder äussere Sicherheit der Eidgenossenschaft gefährden, aus dem schweizerischen Gebiete wegzuweisen.« (Dubach, Strizzis, S. 15). 496  |  Die Äußerungen Puttkamers fielen in der Debatte um die Verlängerung des deutschen Sozialistengesetzes. Puttkamers Sachzwangargumentation fußt auf der Enthüllung der beiden Sozialdemokraten August Bebel und Paul Singer, die Deutschland dafür angeprangert hatten, in der Schweiz Lockspitzel zu unterhalten. Die stichhaltigen Beweise dafür wurden ihnen vom Zürcher Polizeihauptmann Fischer geliefert, der dafür umgehend entlassen wurde. Puttkamer war nun daran gelegen, seinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Sein Manöver, sich umgehend als Opfer der Umstände und des Sachzwanges zu positionieren, war wohl unoriginell, aber wirksam. Vgl. Dubach, Strizzis, S. 19. 497  |  Nachgezeichnet in Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 252. 498  |  Vgl. ebd., S. 539. 499 | Für eine streckenweise wörtliche Wiedergabe des Schreibens vgl. Langhard, Politische Polizei, S. 251-254. 500  |  O.A., zit. in: Engeler, Grosser Bruder, S. 22. 501  |  Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 247. 502  |  O.A., zit. in: Engeler, Grosser Bruder, S. 22. 503  |  »Chaque fois qu’une de ces personnes quittera son lieu de domicile et se rendra dans un autre canton, les autorités de police cantonales en donneront de suite connaissance à notre département de justice et police, et, en même temps, aux autorités de police du canton dans lequel la personne s’est rendue« (»La Suisse policière«, La Critique Sociale,

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Publikmachen des Kreisschreibens hatte wohl eine Debatte zur Folge, änderte aber nichts an der Einsetzung Fritz Hodlers als ersten Kanzleisekretär für die Fremdenpolizei, der Vorstufe der späteren Politischen Polizei. Mit dessen Einführung war die polizeiliche Zentralstelle mit informatorischem Charakter bereits etabliert, die nur ein Jahr später um einen ständigen Bundesanwalt ergänzt werden sollte.504 Die Erweiterung der Politischen Polizei um den ersten ständigen Generalanwalt der Schweiz seit 1874 ihrerseits geht auf die sogenannte Wohlgemuth-Affäre zurück.505 Am 30.4.1889 erfolgte die Ausweisung des deutschen Polizeiinspektors August Wohlgemuth – unter vehementen Protesten des deutschen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. Wohlgemuth war im Dienste Deutschlands für die Anheuerung, Rekrutierung und Bezahlung von Spitzeln auf Schweizer Territorium zuständig. Diese Tätigkeit übte er in klandestiner Art und Weise aus, wie ein Blick in seine unter falschen Namen abgeschickten Werbebriefe zeigen.506 Seine Hauptfunktionen lagen einerseits darin, die Arbeiterschaft und ihre AgitatorInnen systematisch auszuhorchen, andererseits sollte er sie zu illegalen Aktivitäten anstacheln, um ihre Ausweisung nach Deutschland zu provozieren. Bei einem vereinbarten Treffen im aargauischen Rheinfelden von Wohlgemuth und Spitzel Lutz wurden beide am 21.4.1889 verhaftet, wobei Lutz umgehend wieder freigelassen wurde. Beide, Wohlgemuth und Lutz, wurden schließlich am 30.4.1889 in Anwendung von Art. 70 ausgewiesen.507 Diese Ausweisungen führten zu einem diplomatischen Hin und Her.508 In der Wahrnehmung Bismarcks geschah die Ausweisung zu Unrecht, da Wohlgemuth lediglich die Arbeit machte, die die Schweiz vernachlässigte. Die Schweiz bedrohe gar die innere Sicherheit Deutschlands mit der Laxheit, mit der die hiesigen Polizeien ihre Arbeit verrichteten.509 Auf das schweizerische Festhalten an der Ausweisung drohte Bismarck in der Folge mit Sanktionen: Wirtschaftliche Blockade, strenge Kontrolle des Grenzverkehrs und der Post, Verhaftungen von Schweizer Beamten, gemeinsames Beenden der Neutralitätsgarantien mit Russland und Österreich-Ungarn und die Aufkündigung des Niederlassungsvertrags zwischen der Schweiz und Deutschland wurden angeführt. Die Drohungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Außenminister Numa Droz ließ die Reichsregierung am 2.6.1889 wissen, dass »zusätzliche Massnahmen gegen ›die Anar29.9.1888, Jg. 1, Nr. 7, S. 3), wird das Kreisschreiben des Bundesrates ins Französische übersetzt rezitiert. Dt.Ü.: »Jedes Mal wenn eine dieser Personen ihre Wohnung verlässt und sich in einen anderen Kanton begibt, setzen die Behörden der Kantonspolizei umgehend unser Justiz- und Polizeiministerium in Kenntnis, sowie auch die Polizeibehörden des Kantons, in den die Person sich begeben hat.« Vgl. für weitere zeitgenössische Reaktionen »La Suisse policière«, La Critique Sociale, 29.9.1888, Jg. 1, Nr. 7, S. 2-3. 504  |  Dubach, Strizzis, S. 20. 505 | Vgl. Langhard, Politische Polizei, S. 270-296, Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 241 und S. 250- 252. 506  |  Vgl. dazu die abgedruckten sechs Briefe von Wohlgemuth alias J. Kamm alias X an den Spitzel Balthasar Anton Lutz in Langhard, Politische Polizei, S. 270-274. 507  |  Ebd., S. 275. 508  |  Akribisch nachgezeichnet in ebd., S. 278-296. 509  |  Ebd., S. 282. Auch Russland und Österreich »[...] wiesen darauf hin, dass sie durch die grosse Toleranz der anarchistischen und revolutionären Elemente in der Schweiz bedroht seien« (ebd., S. 286).

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chisten und Revolutionäre‹«510 ins Auge gefasst würden. Konkret gipfelten seine Bemühungen in der schon erwähnten Schaffung eines ständigen Bundesanwalts511 mit erweiterten Kompetenzen512, also einer Vergrößerung der polizeilichen Möglichkeiten, gegen Organisationen vorzugehen, die sich mit der Abschaffung oder aber der Reform der herrschenden Ordnung beschäftigten.513 Das von Sozialdemokraten und dem Grütliverein lancierte Referendum gegen das neue Bundesgesetz kam nicht zustande. Statt 30.000 sammelte das Referendumskomitee nur 23.928 Stimmen514 und das Bundesgesetz zur reorganisierten Bundesanwaltschaft trat am 15.10.1889 in Kraft.515 Bereits am 29.6.1889 wurde Albert Scherb als erster ständiger Bundesanwalt seit 1874 zum obersten Politischen Polizisten der Schweiz gewählt 516, entgegen dem Expertenrat führender Staatsrechtler der Zeit.517 Die Schaffung der bundesweiten Politischen Polizei markiert nicht nur den kleinen Souveränitätsspielraum der Schweiz im gesamteuropäischen Kontext. Das Durchwinken des neuen, auf externen Druck hin entworfenen Bundesgesetzes im Nationalrat offenbart auch die »[...] Bestrebung vieler bürgerlicher Politiker, mit präventiver polizeilicher Erfassung die soziale Unrast in den Griff zu bekommen«518, wie Engeler resümiert. Der drohende Missbrauch der neuen Struktur zeichnete sich bald ab. Seit der Schaffung der Politischen Polizei wurden längst nicht nur ausländische AnarchistInnen überwacht. Auch Schweizer AnarchistInnen, AusländerInnen, SozialdemokratInnen, KommunistInnen, Gewerkschaften und immer wieder auch einfach BürgerInnen, die von ihrem demokratischen Grundrecht der freien Assoziation Gebrauch machten und sich mit der Lösung der Sozialen Frage auseinandersetzten, gerieten ins Visier der Politischen Polizei. Als Legitimation figurierte prominent das Anarchismus-Phantom, das durch die produktive Verklammerung individueller anarchistischer Anschläge und der Bewegung im Allgemeinen kontinuierlich aktualisiert und genährt wurde. Diese Einheit voll diffuser Ängste und umfassenden Misstrauens reproduzierte laufend die Wirkungs510  |  Engeler, Grosser Bruder, S. 25. 511  |  Die Bundesanwaltschaft bestand aus dem Generalanwalt, dem Sekretär der Bundesanwaltschaft und einem Registrator-Kanzlisten. Für die Entwicklung und Einschätzung der Bundesanwaltschaft, vgl. allgemein Engeler, Der grosse Bruder, und Dubach, Strizzis. 512  |  Der Generalanwalt »[...] überwacht die Fremdenpolizei in Beziehung auf Handlungen, welche die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz gefährden, sowie die bezüglichen Untersuchungen, und unterbreitet dem Bundesrat auf Anwendung des Art. 70 der Bundesverfassung gehende Anträge« (o.A., zit. in: Engeler, Grosser Bruder, S. 27). 513  |  Bismarcks Memoiren deuten darauf hin, dass die direkte Gefährdung der deutschen Innenpolitik nie Ziel der Übung war. Die deutsche Politik habe »keinen anderen Zweck verfolgt, als die Unterstützung der konservativen Elemente in der Schweiz gegen den Einfluss und den agitatorischen Druck der fremden und einheimischen Sozialdemokratie« (zit. in: Dubach, Strizzis, S. 22). 514  |  Vgl. Engeler, Grosser Bruder, S. 27. 515  |  Vgl. auch Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 251-252. 516  |  Dubach, Strizzis, S. 23. 517  |  Vgl. Engeler, Grosser Bruder, S. 28. In der betrachteten Zeitspanne waren zwei Bundesanwälte im Amt. Auf Albert Scherb, der 1889 bis 1916 amtete, folgte Otto Kronauer 1899-1916. Vgl. Caduff/Tschabold, Repertorien Bestand 21, S. XXII. 518  |  Engeler, Grosser Bruder, S. 28.

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macht des Phantoms und bot so Hand zur systematischen Überwachung vieler sozial progressiver, aber auch reformistischer Strömungen, die nicht zuletzt durch die dergestalte Aneinanderrückung als verbandelt dargestellt und wahrgenommen wurden.519 Wie effektiv die Politische Polizei ihre Aufgabe letztlich meisterte, ist schwierig zu beurteilen. Tatsache bleibt, dass auch mit engmaschiger Überwachung Anschläge von Einzelakteuren nicht verhindert werden konnten, wie das Attentat auf Kaiserin Elisabeth durch den aktenkundigen Anarchisten Luigi Luccheni zeigt. Dass von den erfolgten Attentaten diejenigen profitierten, die sie nicht verhinderten, nämlich die dafür ins Leben gerufene Politische Polizei, zeigt die im Nachgang dieses Attentats im November 1898 einberufene Anti-AnarchismusKonferenz in Rom, die Kompetenzerweiterungen für die Politischen Polizeien bedeutete. Dem geäußerten Vorwurf europäischer Mächte, ein Schlupfwinkel für gefährliche AnarchistInnen zu sein, begegnete die Schweiz mit polizeilichen Zugeständnissen, wie der Mitwirkung am internationalen Datenaustausch bezüglich des Anarchismus. Dies führte schließlich zur Errichtung einer Zentrale des internationalen Nachrichtenflusses im Zentralpolizeibüro der Bundesanwaltschaft 1903. Zwar wurde im Anschluss des Attentats auch die Willkür der Bundesanwaltschaft, der Politischen Polizei kritisiert. Diese Kritik wurde aber mit dem Hinweis pariert, dass sich ihre Aktivitäten auschließlich gegen AusländerInnen richteten. Bewiesen wurde indes immer wieder das Gegenteil durch periodisch publik gewordene Fehltritte von unqualifizierten ZuträgerInnen. Nebst eigens dafür eingestellten und aus der Bundeskasse entlöhnten Spitzeln überwachten auch Briefträger, Postbeamte und die PTT-Direktion innere Feinde, die in Verletzung des Postgeheimnisses einschlägige AbonnentInnenlisten an die Bundesanwaltschaft schickten.520 Auch parlamentarische Maßnahmen gegen die Willkür der Politischen Poli519 | Dieses undifferenzierte Nivellieren aller linken Bewegungen wurde von Teilen der öffentlichen Meinung aufgegriffen und zusätzlich befeuert. Die NZZ orakelte etwa am 13.3.1889: »Noch jeder Anarchist ist durch die Sozialdemokratie hindurchgegangen. Es ist eine Sache des Temperaments und der sozialen Stellung, ob ein Sozialdemokrat schließlich zu einem Anarchist vorschreitet oder nicht.« (o.A., zit. in: Engeler, Grosser Bruder, S. 31). Die systematische Fichierung von AnarchistInnen hat laut Casagrande auf Bundesebene erst 1898 begonnen. Vgl. Casagrande, Mises en fiche, S. 69. Die Quellenlage spricht m.E. eine andere Sprache. Wohl wurden die Fichen von den Kantonen angelegt. Allerdings, so zeigt sich beim stellvertretenden Blick ins Staatsarchiv Zürich, wurden die Erhebungen äußerst häufig erst auf Verlangen des Generalprokurats hin gemacht. Wie eng Kantone und Bund in der Kartierung von AnarchistInnen zusammenarbeiteten, illustriert der Fakt, dass der Sissi-Attentäter Luigi Luccheni am 18.8.1898 in Lausanne kontrolliert wurde und seine Fiche bereits am 20.8.1898 von der Bundesanwaltschaft abgelegt wurde. Vgl. Engeler, Grosser Bruder, S. 255. Dramatisierend, wenn auch in den Grundzügen wohl richtig, beschäftigt sich auch Nettlau mit der willkürlichen Kontrolle: Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 5, S. 300. 520  |  Geradezu exemplarisch für diese Praxis ist das Antwortschreiben der Genfer Polizei auf eine bundesanwältliche Anfrage um Klärung des Umstandes, dass sich Bertoni auf der Genfer Kanzlei als verantwortlicher Redakteur eintragen ließ. Die Genfer Polizei antwortete umgehend: »[I]l résulte de recherches faites à la poste que Bertoni envoie de la succursale de Plainpalais tous les vendredis matins, des imprimés à des personnes dont nous vous envoyons ci-inclus la liste.« (Brief vom 13.11.1900, BAR E21/4524, zit. in: Casagrande, Mises en fiche, S. 70) Dt.Ü.: »[A]us Untersuchungen bei der Post geht hervor, dass Bertoni jeden

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zei wie etwa das im Zürcher Kantonsrat verabschiedete 5-Punkte-Programm von 1904, das die Bespitzelung hätte eindämmen oder zumindest reglementieren sollen, hatten keinen Effekt. Auch die Interpellationen auf Bundesebene von 1904, 1905 und 1910 blieben folgenlos.521 Wohl entstand eine kleinere Debatte, die sich aber in Kunstgriffen der Grenzziehung und der Definitionen von ›Detektiv‹, ›Mittelsperson‹ und ›Spitzel‹ erschöpfte. Arbeitsweise und -wut der Institution und ihrer ZuträgerInnen blieben unangetastet.522 Die massenhafte Erhebung von Daten durch die Politische Polizei und den Generalanwalt schritt voran, obwohl sich aus ihr kein wirklicher Nutzen ergab, außer der Reproduktion der Institution selbst. Die Politische Polizei schwenkte im Lauf des 20. Jahrhunderts ihren Fokus bald hierhin, bald dorthin, vergaß über die Jahre aber kaum Gruppen, die ihr zuvor verdächtig erschienen. Es ist also ebenso verständlich wie erschreckend, dass der Fichen-Bestand der Politischen Polizei bei ihrer Aufdeckung Ende der 1980er Jahre mit rund 900.000 Überwachten knapp ein Sechstel der Bevölkerung umfasste. Trotz aufmerksamer Politischer Polizei wurde die Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts »[...] für die Führer der internationalen anarchistischen Bewegung als geeigneten Ort zur Errichtung einer Zentralstelle für Propaganda und Vorbereitung von Attentaten [...]«523 bezeichnet. Die Standortvorteile lagen in der zentralen Lage, dem vergleichsweise weitgehenden Asylrecht und der demokratischen Verfassung, wie Lesch524 betont. Von einem Paradies für anarchistische TheoretikerInnen konnte allerdings nicht die Rede sein, wie gezeigt werden konnte. Neben der omnipräsenten polizeilichen Überwachung gab es auch einen gesetzlichen Rahmen, der dies verhinderte.525 An erster Stelle der legislativen Maßnahmen ist sicher der bereits hinlänglich erwähnte Art. 70 der Bundesverfassungs zu nennen, der Ausweisungen für AusländerInnen zu einem stetig schwebenden DamoklesFreitagmorgen aus der Filiale in Plainpalais Drucksachen an eine Liste von Personen schickt, die wir Ihnen hiermit übermitteln.« Auch KleingewerblerInnen, WirtInnen und KellnerInnen wurden eingespannt, ihre Kundschaft auf staatsfeindliche Äußerungen hin auszuhorchen. Vgl. Engeler, Grosser Bruder, S. 42-43 und S. 47. Als besonders pikant muss der Fall Wilhelm Metzger angesehen werden, der am 5.10.1901 als deutscher Spitzel erkannt wurde und – statt ausgewiesen – umgehend auf die Lohnliste der Bundesanwaltschaft gesetzt wurde. Vgl. Engeler, Grosser Bruder, S. 41. Vgl. auch die Warnungen vor Spitzeln in anarchistischen Zeitungen, exemplarisch in »Dies und Das: Zuhälter der Polizei«, Der Vorposten, 8.1906, Jg. 1, Nr. 5, S. 2. 521  |  Vgl. für die Interpellationen von Hermann Greulich und Alfred Brüstlein Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 434. Kaum überraschend ist die Tatsache, dass auch in anarchistischen Kreisen die Politische Polizei kritisiert wurde. Vgl. hierzu das ›Manifest der Anarchisten‹, das am 18.8.1889 schweizweit affichiert wurde: »Mögen Sie [gemeint ist der Generalanwalt, d.V.] endlich wissen, dass die Schöpfung einer politischen Polizei in unserm Lande nur dazu dienen kann, ein frischeres Blut in unseren Adern fliessen zu lassen und immer neue Kämpfer unseren Reihen zuzuführen [...] Dir [Bundesregierung, d.V.] haben wir nur zwei Worte zu sagen: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹. Hoch die Anarchie!« (Nicollet, Albert u.a., »Hoch die Anarchie!«, zit. in: Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 155). 522  |  Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 434. 523  |  Lesch, Anarchistengesetze, S. 3. 524  |  Ebd., S. 3. 525  |  Der folgende Abschnitt wesentlich nach ebd.

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schwert machte. Aber es gab auch andere Passus, unter denen AnarchistInnen und anarchistische Agitation oder Aktionen abgeurteilt werden konnten. Art. 46 des Bundesstrafrechts etwa ermöglichte eine rechtliche Verfolgung, wenn die Staatsgewalt eine durch gewaltsame Handlungen geäußerte Absicht einer Gruppe erkannte, einer Bundesbehörde Widerstand zu leisten, sie zu etwas zu zwingen oder sie an der Erlassung einer Verfügung zu hindern oder Rache an einem Beamten oder einer Bundesbehörde zu nehmen. Ferner angewendet werden konnte Art. 48 des Bundesstrafrechts, der die Aufreizung zu solchen Taten vermittels mündlicher oder schriftlicher Äußerung bestrafte. Geschah der Verstoß gegen Art. 48 mit Hilfe einer Druckerpresse, konnte zudem Art. 69 des Bundesstrafrechts beigezogen werden, mit dem zusätzlich VerlegerInnen und HerausgeberInnen strafrechtlich belangt werden konnten.526 In der großen Mehrzahl der Fälle wurde in anarchistischen Belangen dennoch auf Art. 70 zurückgegriffen. Dies sicherlich auch deshalb, weil gegen ihn keine Einsprache erhoben werden konnte.527 Ebenfalls das Thema touchierend waren die Auslieferungsgesetze. Waren Auslieferungen für politische Verbrechen und VerbrecherInnen zunächst undenkbar, wandelte sich die Stimmung in den 1890er Jahren im Schatten der immer zahlreicher werdenden anarchistischen Attentate. Am 22.1.1892 schließlich wurden die Auslieferungsgesetze dahingehend verschärft, dass der politische Charakter von Verbrechen nicht mehr vor einer Auslieferung schützte.528 Diese strafrechtlichen Möglichkeiten sollten ab Mitte Dezember 1893 ergänzt werden. Der Bundesrat unterbreitete der kleinen und großen Kammer einen Entwurf zur Erweiterung des Bundesstrafrechts von 1853 zur besseren Handhabe von AnarchistInnen. Damit war die Schweiz nicht allein. Fast alle Anrainerstaaten der Schweiz hatten bereits entsprechende Anarchisten- oder Sprengstoffgesetze eingeführt.529 Gründe für die Schaffung von schweizerischen Anarchistengesetzen lagen in den befürchteten internationalen Verwicklungen: Konkret sollte ein Umgang gefunden werden mit in der Schweiz geplanten, aber im Ausland ausgeführten Verbrechen. Eine zusätzliche, eher grundsätzliche Problematik stellte der Umstand dar, dass mit dem Ausweisungsartikel wohl ein für AusländerInnen griffiges Instrument zur Maßregelung von anarchistischen Aktivitäten vorlag, es aber auf Schweizer BürgerInnen nicht ange-

526  |  Nach Müller, Bericht, S. 177-179. 527  |  Dies bestätigten Bundesrat und Parlament im Zuge eines Rekurses des Rechtsprofessors Emil Zürcher betreffend dreier Ausweisungen: »Das Ausweisungsrecht würde illusionär, wenn den hinauskomplimentierten Ausländern die Möglichkeit geboten werde, den Entscheid anzufechten« (Engeler, Grosser Bruder, S. 36), fasst Engeler die parlamentarische Logik zusammen, aus der Zürcher folgerichtig schloss, dass einzig der Politischen Polizei das souveräne Urteil darüber zustehe, was zulässig sei, was geduldet werde und was nicht. Vgl. ebd., S. 36-37. 528  |  Ebd., S. 29. 529 | Die meisten europäischen Anarchistengesetze oder Sprengstoffgesetze waren juristisch gesehen Strafgesetze, teilweise enthielten sie sicherheitspolizeiliche resp. gewerbepolizeiliche Bestimmungen. Im Wesentlichen beinhalteten sie Erweiterungen bestehender gemeinverbrecherischer Tatbestände, wenngleich auch Neuschaffungen von Tatbeständen wie z.B. die vielerorts eingeführten Apologie-Gesetze verzeichnet werden können. Generell stellten sie eine Verschärfung der Strafandrohungen dar. Vgl. Lesch, Anarchistengesetze, S. 2.

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wendet werden konnte.530 In der Debatte um den bundesrätlichen Vorentwurf der neuen Gesetze hieß es, in der anarchistischen Propaganda läge eine große Gefahr, da sie Nachahmer nicht nur in Kauf nähme, sondern ermutige.531 Im Begleitschreiben zum Gesetzesentwurf formulierte der Bundesrat, es sei geboten »[...] mit unerbitterlicher Strenge gegen anarchistische Umtriebe einzuschreiten und das anarchistische Verbrechen mit schweren Strafen zu bedrohen«532 . Der am 18.12.1893 unterbreitete Entwurf des »Bundesgesetz betr. Ergänzung des Bundesgesetzes über das Bundesstrafrecht v. 4.2.1853« trat leicht abgeändert am 25.7.1894 in Kraft.533 Mit der Einführung waren Gebrauch, Herstellung, Anleitung zur Herstellung, Auf bewahrung, und Transport von Sprengstoffen sowie die Aufmunterung zu Verbrechen zu Straf beständen geworden. Explizit sind diese Straf bestände im verabschiedeten Gesetz noch nicht an die anarchistische Gesinnung gekoppelt. Dennoch waren es zweifelsohne anarchistische Attentate, gegen die die sieben Artikel verfasst wurden.534 Ziemlich eindeutig heißt es in Art. 4 des Gesetzes: »Wer in der Absicht, Schrecken zu verbreiten oder die allgemeine Sicherheit zu erschüttern, zu Verbrechen gegen die Sicherheit von Personen oder Sachen aufmuntert oder Anleitung gibt, wird mit Gefängnis nicht unter 6 Monaten oder mit Zuchthaus bestraft.« Sollte diese Aufmunterung oder Anleitung mit Hilfe einer Druckerpresse geschehen, so würden nach Art. 5 zudem auch AnstifterInnen, GehilfInnen und BegünstigerInnen für straffällig erklärt. Die 1894 eingeführten Anarchistengesetze wurden am 30.3.1906 erweitert und verschärft. Die Verschärfung sollte verhindern, »[...] dass der vom selbst nicht handelnden Agitator geschickt ausgestreute Same der verschleierten Aufreizung auf empfänglichen Boden falle und dort die Frucht bringe, die der Sprecher, der Redaktor (sc. Anarchistischer Gesinnung) zu 530 | Diese Komponente betont v.a. Langhard, der den Unmut der öffentlichen Meinung über Freisprüche von Angeklagten Schweizer Anarchisten beschreibt, die – wären sie Ausländer – bei den gleichen Vergehen ausgewiesen worden wären. Langhard, Anarchistische Bewegung, S. 162. 531 | Vgl. für eine Zusammenfassung der national- wie ständerätlichen Debatte ebd., S. 423-438. 532  |  Zit. in ebd., S. 424. 533  |  Formaljuristisch, wie Lesch in seiner Arbeit darlegt, hätte der Bundesrat dazu keine Kompetenz gehabt. Vgl. Lesch, Anarchistengesetze, S 6. Dass Anarchistengesetze auf Bundesebene angestrebt wurden, liegt nach der Einschätzung von Lesch an der internationalen Dimension des Problems. Inwieweit die Tatsache, dass bundesgerichtliche Entscheide von Berufsrichtern gefällt wurden, während kantonale Rechtsprechung oft von Laien- und Schwurgerichten gefällt wurden, mitspielte, kann nicht ergründet werden. Der Freispruch des französischen Attentäters Ravachol von einem Schwurgericht nach einer rhetorisch brillianten Verteidigungsrede dürfte den beratenden Kommissionen aber bekannt gewesen sein, was die offizielle Schweiz vermutlich nebst anderen Gründen auch dazu veranlasste, eine bundesgesetzliche Lösung anzustreben. Die Bundesassisen, die über Bundesgesetzesübertretungen berieten, waren professionelle Rechtssprecher. 534  |  Dazu Lesch: »Wenn auch das Wort ›anarchistisch‹ im ganzen Gesetz von 1894 nicht zu finden ist, so geht doch aus der Entstehungsgeschichte, der Botschaft des Bundesrates und den Stenografischen Berichten über die Verhandlungen der Bundesversammlung klar hervor, dass diese Novelle gegen den Anarchismus und seine Anhänger gerichtet ist.« (Lesch, Anarchistengesetze, S. 7-8).

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erzielen hofft«535. In der Ergänzung der Gesetzesnovelle wurde auch zum Delinquenten »wer öffentlich zur Begehung anarchistischer Verbrechen auffordert, oder dazu Anleitung gibt, oder derartige Verbrechen öffentlich in der Absicht verherrlicht, andere zur Begehung solcher Handlungen anzureizen [...]«536. Damit wurde der Terminus ›anarchistisch‹ ein erstes Mal in der schweizerischen Gesetzgebung verwendet. »[...] Zweck: Bekämpfung der anarchistischen Propaganda, insbesondere der durch Verbrechensverherrlichung erfolgenden«537. Angestoßen wurde die Ergänzung durch die bereits oben erwähnte Silvestrelli-Affäre538, was der Gesetzesergänzung auch zum Übernamen ›Lex Silvestrelli‹ verhalf.539 »Dem energischen Willen des Bundesrates, dem verbrecherischen Treiben der Anarchisten Halt zu gebieten, der Schweiz und ihren Bewohnern Sicherheit zu verschaffen, ist das Gesetz entsprungen, und es wurde bei seinem Erscheinen von der Öffentlichkeit lebhaft begrüsst«540, ist bei Lesch zu lesen. Nicht zuletzt diese Einschätzung lässt hinter den Anarchistengesetzen und ihrer Verschärfung in erster Linie einen Effort zur Beruhigung der öffentlichen Meinung vermuten. Die Öffentlichkeit war zumindest schwer verunsichert ob der scheinbaren staatlichen Machtlosigkeit gegenüber Gewaltakten, die in anarchistischem Namen durchgeführt wurden. Dies ließ einen Zugzwang entstehen, der letztlich dazu führte, dass die Anarchistengesetze von 1894 in relativ kurzer Zeit verabschiedet werden mussten. Dass die Novelle den Charakter von Gelegenheitsgesetzen trug und entsprechende Mängel aufwies, die die Rechtssprechung erschwerten, kann deshalb nicht verwundern. Auch bei den legislativen antianarchistischen Maßnahmen ist es nicht einfach, den Wirkungsgrad zu bestimmen. Wie stark und ob überhaupt die von der Bundesversammlung erhoffte abschreckende, präventive Wirkung auf potenzielle AnarchistInnen einsetzte, lässt sich nicht nachzeichnen. Feststellbar hingegen ist, dass ihre Wirkung auf bereits gestandene AnarchistInnen und deren Agitation gering blieb. Die bewegungseigenen Blätter erschienen in gleicher Zahl und Auflage, wie sie es vor der Einführung der Gesetze taten. Das mag damit zu tun haben, dass sich die große Mehrzahl der Schweizer AnarchistInnen, die in Kontakt mit diesen Gesetzen kamen, ohnehin über das Gesetz stellten. Sie erklärten es wiederholt auch im Gerichtsaal als für sie nicht relevant – wie das ganze Gesetz.541 Zur gefühlten Zahnlosigkeit der Gesetze kam hinzu, dass sie, wenn sie zur Anwendung gelangten, nicht a priori Erfolg verhießen. Im Gegenteil kam es wiederholt zu Freisprüchen

535  |  Botschaft zur Strafrechtsnovelle vom Dezember 1902, Bundesblatt 1902, V, S. 842, zit. in: Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 430 (Herv. i.O.). 536  |  Lesch, Anarchistengesetze, S. 8. 537  |  Ebd., S. 8. 538 | Vgl. Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. 539  |  Z.B. in Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 430. 540  |  Lesch, Anarchistengesetze, S. 7-8. 541  |  So exemplarisch Luigi Bertoni, dem eine führende Rolle beim oben bereits erwähnten Genfer Generalstreik vom 8.-14.10.1902 angelastet wurde. Während dem Prozess ließ Bertoni verlauten, dass das einzige Gericht, das er kenne, sein Gewissen sei, und er weiterhin die Revolution anstrebe. Vgl. auch für weitere dahingehende Beispiele generell Langhard, Anarchistische Bewegung. Speziell für den Genfer Generalstreik und die ihm folgenden Prozesse S. 175-184.

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von hinreichend bekannten und aktiven Anarchisten.542 Dass das Gros ausländischer AnarchistInnen auch nach der Schaffung neuer legislativer Maßnahmen weiterhin mit Ausweisungen für ihre Agitation bestraft wurden, spricht zudem ebenfalls nicht für die Praktikabilität der Anarchistengesetze. Die Einführung und Verschärfung von Anarchistengesetzen hatte aber durchaus ihre realen Implikationen. Einerseits konnte man unter ihnen angeklagt werden. Auch wenn die tatsächliche Bestrafung unsicher war, konnte so bereits die staatliche Repression gestartet und Untersuchungshaft und Ähnliches verfügt werden. Zu diesen realen Implikationen kam die schleichende Befürchtung hinzu, dass alle 1.Mai- und Kommunenfeiern mit den neuen Gesetzen kriminalisiert würden. Diese Befürchtung bestätigte sich de iure zwar nicht, de facto aber sehr wohl. Die Behörden setzten auf anarchistische Feiern und Ansammlungen regelmäßig Spitzel an, um irgendwann einmal zu hören, was sie hören wollten, um daraus Anklageschriften formulieren zu können.543 Beurteilend kann gesagt werden, dass die erfassten staatlichen Maßnahmen das Fernziel, die Auslöschung der anarchistischen Bewegung, nicht wesentlich näher brachten. Anarchistische Propaganda, Agitation, Aktionen und selbst als solche durchgeführte Attentate konnten, aller permanenten Überwachung und den verabschiedeten Gesetzesnovellen zum Trotz, nicht unterbunden werden. Regelmäßig erscheinende Zeitungen, Broschüren, Affichen, Spuckzettel, Vorträge aber auch Sprengstoffattentate, Mordanschläge, oder eine ausgewachsene Staatsaffäre konnten letztlich nicht verhindert werden. Vielleicht lag es an den aus juristischer Sicht mangelhaft formulierten Gesetzen, vielleicht an der zuweilen fanatisch anmutenden Überzeugung der AnarchistInnen, das Richtige zu tun und sich daran durch nichts und niemanden hindern zu lassen. Diese Frage muss offen bleiben. In einer anderen Hinsicht waren die staatlichen Maßnahmen aber durchaus erfolgreich. Mit der Kriminalisierung des Anarchismus und der ökonomischen Stigmatisierung der AnarchistInnen durch die trockene Guillotine trugen die Be542 | So etwa der bereits in Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz kurz erwähnte Freispruch von Carlo Frigerio, Luigi Bertoni und Emil Held, die aufgrund eines Artikels im Almanacco socialista-anarchico des Jahres 1900 vom Bundesanwalt nach Art. 4 und Art. 5 der Anarchistengesetze am Bundesstrafgericht angeklagt wurden. Aufgrund juristischer Unzulänglichkeit, namentlich, ob anarchistische Propaganda eben nicht doch als politisches Verbrechen zu werten sei, wurden alle drei freigesprochen. Dies, obwohl sich alle auch im Gerichtssaal für den Anarchismus und die Erreichung seiner Ziele aussprachen, Bertoni gar in einem 1,5-stündigen Plädoyer, obwohl sie letztlich genau dafür angeklagt wurden und ihnen unverhältnismäßig hohe Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen drohten. Vgl. für die Verhandlung von Frigerio, Bertoni und Held: Langhard, S. 379-385. Die Rede Luigi Bertonis wurde im Le Réveil abgedruckt. Vgl. »Défense de Bertoni«, Le Réveil, 23.11.1902, Jg. 3, Nr. 62, S. 2-3 (Teil I), resp. »Défense de Bertoni«, Le Réveil, 7.12.1902, Jg. 3, Nr. 63, S. 1 (Teil II). Vgl. für die angedrohten sehr hohen Haftstrafen und ihre Beeinflussung der Strafrechtspflege in ungünstigem Sinne mit exemplarischen Fällen: Lesch, Anarchistengesetze, S. 16-17 und S. 25-27. 543  |  Ob die Alleinschuld dafür tatsächlich beim Anarchismus zu suchen ist, oder ob nicht doch das gängige, arg verzerrte Anarchismus-Bild und dessen ProduzentInnen dafür sorgte, dass Methoden eingesetzt werden konnten, die die bürgerlichen Freiheiten verletzten, kann nur rhetorisch gefragt werden. Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 431.

3. Von Anarchismus und AnarchistInnen

hörden ihren Teil dazu bei, dass die Öffentlichkeit stets ein negatives Bild vom Anarchismus hatte und Theorie, Gedankengut und Bewegung immer etwas Verdächtiges anhaftete. Diese indirekte kontinuierliche kulturelle Demontage von Anarchismus als gangbare, echte Alternative zum Kapitalismus und als Antwort auf die Soziale Frage dürfte der Bewegung weit mehr und nachhaltiger geschadet haben, als die letztlich doch immer nur an Einzelpersonen ausgeführten staatlichen Zwangsmaßnahmen. Zum durch und durch kriminellen, ausländischen und antischweizerischen Produkt gestempelt, verlor der Anarchismus jegliche Aussicht auf Massentauglichkeit.

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4. Von Vorläufern und Erleuchteten AnarchistInnen und Anarchismus

in der anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914

4.1 E inleitende W orte Um die identitätskonstituierenden und reproduzierenden Elemente in der anarchistischen Presse herausarbeiten zu können, bedarf es einer kritischen, heuristischen Lesart. Wie in Kapitel 2.3 Kollektive Identität in dieser Arbeit ausführlich begründet, wird kollektive Identität als lose verwobenes Netz verstanden, das durch das Wirken und Zusammenwirken verschiedener, historisch spezifischer und in ihrer Performanz variabler Komponenten erbaut und zusammengehalten wird, die als Noden fungieren. Anzahl und Vielgestaltigkeit, in der sich diese Komponenten in bewegungseigenen Zeitungen niederschlagen, illustrieren dabei ihre Wichtigkeit für Gestaltung und Formierung der anarchistischen Bewegung an sich, für deren kollektive Identität folgende Komponenten isoliert und untersucht werden: Hypergüter in Form von Zielen, Vorstellungen und Strategien, Framing-Prozesse in Form von Abgrenzungen der Gemeinschaft gegen außen und, als subidentitäre Framing-Prozesse, auch gegen innen im Rahmen von Selbstwahrnehmungen, -verortungen und -darstellungen. Auch Traditionalismen oder die Schaffung von Emotionalien zur Emotionalisierung des anarchistischen ›Wir‹ finden sich in den Quellen, ebenso wie die in den Blättern üppig verhandelte Fremdwahrnehmung. Diese und weitere extrapolierbaren Stützpfeiler der anarchistischen kollektiven Identität, also derjenigen aus anarchistischer Perspektive, üben dabei eine Doppelrolle aus: Einerseits prägen sie Charakter und Positionierung der einzelnen Zeitungen, andererseits widerspiegeln sie, was AnarchistInnen der Schweiz zu dieser Zeit als anarchistisch verstanden, lebten, pflegten und anboten. Die angestrebte Freilegung identitätsrelevanter Bausteine lässt so ein Bild entstehen, das die Gemeinschaft, ihre Wünsche, Wege und Ziele in ihrer eigenen Einschätzung ersichtlich und nachvollziehbar macht, und die, so die hier vertretene These, einen wesentlichen Teil des Kapitals ihrer selbst darstellte. Mit dem Blick auf die so eruierte anarchistische kollektive Identität sollen sich schließlich Antworten auf die Frage nach der Motivation für ein Engagement in der vornehmlich auf Abstrakta gründenden Bewegung beantworten lassen. Auf die bibliografischen Umstände und die Probleme der politischen Einordnung bei der Arbeit mit Zeitungen als Quellen wurde bereits in Kapitel 1.4.2

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Quellenkritik hingedeutet. Die Frage nach einer sinnvollen formalen Charakterisierung und Einordnung stellt sich in diesem Kontext ebenfalls. Dies soll in Anlehnung an Eberleins Kriterien für die Kartierung der Presse der Arbeiterbewegung1 geschehen. Sind zusätzliche Informationen verfügbar, beispielsweise zur Struktur oder zum Druck des Titels, werden diese unter ›Sonstiges‹ in Punkt (10) behandelt. Zur besseren Leserlichkeit befinden sich die formalen Charakterisierungen jeweils am Ende der Kapitel. Die Gliederung im Detail sieht folgendermaßen aus: (1)

Haupttitel: Untertitel

(2) Körperschaft/Herausgeber (3) Redaktion/Redaktionsadresse (4) Erscheinungsort (5)

Erscheinungszeitraum, -frequenz und Umfang

(6) Beilagen (7) Vorgänger (8) Nachfolger (9)

Standort und Signatur der verwendeten Zeitung

(10) Sonstiges

1  |  Eberlein, Internationale Bibliographie (1996), S. XIII.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

4.2 D eutschspr achige Z eitungen 4.2.1 Freie Gesellschaft Abbildung 1: Freie Gesellschaft, 28.5.1892, Jg. 1, Nr. 6. (GMN Nürnberg, Gs. 2286 sc)

4.2.1.1 Relevante Er wähnungen Die Freie Gesellschaft wirkt in verschiedenen Artikeln auf unterschiedliche Art und Weise identitätskonstituierend. So treten Framing-Prozesse als produktive Komponenten in der Freien Gesellschaft in mehreren Artikeln zutage, weitaus am deutlichsten in der Nullnummer. Im Artikel »Aufruf!«2 der Nullnummer verortete sich die Freie Gesellschaft als radikal-sozialistisches Organ, das von Proletariern, von internationalen Sozialisten geschrieben werde. Da die Sozialdemokratie zusehends verflache, sehe sich das ›Wir‹ zum Handeln gezwungen. Das ›Wir‹ verortete sich in einer Gegenposition zur Sozialdemokratie, generierte seine Raison d’Être

2 | Die Freie Gesellschaft der internationalen Socialisten, »Aufruf!«, Freie Gesellschaft, 1.4.1892, Jg. 1, Nr. 0, S. 1.

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gar aus ihr, wenn es deren Verwelken als Antrieb nahm, selbst aktiv zu werden.3 »Sozialreformlerische Bestrebungen« und »die Verwerfung des revolutionären Prinzips seitens der Sozialdemokraten« würden die anderweitige Verbreitung der radikalen Ideen in einer unabhängigen Zeitung unumgänglich machen, die »wahr und aufrichtig« die Interessen des Proletariats vertreten wolle.4 Die Kittung der Gemeinschaft mittels Ziehung von Demarkationslinien zwischen dem ›Wir‹ und den ›anderen‹ tritt in der Freien Gesellschaft überaus häufig auf. Die Abgrenzungen von Bourgeoisie und Sozialdemokratie halten sich dabei numerisch wie die Intensität betreffend die Waage. Die Sozialdemokratische Partei sei keine revolutionäre Partei, auch wenn sie das vorgebe. Schon in ihrem Namen verhaftet sei die Herrschaft, die Ursprung der Ungleichheit und damit Wurzel der Ungerechtigkeit zugleich sei. Dass sie dem Parlamentarismus anhänge, führe dazu, dass sie zur possibilistischen Bewegung verkomme, die lediglich anstrebe, was mit Kompromissen mit der Bourgeoisie möglich sei. Der wahre Sozialismus aber streiche jegliche Herrschaft aus seiner Theorie, »[...] und sei es auch die Volksherrschaft [...] Er verlangt dass nicht das Gesetz, sondern die Moral, die selbständige Denkungsweise das Individuum moralisch verpflichte, das Gute zu thun und sich dem Heile der Gesammtheit [sic] zu unterwerfen.«5 Auch bei diesem Artikel wird deutlich, wie verschiedene identitätskonstituierende Elemente sich gegenseitig überkreuzen und bedingen können. Die Vermittlung des Hyperguts des ›wahren Sozialismus‹ als anzustrebendes Ziel wird eingeleitet durch den abschließenden Framing-Prozess, der das ›Wir‹ von den SozialdemokratInnen separiert. Nicht nur linguistisch, sondern auch politisch ist die Selbstbezeichnung interessant. Sie verrät einiges über die Selbstwahrnehmung einer Gemeinschaft und vielleicht sogar noch mehr über die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge, in der sie geschieht. Der Autor S.D.F. nahm sich als ›wahrer Sozialist‹ wahr, die vermittelten Hypergüter seines Artikels lassen aber deutlich eine anarchoide Gesinnung erkennen.6 Mit AnarchieBegriffen bezeichnete er sich selbst nie, und auch andere AutorInnen7 der Freien Gesellschaft wendeten jene konsequent nicht an. Wurden solche in der Fremdwahrnehmung auf die Gemeinschaft angewendet, die ebenfalls in der Freien Gesellschaft als identitätskonstituierende Komponente in katalysierender Form zu finden ist, distanzierte sich die Gemeinschaft sogar davon. So beispielsweise im Artikel »In 3  |  An dieser These hielt die die Freie Gesellschaft in einem zweiten Artikel fest: »[D]ie Vorgänge im sozialdemokratischen Lager, der schmähliche Verrath der bekannten ›Volksführer‹ und die im Gefolge dieser Umstände unvermeidliche Korruption und Versumpfung haben die Nothwendigkeit hervorgerufen, ein Organ zu gründen, welches die breiten Massen des Proletariats nur von den Triebfedern der Solidarität und der Wahrheitsliebe geleitet, über die wahren Ziele, über die wahre Bedeutung der revolutionär-sozialistischen Bewegung aufklären soll.« (***, »Ein Kampforgan«, Freie Gesellschaft, 28.5.1892, Jg. 1, Nr. 6, S. 21). 4 | Vgl. Die Freie Gesellschaft der internationalen Socialisten, »Aufruf!«, Freie Gesellschaft, 1.4.1892, Jg. 1, Nr. 0, S. 1. 5 | S.D.F., »Sozialdemokratie und Parlamentarismus«, Freie Gesellschaft, 23.4.1892, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 6  |  Vgl. ebd., S. 2-3. 7  |  Ob Autorinnen bei der Freien Gesellschaft tätig waren, lässt sich nicht belegen. Da anonyme Beiträge vorliegen, wäre es aber ungenau, weibliche Mitarbeit an der Freien Gesellschaft prinzipiell auszuschließen.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

eigener Sache«8. Darin definieren sich die MacherInnen der Freien Gesellschaft zunächst über die Vermittlung von positiven Hypergütern: »Wir erklären, dass wir das, was wir predigen, für den wahren und revolutionären Sozialismus und für nichts anderes halten [...].«9 Daraufhin werden Grenzen hin zur Sozialdemokratie gezogen. Dem diffamierenden Anwurf aus der sozialdemokratischen Presse, »[...] Sie sollen sich ehrlich nennen was sie sind, nämlich Anarchisten«10, entgegnete die anarchoide Gemeinschaft: »[E]s ist uns einerlei, ob uns die verehrliche Redaktion der ›Arbeiterstimme‹ für Sozialisten oder Anarchisten hält.«11 Die vordergründige Indifferenz bröckelt mit der Länge des Artikels immer mehr ab. Am Schluss des Artikels fasste die Redaktion der Freien Gesellschaft die Konsequenzen zusammen, die AnarchistInnen im Zürich von 1892 drohten. Durch die öffentliche Einordnung als AnarchistInnen werde einem quasi »[...] die politische Polizei direkt auf den Hals gehetzt [...]«12 . Die Redaktion der Freien Gesellschaft war sich des Reizwort-Charakters demnach bewusst.13 Dass in einer den Inhalten nach anarchistischen Zeitung auf Anarchie-Begriffe verzichtet wurde, ist ein starkes Indiz für deren diffamierende Wirkung. Dass viele sich nicht als AnarchistInnen bezeichneten, liege unter anderem am »[...] Mangel an moralischem Muth des Einzelnen, sich als Anhänger einer Idee, die die Minorität besitzt und angefeindet, gehasst und gebrandmarkt wird [...]«14, zu exponieren. Inhaltlich arbeitete die Freie Gesellschaft nichtsdestotrotz an der De-Dämonisierung der Anarchie und der AnarchistInnen. Beispielsweise durch deren Vermittlung als positive Hypergüter: Die Anarchie wurde als eine herrschaftslose und solidarische Gesellschaftsform portraitiert und als das »wahre Ziel« des Sozialismus schlechthin portiert.15 Weitere Hypergüter finden sich im Artikel »Was wollen die internationalen Socialisten?«16, einem eigentlichen Selbstportrait der Redaktion. Darin werden die Ursachen des sozialen Elends in 8  |  Die Redaktion, »In eigener Sache«, Freie Gesellschaft, 23.4.1892, Jg. 1, Nr. 1, S. 4. 9  |  Ebd., S. 4. 10  |  Arbeiterstimme, 9.4.1892, Nr. 29, zit. in: Ebd., S. 4. 11  |  Ebd., S. 4. 12  |  Die Redaktion, »In eigener Sache«, Freie Gesellschaft, 23.4.1892, Jg. 1, Nr. 1, S. 4. 13  |  Auch in einem anderen Artikel wurde die politische Ladung der Anarchie-Begriffe thematisiert. »Nicht die Lehre der Anarchie selbst ist es, die gefährlich ist, sondern die Verläugnung [sic] ihrer Berechtigung, die grundlose Verdammung, die brutale Brandmarkung und die abgefeimteste Denunziation, diese Umstände sind es, welche die Verallgemeinerung der anarchistischen Theorie zu einer gefährlichen machen.« (»Staat oder Selbstverwaltung?«, Freie Gesellschaft, 21.5.1892, Jg. 1, Nr. 5, S. 19). 14  |  Ebd. S. 14. 15  |  »Der Anarchismus ist die äusserste Konsequenz der sozialistischen Anschauung und in Wirklichkeit gibt es überhaupt keine Anarchisten sondern nur Sozialisten, welche die Anarchie, die Herrschaftslosigkeit anstrebten. Die Anarchie selbst ist also nur ein Endziel, welches die radikaler denkenden Sozialisten zu realisieren trachten.« (Ebd., S. 14). Vgl. für weitere Beispiele der De-Diabolisierungsversuche in der Fortsetzung und dem Schluss dieses Artikels in anderen Nummern. »Staat oder Selbstverwaltung? (Fortsetzung)«, Freie Gesellschaft, 21.5.1892, Jg. 1, Nr. 5, S. 19 und »Staat oder Selbstverwaltung? (Schluss)«, Freie Gesellschaft, 4.6.1892, Jg. 1, Nr. 7, S. 26. 16 | T. D....y [T. Dietschy], »Was wollen die internationalen Socialisten?«, Freie Gesellschaft, 1.4.1892, Jg. 1, Nr. 0, S. 2.

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der geistigen Bevormundung, der Gewalt, schließlich in der Herrschaft an sich gesehen, die in der Dreigestalt Zins-Staat-Religion auftrete und die es zu zerstören gelte. So komme einerseits wieder das Natürliche und Gute der Menschen zum Vorschein, die wiedergefundene Moral und die natürliche Weltanschauung erübrigten schließlich Gesetze und Religion. Auch die präfigurative, vermittelte Auffassung, dass Propaganda und Aufklärung die Steine darstellt, mit denen die Straße zur Utopie gepflastert ist, stellt ein klassisch anarchistisches Hypergut dar: »Der Weg zur Erreichung dieses Ziels heisst: Unablässige Proklamation unserer Ideen [...].«17 Dies wurde denn auch als Hauptaufgabe der Freien Gesellschaft inszeniert. Punkto Selbstverständnis lässt sich keine eindeutige Praxis in der Freien Gesellschaft ausmachen. Gelegentlich machte das ›Wir‹ Unterschiede, indem es die zu revolutionierende Masse zuweilen als indifferent und ihrer Lage unbewusst darstellte und sich damit als von ihr verschieden positionierte. Andererseits gibt es auch mehrere Stellen, wo die Gemeinschaft als proletarische Kraft und Teil der Masse dargestellt wurde. Das Wanken zwischen einem Selbstverständnis als Avantgarde oder als Proletariat löst sich dabei nicht auf. Die Freie Gesellschaft und ihre sie publizierende und konstituierende Gemeinschaft befanden sich über weite Strecken der Konstitution ihres kollektiven Selbst in einem abgrenzenden Kampf gegen zwei Seiten hin. Es gehe der Gemeinschaft darum, »[...] in erster Linie der modernen Gesellschaftsordnung, [...] der herrschenden Ungerechtigkeit, der Wirthschaftsordnung [sic] den offenen Krieg zu erklären, in zweiter Linie aber das von sozialdemokratischen Pharisäern und Zeloten irregeführte Proletariat von der Unzulänglichkeit [...] der Sozialdemokratie [...] zu überzeugen«18: Gerade der zweite Kampf wurde mit äußerster Verbissenheit geführt. »Wir haben keine Gemeinschaft mit der Sozialdemokratie. Streng abgeschlossen gehen wir unsere eigenen Wege und überlassen eine Partei ihrer inneren Auflösung [...]. [W]ir erklären es offen und ehrlich, wir werden, [...] redlich daran arbeiten, diese Partei zu zersplittern, zu schwächen und zu vernichten«19, hieß es in Nr. 6. In Nr. 7 hieß es gar: »In erster Linie möchten mie 20 aber die denkenden Genossen bitten, aus der sozialdemokratischen Verschleppungspartei auszutreten und dieses Gesindel nicht noch weiter zu unterstützen, sondern freie und unabhängige Klubs zu bilden, wo die Individualität eines jeden Genossen gewahrt bleibt und sich selbständig entwickeln kann.«21

In derselben Nummer wurde schließlich typografisch gesperrt gerufen: »Nieder mit der Autorität! Nieder mit der staatserhaltenden Sozialdemokratie!«22, womit die beiden explizit als ebenbürtige Antipoden der Gemeinschaft positioniert wurden. An mehreren Stellen tritt zu den bereits erwähnten identitätskonstituierenden Mechanismen der der katalytischen Fremdwahrnehmung hinzu. Wurde diese thematisiert, wurde die Gemeinschaft zu einer (Re )Evaluation und Reformulierung 17  |  Ebd., S. 3. 18  |  ***, »Ein Kampforgan«, Freie Gesellschaft, 28.5.1892, Jg. 1, Nr. 6, S. 21. 19  |  Ebd., S. 21. 20  |  Dialekt für ›wir‹. 21 | »Gesinnungsgenossen!«, Freie Gesellschaft, 4.6.1892, Jg. 1, Nr. 7, S. 25. 22  |  Ebd., S. 25.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

der Selbstbildes animiert, zu Dementi oder Bestätigung veranlasst, wodurch eine Selbstpositionierung vorgenommen wurde. Die Fremdwahrnehmung negierend fasste die Freie Gesellschaft dergestalt zu einer Selbstpositionierung angeregt Hypergüter konzis zusammen: »Nicht Zerstörung ist es, was wir anstreben, sondern der Frieden, nicht die legalisierte Gewalt, sondern die wahre Menschlichkeit, nicht Hass, sondern Liebe, nicht Ordnungslosigkeit, sondern Herrschaftslosigkeit.«23 Die Gemeinschaft wolle »über die Trümmer der sozialdemokratischen Partei, über die Trümmer der modernen Wirthschaftsordnung [sic] zur wahren Freiheit, zur Menschlichkeit«.24

4.2.1.2 Zusammenfassung Die Konstruktion der Gemeinschaft, der sich die Freie Gesellschaft zugehörig fühlte und die sie durch ihre Zeilen und Spalten wesentlich mitgestaltete, setzt sich aus mehreren Elementen zusammen. Passagen mit Selbstpositionierungen sind ebenso zu lesen, wie regelmäßig Aus- und Abschlüsse durch Grenzziehungen festzustellen sind. Auch Fremdwahrnehmungen wurden in der Freien Gesellschaft aufgegriffen und motivierten als Katalysatoren Gestaltung, Bestärkung und Reformulierung der kollektiven Identität, etwa in Form der Vermittlung von – häufig positiven – Hypergütern. Die Beiträge der Freien Gesellschaft bieten darüber hinaus gutes Anschauungsmaterial dafür, dass und wie die verschiedenen identitätskonstituierenden Elemente verschränkt produktiv waren und ineinander übergingen, oft genug in ein und derselben Passage. Auch wenn sich die Gemeinschaft nie direkt als solche bezeichnete, kann ihre kollektive Identität als klar anarchistisch bezeichnet werden. Die Ideale einer herrschaftsFreien Gesellschaft, die betonte und wiederholte Ablehnung des parlamentaristischen Weges, der Wunsch nach bedingungsloser, totaler Freiheit von Individuum und Gesellschaft sowie die absolute Absage an das Staatswesen sprechen eine eindeutige Sprache. Ebenfalls als geradezu klassisch anarchistisch ist der Ansatz der Gemeinschaft anzusehen, dass von einer von Natur prinzipiell revolutionären Masse ausgegangen wird, die mittels Propaganda vom tief sitzenden Autoritätsglauben nur noch befreit werden müsse. Am meisten scheint die kollektive Identität der Zürcher und Basler25 AnarchistInnen jedoch durch ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie geprägt gewesen zu sein. Anders als die Bourgeoisie, die als Hauptfeind vornehmlich als Schlagwort auftrat, wurde die Sozialdemokratie, ihre Führer und ihre Politik in mehreren Beiträgen detailliert als konterrevolutionär dargestellt, hauptsächlich aufgrund ihres Kooperations- und Kompromisswillens mit der bürgerlichen Gesellschaft. Dies rückte die beiden politischen Lager in den Augen der Gemeinschaft zusammen. Die diametrale Position zu sozialdemokratischen Ansätzen der Gemeinschaft, die streckenweise als unikale Raison d’Être der anarchistischen Gemeinschaft zu wirken schien, ist damit auch als Abgrenzung gegen bürgerliche Positionen zu lesen.

23  |  ***, »Ein Kampforgan«, Freie Gesellschaft, 28.5.1892, Jg. 1, Nr. 6, S. 21. 24  |  Ebd., S. 21. 25 | Der Internationale Arbeiterverein Basel hat die Freie Gesellschaft mitfinanziert und dürfte folglich ebenso zum Publikum zu zählen sein, das durch die Zeitung geprägt wurde und sie prägte.

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So eindeutig die Gemeinschaft inhaltlich als anarchistisch einzuordnen ist, so weit war sie davon entfernt, Anarchie-Begriffe in der Selbstbezeichnung zu verwenden. Die ›Internationalen Sozialisten‹ oder ›wahren Sozialisten‹, wie sich die Gemeinschaft apostrophierte, wehrte sich auch aktiv, wenn sie mit Anarchie-Begriffen fremdbezeichnet wurde. Andernorts allerdings stellten sie die politische Mystifizierung der Begriffe infrage, und starteten damit den (erfolglosen) Versuch, sie zu de-diabolisieren. Das wiederholte Betonen, dass Anarchismus-Begriffe lediglich zur Brandmarkung des politischen Gegners eingesetzt würden, zeigt dabei ebenso das De-Diabolisierungsprojekt an wie die hohe normative Stigmatisierungskraft, die den Begriffen 1892 innewohnten. Aufgrund der kurzen Erscheinungsdauer der Freien Gesellschaft ist es kaum erstaunlich, dass sich die Positionen und auch die kollektive Identität nicht verschoben, soweit sie aus den erkannten und identifizierten Elementen rekonstruiert werden können. Grabenkämpfe sind ebenfalls keine auszumachen. Obschon in die Erscheinungsperiode der Freien Gesellschaft die parlamentarische Verabschiedung der verschärften Anarchistengesetze fiel und ebenso einige anarchistische Attentate in Frankreich, sind diese nicht von außergewöhnlich identitätskonstituierender Tragweite. Sie wurden, wie andere für den Anarchismus relevante Tagesaktualitäten und Ereignisse auch, in der Rubrik »Soziale Rundschau« verhandelt. Da die Rubrik in jeder Nummer zu finden ist, kann dennoch von einer akzentuierten identitätskonstituierenden Eigenschaft von anarchistischen Ereignissen gesprochen werden. Eine Exklusivität in der Rolle als Katalysator hatten sie aber nicht inne.

4.2.1.3 Bibliografische Details (1) Freie Gesellschaft: Organ der internationalen Sozialisten; (2) Die Freie Gesellschaft der internationalen Sozialisten (FGIS); (3) Redaktionverantwortlicher: Th. Dietschy; Redaktionsadresse: Froschaugasse 7, 8001 Zürich; (4) Zürich (5) Nullnummer: 1.4.1892, erste Nummer 23.4.1892, letzte Nummer 4.6.1892, wöchentlich 4 Seiten; insgesamt sind 8 Nummern erschienen (7) Die Neue Gesellschaft (9) ZB Zürich Signatur: DX 135 (Nr. 0-1), GNM Nürnberg (Nr. 1-7) Signatur: Gs. 2286 sc; (10) Finanziert wurde die Freie Gesellschaft aus Abonnementseinnahmen, Anzeigen sowie Zugaben aus einem eigens dafür gegründeten ›Pressfonds‹, der mit Spenden aus der FGIS und dem Internationalen Arbeiterverein Basel (IAV) gespeist wurde. Nichtsdestotrotz ging die Freie Gesellschaft aus Geldmangel bereits nach sieben regulären Nummern ein.26 Neben längeren, oft über mehrere Nummern sich erstreckenden Artikeln finden sich regelmäßige wie unregelmäßige Rubriken (regelmäßig »Soziale Rundschau«, unregelmäßig »Kritische Revue« und »Literarisches«), Anzeigen und gelegentlich Gedichte. Den Druck besorgte Emil Frick in Zürich-Unterstrass.

26  |  Bereits in Nr. 2 wurde um den Erwerb von Anteilscheinen à CHF 1,- gebeten. Vgl. »Zur Beachtung!«, Freie Gesellschaft, 1.5.1892, Jg. 1, Nr. 2, S. 8.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

4.2.2 Junge Schweiz Abbildung 2: Junge Schweiz, 1899, Jg. 1, Nr. 1. (SozArch Zürich, NN 224)

4.2.2.1 Relevante Er wähnungen Im Artikel »Zur Organisation der Intellektuellen«27 positioniert sich der Autor Brupbacher als ebensolcher, indem er die Wendung ›die Intellektuellen‹ und das inklusive ›Wir‹ synonym verwendete. Die Identitätskonstitution der Gemeinschaft geschieht dabei wesentlich durch Negativabgrenzungen. Konkret hebt und schließt sich das Kollektiv wiederholt gegen »Krämer« und »Philister« ab, die in seinen Augen »[...] nach materiellem Besitz als dem Idealsten strebende[...] Menschen [...]«28 und als solche kapitalistische Antipoden des folglich implizit verorteten antikapitalistischen kollektiven Selbst sind. Auch weitere Framing-Prozesse prägen die Identitätskonstitution in der Jungen Schweiz, beispielsweise die (ebenfalls anarchismuskonforme) Demarkation des Kollektivs gegenüber der Geistlichkeit:

27  |  Brupbacher, Fritz, »Zur Organisation der Intellektuellen«, Junge Schweiz, 1899, Nr. 1, S. 5-19. 28  |  Ebd., S. 9.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Nicht nur die Religion als solche, sondern die Kirche bekämpfen wir als ein Institut zur Förderung von Stumpfsinn und Autoritätsglauben, als die Vergifterin der Volksmassen [...]. Das Absolute, das Autoritative [...] ist unserem Intellekt feindlich. Unsere Weltanschauung ist eine solche, die auf Erfahrung, gewonnen durch unsere Sinne und gesichtet durch die Kritik des Intellekts, beruht.«29

Ihre Aufgabe sah die Junge Schweiz darin, aufklärerisch im Sinne der Propagierung des kritischen Denkens zu wirken: »Unsere Zeitschrift soll kein Litteratur- [sic] und Kunstblatt, sondern ein Kämpferblatt sein, ein Kampf blatt gegen allen Unsinn, gegen jedes politische, ästhetische, bürgerliche und wissenschaftliche Vorurteil.«30 Auch weitere negative Hypergüter wurden vermittelt. Die Gemeinschaft richte sich »[...] gegen all den Unsinn einer vorsintflutlichen Bourgeoisieweltanschauung und für eine allgemein menschliche, durch wissenschaftliche Kritik gereinigte Betrachtung der Dinge«.31 Eine veritable Selbstwahrnehmungsdefinition bietet das Manifest der »Schweizerischen antireaktionären Gesellschaft«32, in dem sich verdichtet und verschränkt besagte Selbstpositionierungen, Hypergüter und Framing-Prozesse der Gemeinschaft finden, die sich – so in Abschnitt 2, Paragraf 3 – politisch unter anderem an den Anarchisten Stirner und MacKay orientierten.33 Anarchoid mutet auch Brupbachers Einschätzung der staatlichen Bildung an, die er als reproduktives Vehikel im und für den Staat verstand. Das Autoritative und die staatliche Schulbildung wurde als verbildende Zwangsjacke dargestellt, wo Kinder kapitalistische Werte und Ideale aufoktroyiert und eingetrichtert bekämen, was die Junge Schweiz als normativen Eingriff des Staates scharf kritisierte. Den staats-, autoritäts-, kapitalismus- und religionsfeindlichen Äußerungen zum Trotz wurde das Kollektiv expressis verbis nie als anarchistisch bezeichnet. Ebenfalls anders als in mancher anarchistischen Zeitung des Fin de Siècle wurde die Gemeinschaft implizit als prinzipiell nicht auf einer Stufe mit ProletarierInnen stehend verortet und durch diese Abgrenzung als Gruppe konstituiert, wobei eine negative Wertigkeit ausbleibt. Mittels Framing-Prozessen wurden aber auch gemeinsame Feinde geschaffen, die gemeinschaftsintern kittend wirkten. Der gleiche Feind sei letztlich an beider Gruppen Übel Schuld, die explizit differenziert wurden: »Der Arbeiter leidet in erster Linie unter der ökonomischen Macht der Bourgeoisie, wir Intellektuellen unter ihrer Weltanschauung und ihrem Werturteil [...].«34 Diesem Problem sollte mit agitatorischer Aufklärung und antiautoritativer Pädagogik als Methoden beigekommen werden. Ziel davon war es, »[...] den Menschen so zu gestalten, wie er uns als Utopie vor den Augen schwebt«35, wird präzisiert: Nicht-utilitaristisch, nicht eigentumsfixiert, sondern wahrheits- und wissenschaftsdurstig (und -gläubig), wie es Hypergüter vermittelnd hieß. Zunächst in dieselbe Richtung geht der 29  |  Ebd., S. 9. 30  |  Brupbacher, Fritz, »Vorwort«, Junge Schweiz, 1899, Nr. 1, S. 3. 31  |  Ebd., S. 3. 32 | Brupbacher, Fritz, »Schweizerische antireaktionäre Gesellschaft«, Junge Schweiz, 1899, Nr. 1, S. 19-22. 33  |  Vgl. ebd., S. 21. Das Manifest wurde im Dezember 1898 verfasst. 34  |  Brupbacher, Fritz, »Zur Organisation der Intellektuellen«, Junge Schweiz, 1899, Nr. 1, S. 13. 35  |  Brupbacher, Fritz, »Zur Erblichkeitsfrage«, Junge Schweiz, 1900, Nr. 2, S. 60.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

Artikel »Enthusiasmus, Kunst und Kampf ums Dasein«36. Darin wandelte sich das gemeinschaftliche ›Wir‹ jedoch. Von »wir Akademiker«37 zu »wir armen Berufsmenschen«38 weiter zu »wir Arbeiter«39 amalgamierte die Junge Schweiz die beiden Gemeinschaften. Integrativ wirkten nicht nur Selbstbezeichnungen, integrativ wirkten auch vermittelte Hypergüter. Mittels Aufzählung von gemeinsamen Notlagen, die es abzuschaffen gelte, vereinte der Autor schließlich seine Gemeinschaft mit derjenigen der ArbeiterInnen. Anlass zu dieser Synthese bot ihm die mangelnde Präsenz aller arbeitenden Gruppen in den Künsten im Jahre 1900. In der Jungen Schweiz wurde kollektive Identität nicht nur gegen außen mit Demarkationen (mit )konstituiert. Auch subidentitäre Framing-Prozesse gegen innen waren produktiv. Bilanzierend wurde etwa die Gemeinschaft gegen ehemalige (Mit-)Revolutionäre40 abgegrenzt und eine Schließung von innen gegen innen vollzogen. Den ehemaligen MitstreiterInnen sei »[...] der Glauben an die Menschen abhanden [gekommen, d.V.] im Kampfe um die Verwirklichung ihrer Träume – und sie sind auch nicht von jenen, die es verstehen, im Geiste Unerfülltes als Wirkliches zu erleben, die Thüren und Fenster verhängen, um nichts von der Welt zu sehen, die alle Obliegenheiten des Lebens kurz abmachen, die nicht zu ihrer Phantasie passen, denen die Glut der Phantasie fehlt, um durch sie glückstrunken zu werden. [...] in deren Träume die ganze reelle Welt abhanden gekommen ist und in denen sie frei und ungehindert alles erleben und geniessen können, was die langsam vorwärtsschreitende Wirklichkeit erst in tausend Jahren ihnen zu geben vermöchte.« 41 Brupbacher beließ es dabei nicht bei der Kritik anderer Richtungen innerhalb der Gemeinschaft, auch das Selbst wurde kritisch analysiert: »Wir frugen nicht, wie wird es gehen, wir frugen ›Was thun?‹ [...] Wir sahen nur den Mitstreiter im Freunde und liebten ihn als ein Stück unserer abgöttisch verehrten Idee, unseres Traumes [...] Und was thaten wir dabei? Wir lasen Herwegh und verbrachten unsere Nächte im 36 | Brupbacher, Fritz, »Enthusiasmus, Kunst und Kampf ums Dasein«, Junge Schweiz, 1900, Nr. 3, S. 111-119. 37  |  Ebd., S. 112. 38  |  Ebd., S. 115. 39  |  Ebd., S. 116. 40  |  Eine genauere politische Einordnung nannte Brupbacher nicht. Den einzigen Anhaltspunkt liefert der Satz: »Gewesene Menschen, hat ein moderner russischer Schriftsteller, ihr Sänger, sie genannt.« (F.B., »Was wir träumten und was wir vermögen«, Junge Schweiz, 1900, Nr. 4, S. 193). 41  |  Ebd., S. 193. Autor Brupbacher führte hier diverse Subkategorien ein, von denen sich sein ›Wir‹ unterschied: die gebrochenen Idealisten (›Gewesene Menschen‹), Berufsrevolutionäre ohne Ideale (›Revolutions-Automaten‹), Aktive, die sich in ihrem Schmerz suhlten (›grosse Unglückliche‹) aber schließlich die Seite wechselten, Propagandisten der Tat (›utilistische Idealisten‹) u.a. Vgl. ebd., S. 194-202. Bereits in der ersten Nummer der Jungen Schweiz grenzte Brupbacher gemeinschaftsintern ab. In »Zum Vortrag Fanny Imles«, Junge Schweiz, Nr. 1, S. 45-48 bezeichnete er das von der Anarchistin Fanny Imle angestrebte Ziel der Anarchie als »kommunistische Utopie«. Der Begriff ›Anarchismus‹ sei ein nur von äußerst wenigen Fachpersonen verstandener Spezialbegriff, der den Menschen nur schon durch seinen Klang missfalle. Auch in der Jungen Schweiz dringt der Reizwortcharakter durch, zumal die erwähnte begriffliche Abwehrhaltung zum anarchoiden Inhalt windschief steht.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen Café [...] sprachen viel und thaten nichts und doch glaubten wir, wir werden etwas thun [sic] und wenn nicht die Welt aus den Angeln heben, so doch die Jugend in Flammen versetzen. [...] Wir träumten von helleren Tagen und möchten auch über Leichen und Trümmer den Weg zum neuen Leben gehen. Der Sonne der Zukunft wollten wir in ihre herrlichen Augen sehen. Wir fühlten uns in der wichtigsten, mächtigsten aller Zeiten und glaubten mit Hand an das Werk des Jahrhunderts legen zu dürfen.« 42

Die Junge Schweiz positionierte die Gemeinschaft nach den subidentitären Framing-Prozessen neu, auch mit der Vermittlung von Hypergütern: »[W]ir stürmen nicht mehr blindlings auf den Feind los, wir versuchen es nicht mit unzureichenden Mitteln Schlachten zu liefern – wir haben Warten gelernt – wir begnügen uns damit, einen chronischen Guerillakrieg zu führen, Plätzchen für Plätzchen, Seele für Seele der Erwerbsinnsmoral zu entziehen. Ferne liegt es uns, mit gefalteten Händen und Allah-Schicksal vertrauend das Morgengrauen der Zukunftsmenschheit zu erwarten – wir erwarten nichts – wir warten nur auf günstige Momente.« 43

Im direkt folgenden Artikel »Ins Volk!«44 wird aber trotz prävalenten subidentitären Framing-Prozessen klar, dass nicht eine monolithische Bewegung das Ziel war. Ungleichheiten wurden ebenso begrüßt wie Subgruppen, die gemeinsam an einer übergeordneten und umfassenden Befreiung der Menschen arbeiten. Im Verbund mit ›dem Volk‹ und ›dem Weib‹, die ebenfalls zu befreien seien, wurde die anarchistische Gemeinschaft als eine skizziert, die erst im Verbund ihre Ziele erreichen könne. Schließlich war als weiterer Mosaikstein der kollektiven Identität auch die Fremdwahrnehmung in Kombination mit subidentitären Framing-Prozessen für Positionierung und Skizzierung der Gemeinschaft in der Jungen Schweiz produktiv. In Abgrenzung von den Propagandisten der Tat korrigierte das Blatt die damit katalytische Fremdwahrnehmung, da das »[...] Bourgeoispublikum in seinem Unverständnis uns als Verteidiger von Mord, Totschlag, Diebstahl und Sittlichkeitsverbrechen bezeichnet und in gesellschaftlichen Diskussionen uns darnach behandelt«.45

4.2.2.2 Zusammenfassung Die Artikel der Jungen Schweiz bergen thematisch und methodisch verschiedene Zugänge zur kollektiven Identität der anarchoiden Gemeinschaft, in deren Namen sie geschrieben wurden und deren Lebenswelten sie spiegelten. Einerseits bieten Selbstwahrnehmung und -verortung Hand, Rückschlüsse zu ziehen. Allerdings sind diese alles andere als eindeutig. In der Jungen Schweiz finden sich verschiedene, auch transformierende Schilderungen der Gemeinschaft. Die Spannbreite reicht von sozialdemokratisch pragmatischen über antiautoritäre, individualisti42  |  F.B., »Was wir träumten und was wir vermögen«, Junge Schweiz, 1900, Nr. 4, S. 197. 43  |  Ebd., S. 205. 44  |  F.B., »Ins Volk«, Junge Schweiz, 1900, Nr. 4, S. 206-208. 45  |  »Zur Organisation der Intellektuellen«, Junge Schweiz, 1900, Nr. 1, S. 11. Die Fehltaxierung in der Fremdwahrnehmung ist mehrfach impulsgebendend für Konkretisierungen der kollektiven Identität in der Jungen Schweiz. Vgl. dazu auch »Student und Sozialdemokratie«, Junge Schweiz, 1900, Nr. 1, S. 42.

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sche bis hin zu anarchistischen Tendenzen. Auch andere Hinweise sprechen für eine Verortung der Jungen Schweiz als anarchoides Blatt. So wurde der bürgerliche Standpunkt, dem der Hauptautor und Redaktor Fritz Brupbacher entstammte, mitadressiert. Damit inkorporiert er die universalistische Ausrichtung, die der Mehrheit anarchistischer Strömungen eigen ist. Auch in Framing-Prozessen und subidentitären Framing-Prozessen ist identitätskonstituierende Wirkung für das Kollektiv zu orten. Darüber hinaus wurden auch Hypergüter vermittelt und die kollektive Identität so reinforciert, oftmals in Verschränkung mit anderen identitätskonstituierenden Komponenten. Ebenfalls als identitätstechnisch produktiv zu bezeichnen ist die Fremdwahrnehmung, die über eine Feedbackschlaufe eine Melange identitätskonstituierender Elemente provozierte und so manche (Re )Positionierung induzierte. Aus den oben genannten Konstruktionsmechanismen sind über die vier Ausgaben der Jungen Schweiz verstreut verschiedene Gemeinschaften auszumachen, wobei alle über anarchoide Spuren verfügen. In den früheren Ausgaben der Jungen Schweiz ist als Gemeinschaft eine Gruppe berufstätiger AkademikerInnen zu erkennen. Ihre kollektive Identität kann trotz der ständischen und damit eben nicht egalitären Selbstverortung als anarchoid eingeordnet werden. Im gemeinschaftlichen Bestreben, sich objektiv-naturwissenschaftlich der Wahrheit zu nähern, verwarf sie Autoritäten ebenso wie die verordneten Wahrheiten, die sie vermittelten. Starr Scheinendes sollte immer hinterfragt werden, frei nach dem Motto ›Wer nicht weiss, muss glauben‹. Die Art, wie von der Wurzel her argumentiert wird und dementsprechend im ursprünglichen Wortsinn radikale Lösungsvorschläge präsentiert werden, lässt eine Einordnung der kollektiven Identität der Gemeinschaft als anarchoid zu. Dafür spricht nicht zuletzt die geäußerte Ansicht, dass in der Demontage der Religionen und ganz generell der herrschenden Zustände die Aufgabe des Kollektivs liege. Auffallend häufig ist die gemeinschaftliche Distanzierung von Schall, Schmauch und jugendlichem Revolutionsgeist und -gehabe, die zeitgleich mit der Propagierung geteilter Hypergüter einherging. Diese subidentitäre Differenzierung ermöglichte aber erst die Schaffung und Perpetuierung der kollektiven Identität der Gemeinschaft als Gebildete, denen die Umgestaltung »Zur Organisation der Intellektuellen«, Junge Schweiz, 1900, Nr. 1, S. 11. Die Fehltaxierung in der Fremdwahrnehmung ist mehrfach impulsgebendend für Konkretisierungen der kollektiven Identität in der Jungen Schweiz. Vgl. dazu auch »Student und Sozialdemokratie«, Junge Schweiz, 1900, Nr. 1, S. 42. hin zu einer gleichberechtigten, nicht-kapitalistischen Gesellschaft nicht nur unbändiger Wille, sondern wissenschaftlich begründbarer Sachzwang schien. Wie zu sehen war, ist nicht immer eindeutig, wer diese anarchoide Gemeinschaft war, für die und zu der die Junge Schweiz sprach. Zusätzlich war die Adressatin in ständiger Transformation begriffen. Dies spricht wiederum ebenfalls für die Richtigkeit der Einordnung der kollektiven Identität als anarchoid: Die Gemeinschaft wurde stetig weiterentwickelt und neue Ansätze zur Lösung der Sozialen Frage miteingearbeitet. So wurden unter anderem AbstinenzlerInnen ebenso wie zuweilen die Arbeiterschaft in das kollektive ›Wir‹ integriert. Das ist aber nicht nur als Symptom der stetigen Werdung zu verstehen. Auch gemeinschaftsinterne Paradigmenwechsel in Bezug auf Strategien sind darin zu erkennen. Der anarchoide Inhalt spiegelt sich nie in der Selbstbezeichnung der Gemeinschaft, die stattdessen als ›Intellektuelle‹ oder ›Akademiker‹, retrospektiv auch ›Träumer‹ adressiert und eingeordnet wurde.

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Wenn denn einmal Anarchie-Begriffe fielen, so nur um sich in einem FramingProzess negativ dagegen abzugrenzen. Da die Gemeinschaft der Jungen Schweiz ihre kollektive Identität weitaus am häufigsten negativ mittels Framing-Prozessen konstruierte, ist es einfach sie durch eine Aufzählung dessen zu charakterisieren, was sie nicht war: kleinbürgerlich und autoritätsgläubig, konservativ und abgelöscht. Demgegenüber stellte sich die kollektive Identität als unermüdlich und nicht resigniert dar, was sich sehr schön auch an der allerersten Illustration der Jungen Schweiz zeigt: eine aufgehende Sonne, ein klassisches Emblem der Arbeiterbewegung für den Fortschritt und die Zukunft.46 Eine markante Verdichtung identitätskonstituierender Artikel konnte in der Jungen Schweiz nicht festgestellt werden, auch im Anschluss an für den Anarchismus relevante Ereignisse nicht. Daraus eine Immunität der Jungen Schweiz gegenüber anarchistischen und restgesellschaftlichen Diskursen bezüglich Anarchismus und/oder anarchoiden Bewegungen und Zusammenhängen zu fabrizieren, wäre allerdings verkürzt. Zumal sich deren Absenz auch anders erklären lässt. Die Junge Schweiz bot vom redaktionellen Zuschnitt her Raum für Essays oder Referate. Mit ihrem unregelmäßigen Erscheinen ermangelte es ihr zudem auch an Reaktionszeit, um Tagesaktualitäten überhaupt einflechten zu können, ohne hoffnungslos langsam und veraltet zu wirken.

4.2.2.3 Bibliografische Details (1) Junge Schweiz: Zwanglos erscheinende Zeitschrift (2) Fritz Brupbacher (3) Redaktion Fritz Brupbacher, Kilchberg. (4) Zürich (5) erste Nummer 1899, letzte Nummer 1900; der Umfang beträgt zwischen 45 und 76 Seiten; insgesamt sind 4 Ausgaben erschienen; (9) Schweizerisches Sozialarchiv Zürich; Signatur: NN 224; (10) Die im Broschürenformat erschienene Junge Schweiz enthält größtenteils einzelne, thematisch unzusammenhängende Artikel und Manuskripte von Vorträgen. In Nr. 1 und 2 finden sich als einzige Rubriken »Vorwort« (in Nr. 2 »Vorrede«), ab Nr. 2 »Rezensionen« (später »Bücherbesprechungen«) sowie ab Nummer 3 »Verschiedenes«. Thematisiert wurden Missstände der Bildungskonzeption in zürcherischen Mittel- und Hochschulen, die schlechte und gesellschaftlich bedingte Lage der Frau, Sozialdemokratie, Kunst, StudentInnenschaft, Eigentum, Prostitution, Abstinenz, Anarchismus, Polizei, schließlich Fragen nach dem Selbst und seinen Aufgaben.

46 | Vgl. Junge Schweiz, 1899, Nr. 1, S. 3

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4.2.3 Der Weckruf Abbildung 3: Der Weckruf, 8.1905, Jg. 3, Nr. 14. (SozArch Zürich, MFB 9:2)

4.2.3.1 Relevante Er wähnungen Auch im Weckruf lassen sich Identitätskonstitutionskomponenten gut nachweisen, gewisse durchaus mehrfach. Im auslaufenden Jahr 1905 hieß es in Replik auf einen Vorschlag der rechtsbürgerlichen Berner Zeitung den Weckruf zu verbieten: »[U]nser Blatt soll ein Vorbote der kommenden Revolution sein, und ein Weckruf an jene, die noch schlafen oder sich entmutigt zurückgezogen haben.«47 Damit positionierte der Weckruf das kollektive Selbst der AnarchistInnen als eine bereits erleuchtete Vorhut der noch zu revolutionierenden, aber per se als revolutionär verstandenen Massen. Andernorts wurde die Gemeinschaft im gleichen Jahr als engagiert und kampfeslustig positioniert: »[W]ir aber mit glühendem Blut und jagenden Pulsen, wir mit dem Hass gegen die Unterdrücker und dem [...] Schmerz über die Unterdrückung, die wir nichts zu verlieren haben als die Ketten und die nur die Freiheit zu gewinnen haben, – wir wählen den Kampf!«48, hieß es etwa im programmatischen Artikel »Die direkte Aktion«, der ein erstes Set an Hypergütern transportiert. Im selben Artikel wurden auch weitere Ziele, Methoden kolportiert 47 | »Gerechtes Bürgertum«, Der Weckruf, 12.1905, Jg. 3, Nr. 23, S. 4. 48  |  H.M., »Die direkte Aktion«, Der Weckruf, 9.1905, Jg. 3, Nr. 16, S. 1.

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und schließlich auch Feinde installiert. Die Direkte Aktion und der Klassenkampf gegen Kapital, Staat und Kirche wurden befürwortet. Zur Methodenwahl gehörte auch die implizite Befürwortung politischer Gewalt, die kaum offen diskutiert wurde. Die Verantwortung für das eigene Tun von sich weisend hieß es: »Gewiss, wir Anarchisten, die wir die Gewalt bekämpfen, weil unser Ideal die Gewalt- und Herrschaftslosigkeit ist, wir hätten wahrlich nichts dagegen, wenn wir ohne Gewalt, ohne Terror, ohne ›ungesetzliche‹ Mittel auskämen« 49. Neben Hypergütern finden sich im Artikel auch Framing-Prozesse gegenüber »Richter[n] und Pfaffen« und – genauso pointiert – gegenüber sozialdemokratischen Funktionären50, die den Anarchismus verunglimpften.51 Die Identitätskonstitution im Weckruf wurde um weitere Elemente wie etwa Traditionalismen ergänzt. So wurde der Gemeinschaft im ersten Weckruf-Artikel überhaupt eine lange, und mit Naturanalogien organisch konnotierte Geschichte eingeschrieben: »[...] Der Anarchismus ist keine Erfindung himmelblauer Schwärmer oder stubenhockender Spintisirer [sic]; er ist auf dem Boden der Geschichte gewachsen.«52 Ein Jahr später hieß es in einem Artikel nach der Vermittlung einiger Hypergüter wiederum traditionalistisch mit biologistisch-essenzialistischem Einschlag: »Wir wollen uns von der Umstrickung des Staates befreien, wir wollen über uns keine Herren mehr, die uns befehlen und unseren Willen durch den ihren verdrängen könnten [...]. Wir wollen [...] uns allein an die bewusste Entwicklung des innersten Wesens unserer ganzen Natur [...] halten«53, die, so die unausgesprochene Prämisse, eine anarchistische sei. Ein weiteres Jahr später, 1905, verkündete der Weckruf, dass das AnarchistInnen-Sein eine »Naturnotwendigkeit«54 sei. Blieb sich die Zielsetzung der Gemeinschaft über die Jahre hinweg relativ konstant, so zeigen sich in den vermittelten Methoden, wie und mit welchen Mitteln dieses Ziel der Anarchie zu erreichen sei, Spuren der häufigen Redaktionswechsel. Dieses Schlingern ist einerseits programmatisch für den Weckruf, andererseits aber auch für die gesamte anarchistische Bewegung. Im frühen 1904 hieß es unter Redaktor Eduard Riedlin in einem Artikel über eine Polizeispitzel-Affäre in Zürich, die 49  |  Ebd., S. 1. 50  |  Bände spricht etwa die gezogene Parallele zu sozialdemokratischen Politikern in Italien, Spanien und Frankreich. Genüsslich berichtete der anonyme Autor: »[D]a jagten die Arbeiter ihre Führerschaft, die in Amt und Würde, im höflichen gesellschaftlichen Parlamentieren mit den Feinden vergessen hatte, dass sie die nach Befreiung lechzende Arbeiterschaft zu vertreten habe, die ihre Zeit nicht mit parlamentarischen ›Erfolgen‹ vertrödeln könne, zum Teufel, und sie nahm ihre Sache selbst in die Hand. Und im barbarischen Spanien, das kein Mittel der Unterdrückung scheut, haben tausende Arbeiter sich Erfolge errungen, die wir ersehnen; in Frankreich haben Tausende den Achtstundentag sich geschaffen; in Russland haben im revolutionär-sozialen Kampf Arbeiterbatallione den Achtstundentag, haben sie das Recht auf Bestimmung der Ingenieure und Angestellten, wird ihnen die Zeit der Streiks bezahlt und haben sie sich fünfzig- bis hundertprozentige Lohnerhöhungen errungen.« Ebd., S. 1. 51  |  Ebd., S. 1. 52 | »Zur Einführung«, Der Weckruf, 20.6.1903, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 53  |  Reclus, Elisée, »Warum sind wir Anarchisten?«, Der Weckruf, 15.10.1904, Jg. 2, Nr. 12, S. 1. 54  |  »Anarchismus und direkte Aktion«, Der Weckruf, 9.1905, Jg. 3, Nr. 17, S. 1.

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Verdächtigungen und Anschuldigungen der AnarchistInnen in der bürgerlichen Presse mit sich brachte: »Wir sind keine Monarchenabschlachter [...]. Wir wissen, dass die Figuranten der staatlichen Gewaltherrschaft und der gesetzlich geschützten Ausbeutung nicht die Ursachen derselben sind. Wir führen Krieg gegen [...] die Ausbeutung in jeder Form, gegen die Unterdrückung und gegen ihre Ursache die autoritätsgläubige Dummheit.«55 In der im November 1904 erschienenen Gedenknummer56 für die zum Tode verurteilten Anarchisten rund um die Haymarket Unruhen klang es bereits anders: »Gewalt, Mord war und ist immer das letzte Argument der herrschenden Klasse den Arbeitern gegenüber gewesen [...]. Gewalt wird daher das letzte Argument der Arbeiter sein müssen, wenn sie die jetzige, auf Ausbeutung beruhende Gesellschaft beseitigen wollen.«57 Auch im Artikel »Tyrannenmord«58 wurde im Februar 1905 in diese Kerbe geschlagen und die Anwendung politischer Gewalt apologisiert: »Die selbstlose Hingabe der Rächer von Moskau [die den Zaren Sergius mit einer Bombe am 17.2.1905 umbrachten, d.V.] wird Scharen von neuen Kämpfern aus dem Boden stampfen, die bewaffnet mit Dynamit und anderen furchtbaren Sprengstoffen die individuelle Aktion in Angriff nehmen werden um Schritt für Schritt die herrschende Gewalt zu desorganisieren, um die grossen und kleinen Repräsentanten der blutigen ›Ordnung‹ zu vernichten und so in wirksamer und furchtbarer Weise die Aktion der Massen zu unterstützen und ihr zum Siege zu verhelfen.« 59

Die Losung hieß: »[W]ir müssen sie [die Bourgeoisie, d.V.] vernichten, um selbst leben zu können.«60 Als weitere identitätskonstituierende Produktivkraft ist die die Selbstpositionierung katalysierende und sie mitbestimmende Fremdwahrnehmung zu erwähnen. Die Redaktionen des Weckruf verfolgten sehr genau mit, wie sie in bürgerlichen und sozialdemokratischen Zeitungen wahrgenommen wurden und verfassten manch identitätskonstituierenden Artikel in Replik. So etwa in der Berichterstattung zum Verlauf der 1. Mai-Feiern 1905. Eine satirisch verfasste Replik gibt einerseits Einblick in die Zurückweisung der Fremdbeschreibung. Andererseits erlaubt sie den Rückschluss, dass sich AnarchistInnen durchaus auch in der Rolle der anrüchig-gefährlichen Outlaws gefielen, die ihnen von der bürgerlichen Presse und der großen Mehrheit der Gesellschaft zugeschrieben wurde.61 Der Umstand, dass 55  |  Die Redaktion, »Ein Polizeispitzel«, Der Weckruf, 9.1.1904, Jg. 1, Nr. 13, S. 2. 56 | Die Herausgabe einer Gedenknummer stellt als Traditionalismus im Sinne der Etablierung einer kollektiven Kommemoration bereits an und für sich eine Konstitutionskomponente dar. 57  |  »Vergessen wir nicht!«, Der Weckruf, 11.1904, Jg. 2, Nr. 13, S. 2. 58 | »Tyrannenmord.«, Der Weckruf, 2.1905, Jg. 3, Nr. 4, S. 1. 59  |  Ebd., S. 1. 60  |  Ebd., S. 1. 61  |  Vgl. »Unsere schwarze Fahne«, Der Weckruf, 6.1905, Jg. 3, Nr. 10, S. 4. Interessant zu beobachten ist die Diskrepanz der beiden Perspektiven auf die Maifeier. Vgl dazu die Berichterstattung des Weckruf zum 1. Mai 1905. »Unsere Maifeier«, Der Weckruf, 5.1905, Jg. 3, Nr. 9, S. 4. Die Umdeutung der unterstellten negativ konnotierten Ruchhaftigkeit zur Tugend spielt bis heute eine identitätskonstituierende Rolle im anarchistischen Milieu. 2007 warb der Nau-

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sie oft verzerrt porträtiert wurden und entweder als verirrte Gestalten am Rande der Psychopathologie oder als bezahlte Spitzel und Agents-Provocateurs skizziert wurden,62 hemmte sie jedoch nicht in ihrem Tun: »Allein wir wanken nicht. Die Hindernisse [...] sollen uns nicht abschrecken. Der Kampf, den wir unternommen, ist uns Bedürfnis, ist unser einziger Lebensgenuss. Wir wollen ihn zu Ende führen – und müssten wir in ihm untergehen, nun so fallen wir mit der Ueberzeugung, dass diejenigen, die nach uns kommen, unsere Ideale verwirklichen und unseren Tod rächen werden.« 63

Ein weiteres Beispiel für die Konstituierung kollektiver Identität mit Ursprung bei den ›anderen‹ liefert der Umgang mit der anhaltenden Repression. Ihr waren AnarchistInnen auch im Zürich von 1903-1907 oft ausgesetzt. Dementsprechend häufig ist sie Thema im Weckruf und bietet immer wieder katalysierend Hand, sich der kollektiven Identität rückzuversichern. Polizeiliche Verfolgungen etwa wurden umgedeutet als »Beweise dafür, dass wir uns auf dem richtigen Wege befinden, sie sind es auch, die uns zu immer neuer Begeisterung entflammen.«64 Exemplarisch ist diese Umdeutung auch im Artikel zu sehen, der im Anschluss an die groß angelegte Untersuchung der Bundesanwaltschaft gegen den Weckruf65 erschien: »Im übrigen kennt jetzt Jeder seine Pflicht. Die direkte Aktion der Polizei spricht Bände für die Richtigkeit unserer Propaganda, für die Gefährlichkeit unserer direkten Aktion! Jeder agitiere; jeder arbeite wacker von Mann zu Mann, in Werkstatt und Gewerkschaft.«66 Die Repression als externes Ereignis wirkte damit maßgeblich an der Konstituierung und Rekonstituierung kollektiver Identität mit, indem sie eine Reinforcierung anarchistischer Weltdeutung anstieß und in einer Umdeutungspraxis äußerte. Identitätskonstituierende Elemente finden sich im Weckruf teils auch gebündelt im selben Beitrag. Ein Artikel, der staatliche Repression mit Fremdwahrnehmung verknüpft, berichtete über die tragende Rolle des Bundesanwalts Kronauer bei der Ausweisung von AnarchistInnen. In diesem Zusammenhang schnitt er aber thematisch auch die Berichterstattung und die Verzerrungen im sozialdemokratischen Blatt Volksrecht an. »Das ›Volksrecht‹ kann die Gelegenheit nicht versagen, in heimtückischer Weise über die Ausgewiesenen [allesamt tilus-Verlag in der Autorkurzbiografie zu Horst Stowassers Buch »Anarchie!« damit, dass die Ansichten und Aktionen des Autors Grund waren für mehrere Aufenthalte in Strafvollzugsanstalten. Dass dadurch die Verquickung von Anarchismus und Delinquenz vorangetrieben wird, scheint zugunsten des Authentizitätsgewinns in Kauf genommen zu werden, den die Reibung mit der Staatsgewalt offensichtlich verspricht. Vgl. Stowasser, Anarchie, S. 2. 62 | Kurz und knapp fasste »Das Agitationskomitee für den Achtstundentag« die Fremdwahrnehmung der Bürgerlichen und SozialdemokratInnen zusammen: »Seit jeher schrien die Bürgerlichen, dass Anarchisten Wahnsinnige wären und ehrgeizige und herrschsüchtige Arbeiterführer nannten uns geheime Helfer der Reaktion. Damit glaubte man die wahren Revolutionäre und aufrichtigen Freunde der Freiheit töten zu können Lange genug wurden wir deswegen verfolgt [...].« »Aufruf an die Arbeiter!«, Der Weckruf, 1.1906, Jg. 4 Nr. 2, S. 4. 63  |  »Wir und sie«, Der Weckruf, 1.1905, Jg. 3, Nr. 1, S. 3. 64  |  »Vergessen wir nicht!«, Der Weckruf, 11.1904, Jg. 2, Nr. 13, S. 2. 65  |  Vgl. zur Untersuchung der Gruppe ›Weckruf‹ Kühnis, Skizze der Welt, S. 66-67. 66  |  »Zur Polizeiaktion gegen den ›Weckruf‹«, Der Weckruf, 9.1905, Jg. 3, Nr. 14, S. 4.

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Kolporteure des Weckruf, d.V.] herzufallen. Es polemisiert angeblich gegen Herrn Cronauer [sic], in Wirklichkeit aber gegen die Anarchisten.«67 Das Volksrecht unterstellte dabei den Auszuweisenden, dass sie in den Verhören nicht zum Anarchismus gestanden hätten, was sie als doppelzüngig und wendehälsisch erscheinen ließ. Der Vorwurf, dieses Bild bewusst zu pflegen, war einer der lapidarsten an die sozialdemokratische Presse, die als katalysierende Fremdwahrnehmung weit häufiger vorkommt als die bürgerliche Presse. Das externe Ereignis der WeckrufUntersuchung und die Fremdwahrnehmung wurden so in einer Verschränkung produktiv für die kollektive Identität, indem sie einen Framing-Prozess gegenüber der Sozialdemokratie einleiteten. Auch in weiteren Beiträgen waren Framing-Prozesse an der Konstitution der anarchistischen Gemeinschaft beteiligt. Dabei erweist sich vor allem die Abgrenzung gegenüber der Sozialdemokratie als produktiv. Sie spielte eine eminent wichtige Rolle für das Gemeinschaftsverständnis, die Selbstbezeichnung und die Selbstpositionierung der AnarchistInnen im Zürich der Jahrhundertwende. Bemerkenswertestes Beispiel für ihre Konstitutionskraft ist ein Artikel des Jahres 1905: »Mögen die ›Sozialdemokraten‹ nur wieder zu wirklichen Sozialisten werden, dann werden wir sofort aufhören, uns zum Unterschied von ihnen Anarchisten zu nennen, weil es dann keinen Unterschied mehr zwischen uns beiden gibt«68. Die Absetzung von der Sozialdemokratie stellte damit nichts weniger als die Raison d’Être dar. Die Abgrenzung stellt häufig ein negatives Konstitutionsmerkmal dar.69 Nicht das eigene Sein, sondern gerade das Nicht-Sein des ›anderen‹ stellt den Kitt dar, der die Gemeinschaft zusammenhielt. Ein Artikel, der sich schon im Titel explizit mit den ›anderen‹ befasste, ist »Wir und sie« 70. Anhand der Entwicklung der Geschichte der Internationalen Arbeiter Assoziation wurden darin AnarchistInnen positioniert als antiautoritäre, antimilitaristische, antireligiöse Gemeinschaft, die ohne Kompromisse mit der bestehenden Gesellschaft einen revolutionären Weg anstrebe. ›Die anderen‹ sind implizit die SozialdemokratInnen, die auf einen reformerischen Weg zusteuern würden, und dementsprechend ein bürgerliches Publikum angezogen hätten. Die AnarchistInnen hätten sich durch ihre Taktik so »natürlicherweise die schärfsten Gegenmassregeln der Regierungen« 71 eingebrockt, bewahrten den Anarchismus aber auch vor »falschen Freunden«: »[B]erühmt kann man [...] nicht werden, da die ganze Presse die anarchistische Bewegung konsequent totschweigt und nur hie und da im Falle eines Attentates Schimpf-Orgien gegen den Anarchismus feiert [...].« 72 Ein prägnantes Beispiel für die Demarkation findet sich im ersten Weckruf-Artikel überhaupt.73 Gleich auf der Titelseite wurde klar gemacht, was man nicht war: auf einer Linie mit sozialdemokratischen Kräften. Die Sozialdemokratie wurde 67  |  »Notizen: Die Ausweisungen«, Der Weckruf, 8.1905, Jg. 3, Nr. 15, S. 4. 68  |  H.M., »Anarchismus und direkte Aktion«, Der Weckruf, 9.1905, Jg. 3, Nr. 17, S. 1. 69  |  Die anarchistisch-sozialdemokratischen Grabenkämpfe wurden von beiden Seiten mit gespitzter Feder ausgefochten, wie in Kap. 5. Von Läusen und Unkraut: AnarchistInnen und Anarchismus in der nicht-anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914 zu sehen sein wird. 70  |  »Wir und sie«, Der Weckruf, 1.1905, Jg. 3, Nr. 1, S. 1-3. 71  |  Ebd., S. 2. 72  |  Ebd., S. 2. Dieselben Positionen finden sich auch in anderen Artikeln. Vgl. »Die direkte Aktion und die Politikanten«, Der Weckruf, 7.1905, Jg. 3, Nr. 13, S. 2-3. 73 | »Zur Einführung.«, Der Weckruf, 20.6.1903, Jg. 1, Nr. 1, S. 1.

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als Prostituierte dargestellt, die zudem als Minorität in einem Ganzen mitmachen wolle und müsse. Kritische Berichte über den antimilitaristischen, sozialdemokratischen Dienstverweigerer Carl Naine im sozialdemokratischen Volksrecht und im tendenziell sozialdemokratischen Grütlianer, wurden als das Werk von »total vernagelten Klötzen« 74 bezeichnet, von denen sich die Weckruf-Redaktion auch durch verbale Herablassung emotional abhob. Die universalistisch dargestellte Gemeinschaft konstituierte sich auch in Abgrenzung zu anderen Gruppierungen, etwa diffus gegenüber den Herrschenden: »[S]ie drängen uns auf den Kampfplatz«75, wie es kämpferisch-besinnlich in einem Nachruf auf einen verlorenen Genossen hieß.76 Die Sozialdemokratie stand aber am häufigsten Patin. So auch im Artikel »Gewehr bei Fuss« 77, in dem resoluteres, ganzheitlicheres Vorgehen von den Arbeiterführern gefordert wurde: »Eure Mitleidenden lernt aber die Unterdrücker hassen. Wiegelt sie auf, nicht nur ein grösseres ›Stück Brot‹ zu verlangen, sondern dem Herrn gleich die Sklavenkette an den Kopf zu schmeissen. Statt gefüllte Kassen sammelt einen Fond von Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen und Freiheitslust, statt Schulung und Disziplin die Unabhängigkeit liebende, selbständige, trotzige Menschen. So ausgerüstet verschwinden vor euch eure Unterdrücker.« 78

4.2.3.2 Zusammenfassung In der anarchistischen Zeitung Der Weckruf ist eine breite Palette identitätskonstituierender Vorgänge zu verzeichnen. Dominant sind die Framing-Prozesse, also die identitäre Ziehung von Grenzen. In überwiegender Mehrheit negativ schlossen die Autoren die eigene Gemeinschaft in verschiedenen Artikeln gegenüber anderen Gruppen ab. So wurden die Umrisse der Gemeinschaft und damit ihr kollektives Selbst stetig aktualisiert. Daneben wurden in mehreren Artikeln Hypergüter verhandelt. Methoden und Ziele, Ideale und Deutungsmuster wurden in Artikeln vermittelt und damit auch weitere wichtige Ingredienzien der kollektiven Identität der anarchistischen Gemeinschaft. Hand dazu boten externe Ereignisse wie Tagesaktualitäten oder die Fremdwahrnehmung. Die Gemeinschaft der AnarchistInnen Zürichs von 1903-1907 nutzte diese Anlässe rege, um ihr kollektives Selbst über die ›anderen‹ zu (re )formulieren oder anzupassen und es so zu bestärken und zu perpetuieren. In kleinerer Zahl finden sich auch traditionalistische und emotionalisierende Komponenten, die der Konstruktion und Rekonstitution kollektiver Identität im Weckruf ebenfalls Vorschub leisteten. Bedingt durch die häufigen Redaktionswechsel kann beim Weckruf nicht von einer singulären kollektiven Identität der angesprochenen und eingeschlossenen Gemeinschaft gesprochen werden. Dennoch – und gerade deswegen – ist es richtig, diese Gemeinschaft als anarchistisch zu bezeichnen: Sie trägt verschiedene Handschriften, lässt unterschiedliche anarchistische Tendenzen erkennen und sie zeugt so davon, dass immer die aktuelle Redaktion die Richtung vorgab, die das 74  |  »Der Fall Naine«, Der Weckruf, 3.10.1903, Jg. 1, Nr. 7, S. 1. 75 | »Matthias Malaschitz«, Der Weckruf, 25.6.1904, Jg. 2, Nr. 8, S. 2. 76 | Selbst hierbei verkniff sich die Redaktion einen Seitenhieb nicht und fügte an, dass auch »die Korruption einer verflachenden Sozialdemokratie« Anteil an Ausbeutung und Unterdrückung habe. »Matthias Malaschitz«, Der Weckruf, 25.6.1904, Jg. 2, Nr. 8, S. 2. 77  |  »Gewehr bei Fuss«, Der Weckruf, 30.4.1904, Jg. 2, Nr. 6, S. 1. 78  |  Ebd., S. 1.

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Blatt im Wind der Zeit einschlug und nicht eine in Stein gemeißelte, unabänderliche Wahrheit. Die Gemeinschaft trägt von Beginn an klassische anarchistische Züge: Antiparlamentaristisch und – immer wieder speziell hervorgehoben – antisozialdemokratisch soll auf die absolute individuelle Freiheit hingearbeitet werden. Redaktionswechsel, aber auch das zunehmend repressive Klima in der Schweiz und der in seinen Anfängen positiv verlaufende und motivierende Verlauf der russischen Februarrevolution dürften ihren Anteil daran getragen haben, dass im Weckruf bald ein anarcho-kommunistisches Selbstverständnis vorherrschte. Damit ging eine Propagierung und Verherrlichung von direkten, gewaltsamen Aktionen Einzelner einher. Bald darauf mäandrierte diese kollektive Identität weiter in eine anarcho-syndikalistische, großmehrheitlich auf die Arbeiterklasse beschränkte, um schließlich wieder beim klassischen anarchistischen Wunsch der Freiheit für alle anzukommen, bei dem Menschen ins Zentrum gerückt wurden statt Klassenzugehörigkeit. Dass die Klassierung der Gemeinschaft als anarchistisch berechtigt ist, zeigt zudem ihre Dynamik und Wandelbarkeit in einzelnen Aspekten, aber auch grundsätzliche Gemeinsamkeiten des Gemeinschaftsverständnisses. So wurde das ›Wir‹ in der Regel als fortschrittlicher Teil der Arbeiterschaft positioniert. Aber auch hier waren Nuancen möglich und auszumachen. Die Selbstwahrnehmung der Gemeinschaft oszillierte zwischen vollständiger Identifikation mit dem Proletariat und einer betonten Differenz zu ihm bezüglich des Wissenstandes und der Fähigkeit‚ die Wahrheit zu erkennen. Dass Fremdwahrnehmung für die Selbstwahrnehmung im Speziellen wie für die kollektive Identität einer Gemeinschaft generell von normativer Qualität ist, zeigt sich ebenfalls in den Spalten des Weckrufs. Zusätzlich konnte hier beobachtet werden, dass zuweilen an der von außen zugeschriebenen Rolle der anrüchig-gefährlichen Outlaws durchaus auch Gefallen gefunden wurde und also auch die dissonanzreduzierende Umdeutung als Konstitutionspraxis verstanden werden muss. Obschon identitätskonstituierende Artikel über die ganze Erscheinungsdauer des Weckruf zu finden sind, ist eine eigentliche Häufung in Bezug auf anarchistische Ereignisse ab Dezember 1904 festzustellen. Ein guter Monat nachdem der Sozialdemokrat Hermann Greulich im Nationalrat die Politische Polizei und ihr Budget zum Thema gemacht und AnarchistInnen als einen Haufen ausländischer Schwätzer dargestellt hatte. Eine weitere Häufung identitätskonstituierender Elemente in Artikeln findet sich zudem von Mitte 1905 bis Mitte 1906. In Reaktion auf die verschärften repressiven Maßnahmen gegenüber AnarchistInnen finden sich Komponenten in Artikeln verschränkt und gruppiert, die in älteren Nummern in mehreren Einzelartikeln verhandelt wurden. Für den Weckruf kann eine identitätskonstituierende Charakteristik anarchistischer Ereignisse festgestellt werden, erkennbar an der verstärkten Agitation der Gruppe ›Weckruf‹, die parallel zur verstärkten Repression verlief.

4.2.3.3 Bibliografische Details (1) Der Weckruf; (2) Jg. 1, Nr. 1 - 6: Le Réveil; Jg. 1, Nr. 6 - Jg. 4, Nr. 53: Gruppe ›Weckruf‹; (3) Jg. 1, Nr. 1 - Nr. 6: M. Rouge, Rue de Coutance 28, Genf; Jg. 1, Nr. 7 - Jg. 2, Nr. 6: F. Riedlin, Badenerstr. 258, Zürich; Jg. 2, Nr. 7 - Nr. 9: Ernst Frick, Ottostr. 17, Zürich; Jg. 2, Nr. 10-Jg. 3, Nr. 15: R. Scheidegger, Marthastr. 101, Zürich; Jg. 3, Nr. 16 - Jg. 4, Nr. 8: Ernst Frick, Forchstr. 136, Zürich; Jg. 5, Nr. 58: Louis Bertoni, Rue de Savoises 6, Genf; auch die Korrespondenzadresse wechselte öfters: Jg. 3, Nr. 7: Postfach

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11461, HB Zürich; Ab Jg. 3, Nr. 18: Postfach 6234, Hauptpost Zürich; (4) Jg. 1, Nr. 1 - 6: Genf, Jg. 1, Nr. 7 - Jg. 4, Nr. 8: Zürich; Jg. 5, Nr. 58: Genf (5) erste Nummer 20.6.1903, letzte vorhandene Nummer 1.5.1906; einmalige Neuanfangsnummer 1.5.1907; erschien urspr. 14-täglich, ab Juli 1904 monatlich respektive »wenn er kann«, ab Januar 1905 wieder 14-täglich; 4 Seiten; (6) ›Zur Abwehr‹ (Jg. 3, Nr. 1; einmalig); ›Antimilitaristisches‹ (Jahrgang 3, Nr. 15; einmalig); ›Der Antimilitarist‹ (ab Jahrgang 3, Nr. 18; regelmäßig); (9) Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich; MFB 9:2; (10) Gemäß eigenen Angaben erreichte der Weckruf im Herbst 1905 eine Auflagenstärke von 4000 Exemplaren.79 Die (einmalige) Revitalisierungsnummer vom 1.5.1907 spricht von einer Auflage von 10.000 Exemplaren. In einer Anzeige in der Revolutionären Bibliothek, hieß es über den Weckruf, er sei »das einzige deutsche anarchistische Blatt in Europa, das keine Rücksicht auf preussische oder österreichische Zensur zu nehmen braucht«80. Diese Aussage stimmt so aber nicht. Zwar erschien der Weckruf in der Schweiz legal, seine Verbreitung im Deutschen Reich wurde aber am 29.8.1906 für die Dauer von zwei Jahren verboten.81 Aufgrund akuten Geldmangels erschien der Weckruf ab Juli 1904 nicht mehr 14-täglich, sondern in der Regel monatlich, ehe er ab 1905 wieder zweiwöchentlich erschien.82 Den Druck des Weckruf nachzuzeichnen ist quellenimmanent unmöglich,83 aus den Akten der Politischen Polizei im Schweizerischen Bundesarchiv Bern aber eruierbar. Die frühen Zürcher Nummern wurden von Alfred Schaufelberger gedruckt.84 Ab September 1905 besorgte Friedrich Hinnen den Druck – unfreiwillig und vom Sachzwang getrieben, wie er bei einer Polizeivernehmung beteuert.85 In dieser Vernehmung bot Hinnen der Kantonspolizei freiwillig an, sowohl den Weckruf wie auch sonstige Informationen zu ausstehenden Flugblättern oder Einladungen zu kolportieren. Ob er dafür 79  |  »An die Freunde des ›Weckruf‹«, Der Weckruf, 10.1905, Jg. 3, Nr. 18, S. 4. 80  |  »Anarchistische Presse«, ›Revolutionäre Bibliothek, Nr. 2, Kehrseite. 81  |  Gemäß BAR E21/14059 (8/42). Die Nr. 55 des »Zentralblatt für das Deutsche Reich« vom 7.9.1906, welches das Verbot des Weckruf unter Punkt »2. Allgemeine Verwaltungssachen« verzeichnet, findet sich als Anhang in BAR E21/14515 (8/40). Ironischerweise erschien die letzte reguläre Nummer am 1.5.1906. 82  |  Die finanzielle Lage des Weckruf war von Anfang an keine rosige. Jahre vor der offiziellen Weckruf-Untersuchung hieß es dazu in einer Notiz an die Bundesanwaltschaft: »Indes scheint die Finanzierung des erwähnten Unternehmens Bedenken erregend, indem die in Circulation befindlichen Sammellisten für den Pressfonds bis anhin nur einen minimen Zuspruch gezeitigt haben.« (BAR E21/14515, ›Dossier Le Réveil IV‹, Eintrag 18.10.1903). Der Schreiber der Notiz ging von einer Erbschaft des Weckruf-Autoren Mathias Malaschitz aus, die das Blatt über Wasser hielt 83 | Das ist deshalb erstaunlich, weil auf jeder im Kanton Zürich erscheinenden Druckschrift der Name des Druckers zu stehen hatte. Vgl. den Hinweis auf §241 des Z.St.G. im Einvernahmeprotokoll Hinnen, 29.1.1906, StaZH P.239.8b (61), S. 2. 84 | Vgl. Schreiben vom 15.10.1903, StaZH P.239.7a (42). Der Wechsel des Druckers scheint nicht freiwillig passiert zu sein. Im deswegen mit acht Tagen Verspätung erschienenen Weckruf vom September 1905 ist zu lesen: »Unser bisheriger Drucker hat sich durch eine Reihe tückischer Pressionen der Gegner einschüchtern lassen, das Blatt nicht mehr zu drucken.« (Die Redaktion, »An die Leser«, Der Weckruf, 9.1905, Jg. 3 Nr. 18, S. 4). 85  |  Hinnen betont, dass er in keiner Weise ideologisch auf gleichem Terrain stehe wie die Macher. Vgl. Einvernahmeprotokoll Hinnen, 29.1.1906, StaZH P.239.8b (61).

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Geld erhielt, ist aus den Quellen nicht ersichtlich.86 Inhaltlich enthielt der Weckruf kürzere, auf Tagesaktuelles bezogene wie auch thematische Artikel, die sich auch über mehrere Ausgaben erstrecken konnten. Ebenso finden sich zweitabgedruckte Artikel und Auszüge aus transkribierten Reden.87 Die Rubriken des Weckruf hießen »Korrespondenz« respektive ab Dezember 1904 »Unsere Bewegung/Soziale Bewegung« mit Neuem aus den Arbeitskämpfen der Schweiz und Europa, »Lesefrüchte« (in Jg. 1, Nr. 8 »Worte der Weisheit und Sentenzen«, in Jg. 1, Nr. 7 und ab Jg. 1, Nr. 9 »Worte der Weisheit«), wo Sentenzen und Zitate anarchistischer Autoren zu lesen sind, schließlich »Briefkasten« und »Quittungen«.

4.2.4 Revolutionäre Bibliothek Abbildung 4: Revolutionäre Bibliothek, 1906. (SozArch Zürich, D 4000)

86  |  Vgl. StaZH P.239.8b (67:1413). 87  |  Es wurde auch ein Artikel des Weckruf in anderen anarchistischen Zeitungen zweitabgedruckt. So etwa der Artikel Minno, »Revolutionäre Jugenderziehung«, Der Weckruf, 10.1905, Jg. 3, Nr. 18, S. 1-2. Auch in der Freiheit von Johann Most und dem tschechischen Anarchistenblatt Matice Svobody zu finden gemäß eigenen Angaben. Vgl. »Korrespondenz: Den Aufsatz«, Der Weckruf, 12.1905, Jg. 3, Nr. 22, S. 4.

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4.2.4.1 Relevante Er wähnungen Bereits der erste Artikel der Revolutionären Bibliothek brachte anarchistische Theorie, Ziele und Methoden, Abgrenzungen und Deutungswelten in wenigen Zeilen unter und vereinte damit zentrale Komponenten der Identitätskonstitution. Der selbstdefinitorische, manifestartige Beitrag, der von der Gruppe ›Weckruf‹ verfasst wurde, eröffnet damit einen guten Einblick in die kollektive Identität der anarchistischen Gemeinschaft Zürichs von 1905: Hypergüter wurden ebenso vermittelt, wie Framing-Prozesse und Selbstpositionierungen und -verortungen sichtbar wurden. In»Was wollen die Anarchisten?« 88 wurde in zehn Punkten zusammengefasst, was Anarchismus für die um die Gruppe ›Weckruf‹ organisierte anarchistische Gemeinschaft Zürichs bedeutete. Zentrale Hypergüter waren die Freiheit und die Herrschaftslosigkeit, die synonym zum Anarchismus-Begriff verwendet wurden: »Der Anarchismus oder die Herrschaftslosigkeit ist weiter nichts, als die logische Konsequenz aller Freiheitsbestrebungen [...]« 89. Zum positiv formulierten Ziel wurde auch gleich die Antipode reklamiert: Für die Gemeinschaft war klar, »[...] dass nicht eher ein freiheitlicher Zustand in der Welt existieren kann, als bis der letzte Rest von Herrschaft (Archie) in jeder Form ausgemerzt worden ist«90. Als real existierende Form der Herrschaft wurde der Staat als Hauptgegner identifiziert. Auf dem Weg zur wirklichen Freiheit müsse in der Folge »[...] jeglicher Staatsbegriff, jegliche Regierungsform verneint werden [...]«91. Als weiteres negatives Hypergut wurde das Privateigentum, der »Urgrund aller Ungleichheit«92 inszeniert. Dieses gelte es durch die nunmehr positiv formulierten Hypergüter der kollektivierten Produktionsmittel und der Bedürfnisse als Maxime und Impulse des Zusammenschlusses von Menschen zu ersetzen. Die Gemeinschaft erhielt dadurch eine anarcho-kommunistische Färbung, die in den Punkten 7-9 um anarcho-syndikalistische Aspekte erweitert wurden. Als Methode wurde der »revolutionäre Generalstreik« propagiert, »die einzig mögliche Form der sozialen Revolution, der wir entgegeneilen [...]«93. Mit der Methode änderte sich auch die Klientel, auf die sich die Gemeinschaft zu konzentrieren schien. Ein klassenzentrierter Anarchie-Entwurf wurde aufgespannt, der in Syndikaten die zukünftige Gesellschaftsform erahnte.94 In der Wahl der Angriffe wurde dann aber wieder auf im anarcho-kommunistischen Lager propagierte Mittel zurückgegriffen. Sollte der friedliche Verlauf von gewerkschaftlichen Lohnkämpfen scheitern, so empfahl die 88  |  »Was wollen die Anarchisten?«, Revolutionäre Bibliothek, 1905, Nr. 1, S. 3-7. 89  |  Ebd., S. 3. 90  |  Ebd., S. 3. 91  |  Ebd., S. 3-4. 92  |  Ebd., S. 4. 93  |  Ebd., S. 5. 94  |  So wie Punkt 7 formuliert war, blieben die ProletarierInnen auch nach der Revolution ProletarierInnen, womit die Klassengegensätze auch in der Anarchie fortbestünden: »Die Idee des revolutionären Generalstreiks besteht darin, dass die Proletarier im ganzen Lande [...] mit Gewalt Hand auf die gesammte [sic] ökonomische Macht die Produktionsmittel, die Bergwerke, die Häuser usw. zu legen und die Produktion für sich selbst zu beginnen.« (Ebd., S. 5 [Herv. i.O.]). Auch der Satz »Die Gewerkschaften sind auch dazu berufen, die Grundlage für die neue kommunistisch-anarchistische Gesellschaft zu bi[l]den« (ebd., S. 6), ist ein anarcho-syndikalistischer Klassiker.

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Gemeinschaft zu allen Mitteln zu greifen, »[...] die [...] zur Verfügung stehen – überzeugt, dass die Unternehmer nichts so sehr fürchten, als die Beschädigung ihres Eigentums«95. Konkret propagiert dazu wurden die Sabotage und die Propaganda der Tat96, die »angemessen« eingesetzt werden sollte.97 Auch der zweite Beitrag in der ersten Nummer der Revolutionären Bibliothek ist stark identitätskonstruierenden Charakters. In »Der Revolutionäre Geist« äußerte sich Peter Kropotkin auf die Frage nach dem Sinn und Unsinn einer Teilnahme an Kommunal- und Regionalwahlen.98 Dieser Artikel birgt ebenfalls ein Reigen an konstitutiven Komponenten wie Hypergüter, Framing-Prozesse und Selbstverortungen. Zunächst wurden positive Ziele formuliert wie »die volle und freie Entwicklung des Individuums« und das Endziel Anarchie wurde bekräftigt, die als Ergebnis von »[...] Ideen des Fortschrittes, der Gleichheit, der ökonomischen, politischen, intellektuellen und moralischen Freiheit [...]«99 definiert wurde. Auch negative Hypergüter wurden vermittelt und mit Framing-Prozessen zog die Gemeinschaft für die Gemeinschaft affirmative Demarkationen gegenüber parlamentaristisch und staats-sozialistisch agierenden Gruppen.100 Auch in diesem Artikel nimmt die Absetzung der eigenen Sinnwelt von der Sozialdemokratie eine zentrale Rolle ein. Über den ganzen Artikel verteilt finden sich anarchistische Positionierungen, die in der Verdammung sozialdemokratischer Werte und Methoden gründeten. »Zum Vorteile der Kapitalisten, der Geistlichkeit, der Regierungen, der Ausbeuter aller Art, der Reaktionäre aller Gattungen und Farben« arbeitete der sozialdemokratische Kurs und er habe »[...] von den Zeiten Bakunins und der Jura-Föderation bis auf den heutigen Tag die Revolutionäre mit allen Mitteln bekämpft.«101 Die Sozialdemokratie liege falsch 95  |  Ebd., S. 6. 96  |  Wie ein Import aus 1881 wirkt die Passage, die die Propaganda der Tat als Kampfmittel lobte: »Wenn die Anarchisten schon vor Ausbruch einer allgemeinen Volkserhebung [...] Gewalttaten begehen, so haben sie dabei sowohl den unmittelbar damit erreichten Zweck (Züchtigung von Tyrannen, Sühne für erlittenes Unrecht etc.) als auch den daraus erwachsenden propagandistischen Erfolg im Auge. Sie vergessen daher auch nie darauf hinzuweisen, dass nur solche Unternehmungen in dieser Hinsicht ins Werk gesetzt werden sollten, welche voraussichtlich von den unterdrückten Klassen beifällig aufgenommen wird.« (Ebd., S. 6) Ob das in den 35 Jahren Propaganda der Tat, die dazwischen lagen, je der Fall war, kann nicht belegt werden. Angesichts der bescheidenen Größe der anarchistischen Bewegung bis zum Aufschwung des Anarcho-Syndikalismus in den 1900er, 1910er und 1920er Jahren, darf die Massenwirkung der Propaganda der Tat bezweifelt werden. 97  |  Ebd., S. 6-7. 98 | Da »Der Revolutionäre Geist« ursprünglich ein Brief war, muss gefragt werden, ob er überhaupt als Quelle für diese Arbeit angesehen werden kann. Im Unterschied zu den sonst untersuchten Zeitungs- resp. Zeitschriftenartikeln kann bei einem Brief eine breitere Leserschaft nicht angenommen werden. M.E. kann der Brief dennoch verwendet werden, da Kropotkin zumindest angenommen zu haben schien, dass mehr als nur der Adressat seinen Brief lesen würden, was im Aufruf-Charakter gewisser Passagen (»Proletarier! Lasst Euch niemals [...] blenden!«) ersichtlich ist. Vgl. Kropotkin, Peter. »Der Revolutionäre Geist«, Revolutionäre Bibliothek, 1905, Nr. 1, S. 8-14. 99  |  Ebd., S. 9. 100  |  Vgl. ebd., S. 8-9. 101  |  Vgl. ebd., S. 10.

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in der Annahme, »[...] dass die grosse soziale Revolution ganz von selber kommen werde, ohne gewaltsame Umwälzung, ohne vorhergehende Revolten, ohne blutige Kämpfe, ohne rebellischen Heldenmut – lediglich zufolge jener ›ehernen Gesetze‹, die sie entdeckt haben. Und trotz allem nennen sie sich Sozialisten!«102 . Die Herabwürdigungen der SozialdemokratInnen setzen sich fort, wenn der Autor ihre Identität als SozialistInnen zur Debatte stellt und sie in die Nähe der Bourgeoisie rückt: »Was haben sie denn für den Sozialismus getan? Sie haben ihn kastriert [...]. Alles Grosse, Schöne und Entflammende [...] ist in der bourgeoisen, kapitalistischen Athmospähre [sic] der Wahl-Kämpfe verloren gegangen. Und es musste verloren gehen, um in die Kreise der Bourgeoisie hineingelangen zu können«103. Die Sozialdemokratie habee die Eroberung des Sozialismus durch die politische Macht zu verantworten, womit sie letztlich ihre Ziele, nämlich »[...] den revolutionären Kampf gegen das Kapital und seinen Beschützer, den Staat«104 zu führen, verraten habe. Durch die umfassenden und emotionalisierend feindseligen Demarkationen wurde so die anarchistische Gemeinschaft zur revolutionären, antistaatlichen, antiparlamentaristischen und antisozialdemokratischen Gruppe verdichtet, die »durch direkten Kampf oder wenigstens durch die Drohung mit gewaltsamer Empörung«105 zum Ziel der Herrschaftslosigkeit komme. Die zweite Nummer der Revolutionären Bibliothek erschien mit dem Untertitel »Nieder mit den Anarchisten!« und lieferte 13 bewegungsinterne Selbstpositionierungen. Literarisch liegen verschiedene Genres vor: Gedichte und Manifeste ebenso wie Verteidigungsreden und konventionelle Artikel. Zusammengestellt wurden sie gemäß Einleitung in toto als Reaktion auf die Fremdwahrnehmung. Bereits in den nur elf Zeilen langen Einleitung ist einiges identitätsrelevantes Material anarcho-kommunistischen und anarcho-syndikalistischen Zuschnitts enthalten. Mit methodischen Hypergütern wie dem Massenkampf für Verbesserung der Lebenslage der Proletarier oder dem »stolzen, mutigen Einzelkampfe gegen verhasste Tyrannen und Henker des Volkes«106 umriss die anarchistische Gemeinschaft eine kollektive Identität, die konturiert und ergänzt wird durch die abermalige Distanzierung von der Sozialdemokratie, von »[...] den ›berufenen‹ und ›erwählten‹ Einschläferern [...]«107, wie es emotionalisiert und emotionalisierend hieß. Auch in den Artikeln der zweiten Ausgabe lassen sich mit anarchistischen Selbstwahrnehmungen und -verortungen Konstitutionskomponenten kollektiver Identität finden.108 Bei John Mosts Artikel zeigt sich eine ähnliche Konstruktion und Gestalt der kollektiven Identität. Zunächst distanzierte er sich mit Framing-Prozessen von der Fremdwahrnehmung von bürgerlicher und sozialdemokratischer Seite, um dann 102  |  Ebd., S. 10-11. 103  |  Ebd., S. 12. 104  |  Ebd., S. 12. 105  |  Ebd., S. 13. 106  |  »Nieder mit den Anarchisten!«, Revolutionäre Bibliothek, 1905, Nr. 2, S. 1. 107  |  Ebd., S. 1. 108  |  Wenngleich die Autoren gruppenfremd waren, kann durch den redaktionellen Akt der Auswahl der Titel zumindest ein großmehrheitliches Einverständnis der HerausgeberInnen mit den vertretenen Positionen angenommen werden, womit m.E. mit den angemessenen Vorbehalten sämtliche Beiträge als Quelle für die Gemeinschaft rund um die Revolutionäre Bibliothek verwertet werden können.

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positiv mit Hypergütern das Bild und die Absichten von AnarchistInnen zu vervollständigen. »In jeder Tasche eine Bombe, angefüllt mit Dynamit, den Mordstahl in der einen, die Brandfackel in der anderen Hand, so stellte sich ein Gegner des Anarchismus in der Regel einen Anarchisten vor [...] halb Narr, halb Verbrecher [...].«109 Im Gegenzug wurden die Grundelemente des Anarchismus in anarchistischem Verständnis aufgestellt: »Unser Prinzip ist: jede Herrschaft von Menschen über ihre Mitmenschen zu verhindern, den Staat, die Regierung, die Gesetze und jede Form von Zwang zu beseitigen und Freiheit für alle zu errichten.«110 In einem weiteren Beitrag formulierte Most weitere Hypergüter: »Alle Lebenszwecke des Menschen werden durch entsprechende Organisationen oder Gruppierungen erreicht. Dieselben sind nicht zentralisiert und nur so weit föderalistisch miteinander verbunden, als zur Erreichung der damit erstrebten Ziele unerlässlich ist. Ein Privateigentum an Land oder Kapital exisitert nicht mehr. Die Arbeitsmittel aller Art bedingen sich in den Händen der verschiedenen gewerkschaftlichen Organisationen. Wie die Handelsprellerei selbst, so ist auch deren Tausch- resp. Täuschmittel, das Geld, im heutigen Sinn abgeschafft worden. Kunst und Wissenschaft werden, gleich der Warenproduktion, durch Gruppierung der betreffenden leistungsfähigen Kräfte gepflegt. Das Erziehungs- und Bildungswesen erfreut sich der grössten Sorgfalt und ermöglicht es jedem, sich genugsam geistig zu entwickeln, um fähig zu sein, die Ergebnisse von Kunst und Wissenschaft zu geniessen. Das solchermassen sich stetig erweiternde Wissen aller Menschen hebt den Glauben auf und sichert die Unmöglichkeit alter oder neuer Religionen. Das vollkommenste Selbstbestimmungsrecht der Frau, die ja gleich dem Manne, wirklich frei geworden, liegt auf der Hand. An Stelle der Gesetzgeberei tritt die Entschliessung von Fall zu Fall. Niemand wird regiert; jeder ist Mitglied zahlreicher Korporationen, denen er sich nach freier Auswahl anschliesst; Keiner ist gezwungen, gegen seine Neigung zu handeln. Das ist Anarchie!«111

Auch andernorts katalysierte die Fremdwahrnehmung Framing-Prozesse und leitete die Nuancierung des kollektiven Selbst durch die Vermittlung von Hypergütern weiter ein. Im Artikel »Ein Anarchist über Anarchie« wurde zunächst konstatiert, dass »Anarchie nur ein anderer Name für Bosheit und Chaos ist [...]« für die »[...] grosse Masse von Gemeinplatzplapperern [...]«112 . Schließlich bemächtigte sich der Autor der Fremdwahrnehmung in satirischer Überhöhung, indem er sie mit in das anarchistische Selbstbild einband, das er mithilfe von Hypergütern konstruierte: »Wir ›fürchterlichen Anarchisten‹ kennen nur ein Mittel, um Frieden und Wohlgefallen herzustellen und dieses ist: die Unterdrückung des Privilegiums und die Anerkennung der Menschenrechte. Unser Ideal [...] ist das der brüderlichen Gleichheit [...] Wir sind dieser Ungleichheiten müde, wir wollen mit dieser Raserei die fortwährend die Menschheit in feindlichen Zusammenstoss bringt, [...] ein Ende machen [...] Nach so vielem Hassen sehnen wir uns nach Liebe und aus diesem Grunde sind wir Feinde des Privateigentums und Verächter der Gesetze.«113 109  |  Most, John, ohne Titel, Revolutionäre Bibliothek, 1905, Nr. 2, S. 2. 110  |  Ebd., S. 2. 111  |  Ebd., S. 4-5. 112 | Reclus, Elisée, »Ein Anarchist über Anarchie«, Revolutionäre Bibliothek, 1905, Nr. 2, S. 12. 113  |  Ebd., S. 13.

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Errico Malatestas Manifest »Unser Programm«114 vermittelte vornehmlich Hypergüter der Gemeinschaft. Darunter findet sich die Auf hebung des Privateigentums zur Verhinderung der Ausbeutung fremder Arbeit oder die Beseitigung aller Macht und deren Zwangsinstitutionen. An deren Stelle sollten freie Vereinigungen das gesellschaftliche Leben prägen, die nach dem Willen der Beteiligten gebildet und verändert werden könnten. Neue Punkte bei Malatesta waren Forderungen eines garantierten Lebensunterhaltes, der Erziehung und des Wohlergehens von Kindern und denjenigen Menschen, die nicht imstande seien, für ihr eigenes Wohl zu sorgen. Die Skizze der kollektiven Identität der repräsentierten Gemeinschaft wird zudem ergänzt durch die programmatische Erklärung vom »Krieg den Religionen und allen Lügen, mögen sie sich auch unter dem Mantel der Wissenschaft verbergen«115. Weiter sollte »für alle wissenschaftliche Bildung auf allen Gebieten«116 möglich sein, Patriotismus bekämpft und die Auf hebung aller Grenzen angestrebt werden. Schließlich wurde das Hypergut der freien Liebe, also der zwanglosen amourösen und familiären Assoziation betont, die »frei sein wird von allen gesetzlichen Fesseln, jedem ökonomischen oder physischen Zwang – von jedem religiösen Vorurteil. Das ist unser Ideal.« 117

4.2.4.2 Zusammenfassung Die nur zwei Nummern lang erschienene Revolutionäre Bibliothek enthielt ausschließlich Artikel und Beiträge identitätsrelevanten Charakters. Dementsprechend ergiebig ist die Suche nach Konstruktionskomponenten des kollektiven Selbst. Am produktivsten für die kollektive Identität war die häufig thematisierte Fremdwahrnehmung, die als Katalysator zuverlässig Framing-Prozesse evozierte und Selbstdarstellungen zur Folge hatte. In gleicher Dichte und in den meisten Fällen in Überlagerung wurden Hypergüter vermittelt. Die kollektive Identität wurde dabei überwiegend mit positiven Elementen konstruiert: Es wurden in der Regel mehr Zeilen auf die Vermittlung von positiven Hypergütern verwendet als für die Distanzierung von negativen. Daneben finden sich auch weitere Framing-Prozesse als Konstruktionskomponenten. In diesem Rahmen wurde das kollektive Selbst vorwiegend über die Abgrenzung hin zu Sozialdemokratie und parlamentaristischen Kräften generell inszeniert, geformt und gefestigt. Die Revolutionäre Bibliothek bot keine unikale, einheitliche kollektive Identität an. Die Artikel – zuweilen sogar vom selben Autor verfasst – propagierten im Grundton wohl ähnliche, in Detailfragen aber differierende Ideale und Methoden, die eine Verdichtung zu verschiedenen Subidentitäten verlangten. Trotz dieser Nuancierungen sind die repräsentierten und angebotenen kollektiven Identitäten als anarchistisch zu bezeichnen, nicht zuletzt durch das Zulassen der Ausgestaltung verschiedener Schulen. Global betrachtet gestaltete sich die Gemeinschaft als verwobene Mischung aus anarcho-kommunistischen und anarcho-syndikalistischen 114  |  Malatesta, Enrico, »Unser Programm: Wir wollen«, Revolutionäre Bibliothek, Nr. 2, S. 15-16. Die Revolutionäre Bibliothek verwendet anders als alle anderen Zeitungen, als Vornamen Malatestas ›Enrico‹. Im Lauftext wird deshalb kongruent mit der Sekundärliteratur ›Errico‹ verwendet. 115  |  Ebd., S. 16. 116  |  Ebd., S. 16. 117  |  Ebd., S. 16.

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Grundsätzen und Trennlinien zwischen Subidentitäten wurden aufgeweicht, da in den Texten gelegentlich beide einander durchflossen. Das mag im ersten Moment wie ein Widerspruch anmuten, da sich Anarcho-Kommunismus und Anarcho-Syndikalismus zunächst punkto Ausrichtung des revolutionären Substrats unterscheiden. Diese Anomalie kann aber auch als Transitionsmoment verstanden und damit als Paradigmenwechsel in der anarchistischen Gemeinschaft der Zeit gelesen werden. Tatsächlich erstarkte der Anarcho-Syndikalismus in der Deutschschweiz wenige Jahre nach der Jahrhundertwende, allerdings ohne dass die anarcho-kommunistischen Grundsätze der Strömungen der 1880er und 1890er Jahre im Sinne einer integren Lebensnarration des politischen Daseins der Bewegungsmitglieder vollends gekappt worden sein dürften. Dieses Schwanken zwischen den Positionen war persistent in der Revolutionären Bibliothek, was angesichts der kurzen Erscheinungsdauer aber kaum erstaunt. Sämtliche Artikel der Revolutionären Bibliothek hatten programmatischen Charakter, was dem Blatt eher den Charakter einer Zeitschrift verlieh. Tages- oder wochenaktuelle Einschlüsse gab es keine und die Frage nach einer blattimmanenten Häufung in Hinsicht auf ein anarchistisches Ereignis erübrigt sich. Dass überhaupt eine Zeitschrift erschien, die ausnahmslos Beiträge mit identitätskonstruierendem Charakter abdruckte, lässt dennoch aufhorchen. Gründe dürften in der stetig steigenden Repression gegenüber AnarchistInnen nach dem Zürcher Spitzelskandal 1904 und in der Weckruf-Untersuchung 1905 zu finden sein. Die Fokussierung der Revolutionären Bibliothek auf die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst und seiner Positionierung lässt auf ein gesteigertes Bedürfnis nach kollektiver Identität der anarchistischen Gemeinschaft schließen. Zweck und Aufgabe dieser Massierung an identitätsrelevantem Material dürfte gewesen sein, Bewegte inhaltlich zu binden und der Repression zum Trotz in der Bewegung zu halten. Die Revolutionäre Bibliothek bot, anders formuliert, ein nährstoffreiches Identitätsmahl an in der Absicht, den erhöhten gemeinschaftlichen Hunger nach kollektiver Identität zu decken, den die verstärkte staatliche Repression mit dem Fernziel der Zerschlagung der Bewegung verursachte.

4.2.4.3 Bibliografische Details (1) Revolutionäre Bibliothek; (2) Gruppe ›Weckruf‹; (3) Gruppe ›Weckruf‹, R. Scheidegger, Marthastrasse 101, 8003 Zürich; (4) Zürich; (5) vor September 1905118; 2 Nummern; 14-16 Seiten; (9) Schweizerisches Sozialarchiv Zürich; Signatur: D 4000 respektive Ar. 335/437-5 und Ar. 335/437-6. (10) Die Revolutionäre Bibliothek erschien im Broschürenformat. Die Angabe der Preise in Pfennigen und Hellern lässt darauf schließen, dass das Blatt auch in Deutschland und Österreich vertrieben und verkauft wurde. Auf der letzten Seite finden sich jeweils redaktionelle Empfehlungen anarchistischer Zeitungen in deutscher, russischer und jüdischer Sprache. Die beiden Ausgaben widmeten sich dem Anarchismus, schienen ansonsten aber keinem 118  |  Da beide Ausgaben von A. Schaufelberger gedruckt wurden, müssen sie vor September 1905 erschienen sein. Schaufelberger beendete seine Arbeit für Erzeugnisse der Gruppe ›Weckruf‹ im September nach der Weckruf-Untersuchung. Vgl. Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. Es scheint mir unwahrscheinlich, dass er auf der einen Seite den Druck des Weckrufs aufgrund erhöhter Repression einstellte und andererseits die nicht minder brisante Revolutionäre Bibliothek weiterhin druckte.

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übergeordneten Konzept zu folgen. Die Revolutionäre Bibliothek enthielt keine Rubriken.

4.2.5 Der Vorposten Abbildung 5: Der Vorposten, 11.1907, Jg. 2, Nr. 17. (SozArch Zürich, ZZ 30)

4.2.5.1 Relevante Er wähnungen Bereits in den ersten Nummern des Vorposten wurden in mehreren Artikeln identitätskonstituierende Komponenten verhandelt. So findet sich im Artikel »Bericht des Zentralkomitees«119 eine Idealvorstellung der Organisationsstruktur der Gemeinschaft, in »Internationale antimilitaristische Propaganda«120 wurde der internationalistische und revolutionäre Charakter des Antimilitarismus betont und seine Verknüpfung mit dem Sozialismus hervorgehoben. Damit wurden in beiden Artikeln Hypergüter vermittelt. Ebenfalls bereits in der ersten Nummer wurden klare Demarkationslinien zu sozialdemokratischen Positionen gezogen, deren Weltanschauung im Gegensatz zur gemeinschaftseigenen als reaktionär verurteilt

119  |  »Bericht des Zentralkomitees«, Der Vorposten, ohne Datum (vermutlich 1.4.1906), Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 120  |  »Internationale antimilitaristische Propaganda«, Der Vorposten, ohne Datum (vermutlich 1.4.1906), Jg. 1, Nr. 1, S. 4.

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wurde.121 Neben der Sozialdemokratie, die immer wieder hinhalten musste, um die eigene Identität zu formen und zu affirmieren, wurde der Kapitalismus mit Nachdruck zum Antipoden erklärt: »Wir haben nur einen Feind zu fürchten: das Kapital.«122 Auch bei der anarchoiden Gemeinschaft des Vorpostens wurde also mittels Framing-Prozessen Gemeinschaft definiert und gestärkt. Darüber hinaus finden sich auch positive Selbstpositionierungen über die Vermittlung von Hypergütern. »Wir wollen nicht mehr als ein Vorposten sein. Ein Vorposten der Armee der künftigen Revolutionäre.«123 Das ›Wir‹ positionierte die Schreibenden als werktätige, selbstermächtigte ProletarierInnen: »Arbeiter, die den ganzen Tag in der Werkstatt oder auf dem Feld oder im Bau [verbringen], schreiben diese Zeilen«124. Ihr Selbstverständnis hob sich aber gelegentlich auch vom Proletariat ab, wenn es hieß, die adressierten »Arbeitsbrüder und Arbeitsschwestern« müssten erst geweckt werden.125 Damit schrieb sich die zu Beginn anarchoide, schließlich anarchistische Gemeinschaft zur Vorhut, deren Aufgabe die Aufklärung sei: »Unser Blatt ist ein Keimling, eine Anregung.«126 Als weiteres positives Hypergut wurde an anderer Stelle die Selbstermächtigung vermittelt. Schon früh ließ die Gemeinschaft des Vorposten verlauten: »[...] nicht nur lesen. Jeder unserer Leser sei auch gleichzeitig unser Mitarbeiter. [...] Jeder sende an uns, was er in stillen Stunden aufs Papier gebracht. Und die Schmerzen von den anderen nachempfunden und weiter zu Gedanken ausgesponnen und zu revolutionären Handlungen gemacht, werden so fruchtbar werden, – ein Anstoss zur Umwandlung der heutigen Gesellschaft in eine frei-sozialistische.«127

Die gewünschte Partizipation und damit die Verankerung des Bewegungsmediums in der Bewegung ist in dieser Ausprägung ein Unikum der anarchistischen Presse der Schweiz in der Jahrhundertwende. Neben positiven waren auch negative Hypergüter im Vorposten konstituierend für die kollektive Identität. Vornehmlich traten sie in Artikeln zum Thema Nation oder Vaterland auf. In zahlreichen Artikeln wurde eine Demontage des nationalistisch aufgeladenen Vaterlandsbegriffs betrieben, von dem sich die Gemeinschaft negativ abgrenzte, um als konträres, 121 | Vgl. »Kleinbürgersozialismus u. Militär«, Der Vorposten, ohne Datum (vermutlich 1.4. 1906), Jg. 1, Nr. 1, S. 3. Der Artikel »Propaganda« schlägt in die gleiche Kerbe und wirft der Sozialdemokratie vor, ihre Prinzipien zu verheimlichen und » [...] nur von kleinen Reförmchen zu sprechen, um ja niemandem [sic] vor den Kopf zu stossen.« (»Propaganda«, Der Vorposten, ohne Datum (vermutlich 1.4.1906), Jg. 1, Nr. 1, S. 3. 122  |  W., »Vom Vaterland«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 123 | »Vorwort«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. 124  |  Ebd., S. 1. 125  |  Ebd., S. 1. 126 | »Vorwort«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. Dieses avantgardistische Selbstverständnis behielt der Vorposten bis zu seiner letzten Nummer im Dezember 1907 bei. Im Artikel »‚Vorposten‹ und ›Volksrecht‹« hieß es in Abgrenzung zur massenorientierten sozialdemokratischen Zeitung Volksrecht»Wir wollen gar nicht die Ideen der Mehrheit wiedergeben, sondern die der fortgeschrittenen Minderheit«, (»‚Vorposten‹ und ›Volksrecht‹«, Der Vorposten, 12.1907, Jg. 2, Nr. 18, S. 2). 127 | »Vorwort«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1.

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eigenes Prinzip den antinationalen Internationalismus als positives Gestaltungselement der kollektiven Identität anzubieten.128 Windschief dazu standen immer wieder auftretende Traditionalismen in Form nationalistischer Rekuperationen, die versuchten den Tell-Mythos zu instrumentalisieren und dem eigenen Wirken damit eine archetypische, ur-schweizerische Komponente einzuschreiben. Die traditionalistische Anbindung dürfte vornehmlich deshalb gewählt worden sein, um anarchistisches Gedankengut, das im gesamtgesellschaftlichen Diskurs als importiert und fremdartig empfunden wurde, näher an die lokale Kultur zu rücken. Gut zu beobachten ist das im Artikel »Patriotismus der Bourgeoisie«, der sich mit der Verschärfung von Streiks in der Schweiz beschäftigte: »Die Bourgeois-Presse spricht von Verwilderung. Aber diese Verwilderung bedeutet nichts anderes als die Entstehung einer neuen Tapferkeit [...] mindestens so würdig, als die der alten Schweizer.«129 Auch der Artikel »Entwicklung der Lohnkämpfe zum Bürgerkrieg« zog in traditionalistischer Manier die Schweiz des 13. Jahrhunderts heran, um die Zielgruppe zum bewaffneten, selbstorganisierten Kampf zu mobilisieren: »Als die Oestreicher [sic] die alten Schweizer quälten, was haben diese gemacht? Sie sind heimlich zusammen gekommen. [...] Sie haben gefunden, dass es kein anderes Mittel gäbe, als sich gewaltsam zu befreien. [...] Sie haben den Rest der Ausbeuter dann zum Teufel gejagt. Aber nicht dadurch, dass sie heftige Artikel in die Zeitungen schrieben, oder ihre gesetzlichen Rechte allein wirken liessen, sondern indem sie sich ihrer starken Arme bedienten. Der bewaffneten starken Arme.«130

In den Spalten des Vorposten wurden darüber hinaus immer wieder organisatorisch-methodische Aspekte des kollektiven Selbst thematisiert, und zwar in positiver wie negativer Weise. Anarchistische Ansätze sind etwa in der ausgeprägt antiautoritären Haltung erkennbar: »[W]ir [sind, d.V.] uns darin einig, dass unser eigener Verstand, unsere eigene Erfahrung uns die einzige Autorität sein soll.«131 Ebenfalls in eine anarchistische Kerbe schlug der Skeptizismus gegenüber parlamentarischen Wegen. In »Der Sozialist und das Militär« 132 wurde der Versuch, das Militär künftig per Gesetz von Einsätzen bei Streiks abzuhalten, wohl toleriert, aber als nutzlose Kosmetik abgetan: Eine solche Aktion »[...] ist doch keinen Blutzger133 wert«, denn »[...] das Gesetz haben ja doch wieder die Besitzenden in den Händen [...]. Wir meinen man soll das Zeug anders anpacken: Anstatt an einem Gesetz etwas ändern, in der Wirklichkeit eine kleine Änderung vornehmen.«134 128  |  Vgl. bspw. Schang., »Worte eines alten Kämpfers«, Der Vorposten, 6.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 3, W., »Vom Vaterland«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 2 oder F.K., »Vaterland«, Der Vorposten, 7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 3. 129  |  G., »Dies und Das: Patriotismus der Bourgeoisie«, Der Vorposten, 7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 130  |  »Entwicklung der Lohnkämpfe zum Bürgerkrieg«, Der Vorposten, 5.1907, Jg. 1, Nr. 12, S. 4. 131  |  »Die Anträge des Parteikomitees«, Der Vorposten, 1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 132  |  »Der Sozialist und das Militär«, Der Vorposten, 1906, Nr. 1, S. 2. 133  |  Dialekt für Kleingeld. 134  |  Ebd., S. 2.

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Dies deutet auf das Vertrauen in die Direkte Aktion, die vornehmlich mit aufklärerischer Propaganda begleitet geschehen sollte. Letztere wurde zuweilen stark missionarisch vorgetragen. Den ArbeiterInnen und BäuerInnen »[...] sollten wir die Wahrheit lehren, die ihre eigene Wahrheit ist und die sie deshalb auch leicht von uns annehmen werden.«135 Die Auf klärung blieb nicht auf die AntimilitaristInnen als Zielgruppe beschränkt. Im Artikel »Moralische Demonstration« wurde ermuntert, selbst die »Brüder im Waffenrock«136 aufzuklären, anstatt sie zu beschimpfen. Fast paradox im Verhältnis zur vermittelten Unikalität der Wahrheit mutet die selbstermächtigende Betonung der Tatsache an, dass sie als gestaltbar dargestellt wurde, indem die Leserschaft beständig zur Mitarbeit ermuntert wurde.137 Damit wurden Hypergüter vermittelt wie Universalismus, die Direkte Aktion als Methode oder eine partizipatorische Theoriegestaltung. Neben diesen sporadisch auftretenden Werten und Ideen tauchte die kollektivspezifische Weltund Sinndeutung in den Spalten des Vorposten sehr häufig auf. Verdichtet geschah dies in der immer wieder eingestreuten, synonym verwendeten Umschreibung der Armee als ›Hof hund des Kapitals‹. Zusammengefasst wurde damit die Denkfigur der Armee als Schutztruppe des kapitalistischen Status quo portiert, welche die Besitzenden als doppelte ProfiteurInnen und die Besitzlosen als doppelt benachteiligt verstand. Bereits in der ersten Nummer des Vorposten war diese Deutung zentrales Thema der Illustration im Kopf des Blattes, und sie trat in allen 18 Nummern immer wieder auf.138 Abbildung 6: Illustration der Kopfzeile, Der Vorposten, 1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. (SozArch Zürich, ZZ 30)

135  |  Ebd., S. 2. 136  |  Br, »Moralische Demonstration«, Der Vorposten, Jg. 1, Nr. 2, S. 4. 137  |  Vgl. stellvertretend »Vorwort«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. 138  |  Vgl. die Karikatur »Vaterland«, Der Vorposten, 1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1.

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Obschon die ›Antimilitaristische Liga‹ im Fokus der Politischen Polizei und der Politik stand, wurde im ersten Moment nach Bekanntwerden des gesetzgeberischen Vorhabens zu ihrer Unterbindung nur vergleichsweise knapp auf die direkte Verfolgung der offiziellen Schweiz eingegangen. Der 1906 abermalig erfolgte Versuch, antimilitaristische Propaganda zu verbieten139, war dem Vorposten in einem ersten Bericht140 nur knappe 13 Zeilen wert. Der Leitartikel »Was nun? (Gegen das Antimilitaristengesetz.)« in der Folgenummer vom Juli 1906 hingegen stärkt die These, dass einschlägige Ereignisse wie vermehrte Repressalien eine Verdichtung und Verstärkung kollektiver Identität zur Folge haben können.141 Nach einer kurzen Erwähnung des Gesetzes finden sich Hypergüter wie Sinn- und Deutungswelten, Methoden und Ziele ebenso im Artikel wie Framing-Prozesse und pointierte Selbstpositionierungen, die ihr Richtigkeitsempfinden aus der offiziellen Repression bezogen.142 Auch wenn die vermittelten Aspekte der kollektiven Identität im Vorposten von Beginn an anarchoide Positionen enthielt, ist zum Ende des Jahres 1906 eine Verstärkung anarchistischer Tendenzen festzustellen.143 Mit dem Artikel »An die Leser des ›Vorposten‹!« wurde der paradigmatische Shift explizit angesprochen.144 Der Vorposten sollte Raum bieten für »[...] den neuen Geist, der dem eingerissenen Schlendrian energisch zu Leibe rücken will und der das Proletariat aus dem Sumpf der papierernen Beschlüsse und end- und erfolglosen Resolutionen hinauszerren will, zur wirklichen Arbeit an der Umgestaltung der heutigen fluchwürdigen Zustände«145. In der Folge traten anarchistische und anarcho-syndikalistische Positionen in den Spalten des Vorposten deutlich häufiger und expliziter auf. So legte die Gemeinschaft beispielsweise die zu Beginn kritische Toleranz gegenüber dem sozialdemokratischen Weg ab und ging mit Framing-Prozessen zum offenen Angriff über. Besann man sich in der ersten Nummer immerhin noch auf 139  |  Gemäß Dubach misslang bereits 1901 resp. 1903 der Versuch ein Gesetz einzuführen, das antimilitaristische Zeitungen verboten hätte. Vgl. Dubach, Strizzis, S. 29. 140  |  Vgl. »Verbot d. antimilitaristischen Propaganda«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 3. 141  |  Andere Artikel im Vorposten zeigen, dass das nicht immer so war. So wurde in »Bertoni« die Verurteilung des Réveil-Redaktors mit den erweiterten Anarchisten-Gesetzen mit acht Zeilen eher abgespeist denn abgehandelt. Vgl. »Bertoni«, Der Vorposten, 12.1906, Jg. 1, Nr. 8, S. 4. 142  |  Da der ganze Artikel zitiert werden müsste, um diese Feststellungen zu illustrieren, muss an dieser Stelle ein Verweis genügen: »Was nun (Gegen das Antimilitaristengesetz)«, Der Vorposten, 7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. Wie akut die geschürte Missgunst gegenüber allem Anarchismusnahen war, illustriert die Kurzmeldung »Polizeistücklein«. Eine Frau beschuldigte bei der Polizei einen Mitarbeiter ihres Mannes, ihn politisch aufzuhetzen. Diese führte daraufhin anstandslos eine Hausdurchsuchung durch und verhörte die Vermieterin des Mannes, womit sie eine Stigmatisierung der Person sichtlich in Kauf nahm. Die Durchsuchung brachte zutage, dass der Verdächtigte Abonnent der sozialdemokratischen Zeitungen Volksrecht und Arbeiterstimme war. Vgl. »Polizeistücklein«, Der Vorposten, 7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 143  |  Die zuweilen orthodox marxistische Sprache in den Artikeln vermag nicht darüber hinwegtäuschen, dass grundlegende Überlegungen wie die konsquente Vermeidung von Autoritäten dem freiheitlichen Sozialismus deutlich näher stehen als dem autoritären. 144  |  Vgl. »An die Leser des ›Vorposten!‹«, Der Vorposten, 12.1906, Jg. 1, Nr. 8, S. 1. 145  |  Ebd., S. 1.

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gemeinsame Prinzipien und sprach von der »eigenen Partei«146, so klang es nun anders. In »International« wurden die eigenen, kollektiven Ideen kontrastierend zur Sozialdemokratie affirmiert. Deren Taktik sei es, »[...] die Klassengegensätze zu vermänteln, die Kraft des Angriffskampfes zu schwächen und revolutionäre Energie in lendenlahmen Revisionismus umzuwandeln«147. In einem anderen Artikel derselben Ausgabe wurden auch die Gewerkschaften angegriffen, deren Reglement zum Verhalten bei Konflikten mit Unternehmern verächtlich als »Abklatsch irgendeines heutigen regierungsrätlichen Erlasses«148 bezeichnet wurde. Die Vorwürfe an die Gewerkschaften wurden noch konkreter: »Alles, was man an den kapitalistischen, militärischen und allen anderen Institutionen der bestehenden Herrschaftsformen verdammt, ist hier [in den politischen Gewerkschaften, d.V.] wieder höchste Weisheit.«149 Diesen negativen Demarkationen wurden positive Ziele und Visionen gegenübergestellt, die in ihren Grundzügen als klar anarchistische Hypergüter einzuordnen sind. Der Autor hielt in klassisch anarchistischer Manier fest: »Die kommende Gesellschaft muss im Keime schon in uns liegen. [...] Was der neuen angestrebten Kultur feindlich ist, muss auch aus unseren Kampfesmitteln, unserer Taktik verschwinden [...]. Die Wahrung unserer politischen, wirtschaftlichen Unabhängigkeit, wie von allen Systemen, wird unsere vornehmste Aufgabe sein; unerbittlich unser Kampf gegen alle Polizisten und Pfaffen aller Grade, die uns kontrollieren, bevormunden, übervorteilen wollen. [...] Unser Ziel ist die Aufhebung der Vorrechte an Land und Werkzeugen und freie Bahn für unser Schaffen und Wollen. Unsere Mittel: Die Propaganda freier Ideen, Direkte Aktion, Antimilitarismus, die zur endlichen allgemeinen Expropriation führen.«150

Ebenfalls Anzeichen der veränderten Positionierung des Vorposten ist die Tatsache, dass nun auch expressis verbis positiv über anarchistische Bewegungen berichtet wurde. Damit wurden nicht mehr nur auf inhaltlicher, sondern auch auf nomenklatorischer Basis Anknüpfungen gesucht und angeboten.151 In einigen Artikeln des Vorposten bot auch die oftmals sozialdemokratische Fremdwahrnehmung Gelegenheit zur Selbstpositionierung. Im Beitrag »An die ›Arbeiterstimme‹«152 beklagte der Vorposten, falsch verstanden worden zu sein und so zu Unrecht von der sozialdemokratischen Arbeiterstimme als Feinde in den eigenen Reihen betitelt zu werden. Portiert wurden die sozialdemokratischen Vorwürfe mittels Artikulation von selbstermächtigenden Grundsätzen: »Wir, als Gruppe, verhalten uns zum Parlamentarismus neutral. Wir warnen die Arbeiter nur vor der Hochschätzung der Arbeit, die nicht durch sie selbst gemacht wird.«153 Es wurden 146 | Vgl. »Die Anträge des Parteikomitees«, Der Vorposten, ohne Datum (vermutlich 1.4.1906), Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 147 | -er., »International.«, Der Vorposten, 1.1907, Jg. 1, Nr. 9, S. 3. 148  |  F., »Wohin gehen wir?«, Der Vorposten, 1.1907, Jg. 1, Nr. 9, S. 2. 149  |  Ebd., S. 2. 150  |  Ebd., S. 3. 151 | Vgl. E., »Etwas über die tschechische anarchistische Bewegung«, Der Vorposten, 1.1907, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. 152  |  »An die ›Arbeiterstimme‹«, Der Vorposten, 1.1907, Jg. 1, Nr. 9, S. 2. 153  |  Ebd., S. 2.

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also erneut Hypergüter aufgeführt, die für die anarchistische Gemeinschaft zentral sind. Dazu gehört die Kritik an und das Misstrauen gegenüber Staat, Staats- und Volksvertretern, aber auch der Abstentionismus und das Vertrauen in die eigene Kraft, um zum Ziel der Unterdrückten, »[...] zur ökonomischen und geistigen Freiheit zu kommen«154. Den Vorwurf, Gewerkschaften abschaffen zu wollen, parierte der Vorposten mit einem anarcho-syndikalistisch geprägten Gegenentwurf, der von Selbstverantwortung der ArbeiterInnen ausgeht und dementsprechend die Kompetenzen der Zentralvorstände beschränken und die operative Macht den ArbeiterInnen selbst überlassen sollte.155 Im Zuge dieser Richtigstellungen aus Sicht der anarchistischen Gemeinschaft wurde auch Grundsätzliches angesprochen, zum Beispiel dass föderalistische Strukturen die zentralistischen ersetzen sollten und ferner, dass verordnete Wahrheiten in steter Kritik stehen sollten, womit der geradezu klassische Konflikt zwischen anarchistischen und dogmatisch-marxistischen Ansichten und Einschätzungen eine Renaissance erfuhr. Nicht ohne Spitze hieß es im Vorposten: »Wir meinen, es gibt nur einen Feind in den eigenen Reihen, und das sind nicht die Anarchisten und Halbanarchisten, sondern die fixe Idee, dass nur das alte und vielleicht für die Vergangenheit bewährte das Richtige sei. Wir entwickeln uns doch, nicht wahr? Der geistige Ueberbau ändert sich, auch nach Papa Marx, mit der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse.«156

Zum Schluss perpetuierte die Gemeinschaft die Fremdeinschätzung ihrer selbst als »Sekte«, deutete dies aber von einem Stigma zu einem tugendhaften Charakterzug um, indem sie sich als hart arbeitende Avantgarde darstellte.157 Neben sozialdemokratischen erfüllten auch bürgerliche Fremdwahrnehmungen katalytische Funktionen zur Positionierung und Affirmation des kollektiven Selbst. In einer zusammenfassenden Replik auf Artikel in bürgerlichen Medien hieß es etwa: »Wir werden [...] von den Patentpatrioten [den Bürgerlichen, d.V.] noch weit herzlicher und inniger gehasst, als die blutrünstigen Anarchisten der Schweiz, die übrigens unseres Wissens noch keine Fliege getötet haben.«158 Dass die inhaltlich deutlich anarchistisch geprägte Gemeinschaft sich nomenklatorisch so von AnarchistInnen distanzierte, erstaunt, zumal inhaltlich bereits deutliche Anbindungen zum Anarchismus bezüglich Hypergütern bestanden: »Wir müssen konstatieren, dass Antimilitarismus mit dem Maul viel leichter ist als derjenige der Tat. [...] Es wäre gut, die Einschläferungstheorie gewisser Soziologen zu verwerfen und einmal mit Gewalt zu antworten. Die Befreiung vom Kapitalistenjoche geschieht nicht auf dem Parlamentswege, sondern von der Besitzergreifung des sozialen Reichtums durch das Volk. Die Mittel dazu sind der Generalstreik, Direkte Aktion und Militärdienstverweigerung.«159 154  |  Ebd., S. 2. 155  |  »Die Beamten sollen administrative Arbeit haben, aber keine Kompetenzen.« (Ebd., S. 2). 156  |  Ebd., S. 2. 157  |  Ebd., S. 2. 158 | »Teure Heimat«, Der Vorposten, 2.1907, Jg. 1, Nr. 10, S. 4. 159 | F.K., »Einrücken?«, Der Vorposten, 11.1906, Jg. 1, Nr. 7, S. 4.

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Die dennoch erfolgte Distanzierung von Anarchie-Begriffen illustriert die äußerst pejorative Färbung, die Anarchie-Begriffe auch zum Zeitpunkt der Distanzierung zu eigen war. Die Bemerkung, dass noch keiner Fliege von AnarchistInnen etwas getan worden sei, ist objektiv gesehen falsch, lässt aber auch darauf schließen, dass das tödliche Attentat auf Kaiserin Elisabeth in Genf nicht als anarchistische Tat angesehen wurde. Die Intention der semantischen Differenzierung dürfte als Öffnung gegen links zu verstehen sein. Ein weiterer Beitrag, der identitätskonstituierende Komponenten an Fremdwahrnehmungen bürgerlicher und sozialdemokratischer Provenienz aufhängt, ist »Unsere Perspektive«: »[S]o brauchen wir nur irgend eine Zeitung oder Käsblättchen zur Hand zu nehmen und wir finden die schönsten Glossen und die niedersten Gehässigkeiten, mit denen gegen den Antimilitarismus ›argumentiert‹ wird. Alle Nüancen [sic] der politischen Anschauungen werden natürlich bei Behandlung dieses Gegenstandes verwischt und es herrscht die grösste Einmütigkeit, diesen Hetzer und Wühler loszuwerden. Besonders hervorragend zeichnet sich hierbei der ›Grütlianer‹, das Zentralorgan der ›Fortschrittspartei‹ (!!!) aus. Dieser kann nicht genug erklären, dass er der grösste Feind des Antimilitarismus sei!«160

Boten die ersten beiden Drittel Raum zur Empörung für Framing-Prozesse, birgt das letzte Drittel des Artikels vor allem gemeinschaftliche Hypergüter der de facto anarchistischen Gemeinschaft. »Bei uns herrscht keinerlei Zwang [...] wir wollen die Arbeiter aufklären [...] Wir wollen ihnen auch sagen, was heute unter dem Begriff Vaterland zu verstehen ist. Ob unser Feind dies- oder jenseits der künstlich gezogenen Grenzen sich befindet, und ob es nicht ganz gleichgültig ist, ob unsere Arbeitskraft von schweizerischen, deutschen oder französischen Kapitalisten ausgebeutet wird.«161

Der Gemeinschaft wurden damit in Replik Werte der Autoritätsfreiheit, der Betonung der unabhängigen Bildung, antinationalistischer Internationalismus und Antikapitalismus eingeschrieben. Neben der Fremdwahrnehmung war im Vorposten auch die Repression als wichtiger Katalysator der Identitätskonstitution aktiv. Staatliche Zugriffe wurden dabei nicht als abwertende Devianzmarkierungen interpretiert, sondern zu Zugeständnissen der angegriffenen Staatsmacht umgedeutet, dass die AngreiferInnen auf dem richtigen Weg seien162:

160  |  F.K., »Unsere Perspektive«, Der Vorposten, 12.1906, Jg. 1, Nr. 8, S. 1. 161  |  F.K., »Unsere Perspektive«, Der Vorposten, 12.1906, Jg. 1, Nr. 8, S. 2. 162  |  Vgl. dazu eine Passage aus dem Artikel »International«: »Interessierte Kreise jammern in ergreifenden Molltönen und möchten uns gern einen Strick daraus drehen, das Vorgehen der Radikalen habe die Reaktion gerufen. [...] wir freuen uns darüber, weil das Wüten der Bourgeoisie uns beweist, dass wir sie an einigen empfindlichen Stellen getroffen haben.« (er., »International«, Der Vorposten, 1.1907, Jg. 1, Nr. 9, S. 3).

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Wir aber werden unsere Propaganda unter den Soldaten noch energischer weitermachen, indem wir nur zu gut wissen, dass man uns von seiten der Herrschenden nichts tun kann, und dass kein Zuchthaus gross genug und kein Tor zu demselben breit genug ist, um uns Antimilitaristen alle aufzunehmen. Wir werden nie feig, weil wir es wissen, dass es die antimilitaristische Propaganda ist, welche die Arbeiterschaft zum Siege führen wird. [...] Kein Verbot, keine Regierung, keine Rede, kein Minister oder Bundespräsident wird uns daran hindern, welche Propaganda wir auch immer machen wollen.«163

Am häufigsten sind diese Umdeutungen in der Form von Sentenzen oder kurzen Gedichten zu finden. Gerafft beispielsweise in »Einige Gebote für Arbeiter«: »Dem Feigen lähmt Widerstand die Kraft, dem Mutigen verzehnfacht sie sie«, hieß es, oder »Bist du auch noch so dumm und schlecht / das hat gar nichts zu sagen / denn wenn du imponieren willst / brauchst bloss ’ne Uniform zu tragen. / Bist du jedoch ein freier Geist / machst Luft deinen Gefühlen / hat so ein Lump auch noch das Recht / das Haus dir zu durch wühlen.«164 Nicht nur der Staat versuchte die Gemeinschaft an der Verbreitung ihres Gedankenguts zu hindern. Auch die ihrerseits oft angegriffene Sozialdemokratie tat das ihrige im Rahmen ihrer Möglichkeiten, um die ihr gefährlich scheinende Richtung auszubremsen.165 Relevante Tagesaktualitäten erfuhren im Vorposten keine einheitliche Behandlung. Wohl finden sich ereignisgebundene Artikel, aber sie verfügen über jeweils unterschiedliche Dichte an identitätskonstituierenden Elementen, sodass eine verbindliche Einordnung nicht möglich ist.166

4.2.5.2 Zusammenfassung Der Vorposten konstituierte und konstruierte die kollektive Identität seiner Gemeinschaft auf unterschiedliche Weise. Vermittelte Hypergüter, also Zielsetzungen, gewählte Methoden oder auch utopische Entwürfe einer zukünftigen Gesellschaft fanden in seinen Spalten viel Platz. Überaus häufig waren auch Framing-Prozesse produktiv, sodass in der Abgrenzung eine Hauptkomponente der Konstruktion kollektiver Identität des Vorposten erblickt werden kann. Besonders die Demarkation zur Sozialdemokratie nahm viel Raum ein, in diachroner Perspektive mit wachsender Frequenz und Intensität. Katalysatoren für Identitätskonstitutionen finden sich mehrere im Vorposten. Obschon er eine Monatszeitung war, lassen sich neben Fremdwahrnehmungen auch aktuelle Ereignisse finden, die der Redaktion Anlass boten, Elemente ihrer kollektiven Identität an ihnen aufzuhängen und zu reformulieren. Staatliche Maßnahmen dienten ebenfalls wiederholt als Katalysatoren. 163  |  »Hilfe Armee! Weg mit der Armee!«, Der Vorposten, 5.1907, Jg. 1, Nr. 12, S. 2.a. 164  |  »Einige Gebote für Arbeiter«, Der Vorposten, 11.1906, Jg. 1, Nr. 7, S. 4. 165  |  Sie erließ u.a. Kolportageverbote rund um Parteitage (vgl. Die freien Arbeiter St. Gallens, »Wir agitieren doch«, Der Vorposten, 5.1907, Jg. 1, Nr. 12, S. 2). Hermann Greulich versuchte unermüdlich Resolutionen durchzuboxen, die den Antimilitarismus semantisch dem Anarchismus gleichstellten. Dies wohl in der Absicht, ihn so zu diskreditieren. Vgl. »Das Ketzergericht«, Der Vorposten, Jg. 2, Nr. 14, S. 2. 166  |  Zuweilen liegen sogar zum selben Ereignis unterschiedlich dichte Artikel vor. Vgl. stellvertretend die Artikel »Verbot d. antimilitaristischen Propaganda«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 3 und »Was nun? (Gegen das Antimilitaristengesetz)«, Der Vorposten, 7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1.

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Häufig finden sich auch aus sich selbst entwickelte Positionierungen der eigenen Gemeinschaft. Einzigartig im Quellenkorpus ist die Selbstkritik als Impetus, Gemeinschaft, Werte und Ideen zu stärken oder zu reformulieren. Als weitere konstitutive Komponente tritt auch die schon erwähnte traditionalistische nationalistische Rekuperation im Rahmen von Anknüpfungen an den Tell-Mythos auf, die den Versuch illustrieren, den eigenen Kampf als archetypisch schweizerischen Kampf darzustellen. Sie stehen damit in direkter Kontradiktion zum andernorts als negatives Hypergut vermittelten Nationalismus. Neben singulären Identitätskonstruktions- und konstitutionsmechanismen sind auch Verschränkungen festzustellen, bei denen Hypergüter, fremdwahrnehmungskatalysierte Selbstpositionierung und Framing-Prozesse kombiniert wurden. Grundsätzlich kann die Gemeinschaft, als deren Sprachrohr und Konstituens der Vorposten sich erweist, als anarchistisch bezeichnet werden, wenngleich dahingehende Selbstbezeichnungen ausblieben. Nach den vermittelten Inhalten, Demarkationen und Sinn- und Deutungswelten beurteilt, drängt sich eine solche Einordnung auf. Angestrebt und angepriesen wurde eine durchwegs antiautoritäre, freie und selbstverwaltete Gesellschaft, als bevorzugtes Werkzeug wurde Aufklärung und Bildung empfohlen, als Schlüssel zum Erfolg wurde die Selbstermächtigung der Unterdrückten erkannt. Eine Kooperation im herrschenden System wurde grundsätzlich abgelehnt und vereinzelt sind abstentionistische Zwischentöne auszumachen, die sich allerdings eher aus der Gleichgültigkeit nährten als dem aktiven Bekämpfen von Wahlen. Die Selbstverortung der Gemeinschaft ist widersprüchlich wenn nicht sogar – wenn sie im gleichen Artikel auftrat – widersinnig. Einerseits inszenierten sie sich als Avantgarde, die ArbeiterInnen aufklären, andererseits aber auch als genau die einfachen ArbeiterInnen, die sie aufzuklären gedenken.167 In ihren Zielen und Wegen hingegen war die Gemeinschaft sich im offiziellen Organ der ›Antimilitaristischen Liga‹ einig und Grabenkämpfe sind nicht auszumachen. Auch wenn der Vorposten Debatten Platz einräumte, so ist eine gemeinsame kollektive Identität eruierbar. Dass diese wandelbar war und sich in toto verschieben konnte, zeigt sich in einem paradigmatischem Shift Ende 1906. Ab diesem Zeitpunkt nahm der zu Beginn fast monothematisch antimilitaristische Vorposten immer häufiger und deutlicher einen anarchistischen, zuweilen anarcho-syndikalistische angehauchten Standpunkt ein. Im zweiten Jahrgang 1907 wurde die Militarismus-Thematik zunehmend als Teilproblem des kapitalistischen Systems behandelt, dessen Beseitigung als eigentliches Ziel installiert wurde. Eine ereignisabhängige Häufung identitätskonstituierender Artikel ist im Vorposten nicht eindeutig auszumachen. Zwar sind ausufernde Artikel zur Repression, zur kantonalen Ausweisung des Anarchisten Luigi Bertoni und den misslungenen Anstrengungen des Bundes, den Antimilitarismus und seine Presse zu kriminalisieren, durchaus zu finden. Andererseits lieferten die gleichen Zusammenhänge in anderen Nummern manchmal auch nur bissig-zynische Kommentare von wenigen Zeilen Länge, die interpretatorisch lediglich als Zeichen totaler Distanzierung

167  |  In extremis tritt diese Widersprüchlichkeit auf, wenn zuerst von ArbeiterInnen, die in der Dummheit steckten, geschrieben wird, um sich eine Spalte später in dieser Gruppe einzureihen und aus ihr Teile der eigenen Identität zu beziehen. Vgl. F.K., »In Kampf«, Der Vorposten, 9.1907, Jg. 2, Nr. 15, S. 2.

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gelesen werden können. Dass anarchistische Ereignisse die Identitätsproduktion massiv befeuerten, hat damit für den Vorposten nur bedingt Gültigkeit.

4.2.5.3 Bibliografische Details (1) Der Vorposten: Organ der Antimilitaristischen Liga Zürich168; (2) Antimilitaristische Liga Zürich; (3) Redaktion der Antimilitaristischen Liga Zürich ZürichWiedikon; ab 10.1907, Jg. 2, Nr. 16: Postfach 11115, Hauptpost Zürich; einmalig ausgewiesen als Redaktor ist Jacques Schmid169; (4) Zürich; (5) Frühjahr 1906-12.1907, monatlich; 4 Seiten; erste Nummer: ohne Datumsangabe 1906; letzte Nummer 12.1907; (9) Schweizerisches Sozialarchiv Zürich, ZZ30; (10) Das Organ der ›Antimilitaristischen Liga‹ erschien gemäß eigenen Angaben in einer Auflage von 2000-3000 Stück170, die Juninummer von 1907 erschien in zweiter Auflage.171 Den Druck des Vorposten besorgte die Buchdruckerei F. Hinnen in Zürich-Aussersihl. Es gibt nebst bald aktuellen, bald grundsätzlichen thematischen Artikeln auch Zweitabgedrucktes aus anderen anarchistischen Zeitungen. Als Rubriken führte der Vorposten »Feuilleton«,unregelmäßig »Dies und Das« als Gefäß für alltägliche Nachrichten aus Arbeitskämpfen in der Schweiz und im Ausland sowie »Antimilitaristische Chronik« für Kurzmeldungen die Bewegung betreffend, schließlich den »Briefkasten« für Leserbriefe und redaktionelle Antwortschreiben an die Leserschaft. Zwischen den Artikeln finden sich zudem immer wieder Sprüche, die in poetischer, zuweilen auch grobschlächtiger Weise kondensieren, was in den Artikeln inhaltlich vermittelt wurde. Obschon mit dem gescheiterten sogenannten Maulkrattengesetz 1906 versucht wurde, antimilitaristische Propaganda zu unterbinden, erschien der Vorposten immer legal. Einzig im deutschen Ludwigshafen wurde Nr. 15 vom September 1907 konfisziert.172

168  |  Die ›Antimilitaristische Liga‹ wurde im Oktober 1905 gegründet und zählte an ihrem ersten Kongress rund 500 Mitglieder. Sektionen im Tessin (zusammen 550 Mitglieder) und der Westschweiz (o.A.) sowie in Baden (50 Mitglieder) verliehen der Liga einen nationalen Charakter. Sie rekrutierte und konsolidierte AktivistInnen vom linken Flügel der Sozialdemokratie, aber auch weiter links stehender Einzelpersonen und Regionalparteien. 169  |  Angabe gemäß Artikel »Eine Tat«, Der Vorposten, 3.1907, Jg. 1, Nr. 11, S. 1. 170  |  »Antimilitaristische Chronik: Inland«‚ Der Vorposten, 1.1907, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. 171 | Der Vorposten, 6.1907, Jg. 2, Nr. 13. 172  |  Gemäß »Antimilitaristische Chronik: Konfisziert«, Der Vorposten, 10.1907, Jg. 2, Nr. 16, S. 4.

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4.2.6 Polis Abbildung 7: Polis, 1.12.1906, Jg. 1, Nr. 1. (SozArch Zürich, D 4249)

4.2.6.1 Relevante Er wähnungen In beinahe jeder Nummer der Polis werden Aspekte der Anarchismusgeschichte verhandelt und konstitutive Komponenten greifbar.173 Ein Beispiel für die vergleichsweise subtile Identitätskonstruktion der Polis ist die Art der Präsentation ihrer Hypergüter. In »Der höhere Mensch«174 schilderte der Autor Rudolf Willy seine Vorstellung eines besseren Menschen indirekt, indem er dessen Werte als Ideale und Aspiration für die LeserInnen installierte. Klassisch anarchistisch gehörten dazu eine universalistische Ausrichtung, Selbstermächtigung sowie eine Abneigung gegenüber Autoritäten und (Aber )Glauben: »Höhere Menschen gibt es überall; in allen Berufsarten –: bei Männern und Frauen; bei den Elenden und bei den Glücklichen. [...] Der höhere Mensch ist

173  |  Allein in der ersten Nummer sind mehrere dahingehende Artikel zu finden. Vgl. stellvertretend Dr. Wintsch, »La Ruche«, Polis, 12.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 11-13. Zumindest in antikapitalistischer Hinsicht sind in der Polis auch deutlichere Worte zu hören: »Wir leben in der festen Ueberzeugung, dass diese Treibjagd auf schlichte, innige seelische Lebensfreuden und Leistungen [der stets zu optimierenden Rendite, d.V.] unsere Kultur vernichtet und freuen uns, dass Anzeichen eines mächtigen Vetos, das um die ganze Welt dringt, wahrnehmbar werden. Wem wir uns anschliessen wollen, ist diese Wahl noch schwer?« (Widmer, Dr. Johannes, »Nachwort«, Polis, 12.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 16, Herv. i.O.). 174  |  Willy, Rudolf, »Der höhere Mensch«, Polis, 12.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1-2.

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ein Schöpfer und Empörer. Er ist gegen die Furcht.«175 Dazu kommt die widersprüchlich anmutende Vorstellung der Überlegenheit des anarchistischen Selbst trotz stetig rückversicherter Verankerung in der Bevölkerung: »[Der höhere Mensch] ist kein überirdisches Wesen [...] er steigt aus dem Schoss der übrigen Menschheit empor [...]. Aber dennoch ist der bessere Mensch ein höheres Wesen!«176. Die Vorstellung einer avantgardistischen Bewegung weniger Erleuchteter mit der Aufgabe, andere zu erwecken, tritt in der Polis immer wieder auf. Auch negative Hypergüter wurden indirekt über den ›höheren Menschen‹ vermittelt. Im herrschenden System werde er durch die stets wirkenden Kräfte von Isolation und Utilitarismus an seiner Entfaltung gehindert.177 Gegen Ende des Artikels nehmen die negativen Hypergüter zu: »Sollen wir etwa auf wirtschaftliche Reformen unsere einzige Hoffnung setzen? Ich glaube nicht. [...] Wir müssen früh selbständig werden. Das viel zu viel Gute, womit Schule, Kirche und die Erziehung überhaupt uns einmachen, und begraben, taugt für uns nicht.«178 Reformistische Ansätze wurden zugunsten einer Selbstermächtigung abgelehnt, schnelle Erfolge zugunsten von kollektiven Lösungen hintangestellt: »Wir sind jene Soldaten, die keinen Sold verlangen und keinen nahen Sieg erwarten. Ob Sieg oder Niederlage dürfen wir gar nicht fragen. Wir müssen das bessere in uns durchsetzen –: ob mit oder ohne sichtbaren Erfolg in der jeweiligen Generation bleibt Nebensache.«179 In einem anderen Artikel fanden identitätskonstituierende Elemente in der Umdeutung marxistischer Vorwürfe ihr Wirkungsfeld. Im »Offenen Brief eines Kleinbürgers« bezeichnete sich der Autor als »Outcast«180 der renditefixierten Gesellschaft und schuf darauf auf bauend eine kollektive Identität von und für Gleichgesinnte: »Wir sind ausgezogen aus der bürgerlichen Gesellschaft, weil sie die Seele an den Mammon vertauscht. Weil sie alles dem Gelderwerb unterordnete, weil sie keinen anderen Inhalt mehr kannte, als den Gewinn. Das konnten wir nicht ertragen. Wir wollten das Leben geniessen, und das hat uns die bürgerliche Gesellschaft, die Kaufleute und die Künstler und die Wissenschafter, alle mit einander [sic], nicht gestattet. Da rissen wir uns los.«181

175  |  Ebd., S. 1. 176  |  Ebd., S. 1. 177  |  Ebd., S. 2. Diese rousseau’sch anmutende Vorstellung des edlen Wilden, der durch die bürgerliche Kultur um sein eigentliches Wesen gebracht werde, geht von einem archetypisch guten, vordefinierten Menschen aus. Diese Einschätzung findet sich in der Polis in unzähligen Artikeln wieder, etwa wenn vom ›Urmenschlichen‹, dem ›Kategorischen im Menschen‹ oder dem ›Ewigmenschlichen‹ die Rede ist. Seit den späten 1990er Jahren erlebte die Vorstellung des edlen Wilden als Basis anarchistischer Kritik eine Renaissance in anarchoprimitivistischen, antizivilisatorischen Kreisen. Vgl. dazu Kap. 3.1.2 Kurze Geschichte des Anarchismus. 178  |  Ebd., S. 2. 179  |  Ebd., S. 2. 180  |  Brupbacher, Fritz, »Offener Brief eines Kleinbürgers. «, Polis, 1.12.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 3. 181  |  Ebd., S. 3.

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Die Gemeinschaft unterschied sich dabei zunächst in Wünschen und Bedürfnissen von den ArbeiterInnen: »Da erfasst uns der Wunsch, die Armut auszuroden, durch Erheben der Armen aus ihrem Elende sie zu Vollmenschen zu machen. [...] Wir [...] bestrebten uns (nach unserer Meinung) eifrig um die Hebung der Klassenlage, der Arbeiter, als ob wir selber Arbeiter gewesen wären. [...] Wir wollten eigentlich heute schon unsere Seele leben; jene aber strebten nach einer Lebensbedingung der Seele; sie wollten Brot und dann Freiheit, wir hatten Brot und wollten nur Freiheit.«182

Das so ab- und eingegrenzte ›Wir‹ trug eine klar anarcho-syndikalistische Linie. In der gegenseitigen Hilfe wurde das oberste Prinzip der Kooperation gesehen, und Syndikate stellen die monadenhaften, im föderativen Austausch stehenden Zellen der neuen, befreiten Gesellschaft dar: »Sie [gemeint ist die Redaktion der Polis, d.V.] wollen, dass wir eine Polis, eine Gemeinschaft mit Jemandem haben. Und uns scheint, dass die ökonomische Basis dieser Gemeinschaft beim organisierten Lohnarbeiter sei. Seine Seele ist nicht korrumpiert durch den Erwerbsund Eigentumssinn. Wenigstens nicht hoffnungslos, und dazu ist er durch die gegenseitige Hülfe in der Organisation schon ein tüchtiger Ansatz zum ächten Menschen. Nun, das ist für uns der Keim unserer Polis geworden und diese Anlagen des Arbeiters zum Ewigmenschlichen wurden unsere Hoffnung.«183

Mit der Gemeinschaft anarcho-syndikalistisch organisierter ArbeiterInnen verbündete sich dann das in sich ebenfalls eine Gemeinschaft darstellende ›Wir‹ der intellektuellen »Kleinbürgerkinder« in Zukunft wieder. Aspiration stellte eine anarchistisch geprägte Gemeinschaft dar, die sich aktiv gegen autoritär sozialistische Dogmen stemmen würde und die aktiv und passiv, also schreibend und lesend, das ›Wir‹ der Polis prägen sollte.184 Eine dergestalte distanzierende Demarkation der Gemeinschaft vom Proletariat der Gegenwart und das dadurch eintretende Umreißen des eigenen kollektiven Selbst als fortschrittliche Intellektuelle findet sich immer wieder in den Spalten der Polis. So im Artikel »Die Freiheit und die Berge«185, wo die Gemeinschaft vom Proletariat abgegrenzt und als intellektuelle Hilfestellerin positioniert wurde, die den ArbeiterInnen lediglich Appetit auf umfassende Freiheit machen könne, anstatt ihnen die Arbeitszeit zu verkürzen oder auf gewerkschaftlichem oder parlamentarischem Weg bezahlte Ferien zu erstreiten. Durch die Vermittlung politisch-parlamentarischer Arbeit als negatives Hypergut unterstrich die Polis die antiparlamentaristische Ausrichtung der kollektiven Identität ihrer Gemeinschaft. Damit deutete sie auch einen Framing-Prozess gegenüber jenen Gruppen an, die sich dieser Wege und Methoden annahmen. Dies, wiederum auf subtile Weise, wenn die Gemeinschaft den auf politischem Weg erstrittenen 182  |  Ebd., S. 3. 183  |  Ebd., S. 4. (Herv. i.O.). 184  |  Vgl. dazu die z.T. verklausulierten Spitzen des Autors Brupbacher, etwa gegen die Taktikfixierung der autoritären SozialistInnen, »die auf Kosten des Charakters den Magen befriedigt« (ebd., S. 3. [Herv. i.O.]). 185  |  Züricher, U.W., »Die Freiheit und die Berge«, Polis, 1.8.1907, Jg. 1, Nr. 9, S. 133-137.

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realen Verbesserungen den Charakter eines Hindernisses auf dem Weg zur wirklichen Befreiung zuschrieb: »Und ich glaube auch, dass man nicht dadurch Freiheit fördert, wenn man sich selber Sklavenketten anhängt, sondern indem man seine eigenen zerreisst und in vollen Zügen die Freiheit [...] geniesst und aus ihnen Kraft schöpft zu einem Werke.«186 Neben dieser (totalen) Freiheit wurden auch andere positive Hypergüter vermittelt und perpetuiert. »Ein freies Volk würde heissen, ein Volk, in dem jeder Einzelne auf eignen Füssen steht, selber fühlt, denkt, handelt und nicht Törichtes und Niedriges sich von andern aufdrängen lässt, ein Volk, in dem jeder Einzelne beständig wachsam, tätig, unabhängig und freundschaftlich unter den Andern steht.«187 Des Weiteren wurden als Schlüsselwerte Eigenverantwortung und Selbstständigkeit betont und abermals die Wichtigkeit der Absenz von Dogmen und Starrheit.188 Diese Inhalte wurden in der Polis durchaus auch in Verbindung mit Anarchie-Begriffen thematisiert: »Wenn wir die wirkliche Menschheitsentwicklung vertreten, so müssen wir die vollständige Gleichberechtigung jedes Menschen erstreben [...] Der Inhalt des Anarchismus ist: so zu leben, so sich auszuprägen, seine Persönlichkeit so in Beziehung zu allem zu setzen, wie man ist, vollständig, frei und losgelöst von allem Zwang, der von aussen an uns herantritt, losgelöst von Vergangenheit und Zukunft [...].«189

Im Laufe des Erscheinens der Polis blieb die Selbstverortung der Gemeinschaft und damit ihre kollektive Identität kritisch und differenziert. Dabei sind Häufungen auszumachen. Neben der bereits erwähnten Selbstpositionierung als intellektuelle Kleinbürgerkinder, die ihrer Klasse den Rücken gekehrt hätten, war eine Positionierung als unbeirrte, alles in Kauf nehmende WegbereiterInnen prädominant. Im Artikel »Der Auszug aus Egypten«190 etwa greift Autor Z. dazu auf biblisches Vokabular und ebensolche Gleichnisse zurück. Die Gemeinschaft skizziert er als müde Sklaven, die sich im Auszug aus dem »Reiche der Erwerbsmoral« befänden: »[W]ir zitterten nach einem guten und weiten Lande, wo die Reden wie Milch und Honig von aufrichtigen milden Lippen fliessen möchten.«191 Als Aspiration blitzt hier ein durchwegs chiliastisches Hypergut durch: die Vorstellung eines tausendjährigen Reichs. Zum Ende des Artikels findet sich gar eine Selbstwahrnehmung als Märtyrer, die sich – in einer buntgemischten Gruppe – für ihre Ziele aufopfern: »Und wenn wir auch in der Wüste verenden und selbst nie das Land der Verheissung betreten sollten, so hoffen wir doch, dass unser Gemeinsamkeitsgefühl bis dahin so erstarkt sein wird, dass ein froher Menschheitsglaube uns über das bange Stündlein hinweghilft. Wir 186  |  Ebd., S. 136-137. 187  |  Ebd., S. 136. 188  |  Ebd., S. 135. 189  |  Dr. Friedeberg, »Historischer Materialismus und Klassenkampf: Nach einem Vortrage«, Polis, 1.4.1907, Jg. 1, Nr. 5, S. 75. Der Artikel ist im Wesentlichen der Demontage des Marxismus gewidmet, da dieser gemäß Friedeberg den psychischen Aspekt der Menschheitsentwicklung durch seine Konzentration auf die ökonomischen Bedingungen verschließe. Vgl. ebd., S. 71-75. 190  |  Z., »Der Auszug aus Egypten«, Polis, 1.3.1907, Jg. 1, Nr. 4, S. 65-66. 191  |  Ebd., S. 65.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse haben den Kanaan dann wenigstens von ferne geschaut. Heute aber sind wir noch munter und wünschen allen Freunden der Wüste, allen Sonnensuchenden, allen Lichthungrigen, den Denkern in den engen Dachstuben, den Händebrauchenden in den dröhnenden Werkstätten und auf den kalten Strassen, den Künstlern und Menschenfischern, den wachenden Müttern, die starke Seelen erziehen wollen, allen Vorposten und allen Vorkämpferinnen der Menschheit frohe Zeiten, welche die Sehnsucht ihrer lebendigsten Stunden ausreifen helfen.«192

Die gewählte biblische Metaphorik ist nicht als ironischer Seitenhieb zu verstehen. Vielmehr stellte sie einen Versuch dar, durch religiöse Rekuperation Traditionalität und/oder Verständnis für die Gemeinschaft zu schaffen, die allgemein bekannte Geschichten und kanonisierte Werte bemühte, um die eigenen Wünsche als bereits jahrtausendealt darzustellen. Ein solches, taktisches Vorgehen einer universalistischen Gruppe ist durchaus denkbar, auch wenn zahlreiche andere Polis-Artikel starre, autoritär verordnete Denkmuster wie diejenigen organisierter Kirchen torpedierten und an anderer Stelle als negative Hypergüter vermittelten.193 Mit demselben taktischen Kalkül geschah die Positionierung der Gemeinschaft im Beitrag »Der Kampf mit dem Drachen« über patriotische Rekuperation, der ebenfalls ein kontradiktorisches Konstitutionspaar mit dem anderweitig grassierenden Antipatriotismus der Gemeinschaft bildete: »Wir Internationalökonomen lieben unsere Schweiz auch, unsere Berge und Täler, unsere Seen und Wasserfälle, aber mehr noch lieben wir die Seele des Menschen [...] und wir lieben es gar nicht, wenn uns die ökonomischen Interessen der Besitzenden zum Verrat an unserer Liebe zwingen wollen.«194 Der Zweck hierbei dürfte die Nivellierung der Fremdeinschätzung des anarchistischen Kollektivs als heimatlose VaterlandsverräterInnen und VerächterInnen der Schweiz gewesen sein, die zu brechen versucht wurde. Die wohlwollenden Worte zur geografischen und geologischen Schweiz in der Identitätskonstruktion können zudem als Erschließungsmaßnahme neuer Interessentenkreise gelesen werden, die Internationalismus nicht mit einem Antiregionalismus zu verbinden gewillt waren. Wie bereits erwähnt verdichtete und konstituierte die Polis ihre kollektive Identität auch durch Demarkationen. Framing-Prozesse traten dabei vornehmlich zur Sozialdemokratie hin in verschiedenen Formen auf. Im Artikel »Die geistige Guillotine« beispielsweise wurde emotionalisierend akzentuiert, wenn von einem sozialdemokratischen Weltverständnis als einem »geaichten [sic] Glaubensmass« gesprochen wurde, um die Starrheit der marxistischen Lehre zu karikieren.195 Oder es wurde von »Kopflosen und Eunuchen« gesprochen, die die Partei ausmachten »[...] seit jener grossen Säuberung von 1890, wo man all die rausschmiss, die nicht grad das geforderte Normalmass hatten [...]«196. Auch in weiteren Artikeln stellten Framing-Prozesse zur Sozialdemokratie Schlüsselelemente der Konstruktion kollektiver Identität dar, etwa im Beitrag »Offener Brief an einen ehrlichen Opportunisten«: Darin wurde die anarchistisch gesinnte Gemeinschaft deshalb als 192  |  Ebd., S. 66. 193  |  Vgl. stellvertretend Züricher, U.W., »Der Kampf mit dem Drachen«, Polis, 1.2.1907, Jg. 1, Nr. 3, S. 46-50. 194  |  Ebd., S. 47. 195  |  »Die geistige Guillotine«, Polis, Sommer 1908, Jg. 2, Nr. 2, S. 28. 196  |  Ebd., S. 28.

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unikal wahrheitsgläubig positioniert, weil sie im Gegensatz zur Sozialdemokratie ihre Propaganda nicht publikumsspezifisch adaptierte, um eine »berufliche Missbildung des Denkens beim Propagandisten«197 zu vermeiden. Weiter demarkierend hieß es: »Ihr [SozialdemokratInnen, d.V.] erniedrigt Euch, dezimiert Euch, passt Euch an aus Idealismus, an die niedere Psyche der heutigen Menschen. Fangt an zu sprechen im Schargon [sic] der Händler und Krämer. Identifiziert ihren Magenund Machtwillen mit Euerem Willen zum Menschen«198. Diese Absetzung kann allerdings auch als subidentitärer Framing-Prozess gelesen werden. Den scharfen Worten zum Trotz verstand Autor Brupbacher Anarchismus und Sozialdemokratie als »verschiedene Entwicklungsstufen des revolutionären Typus«199. Nicht zuletzt, weil die beiden Ideen »[...] psychologisch genommen nicht Gegensätze, sondern verschiedene Grade der Anpassung der Idee an die Umgebung bedeuten.«200 Auch die Vermittlung von Hypergütern geschah nicht selten im Anschluss an solche wörtlichen Abgrenzungen zum Lager der marxistischen ›wissenschaftlichen Sozialisten‹, wie in einem anderen Artikel zu sehen ist: »Es ist ein grosser Fehler der sozialdemokratischen Auffassung, zu glauben, dass die Entwicklung der ökonomischen Bedürfnisse genüge, die Welt aus den Angeln zu heben. Eine Masse, die nur in der Beziehung sehr entwickelt ist, lässt sich durch Brot und Spiele von den Herrschenden im Schach halten, opfert ihren Willen dem Willen, ihre gesteigerten Bedürfnisse zu befriedigen, unter. Da wir den Willen, keinen Herrn zu haben, über alles setzen, werden wir deshalb mit Vorsicht jede Taktik beurteilen, die dahin geht, einfach grössere materielle Bedürfnisse zu schaffen«201 .

Die Selbstbezeichnung in der Polis gestaltete sich uneinheitlich. Der Umstand, ein pluralistisches Blatt zu sein, wurde positiv gedeutet: »Es ist doch von vornherein einleuchtend, dass da, wo wirklich tagtäglich von verschiedenen Menschen gefühlt und gedacht wird, eine völlige Uebereinstimmung der Ideen ausgeschlossen erscheint.«202 Zu den verschiedenen Bezeichnungen dieser verschiedenen Ideen hieß es pragmatisch: »Ob wir uns [...] kultursozialistisch, anarchosozialistisch, gewerkschaftssozialistisch, sozialpsychologisch oder sonstwie nennen, ist unwesentlich«203. Irgendwie schien es das aber doch nicht gewesen zu sein. Wie sonst wäre zu erklären, wieso es konsequent vermieden wurde, die eigene Gemeinschaft mit

197 | Brupbacher, Fritz, »Offener Brief an einen ehrlichen Opportunisten«, Polis, Herbst 1908, Jg. 2, Nr. 3, S. 13. 198  |  Ebd., S. 11. 199  |  Ebd., S. 16. »Diese beiden Typen und ihre Zwischenstufen von ihrer gegenseitigen Bekämpfung abzuhalten und ihre Energien zu koordinieren [...]« (ebd., S. 16) sei eine schwierige, aber wichtige Aufgabe. 200  |  Ebd., S. 16. Die anhaltende Mitgliedschaft Brupbachers stellt eine mögliche Erklärung für diese Einstellung dar. 201 | Brupbacher, Fritz, »Die Grundlagen des idealistischen Sozialismus«, Polis, Frühjahr 1908, Jg. 2, Nr. 1, S. 30. 202  |  Züricher, U.W., »Erklärung«, Polis, Frühjahr 1908, Jg. 2, Nr. 1, S. 3. 203  |  Ebd., S. 2.

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Anarchie-Begriffen zu bezeichnen, obschon durchaus Artikel in der Polis zu finden sind, die diese Begriffe positiv besetzen?204 Artikel zu Tagesaktualitäten lassen sich zwar in der Polis finden, sie enthalten aber kaum gemeinschaftskonstituierende Elemente.205 Anarchistische Ereignisse fanden nur sehr bedingt Eingang und wenn, dann ohne konstitutive Aspekte für die kollektive Identität.206 Gründe für die Zurückhaltung können in der Absicht gesucht werden, die von den bürgerlichen Medien (vor )fabrizierten Prophezeiungen nicht erfüllen zu wollen respektive generell nicht in die Nähe des Reizwortes Anarchismus gerückt und diskreditiert zu werden. Die Fremdwahrnehmung wurde ebenfalls kaum als Katalysator für identitätskonstituierende Elemente genutzt.207

4.2.6.2 Zusammenfassung Gemeinschaft wird in der Polis mit verschiedenen Komponenten auf verschiedene Weisen konstruiert und konstituiert. Am auffälligsten sind Framing-Prozesse, in denen die Gemeinschaft sich von orthodoxen marxistischen Positionen, aber auch von ArbeiterInnen absetzt und gleichzeitig zur Vermittlung gemeinschaftsrelevanter Hypergüter wie Zielen, Grundwerten oder Aufgaben ansetzt. Die Abgrenzung gegenüber der Sozialdemokratie ist in der Polis allerdings streckenweise auch als subidentitäre Demarkation zu deuten, da wiederholt auch Stellungnahmen gefunden werden können, die in der Sozialdemokratie und dem Anarchismus zwei Ausgestaltungen derselben Idee vermuten. Auch die Distanzierung von den ArbeiterInnen ist als subidentitär zu verstehen, zumal sich die Gemeinschaft der Intellektuellen mit den Zielen der fortschrittlichen ArbeiterInnen durchaus identifizieren kann. Die Tendenz zur Differenzierung ist auch in der Präsenz anderer subidentitärer Framing-Prozesse zu erkennen. So beispielsweise, wenn das durchs Band akademisch geschulte ›Wir‹ sich in einer Umdeutung als kleinbürgerliche intellektuelle Outcasts bezeichnet. Selbstbezeichnungen spielten davon abgesehen in der Bestimmung und Perpetuierung der kollektiven Identität eher eine untergeordnete Rolle. Kein Zufall dürfte sein, dass eine große Indifferenz gegenüber externen Namensgebungen und politischen Einordnungen postuliert wurde und es in der Polis nie zu einer Identifikation der Gemeinschaft mit Anarchie-Begriffen kam, obschon man diese gelegentlich zu entächten versuchte. Keine tragende, aber gleichwohl eine konstitutive Rolle spielen traditionalistische Beiträge rekuperativen Zuschnitts, die mit ihrer inhaltlich geradezu diametral gegenüberstehenden biblischen respektive patriotischen Rhetorik und Metaphorik versuchen, das kollektive Selbst zu formen und zu firmieren. 204  |  Vgl. etwa »Anarchismus«, Polis, Sommer 1908, Jg. 2, Nr. 2, S. 22, »Sozialdemokratie und Anarchismus«, Polis, Sommer 1908, Jg. 2, Nr. 2, S. 22-23, »Die Hochstapler der Idee«, Polis, Sommer 1908, Jg. 2, Nr. 2, S. 28. Für eine Reaktion der Gemeinschaftsmitglieder auf Fremdbezeichnungen als AnarchistInnen vgl. Harda, Mark [alias Margarethe HardeggerFaas], »Kriegserklärung«, Polis, Jg. 1, Nr. 5, S. 81. 205  |  Vgl. Br., »Weshalb es vom Bundesanwalt keine Photographie gibt«, Polis, 1.3.1907, Jg. 1, Nr. 4, S. 63. 206 | Der Zürcher Anarchisten- resp. Bombenprozess vom November 1907 fand bspw. überhaupt keine Erwähnung. 207  |  Für eine die Regel bestätigende Ausnahme vgl. Harda, Mark [alias Margarethe Hardegger-Faas], ›Kriegserklärung‹«, Polis, Jg. 1, Nr. 5, S. 80-81.

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Tagesaktualitäten und anarchistische Ereignisse dienen der Gemeinschaft kaum als Katalysatoren zur Schaffung und/oder Akzentuierung kollektiver Identität. Wichtige Daten und Ereignisse der Anarchismusgeschichte und -rezeption in der Schweiz werden im Gegenteil überhaupt nicht thematisiert. Grundsätzlich finden sich vor allem zu Beginn in der Polis verschiedene Einflüsse und Positionen und damit auch kollektive Identitäten. Einerseits lassen sich zu Beginn noch deutlich zwei Lager ausmachen, ein eher marxistisch geschulter und ein deutlich anarchistisch geprägter Flügel. Da die Spitzen gegen den als wissenschaftlich apostrophierten Sozialismus im Laufe der Zeit zunehmen, Gegenangriffe aber ausbleiben, muss ein Paradigmenwechsel angenommen werden, der zugunsten der anarchistisch Orientierten ausfiel. Außergewöhnlich für anarchistische Gemeinschaften ist die wiederholt feststellbare Versöhnlichkeit gegenüber der Sozialdemokratie. Lediglich in subidentitär zu wertenden Framing-Prozessen wurden Demarkationen vorgenommen und eine Wesensverbundenheit wiederholt nicht nur präsupponiert, sondern ausformuliert. Diese und die weiteren ausgearbeiteten Komponenten erlauben Rückschluss auf eine kollektive Identität der Gemeinschaft, die nicht zuletzt wegen ihrer Pluralität und Wandelbarkeit durchwegs als anarchistisch bezeichnet werden kann. Die freie Bildung wird glorifzierend ebenso portiert wie die chiliastische Aspiration eines tausendjährigen Reichs, das erst dann Realität werden könne, wenn die ganzheitliche Befreiung der Menschen erreicht sei. Internationalismus, Selbstermächtigung, Antiautoritarismus und eine weitgehende antireformistische, revolutionäre Grundhaltung sind weitere charakteristische Pfeiler der kollektiven Identität rund um die Polis. Die Gemeinschaft zeichnet sich als bereits erwachte Intellektuelle, deren Aufgabe es sei, die ihnen, wenn auch nicht in der Lebenslage, so doch im Geiste Gleichen zu AnarchistInnen zu erwecken. Die daraus erwachsende Spannung zwischen außen und innen, zwischen intellektueller, wesentlich desintegrierter Vorhut und zu mobilisierender Masse ist immer wieder Thema und prägt die Gemeinschaft der Polis nachhaltig.

4.2.6.3 Bibliografische Details (1) Polis: Sozialpsychologische Rundschau; (2) Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 1. Nr. 12: Johannes Widmer; Jg. 2, Nr. 1 - Jg. 2, Nr. 4: U.W. Züricher; (3) bis Jg. 1, Nr. 12: Neue Beckenhofstrasse 15, 8006 Zürich; ab Jg. 2, Nr. 1: Kirchgasse 16, 8001 Zürich; (4) Zürich; (5) erste Nummer 1.12.1906, letzte Nummer viertes Quartal 1908; bis 1.11.1907, Jg. 1, Nr. 12 monatlich, dann vierteljährlich bis Jg. 2, Nr. 4; der Umfang betrug von Jg. 1, Nr. 1 bis Jg. 1, Nr. 12 16 Seiten, dann bis Jg. 2, Nr. 4 64 Seiten; (9) Schweizerisches Sozialarchiv Zürich, D 4249; (10) Die Seitenzahlen in der Polis sind im ersten Jahrgang fortlaufend nummeriert, im zweiten Jahrgang beginnen sie bei jeder Ausgabe neu. Erst im 2.Jahrgang wurde eine Rubrik eingeführt, die selbsterklärend »Bücherbesprechungen« hieß. Ansonsten enthielt die Polis vor allem essayistische Artikel, zuweilen auch im Format offener Briefe verfasst. Die Themen waren dabei häufig abstrakter Art, und handeln Anarchismus und sozialistische Entwicklungen und Trends vornehmlich via Psychologie, Kunst oder Literatur ab. Es wurden Grundsatzdebatten geführt, weswegen die Artikel – in ihrer großen Mehrheit – aktualitätsungebunden sind. Auffallend häufig finden sich auch literarische Rezensionen in der Polis. Im Gegensatz zu anderen anarchistischen Zeitungen ist die große Mehrheit der Artikel mit Namen unterzeichnet. Für die Polis schrieben

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nebst den Redaktoren Widmer und Züricher unter anderem Fritz Brupbacher, Margarethe Hardegger-Faas (alias Mark Harda), Erich Mühsam, Gustav Landauer, Rudolf Willy, Elisée Reclus, Max Tobler, Rudolf Willy, Alfred Sanftleben oder James Guillaume, also mehrere, auch ausgewiesene deutsche Anarchisten. Die Themen zeigen neben den anarchistischen und anarchoiden Zusammenhängen, denen sie entsprungen sind, auch Fetzen eines lebensreformerischen Kontextes, der für die Gemeinschaft offensichtlich normativ war: Mehrere Artikel zu Abstinentismus ergänzen die (unterschiedlichen) anarchistischen Standpunkte.

4.2.7 Die Vorkämpferin Abbildung 8: Die Vorkämpferin, 1.8.1908, Jg. 3, Nr. 4. (SozArch Zürich, MFB 19:1)

4.2.7.1 Relevante Er wähnungen Im Unterschied zu anderen berücksichtigten Zeitungen nimmt die Vorkämpferin eine differenzialistische, feministische weibliche Haltung ein. Schon im ersten Artikel wurde das ›Wir‹ eingegrenzt als eines von arbeitenden Frauen. Dabei öffnete sie die Gemeinschaft in universalistischem Sinn, und sprach als Substrat prinzipiell alle arbeitenden Frauen an.208 Die Situation der arbeitenden Frau und die Be208  |  »Euch allen, Ihr arbeitenden Frauen, entbietet ›die Vorkämpferin‹ ihren Gruss zum 1. Mai!« (»Euch, Frauen der Arbeit!«, Die Vorkämpferin, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. [Herv. i.O.]).

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freiung daraus wird aber – oft in denselben Artikeln – auch in einen genderunabhängigen klassenkämpferischen Kontext gestellt: »Und was ist der Lohn für all diese Mühe? für [sic] all die unentbehrliche Arbeit, welche die Frauen, der Menschheit leisten? Ihr kennt den Lohn! Er heisst Geringschätzung, Rechtlosigkeit, Leibeigenschaft! Das haben die arbeitenden Frauen mit ihren männlichen Arbeitskameraden gemein, dass sie, die nicht allein sich selber und ihre Kinder, sondern auch noch die Parasiten und deren Kinder ernähren, von diesen selben Parasiten beherrscht, verachtet und aufs tiefste heruntergedrückt werden. Und gegen diese Herrschaft der Parasiten kämpfen wir arbeitende Menschen [...] wir alle, die wir arbeiten, wir sind die rechtmässigen Fürsten dieser Erde«.209

Zu erkennen ist einerseits ein Gemeinschaftsverständnis, das genderunabhängig die ökonomische Situation zum Einordnungskriterium macht und andererseits eine genderabhängige subidentitäre Spezifizierung als Arbeiterinnen.210 Beide Gemeinschaften werden in der Vorkämpferin ohne nähere Klärung der Relation zueinander adressiert, konstituiert und gepflegt.211 Weitere Hypergüter der Gemeinschaft vermittelte die Vorkämpferin im Rahmen einer Selbstpositionierung. In aufzählender Reihenfolge erklärt die Vorkämpferin Ziel, Methoden und Probleme der Gesellschaft. Belehrung und Aufklärung stünden im Vordergrund, gefolgt von Erklärung der Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation. Dem Problem der Abwanderung sei mit einer konstanten Wiederholung, Auffrischung und Ergänzung der zentralen Thesen und Sinndeutungen zu begegnen, »wenn sie dem Vereine erhalten bleiben sollen«212 . Die Abwanderung könne dabei nicht mit übermäßiger Propaganda gebremst werden. Vielmehr sei eine Habitualisierung213 anzustreben, die dafür sorgen sollte, dass die Bewegten quasi natürlicherweise in der Gemeinschaft tätig verbleiben würden. Vollzogen wurde die geschlechtlich differenzialistische subidentitäre Differenzierung auf explizite wie auch auf subtile Weise. Einerseits tauchen positive Identifikationen mit von der Restgesellschaft als Stigma verstandenen Devianzen auf. Durch diese Umdeutung der herrschenden Sinndeutung wurde die Gemeinschaft rekonstituierend gestärkt, wie die ironische Formulierung »[...] unser schwacher Arm-Frauen-Verstand«214 darlegt. Eine subtilere Variante desselben identitätskonstituierenden Mechanismus’ stellte eine ab209  |  »Euch, Frauen der Arbeit!«, Die Vorkämpferin, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 3. (Herv. i.O.). 210  |  Vgl. auch in geschlechtlich differenzialistischer Manier »Wir Frauen und unsere Sache«, Die Vorkämpferin, 1.12.1908, Jg. 3, Nr. 8, S. 1-2. 211 | Punkto Selbstwahrnehmung und -bezeichnung findet sich der Bezug zur Arbeiterin in der Vorkämpferin auf unterschiedlichen Ebenen. Das ›Wir‹ wurde als Pronomen für Adressatinnen und für Adressierende verwendet, was den entelechetischen Charakter kollektiver Identitäten als unaufhörliches Spiel von passiven und aktiven Elementen illustriert. 212 | -la-, »Erziehung«, Die Vorkämpferin, 1.3.1907, Jg. 1, Nr. 11, S. 1. 213  |  Die Autorin verwendet den Begriff ›Gewöhnung‹. Die Konklusion »Erziehung der Genossen und Genossinnen durch die Organisation, Gewöhnung zu handeln wie unsere hohen Grundsätze es von uns fordern. (Durch unsere Lebensführung erst werden alle unsere Gedanken zu Fleisch und Blut« ebd., S. 2) lassen m.E. eine solche Übersetzung zu. 214 | »Im Land herum: Die »goldenen« Internationalen«, Die Vorkämpferin, 1.10.1907, Jg. 2, Nr. 6, S. 4.

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sichtliche Simplifizierung wiedergegebener Texte zum besseren Verständnis der Leserinnen dar: »Laut den Jahresberichten (1899) unserer schweizerischen Kreditanstalt hat sie mit den ausländischen genannten Banken ›Spezialabmachungen‹ getroffen und wird mit ihnen dauernd verbunden bleiben (›liiert‹ heisst es wörtlich, damit wir Einfacheren es nicht so verstehen).«215 Daneben positionierte sich die Gemeinschaft der Vorkämpferin als integrative Propaganda- und Aufklärungsgruppe syndikalistischen und avantgardistischen Zuschnitts, die in der gewerkschaftlichen Organisation den ersten Schritt zur Verbesserung und Veränderung der proletarischen Lebenswelt sah: »Alle diejenigen Frauen, die heute noch abseits stehen von den um eine bessere Existenz ringenden Arbeitskameraden, die soll unsere ›Vorkämpferin‹ hereinrufen in die Reihen, in die sie gehören und soll ihnen vorangehen, soll die Schläfrigen aufrütteln, die Irrenden leiten, den Müden helfen, die Mutlosen anfeuern. – alle begeistern und in dem grossen Befreiungskampf zum Siege führen.« 216

Besonderes Augenmerk galt den Methoden in der Vorkämpferin, die als vermitteltes Hypergut vergleichsweise viel Raum einnahmen. Abgesehen von der allenortes gemeinschaftlich empfohlenen, sammelnden Organisation waren im Kampf der Gemeinschaft auch Direkte Aktionen immer wieder Thema, die der konstituierten kollektiven Identität einen anarchistischen Anstrich gaben. Dazu gehörte häufig die Direkte Aktion des Boykotts. Besonders in Arbeiterinnnenkreisen, die neben der Lohnarbeit in der Regel auch doppelbelastet den familiären Alltag zu organisieren hatten, war diese Aktion ein wirkungsmächtiges Druck- und Kampfmittel gegenüber ProduzentInnen, die unter unkorrekten Bedingungen herstellten.217 Ein Beispiel ist der 1906 organisierte Boykott der in Bern ansässigen Firma Tobler Chocolat, Erfinderin der Toblerone.218

215  |  Ebd., S. 4. »Liierung« und »liiert« treten im selben Artikel noch drei weitere Male in Anführungsstrichen auf und werden abermals übersetzt. 216  |  Scheuermeyer, B., »Beilage zur »Vorkämpferin«: Der schweizerische Arbeiterinnenverband«, Die Vorkämpferin, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 6. 217  |  Vgl. für eine programmatische Einleitung bzgl. Konsumgenossenschaften und Boykotten »Im Land herum: Genossenschafterinnen-Abende«, Die Vorkämpferin, Weihnachtsnummer 1906, Jg. 1, Nr. 9, S. 5. 218  |  Auf deren Erfindung musste die Welt allerdings noch zwei Jahre warten. Erst 1908 wurde die dreieckige, patentierte Spezialität eingeführt. Die Toblerone ist das einzige Produkt der Tobler-Schokolade, das auch heute noch hergestellt wird. Der Familienbetrieb ist allerdings längst Geschichte und die Schokolade in Matterhornform wird nach diversen Verkäufen heute unter den Ägiden des multinationalen Lebensmittelgiganten Kraft Foods hergestellt. Vgl. zur Geschichte des Schokoladenriegels Toblerone Feuz/Tobler/Schneider, Toblerone, ein Buch, das pikanterweise von Kraft Foods selbst herausgegeben wurde. Zur Situation der Arbeiterinnen um die Jahrhundertwende ist nur wenig zu erfahren. Zur Firma Tobler Chocolat und ihrer Rolle vgl. Leimgruber/Feuz/Rossfeld/Tobler, Chocolat Tobler. Zur Geschichte der Schokolade und der Schweiz und ihrem Wandel vom exotischen Produkt zum Symbol nationaler Identität vgl. die umfangreiche Dissertation Rossfeld, Schweizer Schokolade.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Frauen, Achtung! Die weltberühmte Tobler-Schokolade ist boykottiert! Ihr sollt schon jetzt wissen, dass Ihr über die Weihnachts- und Neujahrszeit alle anderen nur keine Tobler-Schokolade kaufen werdet. Und Eure Krämer und Konsumvereine müssen schon jetzt, zur Zeit der Bestellungen, wissen, dass ihnen die Tobler-Schokolade liegen bleiben wird.« 219

Die so punktuell materialisierte Macht der KonsumentInnen führte in anderen Fällen auch weiter. Im Falle des Tabakwarenherstellers Vautier Frères wurde nach Boykottaufrufen in einem Akt der autonomen gegenseitigen Hilfe die Gründung einer genossenschaftlichen Tabakwarenfabrik angestoßen. Die Tabakarbeiterinnen, die aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Organisierung entlassen wurden, sollten darin ein ethisch korrektes, selbstorganisiertes Auffangnetz begründen und finden.220 Das gemeinschaftliche Wirtschaften in Form von Genossenschaften als Form der kollektiven Selbsthilfe wurde auch in anderen Bereichen immer wieder empfohlen.221 Eine andere Direkte Aktion, zu der in der Vorkämpferin aufgerufen wurde, ist der Ungehorsam.222 »Auf zum Kampf! Auf zur Befreiung des Volkes, Erlösung der Unterdrückten, das ist der Inhalt, den wir unserm Leben geben wollen, das sei unser Lebenswerk!«223, wurden prospektiv die Ergebnisse der Direkten Aktion gepriesen. »Wenn es gilt, sein Lebensglück zu verteidigen, seine bessere Ueberzeugung zu behaupten, seine erste Menschenpflicht zu erfüllen: sich und andere glücklich zu machen, und wenn man uns den Weg verschliessen wollte – 219 | »Im Land herum: Frauen, Achtung!«, Die Vorkämpferin, 1.10.1906, Jg. 1, Nr. 6, S. 3. Ebenfalls 1906 und ebenfalls bei Tobler Chocolat fand der erste Streik der Schweizer Schokoladenindustrie statt. Vgl. Feuz/Tobler/Schneider, Toblerone, S. 171-182, hier S. 177. Firmenoberhaupt Theodor Tobler selbst versuchte zwar soziale Errungenschaften und Einrichtungen für seine FabrikarbeiterInnen zu etablieren. Seine patronhaften, sozial normierenden Versuche deuten allerdings eher auf ein ökonomisches Inzentiv hin. Emotionale Bindung der Arbeiterschaft und Teambuilding mögen anachronistisch klingen im Zusammenhang mit einer Schokoladenfabrik im Bern der 1900er Jahre. Aber sie illustrieren gut, was die ›Menschenökonomie‹ des Patrons wollte. Es ging nicht um das Wohlergehen, sondern um die Produktivitätssteigerung seiner ArbeiterInnen, die er mit den verschiedenen SozialMaßnahmen zu erreichen suchte. Vgl. Feuz/Tobler/Schneider, Toblerone, S. 179-181. Nichtsdestotrotz zeigte Tobler Interesse für Fortschrittliches und war nur wenige Jahre später mit der Redaktorin der Vorkämpferin, Margarethe Hardegger-Faas, in einem freigeistigen Monistenbund engagiert. Vgl. Feuz/Tobler/ Schneider, Toblerone, S. 17. Auch andere Schokoladenhersteller blieben von Boykottaufrufen nicht verschont. Vgl. etwa »Im Land herum: Dicker Zettel«, Die Vorkämpferin, Weihnachtsausgabe, Jg. 1, Nr. 9, S. 6, wo der Boykott der Schokoladenfabrik Lucerna ausgerufen wird. 220  |  Die Boykottaufrufe finden sich wiederholt, bspw. in Die Vorkämpferin, 1.10.1907, Jg. 2, Nr. 6, S. 3. Für die Aufmunterung und den Businessplan zur Gründung einer Tabakwarengenossenschaft vgl. »Ein zu verwirklichender Traum«, Die Vorkämpferin, 1.9.1907 Jg. 2, Nr. 5, S. 5-8. Zum Fall Vautier Frères vgl. auch die entsprechenden Ausführungen in Kap. 4.4.13 L’Exploitée. 221  |  Vgl. stellvertretend für das Bau- und Mietwesen den Artikel »Der Mieterstreik«, Die Vorkämpferin, 1.3.1908, Jg. 2, Nr. 11, S. 1-3, besonders S. 2 oder fürs Textilwesen »Im Land herum: Genossenschaftliche Hemdenfabrik«, Die Vorkämpferin, 1.2.1908, Jg. 2, Nr. 10, S. 4. 222  |  Vgl. Aiglon, »Die Pflicht des Ungehorsams«, Die Vorkämpferin, 1.2.1907, Jg. 1, Nr. 10, S. 1-2. 223  |  Ebd., S. 1.

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dann wird der Ungehorsam zur heiligen Pflicht«224. Biblisch verklausuliert aber nicht undeutlich äußerte sich die Vorkämpferin auch positiv zum Attentat als einer der eigenen Sache nützlichen Direkten Aktion. In Zusammenhang einer Vermittlungstätigkeit zwischen dem finnischen Proletariat und dem ortsansässigen Bürgertum durch Militärgeneral Kaulbars hieß es: »Dieser Unmensch ist es, der jetzt zur Beruhigung nach Finnland kommandiert wurde. Wir haben liebe, tapfere Genossinnen in Finnland. Möchte doch der blutige Holofernes bald seine Judith finden.«225 Auch das Hypergut des Ideals der Umsetzung der Ziele in den Alltag findet sich in der Vorkämpferin wieder und schärft das anarcho-sozialistische Profil der kollektiven Identität ihrer Gemeinschaft: »Es ist höchst wertvoll, dass wir nun angefangen haben, auf allen Gebieten gegen die Gesellschaftszustände nicht mehr nur mit der vernichtenden Kritik, sondern mit positiven aufbauenden Taten voranzugehen. [...] Wir haben lange genug vom Zukunfststaate geredet. Bauen wir ihn jetzt, fangen wir allerorten an, heute nicht erst morgen.«226

Im angeführten Beispiel wurden Volkshäuser gefordert, die der politischen Agitation und Organisation Raum hätten bieten sollen. Bis dahin waren die öffentlichen Orte, die zu Organisation und sozialem Austausch aufgesucht wurden, meist Trinkstätten, die durch das ubiquitäre Alkohol- und Tabakangebot die Konzentration der Organisierten oftmals schmälerten.227 In ihrem letzten Artikel bekräftigte Hardegger-Faas ihre anarchistische Überzeugung, dass nicht eine Reform sondern nur eine radikale Umgestaltung die Bedingungen nachhaltig verbessern könnte. Dieses und andere anarcho-sozialistische Hypergüter vermittelte sie in einen Entschuldigungstopos gehüllt. Das legt die Vermutung nahe, dass diese Haltung in der Verwaltung des Arbeiterinnenverbandes nicht nur Sympathisantinnen fand. Allerdings formulierte sie die Entschuldigung so, dass klar wurde, dass dieses Milieu organisierter ArbeiterInnen sie zu dieser Denkweise überhaupt erst geführt hatte.228

224  |  Ebd., S. 2. 225  |  »In der Welt herum: Der blutige General Kaulbars«, Die Vorkämpferin, 1.1.1908, Jg. 2, Nr. 9, S. 4. 226 | Peus, H., »Volkshäuser«, Die Vorkämpferin, 1.2.1908, Jg. 2, Nr. 10, S. 1, resp. S. 2 (Herv. i.O.). Ein weiterer Artikel, der sich ausschließlich dem Umsetzen und Leben der Theorie widmet ist Adams-Lehmann, D.H.B., »Seid aber auch Täter des Worts – und nicht Hörer allein!«, Die Vorkämpferin, 1.9.1908, Jg. 3, Nr. 5, S. 5. 227  |  Kein Wunder argumentiert die Vorkämpferin dafür, dass es der Arbeiterschaft Räumlichkeiten zugänglich zu machen gelte, »[...] ohne dass der Drache Alkoholismus sie als sein Opfer bedrohen darf« (Peus, H., »Volkshäuser«, Die Vorkämpferin, 1.2.1908, Jg. 2, Nr. 10, S. 1) darin. Für die diversen Verwendungszwecke von Volkshäusern vgl. stellvertretend die Geschichte des Volkshauses in Zürich, das bereits zu Beginn gleichzeitig öffentliches Badehaus und Übungslokal proletarischer Männerchöre war. Vgl. allg. Keller/Kälin/Wyler, 100 Jahre Volkshaus Zürich. 228  |  Die Formulierung erscheint in erster Linie als rhetorischer Kniff, der zwischen den Zeilen sagt, dass eine Lücke zwischen Substrat und Verwaltung klafft. Die unermüdliche Basisarbeit Hardegger-Faas’ ist aber erwiesen, sodass das sprichwörtliche Körnchen Wahrheit durchaus auch ein veritabler Klumpen gewesen sein könnte.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Meine Anschauungen sind in den letzten vier Jahren so geworden, dass ich unter Euch als Sektretärin und Redaktorin nicht mehr Platz zu haben scheine. Das ist so langsam und unabänderlich gekommen – weil ich meistens nur mit den Allerärmsten, den Allerelendsten verkehre, den ganz untersten Schichten, in denen wir arbeitenden Frauen liegen – mit den wirklich Verzweifelten, für die es Hoffnung, Rettung, Leben nur mehr in einer vollständig neuen Gesellschaft gibt. Und so beherrschte mich allmählich nur der eine Wille: Zusammen mit gleichgesinnten Kameraden diese neue Gesellschaft zu bauen – Euch zu zeigen, wie man zusammenlebt und zusammenarbeitet, ohne Lohnsystem, ohne Unterdrückung – einfach in Freiheit.«229

Die für den Anarcho-Sozialismus typische Praxiswerdung der Theorie findet sich auch bei anderen AutorInnen, beispielsweise beim Autorinnenkollektiv ›Arbeiterinnenverein Basel‹: »Wir Armen und Geplagten wissen alle, dass wir mitten in unserem höchsten Elend nie aufgehört haben, uns eine bessere, glücklichere, gerechtere Welt zu wünschen, eine Welt, in der die Menschen gut sein können«230. Sie hätten nicht aufgegeben daran zu glauben, »[...] dass diese bessere Welt schon im Diesseits geschaffen werden könne, wenn wir uns gegenseitig alle helfen.«231 Ebenfalls zu tatkräftiger Mitarbeit ruft ein weiterer Artikel knapp zwei Jahre später auf: »Mitten in dunkler Zeit lehrt uns sprechen von Licht, damit wir den Weg nicht verlieren zu dem gelobten Land. Darin aber wird nicht Kampf mehr sein und keine Zerstörung und Kummer und Tränen werden nicht mehr sein. Und an Stelle von all diesem wird sein gegenseitige Hilfe und wahre Liebe.«232

Die biblisch anmutende Wortwahl wirkt deplaziert, denn gleichzeitig wurde in der Vorkämpferin die zunächst nur glimmende kritische Distanz zur organisierten Kirche über die Jahre immer deutlicher. Ein Beispiel dafür ist der Artikel »Du armer Lazarus!«233, in dem die Kirche als wichtige staatstragende Macht dargestellt und dementsprechend als negatives Hypergut verhandelt wurde. Sie und ihre Angehörigen seien »[...] Freunde und Diener eurer Herrn und Unterdrücker«234. Weitere Hypergüter wurden im Artikel »Unser Vaterland«235 vermittelt. Dem Antinationalismus wurden mehrere Lanzen gebrochen, wenn die Autorin betonte, »[...] dass uns der Zufall der Geburt zwischen ganz besonders günstige Grenzsteine geworfen!«236 und weiter hinten im Artikel konstatiert wurde: »Wir anerkennen die weissen Grenzsteine nicht mehr: sie sind von Menschenhand gesetzt und können 229 | Hardegger-Faas, Margarethe, »Abschied«, Die Vorkämpferin, 1.4.1909, Jg. 3, Nr. 12, S. 1. 230  |  »Aus den Sektionen des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes: Arbeiterinnenverein Basel«, Die Vorkämpferin, 1.7.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 4. 231  |  Ebd., S. 4. 232  |  »Heute ist Feiertag!«, Die Vorkämpferin, 1.5.1908, Jg. 3, Nr. 1, S. 1. 233  |  »Du armer Lazarus!«, Die Vorkämpferin, 1.10.1907, Jg. 2, Nr. 6, S. 5-6. 234  |  Ebd., S. 6. 235 | »Unser Vaterland«, Die Vorkämpferin, 1.8.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1-2, Fortsetzung und Schluss in Die Vorkämpferin, 1.9.1906, Jg. 1, Nr. 5, S. 1-2. 236 | »Unser Vaterland«, Die Vorkämpferin, 1.8.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. In die gleiche Kerbe schlägt sie, wenn sie formuliert: »Unser Vaterland wählen wir nicht selbst.« (»Unser Vaterland«, Die Vorkämpferin, 1.9.1906, Jg. 1, Nr. 5, S. 1 [Herv. i.O.]).

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von Menschenhand wieder ausgegraben werden.«237 Zentrales Hypergut der Gemeinschaft ist allerdings die Beseitigung des Systems als solches. Halb hoffend, halb lobend hieß es: »[Das Volk, d.V.] hat den Kampf aufgenommen mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, in welchem der Arbeiter um kargen Lohn seine Lebenskraft einsetzen muss, während sein Brotherr die Früchte seines Fleisses einheimst und ein behagliches und schönes Dasein lebt. Dieses System muss abgeschafft werden, die arbeitenden Menschen haben das Recht, die Früchte ihrer Arbeit für sich zu beanspruchen.«238

Die generelle Staatskritik trug als zentraler Wert zum anarchistischen Kolorit der kollektiven Identität der Gemeinschaft ebenso bei.239 In einem Artikel zu Versicherungsfragen etwa wird der Staat als Wurzel des Übels gezeichnet, weil er dieses System zulasse, in dem viele sich um durchzukommen zur Krankheit arbeiten müssten, derweil die ArbeitgeberInnen den Mehrwert abschöpfen würden.240 Auch alltägliche Vorfälle lieferten die Ausgangslage für wiederholte fundamentale Staatskritik in den Spalten der Vorkämpferin. Nicht nur drücke der Staat ArbeiterInnen nieder, auch beute er die Frauen aus, indem er zwar eine Sexualmoral predige, aber nicht bereit sei, die Konsequenzen davon mitzutragen: »Der Staat braucht eben Kanonenfutter; er will Kinder – aber für sie sorgen oder uns Frauen in unsren schlimmsten Zeiten durch eine anständige Mutterschaftsversicherung wenigstens helfen, das will er nicht – dazu hat unser Staat kein Geld«.241 Weitere anarchismustypische Hypergüter der Gemeinschaft sind der Antimilitarismus242 und die Kritik 237  |  Ebd., S. 2. 238 | Scheuermeyer, Bertha, »Arbeiterinnen, organisiert euch!«, Die Vorkämpferin, Weihnachtsnummer 1906, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. 239 | »Wenn er [der Staat, d.V.] aber alles sein wird, wird er nichts mehr sein. Vernichtet durch sein ›Allesumfassen‹ wird er aufhören, Scherereien zu verursachen. Man ist nicht mehr böse [...], wenn man Niemand ist« (France, Anatole, »Der Staat«, Die Vorkämpferin, 1.8.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 7). Expressis verbis wird der Kommunismus als erstrebenswerte Wirtschaftsform im letzten Abschnitt der mehrteiligen Artikelserie »Die Privat-Produktion« genannt. »[...] Der Communismus lebt! Und diese Idee wird siegen: denn ihr gehören Kraft, Wissenschaft und Gerechtigkeit, in alle Zukunft! So muss es geschehen!« (»Die Privat-Produktion«, Die Vorkämpferin, 1.11.1906, Jg. 1, Nr. 7, S. 2, Herv. i.O.), heißt es synthetisierend in den letzten Zeilen. Theoretisch und methodisch wird allerdings nicht näher auf den ersehnten Kommunismus eingegangen, Von Klassenkampf und Diktatur des Proletariats ist nirgends im Artikel die Rede. Der Grundsatz, dass Produktionsmittel und Boden weder Privatpersonen noch dem Staat, sondern der Gesamtheit von Menschen gehörten, die auf diesem Boden mit diesen Produktionsmitteln arbeiten, deutet auf ein anarchistisches Kommunismusverständnis hin. 240  |  Paraphrasiert aus »Im Land herum: Die Kinder [...]«, Die Vorkämpferin, 1.2.1908, Jg. 2, Nr. 10, S. 3. 241 | »Im Land herum: Die Kindesaussetzungen und Kindsmorde«. Die Vorkämpferin, 1.5.1907, Jg. 2, Nr. 1, S. 4. 242  |  »[...] unsere Väter, Brüder, Männer, Söhne werden durch die Regierung von der Arbeit weggerufen, in Uniformen gesteckt und gegen uns selbst geschickt, um die Ordnung aufrecht zu erhalten!« (»Unser Vaterland«, Die Vorkämpferin, 1.9.1906, Jg. 1, Nr. 5, S. 1), wird in der

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am Bildungsapparat. Letzterer wirke als Multiplikator bürgerlicher Kernwerte und führe dazu, dass der Mensch »[...] oft lebenslang ein freiwillig gebundener Sklave bleibt, der laufend seine Freiheit preist und seine Lächerlichkeit nicht ahnt«243. Dem wurde in Form eines Gedichtes das Ideal einer freien, natürlichen Entwicklung auf den Prinzipien der Selbstverantwortung als positives Hypergut gegenübergestellt und portiert: »Nicht künstlich ins Kind hinein erziehen wollen wir das Grosse und Gute. Wir werden mit Verständnis und Güte weit mehr aus dem Kind herausentwickeln«244. In Abgrenzung gegenüber Sonntagsschulen, in denen viele Kinder »[...] Sonntag für Sonntag und Jahr für Jahr ihrem Verständnis unverständliche Sprüche und Verse auswendig lernen und vor sich hinpappeln müssen«, wird eine Sonntagsschule geschildert, »[...] wie sie uns als zweckmässig erscheint und wie wir sie haben möchten [...]. Selbstredend wird diese neue Schule mit der Kirche in keiner Beziehung stehen. Wir werden von keinem Kind verlangen, dass es zu einem Gott die Hände faltet, an den wir selbst nicht glauben, an den übrigens die meisten Pfarrherren ebenso wenig ernstlich glauben.«245 Es gäbe dort »kein steifes, stundenlanges Sitzen in Reih und Glied! Im Gegenteil, Gelegenheit zu spielen und springen, im Winter in gut beheizten Räumen, bei schöner Jahreszeit draussen in Sonne und frischer Luft!«246. Die Jugend in solchen Schulen schweizweit einzubinden und zu motivieren hatte einen praktischen Grund: In ihr erkannte die Vorkämpferin den Humus für die Bewegung: »Wir wollen uns immer daran erinnern, dass der geeignetste Boden für neue Ideen immer bei der Jugend war und bleiben wird.«247 Ein weiteres vermitteltes Hypergut ist die Selbstermächtigung respektive die Einsicht, dass die Bedrückten sich in Akten der Selbsthilfe befreien müssten. Nachhaltig Erfolg versprechend sei einzig, »[...] wenn das Volk selbst aus eigenem Willen und mit eigener Kraft seine Lage zu verbessern, eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu

Vorkämpferin das klassische Argumentarium der ›Antimilitaristischen Liga‹ aufgegriffen. Argumentativ in die gleiche Richtung geht der Artikel »Der Krieg«, Die Vorkämpferin, 1.10.1907, Jg. 2, Nr. 6, S. 5. 243 | »Unser Vaterland«, Die Vorkämpferin, 1.9.1906, Jg. 1, Nr. 5, S. 2. In gleicher Manier wurde auch die Sonntagsschule als Ort verstanden, der den Kindern nicht die geistige Nahrung zukommen ließe, die die Gemeinschaft als förderlich und gut erachtete. Schlimmer noch »[...] werden also Genügsamkeit und Zufriedenheit, die schlimmsten Feinde jeglichen Fortschrittes, auch hier schon dem kleinen Proletarier aufgepfropft.« (H.B., »Unsere Sonntagsschulen«, Die Vorkämpferin, 12.4.1907, Jg. 1, Nr. 12, S. 2). Vgl. H.B., »Warum schicken die Mütter ihre Kinder in die Sonntagsschulen?«, Die Vorkämpferin, 1.11.1906, Jg. 1, Nr. 8, S. 3, »H.B., »Hansli der Sonntagschüler«, Die Vorkämpferin, Weihnachtsnummer 1906, Jg. 1, Nr. 9, S. 7 und H.B., »Unsere Sonntagsschulen«, Die Vorkämpferin, 12.4.1907, Jg. 1, Nr. 12, S. 2. Dass trotzdem das eine oder andere Bibelzitat verwendet wird (etwa in »Wehe Euch [...]«, Die Vorkämpferin, Weihnachtsnummer 1906, Jg. 1, Nr. 9, S. 8 oder »Das Gefühl der Verwandtschaft«, Die Vorkämpferin, 1.2.1907, Jg. 1, Nr. 10, S. 2), lässt sich mit der traditionalistischen Praxis religiöser Rekuperation erklären, die ein Einklinken in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs ermöglichen sollte. 244 | Ohne Titel, Die Vorkämpferin. 1.8.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 245  |  H.B., »Unsere Sonntagsschulen«, Die Vorkämpferin, 12.4.1907, Jg. 1, Nr. 12, S. 2. 246  |  Ebd., S. 2. 247  |  Ebd., S. 2.

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bilden sucht«248. Dies soll im Kleinen beginnen, um schließlich im Großen zu wirken. In einem Aufruf zum Mieterstreik wird so beispielsweise zur Gründung von Baugenossenschaften aufgerufen mit dem Etappenziel, bei weiteren Mieterstreiks streikenden Familien ein Obdach bieten zu können.249 Umgestaltet werden sollte so Schritt für Schritt das ganze System: »Grund und Boden soll allen gehören. Also beginnen wir mit der genossenschaftlichen Expropriation im Kleinen und stärken wir uns so zur Expropriation im Grossen.«250 Nicht alle in der Vorkämpferin vermittelten Hypergüter sind als anarchistisch zu identifizieren. So wurde wiederholt auch das Frauenstimm- und Wahlrecht eingefordert 251 oder die Praxis der Abstinenz propagiert, also reformistische respektive lebensreformerische Elemente eingeflochten.252 Tagesaktualitäten spielten eine gewichtige Rolle in der Konstruktion und Konstitution der kollektiven Identität in der Vorkämpferin. Eine Vielzahl relevanter Passagen findet sich in den für Tagesaktualitäten reservierten Rubriken »Im Land herum« und »In der Welt herum«, wo der tägliche Arbeitskampf katalytisch produktiv war. Der tagesaktuelle Beitrag »Es geht doch nichts über Gerechtigkeit und Menschenliebe«253 liefert ein Beispiel für die Verstärkung der kollektiven Identität im Falle von Repression über eine emotionalisierte Empörung als konstituierende Komponente. Im Bericht wurde über einen verhafteten und mehrere Tage festgehaltenen Streikposten in Kreuzlingen und die daraus entstandene missliche Lage seiner Frau im Wochenbett abschließend festgehalten: »Nur zu, Ihr Herren! Diese Frau wird, sobald sie vom Wochenbett aufsteht, sich der neugegründeten Kreuzlinger Arbeiterfrauen-Organisation anschließen. Nur zu, ihr Herren! Ihr öffnet den Arbeiterfrauen die Augen und sorgt vortrefflich für die Vernichtung der durch Schule und Kirche anerzogenen Illusionen!«254

248 | Scheuermeyer, Bertha, »Arbeiterinnen, organisiert euch!«, Die Vorkämpferin, Weihnachtsnummer, 1906, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. 249 | Vgl. »Mieterstreik«, Die Vorkämpferin, 1.3.1908, Jg. 2, Nr. 11, S. 1-3, oder A.I., »Die Wohnungsnot der Armen! Wo ist Hilfe?«, Die Vorkämpferin, 1.3.1909, Jg. 3, Nr. 11, S. 1-2. 250 | Vgl. »Mieterstreik«, Die Vorkämpferin, 1.3.1908, Jg. 2, Nr. 11, S. 3. Das Konzept der Selbsthilfe findet sich immer wieder. »Aber wer soll helfen, wer soll uns helfen? fragst [sic] du. Niemand kann das für dich, für uns. Wir müssen uns selbst helfen, wir alle, Frauen und Männer der Arbeit.« (Sorge, Mathilde, »Ein Brief an die Frauen.«, Die Vorkämpferin, 1.5.1908, Jg. 3, Nr. 1, S. 6). 251  |  Vgl. stellvertretend ausführlich »Das allgemeine Frauenstimmrecht«, Die Vorkämpferin, 1.12.1907, Jg. 2, Nr. 8, S. 1-2, oder stichwortartig »Wenn wir arbeitenden Frauen jetzt das Stimmrecht hätten ...«, Die Vorkämpferin, 1.11.1907, Jg. 2, Nr. 7, S. 1. 252 | Vgl. etwa M.T.S., »In der Welt herum: In England«, Die Vorkämpferin, 1.4.1908, Jg. 2, Nr. 12, S. 4, oder »Im Lande herum: Und wiederum«, Die Vorkämpferin, 1.6.1908, Jg. 3, Nr. 2, S. 1-2. 253  |  »Im Land herum: Es geht doch nichts über Gerechtigkeit und Menschenliebe«, Die Vorkämpferin, 1.9.1906, Jg. 1, Nr. 5, S. 2-3. 254  |  Ebd., S. 3.

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Auch weitere positive und negative Hypergüter wurden in der Vorkämpferin anhand von Tagesaktualitäten vermittelt, etwa das Privateigentum 255 oder die als affirmativ für den Kapitalismus gedeutete Rechtssprechung256. Selten boten auch anarchistische Ereignisse Anlass für Identitätsarbeit in der Vorkämpferin. Die kantonale Ausweisung des Genfer Anarchisten Luigi Bertoni etwa bot Raum zu einem traditionalistischen Akt in der Form einer nationalistischen Rekuperation. Indem die Apologie Bertonis der Ermordung des italienischen Königs Umberto I. mit dem Mord Willhelm Tells an Gessler gleichesetzt wurde, wurde an die patriotische Ader der Leserschaft appelliert und mit humoristischem Unterton ein traditionalistischer Anschluss an den gesamtgesellschaftlichen Diskurs konstruiert: »Und Bertoni? Der hat einen Artikel für den Tyrannenmord drucken lassen – im Land des Tyrannenmörders Tell. – Aber die Sache ist eben die: der Tyrann, gegen den er schrieb, Umberto, liegt noch nicht so weit in der Vergangenheit zurück, wie der Tyrann Gessler. Es würde sich vielleicht empfehlen, eine Bestimmung zu erlassen [...] welche eine feste Frist von einigen Jahren setzt, von welcher an den Tyrannenmord verherrlichen gestattet ist! Ja, empfohlen wird – zum Zwecke nationaler Begeisterung!«257

Eine identitätskonstituierende Wirkung kann in der Vorkämpferin auch in der Repression erkannt werden. Das zeigt sich vollumfänglich im Artikel »August-Feuer«258 zum Nationalfeiertag 1908: »Unsere Zusammenkünfte werden von Spitzeln überwacht, [...] Versammlungen werden von der Behörden untersagt (28. Juni, Sitten), einfache Gewerkschaftsversammlungen werden von den Behörden ›nicht erlaubt‹ (5. Juli, Montreux). Wir haben in unserem ›Vaterlande‹ keine Versammlungsfreiheit! Unsere Broschüren und Zeitungen dürfen nicht einmal mehr gratis verteilt werden. Sogar für Broschüren, die man vor der Drucklegung zum Ueberfluss dem Justiz- und Polizeidepartement zur Prüfung vorlegte, wird man in irgend einem anderen Kanton von einer andern Polizei ins Gefängnis geworfen und hoch gebüsst. Und wenn sich jemand erlaubt, über Willkür der Polizei zu schreiben, so wird er von der hohen Obrigkeit am helllichten Tage auf offener Strasse einfach überfallen und verprügelt. Wir haben in unserem ›Vaterlande‹ wahrlich keine Pressefreiheit!«259

255  |  Das Privateigentum wurde als Grundübel verhandelt. Dies, weil private Willen oft leer standen im Sommer. »Keine Menschenseele wohnt in den langen Reihen prächtiger Villen, denn die Herrschaften, denen sie gehören, sind den ganzen Sommer über in den Bergen, in den Bädern oder auf Nordlandreisen. [...] Wir kennen den Grund auf dem all das Elend aufgebaut ist! [...] Wir kennen Dich, Privateigentum! Unsinn aller Welt!« (»Im Land herum: Ueber Arbeiter-Wohnungen«, Die Vorkämpferin, 1.10.1906, Jg. 1, Nr. 6, S. 2). 256  |  »Es ist eben der Staat dieser Herren!« (»Im Land herum: Hohe Steuern«, Die Vorkämpferin, 1.3.1907, Jg. 1, Nr. 11, S. 3), lautet die anarchistische Weltdeutung in der Konklusion konzis. 257 | »Im Land herum: Die Auslegung unserer bisherigen Gesetze«, Die Vorkämpferin, 1.2.1907, Jg. 1, Nr. 10, S. 3. 258 | »August-Feuer«, Die Vorkämpferin, 1.8.1908, Jg. 3, Nr. 4, S. 1-2. 259  |  Ebd., S. 1. (Herv. i.O.).

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Die Vorkämpferin positionierte sich und ihre Leserschaft damit im Anschluss an offizielle GegenMaßnahmen als Gemeinschaft außerhalb des Staates, den sie so (abermals) als durchwegs maligner Feind begriff und beschrieb. Diese konsequente Ablehnung gipfelte schließlich im Wunsch nach Zerstörung des Staates, rhetorisch abgebildet in Form des Verbrennens seiner gesetzlichen Grundlage in einem Freiheitsfeuer: »›Unsere‹ Gesetze werden gegen uns ausgelegt, und wo sie nicht genügen, entsprechend ›ergänzt‹ von denen, die [sie, d.V.] mit Gewalt ›von uns bekommen‹ haben – oder [werden, d.V.] wo das nicht geht, ganz einfach von diesen Machthabern selber übertreten. – Unsere Gesetze sind Papier, Papier, Papier. – Und all dieses betrügerische, verhängnisvolle Papier in unserem Ländchen in grosse Haufen zusammenrechen und es brennen, brennen, brennen lassen – das wäre das einzig richtige, das einzig würdige und das einzig wahre Freiheitsfeuer für den 1. August 1908!«260

Die These, dass sich in anarchistischen Kreisen durch erhöhte Repression statt Mäßigung und Zähmung Befeuerung des revolutionären Geistes einstellt, wird durch diesen Artikel bestätigt.

4.2.7.2 Zusammenfassung Im offiziellen Organ des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes sind mehrere Komponenten der Konstruktion und Konstitution kollektiver Identität zu finden. Die überwiegende Mehrheit der Identitätsarbeit wird in der Vorkämpferin mit der Vermittlung von Hypergütern geleistet, die häufig von Tagesaktualitäten, seltener von aanarchistischen Ereignissen oder staatlichen Eingriffen induziert werden. Daneben sind wiederholt auch kontradiktorische Identitätskonstitutionsmechanismen produktiv in Gestalt nationalistischer und religiöser Rekuperationen, die zur Positionierung oder Festigung der kollektiven Identität bemüht werden, und die an anderen Stellen als negative Hypergüter portiert werden. Eigen ist dem Blatt unter der Redaktion von Margarethe Hardegger-Faas die nachdrückliche Betonung der Wichtigkeit der Praxis auf dem Weg zu einer neuen, gerechten Gesellschaft. Diese wird in Form von Selbsthilfe-Projekten konkret als nachhaltige Lösung der Sozialen Frage immer wieder thematisiert. Wie in anderen Titeln auch finden sich zudem auch in der Vorkämpferin Verschränkungen identitätskonstituierender Elemente. Von 1906-1909, also in den drei Jahren, in denen die Vorkämpferin von Margarethe Hardegger-Faas redaktionell geleitet wurde, lässt sich eine anarchoide, schließlich auch anarchistische und – genauer – anarcho-sozialistische kollektive Identität der Gemeinschaft skizzieren, die sie repräsentierte. Sie gestaltet sich als kämpferisch und an einer radikalen Umgestaltung der Verhältnisse interessiert. Die fundamentale Kritik an Staat und Kapitalismus, die vermittelten Werte und Ideale einer Gesellschaft auf der Basis gegenseitiger Hilfe und genossenschaftlichen Wirtschaftens, nicht zuletzt der Hang zur Direkten Aktion, der nicht von der Hoffnung auf Erlösung lebt, sondern diese selbst induzieren will, lässt eine Bezeichnung der Vorkämpferin als Zeitung mit starken anarchistischen Tendenzen richtig erscheinen, auch wenn in Selbstbezeichnungen nie Anarchie-Begriffe zur 260  |  Ebd., S. 2. (Herv. i.O.).

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Anwendung kommen. Eine weitere Eigenheit der kollektiven Selbstbezeichnung der Vorkämpferin ist, dass sie einerseits genderspezifisch ausfällt, dass gleichzeitig aber immer auch ein universalistisches, genderübergreifendes ›Wir‹ geführt wird, das ebenfalls bei der Identitätskonstitution produktiv ist. Abgesehen von der geschlechtlich codierten subidentitären Kluft lassen sich keine nennenswerten Grabenkämpfe ausmachen. Debatten oder ähnliches lassen sich nicht nachzeichnen. Dennoch muss man davon ausgehen, dass Richtungskämpfe im Hintergrund geführt wurden, da die immer deutlicher dem Anarchismus zugetane Chefredaktorin Margarethe Hardegger-Faas genau deswegen ihres Postens enthoben wurde. Eine eigentliche Häufung identitätskonstituierender Artikel konnte nicht festgestellt werden. Auch wenn die Richtung inhaltlich immer deutlicher anarchistisch ausfällt zum Ende der betrachteten Periode, ändert sich die Kadenz dahingehender Beiträge nicht.

4.2.7.3 Bibliografische Details (1) Die Vorkämpferin: Offizielles Organ des schweizerischen Arbeiterinnenverbandes, verficht die Interessen aller arbeitenden Frauen (1.5.1906-1.12.1914), Sozialdemokratische Arbeiterinnen-Zeitung der Schweiz (1.1.1915-1.1.1916), Verficht die Interessen der arbeitenden Frauen. Herausgeber: Schweizer. Arbeiterinnenverband (1.2.1916-1.4.1918), Verficht die Interessen der arbeitenden Frauen (1.5.1918-1.12.1920); (2) Schweizer. Arbeiterinnenverband (1.5.1906-1.4.1918), Frauenkommission der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (1.5.1918-1.12.1920); (3) Margarethe Hardegger-Faas (1.5.1906-1.4.1909), Marie Walter ( Hüni) (1.5.19091918), Rosa Bloch (1.6.1918-1.12.1920), um 1918 Mitarbeit von Clara Zetkin; (4) Zürich; (5) 1.5.1906-1.12.1920; das Blatt erschien monatlich und in der Regel 4-seitig; unregelmäßig erschienen vereinzelte Nummern mit bis zu acht Seiten (z.B. Jg. 1, Nr. 4), Bis und mit 1909 begann der Jahrgang jeweils am 1. Mai, ab 1910 mit dem 1. Januar. (6) »Beilage zur ›Vorkämpferin‹« (1.5.1906), »Beilage zur ›Vorkämpferin‹: Die Privatproduktion« (1.8.1906), »Beilage zur ›Vorkämpferin‹: Delegiertentag des Schweizerischen Arbeiterinnen-Verbands« (1.4.1908), »Beilage zur ›Vorkämpferin‹: Jahresbericht des Schweizerischen Arbeiterinnen-Vereins« (1.4.1909); (8) Die arbeitende Frau; (9) Schweizerisches Sozialarchiv Zürich MFB 19:1; (10) Gedruckt wurde die Vorkämpferin von der Buchdruckerei Conzett & Cie. Die Redaktionsarbeit wurde zumindest von Hardegger-Faas unentgeltlich gemacht.261 Zur Auflage sind in der Vorkämpferin keine verbindlichen Bemerkungen zu finden,262 Hardegger-Faas spricht aber an einer Stelle von »[...] zweitausend Frauen und Mädchen, welche die ›Vorkämpferin‹ lesen [...]263«. Im französischsprachigen Pendant, der L’exploitée, wird von einer identischen Auflage der Vorkämpferin und 261  |  Vgl. »Verbandstag des Schweiz. Arbeiterinnenverbandes in der Burgvogtei in Basel«, Die Vorkämpferin, 1.6.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. 262 | Ein vielversprechender Hinweis in der »Beilage zur ›Vorkämpferin‹: Delegiertentag des Schweizerischen Arbeiterinnen-Verbands« vom 1.4.1908 enthält wohl einen Verweis auf einen Anhang, der über die Zahl der AbonnentInnen 1907 orientieren sollte. Der entsprechende Anhang konnte aber nicht gefunden werden. Vgl. »Beilage zur ›Vorkämpferin‹: Delegiertentag des Schweizerischen Arbeiterinnen-Verbands«, 1.4.1908, S. 1. 263  |  »Im Land herum: An der Generalversammlung [...]«, Die Vorkämpferin, 1.1.1908, Jg. 2, Nr. 9, S. 3.

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der L’exploitée gesprochen, die rund 2400 Stück umfasste.264 Wiederkehrende Rubriken sind »Im Land herum« in denen von lokalen Arbeitskämpfen aus der Schweiz berichtet wird. In der Rubrik »Brief kasten« werden auf knappstem Raum Briefe an die Vorkämpferin beantwortet, wobei die Briefe an sich weder paraphrasiert noch ganz abgedruckt oder erwähnt werden. Ab Jg. 1, Nr. 3 gibt es auch die selbsterklärende Rubrik »Feuilleton«. Die Rubrik »Ausland« taucht unregelmäßig auf, zuweilen auch unter dem Titel »Auf der Welt herum«. Neben hochdeutschen finden sich auch schweizerdeutsch formulierte Texte in der Vorkämpferin.265 Die Finanzierung lief über AbonnentInnen und Spenden der einzelnen Sektionen des Arbeiterinnenverbandes in den dafür eingerichteten Pressfonds. Weitere Einnahmequellen waren Inserate. Erstaunlich oft sind darunter Werbungen für Putzmittel und Frisiersalons zu finden, was die Doppelbelastung und die Zwänge der Zeit zu illustrieren vermag: Neben der Mühsal der Lohnarbeit, so scheint es, war auch die Putzarbeit reine Frauensache, und auch die normative Repräsentationsfunktion, die Frauen offenbar um jeden Preis zu erfüllen hatten, schien eine weitreichende Wirkungsmacht gehabt zu haben.266 Mit der L’exploitée erhielt die Vorkämpferin am 1.5.1907 ein Schwesterblatt in der französischsprachigen Schweiz.267 Der anarchistische Ton der Vorkämpferin hallt nicht nur aus den selbst verfassten Artikeln wider, sondern auch aus wiederkehrenden Beiträgen von anarchistischen Autoren wie John Henry Mackay oder Max Stirner. Ebenfalls zu lesen sind Artikel von Autoren, die auch in anderen lokalen anarchistischen Zeitungen veröffentlichten wie z.B. U.W. Züricher.268 Diese Gastbeiträge mit anarchistischen Tendenzen nehmen zu bis zur Entlassung der ersten Chefredaktorin Margarethe Hardegger-Faas.

264  |  Vgl. La Rédaction, »Aux amis et amies de l’EXPLOITÉE«, L’Exploitée, 7.6.1908, Jg. 2, Nr. 2, S. 1. 265  |  Vgl. »Aus den Sektionen des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes: Maiausflug«, Die Vorkämpferin, 1.6.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 4. 266  |  Vgl. die Anzeigen für den Damen-Frisier-Salon Winter und die Boden-, Möbel- und Linoleumwichse von Stierli in Die Vorkämpferin, 1.9.1906, Jg. 1, Nr. 5, S. 4. 267 | »Werte Genossinnen!«, Die Vorkämpferin, 1.5.1907, Jg. 2, Nr. 1, S. 8. Vgl. auch Kap. 4.4.13 L’Exploitée. 268  |  Vgl. etwa Züricher, U.W., »Vom Erziehungstalent«, Die Vorkämpferin, 1.10.1908, Jg. 3, Nr. 6, S. 4.

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4.2.8 Der Sozialist Abbildung 9: Der Sozialist, 15.7.1909, Jg. 1, Nr. 11. (SozArch Zürich, ZZ 180)

4.2.8.1 Relevante Er wähnungen Der Sozialist stellt eine ergiebige und vielseitige Quelle dar. Von den als relevant verstandenen Identitätskonstituenten ist die Vermittlung von positiven Hypergütern besonders augenfällig. So wurden im Leitartikel der zweiten Ausgabe sowohl ein beispielhaftes Vorangehen, die Umsetzung der revolutionären Ziele im Jetzt, als auch die Abwesenheit jeglicher Hierarchie als zentrale Werte der Gemeinschaft präsentiert. »Nicht warten! heisst unsere Losung. Keine Trennung mehr zwischen Zuständen der Gegenwart, Uebergangsgärung und wunderbarer Zukunft [...] Wir sind nicht Menschen, die von einem Ziel getrennt sind und darum Forderungen stellen und ein grosses Ereignis abwarten [...]. Wir sind unterwegs, wir haben das Ziel in uns; wir warten weder auf Führer noch auf Gefolge; wir sind Führer, weil wir vorwärts und voraus gehen [...].«269 »Wir kennen keinerlei, nicht die geringste Zentralinstanz oder Vertretung oder Warten auf Gesamtkonferenzen.«270

Weitere Hypergüter werden in der detaillierten Schilderung des archetypischen ›Sozialistischen Bundes‹ ersichtlich, der als freie Assoziation als Keimzelle portraitiert wird. In ökonomischer Hinsicht geprägt von genossenschaftlichem Konsum 269  |  gl., »Sätze vom Sozialistischen Bund«, Der Sozialist, 15.2.1909, Jg. 1, Nr. 2, S. 9. 270  |  Ebd., S. 10.

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und genossenschaftlicher Produktion, von zinslosen Krediten sowie einer Tauschbank.271 Selbst grundlegende Hypergüter werden nicht zwingend als fixiert angeführt, wie die Einschätzung der eigenen Weltdeutung der Gemeinschaft in und um den Sozialist zeigt. Sie wurden lediglich als die Besten im offenen und galant tolerierten Wettbewerb der Anschauungen präsentiert. So wurde die Gemeinschaft als Avantgarde inszeniert, der die Massen letztlich aufgrund ihrer imaginierten fundamentalen Richtigkeit folgen würden: »[W]enn jeder von uns seine Lebensenergie, seine Schaffensgewalt steigert [...] dann wird einst die Zeit kommen, wo wieder geeinte Menschen, die Andacht zu sich selbst und zu der innig verwandten Natur haben, auf die Berge zu steigen, um die ewige Erneuerung alles Lebens im Feuer und Licht zu begrüßen. In uns lebt sie jetzt schon, diese Zeit; wir fühlen uns als ihre Helfer; [...].«272

Als Avantgarde beleuchtete die Gemeinschaft in erster Linie ihre Fortgeschrittenheit, leugnet aber ihre Herkunft selbstkritisch nicht. Auch sie seien durch eine Phase marxistischer Konzepte gegangen, seien von zielloser Wut beseelt gewesen, hätten dies aber überwunden: »Wir, die wir heute den Zusammenhang erkennen, waren auch wir in so nutzloser Wut befangen? Ja. Wie all diese waren wir: doch unsere Augen haben sich geweitet, wir sehen tiefer und erkennen das Wesentliche. Wir erkennen: nicht eine Klasse ist bevorzugt, nicht eine Klasse vermag die Welt zu befreien; denn wir sehen diese ›unsre‹ Klasse als schlecht und schwach wie alle anderen [...].«273

In der Folge der Abgrenzung gegenüber marxistisch fundierten Bewegungen wird die von der Gemeinschaft vertretene, klassisch anarchistische Vorstellung einer universalistischen Bewegung als Ziel vermittelt und propagiert. Zu den als Hypergüter vermittelten Methoden gehören in der Gemeinschaft rund um den Sozialist Bildung und Erziehung, die in der bestehenden Gesellschaft die Menschen am Mensch-Werden behinderten, anstatt sie dahin zu führen: »[U]nsre Kinder aber liefern wir den zünftigen Erziehern aus, die sie mit dem Katechismus, dem Patriotismus und sehr geringen unschädlichen Kenntnissen bei sehr viel Vergeudung von Zeit, die für nutzlosen Kram vertan wird, vollstopfen. [...] So bedarf es dann der äußersten Anstrengung der Propagandisten, um ein paar von ihnen der Gefahr zu entreissen, im Schlund der philisterhaften Gewöhnlichkeit zu versinken«.274

271  |  Vgl. ebd., S. 9. 272  |  gl., »Der erste Mai«, Der Sozialist, 1.5.1909, Jg. 1, Nr. 6, S. 43. Geradezu ein Paradefall für die Erleuchtungsrhetorik, die »in allen« die Erleuchtung sieht, die vom Wir bloß freigeschaufelt zu werden braucht, ist der Artikel »Neue Freunde«, mit dem Landstreicher angeworben werden sollen, da sie schließlich schon Teile des Ideals des Wir leben, nämlich außerhalb der Gesellschaft. Vgl. Mühsam, Erich, »Neue Freunde«, Der Sozialist, 1.8.1909, Jg. 1, Nr. 12, S. 89-91. 273  |  fl., »Um uns das Leben«, Der Sozialist, 15.7.1909, Jg.1, Nr. 11, S. 85. 274  |  N., »Die Fortführung von Ferrers Werk«, 15.11.1909, Jg. 1, Nr. 19, S. 146.

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Nach einer Kategorisierung der gängigen Erziehung als negatives Hypergut – sie wird als Verursacherin und Pflegerin der Zustände dargestellt 275 – wurden gemeinschaftseigene positive Hypergüter präsentiert, wie »[...] die kommende Generation zu Freunden und Gefährten der fotschrittlichen Elemente ihrer Zeit zu machen [...]«276. Dazu tauge nur eine »[...] Erziehung, die von dem Gedanken ausgeht, dass die Kinder nur das Beste vom Besten haben müssen; dass Kunst und Wissenschaft nicht Luxusartikel zum Gebrauch der Reichen sind, sondern dass jedem einzelnen Menschengeist geholfen werden muss, zu ihnen zu gelangen; dass die Kinder freie Männer und Frauen und nicht biegsame, unterwürfige Geschöpfe werden sollen.«277 In diesem Rahmen werden wiederum weitere wichtige Hypergüter der Bewegung transportiert: die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft oder die Gleichheit unter den Geschlechtern ebenso wie eine allumfassende Freiheit und Unabhängigkeit. An anderer Stelle werden die Erwartungen der Gemeinschaft an die freien Schulen und deren Aufgaben weiter ausgeführt.278 Erreicht werden sollte dies mit selbstbestimmten Lerninhalten, die nur dann wirklich frei gewählt werden könnten, wenn Staat und Kirche absent seien.279 So wurde die Herrschaftslosigkeit als Grundbedingung für die Freiheit positioniert und gefestigt. Als typisches Hypergut war die in vielen Artikeln geäußerte Verschränkung von Methode und dem präfigurativ umgesetzen Ideal, die Zukunftsgesellschaft in experimententellen Siedlungen zu leben: »Der echte, ganze, lebendige, aus dem Geiste geborene und den Geist wiederum zeugende Sozialismus erwacht in der sozialistischen Siedlung, und von ihr aus leuchtet er weit hinaus ins Land und ins Volk«.280 Der so gelebte Anarchismus sollte gleichzeitig Propagandainstrument und Methode sein, den kapitalisitischen Staat implodieren zu lassen. Bedingung für eine solche Durchschlagkraft sei die Neugestaltung des Ich der Menschen: »Euch selbst müsst ihr töten, so wie ihr jetzt seid. Den andern Menschen in euch müsst ihr herauflassen, und euch dann in neuem Geiste neu verbinden. Was in euch ist und was zwischen euch ist, was ihr tut und was ihr duldet, das ist der Feind.«281 Die Vermittlung dieser Ideale und der darin begründeten Sinndeutung, das Selbst als kleinste relevante Einheit einer zukünftigen Gesellschaft zu sehen, geschah im Sozialist oft in Verschränkung mit Framing-Prozessen gegenüber marxistischer Sinndeutung, die als »verderbliche Lehre«282 bezeichnet wurde.283 Auch wenn Beiträge zu fin275  |  »Das tatsächliche Erziehungsmonopol, das die reaktionären Kräfte zu aller Zeit innehatten, ist die wirkliche Ursache der Fortdauer dieses Systems ›freiwilliger Knechtschaft‹, unter dem wir leiden;« (ebd., S. 147). 276  |  Ebd., S. 146. 277  |  Ebd., S. 148. 278 | Konklusiv hieß es: »Fort mit der Einmischung des Staats und der Kirche in unsere Schulen! Freiheit der Schule! Selbstbestimmung der zu Schulgemeinden vereinigten Eltern über ihre Kinder!« (»Aufruf zur freien Schule«, Der Sozialist, 15.1.1910, Jg. 2, Nr. 2, S. 16). 279  |  Ebd., S. 16. 280  |  gl., »Die Siedlung«, Der Sozialist, 15.7.1909, Jg. 1, Nr. 11, S. 81-83, hier S. 81. Die Siedlungen genannten Realimplikationen sind in zahllosen Artikeln Thema. 281 | ab., »Einkehr«, Der Sozialist, 15.6.1909, Jg. 1, Nr. 9, S. 71. 282  |  Ebd., S. 68. 283  |  So wird etwa das der marxistischen Theorie gemäß Autor ›ab‹ implizite Schulddenken karikierend kritisiert und mit eigenen Vorstellungen von AkteurInnen kontrastiert im Hinblick

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

den sind,284 in denen hauptsächlich positive Identitätskonstitutionsmethoden produktiv sind, sind es in der Mehrheit negative Framing-Prozesse die Gemeinschaft schaffen und unterhalten. Auch der Leitartikel der ersten Nummer beschreibt und affirmiert das gemeinschaftliche ›Wir‹ als eine primär von der Sozialdemokratie enttäuscht abgewandte, weil eingeengte Gemeinschaft: »Wir sahen die Bewegung, die wir so heilig erfasst, sich ausbreiten, ausbreiten, ausbreiten – und verflachen. Wollten wir in die Tiefe gehen, in welcher Frage auch immer, gleich kamen die Weisen und mahnten: ›still! still! Erschreckt uns nicht die Leute! Das stösst sie von uns ab‹«.285

Der Raum, den die negative Absetzung gegenüber marxistischen Standpunkten aufriss, wurde schließlich mit eigenen positiven Hypergütern wie dem Universalismus gefüllt: »Weil wir eine Bewegung nur soweit für zukunftssicher halten, als sie Kulturbewegung ist, darum wollen wir ›Illusionisten‹ keine blosse Klassen-Interesse-Bewegung, sondern eine Menschheits-Bewegung.«286 Neben gegen außen gerichteten Framing-Prozessen sind auch subidentitäre Demarkationen im Sozialist konstitutiv. So beispielsweise im Beitrag »Der Krieg«. Darin positioniert sich die Gemeinschaft abgrenzend gegenüber der stark theoretisch ausgerichteten anarcho-kommunistischen Strömung: »Wir haben heute mehr als je die unheilvolle Gabe, die Zukunft zu eskomptieren; im Traum, in der Idee zu leben und uns mit diesem Schattengewebe schon zufrieden zu geben [...] Wir machen uns aber nicht klar, dass alles nur Anbequemungen, Anpassungen sind, dass es nur die erträglichste Art ist, es in [sic] Unerträglichen auszuhalten.« 287

Dieser Täuschung entgegentretend wurde auf bauend formuliert: »Sammeln wir uns zum Bau der neuen Wirklichkeiten; zur Errichtung unserer Gemeinschaften, zur Zusammenlegung unserer wahrhaften Interessen. Begnügen wir uns aber ja nicht damit, uns mit Ideen und Rufen und Agitationen oder mit geistigen Spielen und Moden irgend einer Art einzulullen und abzuwenden. [...] machen wir die Trennung zwischen der Gesellschaft, die kommen soll, und dem Staat, der überwunden werden soll, schneidend; beginnen wir mit dem Bau der Gesellschaft; sammeln wir uns als Bekenner, die nicht bloss mit dem Munde, sondern mit der ganzen Lebensführung bekennen.«288

auf die Analyse des bedauernswerten Zustandes der Welt: »Der liebe Gott oder die böse Entwicklung sollen schuld sein! Aber der liebe Gott und die heilige Entwicklung werden uns nicht erlösen!; Da müssen wir schon unser eigener Gott und der Träger und Verkörperer unserer Entwicklung sein.« (Ebd., S. 70). 284  |  Vergleiche für einen in der Mehrheit utopistischen Ausblick fl., »Das Sozialistendorf«, Der Sozialist, 1.10.1909, Jg. 1, Nr. 16, S. 125-127. 285  |  M., »Unser Woher – Unser Wohin«, Der Sozialist, 15.1.1909, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 286  |  Ebd., S. 2. (Herv. i.O.). 287  |  ab., »Der Krieg«, Der Sozialist, 1.4.1909, Jg. 1, Nr. 4, S. 25. 288  |  ab., »Der Krieg«, Der Sozialist, 1.4.1909, Jg. 1, Nr. 4, S. 27.

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Gleich mehrere Spitzen, die als subidentitäre Framing-Prozesse zu lesen sind, wurden gegen Anarcho-Kommunisten289 im Bericht über den Kongress Deutscher Anarchisten von 1910 im ostdeutschen Halle an der Saale geritten290 und auch der Artikel »Die Siedlung« schlug in dieselbe Kerbe: »Unser Fortgehen [aus der Gesellschaft, d.V.] ist nicht um unsres Behagens willen, sondern um unsretwillen, das heisst um der Revolution willen. Gerade dieses Wort sei gebraucht, um recht deutlich die Grenze zu ziehen gegen die Eigenbrödler, die nicht aufs Ganze gehen und keine Ahnung haben, welche ungeheure geschichtliche, Geist und Zustände neuschaffende und umwälzende Bedeutung unsre Bewegung haben muss, wenn sie unsre sein soll; um uns abzuheben auch von denen, die sich gewohnheitsmässig in Schlaf und Halbwachen, Revolutionäre heissen, aber nicht viel anderes wissen, als von den pfuscherhaften Wildheiten, die sie Revolution nennen, zu reden.« 291

Anarcho-KommunistInnen hätten Wildheit und Revolte vom Mittel zum Zweck und schließlich zum Programm gemacht, hieß es demarkierend in einem weiteren Artikel: »Glauben denn die Mundrevolutionäre unserer Tage, unser Herz sei nicht ebenso voll wie ihres von Wut und Glut? Wir unterscheiden uns nur in einem von ihnen, aber in Entscheidendem: sie haben sich daran gewöhnt, den Ausbruch um seiner selbst willen zu lieben; gleichviel was kommt, es muss etwas geschehen! Und selbst das ist noch zu viel gesagt: denn die meisten von ihnen können für absehbare Zeiten nicht an den Ausbruch ernster Natur im Ernste glauben. Sie haben sich daran gewöhnt, Wilde zu sein, Wildheit auszuatmen, Wut zu reden. Sie wollen den Zustand ihrer Empörtheit. [...] Wir aber wollen, dass die Empörtheit zu einem Ziele führt; uns ist die Zerstörungsstimmung nicht Selbstzweck. Wir 289  |  Der maskuline Genus ist hier bewusst gewählt, da am Kongress keine einzige Frau teilnahm, wie Autor ›fl.‹ bedauernd festhält. Vgl. »Aus der Bewegung: In Halle«, Der Sozialist, 1.6.1910, Jg. 2, Nr. 11, S. 87. 290  |  Emotionalisierend hieß es, die Anarcho-Kommunisten verfügten über »keine Herzlichkeit, keinen warmen Händedruck, kein liebes Wort füreinander [...] Sie hassen die Menschen, die die Herrschaft ausüben, und wollen nicht wissen, dass des Uebels Ursache viel tiefer, im Gefühl und im Bewusstsein der einzelnen liegt [...].« (fl., »Kurze Notizen vom Kongress Deutscher Anarchisten«, Der Sozialist, 1.6.1910, Jg. 2, Nr. 11, S. 84-85). Am meisten – gegenseitige – Mühe scheint die Tatsache bereitet zu haben, dass sich die Föderation Deutscher Anarchisten in der Person von Berthold Cahn bestimmt klassenorientiert gab und den Anarcho-Sozialisten vorwarf, dies nicht zu tun, weswegen Cahn die Bestrebungen beider Richtungen als unvereinbar verbriefen lassen wollte. In der Analyse verweigert ihm Autor ›fl.‹ daraufhin die Bezeichnung ›Anarchist‹, da sein klassenkämpferischer Ton ihn als Marxisten verrate. Vgl. fl., »Kurze Notizen vom Kongress Deutscher Anarchisten«, Der Sozialist, 1.6.1910, Jg. 2, Nr. 11, S. 86. 291  |  gl., »Die Siedlung«, Der Sozialist, 15.7.1909, Jg. 1, Nr. 11, S. 81. Detailliert setzte sich Landauer auf Drängen eines Lesers in einem längeren Artikel auseinander. Vgl. Landauer, Gustav, »Ein Brief über die anarchistischen Kommunisten«, Der Sozialist, 1.11.1910, Jg. 2, Nr. 21, S. 161-166. Vgl. explizit für die Situation in der Schweiz auch Faas-Hardegger, Margarethe, »Die Heimarbeit in der Schweiz«, Der Sozialist, 15.9.1909, Jg. 1, Nr. 15, S. 115-120, bes. S. 115 und S. 116.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse suchen nach Mitteln zum Beginn des Sozialismus, zur Vorbereitung und Durchsetzung der Freiheitsordung.«292

Auch hier wirkte sich die Absetzung innerhalb der eigenen Bewegung positiv auf die Vermittlung von Hypergütern aus und schärfte damit die kollektive Identität. Analog zur Abgrenzung gegen anarcho-kommunistische Positionen ist auch subidentitäres Framing gegenüber anarcho-syndikalistischer Agitation auszumachen. Etwa wenn über die französischen Anarcho-Syndikalisten um Emile Pouget und Fernand Pelloutier das Urteil gefällt wurde, dass sie »[...] genauso skrupellose Politiker waren wie die Parlamentarier«293 und damit jenen gleichgesetzt wurden. Im Zuge dieser Absetzung vermittelte und akzentuierte der Sozialist schließlich die Welt- und Sinndeutung seiner Gemeinschaft: »[D]er Kampf des Sozialismus soll nicht um die Befehlsmacht über die andern, auch nicht um die aus dem Chaos geborene Befehlsmacht über die Zustände gehen, sondern um die tatsächliche Macht, die sich im Gegensatz zum Staat und zur kapitalistischen Gesellschaft durch sozialistische Arbeit neu aufbaut. Die sind noch immer tief im Staat befangen, die nichts anderes zu tun wissen, als ihn zu bekämpfen. Die sind ganz und gar Sklaven des Kapitalismus, die nicht anders zu arbeiten wissen, als für die Herren und ihren Markt. Staat und Kapital sind ja doch keine solche [sic] Wirklichkeiten, wie lebendige Organismen; sie sind ja doch nur Namen für das, was Menschen tun, lassen und dulden. Der rechte Kampf gegen Staat und Kapital beginnt damit, dass man sie ignoriert. [...] Wie viele gibt es, deren Kampf gegen Institutionen nur ihre Erscheinungsform der Trägheit des Herzens und der Hände ist!«294

Das Ideal der auch psychologischen Loslösung vom Staat und die Abkehr vom Glauben an den Staat als übermächtige, unabänderliche Existenz stellten ein oft wiederholtes Wertbündel dar.295 Im Rahmen einer Selbstkritik findet sich das subidentitäre Framing nach den genannten zwei Seiten hin sogar im selben Artikel.296 Der Anarcho-Syndikalismus wurde als systemerhaltende Kraft begriffen, der Anarcho-Kommunismus als missionarische Sackgasse. Dagegen wurden Hypergüter wie das Schaffen anarchistischer Enklaven propagiert und perpetuiert: »Ein sympathisches Milieu für die freie Entfaltung von Organismen in den rechten Verhältnissen, die sich in die Sachen anderer nicht einmischen und das nämliche für sich beanspruchen würden – das zu Stande zu bringen, nicht an einem oder zwei vereinzelten Orten, sondern allenthalben, mitten im Leben der Gewöhnlichkeit, das scheint mir eine Aufgabe für Anarchisten, die den Versuch mindestens ebenso verdient, wie alles, was jetzt geschieht.«297

Etwas paradox muten wiederholte Versuche an, trotz des ubiquitären subidentitären Framings eine pan-anarchistische Gemeinschaft zu etablieren: 292  |  y., »Die zwei Seiten«, Der Sozialist, 15.6.1909, Jg. 1, Nr. 9, S. 66-67. 293  |  G.L., »Die französischen Syndikalisten«, Der Sozialist, 1.6.1909, Jg. 1, Nr. 8, S. 57. 294  |  Ebd., S. 58. 295  |  Vgl. analog gl., »Brot«, Der Sozialist, 1.6.1911, Jg. 3, Nr. 11, S. 81-82. 296  |  Vgl. N., »Ketzergedanken (Fortsetzung)«, Der Sozialist, 1.9.1911, Jg. 3, Nr. 17, S. 136. 297  |  Ebd., S. 136.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Der Sozialistische Bund [...] hat [...] die innigste Interessengemeinschaft mit all den Kampfbewegungen, die für Freiheit und Selbstbestimmung, gegen Feudalismus und Unterdrückungspolitik angehen [...]. Wir brauchen [...] eine viel grössere Mannigfaltigkeit der freiheitlichen Bewegungen [...] ein viel grösseres Gemeinschaftsgefühl und den Drang nach Zusammengehen in den verschiedenen Richtungen der Oppositionsarmee [...] Wir sind daher gut Freund mit den Sozialdemokraten, den bürgerlichen Demokraten [...], den Gewerkschaftlern der verschiedenen Richtungen, den Anarchosozialisten und Anarchisten verschiedener Färbung [...].«298

Dieses signalisierte Gemeinschaftsbedürfnis, der Integrationswille und der bedingungslose Universalismus wurde aber umgehend relativiert. Abgerundet wurde dieser Lobgesang auf Einigkeit in der Bewegung nämlich wieder mit einer Zote gegen die Sozialdemokratie: »Wir wären in Deutschland viel weiter voran, wenn nicht die Sozialdemokratie mit ihrem abscheulichen Doktrinarismus und ihrem Geist der Verketzerung und des pseudowissenschaftlichen Hochmuts wäre, der sie selbst zur Unfruchtbarkeit verdammt und freie Richtungen neben ihr nicht aufkommen lässt.«299 Momente der begrifflichen Selbstverortung fanden im Sozialist in der Regel verquickt mit der Vermittlung von Hypergütern statt: »Dass mit Attentaten nichts genützt ist, das ist es nicht allein, weshalb wir sie nicht gutheissen; warum wir Attentate verneinen, kommt wohl weit mehr daher, dass wir die Mittel und Waffen der Barbarei, das Faustrecht, die Unterdrückung und das Blutvergiessen von Menschen durch Menschen gründlich satt haben, und weil unsere Anarchie Herrschaftslosigkeit und unser Sozialismus Gerechtigkeit bedeutet«. 300

Neben der positiven Konnotation, die der Anarchie-Begriff erfuhr, wurden Hypergüter wie der Verzicht auf Gewalt und die präfigurative Praxis der Gemeinschaft affirmiert. In dieselbe Kategorie fällt auch der Kurzbericht »Aus der Bewegung: Aus Hamburg«.301 »Weshalb liebten wir als Bezeichnung für unser Wollen und unsere Ideen das Wort Anarchismus? Und weshalb lieben wir es noch? Weil der Anarchismus, wie wir ihn verstehen, das freie Menschentum bringen soll! – Weshalb aber betonen wir heute das Wort nicht so sehr? Weil unter den Anhängern ebenso wie unter den Feinden des Anarchismus die Unklarheit über ihn furchtbar oder lächerlich gross ist.« 302 298  |  »Aus der Zeit: Am sozialdemokratischen Parlamentarismus«, Der Sozialist, 1.11.1909, Jg. 1, Nr. 18, S. 143. 299  |  »Aus der Zeit: Am sozialdemokratischen Parlamentarismus«, Der Sozialist, 1.11.1909, Jg. 1, Nr. 18, S. 143. 300  |  fl., »Gegen das Militär«, Der Sozialist, 1.3.1910, Jg. 2, Nr. 5, S. 33. 301  |  w., »Aus der Bewegung: Aus Hamburg«, Der Sozialist, 1.5.1910, Jg. 2, Nr. 9, S. 72. 302  |  Ebd., S. 72. Der Autor bezichtigt dabei den zum Thema ›Sozialistischer Bund‹ referierenden Redner am Anarchistischen Kongress vom 10.4.1910 in Hamburg der im Sinne Bakunins und Proudhons missbräuchlichen Beschränkung der Propaganda auf ArbeiterInnen und einen ausschließlichen und ausschließenden ArbeiterInnenstandpunkt, der sie letztlich dazu veranlasste, Mitglieder des ›Sozialistischen Bundes‹ fortan nicht als AnarchistInnen

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

Im Folgenden findet sich ein weiterer subidentitärer Framing-Prozess gegenüber anarcho-syndikalistisch beeinflussten Gruppen im Zusammenhang mit der Deutungshoheit der Anarchie-Begriffe, der schließlich zur Vermittlung des Hyperguts des Universalismus führte.303 Auch die Thematisierung der Selbstbezeichnung zog die Vermittlung von Hypergütern nach sich: »Eine Idee ist es, die uns bewegt, wenn wir uns Anarchisten nennen. Wir denken dabei an die freie Persönlichkeit die keinem Zwange sich beugt [...]«304 . Gültigkeit habe diese Bezeichnung aber nur dann, wenn sie dynamisch bleibe: »Sie ist nicht ein Gesetz, nicht eine Tugend, keien [sic] sittliche Lehre, kein Gebot, keine Regel – nichts von alledem!«305 Nur als Idee sei sie, und stürbe, wenn sie zu den oben genannten Formen verkomme. Einzig »in der Wertschätzung voller Gesetzesfreiheit, heiligster Regellosigkeit, vollkommenster Selbstbestimmung [...]«306 liege das Wesen der anarchistischen Idee. »In allen Lebenslagen muss dies ihr Bekenntnis sein, in tausend Lebenserscheinungen muss sie es offenbaren: dann ist sie eine Macht, lebensbewahrende, lebenerweckend [sic].«307 Einordnende Selbstbezeichnungen der Gemeinschaft sind nicht sehr häufig im Sozialist, da in der Regel mit dem Personalpronomen ›Wir‹ oder dem zugehörigen Possessivpronomen ›unser‹ operiert wurde. Anzutreffen sind die Bezeichnungen ›Sozialisten‹ und ›Wir vom Sozialistischen Bund‹. Es wurden aber – seltener – auch Anarchie-Begriffe zur Selbstbezeichnung verwendet.308 Auch die Fremdwahrnehmung findet sich öfters als Katalysator für Identitätskonstitution im Sozialist. So begann der Artikel »Vom freien Arbeitertag«309 mit den Zeilen: »man hat uns Sozialisten vom Sozialistischen Bund ganz falsch verstanden, wenn man geglaubt hat, wir wollten nur Arbeitskolonieen [sic] und Siedlungen gründen, so den Sozialismus beginnen und uns um alles andre in der Welt nichts kümmern.«310 Im Folgenden beschreibt, positioniert und versichert sich der zu bezeichnen. In einer Replik schrieb der Redner Leo Lerche: »Vom speziellen ›Arbeiteranarchismus‹ war überhaupt nicht die Rede«. Er hätte lediglich darauf hingewiesen, »[...] dass der ›S. B.‹ und seine Leute leider das Wort ›Anarchist‹ und dgl. in ihren Schriften zu vermeiden suchen« (ebd., S. 80). 303  |  Dazu wurden Bakunin und Proudhon ins Feld geführt von, die ebenso wie die Gemeinschaft des Sozialist eine universalistische Ausrichtung im Anarchismus sahen, entgegen der auf die Arbeiterklassen eingeschränkten Variante der offensichtlich stark anarcho-syndikalistisch geprägten Konferenz die am 9.4.1910 in Hamburg tagte. Autor ›w.‹ hält in einer rhetorischen Frage fest: »Nach diesem ›Arbeiteranarchismus‹ müssten Proudhon und Bakunin, die den Anarchismus begründet haben, aus dieser Sorte ›anarchistischer Arbeiterpartei‹ ausgeschlossen werden?« (Ebd., S. 72 [Herv. i.O.]). 304  |  ll., »Die Idee«, Der Sozialist, 1.8.1910, Jg. 2, Nr. 15, S. 113. 305  |  Ebd., S. 113. 306  |  Ebd., S. 114. 307  |  Ebd., S. 114. 308  |  Der Begriff Anarcho-Sozialismus, mit dem die Strömung um Gustav Landauer in der Anarchismusforschung eingeordnet wird, taucht auch im Sozialist selbst auf. Tatsächlich wehrte er sich in einem Artikel gegen diese Fremdbezeichnung, die von einer sozialdemokratischen Zeitung benutzt wurde. Vgl. gl., »Aus der Zeit: Für Parteilogik und Parteigerechtigkeit«, Der Sozialist, 1.10.1909, Jg. 1, Nr. 16, S. 128. 309  |  ab., »Vom freien Arbeitertag«, Der Sozialist, 1.10.1911, Jg. 3, Nr. 19, S. 145-146. 310  |  Ebd., S. 145.

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Sozialist seiner kollektiven Identität mit Framing-Prozessen und Hypergütervermittlung, die antinationalistische, universalistische, antikapitalistische, föderative und pazifistische Charakterzüge tragen. Tagesaktuelle Artikel identitätsrelevanten Inhalts sind trotz 14-täglichem Erscheinen des Sozialist relativ rar. Traten sie dereinst auf, wurden sie rege genutzt, wie der Artikel »Brot«311 exemplarisch zeigt. Ein Streik der Bäckereigesellen in Berlin wurde genutzt, um Hypergüter zu vermitteln und mittels identitären und subidentitären Framing-Prozessen die kollektive Identität zu formen und zu unterhalten. Von den insgesamt 117 Zeilen, die der Artikel umfasst, wurden nur gerade acht dazu verwendet, ereignisrelevante Informationen zu kommunizieren. Auf den restlichen 109 Zeilen wurde der Kapitalismus und die Untätigkeit der Massen gescholten, das eigene Tun als Schlüsselmethode zur Überwindung der Zustände, die Kraft von genossenschaftlichem Tun betont oder die eigene Gemeinschaft gegen »Bourgeoisie, Kleinbürger und Arbeiter, Liberale und Sozialdemokraten, kommunistische und individualistische Anarchisten« abgegrenzt.312 Die Sozialdemokratie wurde dabei besonders herabgewürdigt; ihr Ziel sei im Wesentlichen gleichzusetzen mit dem Status quo hieß es im Sozialist, wenn verlautbart wird, dass der »[...] so genannte Sozialismus der Marxisten nur ein verrückt konsequentes Zerrbild der kapitalistisch-bürokratischen Öde [...]«313 sei. Anarchistische Ereignisse hatten in etwa dieselbe Funktion. In einem Protestartikel über die Todesstrafe für den spanischen Anarchisten Francisco Ferrer wurde die Aufarbeitung zur Vermittlung der eigenen Ziele und Methoden genutzt.314 Auch ein im Sozialist abgedruckter Brief deutet auf die Wirkungsmacht von Tagesaktualitäten im Allgemeinen und anarchistischen Ereignissen im Speziellen für die kollektive Identität hin.315 Wie die Berichterstattung »Aus der Zeit: Der Kameradin«316 über die Verhaftung von Margarethe Faas-Hardegger im Zusammenhang mit dem wiederaufgerollten Zürcher Bomben- respektive Anarchistenprozess zeigt, diente allerdings nicht jedes anarchistische Ereignis der Konstitution und Konstruktion der kollektiven Identität.

4.2.8.2 Zusammenfassung Die Konstruktion und Konstitution kollektiver Identität erfolgt im Sozialist mit verschiedenen Methoden. Der Vermittlung von Hypergütern kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Sie werden zuweilen für sich selbst angeführt, zuweilen auch im Verbund mit anderen identitätskonstituierenden Methoden. Katalysiert werden sie durch thematisierte Fremdwahrnehmungen, durch anarchistische Ereignisse oder durch Tagesaktualitäten, die genutzt werden zur Schaffung und Schärfung der kollektiven Identität der Gemeinschaft rund um den Sozialist. Framing-Prozesse stellen einen weiteren zentralen Konstitutionsmechanismus dar. Speziell hervorzuheben sind dabei neben Abgrenzungen gegen außen die mannigfaltig auftretenden subidentitären Framing-Prozesse. Ebenfalls auffällig ist, dass diese augenscheinlich für die Gemeinschaft produktiven gewichtigen subidentitären 311 | gl., »Brot«, Der Sozialist, 1.6.1911, Jg. 3, Nr. 11, S. 81-82. 312  |  Ebd., S. 81. 313  |  Ebd., S. 82. 314  |  Vgl. ab., »Ferrer«, Der Sozialist, 15.10.1909, Jg. 1, Nr. 17, S. 130. 315  |  Vgl. E., »Aus der Korrespondenz«, Der Sozialist, 15.11.1909, Jg. 1, Nr. 19, S. 148. 316  |  »Aus der Zeit: Der Kameradin«, Der Sozialist, 1.4.1912, Jg. 4, Nr. 7, S. 56.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

Framing-Prozesse kontrastiert werden mit dem gleichsam öfters vermittelten Hypergut der Bewegungseinheit. Selbstbezeichnungen spielen eine Nebenrolle in der Identitätskonstitution und -konstruktion, wenn die Frequenz als Gradmesser für die Wirkungsmacht gedeutet werden soll. Aufgrund der herausgearbeiteten Spuren kollektiver Identität kann die Gemeinschaft als anarcho-sozialistisch eingeordnet werden. Obwohl diese Bezeichnung nicht der Selbstbezeichnung der AkteurInnen entspricht, rechtfertigen die vermittelten Ziele, Ideale, Werte, Methoden und Abgrenzungen diese Einordnung. Das vornehmlich in Personal- und Possessivpronomina materialisierte Kollektiv lässt sich skizzieren als agile, egalitäre, den Staat ablehnende und weitestgehend pazifistische Gemeinschaft, die das herrschende kapitalistische und nationalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsgefüge durch Exodus und Absenz implodieren lassen will. Die eigene Agitation betrifft dabei im Wesentlichen die Propagandierung der Idee der Schaffung einer alternativen Gesellschaft, die im Ideenwettbewerb den kapitalistischen Entwurf in den Schatten stellen soll. Das entspricht dem anarchistischen präfigurativen Vorgehen, dass Kerncharakteristika des aspirierten Ziels bereits in der Gegenwart umgesetzt werden müssen. Widersprüche treten dann auf, wenn Toleranz als Hypergut vermittelt wird, die Gemeinschaft aber über weite Strecken durch subidentitäre Framing-Prozesse zu ihrer kollektiven Identität kommt. Brüche oder verschiedene Schulen in dieser oder anderen Fragen sind innerhalb der Gemeinschaft nicht auszumachen. Auch in diachroner Betrachtung ändert sich an der Ausrichtung grundsätzlich nichts. Damit realisiert sich auch keine Mutation der kollektiven Identität innerhalb der betrachteten ersten fünf Jahrgänge. Identitätskonstituierende Häufungen sind im Sozialist auszumachen, bleiben dann aber themenspezifisch. So finden sich zum Beispiel im Nachhall der standrechtlichen Erschießung Francisco Ferrers, dem Begründer der Modernen Schulen, vermehrt Artikel zu den Themen Schule und Erziehung. Eine generelle Häufung auch anderer Aspekte ist dagegen nicht auszumachen, was sicherlich auch mit der konstant hohen Dichte an identitätskonstituierenden Artikeln im Blatt zu tun haben dürfte.

4.2.8.3 Bibliografische Details (1) Der Sozialist: Organ des Sozialistischen Bundes (von Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 1, Nr. 12 mit dem Zusatz »Herausgegeben von Revolutionären Kreisen der Schweiz«), Der Sozialist: Organ des Sozialistischen Bundes; (2) Revolutionäre Kreise der Schweiz; (3) Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 1, Nr. 8: Ernst Jost, Pflugweg 5, Bern; Jg. 1, Nr. 9 - Jg. 5, Nr. 12: Margarethe Faas; Pflugweg 5, Bern; Jg. 5, Nr. 13 - Jg. 7, Nr. 5 und in den unregelmäßig in Berlin erscheinenden Nummern: Fritz Flierl, Skalitzerstr. 24a, Berlin S.O.26, ab Jg. 2, Nr. 7: Hermann Mertins, Münchenerstr. 8, Berlin W.30, ab Jg. 2, Nr. 13: Richard Fischer, Boeckhstr. 4, Berlin S.59, ab Jg. 2, Nr. 18: Richard Fischer, Wrangelstr.135, Berlin S.O.33, dann: Max Müller, Wrangelstr. 135, Berlin; (4) Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 5, Nr. 12: Bern, danach unregelmäßig alternierend Bern und Berlin, Jg. 5, Nr. 13 - Jg. 7, Nr. 5: Berlin; (5) 15.1.1909-15.3.1915; Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 1, Nr. 3: monatlich, Jg. 1, Nr. 4 - Jg. 7, Nr. 5 14-täglich; 8 Seiten; (7) Der Sozialist: Organ der unabhängigen Sozialisten; Berlin 1891-1899; (9) Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich; ZZ 180; (10) Der Sozialist ist innerhalb eines Jahrgangs fortlaufend nummeriert. Er enthält vor allem theoretische Essays und manifestartige Artikel. Jeweils ab Seite 2 ist zudem eine mehrseitige feuilletonartige Rubrik ohne Titel zu finden, in der Gedichte

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen

und Fiktion sowie Briefwechsel u.ä. zu finden sind. Auf der Kehrseite sind unregelmäßig Veranstaltungshinweise, die Rubriken »Aus der Bewegung«, die mehr oder weniger direkt die anarcho-sozialistische Bewegung und ihre Aktionen und Gründungen betreffen, sowie »Aus der Zeit«, wo in Kurzberichten das sonstige (arbeits-) politische Geschehen verhandelt wird. Das Impressum sowie lokale Adressen von Sozialistischen Bünden in der Schweiz und in Deutschland sind ebenfalls auf der Kehrseite zu finden. In der in dieser Arbeit verwendeten Ausgabe finden sich zudem im zweiten Band, der die Jahre 1911-1915 umfasst, die drei zum Teil buchstäblich programmatischen Flugblätter des ›Sozialistischen Bundes‹.317 Neben diesen Rubriken sind es vor allem längere Essays, die oftmals über mehrere Nummern hinweg erschienen sind und später vom Sozialist auch als Broschüren vertrieben wurden. Neben Gustav Landauers Artikeln finden sich auch Beiträge von P.J. Proudhon, Michail Bakunin und Peter Kropotkin. Nachdem die Herausgabe definitiv nach Berlin verlegt wurde (Jg. 5, Nr. 13) wird der Sozialist sehr deutschlandlastig.

4.2.9 Arbeiter-Wille Abbildung 10: Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1. (SozArch Zürich, D 3095)

4.2.9.1 Relevante Er wähnungen Die Konstitution kollektiver Identität geschieht im Arbeiter-Wille zu einem großen Teil über die Vermittlung von Hypergütern. Omnipräsent ist dabei der ausschließliche Bezug auf die Arbeiterklasse. Der Arbeiter-Wille wollte in eigenen Worten »vor allem ein proletarisches Kampfesblatt«318 sein. Andernorts bezeichnete sich die Zei317  |  Das dritte Flugblatt (»Die Siedlung«) wurde auch in »Flugblatt des Sozialistischen Bundes: Die Siedlung«, Der Sozialist, 1.5.1910, Jg. 2, Nr. 9, S. 65-67 abgedruckt. 318  |  »Wir wollen nicht länger schweigen.!«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 1.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

tung als »das Sprachorgan intelligenstens [sic] und wahrhaft sozialistischen Teiles der deutschschweizerischen Arbeiterschaft«.319 Als Hypergut trat nicht nur die Klassenorientierung auf. Auch klang eine Authentizitätskonzeption an, die den eigenen politischen Kampf als unikales Gut begriff. Ziel und Zweck, so hieß es in einem anderen Artikel, sei die »Wiederbelebung des [...] Kampfesglauben, Beibringung der Erkenntnis wahrhaft proletarischer Betätigungsformen und Umwandlung des sozialistischen Ideals einer feiertäglichen Jenseitsillusion in werktägliche Kampfesaktion [...]«320. Die Methoden, die zum Ausweg aus dem kapitalistischen System führen würden, seien »gewerkschaftliche Massenaktion [...] gewerkschaftliche Tatensolidarität [...] Generalstreiks aller Lohnarbeiter ohne Ausnahme«321, allesamt Direkte Aktionen mit starker klassenbewusster Orientierung. Die abzuschaffende Ausbeutung der Menschen, so die vermittelte Sinndeutung im Arbeiter-Wille, sei in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung begründet, weswegen sie auch wirtschaftlich, also mit Gewerkschaften, bekämpft werden müsse. Die Klassenorientierung wird im Arbeiter-Wille um typische anarchistische Hypergüter erweitert, sodass sich eine anarcho-syndikalistische kollektive Identität abzeichnet: »Wir gedenken die [...] Prinzipien einer auf direkten Klassen- und solidarischen Massenaktionen fussenden Arbeiterbewegung zu realisieren. Unsere Aufgabe umfasst die Verbreitung der Grundsätze einer wahrhaft revolutionären Gewerkschaftserziehung.«322 Mit weiteren, auch negativen Hypergütern wurde die so konstituierte kollektive Identität in den Spalten des Arbeiter-Wille bestärkt und geschärft: »Unser Kampf gilt allen Stützen der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur und somit zuallererst der trügerischen Wahnvorstellung des Parlamentarismus.«323 Die Vorstellung, dass eine Befreiung nur der radikalen Beseitigung des herrschenden Systems folgen könne, aber auch die strukturelle Herangehensweise, die in der Beseitigung aller Stützen den Weg zur Zerstörung des Systems sehen, trägt eine anarchistische Handschrift. In die gleiche Richtung gingen die vermittelten Prinzipien der freien Assoziation sowie die Solidarität der arbeitenden Menschen. Typisch für den Arbeiter-Wille ist die Vermengung anarchistischer Hypergüter mit einer betonten Restriktion auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Substrat:

319  |  Ebd., S. 1. 320  |  »Was wir wollen!«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 321  |  Ebd., S. 2. 322  |  »Wir wollen nicht länger schweigen.!«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 323  |  Ebd., S. 1. Der Antiparlamentarismus kann ob der häufigen Nennungen ebenfalls als zentrales Hypergut der Gemeinschaft rund um den Arbeiter-Wille verstanden werden, exemplarisch mit folgendem Zitat illustriert: »Unsere Arbeiterschaft ist geradezu unverbesserlich; sie will dass man sie peitscht, sie braucht notwendigerweise jemanden, der sie beständig an das Vergangene erinnert, sie lernt geradezu nichts. Anstatt, wenn nicht entgegenzutreten, so doch zum mindesten den ganzen Wahlglimbim zu ignorieren, lässt sie sich wieder zu dieser grossen Selbsttäuschung verleiten; sie gibt sich wieder für den ganzen Schmutz, Lug und Trug der Wahl- und Parlamentspolitik her. Die Arbeiter wählen wiederum ihre eigenen Metzger selber!« (I.K., »Aus der Internationale des Gewerkschaftssozialismus: Deutsch-Schweiz: Zürich«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 4).

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Die Gewerkschaften schreiten auf freier föderativer Grundlage zu ihrem wirtschaftsumwälzenden Endziel [...] Die internationale, vom Geiste des Syndikalismus beseelte Gewerkschaftsbewegung wird es auch sein, welche die soziale Frage – das Problem der Befreiung der Arbeiterklasse – von der sozialen Sklaverei lösen wird.« 324

Die Taktik der Gemeinschaft wurde als unikaler Weg zur Aufhebung der misslichen Zustände inszeniert, nachdem andere Methoden als negative Hypergüter vermittelt wurden: »Die reformistische Gewerkschaftstaktik, die Methode der losen und getrennten Kleinstreikcampagnen hat sich besonders in letzter Zeit zur Genüge diskretitiert [sic]; es ist endlich an der Zeit, dass die Arbeiter zu dieser Wahrheitsansicht gelangen und die syndikalistischen, einzig richtigen Kampfesprinzipien ins Leben durchsetzen.« 325

Ein weiteres zentrales Hypergut, des Arbeiter-Wille ist die Selbstermächtigung, die in mehreren Artikeln transportiert wurde, zum Beispiel in einem Zweitabdruck des Communiqués eines revolutionären französischen Antiparlamentarier-Komitees: »Nichts Wesentliches kann durch das Parlament geschehen. Alle Schande und Unvergleichheit der gegenwärtigen Gesellschaft kann nur verschwinden durch eine totale Umwälzung der letzteren, welche das Werk der Arbeiterklasse selbst sein wird. [...] Euer Schicksal hängt von euch selbst ab und das Heil liegt in euch selbst. [...] Lernet euch der einzigen fähigen Waffen zu bedienen, welche euch zum Siege verhelfen, der einzigen Mittel, welche euch zum Ziele führen können. Vollführt eure Aufgaben selbst!« 326

Noch pointierter hieß es an anderer Stelle: »Die soziale Umwälzung kann aber in Wirklichkeit weder von Individuen oder Abgeordneten, noch von Gruppen oder Parteien und dergleichen, sondern nur einzig und allein von dem Arbeitervolk selbst vollbracht werden.«327 Nachdruck erhielt die Hochhaltung der Selbstermächtigung in den wiederholten Aufrufen der Redaktion an die Leserschaft, selbst aktiv zu werden und die Zeitung mitzugestalten: »Unser Blatt soll in der Tat ein Arbeiterblatt sein. Drum bringt Eure proletarischen Lebensbeobachtungen und der gewerkschaftlichen Betätigung entstammende Anschauungen kund, schreibt Artikel, Korrespondenzen, Berichte ect., [sic] und sendet alle diese Aufsätze an die Redaktion des ›Arbeiterwille‹ [sic], in welch letzterem sie auch abgedruckt werden.« 328 324  |  »Gewerkschaftskampf und Parlamentspolitik«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 3 (Herv. i.O.). 325  |  »Der Winterthurer Maurerstreik«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 7. 326  |  Vgl. »Aus der Internationale des Gewerkschaftssozialismus: Frankreich«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 6. Für einmal übernimmt nicht die eigene Wortwahl, sondern die Aktion des Übersetzens und Abdruckens die Aufgabe, den Beitrag als Ausdruck des redaktionellen Konsens zu klassieren. 327 | »Gewerkschaftskampf und Parlamentspolitik«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 5. 328  |  »Wir wollen nicht länger schweigen.! [sic]«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Im »Briefkasten«, dem Korrespondenzforum, wird dieser Appell wiederholt: »Auf die gleichartige Anfragen [sic] mehrerer Genossen hin, teilen wir mit, dass wir mit wahrer Freude alle

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Neben diesen Hauptkomponenten arbeiten auch kleinere, weniger frequent auftretende Identitätskonstruktionselemente produktiv an der Gestaltung der kollektiven Identität der Gemeinschaft des Arbeiter-Wille. Zum Beispiel über den Anschluss an die Tradition der Arbeiterbewegung, der sie sich damit einschreibt: »Schon ein halbes Jahrhundert ist verflossen, seitdem die Vorkämpfer der alten ›Internationale‹ zum erstenmale [sic] das grosse Wort über die Befreiung der Arbeiterschaft durch sich selbst verkündeten. [...] Nun erheben wir Syndikalisten, von neuem den mächtigen Selbstvertrauensruf der ›Internationale‹, um das Proletariat aus seinem Letargiezustand [sic] zu erwecken.« 329

Konstruktion und Konstitution kollektiver Identität findet im Arbeiter-Wille nicht exklusiv über die Vermittlung von Hypergütern statt. Die Gemeinschaft bediente sich auch bei Framing-Prozessen, um das Kollektiv zu schaffen und zu stärken. In überragender Mehrheit sind es Abgrenzungen gegenüber der Sozialdemokratie, die konstitutiv wirken, oft auch im Verbund mit der Vermittlung negativer Hypergüter wie dem Status quo: »Frei und unverhüllt werden wir alle Schandtaten der bestehenden Gesellschaft entlarven, so wie das Doppelantliz und die Geschäftemacherei des ärgsten Judasfreundes des Proletariats, der sozialdemokratischen Streberpartei«.330 An anderen Stellen hielt der Arbeiter-Wille fest, dass Sozialdemokraten als Proletariatsvertreter in Ausschüssen und Regierungen säßen, aber keine Proletarier seien. Dies führte zu herablassenden Distanzierungen ihnen gegenüber, beispielsweise in einer Replik auf die Fremdwahrnehmung durch die Vaterfigur der Schweizer Sozialdemokratie, Hermann Greulich: »Ist nun eine solche [...] Bewegung [...] nicht eine hilflose Minoritätsbewegung in wahrem und vollem Sinne des Wortes? Was anders ist eine derlei Parteibetätigung als ein pures antiproletarisches Sektierertreiben.«331 Der sozialdemokratischen Taktik von Vertretern in Gremien, die immer in der Minderheit blieben, setzte der Arbeiter-Wille anarcho-syndikalistische Methoden gegenüber, die er als solidarischer und wirksamer pries.332 Diese sahen eine Vereinigung aufgrund der Klassenlage in lokalen Werkstätten vor, die im Streikfall von BerufsgenossInnen mittels Sympathiestreik unterstützt würden, was schließlich in einem Massenstreik enden sollte, der so lange andauern würde, bis die gestellten Forderungen erfüllt wären. Der zitierte Artikel zeigt exemplarisch die oftmals auftretende Verflechtung identitätskonstituierender Momente: Die Fremdwahrnehmung stellt den katalysierenden Impetus dar, dem ein Framing-Prozess folgt, der die eigene Gemeinschaft eint und der schließlich seinerseits ergänzt wird der proletarischen Lebenserfahrung und dem revolutionären Befreiungsglauben entstammende, von Arbeitern verfasste Artikel aufnehmen. Das Unstilistische kann korrigiert werden, der proletarische Kern bleibt.« (»Briefkasten: Auf mehrere Einsender«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 6). 329  |  »Was wir wollen!«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 1 und S. 2. Identitätspolitisch fragwürdig bei diesem Traditionalismus ist die zur Schau gestellte Divergenz zwischen der Gemeinschaft und »dem Proletariat«, sollten diese doch durch diesen Beitrag enger aneinander gebunden werden. 330  |  »Wir wollen nicht länger schweigen.! [sic]«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 331  |  »Bücher- u. Zeitschriften-Revue: Zur Klarheit und Kraft«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 8. 332  |  Vgl. ebd., S. 8.

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durch die Vermittlung von Hypergütern. Wie prägend die Sozialdemokratie für die kollektive Identität der Gemeinschaft rund um den Arbeiter-Wille war, zeigt sich im Artikel »Gewerkschaftskampf und Parlamentspolitik«333, wo mehr als die Hälfte der Zeilen darauf verwendet wurde, die Sozialdemokratie zu diskreditieren als »[...] trughafter und verführerischer Wahnglaube an die Weltbefreiung durch die ›Männer der Vorsehung‹ – durch die marxistischen Spiesser und Bourgeois der Abgeordnetenhäuser«334 –, um sich damit selbst seiner Methoden als einzig richtige zu versichern:335 Der Abschluss des Beitrags bildet die Konstatierung, dass die soziale Umwälzung nur durch die Arbeiterklasse selbst und ausschließlich auf außer- und antiparlamentarischem, ökonomischem Boden erlangt werden könnte.336 Ebenfalls in Demarkation gegenüber der Sozialdemokratie hieß es an anderer Stelle: »Bereits ein halbes Menschenalter und noch mehr wandert das Proletariat auf Abwegen; politische Utopisterei machte die Arbeiterbewegung zu einer Parodie auf den Sozialismus; sie wurde durchseugt von bürgerlichen Gegenwartsansichten, entfaltete weit und breit die feile und hoffnungslose Reformfahne«.337 In der gleichen Nummer hieß es weiter: »Alle diejenigen aber, die das Spiel der Reaktion in Wirklichkeit begehen, sich Sozialdemokraten und Revolutionäre nennen, begünstigen die bürgerliche Macht, indem sie dieselbe rechtfertigen und befestigen.«338 Zur Selbstbezeichnung wurden im Arbeiter-Wille keine Anarchie-Begriffe verwendet. Wird das ›Wir‹ begrifflich näher und politisch kategorisierend umschrieben, lautet dies »Wir Syndikalisten«.339 Anarchie-Begriffe werden nicht nur passiv vermieden. In einer Buchrezension von Hermann Greulichs »Zur Klarheit und Kraft« hieß es, dass Autor Greulich versuche »[...] zwei derartig grundverschiedene Richtungen, wie die anarchistische und die syndikalistische zu verwechseln und zu identifizieren«340, was der Arbeiter-Wille als »naive Unwissenheit oder absichtliche Böswilligkeit«341 wertete. Der darin materialisierte subidentitäre Framing-Prozess wirkt einerseits identitätskonstituierend für die Gemeinschaft des Arbeiter-Wille, und illustriert damit andererseits auch den 1910 wirkungsmächtigen Reizwortcharakter von Anarchie-Begriffen. Grundverschieden, wie es die Distanzierung implizierte, sind Anarcho-Syndikalismus und Anarchismus nicht, wie die teilweise deckungsgleichen Hypergüter belegen. 333 | »Gewerkschaftskampf und Parlamentspolitik«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 2-5. 334  |  Ebd., S. 5. 335 | Der Arbeiter-Wille zeigt sich dabei äußerst kreativ in der herablassenden Kleinmachung der sozialdemokratischen Idee, die auch schon mal als »pfäffische Huldigung einer geschichtsphilosophischen Tendenziosität« (»Die Freidenkerbewegung in der deutschen Schweiz: Kritische Darlegungen«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 6) geschimpft wird, und damit mehrere Feindbilder verdichtet. 336  |  Vgl. »Gewerkschaftskampf und Parlamentspolitik«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 5. 337  |  »Was wir wollen!«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 338 | »Aus der Internationale des Gewerkschaftssozialismus: Frankreich«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 6. 339  |  »Was wir wollen«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 340  |  »Bücher- u. Zeitschriften-Revue: Zur Klarheit und Kraft«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 7. 341  |  Ebd., S. 7.

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Ein auch in vielen anderen anarchistischen Zeitungen zu beobachtendes Paradoxon rund um Selbstbezeichnung und -wahrnehmung stellt das schizoide Verhältnis dar, mit dem die Relation der Gemeinschaft zum Proletariat gesetzt wurde. Zuweilen wurde die Gemeinschaft zum Proletariat gezählt, zuweilen betrachtete sie die ArbeiterInnen von einer distanziert-analytischen Meta-Ebene, indem sie das Proletariat begrifflich isolierte und es beispielsweise der Naivität bezichtigte, »den ganzen Schmutz, Lug und Trug der Wahl- und Parlamentspolitik«342 mitzumachen.

4.2.9.2 Zusammenfassung Im Arbeiter-Wille tragen verschiedene Komponenten zur Konstruktion und Konstitution kollektiver Identität bei. Die Vermittlung von Hypergütern nimmt dabei einen gewichtigen Teil ein. Methoden, Werte und Ziele werden sowohl in positiver als auch in negativer Weise thematisiert, sei es aus sich selbst heraus, sei es katalysiert durch Fremdwahrnehmungen. Neben den Hypergütern nehmen FramingProzesse bei Ausarbeitung und Unterhalt der kollektiven Identität eine prominente Rolle ein. Der Arbeiter-Wille bedient sich dabei nicht ausschließlich der Abgrenzung vom Außen. Auch subidentitäre Framing-Prozesse sind produktiv und konkretisieren das ›Wir‹ der Gemeinschaft, die dem Arbeiter-Wille als Zielgruppe und aber auch als Ressource gelten, wie aus den wiederholten Aufrufen zu Selbstermächtigung und Mitarbeit entnommen werden kann. Anreize zu Positionierung und Unterhalt der kollektiven Identität bieten neben der Fremdwahrnehmungen auch Tagesaktualitäten wie Streiks. Die Gemeinschaft, deren kollektive Identität im Arbeiter-Wille ausgestaltet wird, lässt sich politisch als anarcho-syndikalistisch einordnen. Die Abundanz anarchistischer Hypergüter, aber auch die dezidiert klassenorientierte Ausrichtung sprechen deutlich dafür. Die kollektive Identität der Gemeinschaft ist maßgeblich geprägt von der Vorstellung der eigenen als einer unikalen Wahrheit, die in der Selbstermächtigung, der solidarischen Direkten Aktion und dem klassenbasierten Zusammenschluss von ArbeiterInnen den einzigen Weg sieht, das kapitalistische Wirtschaftssystem implodieren zu lassen. An dessen Stelle soll ein föderatives Konglomerat von anarchistischen Syndikaten treten, das auf der Grundlage gegenseitiger Hilfe und durch die Vermeidung von Parlamentarismus die Basis für eine gerechte Gesellschaft darstellen soll. Aussagen zu verschiedenen Lagern in der Redaktion des Arbeiter-Wille und damit zur Angebrachtheit eines Plural in Bezug auf die kollektive Identität der Gemeinschaft rund um die Zeitung sind schwierig. Zwar treten keinerlei Grabenkämpfe auf, andererseits sind auch nur zwei Nummern erschienen, sodass sich eine Debatte kaum hätte entwickeln können. Diese Problematik betrifft auch Aussagen zu einer möglichen Mutation der kollektiven Identität. Quellenbedingt kann nur festgehalten werden, dass in den vorliegenden Ausgaben keinerlei Anzeichen für eine groß- oder kleinflächige Veränderung in den Grundkonzeptionen, der Welt- und Sinndeutung des Kollektivs zu erkennen ist. Auch die Frage nach einer Häufung identitätskonstituierender Beiträge im Arbeiter-Wille kann aufgrund der kurzen Lebensdauer nicht schlüssig beantwortet werden. Was hingegen festgehal-

342  |  I.K., »Aus der Internationale des Gewerkschaftssozialismus: Zürich«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 4.

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ten werden kann, ist die Häufigkeit von Tagesaktualitäten als Inzentive für Beiträge mit identitätskonstituierenden Inhalten.

4.2.9.3 Bibliografische Details (1) Arbeiter-Wille: Syndikalistische Monatsschrift der deutschen Schweiz; (2)/(3) Arnis Prosper, Thonon-Les-Bains (F), Poste centrale; (4) Zürich, Thonon-Les-Bains; (5) erste Nummer 1.5.1910, letzte Nummer 20.6.1910; monatlich; 6 respektive 8 Seiten; (9) Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich; Signatur: D 3095; (10) Im Arbeiter-Wille finden sich neben thematischen Artikeln und Berichterstattungen auch Gedichte sowie die Rubriken »Aus der Internationale des Gewerkschaftssozialismus« und »Briefkasten«. In Nr. 2 wurde zudem die Rubrik »Bücher- und Zeitschriftenrevue« eingeführt. Obwohl der Redaktionssitz gemäß Angaben im Arbeiter-Wille in Frankreich lag, wurde der Druck in Zürich besorgt. Die außerordentlich vielen Schreib- und Druckfehler der ersten Nummer werden in der zweiten zwar entschuldigt, aber auch wiederholt. Auch der Arbeiter-Wille war von finanziellen Nöten arg geplagt, sodass bereits in Nr. 2 – ironischerweise gleichzeitig auch die letzte Nummer – ein Aufruf zur finanziellen Unterstützung abgedruckt ist. Die Ausgaben des Arbeiter-Wille waren nicht näher datiert. Die in den Fußnoten angegebenen Erscheinungsdaten von Nr. 1 (1.5.1910) und Nr. 2 (20.6.1910) erschlossen sich aus den Angaben im Artikel »Kampfesgruss«343

4.2.10 Jahrbuch der Freien Generation Abbildung 11: Jahrbuch der Freien Generation, 10.1913, Jg. 5. (SozArch Zürich, D 306)

343 | »Kampfesgruss!«, Arbeiter-Wille, 20.6.1910, Jg. 1, Nr. 2, S. 1.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

4.2.10.1 Relevante Er wähnungen Das Jahrbuch der Freien Generation versteht sich als »[...] Sammlungswerk, dessen Aufgabe darin besteht, alljährlich einen neuen Meilenstein des anarchistischen und sozialistischen Gedankens zu errichten«.344 Gewissermaßen als Fahrtenschreiber der anarchistischen Bewegung von 1910-1914 liegt eine hohe Dichte an identitätskonstituierenden Elementen in seinen Spalten vor. In diesem Rahmen widmet sich auch das Jahrbuch der Freien Generation unter anderem der Vermittlung verschiedener Hypergüter. Dazu zählen die wiederholte positive Nennung und Vermittlung der Selbstermächtigung als Methode, die zum anvisierten Ziel, der schrankenlosen Befreiung der Menschheit führte. Die Selbstermächtigung wurde dabei als unikaler Weg zur nachhaltigen Befreiung angeführt: »Hüten wir uns vor falschen Propheten, die unter allerlei Namen und Phrasen uns rasch und leicht erlösen wollen. Vergessen wir das eine nie: keine Macht der Welt, kein noch so göttlicher Prophet kann für uns die Erlösung finden oder bringen. Wenn wir die Erlösung von der Tyrannei und Versklavung wollen dann müssen wir selbst die Tyrannenüberwinder sein. Nur dann sind wir gewiss, die Freiheit zu erringen und sie bewahren zu können.« 345

In einem weiteren Artikel wurde die Maßnahme zur Erreichung des großen Bewegungsziels schließlich näher definiert. »[Die] Revolution, die nur die anarchistische Philosophie voraussieht und herbeizuführen wünscht, ist der Zukunft vorbehalten; sie ist die soziale Revolution der Anarchie, die zum ersten Male die Unmöglichkeit nicht nur jeder Machtusurpation, sondern vor allen Dingen die Abschaffung jeder Machtzentralisation überhaupt proklamiert«. 346

AnarchistInnen erscheinen damit als progressives Kollektiv von Erleuchteten, die – exklusiv – die einzige Lösung der Probleme des kapitalistischen Systems in seiner Beseitigung erkennen.347 Im Artikel »Vom Staat zur Kommune – von der Autorität zur Anarchie!« finden sich Spuren der vermittelten Unikalität, verwoben mit FramingProzessen. Gleich zu Beginn setzte sich das ›Wir‹ gegenüber der Bourgeoisie und der Sozialdemokratie ab und stellte den Anarchismus als singuläre und tiefe Wahrheit dar: 344 | Ramus, Pierre, »An Freunde und Gefährten!«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 2. 345  |  Nieuwenhuis, Domela F., »Der Anarchismus geht nie unter«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1910, Jg. 2, S. 21. (Herv. i.O.). Noch deutlicher wird Alfred Bader: »Freie Menschen können nicht geschaffen werden, sondern die Menschen müssen sich selber frei machen.« (Bader, Alfred, »Vom Staat zur Kommune – von der Autorität zur Anarchie!«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 73). 346 | Ein gewesener Sozialrevolutionär, »Revolutionäre Justizinquisition«, Jahrbuch der Freien Generation, Jg. 2, S. 73. 347 | Die Unikalität wird im Jahrbuch der Freien Generation sehr häufig betont. Oft mit einer geradezu ostentativen Beiläufigkeit, die ihre Wirkungsmacht zusätzlich bestärkt. Ein Beispiel für die produktive Verschiebung der Unikalität in die Marginalität lieferte der Autor Sartor Resartus. Er fragte: »Was will der Anarchismus tun, um die herrschaftslose Gesellschaft, die Anarchie, die allein Allen Wohlstand und Freiheit sichern kann, zu verwirklichen?« (Resartus, Sartor, »Die soziale Revolution, Anarchie und Demokratie.«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 96).

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Als logisch denkende Menschen sind wir Anarchisten uns bewusst, dass die Ablösung des heutigen kapitalistischen Staates durch die freien Assoziationen anarchistischer Kommunen nicht von einem Tag zum andern stattfinden kann. Ist dieser Gedanke doch ein Grund mit, dass wir den bürgerlichen (und in seiner Praxis gleicht der sozialdemokratische dem bourgeoisen wie ein Ei dem anderen) Parlamentarismus nicht mitmachen können.« 348

Weiter stellten Bildung und Erziehung »[...] aller durch die von der bestehenden Wirtschaftsordnung und ihren knechtenden Institutionen herabgedrückten Elemente zu freiheitsdürstenden selbständigen Individualitäten«349 wichtige Hypergüter der Gemeinschaft dar. Denn: »Der Aufbau der neuen Gesellschaft ist unser Ziel und nicht begnügen wir uns mit der Abschaffung und Zerstörung des Staates.«350 Dabei wurde die angestrebte anarchistische Kolonie mit Klassenbewusstsein als »festgründige Organisation von Proletariern«351 verstanden. Im Beitrag »Geist oder Schablone?«352 wurde die kollektive Identität in der Hauptsache mit weiteren Framing-Prozessen konstituiert. SozialdemokratInnen fungierten dabei nicht als die einzigen ›anderen‹. Ihnen wurden weitere Gruppen zur Seite gestellt, von denen sich die Gemeinschaft ebenfalls abgrenzte und dadurch festigte: »Die Pfaffheit des Christentums, die Pfaffheit des Staates und die Pfaffheit des autoritären Sozialismus sind dieselben Wesenserscheinungen, so verschieden und oft entgegengesetzt auch die Form sein mag«,353 analysierte das Jahrbuch der Freien Generation. Im Anschluss an diesen Framing-Prozess wurden schließlich Methoden der eigenen Gemeinschaft als Hypergüter vermittelt: »Für diejenigen, für welche der Sinn des Wortes Anarchie rein, umfassend und vertiefend ist, die in dem Dogmenterroristen letzten Grades den Antianarchisten, den Lebensfeindlichen und Verfinsterten erkennen, für diese – wozu auch ich mich zähle – bildet nur die organische Bildung und Durchbildung der Gruppen, theoretisches wie praktisches Wirken in den verschiedenen Schichten der Bevölkerung – nicht nur bei dem Proletariat – das Hauptziel des Sozialismus und der Anarchie. Also fort auch mit jeder Klassenschablone, fort mit jedem Begriff des Klassenfetischismus, mag er sich nun aristokratisch, bürgerlich oder proletarisch nennen.«354

Die kolportierten Hypergüter in Form der Methoden der freien Bildung und der Direkten Aktion wurden also ebenso wie der grundsätzlich universalistische Ansatz als anarchistische Werte vermittelt und gesetzt.355 Die explizite Absage an das Denken in Klassen ist als subidentitärer Framing-Prozess zu lesen. Autor Bussler hielt fest: 348  |  Bader, Alfred, »Vom Staat zur Kommune – von der Autorität zur Anarchie!«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 73. 349  |  Ebd., S. 74. 350  |  Ebd., S. 74. 351  |  Ebd., S. 85. 352  |  Bussler, August, »Geist oder Schablone?«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1910, Jg. 2, S. 111-117. 353  |  Ebd., S. 114. 354  |  Ebd., S. 114. 355  |  Diese Hypergüter werden von Bussler wiederholt und ergänzt: »[...] Vortrag, gegenseitige unbeschränkte Aussprache, Bildung durch Literatur vor allem und Anregung zur Kunst, Anregungen zur freien Betätigung und Entfachung der Kampfeslust sind unsere Mittel, das revolutionäre Tempo in unseren Reihen beständig wachzuhalten.« (Ebd., S. 116).

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse »[D]er richtig anarchistisch empfindende Mensch wird sich [...] jenseits von jedem Klassenbegriff stellen, sein Erdenbewohner-, sein Menschsein wird ihm vollkommen genügen die höchste Stufe der Selbstbewusstheit zu ersteigen [...] Hüten wir uns vor jeder Demagogie, die gerne das Bestreben zeigt, geistig herunterzudrücken, um in irgendeiner brutalen Form herrschen zu können.« 356

Die Beschränkung auf ArbeiterInnen als Bewegungssubstrat wurde so nicht nur als un-anarchistisch diffamiert, sie wurde auch als Konstrukt dargestellt, das Macht als gesellschaftsrelevante Kraft legitimiert und perpetuiert. Auch an anderer Stelle wurde die Vermittlung von Hypergütern mit Framing-Prozessen verquickt. In »Der Anarchismus geht nie unter«357 beispielsweise formte und festigte der Autor den für die Gemeinschaft der AnarchistInnen zentralen Wert der Freiheit, indem er ihn umgehend vom Freiheitsbegriff von sozialdemokratischer Seite absetzte. »Das erste Wort der allgemeinen Befreiung ist die Freiheit. Nicht die lügnerische politische Scheinfreiheit, die die Sozialdemokraten in den Vordergrund rücken, sondern die grosse menschliche Freiheit, die alle dogmatischen, metaphysischen, politischen und juridischen Ketten zerbricht und allen Menschen die vollständige Autonomie, die freie Entwicklung wird mitbringen, weil sie uns erlöst von jeder Tyrannei und Bevormundung.« 358

Schließlich ist es die aus ›dem anderen‹ extrapolierte Freiheit, die im avantgardistischen Selbstverständnis der anarchistischen Gemeinschaft einen weiteren Mosaikstein der kollektiven Identität aufblitzen lässt: »Die Freiheit des Menschen ist das Höchste und Edelste, weil sie ihn erst Mensch sein lässt. Und darum sind und bleiben wir die Missionäre der guten Botschaft, die das Evangelium der unbedingten Freiheit predigen – das einzige Mittel zur wahren Erlösung der Menschheit«,359 womit die Rhetorik ein weiteres Mal die Unikalität des anarchistischen Ansatzes betonte. Ebenfalls in Demarkation zur Sozialdemokratie als solcher vermittelten weitere Artikel zentrale Hypergüter der Gemeinschaft wie Freiheit, Bildung und Wahrheit, welche die Basis für eine funktionierende Gesetzlosigkeit liefern würden.360 Die Schilderung und Absetzung des anarchistischen Selbst zur Sozialdemokratie und deren Wege stellte in manchem Artikel den konstitutiven Dreh- und Angelpunkt dar. Die Hypergüter der eigenen Bewegung wurden dabei in grundsätzlich-programmatischen Kontrast gestellt zum sozialdemokratischen Weg, der mit hierarchisch strukturierten Konsumgenossenschaften und Staatssozialismus die Soziale Frage auf demokratischem Weg lösen wollte. »Der Anarchist kann nicht freiwillig teilnehmen an der Schaffung neuer Autoritäten, wie es die Organe des Staatssozialismus und der Konsumgenossenschaften sind.«361 Auch wenn der kurzfristige Wert dieser Organe 356  |  Ebd., S. 115. 357  |  Nieuwenhuis, Domela F., »Der Anarchismus geht nie unter«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1910, Jg. 2, S. 17-21. 358  |  Ebd., S. 20. 359  |  Ebd., S. 21. 360  |  Vgl. Bader, Alfred, »Die Behandlung des Sexualverbrechens in der Anarchie«, Jahrbuch der Freien Generation, Jg. 4, 10.1912, S. 54-60, hier 55-56. 361  |  Brupbacher, Fritz, »Aufgaben des Anarchismus in dem demokratischen Staate«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1911, Jg. 3, S. 54.

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für die momentane Verbesserung der ArbeiterInnen vom Autor durchaus anerkannt wurde, verwarf er ihn doch prinzipiell, da keine Nachhaltigkeit gegeben sei, wenn das System nicht grundsätzlich infrage gestellt würde sondern bloß ameliorierend entschärft.362 Alte Autoritäten würden lediglich durch neue ersetzt und das Problem, welches das Jahrbuch der Freien Generation in der Autorität per se ortete, lediglich gemildert, nicht aber gelöst. Das führte zu einer Veschränkung von Problematiken, die in einer umso deutlicheren Artikulation der bewegungseigenen Hypergüter gipfelte: »Das Ziel des Anarchismus ist [...] die absolute Freiheit aller Individuen und eine uneingeschränkte Möglichkeit des Konsums«.363 Schließlich findet sich auch in diesem Beitrag die Absage an ein klassenorientiertes Vorgehen, das implizit als bewusste, politisch motivierte Lüge diskreditiert wurde: »Wir kennen keine Klassenwirtschaft, sondern nur die Wahrheit. [...] [D]er Anarchismus, die innerste Wahrheit der Menschennatur wird sie [die Sozialdemokratie, d.V.] besiegen.«364 Auch im oben bereits erwähnten Beitrag »Der Anarchismus geht nie unter«365 findet sich die Vermittlung von Hypergütern im Anschluss an Framing-Prozesse: »Sozialdemokratie und Anarchismus sind nicht zwei Linien, die sich in einem Zielpunkt treffen; nein, es sind zwei Linien, welche parallel laufen und einander niemals berühren können. Dies ist auch der Grund, weshalb uns alle Parteien feindlich gegenüberstehen. Im Prinzip stehen sie alle auf dem Boden der Autorität, werde sie nun dargestellt durch den römischen Papst oder durch Karl Marx. Diese scheinbaren Gegensätze reichen sich stets die Hand, wenn es gilt, den Anarchismus zu zerschmettern.« 366

Unmittelbar nach der Distanzierung von der Sozialdemokratie wurde das integrale negative Hypergut der Hierarchie vermittelt in Form einer Absage an hierarchisch strukturierte Parteien. Die kollektive Identität wurde zudem weiter gefestigt durch die Stilisierung von Kirche und Marxismus als einem doppelköpfigen ›anderen‹. Dass Framing-Prozesse nicht nur gegen außen erfolgen müssen, um gegen innen konstitutive Wirkung zu entfalten, konnte für das Jahrbuch der Freien Generation bereits in Zusammenhang mit der substanziell kritisierten Klassenorientierung gezeigt werden, die an einer Stelle als unanarchistisch bezeichnet wurde, an anderer Stelle aber von integraler Bedeutung für Gruppen anarcho-syndikalistischer Orientierung war. Im oben bereits zitierten so argumentierenden Beitrag Alfred Baders wurde zudem mit subidentitären Framing-Prozessen auch gegen die anarcho-kommunistische Idee des Wartens auf die Anarchie abgegrenzt, die – durch Propagan362  |  Ebd., S. 53-55. 363  |  Ebd., S. 54. 364 | Ebd., S. 61-62. Aus politischem Kalkül Tatsachen zu verschweigen oder zurecht zu biegen bezeichnet Brupbacher als »Missbrauch der Nebenmenschen. Das ist autoritärer Sozialismus, das ist die Taktik des Jesuitismus. Wir geben zu, dass wir uns irren können, aber andere bewusst irre zu führen, das werde den Demagogen des autoritären Sozialismus überlassen.« (Ebd., S. 61-62). Obschon Brupbacher SP-Mitglied war, kann hier nicht von einem subidentitären Framing-Prozess gesprochen werden, da keine Gemeinsamkeiten erwähnt werden. 365  |  Nieuwenhuis, Domela F., »Der Anarchismus geht nie unter«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1910, Jg. 2, S. 17-21. 366  |  Ebd., S. 17.

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da, Agitation und Direkte Aktionen befeuert – gesamtgesellschaftlich ausbreche.367 Stattdessen sollten in anarcho-sozialistischer Manier Siedlungs- und Konsumgenossenschaften gegründet und Anarchie gelebt und nicht nur gedacht werden, in der Hoffung, dass dadurch die ganze »von Menschen bewohnte Erde mit einem Male davon ergriffen werden wird und dass so ›das tausendjährige Reich‹, die Verbrüderung aller Menschen [...]«368 entstünde. Zwei Ausgaben später findet sich – typisch für das Jahrbuch der Freien Generation – eine Gegenposition. Der Artikel »Ein Brief über den Sozialistischen Bund« erschien als Replik des Redaktors des Jahrbuchs der Freien Generation auf einen offenen Brief Gustav Landauers mit Titel »Brief über die kommunistischen Anarchisten«369, der seinerseits im Sozialist erschienen war. In Ramus’ selbstverortender Replik konkretisierte sich die kollektive Identität unter anderem mittels Demarkation zu marxistischen Positionen, aber auch mit anarchokommunistischen Hypergütern und Selbstbezeichnungen. Die Formulierung »wir kommunistischen Anarchisten«, deren Idee »[...] leider vom Genossen Landauer immer ins möglichst schiefste Licht gerückt und somit ganz entstellt ›widerlegt‹ und ›bekämpft‹ wird«370, zeigt exemplarisch an, dass auch subidentitäre FramingProzesse in Demarkation zur anarcho-sozialistischen Strömung zur Konstitution der kollektiven Identität der anvisierten Gemeinschaft beitrugen.371 Dies beispielsweise auch, wenn in ausladender Geste die eigenen Überlegungen vor dem Hintergrund des historischen Scheiterns früherer anarcho-sozialistischer Gehversuche erfolgreich in Szene gesetzt wurden.372 Neben anarcho-sozialistischen und anarchokommunistischen Beiträgen finden sich auch solche mit anarcho-syndikalistischer Tendenz.373 Im Unterschied zu den eben genannten Subströmungen tendiert diese 367  |  Bader, Alfred, »Vom Staat zur Kommune – von der Autorität zur Anarchie!«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 74. 368 | Ebd., S. 77. Gegenläufig bezweifelt Redaktor Pierre Ramus das Funktionieren von Sozialistischen Bünden nach der Vorstellung des Anarcho-Sozialisten Gustav Landauer. Ramus, Pierre, »Ein Brief über den Sozialistischen Bund«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1911, Jg. 3, S. 113-126. 369  |  Landauer, Gustav, »Ein Brief über die anarchistischen Kommunisten«, Der Sozialist, 1.11.1909, Jg. 1, Nr. 21, S. 161-166. 370  |  Ramus, Pierre, »Ein Brief über den Sozialistischen Bund«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1911, Jg. 3, S. 118. 371 | Animositäten Ramus’ gegenüber Landauer sind dabei genauso zu finden wie Vorwürfe, dass die »[...] Landauer’sche stets und immer darauf abzielt, der kommunistisch-anarchistischen, der anarchistisch-syndikalistischen und der anti-militaristischen Bewegung ihre Misserfolge vorzuwerfen« (ebd., S. 114). 372  |  Die geistesgeschichtliche, ökonomische und traditionalistisch historiografische Herleitung Ramus’ erstreckt sich über mehrere Seiten, weshalb ein Zitat keinen Sinn macht. Vgl. ebd., S. 114-118. 373  |  Vgl. stellvertretend Kleinlein, Andreas, »Der Syndikalismus in Deutschland.«, Jahrbuch der Freien Generation, Jg. 3, 10.1911, S. 104-112. Im Artikel wird ›Anarcho-Sozialismus‹ für diese anarcho-syndikalistisch inspirierte Subströmung verwendet. Aus heutiger Sicht ist diese Verortung irreführend. Einerseits werden keinerlei Ziele und Vorstellung vermittelt, die in der Anarchismusforschung dem Anarcho-Sozalismus zugeordnet werden wie die Siedlungsbildung, der Universalismus oder die angestrebte Implosion des kapitalistischen Status quo durch das Leben des Vorbilds. Andererseits prägen die Hypergüter Generalstreik (Vgl. dazu

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Gemeinschaft aber nicht dazu, die Konstitution der eigenen kollektiven Identität durch subidentitäre Framing-Prozesse zu leisten. Vielmehr sind hierbei einfache Framing-Prozesse produktiv, namentlich die Abgrenzung zur Sozialdemokratie sowie die in diesem Zusammenhang vermittelten Hypergüter. In eigenen Worten hat sich die anarcho-syndikalistische Gemeinschaft, »[...] von jenem Sumpfbeet abgewendet und sich emanzipiert von einer gedanken-, tatenarmen und scheinrevolutionären Partei«374 auf dem Weg, ein Selbst zu werden.375 »Zäh und unbeirrbar ziehen wir unseren Weg, allen Hindernissen zum Trotz. Ohne unter der Fuchtel sozialdemokratischer Zäsaren zu stehen; frei von dem parlamentarischen Kretinismus und der sozial-demokratischen Vaterlandsliebe, ist unser Betätigungsfeld die Propaganda des wirtschaftlichen Generalstreiks, des Antimilitarismus, der Religionslosigkeit. Diesen hehren Zielen unseres wirtschaftlichen Kampfes widmen wir unsere Kraft, um den freiheitlichen Sozialismus vorzubereiten.«376 Im Jahrbuch der Freien Generation finden sich alle drei großen anarchistischen Strömungen der Jahrhundertwende neben- und in zwei Dritteln der Fälle auch gegeneinander wieder. Ein genauer Blick in den zitierten, anarcho-kommunistisch orientierten Artikel des Redaktors Ramus zeigt aber, dass das Jahrbuch der Freien Generation den eigenen Vorstellungen als neutraler Fahrtenschreiber der anarchistischen Bewegung nur bedingt entspricht. Wohl wird verschiedenen Subströmungen Raum geboten, die offenbar trotz einiger fundamental-übergreifender Gemeinsamkeiten zuweilen nur durch gegenseitiges Ausschließen zusammenfinden können.377 Objektiv blieb Redaktor Ramus nicht, wenn er im Kontext seiner Entgegnung zu Landauers anarcho-sozialistischen Ideen zu Formulierungen wie »wir, als Anarchisten [...]« griff. So imaginierte und adressierte Ramus ein übergreifendes anarchistisches Gesamtkollektiv auf anarcho-kommunistischer Linie, anstatt den pan-anarchistischen Pfaden zu folgen, die für das Jahrbuch der Freien Generation entworfen wurden.378 Darin kann der Versuch gesehen werden, die Bewegung auf einen Kanon einzustimmen, wo nicht nur kein Kanon sein kann,

den dem Artikel angehängten Abschnitt »Resolution«, ebd., S. 110-111) als (einzig wirksame) Methode und der psychologische Klassenkampf die kollektive Identität der Gemeinschaft. 374  |  Ebd., S. 105. Die sozialdemokratische Presse selbst hielt ihrerseits in der Wortwahl ebenfalls nicht mit Markigkeit zurück und sprach auch schon mal von »antiparlamentarischem Kretinismus« (Vorwärts, o.O., vermutlich Anfang August 1904, zit. in:Ebd., S. 108), wenn es um die Selbstorganisation und die Loslösung von zentralistischen Strukturen ging. 375  |  Befeuert wurde das Unwohlsein durch eine konsequente Nichtbeachtung eines einberufenen Kongresses im Mai 1897 in Halle a.d. Saale durch die sozialdemokratische Presse mit der Begründung, der »Zersplitterung der Arbeiterbewegung entgegentreten« (Ebd., S. 106) zu wollen. Im ersten Teil des Artikels wird der erste Kongress auf Mai 1907 datiert, was eine Ente sein dürfte, da später 1897 genannt wird und der sechste Kongress auf 1903 datiert wird. Vgl. ebd., S. 105-107). 376  |  Kleinlein, Andreas, »Der Syndikalismus in Deutschland. (II)«, Jahrbuch der Freien Generation, Jg. 4, 10.1912, S. 111. 377 | Vgl. Ramus, Pierre, »An Freunde und Gefährten!«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 1-2. 378  |  Ramus, Pierre, »Ein Brief über den Sozialistischen Bund«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1911, Jg. 3, S. 121.

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sondern auch keiner sein soll, wie Ramus paradoxerweise höchstselbst in seinen Geleitworten für das Jahrbuch der Freien Generation verkündete.379 Katalysator für identitätskonstituierende Komponenten waren Fremdwahrnehmungen. Ihre bescheidene Häufigkeit soll aber nicht über ihre Wirkungsmacht hinwegtäuschen. Wurde im Beitrag »Vom Staat zur Kommune – von der Autorität zur Anarchie«380 die despektierliche Verwendung des von der sozialdemokratischen Presse geprägten Begriffs ›Generalblödsinn‹ als Synonym für den Generalstreik verhandelt, so wurde dies von einer ausführlichen Beschreibung der eigenen Strategie des beispielhaften Vorpreschens einer Minderheit in anarcho-sozialistischer Manier sekundiert.381 Auch das in der Fremdwahrnehmung festgestellte Bild von AnarchistInnen als AltruistInnen hatte ein identitätskonstituierendes Abwinken zur Folge. Nicht die Nächstenliebe, sondern individualistischer Freiheitsdrang animiere das ›Wir‹ zur nachhaltigen und toleranten Handlung: »Wir Anarchisten sind keine Altruisten, die ›das Böse in der Welt‹ bekämpfen, damit es ›unserem Nächsten‹ ›besser‹ gehen soll, sondern wir kämpfen für die Gleichheit und Freiheit aller Menschen, also auch unserer ›lieben Nächsten‹, weil unsere Erkenntnis uns einsehen lässt, dass nur die gleiche Freiheit für Alle in einer Gesellschaft vereinigter Mitglieder jedem Einzelnen und damit uns, den Anarchisten und mir, dem Individuum, die respektive Freiheit verbürgt. [...] Doch niemals: jemand zu unserer ›Freiheit zwingen‹.« 382

Im Anschluss hieß es: »Für uns gewaltlose Menschen gilt das Menschenleben zu hoch und ist die Gewalt eine zu ernste Sache, als dass beides länger die Tagesordnung beherrschen sollte, als es durchaus für die gesicherte Einführung der gewaltlosen Ordnung, der Anarchie, notwendig erscheint.«383 Dass diese nicht länger herbeigesehnt sondern direkt umgesetzt werden sollte, ist ein weiteres Beispiel für Hypergüter der Gemeinschaft, deren Vermittlung ohne Thematisierung der Fremdwahrnehmung wohl nicht stattgefunden hätte: »Ohne Rücksicht auf die Umwelt beginnen wir mit dem anarchistischen Leben. Ohne Führer und Gesetze werden sich unsere gesellschaftlichen Einrichtungen aufs harmonischeste [sic] vollziehen.«384 Durch die Vorbildfunktion würde schließlich allmählich ein gegenseitig solidarisches Netz von Kommunen entstehen, die »[...] einen Sauerteig im starren Körper des Staatslebens bilden, der immer weitere und grössere Kreise durch das Vorbild gedeihlicher und selbstzufriedener Entwicklung mit seinem Geiste durchdringt«.385 379 | Ramus, Pierre, »An Freunde und Gefährten!«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 2. 380  |  Bader, Alfred,Vom Staat zur Kommune – von der Autorität zur Anarchie!«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 73-82. 381  |  Vgl. ebd., S. 76-77. 382  |  Ebd., S. 79. Im Widerspruch zur hochgehaltenen Toleranz steht die angestrebte Zerstörung des Status quo, die mancher nicht-anarchistischen Gruppe einen genügend fruchtbaren Boden darstellt und in nicht-anarchistischer Perspektive durchaus auch als gelungen wahrgenommen werden kann: »Die Zerstörung ist uns [...] so weit notwendig, als das Bestehende uns hindert, die Anarchie aufzubauen.« (Ebd., S. 80). 383  |  Ebd., S. 81. 384  |  Ebd., S. 81. 385  |  Ebd., S. 82.

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Selbstbezeichnungen mit Anarchie-Begriffen sind im Jahrbuch der Freien Generation in allen Bänden anzutreffen. Die gesamtgesellschaftliche Diffamierung von diesen Begriffen beeinflussten die AutorInnen kaum und veranlassten sie dementsprechend auch nicht zu Distanzierungen.386 Autoren wie F. Domela Nieuwenhuis suchten explizit die Nähe zu Anarchie-Begriffen: »Was wir tun müssen ist dieses: Mit allen Mitteln zu versuchen, den Beweis zu liefern, dass wir Anarchisten sind. Wir müssen alles ermutigen, was unserem Ideal zweckdienlich ist, jede Initiative anfachen, und wir können dann dessen gewiss sein, dass jedes gesunde und gute Element in unseren Versuchen unvergänglich bleiben und unsere Gesamtbewegung befruchten wird. Gerade weil wir den festen unerschütterlichen Glauben an den Anarchismus hegen, sind wir auch davon überzeugt, dass keine Macht der Welt im Stande sein kann, ihn zu zerstören.«387

Anarchie-Begriffe können in einigen Artikeln des Jahrbuchs der Freien Generation also durchaus selbst als identitätskonstitutierende Elemente verstanden werden. Wenig überraschend ist strukturbedingt die Absenz von Tagesaktualitäten in einem Jahrbuch. Nichtsdestotrotz widmeten sich einzelne Beiträge aktuellen Themen, deren identitätskonstituierender Gehalt aber bescheiden blieb.388 Anarchistische Ereignisse waren dennoch äußerst relevant für die Konstitution kollektiver Identität in den Jahrbüchern der Freien Generation: Die Kalendarien389 der »Volkskalender [...] der Weltanschauung des Sozialismus-Anarchismus«, wie das Jahrbuch der Freien Generation im Untertitel hieß, stellten Etablierungsorte von Traditionalismen dar. In diesem Gefäß wurden durch die schiere Erwähnung gemeinschaftsund bewegungsrelevante Termine geschaffen und als kanonisierte Kommemorationsdaten ins kollektive Gedächtnis von AnarchistInnen gebracht. Gewisse Daten wie beispielsweise der 1. Mai als Kampftag der Arbeiterschaft oder der 18. März als Gedenktag für die Pariser Kommune von 1871 besaßen bereits rituelle Funktionen für AnarchistInnen und waren für die (Re )Konstitution kollektiver Identität bereits produktiv. Die große Mehrheit der Einträge in den Kalendarien sind hingegen neue Informationen, die als Ressourcen beim Neuaufbau von traditionalistischen Ritualen und kollektiven Kommemorationen der anarchistischen Gemeinschaft dienten. 386  |  Das Bewusstsein um die diffamierende Wirkung von Anarchie-Begriffen war bei den AutorInnen des Jahrbuchs der Freien Generation dabei durchaus vorhanden. Das belegt ein kleiner Satz des Autors Kleinlein: Zur (irrtümlichen) Selbstbezeichnung der Bewegung eines Redners als Anarcho-Sozialismus meinte Kleinlein: »Eine neue, nicht unschöne Bezeichnung für den Klassenkampf des Proletariats, wäre es taktisch doch richtiger gewesen, es an dem Worte ›Sozialismus‹ genügen zu lassen, um den wachsamen Gegnern nicht neues Material zur Entstellung zu bieten.« (Kleinlein, Andreas, »Der Syndikalismus in Deutschland«, Jahrbuch der Freien Generation, Jg. 3, 10.1911, S. 110). 387  |  Nieuwenhuis, Domela F., »Der Anarchismus geht nie unter«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1910, Jg. 2, S. 21. 388 | Vgl. exemplarisch die Beiträge »Die revolutionäre Arbeiterbewegung in der romanischen Schweiz«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1910, Jg. 2, S. 50-60, und Kucera, Josef, »Die mexikanische Revolution«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1912, Jg. 4, S. 37-54. 389  |  In den Bänden 1-3 wurde das Kalendarium ohne spezifischen Titel geführt. Ab Band 4 finden sich die zusammengestellten Daten unter dem Titel »Archiv des sozialen Lebens und Kampfes der Internationale«.

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Dabei bringt eine Analyse der Nennungen der Kalendarien Überraschendes zutage. So stützen Wahl und Dichte der Daten eine Selbstpositionierung von AnarchistInnen, die ansonsten vor allem in der Fremdwahrnehmung vorherrschte und sie als grundsätzlich unpolitische Kriminelle mit einem Hang zu Attentaten respektive als Radaubrüder und -schwestern darstellte, die jede Chance wahrnehmen, den geordneten Gang der Dinge zu sabotieren. Das offenbart der Blick in das »Kalendarium« des ersten Bandes des Jahrbuch der Freien Generation, wo Ereignisse zu anarchistischen Ereignissen umgeschrieben und qualitativ verdichtet wurden, indem sie ins kollektive kulturelle Gedächtnis390 eingeschrieben wurden. Eine Kategorisierung391 dieser anarchistischen Ereignisse ergab, dass Attentate in den Augen der Redaktion offenbar die stärkste Wirkung auf die kollektive Identität hatten: 26 der 161 bewussten Wissenstransfers in Richtung kollektives Gedächtnis der anarchistischen Bewegung waren ihnen gewidmet. Platz 2 belegen gemeinsam Hinrichtungen/ Verurteilungen und an Personen gebundene Gedenktage (beide je 23 Nennungen), Platz 3 nehmen Streiks ein (17 Nennungen), gefolgt von allgemeiner Repression, die 16 Nennungen verzeichnen.392 Damit entfallen rund 2/3 aller Nennungen auf die fünf erwähnten Kategorien, während sich das verbleibende Drittel auf sechs weitere Kategorien verteilt. Darunter, dies eine weitere Überraschung, fallen auch die in anarchistischen Medien sonst verbreiteten Framing-Prozesse gegenüber der Sozialdemokratie: Im »Kalendarium« wurden lediglich 5 von 161 Nennungen darauf verwendet, Gemeinschaft durch Abgrenzung zu SozialdemokratInnen zu stiften.393

390  |  Vgl. Assmann, Der lange Schatten. 391  |  Die Nennungen im Kalendarium von 1910 wurden nach folgenden Schlüsseln kategorisiert: Attentate, Hinrichtungen/Verurteilungen, Gedenktage nach Personen, Streiks, Repressalien/Repression, Aufstände (positiv konnotiert), Gedenktage nach Ereignissen (positiv konnotiert), Politische Parteien und Positionen (Soz.-Dem.), anarchistische Medien, Gedenktage nach Ereignissen (negativ konnotiert), Fremdwahrnehmung (negativ konnotiert) und Sonstiges. Berücksichtigt wurde das Kalendarium in der Erstausgabe des Jahrbuchs der Freien Generation. Dies aufgrund der Prämisse, dass in einer Erstausgabe die mehrheitsfähigsten Ereignisse und Daten Eingang finden würden, um die Absicht der traditionalistischen Bindung der LeserInnen an Zeitung und Bewegung zu maximieren. Vgl. »Kalendarium«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1909, Jg. 1, ohne Seitenzahlen. Eine Sichtung der Kalendarien der Bände 2-6 lässt eine ähnliche Verteilung auch für spätere Jahre vermuten. 392  |  Total Nennungen: 161. Davon betreffen Attentate 26, Hinrichtungen/Verurteilungen 23, Gedenktage nach Personen 23, Streiks 17, Repressalien/Repression 16, Aufstände 12, Gedenktage nach Ereignissen (positiv konnotiert) 9, Politische Parteien und Positionen (Soz.-Dem.) 5, anarchistische Medien 2, Gedenktage nach Ereignissen (negativ konnotiert) 1, Fremdwahrnehmung (negativ konnotiert) 1, Sonstiges 15. 393  |  Diametral zur Verdichtung der Identität im Bereich von Attentaten in den Kalendarien hielt Redaktor und Autor Pierre Ramus in einem seiner ersten Beiträge für das Jahrbuch der Freien Generation paradoxerweise fest: »Wenn wir uns [...] der praktischen Betätigung des Anarchismus zuwenden, so sei vor allem ein Erklärungswort vorausgeschickt. Diese praktische Betätigung seiner Weltanschauung hat nichts mit dem Terrorismus zu tun. Ganz abgesehen von der Verneinung jeder Gewalt durch den Anarchismus, weist die Galerie der Terroristen weit mehr Angehörige anderer Minoritätsparteien auf, als dass man den Anarchisten schlechtweg mit dem Terroristen identifizieren darf.« (Ramus, Pierre, »Die sozialphilosophi-

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Mit der zeitlichen und räumlichen Schrankenlosigkeit, die die Kalendarien prägten, wurde ihnen eine zusätzliche gemeinschaftsstiftende Funktion eingeschrieben: Die entgrenzte Zeitlichkeit sorgte für ein historisches Selbstverständnis und -bewusstsein, die proklamierte geografische Weitläufigkeit eröffnete den lokalen, meist kleineren anarchistischen Gruppen und Gemeinschaften die Möglichkeit, sich als Teil einer weltumspannenden Bewegung zu imaginieren, sich also als Teil eines größeren, globalen Ganzen fühlen zu können.394

4.2.10.2 Zusammenfassung Das Jahrbuch der Freien Generation bedient sich in der Konstruktion und Konstitution der kollektiven Identität einer Vielzahl von Komponenten. Die Vermittlung von Hypergütern gehört ebenso dazu wie Selbstbezeichnungen, Framing-Prozesse oder subidentitäre Framing-Prozesse. Gerade subidentitäre Framing-Prozesse stellen dabei eine Anomalie dar: Es grenzen sich unterschiedliche Subströmungen – zuweilen in derselben Ausgabe – gegenseitig ab und aus, um Gemeinschaft zu schaffen, wodurch eine übergreifende Kanonbildung unmöglich wird und stattdessen eine widersprüchliche Plethora der verschiedenen anarchistischen Strömungen der Zeit zurückbleibt. Das war im Selbstverständnis des Jahrbuch der Freien Generation allerdings durchaus beabsichtigt. Darüber hinaus spielt im Jahrbuch der Freien Generation die Etablierung von Traditionalismen eine permanente und nicht zu unterschätzende Rolle als identitätskonstituierende Methode. Sie sind als Strategie zu werten, eine pan-anarchistische kollektive Identität zu etablieren, da sie strömungsindifferent Momente kollektiver Kommemorationen zu etablieren versuchten, die allen Subidentitäten als Konstitutionsstützen gedient haben dürften. Großmehrheitlich prägend in pan-anarchistischer Hinsicht für die Konstruktion kollektiver Identität im Jahrbuch der Freien Generation sind weiter Framing-Prozesse gegenüber der Sozialdemokratie, auf die sich alle Subgemeinschaften einigen konnten. Zuweilen alleinstehend, oft aber im Verbund mit anderen Methoden affirmierten sie die kollektive Identität der Gemeinschaft hochfrequent und entscheidend. Der selbstverständliche Umgang mit Anarchie-Begriffen bei Selbstbezeichnungen im vollen Bewusstsein ihrer diffamierenden Charakters schließlich lässt den Eindruck entstehen, dass die AnarchistInnen rund um das Jahrbuch der Freien Generation die Reizwörter in einem identitätsstiftenden Akt zu eigentlichen Geusenwörtern machten.

schen Tendenzen und Ziele des modernen Anarchismus«, Jahrbuch der freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 19-21. [Herv. i.O.]). 394 | Die Strategie, lokale Kämpfe in aller Welt als eigene darzustellen oder zumindest den eigenen nahestehende und damit der kollektiven Identität Attribute wie globale Relevanz und Agilität zuzugestehen, lässt sich auch in anderen Beiträgen nachweisen. In »Die Ziele der chinesischen Revolution und die soziale Struktur des chinesischen Volkslebens« etwa schrieb Ramus: »Wir Anarchisten und tatsächlichen Sozialisten mühen uns oft so sehr ab, die Möglichkeit unseres Ideals zu beweisen. Es ist von grösster Wichtigkeit für uns, die chinesischen Verhältnisse gründlich zu studieren. In diesen finden wir wundervolle und schlagendste Beweise nicht nur für die Durchführbarkeit des Sozialismus, sondern sogar für dessen praktische Betätigung auf riesiger Grundlage.« (Ramus, Pierre, »Die Ziele der chinesischen Revolution und die soziale Struktur des chinesischen Volkslebens«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1913, Jg. 5, S. 96).

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Die im Jahrbuch der Freien Generation auftretenden und angebotenen kollektiven Identitäten lassen sich nicht vereinheitlichen. Eine eindeutige politische Einordnung kann bei dieser Zeitschrift dementsprechend nur misslingen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil es das erklärte Ziel der Redaktion war, die Vielgestaltigkeit der Bewegung abzubilden und gewissermaßen als Fahrtenschreiber des Anarchismus der 1910er Jahre zu fungieren. Es finden sich kollektive Identitäten anarcho-kommunistischen, anarcho-sozialistischen und anarcho-syndikalistischen Zuschnitts in den Ausgaben des Jahrbuchs der Freien Generation, die alle mit derselben Selbstverständlichkeit die 1. Person Plural und damit auch die LeserInnen für sich vereinnahmen. Ein leichtes Übergewicht kann auf der anarcho-kommunistischen Seite geortet werden, da Redaktor und Autor Pierre Ramus (alias Rudolf Großmann) dieser Strömung zugetan war und sich in Beiträgen dahingehend äußerte. Parallel zur Absenz eines umfassenden Kanons bezüglich Zielen und Methoden ist auch keine kollektive Identität im Singular festzustellen. Vielmehr sind es kollektive Identitäten, die gewissermaßen im Wettbewerb um die Gunst der LeserInnen zueinander stehen. Knapp formuliert setzt der anarcho-kommunistische Flügel dabei auf eine umfassende Revolution die mit unentwegter Propaganda herbeizuführen sei, der anarcho-sozialistische Flügel seinerseits propagiert eine unmittelbare Umsetzung der angestrebten Ziele im Jetzt mittels Gründung von Siedlungen und Produktionsund Konsumgenossenschaften, deren Vorbildfunktion den Status quo absterben ließe. Beide Strömungen setzen dabei auf einen grundlegenden Universalismus bezüglich Bewegungssubstrat. Anders der dritte prävalente anarcho-syndikalistische Flügel, der konsequent an einer Klassenorientierung festhält und mittels Generalstreik den Staat aushebeln will, um im Anschluss daran die neue Gesellschaft auf frei föderierten Syndikaten aufzubauen. Diese drei Flügel rivalisieren nicht zuletzt auch im Rahmen der Konstruktion und Konstitution ihrer kollektiven Identitäten miteinander: Vor allem die anarcho-sozialistischen und die anarcho-kommunistischen Lager nutzen die Differenzen zur jeweils anderen Strömung, um ihre jeweiligen kollektiven Identitäten zu formen und zu festigen. Die Mehrzahl an adressierten und repräsentierten anarchistischen Gemeinschaften im Jahrbuch der Freien Generation äußert sich dabei in Gleichzeitigkeit. Eine diachrone Betrachtung über alle Ausgaben ergibt trotz der Unterschiede also ein konsistent-inkonsistentes Bild ab. Anders formuliert wandelt sich die kollektive Identität nicht von Ausgabe zu Ausgabe, sondern von Artikel zu Artikel, was Pluralismus und Meinungsvielfalt im Anarchismus des frühen 20. Jahrhunderts gut illustriert. Die so geartete pan-anarchistische kollektive Identität wird mittels strömungsübergreifenden Traditionalismen weiter gepflegt: Anlässe und Daten zu kollektiven Kommemorationen unterschiedlicher anarchistischer Subidentitäten werden nicht weiter spezifiziert und damit als anarchistisch, also für alle Strömungen geltend, vermittelt. Eine spezielle Häufung identitätskonstituierender Beiträge ist nicht festzustellen und damit auch nicht an einem oder mehreren historischen oder anarchistischen Ereignissen festzumachen.

4.2.10.3 Bibliografische Details (1) Jahrbuch der Freien Generation: Volkskalender und Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus-Sozialismus; (2) Verlag ›Die freie Generation‹; Bd. 1: Rue de la Bastille 2, Paris, Bd. 2: Rue St. Sabin 12, Paris, Bd. 3: Rue Haute 42, Brüssel, Bd. 4: Agnesstrasse 22, Zürich, Bd. 5: Werdstrasse 10, Zürich; (3) Pierre Ramus; ab

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Nr. 2 Rudolf Großmann (alias Pierre Ramus), Kierlingerstraße 183, Klosterneuburg bei Wien; (4) Zürich (Nr. 1395, 4, 5); Paris (Nr. 2); Brüssel (Nr. 3); (5) 10.1910-10.1914396, jährlich; 116-128 S.; (7) Die freie Generation, 1906-1910, London; (9) Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich; NN 306; (10) Das Jahrbuch der Freien Generation ist die Fortführung der monatlich erscheinenden anarchistischen Revue Die freie Generation. Neben längeren essayistischen Artikeln, die sich grundsätzlich mit dem Anarchismus, seiner aktuellen und historischen Ausprägung und Wandlung beschäftigen und nachgezeichneten Debatten, die in anarchistischen Zeitungen Europas stattfanden, finden sich auch anarchistische Gedichte und Liedertexte. Einzigartig ist das das Gefäß »Kalendarium«, das eine Auflistung anarchistischer Ereignisse enthält. Ab Band 3 werden dabei vor allem die relevanten Ereignisse des jeweils vorangegangenen Jahres unter dem Titel »Archiv des sozialen Lebens und Kampfes« (Bd. 3) respektive »Archiv des sozialen Lebens und Kampfes der Internationale« (Bd. 4 und 5) aufgearbeitet. Einzigartig und für die Anarchismusforschung von erheblichem Wert sind auch die Rubriken »Internationales Adressenverzeichnis der anarchistischen Presse« sowie das »Offizielle Adressenverzeichnis der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften« und der »Vereinigungen des Anarchismus in deutscher Sprache«, die einen großen Fundus an Zeitungen, Personen und Organisationen in Echtzeit erfasst bieten.397 Ab Band 2 wurde die Rubrik »Bibliographie der Anarchie in deutscher Sprache« erstabgedruckt, eine übersetzte, lediglich die deutschsprachigen Titel umfassende Übersetzung der akribisch von Max Nettlau recherchierten »Bibliographie de l’anarchie«, die ursprünglich 1897 in französisch erschien.398

4.3 Z usammenfassung deutschspr achiger anarchistischer Z eitungen Ein quellenanalytischer Blick in die zehn deutschsprachigen anarchistischen Zeitungen und Zeitschriften, die zwischen 1885 und 1914 in der Schweiz erschienen sind, liefert ein buntscheckiges Bild bezüglich Konstruktion und Gestalt der kollektiven Identität der AnarchistInnen der Zeit, das gleichzeitig aber auch über geteilte Formen und Inhalte verfügt. Mit geschärftem Blick für Konstruktionskomponenten, deren Anwendungen und Funktionen fällt auf, dass in allen Titeln größtenteils dieselben Konstruktions395 | Obwohl Paris als Erscheinungsort angegeben wird, dürfte die Zusammenstellung und Arbeit an Band 1 in Zürich erfolgt sein. Dafür spricht die Dichte an Artikeln mit Fokus Schweiz/Anarchismus, dafür spricht aber v.a. die Schlussformel des Vorworts »An Freunde und Gefährten!« von Redaktor Pierre Ramus: »Im Züricher Gefängnis, Ende September, vor meiner Ausweisung aus der ›freien« Schweiz‹.« (Ramus, Pierre, »An Freunde und Gefährten!«, Jahrbuch der freien Generation, 10.1909, Jg. 1, S. 2). 396  |  Eine nähere Bestimmung des Erscheinungsdatums ist nicht möglich. Vgl. dazu die Angaben auf der Innenseite des Titelblattes, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1911, Jg. 3. 397 | Die genannten Rubriken finden sich in den Bänden 1 und 2 jeweils auf den letzten Seiten des Jahrbuchs der Freien Generation. 398  |  Diese Rubrik ist in den Bänden 2, 4 und 5 zu finden. In Jg. 3 findet sich eine Entschuldigung der Redaktion für das Fehlen, wobei Platzmangel als Grund dafür angegeben wird. Vgl. »Redaktionelle Anmerkungen«, Jahrbuch der freien Generation, 10.1911, Jg. 3, S. 128.

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mechanismen produktiv sind. Omnipräsent in den Zeitungen ist etwa das Weitergeben von Zielen, Werten, Idealen, Strategien und Methoden positiver wie negativer Art: die Vermittlung von Hypergütern. Zuweilen ohne sichtliches katalytisches Moment, zum Teil extern stimuliert durch Fremdwahrnehmungen oder Tagesaktualitäten werden Rahmen der kollektiven Identität mit Hypergütern umrissen und abgesteckt. Neben titelspezifischen Hypergütern lassen sich auch solche finden, die in allen Quellen auftauchen und die einem anarchistischen Grundkonsens zugerechnet werden können. Dazu zählt das Anstreben einer grundlegenden Absenz von Zwang, Autoritäten und Hierarchien aller Art, die oft in Staatskritik, aber auch in Religions- und Kirchenkritik formuliert wird. Die beiden Sphären werden auch verquickt in dieser Hin- und Absicht, beispielsweise in der Jungen Schweiz: »Nicht nur die Religion als solche, sondern die Kirche bekämpfen wir als ein Institut zur Förderung von Stumpfsinn und Autoritätsglauben, als die Vergifterin der Volksmassen [...]. Das Absolute, das Autoritative [...] ist unserem Intellekt feindlich. Unsere Weltanschauung ist eine solche, die auf Erfahrung, gewonnen durch unsere Sinne und gesichtet durch die Kritik des Intellekts, beruht.« 399

Die Herrschaftslosigkeit, um es in einem Begriff zu verdichten, ist eines der zentralen positiven Hypergüter der anarchistischen Bewegung und wird von allen untersuchten Gemeinschaften wiederholt bekräftigt. Beispielsweise vom Zürcher Weckruf: »Gewiss, wir Anarchisten, die wir die Gewalt bekämpfen, weil unser Ideal die Gewalt- und Herrschaftslosigkeit ist, wir hätten wahrlich nichts dagegen, wenn wir ohne Gewalt, ohne Terror, ohne ›ungesetzliche‹ Mittel auskämen.«400 Auch eine allumfassende Egalität zählt zu den zentralen anarchistischen Werten. So heißt es etwa in der Polis: »Wenn wir die wirkliche Menschheitsentwicklung vertreten, so müssen wir die vollständige Gleichberechtigung jedes Menschen erstreben [...] Der Inhalt des Anarchismus ist: so zu leben, so sich auszuprägen, seine Persönlichkeit so in Beziehung zu allem zu setzen, wie man ist, vollständig, frei und losgelöst von allem Zwang, der von aussen an uns herantritt, losgelöst von Vergangenheit und Zukunft. [...]« 401

Ebenso tritt die Befürwortung föderativer, dezentralisierter Strukturen implizit immer wieder in Form eines weitreichenden Antiparlamentarismus auf, der nicht nur Parlamentarier bekämpft, sondern grundlegend die Idee der repräsentativen Demokratie ablehnt. Stellvertretend heißt es etwa im Arbeiter-Wille: »Unser Kampf gilt allen Stützen der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur und somit zuallererst der trügerischen Wahnvorstellung des Parlamentarismus.«402 Identitätskonstituierend lautet es kritisch gegenüber Parlamentariern und Parlamentarismus weiter: »»Alle 399 | Brupbacher, Fritz, »Zur Organisation der Intellektuellen«, Junge Schweiz, 1899, Nr. 1, S. 9. 400  |  H.M., »Die direkte Aktion«, Der Weckruf, 9.1905, Jg. 3, Nr. 16, S. 1. 401  |  Dr. Friedeberg, »Historischer Materialismus und Klassenkampf: Nach einem Vortrage«, Polis, 1.4.1907, Jg. 1, Nr. 5, S. 75. Der Artikel ist im wesentlichen der Demontage des Marxismus gewidmet, da dieser gemäß Friedeberg den psychischen Aspekt der Menschheitsentwicklung verschließe durch seine Konzentration auf die ökonomischen Bedingungen. Vgl. ebd., S. 71-75. 402  |  »Wir wollen nicht länger schweigen.! [sic]«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Nr. 1, S. 1.

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diejenigen aber, die das Spiel der Reaktion in Wirklichkeit begehen, sich Sozialdemokraten und Revolutionäre nennen, begünstigen die bürgerliche Macht, indem sie dieselbe rechtfertigen und befestigen.«403 Auf diesen und weiteren Stützpfeilern soll, darüber sind sich die betrachteten Gemeinschaften ebenfalls einig, eine komplett neue Gesellschaft entstehen, in der das Leben durch Werte wie Solidarität und maximale individuelle Freiheit geprägt sein soll, nicht aber durch Kapitalismus, Nationenkonstrukte oder Unterdrückung irgendwelcher Art, die konsequent als negative Hypergüter verhandelt werden. In der Vorkämpferin etwa finden sich elaborierte Absagen mit identitärem Konstitutionspotenzial an das Konzept Nation mit Hinweis auf dessen konstruktivistischen Charakter: »Wir anerkennen die weissen Grenzsteine nicht mehr: sie sind von Menschenhand gesetzt und können von Menschenhand wieder ausgegraben werden«, und nichts anderes als der Zufall, so die Vorkämpferin, werfe einen zwischen »ganz besonders günstige Grenzsteine«404. Zu den Effekten des Kapitalismus heißt es in derselben Zeitung: »[Das Volk, d.V.] hat den Kampf aufgenommen mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, in welchem der Arbeiter um kargen Lohn seine Lebenskraft einsetzen muss, während sein Brotherr die Früchte seines Fleisses einheimst und ein behagliches und schönes Dasein lebt. Dieses System muss abgeschafft werden, die arbeitenden Menschen haben das Recht, die Früchte ihrer Arbeit für sich zu beanspruchen.« 405

Lapidarer hält der Vorposten zum Thema fest: »Wir haben nur einen Feind zu fürchten: das Kapital«406. Im Weckruf wird der Unterdrückung in martialischem Ton ganz generell der Kampf angesagt: »Wir sind keine Monarchenabschlachter [...]. Wir wissen, dass die Figuranten der staatlichen Gewaltherrschaft und der gesetzlich geschützten Ausbeutung nicht die Ursachen derselben sind. Wir führen Krieg gegen [...] die Ausbeutung in jeder Form, gegen die Unterdrückung und gegen ihre Ursache die autoritätsgläubige Dummheit.« 407

Auch die gegenseitige Hilfe zählt zu den prägenden anarchistischen Hypergütern. Sie wurde strömungsübergreifend hauptsächlich als abstraktes Ideal verbreitet, das in der neuen Gesellschaft den Alltag prägen sollte, wie es in der Vorkämpferin heißt: »Mitten in dunkler Zeit lehrt uns sprechen von Licht, damit wir den Weg nicht verlieren zu dem gelobten Land. Darin aber wird nicht Kampf mehr sein und keine Zerstörung und Kummer und Tränen werden nicht mehr sein. Und an Stelle von all diesem wird sein gegenseitige Hilfe und wahre Liebe.« 408

403 | »Aus der Internationale des Gewerkschaftssozialismus: Frankreich«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 6. 404 | »Unser Vaterland«, Die Vorkämpferin, 1.9.1906, Jg. 1, Nr. 5, S. 2. 405 | Scheuermayer, Bertha, »Arbeiterinnen, organisiert euch!«, Die Vorkämpferin, Weihnachtsnummer 1906, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. 406  |  W., »Vom Vaterland«, Der Vorposten, 1.5.1906, Jg. 1, Nr. 1, S.2. 407  |  Die Redaktion, »Ein Polizeispitzel«, Der Weckruf, 9.1.1904, Jg 1, Nr. 13, S. 2. 408  |  »Heute ist Feiertag!«, Die Vorkämpferin, 1.5.1908, Jg. 3, Nr. 1, S. 1 (Herv. i.O.).

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Gegenseitige Hilfe blieb aber nicht reines Konzept. Als Arbeiterinnen der Tabakfabrik Vautier-Frères für ihre gewerkschaftliche Organisierung entlassen wurden, stieß die Vorkämpferin neben einem Boykottaufruf die Gründung einer genossenschaftlichen Alternative an und stellte fertig ausgearbeitete Businesspläne zur Verfügung.409 Ebenfalls sehr häufig kommt die konstitutive Komponente der Framing-Prozesse zum Auf bau und zur Pflege kollektiver Identität zur Anwendung, also das identitäre Abstecken von Grenzen der Gemeinschaft gegen außen. Von den vermittelten Hypergütern her betrachtet erstaunt es kaum, dass Abgrenzungen gegenüber bürgerlichen Überzeugungen und Gruppierungen sowie gegenüber Bewahrern der hierarchischen bürgerlichen Ordnung wie etwa der Kirche getätigt werden. Im Weckruf beispielsweise wird kollektive Identität geformt und verfeinert durch das ›Wir‹ abschließende Verurteilungen von »Richter[n] und Pfaffen«410, in der Jungen Schweiz sind es Framing-Prozesse gegen »Krämer« und »Philister«, die »nach materiellem Besitz als dem Idealsten strebenden Menschen [...]«411. Eine mindestens ebenso wichtige Rolle für die Konstitution des kollektiven anarchistischen Selbst scheint die Demarkation zu sozialdemokratischen Haltungen und Gemeinschaften hin zu haben. In gewissen Passagen des Weckruf etwa wird die Abgrenzung zur Sozialdemokratie hin geradezu zur Raison d’Être hochstilisiert: »Mögen die ›Sozialdemokraten‹ nur wieder zu wirklichen Sozialisten werden, dann werden wir sofort aufhören, uns zum Unterschied von ihnen Anarchisten zu nennen, weil es dann keinen Unterscheid mehr zwischen uns beiden gibt«.412 In der Revolutionären Bibliothek werden die beiden identitätsrelevanten Gruppierungen des ›anderen‹ gar argumentativ verquickt: »Zum Vorteile der Kapitalisten, der Geistlichkeit, der Regierungen, der Ausbeuter aller Art, der Reaktionäre aller Gattungen und Farben« arbeite letztlich die Sozialdemokratie und sie habe »[...] von den Zeiten Bakunins und der Jura-Föderation bis auf den heutigen Tag die Revolutionäre mit allen Mitteln bekämpft. [...]«413. Und die Revolutionäre Bibliothek fragt weiter: »Was haben sie denn für den Sozialismus getan? Sie haben ihn kastriert [...] Alles Grosse, Schöne und Entflammende [...] ist in der bourgeoisen, kapitalistischen Athmosphäre [sic] der Wahl-Kämpfe verloren gegangen«414. Der Arbeiter-Wille schließlich machte die Bekämpfung der Sozialdemokratie zu einem gleichwertigen Ziel wie die Zerstörung des Staates: »Frei und unverhüllt werden wir alle Schandtaten der bestehenden Gesellschaft entlarven, so wie das Doppelantliz und die Geschäftemacherei des ärgsten Judasfreundes des Proletariats, der sozialdemokratischen Streberpartei.«415 Neben Framing-Prozessen gegen außen wird die anarchistische kollektive Identität weiter in gut der Hälfte der betrachteten deutschsprachigen Zeitungen auch mit subidentitären Framing-Prozessen konstituiert. Eine Stärkung der kollektiven Identität der einzelnen anarchistischen Gemeinschaften wird hierbei durch Abgrenzungen gegen innen entlang unterschiedlicher anderer prävalenter Strömungen vollzogen. Im anarcho-sozialistischen Sozialist wird beispielsweise subidentitär ab409  |  Vgl. »Ein zu verwirklichender Traum«, Die Vorkämpferin, 1.9.1907 Jg. 2, Nr. 5, S. 5-8. 410  |  H.M., »Die direkte Aktion«, Der Weckruf, 9.1905, Jg. 3, Nr. 16, S. 1. 411 | Brupbacher, Fritz, »Zur Organisation der Intellektuellen«, Junge Schweiz, 1899, Nr. 1, S. 9. 412  |  H.M., »Anarchistmus und direkte Aktion«, Der Weckruf, 8.1905, Jg. 3, Nr. 15, S.4. 413 | Kropotkin, Peter, »Der revolutionäre Geist«, Revolutionäre Bibliothek, 1905, Nr. 1, S. 10. 414  |  Ebd., S. 12. 415  |  »Wir wollen nicht länger schweigen.! [sic]«, Arbeiter-Wille, 1.5.1910, Jg. 1, Nr. 1, S. 1.

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grenzend darauf hingewiesen, dass die klassenkampforientierten Anarcho-Syndikalisten »[...] genauso skrupellose Politiker waren wie die Parlamentarier [...]. Die [Anarcho-Syndikalisten, d.V.] sind noch immer tief im Staat befangen, die nichts anders zu arbeiten wissen, als für die Herren und ihren Markt. [...] Wie viele gibt es, deren Kampf gegen Institutionen nur ihre Erscheinungsform der Trägheit des Herzens und der Hände ist!«416 Weiter zieht der Sozialist auch subidentitäre Demarkationen gegenüber den vornehmlich theoretisch agitierenden anarcho-kommunistischen Gemeinschaften, um die eigene kollektive Identität zu akzentuieren und zu festigen: »Sammeln wir uns zum Bau der neuen Wirklichkeiten; zur Errichtung unserer Gemeinschaften, zur Zusammenlegung unserer wahrhaften Interessen. Begnügen wir uns aber ja nicht damit, uns mit Ideen und Rufen und Agitationen oder mit geistigen Spielen und Moden irgend einer Art einzulullen und abzuwenden [...]; sammeln wir uns als Bekenner, die nicht bloss mit dem Munde, sondern mit der ganzen Lebensführung bekennen.« 417

Neben diesen in mindestens der Mehrheit der betrachteten Titel produktiven Komponenten sind in der deutschsprachigen anarchistischen Presse weitere Identitätskonstruktionsmechanismen prävalent, mithilfe derer kollektive Identitäten oft titelspezifisch akzentuiert oder nuanciert werden. Dazu zählt die Schaffung und der Unterhalt von Traditionalismen. Diese Identitätskonstitutionskomponente tritt in mehrerenTiteln auf, wo sie grundverschiedenen Zwecken dient. Im Weckruf wird der Anarchismus gewissermaßen als Konsequenz der Weltgeschichte dargestellt, als natürliche Entwicklung, womit ihm eine archetypische, auch biologistische Qualität eingeschrieben wird: »Wir wollen uns von der Umstrickung des Staates befreien, wir wollen über uns keine Herren mehr, die uns befehlen und unseren Willen durch den ihren verdrängen könnten [...]. Wir wollen [...] uns allein an die bewusste Entwicklung des innersten Wesens unserer ganzen Natur [...] halten«.418 Beim Jahrbuch der Freien Generation (1910-1914) etwa wird mittels Einführung von anarchistischen Feier-, Gedenktagen und Kommemorationsmomenten eine eigene Geschichte inszeniert und geschrieben. Faktionalisierungen und Friktionen innerhalb der anarchistischen Bewegung werden dabei nicht thematisiert, sodass eine pan-anarchistische kollektive Identität sichtbar wird, in der die subidentitären Demarkationen der einzelnen Subströmungen abgefedert werden. In anderen Blättern wurden diese Differenzierungen zuweilen mit identitärem Mehrwert inszeniert. Die Traditionalismen dieser Art werden intern identitätspolitisch genutzt. Das ist indes nicht ihre einzige Anwendung: Traditionalismen werden auch mit identitätspolitisch externer Absicht verwendet. In verschiedenen Zeitungen wird die Gestaltung des anarchistischen kollektiven Selbst wiederholt mit der Verwendung von Symbolen und Narrativen des kulturellen Mainstreams mitgeleistet, sei es in Form von An- oder Rückbindungen oder Gleichsetzungen. Diese Praxis soll in dieser Arbeit nationalistische oder patriotische Rekuperation genannt werden. Anwendungen finden sich beispielsweise im Vorposten in der Rückbindung des kollektiven Selbst an die in nationalistischem Duktus mythologisierten »alten Schweizer«, die komparatistisch als Rollenbilder für das Verhalten an Streiks herangezogen werden: »Die Bourgeoisie spricht von Verwilderung [der Arbei416  |  G.L., »Die französischen Syndikalisten«, Der Sozialist, 1.6.1909, Jg. 1, Nr. 8, S. 57-58. 417  |  ab., »Der Krieg«, Der Sozialist, 1.4.1909, Jg. 1, Nr. 4, S. 27. 418 | Reclus, Elisée, »Warum wir Anarchisten sind«, Der Weckruf, 15.10.1904, Jg. Jg. 2, Nr. 12, S. 1.

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terInnen bei Streikkämpfen, d.V.]. Aber diese Verwilderung bedeutet nichts anderes als die Entstehung einer neuen Tapferkeit [...] mindestens so würdig, als die der alten Schweizer«.419 Im Einschreiben in eine lange Tradition ist einerseits der Versuch einer bewegungsintern produktiven Archetypisierung zu erkennen. Dieses aneignende Anschmiegen an gängige kulturelle Muster, Narrative und Symboliken ist aber auch als Deexotisierungsversuch von AnarchistInnen zu verstehen, der die Attraktivität der kollektiven Identität nach außen erhöhen sollte. Dass dazu nationalistisch-patriotische Metaphorik und Jargons verwendet wurden, die der anarchistischen Sache inhaltlich an sich fern standen und die in kontradiktorischer Manier oft genug auch als negative Hypergüter zur Konstitution kollektiver Identität in diesen Zeitungen beitrugen, kann mit der großen Wirkungsmacht einer hochfliegenden Xenophobie und eines ausgeprägten Nationalismus für das soziale Klima in der Jahrhundertwende erklärt werden. Bei Traditionalismen beleuchten und bestärken grundsätzlich gleiche Identitätskonstruktionsmechanismen also je nach Anwendung und Absicht unterschiedliche Aspekte kollektiver Identitäten. Dieses Phänomen lässt sich auch in anderem Zusammenhang in der Untersuchung deutschsprachiger anarchistischer Zeitungen der Schweiz von 1885-1914 zeigen. Aus identitätspolitischer Perspektive ebenfalls interessant ist auch der gleichsam janusköpfige Umgang mit AnarchieBegriffen in den Selbstbezeichnungen. Einzelne Titel liefern Beweise für den wirkungsmächtigen und performativen Reizwortcharakter von Anarchie-Begriffen, indem sie trotz eindeutig anarchistischen Inhalten gezielt andere Selbstbezeichnungen wählen oder sich gar von Anarchie-Begriffen als Fremdbezeichnungen distanzieren. Neben der Jungen Schweiz und der Vorkämpferin finden sich dahingehende Beispiele auch in der Freien Gesellschaft, die sich »internationale Socialisten«420 nannten, um der Repression zu entgehen, die ihnen bei einer Selbstbezeichnung mit Anarchie-Begriffen gedroht hätte. Dadurch würde einem, wie die Freie Gesellschaft festhält, »[...] die politische Polizei direkt auf den Hals gehetzt«.421 Die Absicht dieses identitätspolitischen Schachzugs dürfte die Schaffung von Akzeptanz in der Restgesellschaft sein, die sich der Verschlagwortung mit einem Reizwort entzieht, um dem Inhalt Platz einzuräumen. Der Preis dafür ist allerdings hoch: Das Unterfangen kann auch in bewegungsinterner Isolation münden, die für die Gemeinschaft umso härter ausfallen dürfte, sollte die Anschmiegung an den gesamtgesellschaftlichen Mainstream misslingen. Andere Blätter lassen sich vom Reizwortcharakter entweder nicht beeindrucken und beeinflussen, oder sie transformieren die Anarchie-Begriffe im Rahmen linguistischer Reappropriationen zu Geusenwörtern und schreiben ihnen bewusst trotz, zuweilen sogar gerade wegen ihres marginalisierenden Charakters positive Werte zu, indem sie sie zur Selbstbezeichnung verwenden Die Zeitungen Weckruf, Revolutionäre Bibliothek, Sozialist hingegen fügten sich dem Druck nicht, und bezeichneten sich offen mit Anarchie-Begriffen, ebenso das Jahrbuch der Freien Generation: »Was wir tun müssen ist dieses: Mit allen Mitteln zu versuchen, den Beweis zu liefern, dass wir Anarchisten sind [...]. Gerade weil wir den festen unerschütterlichen Glauben an den Anarchismus hegen, sind wir auch davon überzeugt, dass

419 | G., »Dies und Das: Patriotismus der Bourgeoisie«, Der Vorposten, 7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 420  |  T.D...y [T. Dietschy], »Was wollen die internationalen Socialisten?«, Freie Gesellschaft, 1.4.1892, Jg. 1, Nr. 0, S. 2. 421  |  Die Redaktion, »In eigener Sache«, Freie Gesellschaft, 23.4.1892, Jg. 1, Nr. 1, S. 4.

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keine Macht der Welt im Stande sein kann, ihn zu zerstören«422. Hier dürfte das genaue Gegenteil der Fall sein: Das Beharren auf Selbstbestimmung auch in nomenklatorischen Belangen dürfte bewegungsintern Wohlwollen auslösen, wohingegen Mitglieder der bewegungsfernen Gesamtgesellschaft von der engen Bindung der Gemeinschaft an Anarchie-Begriffe eher in ihr Milieu zurückgeworfen werden dürften. Die verwendeten Konstruktionsmechanismen der Zeitungen sind nicht nur in synchroner Betrachtung sehr ähnlich. Auch in der diachronen Betrachtung einzelner Titel bleiben sie in der Regel dieselben. Dies wird sicherlich begünstigt durch die relativ kurze Erscheinungsdauer der meisten Titel. Aber auch Zeitungen, die über längere Periode erschienen sind wie etwa der Weckruf (1903-1907), bei dem die häufigen Redaktionswechsel auch Veränderungen in der Ausrichtung zur Folge hatten, weisen keine Mutationen der Konstruktions- und Konstitutionsmethoden der kollektiven Identität auf. Inhaltlich findet der geortete Komponentenkanon nur partiell Entsprechung. Wie anhand einiger Beispiele gezeigt werden konnte, sind bei Hypergütern und Framing-Prozessen durchaus Gemeinsamkeiten festzustellen. Aber wie ebenfalls deutlich wird, sind auch Faktionalisierungen und Friktionen ein prägender Faktor anarchistischer kollektiver Identität. Bei Fragen nach Methoden, Etappenzielen, Bewegungssubstrat respektive potenziellen Zielgruppen werden lapidare Konzeptionsunterschiede innerhalb der kollektiven Identitäten der anarchistischen Bewegung erkennbar. Zwar finden sich auch in den Methoden strömungsübergreifende Methoden wie beispielsweise die freie, selbstbestimmte Bildung, die beinahe in sämtlichen Titeln positiv konnotiert als Hypergüter vermittelt werden. Exemplarisch betont der anarcho-sozialistische Sozialist etwa, dass freie Bildung imstande sei »[...] die kommende Generation zu Freunden und Gefährten der fortschrittlichen Elemente ihrer Zeit zu machen [...]«423. Dazu brauche es »[...] Erziehung, die von dem Gedanken ausgeht, dass die Kinder nur das Beste vom Besten haben müssen; dass Kunst und Wissenschaft nicht Luxusartikel zum Gebrauch der Reichen sind, sondern dass jedem einzelnen Menschengeist geholfen werden muss, zu ihnen zu gelangen; dass die Kinder freie Männer und Frauen und nicht biegsame, unterwürfige Geschöpfe werden sollen.«424 Und aufgrund des skizzierten gemeinsamen Grundstocks an Hypergütern können alle ausgearbeiteten kollektiven Identitäten als anarchistisch, mindestens aber als anarchoid bezeichnet werden. Die differierenden Positionen der einzelnen Gemeinschaften zu wichtigen Punkten sowie unterschiedliche Prämissen, die ihnen zugrunde liegen und sie erst logisch schlüssig machen, verlangen aber nach einer feinmaschigeren Beurteilung der hier eingehend betrachteten Sozialen Bewegung und ihrer AkteurInnen. Die differenzierte Betrachtung der kollektiven Identität von deutschsprachigen AnarchistInnen in der Schweiz im Spiegel ihrer eigenen Presse fördert im Überblick eine Vielzahl kollektiver Identitäten zutage. Diese Pluralität kann, muss aber dabei nicht zwingend in den einzelnen Titeln Entsprechung. finden Wohl gibt es Titel, die konstant in einer anarchistischen Subidentität verhaftet bleiben. Die 1892 erschienene Freie Gesellschaft etwa konstituiert und spiegelteine klassisch anarchis422  |  Nieuwnehui, Domela F., »Der Anarchismus geht nie unter«, Jahrbuch der Freien Generation, 10.1910, Jg. 2, S. 21. 423  |  N., Die Fortführung von Ferrers Werk, Der Sozialist, 15.11.1909, Jg. 1, Nr. 19, S. 146. 424  |  Ebd., S. 148.

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tische Gemeinschaft wider. Bedingungslose Freiheit von Individuum und Gesellschaft werden aspiriert, totale Absagen an Staat und Bourgeoisie werden formuliert, zu denen auch parlamentarisch orientierte AkteurInnen gezählt werden. Mit universalistischem Ansatz wird ein revolutionäres Substrat angegangen, das mittels Propaganda bloß entfesselt werden müsse. Der Sozialist, dagegen, erschienen zwischen 1909 und 1915, dokumentiert und konstituiert eine durchwegs und durchgängig anarcho-sozialistische Gemeinschaft. Sie versteht sich als unikale Alternative zum kapitalistischen und nationalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsgefüge, das sie durch aktives Gegenleben in sogenannten Siedlungen implodieren lassen will. Die kollektive Identität der Gemeinschaft rund um den Sozialist ist wesentlich geprägt von der aktionistischen Idee, nicht auf die Revolution als punktförmiges Element zu warten, sondern sie im Jetzt in der Fläche umzusetzen. Weiter zeichnet sich die anarcho-sozialistische kollektive Identität des Sozialist durch einen grundlegenden Universalismus bezüglich des Bewegungssubstrats aus, indem er die Kategorie der Klasse an und für sich ignoriert. Das portraitierte und projizierte ›Wir‹ bleibt stet. Auch im Arbeiter-Wille, der 1910 erschien, bleibt die kollektive Identität eindeutig, was ob der sehr kurzen Erscheindungsdauer allerdings nicht im gleichen Maße erstaunt. Der Arbeiter-Wille repräsentiert und propagiert eine dezidiert anarcho-syndikalistische kollektive Identität. Die arbeits- und proletariatszentrierte Gemeinschaft setzt auf ein klassenspezifisches Bewegungssubstrat, das nach der Revolution in Form von selbstermächtigten, frei föderierten und in Syndikaten organisierten ArbeiterInnen die sozialen Missstände des Status quo lösen sollte. Die Mehrzahl der betrachteten Titel verfügt hingegen über eine beweglichere kollektive Identität. Sowohl in der 1899-1902 publizierten Jungen Schweiz als auch in der 1906-1909 publizierten Vorkämpferin lassen sich verschiedene kollektive Identitäten feststellen. Reicht der Bogen in der Jungen Schweiz von einer zunächst pragmatisch-sozialdemokratischen über eine individualistisch-antiautoritäre bis hin zu einer anarchoiden und anarchistischen Gemeinschaft, so werden in der Vorkämpferin gleichzeitig kollektive Identitäten geschaffen und perpetuiert, die von anarchoid ohne großgemeinschaftliche Anbindungen bis zu anarcho-sozialistisch reichen. Speziell für die Vorkämpferin ist dabei die Absenz klarer Brüche und starrer Grenzen: Diachron betrachtet werden die Identitäten parallel konstituiert. So sind neben reformistischen Frauenstimmrechtsforderungen auch anarcho-syndikalistische Züge präsent und werden mit Aufrufen zu Direkten Aktionen wie Boykott und Streiks gestützt. Schließlich lassen sich über die Jahre mehr und mehr anarcho-sozialistische Tendenzen erkennen: Je länger je weniger wird die Verbesserung des Ist-Zustandes angestrebt und stattdessen die Schaffung einer grundsätzlich neuen Gesellschaft vertreten, die im Jetzt begonnen, statt nur herbeigesehnt und -geredet werden müsse. Wiederum anders austariert ist die kollektive Identität in der Polis, die 1906-1908 erschien. Finden sich in den ersten Ausgaben neben einem anarchistischen auch ein marxistischer Flügel, schwindet der Letztere zusehends zugunsten des Ersteren. Ebenfalls speziell für die Polis sind die Verortung im Intellektuellenmilieu und die subidentitäre Differenzierung von ArbeiterInnen, mit deren Anliegen zwar sympathisiert wird, aber keine Identifikation im Sinne einer undifferenzierten Einswerdung geschieht. Ebenso außergewöhnlich ist die immer nur in subidentitären Framing-Prozessen erkennbare Abgrenzung gegenüber der Sozialdemokratie, die wiederholt als andere Ausgestaltung der gleichen Idee, die dem Anarchismus zugrunde läge, vermittelt wurde. Die in der Polis vertretene und mitgeprägte kollektive

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Identität zeichnet sich zudem durch ein explizites Sträuben gegen Kategorisierungen aus. Wandelnde und offene Gemeinschaften sind auch in anderen, über vergleichsweise längere Zeiträume erschienenen Titeln festzustellen. Der 1903-1907 publizierte Weckruf etwa gestaltet und vermittelt eine sich wandelnde kollektive Identität. Es finden sich klassisch anarchistische Tendenzen, mit Betonung maximaler individueller Freiheit in Zusammenhang mit einem pointiert antisozialdemokratischen Antiparlamentarismus, aber auch anarcho-kommunistische Positionen, die auf die soziale Revolution als Ziel hinarbeiten und sich nicht mit dem Danach beschäftigen. Letztere werden akzentuiert durch die Absenz der Einschränkungen bei der Wahl der Methoden: So wird Gewalt als zulässiges Mittel zur Zerstörung des Staates zugunsten der Freiheit aller vermittelt. Schließlich finden sich auch anarcho-syndikalistische Anleihen, mit den entsprechenden Fixierungen auf das Proletariat als Bewegungssubstrat. Dieses Mäandrieren von Selbstverständnissen und kollektiven Identitäten ist dabei nicht als gerichtet zu verstehen. Zum Schluss setzt sich beispielsweise wieder eine klassisch anarchistische, universalistische kollektive Identität durch. Sogar gleichzeitig mehrere anarchistische kollektive (Sub-)Identitäten vereint das Jahrbuch der Freien Generation. Es repräsentiert und unterhält anarcho-sozialistische, anarcho-syndikalistische und anarcho-kommunistische Gemeinschaften und deren kollektive Identitäten parallel. Eine eigentliche Kanonbildung wird damit lediglich in dem Sinne möglich, dass die Pluralität der anarchistischen Bewegung als Ganzes abgebildet wird, also eine pan-anarchistische Klammer geschaffen wird, die den internen Identitätsplural in einem übergreifenden Singular eint. Auch wenn eine gewisse anarcho-kommunistische Grundierung der kollektiven Identität im Jahrbuch der Freien Generation erkennbar wird, etwa durch dahingehende Positionierungen in Editorials, kann die kollektive Identität nicht darauf beschränkt werden. Eine eigentliche Anomalie stellt die anarchistische kollektive Identität in der vor 1905 erschienenen Revolutionären Bibliothek dar. Auch in dieser Zeitschrift, die ausschließlich über identitätskonstituierende Artikel besteht, sind mit anarcho-kommunistisch und anarcho-sozialistisch geprägten ›Wir‹ keine eindeutig kanonisierte kollektive Identität dominant. Allerdings werden diese subidentitär in der Regel voneinander abgegrenzten Schattierungen in der Revolutionären Bibliothek zuweilen verwoben und treten im selben Artikel aufeinander Bezug nehmend auf. Diese Syntheseleistung kann als Effekt eines pradigmatischen Übergangs gelesen werden, der sich in größerer Perspektive tatsächlich in dieser Manier in der anarchistischen Bewegung ereignete: Neue Subidentitäten traten als Erweiterung zum an sich pluralistischen Gesamtgefüge anarchistischer kollektiver Identität auf, nicht als Substitut. Konnte die Erarbeitung der anarchistischen Kollektiven Identität, wie sie in der deutschsprachigen anarchistischen Presse konstituiert und portraitiert wird, bereits einen Einblick in Konstruktion und Funktion ermöglichen, so bringt sie auch weiterführende Fragen mit sich, die in der Schlussbetrachtung angegangen werden sollen: Ist eine Rede von kollektiver Identität im Singular opportun in Betrachtung einer Bewegung, die inhaltlich vornehmlich durch einen – nicht immer reibungsfreien – Identitätspluralismus charakterisiert ist? Und ferner: Lässt die Erkenntnis, dass ein erheblicher Teil der selbstzugeschriebenen anarchistischen kollektiven Identität durch irgendeine Verbindung mit dem oder den ›anderen‹ eine Fassung als unabhängiger, selbsbezogener Diskurs überhaupt zu? Diese und weitere Fragen sollen im Schlusswort diskutiert werden.

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4.4 F r anzösischspr achige Z eitungen 4.4.1 Le Révolté Abbildung 12: Le Révolté, 14.3.1885, Jg. 7, Nr. 2. (IISG Amsterdam, 320-R-110)

4.4.1.1 Relevante Er wähnungen Im Le Révolté, der während der Anarchisten-Untersuchung von 1885 nur mehr noch zwei Nummern lang in Genf erschien, finden sich mehrere identitätskonstituierende Komponenten. Prozentual am meisten Raum nimmt die Vermittlung von Hypergütern ein. Eine hohe Dichte weist ein abgedrucktes Flugblatt einer Gruppe jurassischer Anarchisten auf, das eine Plethora an positiven und negativen Hypergütern bot. Wurden Gerechtigkeit und Freiheit sowie der anarcho-kommunistische Leitsatz ›A chacun selon ses besoins, de chacun selon ses forces‹425 als positive Hypergüter vermittelt, finden sich auch negative Hypergüter wie Autorität, Aktienwesen, oder das Lohnwesen. Weiter vermittelte die Gemeinschaft den Staat als negatives, den Abstentionismus hingegen als positives Hypergut: »[T]ravailleurs n’allez pas aux urnes, n’y allez plus jamais. En votant vous donnez de la force à L’État qui ne peut répresenter le Pays. [...] Que vos oppresseurs se disputent le pouvoir, c’est leur affaire; pourquoi aller gaspiller vos forces dans des luttes inutiles qui ne servent qu’à d’autres! [...] Le suffrage universel est une mystification.« 426 425  |  Dt.Ü.: »Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Kräften.« 426 | »Au peuple bernois«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 4. Dt.Ü.: »Arbeiter, geht nicht an die Wahlurnen, geht nie wieder dorthin. Wenn ihr wählt, bestärkt ihr den Staat, der das Land nicht repräsentieren kann. [...] Dass eure Unterdrücker sich um die Macht streiten,

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Im Artikel »Notre Propagande« wurden weitere Hypergüter vermittelt wie die Transformation des Privatbesitzes in Allgemeingüter und die Abschaffung der Politik . Der Gemeinschaft der ›Partisanen der neuen Idee‹, wie sie sich nannten, ging es um »[...] rien moins, ô candeur! que la libérté complète de l’individu, la suppression conséquente de tous les privilèges, la transformation de la propriété particulière en propriété commune à tous les individus, L’Éloignement de toute politique comme une atteinte portée à la souveraineté de l’homme, un amoindrissement de sa personnalité et, dans les mains des détenteurs de la fortune sociale, un instrument de domination, il n’en était pas de même dans les rangs de ceux qui voulaient conserver intacte la tradition révolutionnaire.« 427

Eine Vermittlung bevorzugter Methoden auf dem Weg zu diesem Ziel fand im Le Révolté nicht direkt statt. Zwischen den Zeilen lässt sich aber extrapolieren, dass Direkte Aktionen, die von Einzelpersonen ausgeführt und der Propaganda der Tat zuzurechnen sind, dazugehörten. Eine Nähe zu den Richtlinien des Revolutionären Katechismus Michail Bakunins und Sergej Netschajeffs ist nicht von der Hand zu weisen, wie das folgende Zitat zeigt: »Quand il s’agit d’exposer ses idées et de propager ses principes, qu’on ne craigne pas de parler à pleins poumons, mais quand on veut agir qu’on n’ait d’autre conseil et d’autre confident que soi-même. C’est déjà se trahir et trahir la cause que de parler à son ombre.«428 In anderen Beiträgen wurde die Verwendung von Sprengstoff verhalten positiv verhandelt. Gut ersichtlich am Beispiel eines Berichtes über die sprengstofflichen Aktivitäten von Mineuren am Rande eines großen Streiks in Belgien, die in Kontrast gesetzt werden zu anderen, als wirkungslos kolportierten Aktionen: »Malgré le caractère tout pacifique que la grève a en général, il faut dire cependant qu’il se produit quelques faits individuels qui denotent la grande envie qu’ont quelques mineurs de lutter contre l’exploitation capitaliste avec d’autres armes que des bannières et des devises ist ihre Sache; warum solltet ihr eure Kräfte in unnötigen Kämpfen vergeuden, die nur anderen nützen! [...] Das allgemeine Wahlrecht ist ein Betrug.« 427 | »Notre Propagande«, Le Révolté, 14.3.1885, Jg. 7, Nr. 2, S. 1. Dt.Ü.: »[...] nichts weniger, ach so schlicht!, als die vollkommene Freiheit des Individuums, die konsequente Abschaffung aller Privilegien, die Verwandlung des Privateigentums in Gemeinschaftseigentum aller Individuen, die Vertreibung jeglicher Politik, welche nur der Souveränität des Menschen schadet, seine Persönlichkeit beeinträchtigt und in den Händen derer, die über das soziale Schicksal entscheiden, zu einem Herrschaftsinstrument wird, dem war nicht so in den Reihen derer, die die revolutionäre Tradition aufrecht erhalten wollen.« 428  |  »La peur des mouchards«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »Geht es darum, Ideen auszudrücken und Grundsätze zu verbreiten, sollte man nicht zögern lauthals zu sprechen, aber geht es ums Handeln, dann sollte man keine Ratschläge annehmen und nur sich selbst vertrauen. Schon mit seinem eigenen Schatten zu sprechen, stellt einen Verrat an sich selbst und an der Sache dar.« Für eine solche Einschätzung spricht auch eine symbolgeschwängerte fiktive Erzählung, nach der im steinzeitlichen Zürich unabhängige ›Biber‹ von unterdrückenden ›Fleischfressern‹ geschasst, aus ihren Bauten vertrieben und enteignet wurden. Schließlich rächte sich ein einzelner Biber an den unterdrückenden ›Faulpelzen‹ mit der Sprengung des besetzten Biberbaus. Vgl. »Suisse: Une page d’histoire«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 3.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse dont se moquent les actionnaires. Mercredi, des mineurs ont essayé de faire sauter, avec de la dynamite, la maison du directeur-gérant du charbonnage des XVI actions [...]. L’explosion n’a fait que lézarder la maison. D’autres explosions ont eu lieu dans les maisons de différents hauts employés des compagnies sans plus de résultat.« 425

Der Aufruf an die ArbeiterInnen in die Illegalität zu treten, um ihre Ziele zu erreichen, spricht ebenfalls als Indiz dafür, die Propaganda der Tat als positives Hypergut der Gemeinschaft des Le Révolté zu verstehen.426 Schließlich hieß es im Zusammenhang mit der vermeintlichen Sprengung des Bundeshauses ebenfalls verhalten sympathisierend: »Alors il [le peuple suisse, d.V.] comprendra que pour combattre l’ennemi on n’a pas le choix des moyens; il saura que les bourgeois, non pas dans un but d’émancipation, mais pour le lucre et la jouissance, n’ont jamais hésité à sacrifier cent innocents; il n’hésitera plus à adopter leur tactique qui se résume en ce proverbe: ›On ne fait pas d’omelette sans casser des œufs‹.«427

Auch negative Hypergüter zeigen sich im Le Révolté wie bereits erwähnt als identitätsrelevant. Besonders drei sind dabei als von fundamentaler Konstitutionskraft für die kollektive Identität der Gemeinschaft von Redaktion und Leserschaft zu verstehen: »[N]ous sommes par excellence les ennemis de la religion, de la propriété, de l’Etat.«428 Als weiteres negatives Hypergut wurde die Autorität vermittelt, die so eine wichtige Rolle in der Konzeption der Anarchie und der Identität der Gemeinschaft einnimmt. Beispielsweise im utopischen Artikel »L’enfant Dans la Société Nouvelle«: »[L]’idée anarchiste n’admet pas d’équivoque: ou la Liberté entière, ou bien une chute nouvelle sous l’Autorité.«429 Im selben Beitrag finden sich auch weitere klassisch anarchistische negative Hypergüter der Gemeinschaft. So 425  |  »Mouvement social: Belgique«, Le Révolté, 14.3.1885, Jg. 7, Nr. 2, S. 2. Dt.Ü.: »Obwohl der Streik im Allgemeinen ganz friedlichen Wesens ist, muss man doch sagen, dass einige individuelle Handlungen von der Lust einiger Minenarbeiter zeugen, die kapitalistische Ausbeutung mit anderen Waffen als Banner und Losungen zu bekämpfen, um die sich die Aktionäre nicht scheren. Am Mittwoch haben Minenarbeiter versucht, das Haus des vorsitzenden Geschäftsführers des Kohlewerks der XVI Aktien [...] mit Dynamit in die Luft zu sprengen. Die Explosion hat das Haus nur leicht beschädigt. Andere Sprengsätze gingen in den Häusern verschiedener führender Angestellter der Unternehmen hoch, ohne größere Ergebnisse.« 426 | »Suisse: Genève«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 4. 427 | »Suisse: Berne«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 4. Dt.Ü.: »Dann wird es verstehen, dass man keine Wahl hat, mit welchen Mitteln man den Feind bekämpfen kann; es wird sehen, dass die Bourgeois nie gezögert haben, hundert Unschuldige zu opfern, nicht etwa für ein emanzipatorisches Ziel, sondern für ihren Profit und ihr Vergnügen; es wird nicht mehr zögern, ihre Taktik zu übernehmen, die dieses Sprichwort zusammenfasst: ›Wo gehobelt wird, da fallen Späne.‹« 428  |  »La peur des mouchards«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »Wir sind die Feinde der Religion, des Eigentums, des Staates schlechthin.« 429  |  »L’enfant Dans la Société Nouvelle II«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Der anarchistische Gedanke erlaubt keine Zweifel: entweder die ganze Freiheit oder ein erneuter Sturz unter die Autorität.«

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etwa das Misstrauen gegenüber zentralistisch organisierter Ausbildung und Erziehung, die als »canal de L’État ou de L’Église« 430 verstanden wurde, der den Vorstellungen der Gemeinschaft einer funktionierenden Gesellschaft hinderlich sei: »[N]ous croyons [...] qu’il serait contraire à l’Anarchie de confier L’Éducation de l’enfance à une organisation centralisée [...].«431 Auch die Kolonialisierung übernahm als negativ bewertetes und verstandenes Phänomen eine identitätskonstituierende Rolle. Ihre Verurteilung wurzelte in erster Linie in einer Ökonomiekritik, da sie vornehmlich als Marktexpansion verstanden und verurteilt wurde. Sie diene der Abwendung einer selbstverschuldeten, in der industriellen Überproduktion verwurzelten Krise: Mit der Kolonialisierung könne der Güterüberschuss, der einen zu kleinen Markt zusammenbrechen ließe, exportiert werden, zusammen mit den durch die industrielle Rationalisierung entstandenen Arbeitslosen, die in den Kolonien angesiedelt werden könnten: »Les gouvernements ont tellement bien compris que cette crise provient de l’engorgement du marché [...]. Ils tournent actuellement toutes leurs forces vers la conquête de marchés étrangers.«432 Neben der Vermittlung von Hypergütern profilierte und definierte sich die Gemeinschaft auch mit Framing-Prozessen, in denen sie sich vornehmlich von der parlamentarischen, sozialdemokratischen Bewegung abgrenzte. »[L]eur plan de prise de possession des pouvoirs politiques [...]« bedeute »[...] à refaire le passé qu’à préparer l’Avenir [...]« 433. Auf diese kurze Definition hin, wurden ›die anderen‹ als »nos adversaires« apostrophiert, um schließlich bei der Feststellung zu landen, dass »[a]ujourd’hui il y a lutte entre les deux principes, autorité ou anarchie«434. Durch herablassende, emotionalisierende Bezeichnungen wurde die Abgrenzung zur Sozialdemokratie auch in anderen Beiträgen perpetuiert. Begriffliche Substitute wie »pantins politiques«435 für Sozialdemokraten festigten die Framing-Prozesse dabei nachhaltig. Auf diese Weise konnte effizient reinforciert werden, was zuvor in längeren Beiträgen mehr oder weniger fundiert dargelegt wurde. Wenig überraschend nahm auch die Repression in den Spalten des Le Révolté eine wichtige Rolle ein, fielen die hier betrachteten Nummern doch just in die Zeit der angeblich geplanten anarchistischen Sprengung des Bundeshauses in Bern 1885. In ironischer Weise distanzierte sich die Gemeinschaft und sprach von »trac..., de l’Affolement«436, von einer Überhitzung des Polizeiapparates, dem auch die Gemein430  |  Ebd., S. 1. 431  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wir glauben, dass es unvereinbar mit der Anarchie wäre, die Kindererziehung einer zentralen Organisation anzuvertrauen [...].« 432  |  »Les conséquences de la Crise«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »Die Regierungen haben sehr gut verstanden, dass diese Krise von der Übersättigung des Marktes herrührt [...]. Sie lenken nun all ihre Kräfte in die Eroberung fremder Märkte.« 433 | »Notre Propagande«, Le Révolté, 13.3.1885, Jg. 7, Nr. 2, S. 1. Dt.Ü.: »[I]hr Plan zur politischen Machtübernahme [...]« bedeute »[...] die Vergangenheit neu zu schreiben eher als die Zukunft vorzubereiten«. 434  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »es heute einen Kampf zwischen den beiden Grundsätzen Autorität und Anarchie gibt«. 435  |  »Mouvement social: France«, Le Révolté, 14.3.1885, Jg. 7, Nr. 2, S. 2. Dt.Ü.: »politische Hampelmänner«. 436 | »Mouvement social: Suisse: Berne«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 3. Dt.Ü.: »Angst..., Panik«.

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schaft des Le Révolté zum Opfer fiel: Die Redaktion wurde polizeilich versiegelt.437 In einem Beitrag zur flächendeckenden Durchleuchtung der anarchistischen Milieus in der Schweiz wurde die Repressionswelle als Hofknicks gegenüber den größtenteils monarchischen Umländern porträtiert. Aus pressegeschichtlicher Sicht ist der Abdruck eines Rundschreibens von Bundesanwalt Müller an die gesamte Schweizer Presse ebenso bemerkenswert wie vielsagend. Darin ordnete Müller Stillschweigen über die Untersuchung an und deklarierte die Einhaltung als patriotische Pflicht.438 Den vom Staat gewünschten Effekt auf die Gemeinschaft hatte die Repressionswelle gemäß Aussage des Le Révolté nicht. Sie wurde als wirkungslos abgetan: »Que peuvent les cachots sans air, le travail forcé, les frontières fermés, échafaud dressé contre l’idée? Rien!«439 An anderer Stelle konterte der Le Révolté Akte der staatlichen und ökonomischern Repression mit eigentlichen Dithyramben. In der Vermeldung der Hinrichtung der anarchistischen Attentäter August Reinsdorf und Emil Küchler hieß es bereits zu Beginn heroisierend, sie wären »[...] tombée sur le champ de bataille de la civilisation«440. Die darauf erfolgten Racheakte wurden schließlich positiv konnotiert: »[L]es anarchistes ne sont plus bien commodes. [...] deux gendarmes ayant voulu poser leurs sales pattes sur les épaules d’un de nos compagnons, ont été reçus à coups de revolver. Un argousin est tombé mort, et l’Autre gravement blessé. A Erefeld, un ouvrier se présente à l’usine d’un nommé Esch en lui disant qu’il est socialiste [...] Celui-ci lui répondit que s’il était socialiste il pouvait quitter l’usine; notre homme parti sans rien dire mais revint dans l’Aprèsmidi et planta plusieurs coups de couteau dans le ventre de son exploiteur.« 441

Der Le Révolté verwendete trotz der massiv erhöhten Repression regelmäßig Anarchie-Begriffe zur Selbstbezeichnung. Zu finden sind dahingehende Selbstreferenzen in einzelnen Artikeln442, aber auch in der Kopfzeile der Zeitung, die sich im Untertitel »Organe communiste-anarchiste«443 nannte.

437  |  Vgl. »Mouvement social: Suisse«, Le Révolté, 14.3.1885, Jg. 7, Nr. 2, S. 4. 438  |  Ebd., S. 4. 439 | »Notre Propagande«, Le Révolté, 14.3.1885, Jg. 7, Nr. 2, S. 1. Dt.Ü.: »Was können stickige Kerker, Zwangsarbeit, das Verriegeln der Grenzen, das Errichten von Schafotts gegen Ideen? Nichts!« 440 | »Allemagne«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 4. Dt.Ü.: »[...] gefallen auf dem Schlachtfeld der Zivilisation.« 441  |  Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Die Anarchisten sind nicht mehr so umgänglich. [...] zwei Gendarmen, die ihre dreckigen Finger auf die Schulter unseres Kumpels legen wollten, wurden mit Revolverschüssen empfangen. Ein Polyp ist tot umgefallen, der andere war schwer verletzt. In Erefeld stellt sich ein Arbeiter in der Fabrik des sogenannten Esch vor und sagt ihm er sei Sozialist [...] Dieser antwortete ihm, wenn er Sozialist sei, könne er die Fabrik verlassen; unser Mann ging ohne ein Wort zu verlieren, doch er kam nachmittags zurück und stieß dem Ausbeuter mehrmals mit dem Messer in den Bauch.« 442 | Vgl. »A nos amis«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 1, wo die Leserschaft als »mouvement anarchiste« zusammengefasst wird, oder »La peur des mouchards«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 2, wo über »nos groupes anarchistes« gesprochen wird. 443 | Vgl. exemplarisch Le Révolté, 1.-14.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 1.

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4.4.1.2 Zusammenfassung Die Konstruktion kollektiver Identität im Le Révolté fand vornehmlich über die Vermittlung von Hypergütern positiven wie auch negativen Zuschnitts dar. Das Umreißen von vertretenen oder verworfenen Methoden, Zielen und weltdeutenden Konzeptionen übernahm den Löwenanteil der Ausgestaltung des kollektiven Selbst im Genfer Blatt, das durch diese Nennungen skizziert werden kann. Die kollektive Identität der Gemeinschaft, die daraus erwächst, wird weiter geschärft durch Selbstbezeichnungen und Framing-Prozesse, die in der Hauptsache gegenüber sozialdemokratischen Positionen vollzogen wurden. Die bereits im Untertitel benannte anarcho-kommunistische Ausrichtung der Gemeinschaft wird durch die vermittelten Ideale und Vorgehensweisen bestätigt. Dafür spricht das Hinwirken auf die soziale Revolution, kategorische Absagen an jegliche Formen von Autorität und sie unterhaltenden Institutionen in Form von Staaten oder Religionen, aber auch das Gutheißen und – verhaltene – propagieren von illegalen Methoden und gewaltsamen individualistischen Akten. Eine Bezeichnung der vorherrschenden kollektiven Identität als anarcho-kommunistisch legitimieren des Weiteren die grundlegenden Prinzipien der Vergemeinschaftung von Gütern, Abstentionismus und der Grundsatz, dass jeder nach seinen Bedürfnissen und seinem Vermögen leben möge. In den im Quellenkorpus untersuchten Ausgaben zeigte sich die Gemeinschaft einheitlich. Allerdings sind globale Aussagen hierzu aufgrund der nicht gewährleisteten diachronen Perspektive nicht gewissenhaft zu halten. Ebenso sind Aussagen zu allfälligen Mutationen der kollektiven Identität des Blattes aufgrund des knappen Quellenbestandes, der die Kriterien der vorliegenden Untersuchung erfüllt, nicht statthaft.

4.4.1.3 Bibliografische Details (1) Le Révolté: Organe socialiste (Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 5, Nr. 26), Organe anarchiste (Jg. 6, Nr. 1-2, 2.3.1884), Organe communiste-anarchiste (ab Jg. 1, Nr. 3, 30.3.1884) (2) Die Beiträge werden in der Regel nicht oder nur mit Initialen gezeichnet; Gegründet wurde der Le Révolté von Peter Kropotkin, François Dumartheray und Georges Herzig mit (finanzieller) Hilfe von Elisée Reclus;444 (3) Claude Thomachot, Peter Kropotkin, Georges Herzig; Redaktionsadresse: Rue du Nord 15, Genf (Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 4, Nr. 13), Rue des Grottes 24, Genf (ab Jg. 4, Nr. 14); (4) Genf; (5) 22.2.1879-14.3.1885445; erschien 14-täglich; 4 Seiten; (7) L’Avant Garde; (8) Le Révolté (1885-1887), La Révolté (1887-1894) beide in Paris; (9) International Institute of Social History IISG, Amsterdam, 320-R-110; (10) Gedruckt wurde der Révolté zunächst von der Imprimerie Nouvelle (Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 1, Nr. 3), schließlich von der Imprimerie Jurassienne, Rue des Grottes 24, Genf. Die Auflage betrug 1879 für die ersten Nummern 1500, dann 1900 Exemplare, bevor im Dezember 1883 eine Höchstauflage von 3000 Exemplaren verbrieft wurde.446 1885, im Jahr der bundesanwältlichen Anarchisten-Untersuchung erschien der Le Révolté 1885 in Genf statt wie üblich 14-täglich nur zwei Mal, bevor er 444 | Vgl. Bianco, 100 ans de presse anarchiste, Le Révolté, http://bianco.ficedl.info/ spip.php?article1863, (Stand 14.12.2010). 445  |  Die Zeitung siedelte im Zug der umfassenden bundesanwältlichen Anarchisten-Untersuchung nach Paris um. Dort erschien sie ab dem 12.4.1885 unter gleichem Namen weiter. 446  |  Vgl. Bianco, 100 ans de presse anarchiste, Le Révolté. Fiche Complementaire: Observations, http://bianco.ficedl.info/ spip.php?article1863, (Stand 14.12.2010).

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ab dem 12.4.1885 in Paris erschien. Wie einem Artikel447 zu entnehmen ist, wurde der Le Révolté im Rahmen der ersten großen Anarchisten-Untersuchung Anfang 1885 unterdrückt, indem ihre Druckerei versiegelt wurde. Da nur auf einer Nummer (28.9.1884, Jg. 6, Nr. 16) ein Zeitungspreis aufgedruckt wurde, ist davon auszugehen, dass der Le Révolté ausschließlich abonniert werden konnte.

4.4.2 La Tête de Mort Abbildung 13: La Tête de Mort, 7.8.1885, Jg. 1, Nr. 1. (BAR Bern, E21/14094 [430])

Bei der Recherche im Bundesarchiv Bern ist der Autor auf einen Hinweis gestoßen, dass die Zeitung La Tête de Mort, die in einigen bibliografischen Verzeichnissen als anarchistisches Blatt auftaucht, als von parodistisch-humoristischer Natur eingeschätzt werden muss.448 In einem Leserbrief ihres Herausgebers Numa Langet im Journal du Jura von Anfang August 1885 hieß es: »Je tiens à declarer publiquement qu’il n’y a à St. Imier ni imprimerie anarchiste volante, ni comités secrets révolutionnaires.«449 Die La Tête de Mort sei lediglich eine »[...] parodie que je publiais comme 6ième livraison du Cancan jurassienne«450. Ein Leserbrief identischen Inhalts von

447  |  »Mouvement social: Suisse«, Le Révolté, 14.3.1885, Jg. 7, Nr. 2, S. 4. 448  |  Vgl. BAR E21/14094 (431). 449 | Langet, Numa, Journal du Jura, 6.8.1885, Zeitungsausschnitt im BAR E21/14094 (431). Dt.Ü.: »Es ist mir ein Anliegen, öffentlich zu erklären, dass es in St. Imier weder eine mobile anarchistische Druckerei noch geheime Revolutionskomitees gibt.« 450 | Ebd. Das Cancan jurassienne war eine humoristische Zeitung. Dt.Ü.: »[...] eine Parodie, die ich als 6. Ausgabe des Cancan jurassienne veröffentlichte.«

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Langet wurde auch im Journal de Genève veröffentlicht.451 Als Quelle für angebotene und gelebte kollektive Identitäten von AnarchistInnen in der französischsprachigen Schweiz kann die La Tête de Mort damit nicht hinhalten. Stattdessen erlaubt sie Aussagen zur Fremdwahrnehmung. Das rote Papier, auf das die Zeitung gedruckt wurde, der Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen, der den Kopf des Blattes zierte, aber nicht zuletzt auch die fingierten Inhalte zeigen, dass die Anarchistenangst, die sich durch die großflächige Untersuchung 1885 zusätzlich verstärkte, zumindest in der Westschweiz mit einem Augenzwinkern kommentiert wurde. Dieser erste Eindruck erhält aber eine Trübung dadurch, dass mehrere Leserbriefe an verschiedene bürgerliche Zeitungen nötig waren, um den Jux aufzuklären und damit den eigenen Namen wieder zu etablieren. Gerade im Zuge der umfassenden Untersuchung waren die öffentliche und offizielle Aufmerksamkeit und Ablehnung groß, die alles Anarchistische offenbar unweigerlich auf sich zogen. Auch dem Humoristen Langet dürfte das ein bisschen zu viel gewesen sein: Die offizielle Schweiz reagierte auf Langets Publikation und verurteilte ihn, seinen Drucker Grossniklaus und den Expediteur Tell Brandt am 10.9.1885 in Courtelary zu Bußen von je CHF 5,-. Offizieller Anlass zu dieser Maßregelung waren weder Humorlosigkeit noch anarchistische Inhalte – Gesetze, die gewisse anarchistische Inhalte ahndeten, wurden erst 1906 eingeführt. Verurteilt wurden Langet, Grossniklaus und Tell Brandt genauso wie richtige AnarchistInnen, die den Behörden zu viel wurden, offiziell wegen juristischen Unstimmigkeiten. Im Fall der La Tête de Mort, weil angeblich keine mit Namen genannten verantwortlichen Redaktoren in der Zeitung zu finden waren.452

4.4.2.1 Relevante Er wähnungen Als Quelle für Fremdwahrnehmung genutzt, finden sich wertvolle Passagen in der La Tête de Mort. Um parodistische Glaubwürdigkeit zu erlangen, griff sie zu Überzeichnungen von Vorstellungen, die im kollektiven Gedächtnis mit AnarchistInnen verknüpft gewesen zu sein schienen. Dazu zählten die Gängelung der Staatsobrigkeiten, eine konspirative Grundhaltung, einen Hang zur Selbstermächtigung sowie eine ans Pathologische grenzende Persistenz: »L’imprimerie anarchiste de Genève ayant été fermée par les gouvernants de notre libre Hélvetie et le RÉVOLTÉ paraissant à Paris, les anarchistes suisses, réunis en congrès secret, ont décidé de fonder un nouvel organe de la cause révolutionnaire et communiste et pour cet effet ils ont acheté une imprimerie volante.« 453

451 | Vgl. »Correspondances: Courtelary«, Journal de Genève. 7.8.1885, Jg. 56, Nr. 185, S. 3. 452  |  Auf Seite 4 findet der Tête de Mort sich allerdings ein solcher Hinweis, wenngleich er fiktiv sein mag: »Pour la rédaction: N. Engelmann« (La Tête de Mort, Jg. 1, Nr. 1, 8.1885, S. 4). Für die Berichterstattung vgl. »Nouvelles suisses: Berne«, La Liberté, 16.9.1885, Jg. 15, Nr. 215, S. 3. 453  |  »A nos lecteurs«, La Tête de Mort, 8.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Da die anarchistische Druckerei in Genf von den Regierenden unserer freien Helvetia geschlossen wurde und der RÉVOLTÉ in Paris erscheint, haben die Schweizer Anarchisten, die sich zu einem geheimen Kongress versammelt haben, entschieden, ein neues Organ für die revolutionäre Sache zu gründen, und dafür haben sie eine mobile Druckerei gekauft.«

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Unter dem Titel »Mouvement Social« wurde mit weiteren Stereotypen unter anderem Nähe zur Gewalt thematisiert, indem berichtet wurde, dass in Liverpool für einen anarchistischen Kongress von einem geheimen Organisationskomitee 15.501 Revolver bestellt worden wären.454 Der Abdruck einer chemischen Formel in der La Tête de Mort zum Bau von Sprengstoff455 unterstreicht die Konzeption der Fremdwahrnehmung, die in AnarchistInnen primär GewalttäterInnen sah. Adressat der Scherze dürften nicht AnarchistInnen gewesen sein. Vielmehr dürften die Leute im Visier gestanden haben, die den Anarchismus als Chiffre für Gewalt, Terrorismus und Chaos pflegten, und diejenigen, die dieses konstruierte Schreckgespenst glaubten. Der weitere Blick in die französischsprachige Fremdwahrnehmung wird zeigen, dass dieser Zugang auch in der Westschweiz eine Ausnahme darstellte.456

Bibliografische Details (1) La Tête de Mort: Journal communiste, anarchiste et révolutionnaire; (2) Numa Langet; (3) N. Engelmann, Rue de Stand, maison Café Jeanmaire, St. Imier (4) St. Imier (5) einmalig; 4 Seiten; (9) Bundesarchiv Bern, BAR E21/14094 (430), Centre International de Recherches sur l’Anarchisme, Lausanne, Pf 366 (Fotokopie).

4.4.3 L’Égalitaire Abbildung 14: L’Égalitaire, 30.5.1885, Jg. 1, Nr. 1. (BGE Genf, E 820)

454  |  »Movement Sociale: Angleterre«, La Tête de Mort, 8.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. In dieselbe Kerbe mit Verweis auf den Herausgeber der Freiheit Johann Most, vgl. »Mouvement Sociale: Amerique«, La Tête de Mort, 8.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 3. 455 | »Nouvelles Scientifiques«, La Tête de Mort, 8.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 3. 456 | Vgl. Kap. 5. Von Läusen und Unkraut: AnarchistInnen und Anarchismus in der nichtanarchistischen Presse der Schweiz 1885–1914.

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4.4.3.1 Relevante Er wähnungen Verschiedene relevante Aspekte kollektiver Identität sind in den Spalten und Zeilen des L’Égalitaire zu finden. Einerseits wurden bereits im Eröffnungsartikel Hypergüter der anarchistischen Gemeinschaft Genfs vermittelt. An erster Stelle die Methode der Propaganda der Tat, die als revolutionäre politische Aktionsform gleich zu werten sei wie das geschriebene Wort: »En thèse générale, on peut dire que l’action matérielle, – la propagande par le fait – a le pas sur l’action théorique, – propagande écrite ou parlée. [...] on se fait un devoir de le reconnaitre. Ce que nous voulons établir, c’est que les deux sont également nécessaires.«457 Auch der Artikel »Aux despotes«458 propagierte die Propaganda der Tat als Methode. Es sei die Vernunft der Unterdrückten, die Folgendes schreie: »[E]mploie n’importe quelles armes, mais venge-toi sans plus attendre! [...] Allons, ouvrier! Lève-toi! Laisse-là ces outils que tu manies depuis tant d’années au profit des classes dirigeantes, prends ces armes et sus aux bourgeois! Tue, vole, assassine, jusqu’à ce qu’il ne reste plus de pierre du vieil édifice social élevé par la bourgeoisie, vive l’Anarchie!«459

Eher ganzheitlich wurde die gewaltsame Revolution als Methode zur Erreichung der Anarchie im Artikel »La Lutte«460 festgehalten. Eine umfassende und gewaltsame Revolution wurde als einzig möglicher Weg gesehen, die Menschheit zu befreien: »[L]’inefficacité des moyens pacifiques a été longuement démontrée pratiquement et théoriquement, il ne reste que les moyens violents: la force la révolution.«461 Die angestrebte Revolution wurde als letzte, finale ihrer Art verstanden, weil nach ihr alle Menschen frei in ihrer Entwicklung seien und die Evolution, nicht mehr Revolutionen den weiteren Fortschritt bestimmen würden.462 In der Einleitung zur Rubrik »Échos socialistes« ist die Vermittlung des Hyperguts der 457 | »À l’œuvre!«, L’Égalitaire, 30.5.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Man kann als allgemeine These aufstellen, dass die materielle Aktion – die Propaganda der Tat – den Vorrang hat vor der theoretischen Aktion – der geschriebenen oder gesprochenen Propaganda. [...] es ist unsere Pflicht, das anzuerkennen. Wir möchten hier einführen, das beide gleich notwendig sind.« 458 | »Aux despotes«, L’Égalitaire, 8.8.1885, Jg. 1, Nr. 6, S. 3. 459  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »[G]anz gleich welche Waffe du gebrauchst, aber räche dich ohne noch weiter zu warten! [...] Los, Arbeiter! Steh auf! Lass diese Werkzeuge, die du seit so vielen Jahren zum Vorteil der führenden Klassen handhabst, nimm diese Waffen und wehe den Bourgeois! Töte, stehle, morde, bis dass kein einziger Stein des alten sozialen Gefüges mehr steht, das die Bourgeoisie geschaffen hat, es lebe die Anarchie!« 460 | »La Lutte«, L’Égalitaire, 19.9.1885, Jg. 1, Nr. 9, S. 2-3. 461 | Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »Die Ineffizienz der friedlichen Mittel wurde über lange Zeit hinweg praktisch und theoretisch nachgewiesen, es bleiben nur die Gewaltmittel: die Kraft, die Revolution.« 462  |  »C’est pourquoi tous nos efforts doivent tendre à assurer le succès de la prochaine révolution; qu’elle soit grande, qu’elle ébranle la société jusque dans ses fondements et qu’à cette période anarchique succéde l’Anarchie, ou absence de toute autorité, soit divine, soit humaine, afin que la société puisse évoluer paisiblement dans la voie du progrès.« (Ebd., S. 3.) [Dt.Ü.: »Deshalb müssen alle unsere Anstrengungen dem Gelingen der nächsten Revolution gelten; dass sie groß werde, die ganze Gesellschaft bis in ihre Grundmauern umstürze und auf diese anarchische Phase die Anarchie oder das Fernbleiben jeglicher Autorität folge,

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

Selbstermächtigung zu erkennen, indem der L’Égalitaire seine LeserInnen ermutigte, selbst zur Zeitung beizutragen: »Les colonnes de l’egalitaire sont ouvertes à nos lecteurs pour tout ce qui concerne le mouvement révolutionnaire.«463 Der Beitrag »Aux travailleurs« ist bezüglich Hypergütern der anarchistischen Gemeinschaft am explizitesten. Nach einer Paraphrase des unbefriedigenden Status quo wurden konklusiv die eigenen Ziele vermittelt und – abermals– auch der destruktive Weg zu diesem Ziel: »[N]ous voulons la déstruction du principe d’autorité, l’Abolution de la propriété in[div]id[ue]lle [et] l’Affranchissement intégral du genre humain. Voici le notre. Pour appliquer ce programme, il n’y a qu’un moyen, celui employé par nos maîtres actuels quand ils voulurent abattre la féo[d]al[i]té: la révolution violente.«464

Besonders reichhaltige Quellen positiver Hypergüter stellen utopische Ausblicke dar, welche die Wunschvorstellungen der Gemeinschaft reflektierten. »Je vois une patrie où les habitations des hommes sont disposées au hasard et au cordeau, où il y a des hôtels pour les in[d]ividus qui aiment à vivre en association, des villas, des cabinets d’études pour les travailleurs [...]. Je vois une patrie où les enfants pourront faire leur éducation au grand air, en se promenant, en satisfaisant leur curiosité, sans que leur développement physique ou moral souffre de la culture de la mémoire. La patrie sera là où l’Amour attrayant et libre réunira seul l’homme et la femme. [...] La patrie sera là où les découvertes de la sciences seront abandonnées à l’initiative de chacun, où les esprits originaux seront compris, éstimés, encouragés. [...] Voilà la patrie. C’est le pays où tous les hommes de bonne volonté [...] produisant et consommant à leur aise, vivent librement, sans dieux ni maîtres.« 465 sei sie göttlich, sei sie menschlich, damit die Gesellschaft sich friedlich auf dem Wege des Fortschrittes entwickeln kann.«] 463 | »Échos socialiste«, L’Égalitaire, 30.5.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 5. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Die Spalten des L’Égalitaire stehen unseren Lesern offen für alles, was die revolutionäre Bewegung betrifft.« 464 | Un groupe d’anarchistes suisses, »Aux travailleurs«, L’Égalitaire, 30.5.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 8. Dt.Ü.: »[W]ir wollen die Zerstörung des Prinzips der Autorität, die Abschaffung des individuellen Eigentums und die vollständige Befreiung des Menschengeschlechts. Hier ist unseres. Zur Anwendung dieses Programms gibt es nur ein Mittel, jenes, das unsere jetzigen Herrscher gebrauchten, als sie das Feudalsystem niederschlagen wollten: die gewalttätige Revolution.« 465 | »Patrie!«, L’Égalitaire, 27.6.1885, Jg. 1, Nr. 3, S. 2. Dt.Ü.: »Ich sehe ein Vaterland, in dem die Häuser der Menschen nach dem Prinzip des Zufalls und der Richtschnur verteilt sind, in dem es Stadthäuser für die Individuen gibt, die in Gemeinschaft leben wollen, Villen, Studierzimmer für Arbeiter [...]. Ich sehe ein Vaterland, in dem die Kinder sich an der freien Luft bilden, spazieren gehen, ihre Neugier befriedigen können, ohne dass ihre körperliche oder moralische Entwicklung unter der Kultur des Erinnerns leiden. Das Vaterland wird dort sein, wo die anziehende und freie Liebe den Mann und die Frau allein zusammenbringt. [...] Das Vaterland wird dort sein, wo die Entdeckungen der Wissenschaft der Initiative aller überlassen werden, wo originelle Geister verstanden, geschätzt und ermuntert werden. [...] So sieht das Vaterland aus. Es ist ein Land, in dem alle Menschen guten Willens [...] zu ihrem Wohle produzieren und konsumieren und frei zusammenleben, ohne Gott und Herrscher.«

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Die vermittelten Hypergüter waren geradezu von klassisch anarchistischem Zuschnitt. Die Macht des Erbens sollte gebrochen werden, um eine gerechte Verteilung nach den Bedürfnissen der Menschen zu ermöglichen. Auch die freie, zwanglose Bildung stellt ein klassisches anarchistisches Desiderat dar, ebenso wie die freie Liebe, die universalistische Ausrichtung und die angestrebte und gewünschte Absenz von Autoritäten jeglicher Art.466 Als weiteres Beispiel für die Vermittlung von Hypergütern soll der Beitrag »L’idéal«467 genannt sein. Fast programmatisch wurden darin die »grandes lignes du communisme-anarchiste« aufgezeichnet, entlang derer die Gemeinschaft sich im L’Égalitaire positionierte und positioniert wurde.468 Zu den als eigen präsentierten Werten zählten umfassendes kommunales Eigentum an Produkten und Produktionsmitteln, Konsum- und Produktionsgenossenschaften, Gütergemeinschaften deren Verteilung nach Bedürfnis, Laune oder Begehren sowie die Gemeinschaft von Personen aufgrund gegenseitiger natürlicher Anziehung.469 Weiter zentral war die Vorstellung eines territorial entgrenzten Vaterlands (»La terre entière est la patrie«470), das als Denkkategorie im nationalistischen Kontext der Zeit ad absurdum geführt wurde, sowie die Substitution von Religionen mit Fortschritt, Wissen und Wissenschaft (»Le progrès est la religion«471). So gerahmt sei das Ziel möglich: »[...] l’Harmonie [sic] naturelle o[u] l’Anarchie sociale, tel est le but, tel est l’idéal«, wenn auch nicht von heute auf morgen, wie das Blatt festhielt.472 In vielen Artikeln immer wieder zu finden ist auch das Hypergut des Abstentionismus. Die radikale Ablehnung jeder Mitarbeit an nicht-anarchistischer Politik ging so weit, dass der L’Égalitaire die nicht erfolgte Stimmabgabe gar als Indikator des eigenen Erfolgs wertete: »Esperons que les élections de dimanche nous donneront un chiffre respectable d’abstentions.«473 Weiter wurde die Pluralität der Bewegung als Stärke gewertet und als positiver Aspekt der kollektiven Identität von AnarchistInnen herausgekehrt. Spezifische Umstände und historische Situationen wurden als Ursachen für die willkommen geheißenen unterschiedlichen Ausprägungen und Richtungen innerhalb der internationalen anarchistischen Gemeinschaft angeführt:

466  |  Der Artikel »La République« funktioniert nach demselben Schema. Vgl. »La République«, L’Égalitaire, 27.6.1885, Jg. 1, Nr. 3, S. 3. 467 | »L’idéal«, L’Égalitaire, 19.9.1885, Jg. 1, Nr. 9, S. 2. 468  |  Auch der Artikel »Anarchie« vermittelt in sehr verdichteter Form zentrale Hypergüter. Vgl. I Miserabili, »Anarchie«, L’Égalitaire, 21.11.1885, Jg. 1, Nr. 13, S. 6-7. Darüber hinaus gibt es in »Anarchie« auch noch einen Hinweis auf Anarchie-Begriffe als Reizwörter: »Toujours cette parole anarchie est usitée comme un outrage, une insulte, une accusation, une exclamation d’horreur.« (Ebd., S. 6) [dt.Ü.: »Immer wird dieses Wort Anarchie als Beleidigung, als Beschimpfung, als Beschuldigung, als Ausruf des Schreckens gebraucht.«] 469 | Vgl. »L’idéal«, L’Égalitaire, 19.9.1885, Jg. 1, Nr. 9, S. 2. 470  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Die ganze Erde ist das Vaterland.« 471  |  Ebd., S. 2. 472  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Die natürliche Harmonie oder die soziale Anarchie, dies ist das Ziel, dies ist das Ideal.« 473  |  »Pensées noires: La comédie électorale«, L’Égalitaire, 3.10.1885, Jg. 1, Nr. 10, S. 3. Dt.Ü.: »Hoffen wir, dass uns die Wahlen am Sonntag eine ansehnliche Zahl von Enthaltungen bescheren.«

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse »[N]e voulant pas nous ingérer en rien dans les actes de nos amis de l’extérieur; nous nous bornons à applaudir et encourager toutes les initiatives prises dans l’intérêt de la cause, espérant, les théories anarchistes se développant chaque jour, que nos amis de tous pays sauront s’unir par dessus les frontières pour la grande lutte des opprimés contre les oppresseurs.«474

Die vermittelten Hypergüter der Gemeinschaft des L’Égalitaire waren indes nicht nur positiver Natur. Grenzkonzepte, Gesetze und der sich im Fin de Siècle aufplusternde Nationalismus stellten negative Hypergüter für die Bewegung dar, welche die kollektive Identität just dadurch umreißend bestimmten, dass sie als eigentliche Un-Werte vermittelt wurden.475 Auch andere negative Hypergüter trugen durch ihre Verwerfung durch das ›Wir‹ zu Gestaltung und Unterhalt des kollektiven Selbst bei: »Plus de nationalités! Plus de propriétés, de fermages, de redevances, de négoces, de professions, qui nous enchainent malgré nous dans un lieu, qui nous rendent esclaves de tel gouvernement, de tel public, de telle famille, de telles coutumes, de tels voisins.«476 Die Quintessenz der Ablehnung von Nationalitäten, Zins, Pachtwesen, Handel aber auch von Familie oder Habitus war eine Welt ohne diese ökonomischen und kulturellen Bedingungen. Die Befreiung davon wurde nicht bloß implizit gefordert: »Plus de mariage légal, de monogamie, de polygamie forcées, d’adultères, de concubinages, d’infortunes et de meurtres causées par les alliances sexuelles. Une patrie où le nom de famille, cette appélation héréditaire qui sanctionne la possession, a disparu.«477 Von integralem Charakter für die Etablierung kollektiver Identität im L’Égalitaire waren auch Framing-Prozesse. Bereits im ersten Leitartikel setzte die Zeitung deutliche Demarkationen: »Certes, nous avons une haine profonde pour les philosophes d’antan qui enseignent la morale officielle en faisant mine de la combattre: journalistes vendus, avocats bavards, financiers véreux, politiciens déçus, comédiens manqués, diplomates retors, plumitifs orgueilleux et marchands de paroles, nous les méprisons souverainement tous ces faiseurs qui se gobergent au râtelier de la bêtise humaine.« 478 474  |  »À Propos des congrès«, L’Égalitaire, 3.10.1885, Jg. 1, Nr. 10, S. 7(6). Die Ausgabe Jg. 1, Nr. 10 hat zwei Seiten, die mit der Ziffer 6 paginiert sind. Die zweite Seite 6 wird daher mit 7(6) angegeben. Dt.Ü.: »Da wir uns keineswegs in die Handlungen unserer Freunde von außen einmischen wollen, begnügen wir uns damit, zu applaudieren und jegliche Initiative zu ermuntern, die im Interesse der Sache ergriffen wird, und hoffen dass, jetzt da sich die anarchistischen Theorien täglich entwickeln, unsere Freunde aller Länder sich über die Grenzen hinaus zum großen Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker vereinen können.« 475 | »Patrie!«, L’Égalitaire, 27.6.1885, Jg. 1, Nr. 3, S. 1. 476  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Keine Staatsbürgerschaft mehr! Kein Eigentum, keine Pacht, keine Abgaben, keinen Handel, keine Berufe mehr, die uns gegen unseren Willen an einen Ort fesseln, die uns zu Sklaven einer Regierung, einer Öffentlichkeit, einer Familie, eines Brauchs, eines Nachbarn machen.« 477  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Keine rechtliche Heirat, keine Monogamie, keine aufgezwungene Polygamie, keinen Ehebruch, keine außereheliche Beziehung, kein Unglück und keine Morde mehr aufgrund von sexuellen Vereinigungen. Ein Vaterland, in dem der Familienname, diese vererbbare Benennung, die das Eigentum maßregelt, nicht mehr existiert.« 478 | »À l’œuvre!«, L’Égalitaire, 30.5.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Wir empfinden mit Sicherheit einen tiefen Hass auf die Philosophen von damals, die die offizielle Moral lehren

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Staat, Rechtswesen, Kapital und Politik wurden hierbei über ihre Vertreter diskreditiert, wodurch sich die Gemeinschaft implizit zur Alternative schrieb. Ebenfalls als Abgrenzungen sind die omnipräsenten Beschimpfungen von Personen, Ämtern und Institutionen zu verstehen. Diese emotionalisierte Art des Framings dürfte über eine besonders hohe Produktivität verfügt haben, bedingt durch Schärfe, Kadenz und Kontinuität, mit der sie angewendet wurde.479 Mannigfaltig sind auch Abgrenzungen gegenüber der staatsorientierten Sozialdemokratie. Sie stellten eine wichtige Komponente von Ausbau und Unterhalt der kollektiven Identität im L’Égalitaire dar: »Retenez bien ceci, socialistes étatistes: les révolution par en haut ne profitent qu’aux dirigeants. Ce qu’il faut, et maitenant plus que jamais, c’est la révolution par en bas, c’est un soulèvement général de la masse prolétarienne contre la bourgeoisie. [...] Maladroits, qui essayez de sauver la bourgeoisie par le parlementarisme et de maintenir ainsi le flot populaire révolutionnaire.« 480

Anstelle eines schrittweisen, reformistischen Vorgehens, das immer Macht und Autoritäten beinhalte reproduzierte, setzte sich die Gemeinschaft konträr zur sozialdemokratischen Politik für eine revolutionäre, ganzheitliche Lösung der Sozialen Frage ein: »[A]ux grands maux il faut de grands remèdes!« 481, wie sie mit einem Sprichwort umriss.482 Eine Schilderung der Sozialdemokratie in einem anderen und so tun, als würden sie sie bekämpfen: käufliche Journalisten, schwätzerische Anwälte, zwielichtige Finanziers, enttäuschte Politiker, missratene Schauspieler, hinterhältige Diplomaten, stolze Schreiberlinge und Parolen-Händler, wir verachten all diese Aufschneider aufs Äußerste, die sich den Bauch am Futtertrog der menschlichen Dummheit vollschlagen.« Politiker wurden, wo immer sie zum Thema gemacht waren, beschimpft und/oder herabgewürdigt, das Bundeshaus in Bern kurzerhand zum »bazar fédéral« (»En Suisse«, L’Égalitaire, 30.5.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 2). 479  |  Die Artikel sind bisweilen kaum mehr als eine Aneinanderreihung von Zoten. Vgl. etwa den Artikel »Échos socialistes: France«, wo Staatsanwälte zu Affengesichtern wurden und die Feststellung kund getan wurde, dass es nichts Abstoßenderes auf der Welt gebe als »la gueule d’un juge« [dt.Ü.: »die Fresse eines Richters«] (»Échos socialistes: France«, L’Égalitaire, 14.6.1885, Jg. 1, Nr. 2, S. 5), oder »Patrie!«, wo ein Wortspiel die Grundbesitzer zu ihren eigenen Hunden machte (»Patrie!«, L’Égalitaire, 27.6.1885, Jg. 1, Nr. 3, S. 1). 480 | »La révolution«, L’Égalitaire, 8.8.1885, Jg. 1, Nr. 6, S. 7. Dt.Ü.: »Merkt es euch gut, ihr etatistischen Sozialisten: Die Revolutionen von oben sind nur zum Vorteil der Herrschenden. Was wir brauchen, nun mehr als je zuvor, ist die Revolution von unten, ein allgemeiner Aufstand der proletarischen Massen gegen die Bourgeoisie. [...] Unbeholfen seid ihr, wie ihr versucht, die Bourgeoisie durch den Parlamentarismus zu retten und den revolutionären Strom des Volkes zurückzuhalten.« 481  |  Vgl. Ebd., S. 6-7, Zitat S. 7. 482 | Vgl. dazu auch »Les rationalistes et les anarchistes«, L’Égalitaire, 5.9.1885, Jg. 1, Nr. 8(7), S. 1, wo die Gemeinschaft eine unmissverständliche Position zur Zusammenarbeit mit bestehenden Strukturen einnimmt: »Nous, anarchistes, nous ne voulons plus discuter avec la bourgeoisie, L’Éxperience nous ayant montré l’inutilité de ces discussions, nous lui conseillons même de pousser son œuvre le plus loin possible [...].« Dt.Ü.: »Wir Anarchisten wollen nicht mehr mit der Bourgeoisie diskutieren, die Erfahrung hat uns die Nutzlosigkeit

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Artikel vermittelte deutlich, wer und wie die Gemeinschaftsmitglieder nicht sein sollten: »[...] quelques types ambitieux qui essayeront évidemment de se mettre à leur tête et de tirer le plus de profit possible du mouvement populaire« 483. FramingProzesse fungierten im L’Égalitaire auch als Katalysatoren für andere identitätskonstituierende Komponenten. In Bezug auf grundsätzliche Differenzen in Konzeptionen der Freiheit des Volkes zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus schrieb der L’Égalitaire: »Les anarchistes veulent renverser ce système et établir la liberté sociale; les socialistes de toutes les écoles prétendent qu’il y a encore une étape à parcourir avant de diminuer le pouvoir. Prouvons leur qu’ils ont tort.«484 Im Anschluss wurden positive und negative Hypergüter vermittelt. In negativer Hinsicht wurde die sozialistische Idee der Ergreifung der Macht als Schritt zur Revolution als falsch gedacht dargestellt, da sie die grundlegende Dynamik von Ausbeutenden und Ausgebeuteten lediglich alteriere, nicht aber eliminiere. Kontrastiert wurde sie mit der eigenen Idee, die Macht per se abzuschaffen und damit zukünftig Autoritäten nachhaltig zu verhindern, statt nur zu ersetzen.485 Die Abgrenzung gestaltete sich dabei als weitgehend und die SozialdemokratInnen wurden in direkter Anrede als Antipoden aufgebaut: »[V]ous êtes des êtres dangereux qui demandent une surveillance active et constante de la part des anarchistes.« 486 Die zentral erscheinende Dichotomie Anarchismus/Sozialdemokratie wurde auf ähnliche Weise in weiteren Artikeln verhandelt. In »Socialisme et anarchie« 487 stellten sich AnarchistInnen abermals diametral zum Staat und damit zu sozialistischen Konzepten dar: »L’État est toujours L’État; en augmenter le plus possible la puissance, tel est le but des socialistes. Les anarchistes, au contraire, considérant que L’État est mauvais non parce qu’il n’est pas assez démocratique, mais parce qu’il est État, c’est-a-dire autorité, veulent l’Abolir.« 488 Auch dieser Demarkation folgte die Vermittlung der eigenen Hypergüter:

dieser Gespräche gelehrt, und wir raten ihr sogar, ihr Werk so weit wie möglich zu treiben [...].« 483  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »einige ambitionierte Kerle, die selbstverständlich versuchen werden, sich an ihre Spitze zu stellen und soviel Vorteil wie möglich aus der Volksbewegung zu ziehen.« 484 | »L’État démocratique«, L’Égalitaire, 19.9.1885, Jg. 1, Nr. 9, S. 1. Dt.Ü.: »Die Anarchisten wollen das System umstürzen und die soziale Freiheit einrichten; die Sozialisten aller Art geben vor, dass es noch eine Phase zu durchlaufen gebe, bevor die Macht reduziert werden könne. Beweisen wir ihnen, dass sie unrecht haben.« 485  |  Vgl. ebd., S. 1. 486 | Vgl. ebd., S. 1. Dt.Ü.: »[I]hr seid gefährliche Wesen, die eine aktive und ständige Überwachung seitens der Anarchisten verlangen.« 487  |  »Socialisme et anarchie«, L’Égalitaire, 3.10.1885, Jg. 1, Nr. 10, S. 4. 488  |  Ebd., S. 5. Dt.Ü.: »Staat ist immer Staat; seine Macht immer mehr auszubauen, das ist das Ziel der Sozialisten. Die Anarchisten im Gegenteil betrachten den Staat als schlecht, nicht weil er nicht demokratisch genug ist, sondern weil er Staat ist, das heißt Autorität, und wollen ihn abschaffen.«

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Nous, anarchistes, pour qui ›liberté‹ n’est pas un vain mot, nous voulons anéatir la puissance gouvernementale, la considérant comme une institution mauvaise, inique, absurde et qui a pour origine la force brutale et non la raison. [...] La liberté de l’individu ne peut, ne doit être limitée que par celle de son voisin et non par une autorité quelconque soit divine, soit humaine.« 489

Konstitutiv für die kollektive Identität wirkte auch die Selbstwahrnehmung im L’Égalitaire. Einen interessanten Einblick liefert der Artikel »Les deux docteurs«490, der die Karrieren zweier Ex-Anarchisten beleuchtete, unter anderem von Paul Brousse, Ex-Kommunarde von Paris und Herausgeber der 1877-1878 in La Chaux-de-Fonds erschienenen anarchistischen Zeitung Avant-Garde. Neben geringschätzenden Bezeichnungen zeigten sich vor allem die Beschreibungen ihrer Zeit als Anarchisten als relevante Identitätsformanten, da in letzteren Nennungen zentrale Aspekte anarchistischen Lebens zu finden sind. Die Schilderung von Paul Brousses anarchistischer Tätigkeit umfasste gemäß dem L’Égalitaire sein publizistisches Bekämpfen von Abstimmungen sowie das Anpreisen des gewaltsamen Umsturzes der Macht: »[I]l préconisait l’Abstentation électorale et le renversement du pouvoir par la force«491. Der darauffolgende Zusatz zeigt, dass die erfolgte staatliche Repression bewegungsintern auch im L’Égalitaire positiv, ja gar als Qualitätssiegel gewertet und interpretiert wurde. Die soziale Stigmatisierung, die mit einer Inhaftierung erreicht werden sollte, griff bei den Stigmatisierten nicht. Vielmehr wurde sie – konträr zur Intention der abstrafenden Institution – in ihr Gegenteil umgedeutet. Das gefährlich-ruchlose Selbstbild, das AnarchistInnen damit unterhielten, wurde durch Stellungnahmen gefestigt, die dem politischen Gegner jegliches Mitgefühl verweigerten. In »Tous candidats!« wurde beispielsweise der Brand eines Parlamentsgebäudes in Paris imaginiert, bei dem auf einen Schlag 257 Volksvertreter sterben würden, die Bevölkerung aber keinen Verlust erleiden würde. »Nous ne voulons pas de mal à personne, mais si tous ces aspirants députés se trouvaient réunis dans une salle et que le feu s’y mette bien sûr le peuple n’y perdrait rien.«492 Auch der nur sehr spärlich verhüllte Dithyrambus auf den französischen Attentäter Boussat legte einen politisch motivierten Mord als nachvollziehbare, vernünftige Tat aus – und empfahl sie so implizit zur Nachahmung: »Ah! Si toutes les victimes de la police imitaient Boussat, les arlequinades des radicaux et

489 | Ebd., S. 5. Dt.Ü.: »Wir Anarchisten, für die ›Freiheit‹ kein leeres Wort ist, wir wollen die Regierungsmacht auslöschen, denn wir betrachten sie als eine schlechte, höchst ungerechte, absurde Institution, deren Ursprung in der brutalen Gewalt und nicht in der Vernunft liegt. [...] Die Freiheit des Individuums kann und darf nur durch die seines Nachbarn begrenzt werden und nicht durch irgendeine Autorität, sei sie göttlichen oder menschlichen Wesens.« 490  |  »Les deux docteurs«, L’Égalitaire, 19.9.1885, Jg. 1, Nr. 9, S. 4-5. 491 | Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »[E]r befürwortete die Wahlenthaltung und den gewaltvollen Umsturz der Macht.« 492 | »Tous candidats!«, L’Égalitaire, 3.10.1885, Jg. 1, Nr. 10, S. 5. Dt.Ü.: »Wir wollen niemandem ein Haar krümmen, aber wenn all diese Abgeordneten-Anwärter in einem Raum versammelt wären und dort Feuer ausbräche, sicherlich würde das Volk daran nichts verlieren.«

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autres intransigeants n’auraient plus de raison d’être, parce que le zèle des policiers disparaîtrait comme par enchantement.«493 Wie bereits angedeutet werden konnte, traten Identitätskonstituenten im L’Égalitaire auch im Verbund auf. Nicht selten stellten anarchistische Ereignisse den katalysierenden Einstieg dar, der einem reichen Reigen an Formanten des kollektiven Selbst eine Bühne bot. Die bundesweite Anarchisten-Untersuchung von 1885 wurde beispielsweise in mehreren Artikeln thematisiert.494 Der Bericht »En Suisse« 495 diente der Gemeinschaft zum einen zur Abgrenzung gegenüber der Bourgeoisie, die den Staat konstituiere und sich konstant in »scélératesses du pouvoir« verginge. Die bürgerlich dominierte Schweiz sei mit einem konstant operierenden Repressionsapparat der Regierung Bismarck und ihren Sozialistengesetzen ebenbürtig.496 Nach diesen Framing-Prozessen wurden Hypergüter vermittelt wie die angestrebte umfassende und universalistisch verstandene Gleichheit. Ziel sei »[...] l’Avènement d’une nouvelle société, basée sur L’Égalité de tous les êtres humains«.497 Eine Mehrzahl an produktiven Identitätskonstruktionsmechanismen vereinte auch der offene Brief der Redaktion an den die Untersuchung leitenden Bundesanwalt Müller.498 Mit der These einer außenpolitischen Absicht hinter der Untersuchung, die den Komplott als von staatlicher Seite inszeniert erscheinen ließ, wurde ein zentraler Aspekt anarchistischer Weltdeutung vermittelt: Dass jede Regierung ungeachtet ihrer Form primär an Erhalt und Ausbau ihrer Macht interessiert sei und sich zu diesem Zweck Legitimationen durch andere Staaten einhole, indem sie diesen Gefallen erweise, selbst wenn sie an den Grundrechten der eigenen Verfassung kratzten.499 Zur unterstellten außenpolitischen Befriedung kam auch die beabsichtigte innenpolitische Funktion, die anarchistische Bewegung einzuschüchtern und so einzudämmen. Zumindest diese Aufga493  |  »Le cas de Boussat«, L’Égalitaire, 19.12.1885, Jg. 1, Nr. 15, S. 4. Dt.Ü.: »Ah! Wenn alle Opfer der Polizei Boussat nachahmen würden, dann bräuchte es keine Harlekinaden der Radikalen und anderer Unnachgiebigen mehr, denn der Eifer der Polizisten würde wie durch Zauber verschwinden.« 494  |  Auch ausschließlich emotionalisierende Artikel zur Untersuchung sind zu finden, die zwar Beleidigungen oder pejorative Begriffe zu obrigkeitlichen Figuren oder Ämtern enthielten, aber keinerlei Nachrichtenwert. Vgl. »L’enquête fédérale«, L’Égalitaire, 11.7.1885, Jg. 1, Nr. 4, S. 8 oder »L’enquête fédérale«, L’Égalitaire, 25.7.1885, Jg. 1, Nr. 5, S. 4. 495 | »En Suisse«, L’Égalitaire, 30.5.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 2-4. 496 | Konkret wurden unaufgeforderte Ausweisungen (Mazzini) und Auslieferungen (Netschajew), der Gerichtsprozess gegen die anarchistische Zeitung Avant-Garde sowie die brutale Vorgehensweise von Polizei und Armee während eines Streiks in Göschenen und bei einer Demonstration in Bern kritisiert. Vgl. ebd., S. 3. 497  |  Ebd., S. 3. 498  |  La rédaction, »Réponse à M. Muller«, L’Égalitaire, 8.8.1885, Jg. 1, Nr. 6, S. 1-3. 499  |  »[V]ous aviez besoin d’une enquête [...] parce que vous vouliez vous rendre agréable aux réacteurs internationaux. [...] nous savons que votre prétendu libéralisme est une masque qui cache la plus odieuse des tyrannies, celle qui est voulue et consentie par un peuple de dupes.« (Ebd., S. 1-2) Dt.Ü.: »[I]hr brauchtet wohl eine Ermittlung [...] denn ihr wolltet euch in den Augen der internationalen Beobachter gut darstellen [...] wir wissen, dass euer vorgegebener Liberalismus eine Maske ist, hinter der sich die widerlichste aller Tyranneien versteckt, die nämlich von einem getäuschten Volk gewollt und gewährt wird.«

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be schien zu misslingen, wenn man die Rhetorik der Gemeinschaft des L’Égalitaire betrachtet: Sie deutete die Repression zum Motivationsfaktor um: »Quant à nous qui ne comptons guère sur les sympathies du Pouvoir, quel qu’il soit, vu que notre propagande [a] surtout pour but de le renve[r]ser, nous ne nous effrayerons pas autrement de vos mesures d’exceptions. Nous pours[uivr]ons, sans trêve ni relâche, la réalisation de notre idéal de justice et de vérité par la Revolution et l’Anarchie.« 500

Auch die Verurteilung des in Basel wohnhaften Attentäters Julius Lieske und die damit einhergehende Rekapitulation der Erdolchung des Polizisten Rumpff vom 3.1.1885 bot dem L’Égalitaire Gelegenheit zur Vermittlung von Hypergütern. Konkret wurde das politische Attentat als valable Aktionsform und kollektiv abgenickte Methode präsentiert. In »Encore un!«501 endete eine apologetische Rechtfertigung der Aktion Lieskes mit einem als Hoffnung kaschierten Aufruf, die Attentate deutscher Anarchisten wie Julius Lieske, Karl Nobiling oder August Reinsdorf nicht zu vergessen, sondern zu imitieren: »Encore un! Allons, les compagnons allemands sont maitenant à la hauteur de leur tâche. L’exemple des Hœdel, des Nobiling, des Reinsdorf et des Lieske ne sera pas perdu, nous en avons le ferme espoir. Saluons toujours ceux-ci, en attendant que d’autres les imitent.«502 Damit wurde die Propaganda der Tat nicht nur als positives Hypergut vermittelt: Die Attentäter wurden durch die stetige Wiederholung in positiven Zusammenhängen als Märtyrer und heroische Vorbilder in die Bewegungsgeschichte und damit in das bewegungseigene kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Bei einer inhaltsanalytischen Betrachtung wird allerdings deutlich, dass sie nicht als Personen, sondern lediglich als Chiffren nachhaltig produktiv für die kollektive Identität wurden: Persönliches zu Lieske beispielsweise sucht man im Artikel vergeblich.503 Ähnlich wie anarchistische Ereignisse fungiert auch die Fremdwahrnehmung in der sozialdemokratischen und bürgerlichen Presse als Katalysator für identitätskonstituierende Momente und Mechanismen im L’Égalitaire.504 Die Fremdbe-

500 | Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »Was uns betrifft, die wir nicht auf die Sympathie irgendwelcher Machthabenden zählen, denn unsere Propaganda zielt vor allem darauf ab, sie zu Fall zu bringen, wir erschrecken nicht besonders vor euren Ausnahme-Maßnahmen. Wir werden weiter ohne Rast und Ruhe an der Verwirklichung unseres Ideals von Gerechtigkeit und Wahrheit durch Revolution und Anarchie wirken.« 501 | »Encore un!«, L’Égalitaire, 11.7.1885, Jg. 1, Nr. 4, S. 3. 502  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »Noch einer! Hört, die deutschen Kumpanen sind jetzt auf der Höhe ihrer Aufgabe. Das Beispiel der Hödel, Nobiling, Reinsdorf und Lieske ist nicht verloren, das hoffen wir fest. Grüßen wir sie, während wir darauf warten, dass andere sie nachahmen.« 503  |  Vgl. ebd., S. 3. 504  |  Zum veritablen Existenzgrund wird die Fremdwahrnehmung für die L’Égalitaire im Beitrag »De l’Anonymat dans la presse anarchiste« erklärt: »La presse anarchiste à [sic] une mission à remplir: Démasquer les roueries et les subterfuges des journeaux bourgeois pour capter la confiance du peuple.« (»De l’Anonymat dans la presse anarchiste«, L’Égalitaire, 14.6.1885, Jg. 1, Nr. 2, S. 8) Dt.Ü.: »Die anarchistische Presse soll eine Mission erfüllen: Die Tricks und Ausflüchte der bürgerlichen Zeitungen entlarven, um das Vertrauen des Volkes zu erwerben.«

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zeichnung von Anarchisten durch die bürgerliche Presse als »meneurs«505 bei einem Streik in Châlon stiftete die Zeitung an, berichtigend ihre eigene Sicht auf sich und das kollektive Selbst zu vermitteln: »Par meneurs ces braves journaux entendent les anarchistes qui se livrent à la propagande, qui parlent, qui écrivent, et qui font quelques fois autre chose que d’écrire et parler, mais on n’ajoute pas ceci.«506 An die »valets de l’Autorité« richteten sie die reformulierte, als korrigierende Replik verfasste Selbstwahrnehmung, worin die Gemeinschaft sich als Propagandisten der Tat in der Tradition von Hermann Stellmacher, August Reinsdorf oder Karl Nobiling positionierte.507 In gleicher Manier wurde auch die Fremdwahrnehmung der offiziellen Schweiz verwendet. Der Artikel »La pièce est jouée«508 setzte sich mit den Präkonzeptionen von AnarchistInnen während der großen Anarchisten-Untersuchung im Frühjahr 1885 auseinander. Einerseits versetzte sich das Blatt in die offizielle Schweiz um deren Vorstellungen in sarkastischer Absicht zu rezitieren und sich durch die so gewonnene Distanz deutlich von ihnen abzugrenzen: »[O]n sait que ces gens-là ont juré de mettre la terre en compôte, et on veut la purger de ces brigands.«509 Andererseits wird das Hypergut gemeinschaftlicher Sinndeutung erkennbar. Der untersuchungsleitende Staat wurde abermals als skrupellos und menschenfeindlich dargestellt, der über Leichen gehe, nur um von den Nachbarländern akzeptiert zu werden: »[L]e gouvernement fédéral a persécuté, 4 mois durant, et sans d’autre raison que celle d’une plate bassesse à L’Égard des gouvernements voisins, un nombre respectable de citoyens; il a expulsé au hasard une vingtaine d’anarchistes et s’est mis sur la conscience le cadavre du jeune Huftt [sic]. Salut à vous, MM. les fédéraux, vous avez bien mérité de la patrie et de la liberté hélvétiques!« 510

4.4.3.2 Zusammenfassung Die Genfer Zeitung L’Égalitaire verfügte über mehrere identitätskonstituierende Mechanismen, mit denen sie die sie wesentlich bestimmende kollektive Identität formte und aktualisierte. Die Vermittlung von Hypergütern positiver wie negativer Art nahm dabei viel Raum ein und stellt das produktivste Identitätskonstituens des Blattes dar. Ein weiterer zentraler Aspekt des Formens und Reformulierens der kollektiven Identität der Gemeinschaft rund um den L’Égalitaire sind 505 | Leithammel. 506  |  »Actes et paroles«, L’Égalitaire, 14.6.1885, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Unter Anführern verstehen diese anständigen Zeitungen jene Anarchisten, die sich der Propaganda hingeben, die reden, die schreiben, und die manchmal etwas anderes tun als reden und schreiben, aber das fügen wir hier nicht hinzu.« 507  |  Ebd., S. 1. 508  |  »La pièce est jouée«, L’Égalitaire, 14.6.1885, Jg. 1, Nr. 2, S. 4. 509  |  Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Wir wissen, dass diese Leute geschworen haben, die Erde zu Brei zu machen, und wir wollen sie von diesen Verbrechern säubern.« 510  |  Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Die Bundesregierung hat 4 Monate lang aus bloßer Erbärmlichkeit vor lauter Achtung vor den Nachbarregierungen eine ansehnliche Zahl von Bürgern verfolgt; sie hat nach dem Zufallsprinzip rund zwanzig Anarchisten ausgewiesen und hat die Leiche des jungen Huft auf dem Gewissen. Wir grüßen Sie, die Bundesherren, Sie sind wahre Erben des helvetischen Vaterlands und seiner Freiheiten!«

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Framing-Prozesse, die das kollektive Innen durch eine Demarkation vom Außen abgrenzt. Ebenfalls wichtig für das kollektive Selbst sind Momente der Selbstwahrnehmung, die zwar nicht annähernd so häufig vorkommen, aber klare Bilder mit dicken Strichen und starken Kontrasten davon zeichnen, was es heißt und wie es ist, Teil der anarchistischen Bewegung zu sein. Schließlich sind auch Amalgame der genannten Aspekte und Mechanismen zu verzeichnen. Besonders im Kontext von anarchistischen Ereignissen und von Fremdwahrnehmungen werden konstituierende Elemente öfters vermengt thematisiert und vermittelt. Die kollektive Identität der Gemeinschaft des L’Égalitaire ist als anarcho-kommunistisch einzuordnen, eine Bezeichnung, die auch die Gruppe selbst expressis verbis zur Selbstbezeichnung des Öfteren verwendet neben dem eher generellen ›anarchistisch‹. Die destruktive Komponente ist beim L’Égalitaire ausgesprochen ausgeprägt: Nicht nur wird der gewaltsame Umsturz propagiert, auch einzelne Attentate werden zuweilen dithyrambisch verhandelt. Auffälligstes Merkmal der Gemeinschaft des Genfer Blattes ist sicherlich die Verhandlung der Propaganda der Tat, die sie als politischen Handlungsakt versteht, der die theoretische anarchistische Weltdeutung selbstverständlich ergänze und auch so zu behandeln sei. In zuweilen utopischen, zuweilen programmatischen Beiträgen lässt sich eine kollektive Identität der Gemeinschaft skizzieren, die entschlossen und universalistisch mit allen dazu als nötig erachteten Mitteln an der Befreiung der Menschheit aus Zwang und Autorität arbeitet. Eine ostentative Ruchlosigkeit gehört dabei ebenso zum Selbstverständnis wie eine kaum und wenn, dann nur sehr marginal in Erscheinung tretende Selbstkritik. Das Selbst des ›Wirs‹, das die Bevölkerung ohne Staat und Rechtswesen, ohne Kapital und institutionalisierte Politik ›richtig‹ behandeln und nicht als dumme Herde verkaufen will, beruht dabei existenziell auf dem ›anderen‹ und illustriert beispielhaft die produktive Performanz der Antipode in Bezug auf das kollektive Selbst. Grabenkämpfe, die auf verschiedene politische Lager im L’Égalitaire hindeuten würden, können nicht verzeichnet werden. Erklärt werden kann das wie bei vielen anarchistischen Zeitungen mit der kurzen Erscheinungsdauer. Aber auch die massive Repression der Jahre 1885-1886 kann zur Erklärung beigezogen werden, die gleichzeitig zu Verschlankung und Verdichtung der anarchistischen Bewegung geführt hat. Die relative Harmonie innerhalb der Gemeinschaft der Zeitung äußert sich auch in der Konstanz der Ausrichtung der kollektiven Identität, die über die 16 Ausgaben wohl ergänzt wird, ihrer grundsätzlichen anarcho-kommunistischen Ausrichtung aber treu bleibt. In diachroner Betrachtung des L’Égalitaire gibt es keine feststellbaren Konjunkturschwankungen bezüglich identitätskonstituierender Artikel. Vielmehr zeichnet sich die Zeitung durch eine konstant hohe Dichte solcher Beiträge aus. Dies lässt sich mit einer der Thesen dieser Arbeit erklären: Verfehlen Repressalien ihre beabsichtigte Wirkung, entwickeln sie in Sozialen Bewegungen einen diametralen Effekt. Die zur Abschreckung inszenierten staatlichen und gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen werden vom zurückbleibenden Bewegungskern als Bestätigung gelesen, das Richtige zu tun und zum Ansporn umgedeutet, ihr Engagement in der eingeschlagenen Richtung zu intensivieren. So wird die Bewegung wohl verkleinert, tatsächlich aber gefestigt statt unterminiert. Dass der L’Égalitaire, die ab Mai 1885 sozusagen im Zug der bundesanwältlichen Durchleuchtung des anarchis-

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tischen Milieus erschienen ist, von bindenden Artikeln geprägt ist, die auch offen gewaltsame Methoden zum Umsturz des herrschenden Systems propagierten, unterstützt diese Hypothese.

4.4.3.3 Bibliografische Details (1) L’Égalitaire: Organe communiste-anarchiste; (2) Eugène Steiger; (3) Rue des Grottes 24, Genf; (4) Genf; (5) 30.5.1885-2.1.1886; 14-täglich; 8 Seiten; (9) Bibliothèque de Genève, Genf, E 820 (Jg. 1, Nr. 5 ist ein unvollständiger Fehldruck und verfügt nur über die Seiten 1,2,4,8; Jg. 1, Nrn.11, 14, 16 fehlen); (10) Aufgrund eines Nummerierungsfehlers gibt es zwei Ausgaben mit der Nummer 7 aber keine Nummer 8.511 Der L’Égalitaire hätte eigentlich unter dem Titel L’Émancipation erscheinen sollen. Aufgrund der Verwechslungsgefahr mit sozialdemokratischen Positionen, die der Titel impliziert hätte, wurde die Zeitung schließlich umbenannt.512 Das Blatt hatte mehrere wiederkehrende selbsterklärende Rubriken: »En Suisse« verhandelte bewegungsrelevante Ereignisse in der Schweiz, die Sammelrubrik »Échos socialistes« fungierte als offener Briefkasten für Neuigkeiten aus der internationalen Bewegung. Das Gefäß »Petite correspondance« quittierte Zuschriften und Einsendungen von LeserInnen, »En vente au bureau de journal« schließlich informierte über erhältliche Broschüren und Propagandaschriften. Die unregelmäßige Rubrik »Bibliografie« entielt kurze Besprechungen sowie Titel und Adressen von anarchistischen internationalen Zeitungen und Zeitschriften. Das Abonnementswesen lief beim L’Égalitaire bedingt freiwillig ab. Wie der Kurznotiz »Avis«513 zu entnehmen ist, wurde die Zeitung an einen bekannten Adressensatz versandt und wer sich über die Zusendung nicht beschwerte wurde als AbonnentIn betrachtet und entsprechend zur Zahlung verpflichtet.514 Angaben zur Auflagenstärke sind zwar keine zu finden. Eine gewisse Popularität ist gemäß eigenen Angaben aber darin zu erahnen, dass die ersten Nummern vergriffen waren.515 Generell fällt eine relativ hohe Dichte an Setzfehlern auf.

511  |  Die de facto Nummer 8 wird in dieser Arbeit als Nr. 8(7) zitiert. Mit dieser Nummer erscheint die L’Égalitaire auch auf anderem Papier. 512  |  Vgl. »Notre titre«, L’Égalitaire, 30.5.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 513 | Vgl. »Avis«, L’Égalitaire, 11.7.1885, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 514  |  »Ceux de nos amis auxquels nous avons expédié les premiers numéros de L’Égalitaire et qui les ont acceptés, sont considérés comme abonnés.« (Ebd., S. 1). Dt.Ü.: »Unsere Freunde, denen wir die ersten Ausgaben des Égalitaire zugesandt haben und die sie angenommen haben, werden als Abonnenten betrachtet.« 515  |  Vgl. »Avis essentiel«, L’Égalitaire, 3.10.2011, Jg. 1, Nr. 10, S. 8.

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4.4.4 La Critique Sociale Abbildung 15: La Critique Sociale, 16.6.1888, Jg. 1, Nr. 2. (BGE Genf, E 823)

4.4.4.1 Relevante Er wähnungen Von großer Relevanz für die Identitätskonstitution in der La Critique Sociale erwies sich das Vermitteln von Hypergütern. Zu den zentralen Hypergütern der Gemeinschaft der La Critique Sociale zählte eine kollektivistisch fundierte Idealvorstellung von Ökonomie, worunter nicht nur materielle Güter wie Boden oder Produktionsmittel, sondern auch abstrakte Güter wie Fortschritt oder Wissenschaft summiert wurden. Dieses Hypergut wurde mal positiv, mal negativ, mal mit einer Verquickung von positiven und negativen Ansätzen vermittelt. Etwa, als mit rhetorischen Fragen gegen die privatisierte Verwertung von als gemeinschaftlich verstandenen Gütern angeschrieben wurde: »[D]e quel droit s’est-on emparé du sol et de tout ce qu’il produit, cette suprême garantie de votre vie et de votre liberté, pour en faire une marchandise? La science n’est-elle pas l’héritage de l’humanité tout entière et sans les générations passées auriez-vous cette superbe production mécanique, cette usine qui, aujourd’hui, vous asservit ou vous affame au seul profit de quelques fortunés inconnus; quelle valeur aurait cet immeuble si ces routes, ces canaux, cette ville, n’avaient été construits à ses côtés et si nous n’étions là pour les faire valoir; où donc enfin la banque prendrait-elle ses intérêts et même ses capitaux sans la production des travailleurs.« 516 516  |  »Iniquité et Platitude«, La Critique Sociale, 26.5.1888, Jg. 1, Nr. 1, S. 3. Dt.Ü.: »Mit welchem Recht hat man sich den Boden angeeignet mit allem, was er erzeugt, diese höchste Gewähr für euer Leben und eure Freiheit, um daraus ein Handelsgut zu machen? Ist die

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In einem weiteren, ausblickenden Beitrag wurde als Gegenentwurf die gemeinschaftliche Verwaltung der Güter angepriesen, die für eine erhöhte und nachhaltige Solidarität sorgen sollte: »Tandis que si la propriété n’éxistait pas, si les hommes étaient animés de sentiments communistes, et par conséquent solidaires, [...]. Ce communisme, cette solidaridé [sic], ne seraient-ils pas plus humains que le répugnant régime de propriété individuelle [?]«517 Damit wurden gleich zwei anarchokommunistische Hypergüter – Gütergemeinschaft und Solidarität – verwoben vermittelt. Auch Hypergüter mit Bezug zur Methodik waren in der La Critique Sociale Legion. Der Artikel »Impuissance des coalitions ouvrières«518 stellte den Legalitätsbegriff infrage, indem er indirekt illegale Methoden im Kampf für die Befreiung der Unterdrückten anpries: »Il se passe en ce moment [...] un évènement bien fait pour éclairer la classe ouvrière et lui montrer son impuissance à lutter légalement contre L’Éxploitation [...].«519 Kontraindikatorisch wurden Direkte Aktionen wie die Aneignung von Produktionsmitteln oder aber Enteignungen empfohlen: »Les ouvriers verront alors que la lutte sur le terrain d’une augmentation de salaires ou d’une résistance à leur diminution, est impossible; ils chercheront alors à se débarrasser de leurs maîtres économiques, en procédant à l’expropriation des usines et des instruments de travail, et à la mise en commun de toute la richesse sociale.« 520

Die Propaganda der Tat als spezifische Direkte Aktion wurde in den Zeilen der La Critique Sociale kritisch verhandelt. Schon die »[...] solidarité mal comprise pour des faits que le sens populaire comme la raison intime de chacun de nous ne pouvaient accepter sans restriction, a eu une influence désastreuse sur le développement

Wissenschaft nicht das Erbe der gesamten Menschheit und hättet ihr ohne die vorhergehenden Generationen diese tolle mechanisierte Produktion, diese Fabrik, die euch heute unterdrückt und aushungert zum alleinigen Vorteil einiger wohlhabender Unbekannten; welchen Wert hätte dieses Wohnhaus, wenn diese Straßen, diese Kanäle, diese Stadt nicht an seiner Seite gebaut worden wären und wenn wir nicht da wären, um ihnen Geltung zu verschaffen; woher würde die Bank schließlich ihre Zinsen nehmen, und auch ihr Kapital, ohne die Produktion der Arbeiter?« 517  |  »Faits divers: Valais«, La Critique Sociale, 26.5.1888, Jg. 1, Nr. 1, S. 4. Dt.Ü.: »Wenn jedoch das Eigentum nicht existieren würde, wenn die Menschen von kommunistischen Gefühlen angetrieben und demnach solidarisch wären, [...]. Dieser Kommunismus, diese Solidarität, wären sie nicht gar menschlicher als dieses widerliche Regime des individuellen Eigentums [?]« 518  |  »Impuissance des coalitions ouvrières«, La Critique Sociale, 26.5.1888, Jg. 1, Nr. 1, S. 4. 519  |  Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Im Moment geschieht [...] ein Ereignis, dass dazu geeignet ist, der Arbeiterklasse die Augen zu öffnen und ihr ihre Machtlosigkeit im legalen Kampf gegen die Ausbeutung aufzuzeigen.« 520 | Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Die Arbeiter werden dann schon sehen, dass der Kampf auf der Ebene von Lohnerhöhungen oder dem Widerstand gegen Lohnsenkungen unmöglich ist; dann werden sie versuchen sich ihrer wirtschaftlichen Herren zu entledigen und sie werden die Fabriken und Arbeitsmittel enteignen und den sozialen Reichtum vergemeinschaftlichen.«

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des idées émancipatrices«521. Das unreflektierte Gutheißen der Propaganda der Tat werde nur gemacht, »[...] pour ne pas rompre une prétendue unité de parti«522, die ihrerseits zur Organisationsform non grata geschrieben wurde.523 Im Unterschied zur Organisationsform einer Partei als negatives Hypergut vermittelte das ›Wir‹ im selben Artikel auch positive Hypergüter. Die Gemeinschaft strebte explizit ein offenes und dynamisches, gewissermaßen nihilistisches und nie allgemeingültiges soziales Gefüge an, das situativ entscheiden und Urteile fällen würde: »[Nous] nous faisons une idée differente de la liberté, de l’Anarchie; ne pouvant accepter l’idée d’une morale commune à tous les hommes, nous voulons être libre de juger tous les actes et d’en tirer toutes les déductions conséquentes.«524 Als weiteres positives Hypergut wurde eine milieunahe Bildung aufgebaut: »Cette conscience et cette conviction ne peuvent être que le résultat d’une forte éducation amenée par la discussion approfondie des faits et du milieu social dans lequel ils se produisent.«525 In einem anderen Beitrag wurde sie zur Vorstufe des Bewusstseins erklärt und als Bedingung für eine umfassende Emanzipation der Menschheit verstanden: »[S]i nous devenons plus conscients, si nous avons connaissance des lois naturelles, les plats et vils politiciens ne pourront plus nous endormir avec leurs discours, les noirs prêtres et imposteurs [...].«526 Dieser Annahme folgte eine Aufzählung an positiven Hypergütern der Bewegung, verpackt in einen utopischen Ausblick auf Ökonomie und Zusammenleben nach der Aufhebung von Eigentum und Autorität:

521  |  »L’influence des faits«, La Critique Sociale, 25.8.1888, Jg. 1, Nr. 6, S. 1. Dt.Ü.: »[...] aufgrund von Handlungen, die gemäß dem Volksverstand und unserer innigsten Überzeugung unannehmbar sind, falsch verstandene Solidarität hat einen verheerenden Einfluss auf die Entwicklung emanzipatorischer Ideen«. 522 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »[...] um die vorgebliche Einheit der Partei nicht zu brechen«. 523 | Zudem wird die Funktion der Methode der Propaganda der Tat infrage gestellt. Sie vermöge wohl eine Reaktion zu provozieren: »[...] la haine du patron, peut-être, mais aucunement la conscience chez le producteur que l’usine, l’outillage, les produits appartiennent à tous [...]« Ebd., S. 1). Dt.Ü.: »[...] vielleicht den Hass auf den Patron, aber keineswegs das Bewusstsein bei den Produzierenden, dass die Fabrik, die Werkzeuge, die Erzeugnisse allen gehören [...]«. 524  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wir haben eine andere Vorstellung von Freiheit, von Anarchie; wir können die Vorstellung einer allen Menschen gemeinsamen Moral nicht akzeptieren, wir wollen frei sein, alle Handlungen zu beurteilen und daraus alle erforderlichen Schlussfolgerungen zu ziehen.« 525  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Ein solches Bewusstsein und eine solche Überzeugung können nur das Ergebnis einer umfassenden Bildung sein, die durch vertiefte Diskussionen über Tatsachen und über das soziale Milieu, in dem diese geschehen, erreicht wird.« 526  |  »Guerre aux préjugés«, 7.7.1888, Jg. 1, Nr. 3, S. 3-4. Dt.Ü.: »Wenn wir ein größeres Bewusstsein erreichten, wenn wir Kenntnis über die Naturgesetze erlangten, dann könnten die geistlosen und schändlichen Politiker uns nicht mehr mit ihren Reden einschläfern, die schwarzen Priester und Betrüger [...].«

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse »Instruments de travail, ouvrages de science, usines, mines, champs serviraient à tous et diminueraient les peines de la production; assurés de la satisfaction de nos besoins, nous saurions vivre sans autorité, sans gendarmes, sans prisons et sans baïonettes et nous entendre pour prendre toute mesure indispensable au bien-être général.« 527

Eine umfassend kollektivistisch organisierte Gesellschaft ohne Zwang stellte demnach eine zentrale Aspiration der anarchistischen Gemeinschaft rund um die La Critique Sociale dar. Ein stetig wiederkehrendes Hypergut in den Zeilen war die Weltdeutung, die den erschaffenen Wohlstand und Reichtum des zivilisierten Europas als kollektives Werk der ArbeiterInnen ansah und entsprechend auch einen kollektiven Anspruch darauf formulierte, der mit Direkten Aktionen eingelöst werden sollte. Rhetorisch fragte die Zeitung: »Qui a créé cette industrie puissante, cette agriculture apte à enfanter des merveilles, ces cités magnifiques, ces moyens de communication si nombreux et si répandus? C’est à la classe ouvrière [...] que nous les devons. [...] emparons-nous du bien-être qui se trouve au milieu de nous, que chaque jour notre main peut saisir. Jouissons des produits du travail de nos pères au lieu de le laisser à nos bourreaux [...] Exproprions la bourgeoisie. Socialisons la richesse. Supprimons l’exploitation et l’Asservissement des travailleurs. Faisons la Révolution sociale!« 528

Die Ablehnung karitativer Institutionen wie den ›cuisines populaires‹, die privaten bürgerlichen Initiativen entstammten, stellte ein weiteres charakteristisches gemeinschaftliches negatives Hypergut dar, das Aspekte der gemeinschaftlichen anarchistischen Weltdeutung und damit auch ihrer kollektiven Identität beleuchtet. In gut gemeinten, reformistischen Initiativen wie diesen sei eine Verlängerung des Status quo zu sehen, die letztlich nur denjenigen nutzen würde, die davon profitierten, dass bloß am Symptomatischen gekratzt werde, statt sich der Ursachen anzunehmen.529 Als Ergebnis stelle sich keine fundamentale Veränderung ein, im Gegenteil: »L’exploiteur se frotte les mains, le philanthrope rayonne: ils 527 | Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Produktionsmittel, Wissenschaftswerke, Fabriken, Minen, Felder würden allen dienen und so die Qualen der Produktion mindern; die Befriedigung unserer Bedürfnisse wäre uns sicher und wir könnten ohne Autorität leben, ohne Gendarmen, ohne Gefängnisse und ohne Bajonette, und uns untereinander verstehen, um alle für das Gemeinwohl unverzichtbaren Maßnahmen zu treffen.« 528 | »Le Tombeau de la Révolution«, La Critique Sociale, 29.9.1888, Jg. 1, Nr. 7, S. 1. Dt.Ü.: »Wer hat diese mächtige Industrie geschaffen, diese Landwirtschaft, die wahre Wunder hervorbringen kann, diese herrlichen Städte, diese zahlreichen und so stark verbreiteten Kommunikationsmittel? Dies alles schulden wir [...] der Arbeiterklasse. [...] Lasst uns das Wohlergehen ergreifen, das in unserer Mitte existiert, das unsere Hände jeden Tag fassen können. Lasst uns die Früchte der Arbeit unserer Väter genießen, statt sie unseren Henkern zu überlassen [...] Lasst uns die Bourgeoisie enteignen. Lasst uns den Reichtum sozial verteilen. Lasst uns die Ausbeutung und die Knechtung der Arbeiter beseitigen. Lasst uns die soziale Revolution machen!« 529  |  Vgl. »A propos de cuisines«, La Critique Sociale, 29.9.1888, Jg. 1, Nr. 7, S. 1-2 hier besonders S. 2. Interessant zu sehen ist der abschätzige Gebrauch des Begriffs ›bonhommes‹,

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ont bu le sang du producteur et celui-ci se félicite d’être leur victime.«530 Im Beitrag »Besoin et Aspirations«531 finden sich mehrere Grundzüge der Weltdeutung der Gemeinschaft, die wesentlich auf dem negativen Hypergut des Privateigentums aufbauen: »La base fondamentale de la société se trouve dans la propriété individuelle; les autres institutions: religion, autorité de L’État, patrie, n’existent que pour la protéger et faire croire, de gré ou de force, qu’elle est naturelle et légitime.«532 Das Privateigentum normiere auch das Sozialverhalten, da es das Selbst der Gemeinschaftsmitglieder künstlich ins Zentrum rücke und die soziale Ignoranz begünstigt werde.533 Das bei anarchistischen Bewegungen prävalente assoziative Kausalitätsdenken spiegelte sich als Hypergut in der Quintessenz des Artikels wider: »Plus de propriété individuelle et plus de luttes féroces, plus de malhereux manquant de tout, jetant des regards de convoitise sur la richesse et l’Abondance de quelques privilégiés.«534 Schließlich wurde in der Folge dieser Feststellung das positive Hypergut der Solidarität vermittelt: »Nous sentons le besoin de laisser se developper largement en nous L’Ésprit de solidarité […].«535 Aus identitätstheoretischer Perspektive besonders interessant ist die Tatsache, dass dieser Drang rhetorisch quasi biologistisch untermauert wurde: »[L]a nature nous y pousse«536, hieß die Erklärung für anarchistische Lebensführung, womit auch der Anarchismus per se biologistisch (v)erklärt wurde, da er als natürlich vorbestimmt inszeniert wurde: »[R]emplacer les institutions autoritaires, qui créent des pauvres, par l’observation pure et simple des lois naturelles assurant à tous la liberté et la vie«537, doppelte die La der heutzutage vorwiegend von rechtskonservativen Kreisen zur Diskreditierung von Personen, die sich sozial engagieren, verwendet wird. 530  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Der Ausbeuter reibt sich die Hände, der Wohltäter strahlt: Sie haben das Blut des Produzierenden getrunken und dieser beglückwünscht sich, ihnen zum Opfer zu fallen.« 531  |  »Besoins et Aspirations«, La Critique Sociale, 16.6.1888, Jg. 1, Nr. 2, S. 3-4. 532 | Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Die wichtigste Grundlage der Gesellschaft ist das individuelle Eigentum; die anderen Institutionen: Religion, Staatsautorität, Vaterland existieren nur, um sie zu schützen und um – freiwillig oder mit Gewalt – glauben zu machen, sie sei natürlich und legitim.« 533  |  Auch in anderen Beiträgen tritt das Eigentum immer wieder als Wurzel allen Übels auf. Vgl. exemplarisch »Guerre aux préjugés«: »Dépouillés de tout au nom du Capital et de la Propriété [...] nous sentons bien que la cause du malaise général, c’est l’idée de possession;« (»Guerre aux préjugés«, La Critique Sociale, 7.7.1888, Jg,1, Nr. 3, S. 3) Dt.Ü.: »Im Namen des Kapitals und des Eigentums wird uns alles geraubt [...] uns erscheint wohl klar, dass der Grund für das allgemeine Unwohl die Idee des Eigentums ist.« 534 | »Besoins et Aspirations«, La Critique Sociale, 16.6.1888, Jg. 1, Nr. 2, S. 4. Dt.Ü.: »Kein Privateigentum und keine unbarmherzigen Kämpfe mehr, keine Unglückseligen mehr, denen es an allem mangelt, und die begierige Blicke auf den Reichtum und den Überfluss einiger weniger Privilegierten werfen.« 535  |  Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Wir verspüren das Bedürfnis, dass der Geist der Solidarität sich in uns entwickeln und entfalten kann [...].« 536  |  Zitat im Original zusammenhängend, ebd., S. 4. Dt.Ü.: »[D]ie Natur drängt uns dazu.« 537  |  Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »[D]ie autoritären Institutionen, die Armut schaffen, durch die reine und simple Beobachtung der Naturgesetze ersetzen, die allen die Freiheit und das Leben garantieren«.

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Critique Sociale schließlich nach.538 Als negatives Hypergut wurde auch die direkte Umsetzung von Aspirationen verhandelt. Der Artikel »La mine aux mineurs«539 belegt dies. Die Gemeinschaft der La Critique Sociale rügte den zunächst erfolgreich verlaufenen Versuch einiger Minenarbeiter im französischen Rive-de-Gier, eine verlassene Kohlemine autonom und genossenschaftlich in Eigenregie zu betreiben. Das anarchistische ›Wir‹ wertete solche Versuche als kontraproduktiv, da sie »[...] ne peuvent servir qu’à faire croire au prolétariat qu’il peut s’émanciper en devenant lui-même possesseur d’une partie de la richesse sociale. Là ne peut résider le moindre symptôme d’émancipation; c’est au contraire un moyen de river mieux encore les individus à l’exploitation qu’ils cherchent éviter et leur faire accepter le principe de propriété qui en est le fondement.«540 Deutlich weniger prominent beteiligt an Konstitution und Konstruktion der kollektiven Identität in der La Critique Sociale waren Framing-Prozesse. Dennoch stellte die Abgrenzung eine produktive Komponente der Schaffung des kollektiven Selbst dar. Im Artikel »Lentement!« etwa grenzte sich die anarchistische Gemeinschaft von der organisierten Arbeiterbewegung in Gestalt von Sozialdemokratie und sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften ab. Die Demarkation geschah sowohl auf sozial-emotionaler541 wie auch auf inhaltlich-programmatischer Ebene:

538  |  Für dieselbe Rückbesinnung auf ›das Natürliche‹ siehe auch »Guerre aux préjugés«, La Critique Sociale, 7.7.1888, Jg. 1, Nr. 3, S. 3, oder »Lentement!«, La Critique Sociale, 11.8.1888, Jg. 1, Nr. 5, S. 1. 539  |  »La mine aux mineurs«, La Critique Sociale, 7.7.1888, Jg. 1, Nr. 3, S. 2-3. 540 | Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »nur dazu dienen können, das Proletariat glauben zu machen, es könne sich emanzipieren, indem es selbst zum Eigentümer eines kleinen Teils des sozialen Reichtums wird. Darin gibt es nicht das kleinste Zeichen von Emanzipation, ganz im Gegenteil ist es ein Mittel die Einzelnen noch besser in der Ausbeutung festzuhalten, die sie vermeiden wollen, und sie dazu zu bringen, das Prinzip des Eigentums zu akzeptieren, der dieser zugrunde liegt.« Die Einordnung dieses identitären Mechanismus‹ als negatives Hypergut, statt als subidentitärer Framing-Prozess gegenüber pragmatisch orientierten AnarchistInnen drängt sich aufgrund des Erscheinungsjahres der La Critique Sociale 1888 auf. Erst ab Mitte/Ende der 1890er Jahre wurde im französischen Anarchismus die Idee der ›Propagande par l’exemple‹ breiter diskutiert. Eine sich darum gruppierende Subidentität ist aber nicht zu erkennen, obschon sich ab den frühen 1900er Jahren auch in Frankreich Siedlungsversuche nachzeichnen lassen. Diese waren allerdings vornehmlich anarcho-syndikalistisch geprägt. Vgl. Petitfils, Les communautés utopistes, S. 78-82, und Bigorgne, La colonie libertaire, S. 1-2. Eine Einordnung der oben beschriebenen identitätskonstituierenden Komponente als subidentitärer Framing-Prozess von kollektivistischen Anarcho-KommunistInnen gegenüber Anarcho-SozialistInnen würde also nicht nur einen Anachronismus darstellen, sie würde schlichtweg einen bewegungsinternen Antipoden konstruieren, den es so in dieser Bewegung zu dieser Zeit nicht gab. 541  |  »Ce sont des gens érudits, savants, de profonds penseurs, qui ne se laissent guider que par le froid raisonnement.« (»Lentement!«, La Critique Sociale, 11.8.1888, Jg. 1, Nr. 5, S. 1) Dt.Ü.: »Es sind gebildete und gelehrte Leute, tiefgründige Denker, die sich nicht von kalten Gedanken leiten lassen.«

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Comme les vieux bourgeois dans l’interêt de leur capital, ceux-ci [gemeint sind Sozialdemokraten und Gewerkschafter, d.V.] dans l’interêt de leur prétendue science, ne font autre chose que de s’efforcer de retenir l’humanité dans son état actuel de convulsion. Ils craignent la révolution populaire qui viendra les démontir, et s’efforcent anxieusement d’en eloigner la date. [...] Prenons donc garde, ouvriers, ce sont là nos plus dangereux ennemis.« 542

Die von den ›anderen‹ angestrebte Politik der langsamen Erhöhung der Löhne ändere nichts an der grundsätzlichen, als systemisch bedingt verstandenen Problematik, sondern perpetuiere sie. Reformen wurden grundsätzlich als kontraproduktiv verstanden.543 Die Gleichsetzung der »socialistes« mit Bürgerlichen sowie ihre Überhöhung zu noch gefährlicheren Feinden im Sinne des Wolfes im Schafspelz verstärkten den Grad der Differenz zum kollektiven Selbst zusätzlich. Die Fremdwahrnehmung tritt in der La Critique Sociale vor allem als Katalysator von sarkastischen Distanzierungen von bürgerlichen Sichtweisen und Zeitungen auf, woraus sie ihre identitätskonstituierende Kraft schöpfte. Im Zuge dessen wurden beispielsweise positive und negative Hypergüter vermittelt: Sowohl monarchistische544 als auch bürgerliche545 Grundhaltungen wurden emotionalisierend ridikularisiert und boten Gelegenheit, die eigene kollektive Identität im Kontrast dazu durch die implizite oder explizite Vermittlung eigener Werte wie zum Beispiel der Gleichbehandlung aller Menschen unabhängig vom gesellschaftlichen Status zu positionieren. Auch anarchistische Ereignisse erwiesen sich als produktive Identitätskonstituenten in katalytischer Funktion, wenn auch in eher bescheidener Frequenz. Die Huldigung des Todestages von zur Todesstrafe verurteilten Anarchisten von Chicago 1887 im Zuge der Haymarket Unruhen ist eines der wenigen klassischen anarchistischen Ereignisse, das zu einem Traditionalismus verdichtet und genutzt wurde, um identitätsrelevante Inhalte zu vermitteln. Über die Erhängung von sieben Anarchisten Chicagos hieß es:

542 | »Lentement!«, La Critique Sociale, 11.8.1888, Jg. 1, Nr. 5, S. 1. Dt.Ü.: »Ganz so wie die alten Bourgeois im Interesse ihres Kapitals, tun diese im Interesse ihrer angeblichen Wissenschaft nichts anderes, als die Menschheit in ihrem aktuellen Krampfzustand zu halten. Sie fürchten die Volksrevolution, die sie absetzen wird, und bemühen sich ängstlich, sie immer weiter hinauszuschieben. [...] Lasst uns achtgeben, Arbeiter, dies sind unsere gefährlichsten Feinde.« 543 | Einschätzungen von Reformen als systemerhaltenden Maßnahmen finden sich wiederholt in Artikeln der La Critique Sociale. Vgl. etwa »Les drames sociaux«, La Critique Sociale, 11.8.1888, Jg. 1, Nr. 5, S. 2-3 oder »Une Société pratique«, La Critique Sociale, 27.10.1888, Jg. 1, Nr. 8, S. 4, wo dem reformistischen Ansatz als Alternative die Zerstörung des Rechts auf Besitz gegenübergestellt wurde. Auch »Un endormeur«, La Critique Sociale, 11.8.1888, Jg. 1, Nr. 5, S. 4 behandelte diesen Zusammenhang, wenngleich dort reformistische Ansätze in der parlamentarischen Politik im Allgemeinen und nicht bloß in der sozialdemokratischen Ausprägung adressiert wurden. 544 | Vgl. exemplarisch »Faits divers: Le ›Journal de Genève‹«, La Critique Sociale, 26.5.1888, Jg. 1, Nr. 1, S. 4. 545 | Vgl. exemplarisch »Faits divers: Barcelone«, La Critique Sociale, 26.5.1888, Jg. 1, Nr. 1, S. 4.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse »Ceux qui les ont pendus croyaient tuer l’idée avec eux; ils se sont trompés. [...] De tous points, en Europe aussi bien qu’en Amérique, on a célébré cet anniversaire sanglant. Des meetings organisés, des publications spéciales, des articles de journaux rappelant les faits, ont répercuté dans les foules les idées pour lesquelles nos compagnons sont morts.« 546

In einem zweiten Artikel zum Thema in derselben Nummer547 wurde die identitätskonstituierende Komponente der Erinnerungskultur und -arbeit gar offen thematisiert: »Nous ne voulons pas laisser passer l’Anniversaire de l’Assassinat des anarchistes de Chicago sans le rappeler au souvenir de compagnons, et constater le bien que leur mort héroïque a fait pour la propagande des principes et de la philosophie anarchistes.«548 In diesem Zusammenhang sprach die La Critique Sociale der antianarchistischen Repression die von ihrer Urheberschaft beabsichtigte Wirkung ab, die anarchistische Bewegung außer Kraft setzen zu können. Im Gegenteil bezeichnete sie sie offen als kontraproduktiv549: »L’Anarchie L’Épouvante et, pareils à ces roquets hargneux, nos gouvernants s’excitent euxmêmes par leurs propres paroles. Allez, hardi! messieurs, vos coups d’épingles ne peuvent que nous faire des prosélytes [...] Notre plus belle propagande est précisément le résultat de vos sottises collectives.« 550

Aus identitätstheoretischer Sicht interessant ist zudem die Selbstbezeichnung als Proselyten. Damit wurde ein gesamtgesellschaftlich negativ konnotierter Begriff nicht nur seinem ursprünglichen semantischen Feld beraubt, sondern durch die damit erfolgte Selbstbezeichnung positiv umgedeutet und wurde so zum Geusenwort. Ansonsten war in der La Critique Sociale punkto Sebstbezeichnungen die Dichotomie von »engraissés« und »camarades de travail« tonangebend.551 Zwar sprach sich das ›Wir‹ gelegentlich gegen eine Einteilung in zwei Klassen aus552 . Dass sich die Ge546 | »Anniversaire«, La Critique Sociale, 9.12.1888, Jg. 1, Nr. 9, S. 1. Dt.Ü.: »Diejenigen, die sie gehängt haben, dachten, dass sie mit ihnen auch die Idee töten würden; sie haben sich geirrt. [...] Überall, sowohl in Europa wie in Amerika, wurde dieser blutige Jahrestag gefeiert. Organisierte Meetings, Sonderveröffentlichungen, Zeitungsartikel, die an die Ereignisse erinnerten, haben in den Massen die Ideen verbreitet, für die unsere Genossen gestorben sind.« 547  |  »Le Livre d’un mort«, La Critique Sociale, 9.12.1888, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. 548  |  Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Wir wollen den Jahrestag des Mordes an den Anarchisten von Chicago nicht vorübergehen lassen, ohne ihn ins Gedächtnis unserer Genossen zu rufen und festzustellen, wie gut ihr Heldentod für die Propaganda anarchistischer Grundsätze und Prinzipien gewesen ist.« 549  |  Stein des Anstoßes im zitierten Artikel war die Einrichtung und der Betrieb der Politischen Polizei. Vgl. »Ces messieurs!«, La Critique Sociale, 9.12.1888, Jg. 1, Nr. 9, S. 2. 550 | Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Die Anarchie macht ihnen Angst und, ganz so wie bissige Kläffer, erregen sich die Regierenden ganz allein durch ihre eigenen Worte. Los, fasst euch ein Herz! Meine Herren, eure Nadelstiche können uns nur neue Anhänger bescheren [...] Unsere schönste Propagande es eben genau das Ergebnis eurer gemeinsamen Dummheiten.« 551  |  Vgl. exemplarisch »Lentement!«, La Critique Sociale, 11.8., Jg. 1, Nr. 5, S. 1. 552  |  In »Besoins et Aspirations« sind mehrfach kritische Stimmen zur Einteilung der Welt in zwei Klassen zu lesen. Vgl. »Besoins et Aspirations«, La Critique Sociale, 16.6.1888, Jg. 1, Nr. 2, S. 3-4.

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meinschaft selbst wiederholt als »pauvres ouvriers«553 bezeichnete, spricht aber eher dafür, diese Dichotomie aufrechterhalten zu wollen, denn sie zu demontieren. Wie in einem späteren Artikel klar wird, war der Begriff der Arbeiterklasse relativ offen angelegt und nicht bloß auf FabrikarbeiterInnen zurückgebunden.554 Außergewöhnlich ist die wiederkehrende, betonte primordiale Anbindung an diese Gruppe. So wurde die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft letztlich als genetisch bedingt inszeniert, wenn »nos ancêtres« als gemeinschaftskittendes Element aufgeführt wurden, die gleichermaßen »savants et ouvriers« waren, und durch ihre Ausbeutung durch eine »minorité d’oisifs et d’inutiles«555 zur Gemeinschaft geschrieben wurden. Hierbei blitzt auch die Signifikanz der ›anderen‹ für das Sein des kollektiven Selbst auf.

4.4.4.2 Zusammenfassung In der Genfer Zeitung La Critique Sociale kamen mehrere Mechanismen zur Konstruktion und Konstitution der kollektiven Identität zum Einsatz. Den Bärenanteil der Ausgestaltung des ›Wirs‹ übernahm die Vermittlung von Hypergütern. Darunter finden sich Sammelsuria rein positiver Hypergüter, etwa im Rahmen von utopischen Ausblicken in die Zukunftsgesellschaft, oder es wurden vornehmlich negative Hypergüter in distanzierender Kritik vermittelt. Gelegentlich traten beide auch in ein- und demselben Beitrag auf. Neben der Vermittlung von Hypergütern schaffte das Kollektiv Gemeinschaft auch durch eine wiederholte Abschließung des Innen gegenüber dem Außen. Diese Framing-Prozesse wurden in der Regel gegenüber sozialdemokratisch-reformistischen Kräften sowie calvinistisch-bürgerlichen Gruppen vollzogen, die der Gemeinschaft durch ihre differierenden Methoden und Wertvorstellungen Hand boten, das kollektive Selbst zu bestärken, indem die Diskrepanz zu den genannten Gruppen betont wurde. Eine Grauzone stellt das betonte und wiederholte Ablehnen von nicht goutierten anarchistischen Methoden durch die Gemeinschaft dar. Diese identitätskonstituierende Praxis muss als Vermittlung eines negativen Hyperguts und nicht als subidentitärer Framing-Prozess verstanden werden. Sie unterscheidet sich von subidentitären Framing-Prozessen insofern, als sie sich auf inhaltliche Aspekte beschränkt, die nicht einer spezifischen anarchistischen Strömung zugerechnet werden können, gegenüber der die Demarkation geschieht. Auch andere Mechanismen wie Selbstbezeichnungen oder katalytische Prozesse wie die Thematisierung der Fremdwahrnehmung waren produktive Kräfte in der Identitätskonstitution des Blattes, spielten aber punkto Frequenz eine Nebenrolle. Ebenfalls produktiv waren anarchistische Ereignisse respektive die aus ihnen geronnenen Traditionalismen. Die in der La Critique Sociale gleichermaßen erschaffene wie repräsentierte Gemeinschaft ist als kollektivistisch-anarchistisch mit anarcho-kommunistischen Zügen einzuordnen.

553  |  Bspw. in »Guerre aux Préjugés«, La Critique Sociale, 7.7.1888, Jg. 1, Nr. 3, S. 3. 554 | Zur »classe ouvrière« gehörten auch »[...] travailleurs de la pensée, travailleurs de la mine, de l’Atelier et du champ [...]« (»Le Tombeau de la Révolution«, La Critique Sociale, 29.9.1888, Jg. 1, Nr. 7, S. 1) Dt.Ü.: »Arbeiter des Denkens, Arbeiter der Minen, der Werkstätten und der Felder«. 555 | Alle drei Satzfragmente in »Le Tombeau de la Révolution«, La Critique Sociale, 29.9.1888, Jg. 1, Nr. 7, S. 1.

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Dechiffrierte Welt- und Sinndeutungen legen das gemeinschaftliche Anliegen einer umfassend kollektivistisch wirtschaftenden und lebenden Gesellschaft offen, die nicht nur materielle, sondern auch geistige Güter umfasste. Die anarchistische Gemeinschaft sah als wesentliches Mittel zur Schaffung dieser Gesellschaft das Bewusstsein an, das durch Bildung geschaffen und geschärft werden müsse. Weitere vom ›Wir‹ propagierte Methoden waren Direkte Aktionen wie Expropriationen, wobei zugunsten des Zwecks auch illegalistische Mittel geheiligt wurden. Dabei wurde differenziert beurteilt: Nicht alle illegalen Mittel wurden gutgeheißen. So sprach sich das anarchistische ›Wir‹ beispielsweise explizit gegen die Propaganda der Tat aus, da nicht mehr Empörung anzustreben sei, sondern die Bewusstseinsschaffung, die nachhaltig vor ›falschen Wegen‹ bewahren solle. Dazu wurden in der La Critique Sociale reformistische ebenso wie kapitalistische Ansätze gezählt, aber auch das, was ab den späten 1900er Jahren anarcho-sozialistisch genannt werden sollte, also prä-revolutionäre Umsetzungen von Projekten in anarchistischer Manier. In der Selbstwahrnehmung portraitierte sich die Gemeinschaft als Arbeiterklasse, gelegentlich auch ganz einfach als Arme. Dabei wurden die Grenzen in beiden Fällen ziemlich weitläufig gezogen und verschiedene Berufe und damit auch verschiedene soziale Lagen in die Gemeinschaft miteinbezogen. Sicherlich auch aufgrund der kurzen Erscheinungsdauer der La Critique Sociale lassen sich keine zeitungsinternen Grabenkämpfe zwischen divergierenden Subströmungen ausmachen. Dass über neun Nummern hinweg kein deutlich erkennbarer Wandel in Ausrichtung und/oder Konzeption der Gemeinschaft zu erkennen ist, erstaunt aus demselben Grund ebenfalls nicht. Punktuelle Kulminationen identitätskonstituierender Beiträge konnten keine ausgemacht werden. Es lässt sich allerdings generell eine hohe Dichte an identitätsrelevanten Artikeln feststellen, wozu nicht zuletzt die Einführung der Politischen Polizei in der Schweiz im Erscheinungsjahr ihren Teil beigetragen haben dürfte.

4.4.4.3 Bibliografische Details (1) La Critique Sociale; (3) keine Angaben zur Redaktion; Rue des Grottes 24, Genf; (4) Genf; (5) 26.5.-8.12.1888; 15-täglich (zum Teil auch niedrigere Frequenz); 4 Seiten; (9) Bibliothèque de Genève, Genf, E 823 (Jg. 1, Nr. 4 fehlt) (10) Die La Critique Sociale enthielt vornehmlich Artikel mittlerer Länge. Sämtliche Beiträge wurden anonym verfasst, lediglich die gelegentlichen Gedichte verfügten über Initialen oder Autorenangaben. Mehr oder weniger regelmäßige Rubriken des Blattes waren »Faits divers«, die aus den anarchistischen Bewegungen verschiedener Städte und Länder berichtete und »Chronique socialiste«, einem Verzeichnis anarchistischer Zeitungen. Unregelmäßig erschienen die Rubriken »Petite Correspondance«, »Correspondance« sowie eine kritisch diskutierte »Bibliografie«. Im Feuilleton findet sich eine Übersetzung von Johann Mosts ›Religionspest‹556. Die La Critique Sociale bediente sich bei der Finanzierung eines Tricks. Um AbonnentInnen zu gewinnen, betrachtete sie alle LeserInnen als AbonnentInnen, die die unaufgeforderte erste Nummer nicht mit Vermerk »refusé« zurückschickten.557 556  |  Most, Johann, »La Peste Religieuse«, La Critique Sociale, 26.5.1888, Jg. 1, Nr. 1, S. 2-3 - Jg. 1, Nr. 6, S. 2-3. 557  |  Vgl. ohne Titel, La Critique Sociale, 16.6.1888, Jg. 1, Nr. 2, S. 1.

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Da keine Angaben zur Auflage zu finden sind, kann die Meldung, dass die erste Nummer ausverkauft sei, nur bedingt als Gradmesser für den Erfolg der La Critique Sociale gelesen werden.558 In einem Artikel der anarchistischen Zeitung L’action Anarchiste, die gut acht Jahre später erschien, wurde kryptisch davon berichtet, dass die Zeitung La Critique Sociale einen Spitzel in ihren Reihen hatte.559 Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass es sich dabei um die hier untersuchte anarchistische Zeitung aus Genf handelte.560

4.4.5 L’Avenir Abbildung 16: L’Avenir, 13.5.1894, Jg. 1, Nr. 14. (BGE Genf, E 823)

4.4.5.1 Relevante Er wähnungen In den ersten Zeilen des Auftaktsartikels der Zeitung561 positionierte sich die L’Avenir als Stimme einer unabhängigen Gemeinschaft von Arbeitern, deren Sinnwelten dia-

558  |  Vgl. »Le premier numéro [...]«, La Critique Sociale, 27.10.1888, Jg. 1, Nr. 8, S. 1. 559 | Vgl. »Bienvenue!«, L’action Anarchiste, 21.4.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. 560 | Dagegen spricht der Einschub »comme naguère à la Critique Sociale«; der Begriff ›naguère‹ und die verstrichene Zeitdauer von acht Jahren zwischen dem besagten Action Anarchiste-Artikel und dem Erscheinen der letzten Nummer der La Critique Sociale passen nicht zusammen. 561 | »Quelques Mots«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 1-2.

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metral zu parlamentarisch-bürgerlichen Vorstellungen562 steht: »L’Apparation d’un organe ouvrier, laissant au rancart, et bien définitivement, une politique corruptrice et mensongère, depuis longtemps était attendue par tous les ouvriers indépendants, éloignés des luttes politiques.«563 Die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes stellt wiederholt das ›andere‹ dar, gegenüber dem die Gemeinschaft der L’Avenir mit FramingProzessen ihre kollektive Identität akzentuierte. Einerseits durch diese Abgrenzung selbst, andererseits durch (Re)Definitionen im Anschluss an die Demarkation wurde die kollektive Identität geformt. Im Artikel »De la tour du nord«564 wird das gut sichtbar. Das ›vous‹ bestimmt den Artikel, mit dem einerseits kirchliche Autoritäten, andererseits das wohlhabende, patriotische Bürgertum Genfs substituiert wurden. Das ›nous‹ der ArbeiterInnen erhielt seine identitären Konturen erst durch die ›anderen‹. Im hier betrachteten Falle als Opfer der Rücksichtslosigkeit der ›anderen‹, da Erstere nur auf Kosten der Letzteren leben würden: »Vous ne savez faire bien qu’une chose: vivre aux crochets du travailleur.«565 Die im Nachgang der Abgrenzung einsetzende akzentuierende Vermittlung eigener Hypergüter wurde beispielsweise am Thema schlechter Wohn- und Gesundheitsverhältnisse vorgenommen, die kausal an das Wohlergehen der ›anderen‹ angebunden wurde. Die bürgerliche Armenhilfe566, welche die Gemeinschaft als perpetuierendes Element des Status quo verstand, gehörte genauso zu den Demarkationspunkten wie die unter anderem darin festgeschriebene Teilung der Gesellschaft in eine vermögende Elite und eine besitzlose Masse, Patriotismus, die Gesetzgebung oder die »[...] étroitesse d’esprit, votre lâcheté intellectuelle et votre petitesse de cœur [qui, d.V.] ont bientôt fait de transformer en

562  |  In Lauftext (»les moutons, pardon! Les électeurs« [Percutant, »Electeurs imbéciles«, L’Avenir, 24.12.1893, Jg. 1, Nr. 6, S. 3]) und Titeln (»Electeurs imbécile« [Ebd., S. 3]) kleinerer Beiträge, sind die Ablehnung von Parteiensystem und Parlamentarismus omnipräsent. 563 | »Quelques Mots«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Das Erscheinen eines Arbeiterorgans, das die korrupte und verlogenen Politik endgültig aufs Abstellgleis verfrachtet, wurde seit Langem von allen unabhängigen Arbeitern fern der politischen Kämpfe erwartet.« 564  |  Joris, »De la tour du nord«, L’Avenir, 10.12.1893, Jg. 1, Nr. 5, S. 1. 565 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Das Einzige, wozu ihr fähig seid, ist dem Arbeiter auf der Tasche zu liegen.« 566 | Die gegen außen abgrenzende und gegen innen dadurch gemeinschaftsstiftende Kritik an der bürgerlichen Welt beschränkt sich dabei nicht nur auf politische Zusammenhänge. So wird explizit die Armenhilfe wohlhabender Ehefrauen, charakteristisches Merkmal großbürgerlichen Lebensstils im Fin de Siècle, als Akt der Besänftigung des eigenen Gewissens kritisiert, das durch die bürgerliche Presse auch noch perpetuiert und fortifiziert würde: »Lorsqu’ils seront bien bourrés, bien repus, ils se croiront bien généreux de songer aux pauvres, aux enfants qui demandent en vain un morceau de pain, et tout en continuant leur noce, ils feront une ›petite quête‹. La presse, le lendemain, annoncera avec force remerciements qu’elle a reçu 2 ou 3 francs ›pour venir en aide‹ etc.« (Pilori, »Chaux-de-Fonds la dèche«, L’Avenir, 12.11.1893 Jg. 1, Nr. 3, S. 1). Dt.Ü.: »Wenn sie randvoll und satt sein werden, werden sie meinen, es sei großzügig an die Armen zu denken, an die Kinder, die vergebens um ein Stück Brot bitten, und während sie gleichzeitig ihr rauschendes Fest weiterfeiern, werden sie eine ›kleine Kollekte‹ veranstalten. Am nächsten Tag wird die Presse mit tausend Danksagungen ankündigen, dass sie 2 oder 3 Francs ›zur Hilfe‹ erhalten habe etc.«

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répression ce qui au début devait être protection«.567 Neben einer generellen Demarkation gegenüber bürgerlichen Verwaltungsformen, betrafen Framing-Prozesse fast zu gleichen Teilen auch die Sozialdemokratie als parlamentarische Akteurin. Neben unentwegten kleineren Sticheleien568 fand eine Auseinandersetzung aber durchaus auch fundiert und analytisch statt. Beispielsweise im sechsteiligen Artikel »Le Programme Socialiste«569, bei dem Framing-Prozesse als Impetus zur Vermittlung von bewegungseigenen Hypergütern fungierten. So wurde die Analyse sozialdemokratischer Vorstellungen des Rechts auf Arbeit interpretiert als erkennbarer Wunsch nach einem allmächtigen umfassenden Staat, was antistaatliche Positionierungen seitens der Gemeinschaft zur Folge hatte: »Pour que l’etat garantisse à tous le travail, il faut qn’il [sic] en ait avant tout le monopole, et les socialistes avouent qu’en effet ils cherchent à l’acquerir. Mais ce monopole serait donc celui de la vie même...? Peut-on concevoir une plus grande monstruosité: le monopole de la vie?«570 Dem Ansatz der Sozialdemokratie, ihr Programm auf eine wählende Mehrheit auszurichten, stellte sie die Nichtrepräsentativität dieser Mehrheit vor, die sie – quasi im Vorbeigehen – emotionalisierend als »majorité composée de roués et d’abrutis«571, also als Mehrheit der von Geräderten und Blödköpfen verunglimpfte. Weitere Hypergüter wie Selbstermächtigung, Inter- respektive Antinationalismus wurden in ähnlicher Weise im Rahmen der Kritik sozialdemokratischer Politik vermittelt.572 Neben der Abgrenzung stellte die Vermittlung von Hypergütern den tragfähigsten Pfeiler der Identitätskonstitution dar. Ein zuweilen sogar in einer Ausgabe mehrfach vermitteltes Hypergut war der Abstentionismus. In Wahlen wurde die Bestätigung eines Systems gesehen, das die Menschen nicht nur ausbeute, sondern sie gar – mittels vorgeschlagener obligatorischer Wahl – von sich selbst entmündigen wolle, indem sie die Stimmabgabe erzwinge und damit einen Stimmentzug verhindere.573 Der Beitrag »Communisme« beinhaltet eine rückwärtsgewandt-utopistische, traditionalistisch anmutende Skizze. Er berichtete über eine (fiktive?) Region 567  |  Vgl. Joris, »De la tour du nord«, L’Avenir, 10.12.1893, Jg. 1, Nr. 5, S. 1. Dt.Ü.: »Engstirnigkeit, eure intellektuelle Feigheit und eure Kleinherzigkeit, [die] bald in Repression verwandeln werden, was anfangs Schutz sein sollte«. 568 | Dies spiegelt sich in Bezeichnungen wie »nos socialistes apothicaires« (»Le Programme Socialiste: Le droit au travail«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 1) wieder, in Anspielung auf Bildungsstand und wohl auch den Lebensstandard führender sozialdemokratischer Politiker. Auch die Formulierung »les socialos parlementeurs« (Ebd., S. 2), die Parlamentarier zu ›SprechLügnern‹ macht, dürfte kein Tippfehler, sondern ein emotionalisierender Seitenhieb sein. 569 | Die Serie beginnt mit »Le Programme Socialiste: Le droit au travail«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 1-2 und endet mit »Le Programme Socialiste: Réfomes administratives et écoles populaires«, L’Avenir, 3.6.1894, Jg. 1, Nr. 15, S. 3. 570 | »Le Programme Socialiste: Le droit au travail«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 2. Dt.Ü.: »Damit der Staat allen Arbeit garantiert, müsste er erst einmal das Monopol darauf haben, und das, so geben die Sozialisten zu, versuchen sie zu erlangen. Aber dieses Monopol wäre eines über das Leben an sich...? Kann man sich etwas Ungeheuerlicheres vorstellen: ein Monopol auf das Leben?« 571  |  Ebd., S. 2. 572  |  Vgl. Ebd., S. 2. 573  |  Vgl. die Artikel »Le Vote Obligatoire« und »Comédie éléctorale«, L’Avenir, 21.10.1893, Jg. 1, Nr. 2, S. 2 resp. S. 4.

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der Schweiz, wo wirtschaftliche Unabhängigkeit, gegenseitige nachbarschaftliche Hilfe und eine weitgehende Absenz von hierarchischem Denken und Handeln geherrscht hätten. Weitere positive Hypergüter, welche die kollektive Identität der AnhängerInnen dieser Region flankierten, waren die Inexistenz von Geld und Kreditwesen, das durch »[...] le simple et loyal échange des produits, l’Aide mutuelle et le prêt sur parole et sans intérêt«574 substituiert gewesen sein sollte. Die L’Avenir vermittelte auch negative Hypergüter, welche sie explizit nicht als die ihrigen vertrat und/oder anstrebte und die dadurch die kollektive Identität mitbestimmten. Prominentestes Beispiel ist die Autorität. So wurde der Status quo als Folge einer Reihe von Unterdrückungen verschiedener Autoritäten hergeleitet, die in typisch anarchistischer verketteter Denkweise aus ArbeiterInnen »esclave[s] complet[s]«575 gemacht hätten. Daraus konstruierte die L’Avenir ein ›Wir‹ antiautoritärer und antikapitalistischer Ausrichtung, das im Staat und im Eigentum die zentralen Probleme ortete: »Nous le disons carrément, nous sommes des adversaires convaincus de la politique, du gouvernement qui l’A instituée, qu’il soit autocratique, monarchique, républicain ou socialiste [...]. Ennemis du gouvernement, nous le sommes aussi du monstrueux privilège qui s’abrite sous son aile: le capital, incarné dans la propriété.« 576

Wenig erstaunlich trat folglich auch der Antrieb des kapitalistischen Systems, das Geld, in der Rolle eines negativen Hyperguts auf: »Rien n’a, comme l’Argent, suscité parmi les hommes de mauvaises lois et de mauvaises moeurs; [...] La finance est l’Alambic qui a fait évaporer une quantité effroyable de biens et de denrées pour faire ce fatal procès. L’Argent déclare la guerre à tout le genre humain.«577 Auch das Dividendenwesen und die Spekulation dienten als negative Hypergüter der Definition der kollektiven Identität und wurden als Un-Werte deklariert:

574 | »Communisme«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 4. Dt.Ü.: »simplen und loyalen Tausch von Erzeugnissen, gegenseitige Hilfe und Darlehen aufs Wort und ohne Zinsen«. 575  |  Vgl. »Quelques Mots«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 576  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wir sagen es geradeheraus, wir sind überzeugte Gegner der Politik, der Regierung, die sie eingeführt hat, sei sie autokratisch, monarchisch, republikanisch oder sozialistisch [...]. Als Feinde der Regierung sind wir auch Feinde des ungeheuerlichen Privilegs, dem sie als Deckung gilt: des Kapitals, das durch das Eigentum verkörpert wird.« Der Kapitalismus, namentlich das Dividendenwesen und die Spekulation werden detailliert kritisiert im Artikel »Où en sommes-nous?«, L’Avenir, 21.10.1893, Jg. 1, Nr. 2, S. 1-2. In mehreren Artikeln werden zudem weitere Elemente der Staatlichkeit herabgewürdigt und damit die antistaatliche eigene Position gefestigt. Vgl. exemplarisch einen Angriff auf das Richteramt im Beitrag »La magistrature s’en mêle«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 577 | »Glanes: Rien«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 4. Dt.Ü.: »Nichts anderes als Geld hat unter den Menschen so üble Gesetze und so üble Sitten hervorgerufen; [...] Das Finanzwesen ist der Destillierkolben, der zugunsten dieses verhängnisvollen Prozesses so viele Güter und so viele Lebensmittel verdampfen lassen hat. Das Geld erklärt dem gesamten Menschengeschlecht den Krieg.« Eine Alternative zum Geld wird an dieser Stelle nicht formuliert.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Des milliers et des milliers d’hommes, de femmes et d’enfants, des populations entières seront condamnées à vivre sans développement d’aucune sorte, mais des dividends fabuleux seront servis à ceux qui n’auront eu d’autre peine qu’à passer quelques billets de banque aux guichets des compagnies. Toute la production est soumise à la spéculation. On fait la hausse et la baisse sur tous les produits et surtout sur ceux nécessaires à la vie. Qu’importe? Des fortunes s’édifient sur les misères populaires.« 578

Der Artikel »La civilisation« schließlich führte in quasi-tabellarischer Form negative Hypergüter auf, die der anarchistischen Gemeinschaft zur Einordnung und Festigung des eigenen kollektiven Selbst dienlich waren. Neben Autoritäten unterschiedlichster Couleur sind dazu institutionalisierte Religionen, Exekutivgewalten oder das Eigentum zu zählen: »Toute la civilisation est à détruire. Elle repose sur l’Autorité, soit sur Dieu, qui est l’Autorité qui bénit le crime; sur le prêtre, qui est l’Autorité qui consacre le crime; sur le bourreau, qui est l’Autorité qui protège le crime. Le maître, sous ses formes multiples de propriétaire, patron, banquier, entrepreneur; le professeur, le bourgeois, le roi, ce sont les autorités qui dressent et entretiennent le crime.« 579

Selbstbezeichnungen stellten eine weitere Komponente der Herausbildung und des Unterhalts der kollektiven Identität der Gemeinschaft der L’Avenir dar. Dass das Blatt gleich in der ersten Nummer einen begriffgeschichtlichen Abriss der Anarchie abdruckte, deutet darauf hin, dass es keinerlei Berührungsängste mit Anarchie-Begriffen hatte. Vielmehr bemühte sich die L’Avenir darum, die prävalenten Vorurteile, die Anarchie-Begriffe zu Reizwörtern machten, aktiv zu beheben.580 DieseTendenz manifestierte sich über alle Nummern der Zeitung hinweg. Im Artikel »Sacrifice« wehrte sich die L’Avenir etwa gegen die Praxis von Politikern, Anarchismus mit Attentätern und Mördern gleichzusetzen. Im Gegenzug wurde versucht, Anarchie-Begriffe von der Gleichung »l’Anarchiste est un assassin«581 zu lösen. Die Methode dazu

578 | »Où en sommes-nous?«, L’Avenir, 21.10.1893, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. Dt.Ü.: »Tausende und abertausende Männer, Frauen und Kinder, ganze Bevölkerungen sind dazu verdammt, ohne Entwicklung jeglicher Art zu leben, aber sagenhafte Dividenden bekommen diejenigen serviert, die kein anderes Leid ertragen mussten, als einige Geldscheine zu den Unternehmensschaltern zu bringen. Die gesamte Produktion wird der Spekulation unterworfen. Anhebungen und Senkungen finden bei allen Produkten statt, vor allem bei denen, die lebensnotwendig sind. Was soll’s? Vermögen werden auf dem Elend des Volkes errichtet.« 579 | »La civilisation«, L’Avenir, 8.4.1894, Jg. 1, Nr. 12, S. 2-3. Dt.Ü.: »Die gesamte Zivilisation muss zerstört werden. Sie baut auf der Autorität auf, sei es auf Gott, die Autorität, die das Verbrechen segnet, sei es auf dem Priester, der Autorität, die das Verbrechen weiht, sei es auf dem Henker, die Autorität, die das Verbrechen schützt. Der Herr, in seinen vielfachen Erscheinungen als Eigentümer, Patron, Bankier, Unternehmer; der Lehrer, der Bourgeois, der König, sie sind alle Autoritäten die das Verbrechen aufrichten und unterhalten.« 580 | Das signifikanteste Beispiel dafür ist der 14-teilige Artikel »Etudes Sociologiques: L’Anarchie«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 2-3 (Teil I) - »Etudes Sociologiques: L’Anarchie«, L’Avenir, 3.6.1894, Jg. 1, Nr. 15, S. 2-3 (Teil XIV). 581 | Percutant, »Sacrifice«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 3.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

war eine Verquickung des anarchistischen Attentäters Paulino Pallas582 mit dem TellMythos, also dem Versuch eines traditionalistischen Anschlusses in Gestalt einer nationalistisch-patriotischen Rekuperation. Wie bei Tell sei Pallas’ Handeln zu verstehen als »[...] des sacrifices, suivant les exigences et les moyens du temps«583. Aber »[...] aujourd’hui parce qu’un sublime Pallas d’au-delà des Alpes, s’offre en sacrifice à la destruction d’un des innombrables Gessler qui affligent l’humanité, vous exploitez la vertueuse mine de vos mensonges pour faire des anarchistes, Pallas ou autres, de vulgaires assassins!«584. In der Wahrnehmung des Kollektivs war Pallas »[...] un martyr! Pallas est un héros!«585. In der Überhöhung des Attentäters zu einer Legende wurde einerseits implizit die Methode des Attentats als positives Hypergut vermittelt. Andererseits gebührt dem Versuch Aufmerksamkeit, die Propaganda der Tat durch traditionalistische Einbindung als ur-schweizerisch positionieren zu wollen und damit den Boden für eine breite Akzeptanz zu bereiten. Dies muss als kontradiktorisches Konstitutionsmerkmal gewertet werden, da es diametral zur Vermittlung des Antinationalismus als positives Hypergut steht. Anarchistische Ereignisse wie der Attentatsversuch Pallas’ finden sich häufig und sie stellten nicht selten den Rahmen für die Etablierung und die Vermittlung von identitätskonstituierendem Inhalt.586 Anhand einer Berichterstattung über einen Maurerstreik in Genf587 etwa grenzte sich die Gemeinschaft gleich auf zwei Seiten hin ab und positionierte sich als außerparlamentarische Bewegung, die sich hüte vor fixierten Wahrheiten und Ideologien. Gegenüber bürgerlichen Kräften distanzierte sich die Gemeinschaft mit klaren Worten: »[N]ous y voyons l’oeuvre des machinations bourgeoises dans toutes leurs petites mesquineries.«588 Auf der anderen Seite fanden Demarkationen gegenüber der Sozialdemokratie statt, die despektierlich als »les tribuns du grrrand [sic] parti ouvrière socialiste suisse etc. [...]«589 582  |  Der Anarchist Paulino Pallas verübte am 24.9.1893 ein nicht-tödliches Attentat auf Militär-General Martinez de Campos in Barcelona. Pallas wurde am 6. oder 9.10.1893 in Barcelona hingerichtet. 583 | Percutant, »Sacrifice«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 3-4. Dt.Ü.: »Aufopferung, die den Anforderungen und den Mitteln der Zeit folgt«. 584  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »heute, da ein erhabener Pallas sich jenseits der Alpen für die Zerstörung eines der unzähligen Gessler aufopfert, die die Menschheit bekümmern, schlachtet ihr die tugendhafte Grube eurer Lügenmärchen aus, um aus Anarchisten, Pallas oder anderen, gewöhnliche Mörder zu machen!« 585  |  Ebd., S. 4. 586  |  Es gilt festzuhalten, dass nicht alle Artikel die von anarchistischen Ereignissen ausgingen, über identitätskonstituierende Elemente verfügten. Die Berichterstattung über die Begnadigung von drei verurteilten Anarchisten in Chicago im Zusammenhang mit den Haymarket-Riots 1886 durch Gouverneur John P. Altgeld liefert dazu ein gutes Beispiel. Das erstaunt v.a. deshalb, weil der 1. Mai als wohl zentralster Traditionalismus der Arbeiterbewegung, auf den sich auch AnarchstInnen immer bezogen, auf die Haymarket-Riots und die damit zusammenhängenden bewusst begangenen Justizirrtümer beziehen. Vgl. Cohen, Alexandre, »D’un drame politique«, L’Avenir, 26.11.1893, Jg. 1, Nr. 4, S. 1-2. 587  |  »A propos de la grève des maçons«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 3-4. 588 | Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »[W]ir sehen darin das Werk der bürgerlichen Machenschaften in ihrer ganzen Schäbigkeit.« 589 | Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »Tribune der grrroßen schweizerischen sozialistischen Arbeiterpartei etc.«

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bezeichnet wurden. Diese seien im Glauben an die Vorstellung des historischen Materialismus erstarrt, was nicht zuletzt zum Scheitern des Streiks beigetragen habe.590 Der Funktion anarchistischer Ereignisse als Initialzünder für Identitätskonstitutionen in der L’Avenir folgten in vielen Beiträgen ähnliche Konstruktionsvorgänge: Mittels Framing-Prozessen gegenüber den Verhältnissen respektive denjenigen Personen, Parteien und Institutionen, die dafür verantwortlich gemacht wurden, grenzte sich die Gemeinschaft ab und gleichzeitig ein. Das so abgesteckte identitäre Feld wurde danach mit Hypergütern positiver und/oder negativer Art und weiteren, spezifischeren Demarkationen konkretisiert.591 Schweizspezifisch ist das bei Piloris Artikel »Procès des anarchistes de La Chaux-de-Fonds«592 gut erkennbar. Die für den Prozess zuständigen Richter wurden emotionalisierend zu »têtes de pipes«593 oder »guignols«594, also zu Pfeifenköpfen und Kaspern herabwürdigt, das Gerichtsverfahren als »comédie«595 bezeichnet.596 Der Prozess diente abschließend der Vermittlung anarchistischer Sinndeutung und der Interpretation von Repressalien als Bestärkung der Richtigkeit des eigenen Tuns: »En ce moment, les loges, petites et grandes, les cercles, les salons et les églises doivent être satisfaits; mais les pignons, les sous-sols, les caves ›habitées‹ sont loin de l’être. Là, on maudit la société bourgeoise, sourdement il est vrai. Un jour, malgré toute cette kyrielle de mouchards, et de magistrats, le peuple, qui se tait aujourd’hui, saura se relever et exiger tous ses droits à une existence meilleure. Là se recrutent les anarchistes, que de ridicules et stupides persécutions tendent en vain à supprimer.«597

Die Repression als identitätskonstituierendes Element trat wiederholt auf in der L’Avenir. Im Artikel »Les gouvernementeurs et la Propagande Anarchiste«598 grenz590 | Die Sozialdemokraten »[...] jurant sur leurs grands dieux qu’ils vaincraient ou tomberaient avec eux. (on n’est plus fumiste.)« (»A propos de la grève des maçons«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 3) [dt.Ü.: »schwören auf ihre großen Götter, dass sie siegen oder an ihrer Seite fallen werden. (Es gibt nichts Nutzloseres.)«], wie die L’Avenir schnippisch die marxistische Wissenschaftsgläubigkeit karikierte. 591  |  Vgl. exemplarisch »Vaillant«, L’Avenir, 14.1.1984, Jg. 1, Nr. 7, S. 3, »Vaillant«, L’Avenir, 28.1.1894, Jg. 1, Nr. 8, S. 1-2 und »Mort de Vaillant«, L’Avenir, 25.2.1894, Jg. 1, Nr. 10. 592 | »Procès des anarchistes de La Chaux-de-Fonds«, L’Avenir, 28.1.1894, Jg. 1, Nr. 8, S. 2-3. 593  |  Ebd., S. 2. 594  |  Ebd., S. 3. 595  |  Ebd., S. 3. 596  |  Mit Bußen für die Angeklagten und Verurteilten von je CHF 1000,- oder alternativ 200 Tagen Haft endete die Komödie allerdings nicht sehr lustig. Vgl. ebd., S. 3. 597  | Ebd., S. 3 (interpunktorische Unsauberkeiten i.O.) Dt.Ü.: »Zur Zeit werden die Logen, die kleinen und großen, die Zirkel, die Salons und die Kirchen zufrieden sein; die Dachböden jedoch, die Untergeschosse, die Keller, die ›bewohnten‹ sind weit davon entfernt. Da verdammt man die bürgerliche Gesellschaft, heimlich, das ist wahr. Eines Tages jedoch wird sich, trotz dieser ganzen Schar von Spitzeln und von Rechtsgelehrten, das Volk, das heute schweigt, erheben und seine Rechte auf ein besseres Leben einfordern. Dort werden Anarchisten rekrutiert, die durch lächerliche und dämliche Verfolgungen ausgelöscht werden sollen.« 598  |  »Les gouvernementeurs et la Propagande Anarchiste«, L’Avenir, 10.12.1893, Jg. 1, Nr. 5, S. 4.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

te sich das Blatt bereits im Titel mit einem Wortspiel, das Regierende mit einem Neologismus pauschal zu Lügenden deklarierte, von jeglicher institutionalisierter Politik ab. Im Laufe des Artikels waren es einerseits vermittelte positive Hypergüter wie die Reorganisation von Arbeit nach kommunistischen Prinzipien, die Rückkehr aufs Land oder das gemeinsame Verwalten von Feldern, die als Werte die kollektive Identität mitprägten. Andererseits lässt sich die Gemeinschaft als standhaft und dezidiert skizzieren aufgrund ihrer betonten Indifferenz gegenüber staatlichen Zwangsmaßnahmen wie massenhaften Ausweisungen von Kantons- und/oder Bundesgebiet bei Teilnahme an Streiks, die bisweilen zu genau diesem Zweck von Agents Provocateurs angezettelt worden seien.599 Auch hier wurde die Repression mittels Umdeutung zur Identitätskonstitution genutzt: »A vous, Messieurs les Conseillers d’etat, d’agir, d’expulser à tort ou à raison, de frapper à coups redoublés! [...] Continuez donc! Un camarade, nous prouvant votre zèle, est venu nous montrer toutes les cartes de tolérance qu’il a reçues depuis le mois de juin, et nous voyons que vous faites une besogne bonne à grossir l’Armée des révoltés! [...] Nous n’aurons beau faire de la propagande anarchiste, jamais nous n’en ferons autant que vous, Messieurs!« 600

Auch der Artikel »La réaction«601 trägt Spuren der kollektiven Identität. Er wurde in Reaktion auf die verschärften polizeilichen und staatsschützerischen Maßnahmen geschrieben und deutete an, dass internationale, europaweite Zusammenarbeit der Polizeien bereits 1894 eine Tatsache war. »Qu’on ne s’y trompe pas, l’entente contre le socialisme anarchiste est faite entre les gouvernements; [...] l’Anarchiste, de par la jurisprudence actuelle, est toujours coupable avant la lettre et avant l’acte.«602 Ob mit diesen internationalen Polizeiaktionen tatsächlich anarchistische Umtriebe unterbunden werden sollten, oder aber lediglich die Vergrößerung der Angst vor ihnen genährt werden sollte, um innenpolitisch neue polizeiliche Maßnahmen einzuführen und zu legitimieren, bleibt Interpretationsfrage. Neben anarchistischen Ereignissen bot auch die Fremdwahrnehmung Gelegenheit, die kollektive Identität zu schärfen. Exemplarisch zu sehen ist das im Beitrag »Ce bon journal«603. Die gemeinschaftseigenen Hypergüter Antimilitarismus, Anti599  |  Ebd., S. 4. 600  |  Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Sie sind dran, meine Herren Staatsräte, Sie müssen handeln, zu Recht oder zu Unrecht ausweisen, noch fester zuschlagen! [...] Machen Sie weiter so! Ein Genosse konnte uns Ihren Eifer nachweisen und zeigte uns die ganzen Toleranzkarten, die er seit Juni erhalten hat, und wir sehen, dass Sie sich darum kümmern, die Armee der Revoltierenden zu vergrößern! [...] Wir können so viel anarchistische Propaganda machen, wie wir wollen, niemals wird sie so gut sein wie Ihre, meine Herren!« 601 | »La réaction«, L’Avenir, 19.3.1894, Jg. 1, Nr. 11, S. 1-2. 602  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Man sollte sich nicht täuschen lassen, die Regierungen haben sich gegen den anarchistischen Sozialismus geeinigt; [...] der Anarchist, den aktuellen Präzedenzfällen nach, ist immer von vornherein schuldig und schon vor der Tat.« 603  |  »Ce bon journal«, L’Avenir, 11.2.1894, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. Auch ohne identitätskonstituierende Wirkung fand die Fremdwahrnehmung Eingang in die L’Avenir. So findet sich nur zwei Spalten weiter in derselbenAusgabe ein Kurzbericht, oder besser eine 10-zeilige Beschimpfung über die in dieser Arbeit als Quelle der bürgerlichen Fremdwahrnehmung berücksichtigte Tribune de Genève. »La Tribune de Genève et le Journal de Genève, le nez de l’une dans

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autoritarismus und Kollektiveigentum wurden im Rahmen einer Kritik an der Berichterstattung des Journal de Genève über den Volksaufstand im italienischen Carrara vermittelt. An den Schreiber des Journal de Genève gerichtet hieß es: »Croyez bien que l’acomplissement de ce devoir, comme vous appelez la fusillade exigée sur une population de femmes et d’enfants, qut [sic] exige que l’enfant tire sur sa mère [...] pourrait bien un jour changer de cause et faire demi-tour hors de cette discipline que vous admirez tant lors-qu’elle protège les spoliations des votres.« 604

Einleitend und abrundend wurde bemerkt, dass das bürgerliche Blatt zudem den Tonfall habe »[...] d’un bon réactionnaire qui n’aime rien tant que les massacres de travailleurs quand ils ont pour but de maintenir la sainte Propriéte [...]«605. Besonders die anarchismusfeindliche Stimmung in der Fremdwahrnehmung war in mehreren Artikeln Thema. Kopfschüttelnd zititerte die L’Avenir das Journal de Genève: »[...] ›l’Anarchie est une secte qui veut détruire la société par l’Assasinat‹ [...]«, und kommentierte: »C’est à en pleurer, véritablement.«606 Diese Demarkationen boten der Gemeinschaft der L’Avenir den Einstieg zu einer eigenen AnarchismusDefinition, die offen und prozesshaft gehalten wurde: »L’idée anarchiste [...] on la voit passer à travers l’histoire de tous les âges. Elle est la protestation de la conscience humaine contre toute servitude, elle est l’esprit nouveau en lutte contre la routine; elle est le réveil de l’individu accablé par la discipline sociale qui lui fait accepter une morale menteuse cachant toutes les hontes, toutes les lâchetés, toutes les hypocrisies.« 607 le derrière de l’Autre, chevauchent, comme d’habitude, et avec un plaisir de canaille, sur le sentier de l’ordure.« (ohne Titel, L’Avenir, 11.2.1894, Jg. 1, Nr. 9, S. 4) Dt.Ü.: »Die Tribune de Genève und das Journal de Genève reiten wie gewöhnlich, der einen Nase im Hintern des anderen, mit schurkenhafter Freude auf dem Weg des letzten Drecks.« Vgl. diesbezüglich auch »Journaux: Une naïveté«, L’Avenir, 25.2.1894, Jg. 1, Nr. 10, S. 3-4. 604  |  »Ce bon journal«, L’Avenir, 11.2.1894, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. Dt.Ü.: »Denkt daran, dass die Erfüllung dieser Pflicht, wie ihr die verlangte Erschießung von Frauen und Kindern nennt, die will, dass ein Kind auf seine Mutter schießt, [...] ebenso gut eines Tages die Front wechseln und sich umdrehen und dieser Disziplin, die ihr so schätzt, wenn sie die Raubzüge der Euren schützt, den Rücken zudrehen könnte.« 605 | Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »eines alten Reaktionärs, der nichts mehr liebt als Massaker an Arbeitern, wenn sie das Ziel haben, das heilige Eigentum zu erhalten [...]« 606 | »La réaction«, L’Avenir, 19.3.1894, Jg. 1, Nr. 11, S. 2. Dt.Ü.: »[...] ›die Anarchie ist eine Sekte, welche die Gesellschaft durch Mord zerstören will‹ [...] Es ist wahrlich zum Heulen.« Die nicht-anarchistische Presse wird andernorts auch als »les journaux à la solde de la bourgeoisie« verunglimpft. Vgl. »Ces anarchistes...«, L’Avenir, 19.3.1894, Jg. 1, Nr. 11, S. 3. Dt.Ü.: »die Zeitungen, die der Bourgeoisie gefügig sind« 607 | »La réaction«, L’Avenir, 19.3.1894, Jg. 1, Nr. 11, S. 2. Dt.Ü.: »Der anarchistische Gedanken [...] durchzieht die Geschichte aller Generationen. Er ist der Protest des menschlichen Gewissens gegen die Knechtschaft, er ist der neue Geist im Kampf gegen die Routine; er ist das Erwachen des Einzelnen, auf dem die soziale Disziplin lastet, die dafür sorgt, dass er eine verlogene Moral akzeptiert hinter der sich jegliche Schande, jegliche Feigheit, jegliche Heuchelei versteckt hält.«

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

Besonders interessant für diese Arbeit ist die Aussage im direkten Anschluss: »Elle est en chacun de nous, l’idée anarchiste, elle fait partie de notre moi, elle est le second terme du dualisme, celui qui proteste contre la soumission du premier, contre ce qu’il sait notoirement être erreur, mensonge, hypocrisie, accepté par faiblesse, manque de volonté sereine.«608 Damit wird die kollektive Identität auch als zentraler Aspekt der personalen Identität von AnarchistInnen verortet. Das Schüren der Anarchistenangst in der Fremdwahrnehmung wurde als politischer Akt erkannt und verurteilt, der vor allem eine Disziplinierung gegen innen ermöglichen würde: »Depuis que la propagande par le fait prend des proportions vraiment inquiétantes pour la classe dirigeante; que des actes, dûs le plus souvent aux initiatives individuelles, sont constatés un peu partout, les bourgeois, par l’organe de leur presse, ne cessent de brailler que les anarchistes sont des bandits, que des mesures de répressions internationales sont devenues nécessaires [...]. Bref, la fumisterie policière de Berlin-Orléans a mis le comble à la frousse qui s’est emparée d’eux, et, plus que jamais, ils clâment que la société est en danger et que des mesures énergiques sont nécessaires.« 609

Von dieser Taktik ließ sich die anarchistische Gemeinschaft aber nicht beschränken. Im Gegenteil schien der offizielle und geschürte gesellschaftliche Gegenwind – wie weiter oben schon gesehen – sie zu bestärken: »Ce prélude d’une guerre entre deux classes, dont l’une devra capituler tôt ou tard, nous fait déjà constater un fait important qui est loin de nous décourager, au contraire.«610 In diesem Zusammen608  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Er steckt in jedem von uns, der anarchistische Gedanke, er ist Teil unseres Selbst, er ist der zweite Ausdruck des Dualismus, der Teil, der gegen die Unterwerfung des ersten protestiert, gegen das, von dem er weiß, dass es offenkundig ein Fehler, eine Lüge, eine Heuchelei ist, die aus Schwäche akzeptiert wird, weil der gelassene Wille fehlt.« Vgl. denselben Artikel für weitere traditionalistische und entelechetische Schaffierungen der Anarchie. 609  |  Pilori, »Ennemis et innocents«, L’Avenir, 10.12.1893, Jg. 1, Nr. 5, S. 1-2. Dt.Ü.: »Seitdem die Propaganda der Tat für die führende Klasse ein wirklich beunruhigendes Ausmaß angenommen hat, seitdem allerorts Taten, die in den meisten Fällen aus Einzelinitiativen hervorgehen, beobachtet werden, plärren die Bourgeois mithilfe ihrer Presseorgane ohne Unterlass, dass die Anarchisten Räuber seien, das internationale Repressionsmaßnahmen nötig seien [...]. Kurz gesagt, der große Polizeischwindel von Berlin bis Orléans hat das Muffensausen, das sie ergriffen hat, auf die Spitze getrieben und schreit lauter als je, dass die Gesellschaft in Gefahr und entschlossene Maßnahmen nötig seien.« Die omnipräsente Anarchistenangst wurde auch humoristisch verhandelt, bspw. im fiktiven Dialog »Au commissariat« von Pierre Wolff. Im Gespräch zwischen einem armen Jungen, der Schuhe für seine Schwester stahl und dabei erwischt wurde und einem Kommissar führte ein Missverständnis über »une bombe« zu großer Aufregung und hysterischem Aktionismus seitens des Kommissars – bis das Missverständnis aufgelöst wurde und sich ergab, dass mit ›la bombe‹ nichts Explosives, sondern ein Glacé gemeint war. Vgl. Wolff, Pierre, »Au commissariat«, L’Avenir, 11.2.1894, Jg. 1, Nr. 9, S. 4. 610  |  Pilori, »Ennemis et innocents«, L’Avenir, 10.12.1893, Jg. 1, Nr. 5, S. 2. Dt.Ü.: »Dieses Vorspiel zum Krieg zwischen zwei Klassen, von denen eine früher oder später kapitulieren muss, bringt uns schon jetzt eine wichtige Einsicht, die weit davon entfernt ist, uns den Mut zu nehmen, ganz im Gegenteil.«

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hang ist auch auf die Nicht-Distanzierung von der Propaganda der Tat als Methode für die Veränderung der Gesellschaft hinzuweisen, da sie ein Vorgehen sei, das von der Arbeiterschaft getragen werde, mit der sich die Gemeinschaft identifizierte.611 Die Rechtfertigung der Anwendung außergewöhnlicher Mittel in außergewöhnlichen Zeiten beendete die L’Avenir in nationalistisch-rekuperativen traditionalistischem Rückgriff mit einer Parallele zur Geschichte Tells. Willhelm Tell wird dabei im Beitrag nicht nur als Chiffre zur Komparation beigezogen, er wird expressis verbis zum »anarchiste d’alors«612 geschrieben.613 Wenn auch in der Regel keine direkten Dithyramben zu finden sind614 in den Spalten der L’Avenir, so erschienen immer wieder Beiträge, welche die Propaganda der Tat als politischen Akt der Verzweiflung inszenierten. Stellvertretend soll dafür der Artikel »La civilisation« zitiert sein, der versuchte das anarchistische Attentat als Element der Propaganda der Tat vom Stigma des terroristischen Aktes zu befreien und es als letztmögliche Überlebenschance des Proletariats zu portieren615: »Et à ceux qui condamnent les attentats dirigés contre l’Autorité ou la propriété nous demandons s’ils sont bien sûrs que devant l’insatiable cupidité des riches on ne les forcera pas à dérober le morceau de pain sans lequel il faudrait mourir?«616 Dass die durchwegs politisch argumentierende Erklärung des französischen anarchistischen Attentäters617 611  |  »Dans nos rapports journaliers avec les ouvriers, nous constatons que la masse est imprégnée d’un courant indiscutablement sympathique aux ›actes‹, aux ›éxecutions sommaires‹.« (Ebd., S. 2) Dt.Ü.: »In unseren täglichen Kontakten mit den Arbeitern, fällt uns auf, dass die Mehrheit unbestreitbar von Sympathie gegenüber den ›Taten‹, den ›standrechtlichen Hinrichtungen‹ erfüllt ist.« Im Folgenden wurde die Methode – mit Kriegsrhetorik – erklärt, wenn auch nicht bedingungslos dazu aufgerufen wurde. Eine mehr als nur passive Sympathie ist aber nicht nur zwischen den Zeilen auszumachen. Vgl. ebd., S. 2. 612  |  Ebd., S. 2. 613  |  Gerade Mitte Dezember 1893 dürfte diese Gleichsetzung aber nicht viel zur Aufbesserung der Fremdwahrnehmung des Anarchismus beigetragen haben, fand das jüngste anarchistische Attentat in Barcelona doch nach einer Uraufführung von Schillers ›Willhelm Tell‹ statt. Beim Anschlag vom 8.11.1893 waren rund 15 Todesopfer im Teatro Lyceo in Barcelona zu beklagen – »grosses nuques«, also ›reiche Säcke‹ wie die L’Avenir emotionalisierend festhielt: »Une bombe est venue leur rappeler que lors-que le peuple a faim, on ne l’insulte pas avec des soirées de gala, où le velours et la soie seuls étaient admis.« (Ebd., S. 2) Dt.Ü.: »Ein Sprengsatz hat sie daran erinnert, dass man das Volk, wenn es Hunger hat, nicht mit GalaAbenden beleidigt, an denen nur Samt und Seide zugelassen waren.« 614  |  Ausnahme bleibt der oben zitierte Beitrag Percutant, »Sacrifice«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 3-4. 615  |  Vgl. ausführlicher zum problematischen Verhältnis von Propaganda der Tat und Terrorismus im ausgehenden 19. Jahrhundert allg. Badier, Émile Henry. 616 | »La civilisation«, L’Avenir, 8.4.1894, Jg. 1, Nr. 12, S. 2-3. Dt.Ü.: »Und wir fragen diejenigen, die die Anschläge gegen die Autorität oder das Eigentum verurteilen, ob sie sich wirklich sicher sind, dass die unersättliche Habgier der Reichen sie nicht dazu zwingen wird, das Stück Brot zu stehlen, ohne das sie sterben müssen?« 617  |  Im Gegensatz zu männlichen anarchistischen Attentätern ist zu Attentäterinnen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nur sehr wenig bekannt und es handelt sich also um eine weitere schließenswerte Lücke der Anarchismusforschung. Archibalds Biografie von Maria Nikiforova und Schmiedings Rundschau über russische Revolutionärinnen

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Émile Henry als Titelgeschichte auf drei Seiten abgedruckt wurde, schlägt in dieselbe Kerbe.618 Neben diesen und anderen Einzelnennungen finden sich auch verschränkte Kaskaden identitätskonstituierender Elemente. Beispielhaft kamen Fremdwahrnehmung, Framing-Prozesse, Selbstpositionierung und die Vermittlung von Hypergütern der Gemeinschaft im Beitrag »Lettre ouverte à M. le professeur Schiff«619 zusammen. Rhetorisch fragte die L’Avenir: »[E]st-il admissible qu’un savant qui se proclame socialiste et ›ami du peuple‹ puisse jeter des accusations gratuites à une fraction de ce même peuple? car [sic] il ne peut ignorer que l’Anarchie, si justement malmenée par lui, est un véritable mouvement populaire, et que ce ne sont pas des ›illuminées‹ qui ont provoqué le soulèvement de Xérès 620 , par exemple.« 621

Nach einer Demarkation gegenüber der Sozialdemokratie folgte die Verwerfung der zugeschriebenen Identität als Erleuchtete, der eine Verwurzelung der Gemeinschaft in der Arbeiterbewegung entgegengesetzt wurde. Die kollektive Identität sollte damit gerade nicht den Anstrich einer Avantgarde erhalten, sondern den einer breiten Massenbewegung. Auf den Standpunkt der unikalen, wahren Bewegung stellte sich die Gemeinschaft nichtsdestotrotz: »L’Anarchie, c’est le vrai socialisme, non mitigé et falsifié par les intrigues et la corruption électorales [...].«622 Im Rahmen der Abgrenzung von der Sozialdemokratie wurden schließlich Hypergüter der Gemeinschaft vermittelt. Ökonomische Ideale wie Kollektivbesitz und Sozialisierung der Produktionsmittel wurden dabei genannt, ebenso Methoden wie Revolten und andere, nicht legale Aktionen der Gegengewalt.623

4.4.5.2 Zusammenfassung Die in Genf operierende Zeitung L’Avenir bediente sich eines breiten Reigens an Konstruktionen zur Gestaltung und Reproduktion kollektiver Identität. Insbesondere Framing-Prozesse sind es, die durch ihre Häufigkeit als von großer identides 19. Jahrhunderts stellen die regelbestätigenden Ausnahmen dar. Vgl. Archibald, Atamansha, und Schmieding, Aufstand der Töchter. 618  |  »Déclaration de Émile Henry«, L’Avenir, 13.5.1894, Jg. 1, Nr. 14, S. 1-3. Vgl. für die beiden Attentate Henrys in den Jahren 1892 und 1894 Badier, Émile Henry. Badier vertritt die These, dass Henrys Attentate den Übergang von der Propaganda der Tat zum anarchistischen Terrorismus markierten. Er begründet seine These damit, dass Henry bei seinen Aktionen auch zivile Opfer in Kauf nahm. 619  |  »Lettre ouverte à M. le professeur Schiff«, L’Avenir, 14.1.1893, Jg. 1, Nr. 7, S. 1-2. 620  |  Gemeint ist der Bauernaufstand im Umland der spanischen Stadt Jerez de la Frontera 1892. 621  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Ist es annehmbar, dass ein Gelehrter, der sich Sozialist und ›Freund des Volkes‹ nennt, unbegründete Anschuldigungen gegen eine Fraktion ebendieses Volkes erheben kann? Denn ihm muss wohl bekannt sein, das ebendiese Anarchie, die er so schlecht macht, eine wahre Volksbewegung ist, und das es keine ›Erleuchteten‹ sind, die zum Beispiel den Aufstand von Jerez provoziert haben.« 622  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Die Anarchie ist der wahre Sozialismus, nicht verdünnt und nicht verfälscht durch Wahl-Intrigen und Korruption.« 623  |  Ebd., S. 1-2.

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tätskonstruierender Relevanz erscheinen. Auch in der Vermittlung positiver und negativer Hypergüter, in der Fremdwahrnehmung und in der Thematisierung anarchistischer Ereignisse sind Momente und Elemente zu erkennen, die an der Konstruktion der kollektiven Identität der anarchistischen Gemeinschaft rund um die L’Avenir aktiv mitarbeiteten. Sowohl die Fremdwahrnehmung als auch anarchistische Ereignisse boten dabei Hilfestellungen, welche die Vermittlung von Hypergütern oder die Demarkation des kollektiven Selbst gegenüber dem Selbst der ›anderen‹ einleiteten und damit ermöglichten. Das Hypergut der Methode spielte eine wichtige Rolle in der L’Avenir, die zu Beginn der 1890er Jahre erschien. Ohne sich in Dithyramben zu ergehen, wurde die Propaganda der Tat für die Zeitung ganz klar als ein zuweilen probates politisches Mittel zum Zweck hochgehalten. Die Gemeinschaft, an die sich die L’Avenir adressierte und die sie umgekehrt auch konstituierte, lässt sich als anarcho-kommunistisch einordnen. In der Selbstbezeichnung findet sich indes lediglich der Begriff ›anarchistisch‹. Für die L’Avenir standen ArbeiterInnen und proletarische Lebenswelten thematisch im Zentrum. Allerdings war dieser Fokus kein ausschließender. Mehrfach sind Bezeugungen einer grundsätzlich universalistischen Ausrichtung zu finden. Lediglich eine rückwärtsgewandte Utopie ermöglichte die Skizze einer Gesellschaft mit positiven Akzenten: Föderativ-assoziative und kommunale Ansätze sowie Solidarität und gegenseitige Hilfe zeigen sich hierbei als produktiv. Ansonsten war die Gemeinschaft durch ihre negative Abgrenzung zu Autoritäten, Parlamentarismus, Zinswirtschaft, kirchlichen Institutionen und Militär bestimmt. Der Wille zur Zerstörung dieser Bedingungen des Status quo charakterisierte die Gemeinschaft weitaus am profiliertesten, die mit dem prinzipiellen Bekenntnis zur Propaganda der Tat als Aktionsmittel die Aufmerksamkeit der Staatsobrigkeit auf sicher gehabt haben dürfte. Inhaltliche Friktionen oder Fraktionen, die auf Grundsatzdebatten innerhalb der Gemeinschaft rund um die L’Avenir schließen ließen, sind keine auszumachen. Durch die kurze Lebensdauer von nur 17 Nummern wohl mitbedingt sind analog zur grundsätzlichen programmatischen Einigkeit in diachroner Betrachtung keine Mutationen der Konzeption der kollektiven Identität zu erkennen. Bemerkenswert häufig sind Beiträge von identitätskonstituierender Relevanz im Rahmen von Berichterstattungen über anarchistische Ereignisse vorzufinden. Am umfangreichsten kommen Konstruktionen und Reproduktionen von Aspekten kollektiver Identität in Artikeln zu anarchistischen Attentätern vor. Aber auch Streiks, Gerichtsfälle oder andere Repressalien stellten beliebte Anhaltspunkte dar, um die herum kollektive Identität konstituiert wurde. Ein spezifisches Ereignis oder eine bestimmte Periode zu isolieren, in der die Identitätskonstruktion besonders prävalent war, lässt die Quelle nicht zu, die in ihrer Gesamtheit sehr ergiebig ist.

4.4.5.3 Bibliografische Details (1) L’Avenir: Organe ouvrier indépendant de la Suisse romande; (3) zeichnende AutorInnen sind Victor Barrucand, Elémir Bourges, Walter Crane, Louis Duchosal, Joris, C.V. Laval, Maurice Montegut, Jean Richepin, J.H. Rosny, Herbert Spencer, Maurice Talmery und Claude Tillier; Rue du Cendrier 17, Genf (Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 1, Nr. 10), Rue du Cendrier 5; (4) Genf; (5) 8.10.1893-30.7.1894; 14-täglich; 4 Seiten; (9) Bibliothèque de Genève, Genf, E 823 (Jg. 1, Nr. 17 fehlt); (10) Gedruckt wurde die L’Avenir zunächst von der Imprimerie Koch et Cie. (Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 1, Nr. 5), schließlich von der Imprimerie de la Rive droite. Ab Jg. 1, Nr. 14 werden Leitartikel

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typografisch im Kopf des Blattes hervorgehoben. Rubriken waren bei der L’Avenir wechselnder Natur. Findet sich in der einen Ausgabe die Rubrik »Suisse«, wo Neuigkeiten aus der anarchistischen Bewegung der Schweiz vermittelt wurden, so fehlte diese bei der nächsten Nummer respektive wurde sie ersetzt durch eine andere (»Mouvement Social«). Regelmäßig zu finden sind die Rubriken »Glanes / Glane« und »Bibliographie«. Vielfach sind diese kleinen Nachrichten von großem Wert für die Anarchismusforschung, da sie über andere anarchistische Blätter berichteten oder – bedingt – Einblick in die Finanzierung eines Blattes gestatten. Die Rubrik »Feuilleton«, bei denen grundsätzliche Fragen theoretisch diskutiert wurden, war ebenfalls nicht durchgehend Bestandteil der Zeitung. Neben längeren Artikeln und Kurzmeldungen finden sich gelegentlich auch Gedichte und Liedertexte in der L’Avenir. Gewisse Artikel sind Zweitabdrucke aus anderen anarchistischen Zeitungen. Der Hinweis im Titel von Ausgabe Jg. 1, Nr. 4 vom 26.11.1893, dass Abonnements auch in Briefmarken bezahlt werden könnten, deutet darauf hin, dass die L’Avenir eine Non-Profit Zeitung war und mit den Einnahmen vermutlich die Ausgaben zu decken versuchte.624

4.4.6 Le Réveil Abbildung 17: Le Réveil, 9.5.1903, Jg. 4, Nr. 75. (SozArch Zürich, Z 41)

624 | Vgl. L’Avenir, 26.11.1893, Jg. 1, Nr. 4, S. 1.

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4.4.6.1 Relevante Er wähnungen Im Artikel »Organisons-nous«625 vermittelte der Le Réveil die Hypergüter kollektiven Wohlergehens und die Freiheit als nichts weniger als seine Existenzgrundlage: »Nous croyons à L’Éfficacité de l’action humaine; nous pensons qu’on peut substituer à la misère et à l’oppression du plus grand nombre le bien-être et la liberté pour tous. C’est là notre raison d’être.«626 Ebenfalls von großem identitätskonstituierenden Wert waren die Hypergüter der Aufgabe der Gemeinschaft: »C’est à nous de les [gemeint sind die ouvriers, d.V.] fréquenter, c’est à nous de porter la parole de propagande dans leurs milieux [...]. Il s’agit de porter cette propagande dans des milieux adaptés de faire sentir son action sans cesse pour paralyser l’influence des milles préjugés que l’etat et l’eglise entretiennent si habilement dans les cervelles humaines [...] Nous devons éclairer l’opinion publique, organiser la lutte contre ces puissances de malheur 627, rendre L’Émancipation des travailleurs un fait possible pour l’organisation et l’action directe du peuple.« 628

Zur Lösung des Etappenziels der Bekämpfung von Staat und Kirche wurde die Methode der Aufklärung namentlich der ArbeiterInnen erklärt. Interessant ist, dass dabei von ›leurs millieux‹ gesprochen wurde, was eine gedachte Separation zwischen AufklärerInnen und Aufzuklärenden markierte. Die kollektive Identität wurde so implizit durch eine Selbstwahrnehmung als Avantgarde akzentuiert.629 Die Vermittlung von Hypergütern wurde laufend erweitert und reinforciert, wodurch die kollektive Identität der Gemeinschaft, die sich um den und im Le Réveil sammelte, à jour gehalten wurde. Einer Zusammenstellung glich der Beitrag »Organisons-nous«: 625 | Quiconque, »Organisons-nous«, Le Réveil, 21.7.1900, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. 626  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wir glauben an die Effizienz des menschlichen Handelns, wir denken, dass man das Elend und die Unterdrückung der meisten durch das Wohlergehen und die Freiheit aller ersetzen kann. Das ist unsere Raison d’Être.« 627  |  Dazu gehörten, wie vorgängig aufgezählt wurde, Bürokratie, Militarismus, Repression und Zentralisierung, die allesamt als Bedrohungen der Freiheit verstanden und vermittelt wurden. Vgl. ebd., S. 1. 628  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Es liegt an uns, ihnen zu begegnen, es liegt an uns, die Sprache der Propaganda in ihre Mitte zu tragen [...]. Wir müssen diese Propaganda in die Milieus tragen, die ihre Wirkung ohne Unterlass weitertragen können, um den Einfluss der tausend Vorurteile zu lähmen, die der Staat und die Kirche so geschickt in den menschlichen Hirnen aufrechterhalten [...] Wir müssen die Öffentlichkeit aufklären, den Kampf gegen diese unglückbringenden Mächte organisieren, die Emanzipation der Arbeiter zu einer Tatsache für die Organisation und die direkte Aktion des Volkes machen!« 629  |  Dieser qualitative Unterschied, der die kollektive Identität in eine avantgardistische Position hob, kehrte zwar nur vereinzelt wieder, dies aber über eine lange Zeit verteilt. Vgl. G.H., »Nos futurs maîtres«, Le Réveil, 31.8.1902, Jg. 3, Nr. 57, S. 1. Nicht selten sind es theoretische Beiträge, die dicht an identitätskonstituierendem Inhalt sind, in denen von ›travailleurs‹ in der dritten Person Plural zu lesen ist. Vgl. bspw. die Artikelserie Deux collaborateurs, »Essais sur la pratique anarchiste«, Le Réveil, 23.1.1909, Jg. 9, Nr. 247, S. 1 (Teil I) - Deux collaborateurs, »Essais sur la pratique anarchiste«, Le Réveil, 19.2.1909, Jg. 9, Nr. 249, S. 1-2 (Teil III), bes. S. 1.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse »Nous voulons l’Abolition de la propriété individuelle pour la socialisation des moyens de production; l’Abolition de l’etat pour la liberté de tous les hommes [...] Nous voulons L’Éducation, l’organisation économique, l’action directe du peuple contre l’ignorance, l’exploitation, l’Autorité; de bas en haut, que la société s‹élève contre l’etat. Nous devons prôner ces idées; nous pourrons exercer cette action [...].« 630

Andernorts wurde als oberstes Ziel die Anarchie vermittelt, die zudem deterministisch als »fatalité de l’histoire«631 portiert wurde: »Le but ultérieur que poursuit la révolution, c’est l’Anéantissement de tout pouvoir; c’est [...] L’Élimination de la politique par L’Économie sociale, de l’organisation gouvernementale par l’organisation industrielle, c’est l’Anarchie. Anarchie, rêve des amants de la liberté intégrale, idole des vrais révolutionnaires!« 632

Um diesem Ziel rascher näher zu kommen, wurden verschiedene Methoden der Direkten Aktion propagiert und als Hypergüter vermittelt. In den ersten paar Jahrgängen war der Generalstreik im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Unterschied zu branchengebundenen Streiks (›grève partielle‹) wurde der Generalstreik als sozialer Akt im gesamtgesellschaftlichen Sinn gedacht und angestrebt. Nicht die Verbesserung der Situation von Individuen, sondern die Verbesserung der Situation aller sollte so herbeigeführt werden.633 Ameliorationen wurden als negative Hypergüter 630 | Quiconque, »Organisons-nous«, Le Réveil, 21.7.1900, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. Dt.Ü.: »Wir fordern die Abschaffung des individuellen Eigentums, zur Vergemeinschaftung der Produktionsmittel; die Abschaffung des Staates, zur Befreiung aller Menschen [...] Wir fordern Bildung, wirtschaftliche Organisation, direkte Aktionen des Volkes, anstelle von Unwissen, Ausbeutung, Autorität; von unten nach oben, die Gesellschaft muss sich gegen den Staat erheben. Wir müssen diese Ideen preisen; wir werden diese Aktionen ausführen [...].« Der AntiEtatismus ist eines der zentralen Hypergüter des Le Réveil und findet sich mit unterschiedlichen Aufhängern über die gesamte betrachtete Erscheinungsdauer hinweg. In Ablehnung von gewerkschaftlich mit Arbeitgebern und Staat angesteuerten Gesamtarbeitsverträgen oder einer Arbeitslosenkasse lautete die radikale, kausalistische Losung: »[P]as de contrats entre volés et voleurs!« (L.B., »Le contrat entre volés et voleurs«, Le Réveil, 3.9.1910, Jg. 10, Nr. 288, S. 1-2). Dt.Ü.: »[K]eine Übereinkunft zwischen Bestohlenen und Dieben!« 631  |  De Paepe, C., »Anarchie«, Le Réveil, 29.9.1900, Jg. 1, Nr. 7, S. 1. 632 |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Das weitere Ziel, das die Revolution verfolgt, ist die Vernichtung jeglicher Macht; [...] die Beseitigung der Politik durch die Sozialwirtschaft, der Regierungsorganisation durch die Industrieorganisation, es ist die Anarchie. Anarchie, Traum derer, die die vollkommene Freiheit lieben, Ideal der wahren Revolutionäre!« 633  |  Vgl. Dubois, Octave, »La grève«, Le Réveil, 18.8.1900, Jg. 1, Nr. 4, S. 1-2. Vgl. auch den Aufruf zur konsequenten Brechung unliebsamer Gesetze, deren etwaige Ahndung mit dem Generalstreik quittiert werden sollten in L.B., »Violons la loi!«, Le Réveil, 30.3.1901, Jg. 2, Nr. 1, S. 1-2: »Oui, prouvons par le fait, en la violant, que la nouvelle loi est insupportable, tellement elle est mauvaise. Qu’un syndicat donne l’exemple, et si nos autorités osent sévir, répondons par une grève générale de tous les syndicats, de toutes les corporations, de tous les ouvriers. Voilà la voie à suivre.« Dt.Ü.: »Ja, lasst uns durch Taten beweisen, indem wir dieses neue Gesetz brechen, dass es unannehmbar ist, so schlecht ist es. Eine Gewerkschaft soll als Vorbild dienen, und wenn die Behörden es wagen sollten, zu strafen, lasst uns

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vermittelt,634 ebenso wie Autorität und Bürokratie als negative Identitätsformanten portiert wurden. Andere propagierte Formen der Direkten Aktion auf dem Weg zur Anarchie seien Sabotage635 oder Boykott, wobei Letzterer in der Regel lediglich in knappster Weise empfohlen wurde.636 Antimilitarismus stellte ein identitätskonstitutiv wirkungsmächtiges Mosaikstück der kollektiven Identität im Le Réveil dar. Nicht selten wurde er mit der Vermittlung der negativen Hypergüter Patriotismus und Nationalismus verknüpft 637. Konklusiv wurde nach einer Aufzählung von Argumenten gegen das Militär festgehalten: »Ce qu’il importe [...] c’est d’opposer des faits précis à ceux qui voient dans les armées l’honneur de la nation et dans le patriotisme le premier des sentiments élevés.«638 Und noch unmissverständlicher die Schlussfolgerung im unmittelbar folgenden Beitrag: »Le militarisme n’est pas à réformer, mais à supprimer.«639 Nach einer ersten Blüte in der Mitte der 1900er Jahre, erlebten die Hypergüter Antimilitarismus und Antipatriotismus ab Ende 1912 einen zweiten mit einem Generalstreik aller Gewerkschaften, aller Korporationen, aller Arbeiter antworten. Dies ist der Weg, den wir nehmen müssen.« 634  |  Vgl. bspw. Dubois, Octave, »La grève«, Le Réveil, 18.8.1900, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 635  |  Vgl. bspw. L.B., »Le sabottage [sic]«, Le Réveil, 11.11.1905, Jg. 6, Nr. 148, S. 1. 636 | Vgl. Aufrufe ohne Titel zum Boykott der Tabakfirma Vautier Frères (Le Réveil, 27.7.1907, Jg. 8, Nr. 208, S. 2), oder gegen die Tribune de Genève (Le Réveil, 19.6.1909, Jg. 9, Nr. 27, S. 4). Beide in der Arbeiterbewegung breit unterstützten Boykotte wurden mit erheblichem Verzug in einer Paraphrase des FUOSR Kongresses vom 25.7.1909 ausführlicher erläutert. Vgl. für die Vautier Fabrik »Congrès ouvrier romand«, Le Réveil, 31.7.1909, Jg. 9, Nr. 260, S. 2, für den Boykott der Tribune de Genève L.B., »Le Boycott de la ›Tribune‹«, Le Réveil, 18.12.1909, Jg. 9, Nr. 270, S. 2. 637 | Patriotismus und Nationalismus wurden durchaus auch als eigenständige negative Hypergüter vermittelt. Im Artikel »L’Agonie du patriotisme« wurde er durch die Gleichsetzung mit der Religion zusammen mit dieser als Nicht-Ziel propagiert. »L’idée de Dieu, ›grâce à l’instruction obligatoire largement repandue‹, s’est transformée pour les laïques en l’idée de Patrie; le christianisme a fait place du patriotisme; la science ayant démoli l’un, ces messieurs de l’officiel ont découvert l’Autre.« (Bornand, H., »L’Agonie du patriotisme«, Le Réveil, 27.10.1900, Jg. 1, Nr. 9, S. 1) Dt.Ü.: »Die ›dank der Zwangsbildung weit verbreitete‹ Gottesidee hat sich für die weltliche Bewegung in die Vaterlandsidee verwandelt, das Christentum macht dem Patriotismus Platz, da die Wissenschaft das eine niedergerissen hat, haben die offiziellen Herren den anderen entdeckt.« 638  |  Arié, Paul, »Petite enquête«, Le Réveil, 21.7.1900, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »Es geht darum [...] denen, die in der Armee die Ehre der Nation und im Patriotismus das höchste der Gefühle sehen, genaue Tatsachen entgegenzustellen.« 639 | »Armée... démocratique«, Le Réveil, 21.7.1900, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »Der Militarismus muss nicht reformiert sondern abgeschafft werden.« Ähnlich auf den Punkt gebracht hieß es im Artikel »Pour le désarmement«: »Contre l’Armée, cette école du meurtre et de l’Avachissement, ce soutien de l’exploitation bourgeoise, la lutte doit être continuelle.« (Qui que ce soit, »Pour le désarmement«, Le Réveil, 13.10.1900, Jg. 1, Nr. 8, S. 1). Dt.Ü.: »Der Kampf gegen die Armee, diese Schule in der Mord und Teilnahmslosigkeit gelehrt werden, diese Stütze der Ausbeutung durch die Bourgeoisie, muss ununterbrochen stattfinden.« Vermehrt vermittelt wurde der Antimilitarismus darüber hinaus in Verknüpfung mit dem negativen Hypergut Repression. Rund um die vom Bundesrat angestoßene versuchte Einführung des sogenannten ›Maulkrattengesetzes‹, das antimilitaristische Propaganda unter Strafe stellen sollte, erschienen mehrere solcher amalgamierenden Artikel. Vgl. stellvertretend G.H., »Un article en plus«,

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Frühling, was mit dem forschen nationalistischen Diskurs vor dem Ersten Weltkrieg zu erklären ist. In Verbindung mit dem negativen Hypergut Krieg wurden diese beiden virulenten Hypergüter mit sozialer Energie aufgefrischt und damit auch wieder wichtiger für die verhandelte kollektive Identität: »Non cent fois non! La guerre ne développe pas la civilisation, ni la culture, ni la liberté. La mort du peuple n’est pas cela. C’est le triomphe du travailleur – par la disparition de tous les capitalistes et de leurs soutiens religieux et militaires – qui constituera l’êre de civilisation, de culture et de liberté [...]. [L]a politique comme la diplomatie nous trahit. Ne comptons que sur nous-même. Aujourd’hui, comme hier, comme demain: Guerre à la guerre!« 640

Ebenfalls als tragende Elemente zu erkennen sind Antiparlamentarismus und Abstentionismus. Verschachtelt und häufig in Verbindung mit einem Framing-Prozess gegenüber der Sozialdemokratie wurden diese beiden Hypergüter in zahlreichen Beiträgen vermittelt. So auch in »La Paille et la Poutre«: »On sait que nous avons toujours combattu la social-démocratie [...]. La masse ouvrière viendra à nous lorsqu’elle aura compris que la solution de la question sociale ne peut pas se faire avec des bulletins de vote, quand elle se sera persuadée qu’élire de nouveaux maîtres, fussent-ils rouges, c’est perpetuer sa dépendance, lorsqu’elle se convaincra que seule la li-

Le Réveil, 21.6.1902, Jg. 3, Nr. 52, S. 1. Die anti-antimilitaristische Ergänzung des Strafgesetzes scheiterte an einem SP Referendum 1903. Vgl. Degen, Antimilitarismus. 640 | »A propos de la guerre«, Le Réveil, 28.11.1912, Jg. 13, Nr. 346, S. 1. Dt.Ü.: »Nein, hundert Mal nein! Der Krieg entwickelt weder Zivilisation, noch Kultur, noch Freiheit. Dazu dient der Tod des Volkes nicht. Es ist der Triumph des Arbeiters – mit der Auslöschung aller Kapitalisten und ihren religiösen und militärischen Unterstützern – der das Zeitalter der Zivilisation, der Kultur und der Freiheit erschaffen wird [...]. Politik und Diplomatie verraten uns. Wir könne nur auf uns selbst zählen. Heute, gestern, und morgen: Krieg dem Kriege!« Das Thema verschaffte der anarchistischen Bewegung, die ab 1912 in der Antikriegsbewegung agitierte, einen Popularitätsschub, wie sie selbst festhielt. Vgl. mit der obligaten Vorsicht »Manifestation contre la guerre«, Le Réveil, 28.11.1912, Jg. 13, Nr. 346, S. 3. 1913 und 1914 folgten etliche weitere Beiträge rund um die verquickte Kriegs-, Patriotismus- und Militarismusthematik. Vgl. stellvertretend als konzisestes Amalgam »Au Prolétariat international: Manifeste anarchiste«, Le Réveil, 14.11.1914, Jg. 15, Nr. 397, S. 1-2 (Teil I) resp. »Au Prolétariat international: Manifeste anarchiste«, Le Réveil, 28.11.1914, Jg. 15, Nr. 398, S. 2-3 (Teil II). Fragen rund um den Krieg führten auch zu Bruchlinien in der anarchistischen Bewegung, wie die fast schon allergischen Reaktionen auf Äußerungen zum Krieg von anarchistischen Theoretikern zeigen. Vgl. stellvertretend die Kolportation von Errico Malatestas Richtigstellung, für niemanden Partei zu ergreifen, in: »Notes en marge: L’opinion de Malatesta«, Le Réveil, 31.10.1914, Jg. 15, Nr. 396, S. 2. Vgl. aber auch Kropotkine, Pierre, »A propos de la cause de la guerre«, Le Réveil, 12.12.1914, Jg. 15, Nr. 399, S. 2, der zwar ebenfalls gegen koloniales Einmarschieren protestierte. Kropotkin bezeichnete es aber auch als Absurdität zu behaupten, dass bürgerliche Flaggen und Staatsansprüche beliebig substituierbar seien und das Leben »sous le joug étranger« eben doch ein anderes Leben sei.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen bre-entente peut-être le fondement d’une vraie société. Ce jour là, le socialisme deviendra anarchiste.« 641

Noch deutlicher punkto Abstentionismus wurde die Redaktion in einem unbetitelten Aufruf: »Travailleurs, éloignez-vous des urnes, cet emblème ridicule de la prétendue souverainité populaire. La classe possédante a besoin de votre appui et elle compte pour l’obtenir sur votre passivité coutumière. Refusez-lui cette suprème satisfaction. Votre refus sera le premier pas vers votre émancipation totale.« 642

Auch feministische Ziele und Anliegen wurden als Hypergüter der Gemeinschaft vermittelt. Der Kampf um Frauenemanzipation wird dabei als dem anarchistischen Kampf um die integrale Emanzipation wesensgleich verstanden, in die gemeinschaftseigene Sinndeutung integriert und propagiert: »Avec L’Émancipation de la femme, ce sera la fin des parasites, des opprimés; élevées dans des millieux qui respècteront leur liberté, nos sœurs, nos filles, nos femmes ne voudront pas que leurs enfants retombent dans la servitude materielle et intellectuelle des siècles passés, et c’est toute une génération d’ardents ouvriers de la révolution qu’elles prépareront.« 643 641 | B.T., La Paille et la Poutre«, Le Réveil, 13.10.1900, Jg. 1, Nr. 8, S. 1. Dt.Ü.: »Es ist bekannt, dass wir die Sozialdemokratie immer bekämpft haben [...]. Die Arbeiterschaft wird sich uns anschließen, sobald sie erkennt, dass die Lösung der Sozialen Frage nicht durch Wahlzettel gefunden werden kann, sobald sie die Überzeugung gewinnt, dass neue Meister zu wählen, auch wenn es Rote sind, nur die Abhängigkeit aufrechterhält, sobald sie sich davon überzeugt, dass die wahre Gesellschaft nur auf der freien Übereinkunft begründet werden kann. Dann wird der Sozialismus anarchistisch sein.« 642 | Groupe du Réveil socialiste-anarchiste, Le Réveil, 9.11.1901, Jg. 2, Nr. 23, S. 1. Dt.Ü.: »Arbeiter, haltet euch von den Wahlurnen fern, diesem lachhaften Symbol für die vorgegebene Volkssouveränität. Die besitzende Klasse braucht eure Unterstützung und dafür verlässt sie sich auf eure übliche Passivität. Verweigert ihr diese höchste Befriedigung. Eure Verweigerung ist der erste Schritt zur vollständigen Emanzipation.« Vgl. für die wiederkehrenden Aufrufe zum Abstentionismus bei Wahlterminen stellvertretend »Travailleurs, ne votons plus!«, Le Réveil, 21.10.1911, Jg. 10, Nr. 317, S. 1. 643  |  J.W., »Sur la femme«, Le Réveil, 21.6.1902, Jg. 3, Nr. 52, S. 2. Dt.Ü.: »Die Emanzipation der Frau bedeutet keine Parasiten, keine Unterdrückten mehr; wenn sie in einem Umfeld aufwachsen, das ihre Freiheit respektiert, werden unsere Schwestern, Töchter und Frauen nicht mehr wollen, dass ihre Kinder wieder in die materielle und intellektuelle Knechtschaft der vergangenen Jahrhunderte zurückkehren, und sie werden uns eine ganze Generation Arbeiter bereiten, die für die Revolution brennen.« Vgl. dazu auch – verbunden mit einer Familienkritik – Merlino, Xavier, »Pourquoi nous sommes anarchistes: III. La Famille«, 10.9.1904, Jg. 5, Nr. 109, S. 2. Nicht jedes Hypergut der sich regenden feministischen Bewegung der Zeit wurde bedingungslos und unkritisch unterstützt. So wurde die feministische Forderung nach Lohngleichheit von männlichen und weiblichen ArbeiterInnen als überflüssig gewertet. In der kollektiven Sinndeutung stellte sie eine Amelioration dar, anstatt sich den Wurzeln des Problems anzunehmen – der Ausbeutung der menschlichen Arbeit als Kommodität: »Si le système d’exploitation du travail humain demeure ce qu’il est actuellement, un moyen de

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Ein weiteres geradezu klassisches anarchistisches Hypergut stellte die Bildung dar. Insbesondere im Zusammenhang mit dem anarchistischen Schulprojekt, das in Lausanne um 1905 seinen Anlauf als Sonntagsschule nahm und schließlich in Gründung und Betrieb der ›École Ferrer‹ mündete, wurde sie als zentraler Baustein für eine neue Gesellschaft angesehen.644 Im Zusammenhang mit staatlicher Bildung wird genau diese Funktion getadelt und als negatives Hypergut verhandelt.645 Obschon der Le Réveil – vor allem in den frühen Jahrgängen – Arbeit, ArbeiterInnen und Arbeitskämpfe fokussierte, lässt sich keine exklusive Klassenpolitik erkennen. Stattdessen sprach sich die Gemeinschaft des Le Réveil für den an sich anarchismustypischen Universalismus aus: »Anarchistes convaincus, nos amis n’eussent pas traîné longtemps après eux cette inconséquence de la division des individus. Partisans de la suppression des classes, ils se fussent gardés de laisser debout la suprématie d’une classe sur une autre.«646 In identitätskonstitutiv dichten Beiträgen647 concurrence dans la lutte industrielle et commerciale, la formule ›à travail égal, salaire égal‹ demeurera vaine.« (G.H., »A travail égal, salaire égal«, Le Réveil, Jg. 6, Nr. 160, S. 2) Dt.Ü.: »Wenn das Wirtschaftssystem der menschlichen Arbeit das bleibt was es zur Zeit ist, nämlich ein Wettbewerbsmittel im Kampf von Industrie und Handel, dann wird die Forderung ›gleiche Arbeit, gleicher Lohn‹ erfolglos bleiben.« 644 | Vgl. J.W.-M., »Une école libre«, 25.2.1905, Jg. 6, Nr. 121, S. 1-2, und ausgedehnter J.W.-M., »L’École libre de Lausanne«, Le Réveil, 27.5.1905, Jg. 6, Nr. 127, S. 2. Damit brach die Gemeinschaft in gewissem Sinne mit ihren eigenen anarcho-kommunistischen Idealen, erst nach der Revolution mit Projekten zu beginnen, da diese erst dann wahrhaftig frei sein könnten. Lediglich in einem Bericht wurde auch auf die mutmaßlich erste Freie Schule der Schweiz eingegangen, die École Libre in Bagnes (VS). Vgl. »L’École libre de Bagnes«, Le Réveil, 10.8.1907, Jg. 8, Nr. 209, S. 2. Vgl. für eine erweiterte Skizze dieses Projektes den entsprechenden Absatz in Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. 645  |  Vgl. exemplarisch W., »L’École empoisonneuse et L’École libre«, 16.5.1909, Jg. 9, Nr. 255, S. 1. 646  |  G.H., »Intellectuels et Manuels«, Le Réveil, 9.3.1912, Jg. 10, Nr. 327, S. 2. Dt.Ü.: »Als überzeugte Anarchisten würden unsere Freunde nicht lange die Inkonsequenz der Aufspaltung der Menschen mit sich herumschleppen. Als Partisanen der Aufhebung der Klassen würden sie sich davor hüten, die Vorherrschaft einer Klasse über die andere bestehen zu lassen.« Vgl. ebenfalls J.W., »Sur l’‚ouvrièrisme‹«, Le Réveil, 18.1.1913, Jg. 14, Nr. 350, S. 3. Es lassen sich aber auch – selten – Framing-Prozesse gegen Intellektuelle finden. In einem Bericht über den Kongress italienischer Anarchisten in Zürich am 30.5.1913 hieß es wenig schmeichelhaft: »L’Absence de tout secrétaire de syndicat ou de parti, de tout rédacteur ou intellectuel, donnait à la réunion un caractère bien réconfortant. [...] Les bourgeois nous mentent et ont pour complices les intellectuels, qui, tout en prétendant être avec le peuple, lui enseignent un devoir militaire, patriotique ou nationaliste quelconque.« (L.B., »L’idéalisme bourgeois«, Le Réveil, 15.6.1913, Jg. 14, Nr. 360, S. 3) Dt.Ü.: »Dass kein einziger Gewerkschafts- oder Parteisekretär, kein einziger Redakteur oder Intellektueller anwesend war, gab dem Treffen ein sehr angenehmes Wesen. [...] Die Bourgeois belügen uns und die Intellektuellen sind ihre Komplizen, die so tun, als seien sie mit dem Volke, ihn dann aber einer militärischen, patriotischen oder nationalistischen Pflicht belehren wollen.« 647  |  Vgl. etwa den ersten Leitartikel des Le Réveil: Dubois, Octave, »Principes«, Le Réveil, 7.7.1900, Jg. 1, Nr. 1, S. 1, oder die flugblattartigen Leitartikel der Ausgaben zum 1. Mai.

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wurden die oben isoliert betrachtet vermittelten Hypergüter wie Antimilitarismus, Internationalismus, freie Assoziation, Antiautorität, Antipatriotismus, Gütergemeinschaft, Anti-Etatismus, Antireligiosität oder Geschlechteregalität und antipatriarchalische Werte auch regelmäßig kombiniert und konzentriert vermittelt.648 Neben positiven erweisen sich auch negative Hypergüter als identitätskonstitutiv wirkungsmächtig. Als prominentestes negatives Hypergut fungierte die staatliche Repression. Sie wurde in nahezu jeder Ausgabe thematisiert, sei es in Form von Beschattungen durch die Politische Polizei, durch Ausweisungen und Auslieferungen, durch Kooperationen mit ausländischen Geheimdiensten und -agenten oder durch Beschlagnahmungen anarchistischer Druckerzeugnisse. So kritisierte der Artikel »Les deux Croix« beispielsweise die Auslieferungen, die mehr und mehr an die Stelle der Ausweisungen traten, heftig.649 Emotionalisiert wurde die Vermittlung dieses negativen Hyperguts durch wiederholte Angriffe auf den damaligen ständigen Bundesanwalt Kronauer. Beispielsweise, indem Kronauers Ehrhaftigkeit mehrfach in Abrede gestellt wurde: »Continuez, M. Kronauer, [...] [d]ans votre place tout est permis, sauf de ressembler, même de loin, à un honnête homme.«650 Beliebt war auch die Darstellung Kronauers als Dieb651 oder als Alkoholiker.652 Die Wirkung der Repression im staatlichen Sinn wurde trotz ihrer Präsenz negiert und in der Regel zum Ansporn und Beschleunigungsfaktor umgedeutet. Im Zusammenhang mit einer Auslieferung eines anarchistischen Coiffeurs hieß es beispielsweise: »Quant Stellvertretend etwa »Premier Mai 1908: Aux Travailleurs«, Le Réveil, 1.5.1908, Jg. 8, Nr. 228, S. 1, wo abschließend Methoden und Ziele formelartig vermittelt wurden: »Vive donc l’action directe contre le capitalisme par le sabotage et tous les moyens illégaux! Vive l’expropriation, par les travailleurs eux-mêmes, de tous les moyens de production! Vive la révolution sociale pour la suppression de toutes les classes!« Dt.Ü.: »Es lebe also die Direkte Aktion gegen den Kapitalismus, durch Sabotage und alle illegalen Mittel! Es lebe die Enteignung aller Produktionsmittel durch die Arbeiter selbst. Es lebe die soziale Revolution für die Abschaffung aller Klassen!« 648  |  Es sind auch manifestartige Beiträge zu finden, die zum selben Resultat führen, wobei hier der Argumentation mehr Raum gegeben wird. Vgl. exemplarisch die siebenteilige Artikelserie Merlino, Xavier, »Pourquoi nous sommes anarchistes«, Le Réveil, 30.7.1904, Jg. 5, Nr. 106, S. 2 (Teil I) - Merlino, Xavier, »Pourquoi nous sommes anarchistes«, Le Réveil, 8.10.1904, Jg. 5, Nr. 111, S. 2 (Teil VII). 649  |  Vgl. L.B., »Les deux Croix«, Le Réveil, 13.10.1900, Jg. 1, Nr. 8, S. 1. 650  |  L.B., »Vilains métiers«, Le Réveil, 29.9.1900, Jg. 1, Nr. 7, S. 1. Dt.Ü.: »Machen Sie weiter so, Herr Kronauer, [...] in Ihrer Position ist alles erlaubt, außer, auch nur entfernt, einem ehrlichen Mann zu ähneln.« 651  |  Aufgegriffen bspw. in »Chronique vaudoise: Délits d’opinion«, Le Réveil, 27.10.1900, Jg. 1, Nr. 9, S. 2. Zurückzuführen ist dieser Vorwurf auf eine Beschlagnahmung von Druckerzeugnissen beim Zürcher Anarchisten Carlo Frigerio im Wert von CHF 300,-, die schließlich in dessen Kasse fehlten. 652  |  Vgl. L.B., »Encore le secret postal«, Le Réveil, 5.1.1901, Jg. 2, Nr. 1, S. 1, wo er zunächst »buveur invétéré« [dt.Ü.: »unverbesserlicher Trinker«] war, bald aber zu »cet alcoolique monsieur« wurde. Vgl. entsprechende Verunglimpfungen in »Un homme pratique«, Le Réveil, 13.4.1901, Jg. 2, Nr. 8, S. 2, und L.B., »Jaffeiet Galeotti«, Le Réveil, 17.8.1901, Jg. 2, Nr. 17, S. 1. Vgl. des Weiteren die Schimpftiraden über Kronauers Zuträger, die Spitzel der Politischen Polizei in »Les policiers«, Le Réveil, 5.1.1901, Jg. 2, Nr. 1, S. 2.

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à nous, une telle iniquité nous exaspère, puisque exaspération il y a. Cette ›propagande par le fait‹ cette provocation hâtera le jour de la Révolution. Que les bourgeois se le disent.«653 Diese Umdeutungen tauchten immer wieder auf, am konzisesten im Beitrag »La lutte contre l’Anarchisme«: »L’Anarchie est viable, elle est une phase nécessaire, donc inévitable de L’Évolution humaine. Même si tous ceux qui manifestent leurs idées libertaires étaient supprimés, l’Avènement de l’Anarchisme ne serait que retardé, la force des choses ferait surgir d’autres combattants. Le progrès de la misère combiné avec le progrès intellectel ne peut mener qu’à un seul et unique résultat: l’anarchisme.« 654

Religion im Allgemeinen und das Christentum im Speziellen zählen ebenfalls zu den wiederholt vermittelten negativen Hypergütern. Sie dienten lediglich dem Staat als Führungsinstrument, so die Deutung. Im Rahmen der Religionskritik wurde neben rationalistisch-wissenschaftlicher Argumentation auch emotionalisierend vorgegangen, indem herablassende Begriffe wie ›le grand manitou‹ für Gott-Figuren verwendet wurden.655 Die Kritik am Christentum führte der Le Réveil vornehmlich in Verquickung mit einer radikalen Kritik an der Autorität aus: »Christianisme et autorité, aboutissant aussi chacun à la négation de l’individu, sont la même chose, et partant l’inverse de la liberté par laquelle seule l’individu peut s’affirmer. Le christianisme est dans le monde l’immortelle semence de l’autorité.«656

653  |  Dubois, Octave, »Défense de penser«, Le Réveil, 24.11.1900, Jg. 1, Nr. 11, S. 1. Dt.Ü.: »Was uns betrifft, eine solche Ungerechtigkeit verärgert uns aufs Äußerste, denn Ärger ist es ja. Diese ›Propaganda der Tat‹, diese Provokation wird den Tag der Revolution vorantreiben. Das die Bourgeois sich das gesagt sein lassen!« Auffällig ist hierbei die Bennenung der staatlichen Repression als Propaganda der Tat, die den Reizbegriff auf den Staat anwendet und diesen so zum Terroristen erklärt. 654 | Germinal, »La lutte contre l’Anarchisme«, Le Réveil, 18.1.1902, Jg. 3, Nr. 41, S. 2. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Die Anarchie ist lebbar, sie ist eine notwendige also unumgängliche Phase der menschlichen Entwicklung. Selbst wenn alle, die ihre libertären Ideen kundtun, ausgelöscht würden, wäre der kommende Anarchismus nur hinausgezögert, es würden zwangsläufig neue Kämpfer auftauchen. Das fortschreitende Elend kombiniert mit dem intellektuellen Fortschritt kann nur zu einem einzigen Ergebnis führen: dem Anarchismus.« Bestätigt wurde dies auch bei der Einführung der Erweiterung der Anarchistengesetzte 1906. Dazu lässt der Le Réveil verlauten: »L’Article 52 bis n’est pas une barrière suffisante à cette poussée des individus vers la lumière et vers une justice qu’ils ne vous demanderont plus, faiseurs de lois!« (G.H., L’Apologie du Crime«, Le Réveil, 31.3.1906, Jg. 6, Nr. 165, S. 2) Dt.Ü.: »§ 52b ist keine ausreichende Barriere, um den Drang der Menschen zum Licht und zu einer Gerechtigkeit aufzuhalten, um die sie euch nie wieder bitten werden, Gesetzgeber!« 655  |  Vgl. B.T, »Chroniques vaudoises: Contre le mensonge«, Le Réveil, 10.11.1900, Jg. 1, Nr. 10, S. 2. 656 | »Chronique vaudoise: Le Christianisme«, Le Réveil, 24.11.1900, Jg. 1, Nr. 11, S. 2. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Christentum und Autorität, die beide zur Negation des Einzelnen führen, sind das Gleiche und damit das Gegenteil der Freiheit, durch die allein der Einzelne sich behaupten kann. Das Christentum ist in unserer Welt die unsterbliche Saat der Autorität.« Vgl. exemplarisch auch G.H., »La réaction«, Le Réveil, 7.12.1901, Jg. 2, Nr. 25, S. 1.

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Ein weiteres negatives Hypergut stellte der Reformismus dar, der diametral zur revolutionären, ganzheitlichen Perspektive des ›Wir‹ aufgestellt und angeklagt wurde, die herrschenden Zustände zu zementieren und zu perpetuieren anstatt sie zu beseitigen.657 Dabei verharrte der Le Réveil nicht in der Kritik des politisch-parlamentarischen Reformismus. Auch der gewerkschaftliche Reformismus wurde als negatives Hypergut begriffen: »Une fois le peuple arraché à l’illusion du réformisme politique, je ne voudrais pas qu’on lui donnât celle du réformisme syndicaliste. [...] Nous ne pouvons nous donner comme but de pactiser éternellement avec l’injustice, mais de la supprimer; [...] notre propagande doit surtout viser non le foncionnement, mais l’existence même du régime de la propriété privée et du salariat.« 658

Zu diesen beständig vermittelten negativen Hypergütern kamen punktuell und unregelmäßig weitere hinzu. Diese Hypergüter – etwa die Ablehnung der Ehe659 – ermöglichten wohl eine größere Auflösung und damit ein detailliertere Skizze der kollektiven Identität der Gruppe. Allerdings steht deren Aufarbeitung in keinem Verhältnis zum Ertrag, da sie lediglich nuancieren, nicht aber grundlegend neu ausrichten. Eine unweigerlich mit dem Le Réveil verknüpfte und Hypergüter vermittelnde Textsorte sind Apologien und Dithyramben, aufgrund derer die Zeitung auch einer breiteren Öffentlichkeit ein Begriff wurde. Artikel mit apologetischem Gehalt stellten denn auch die Initialzündung für die sogenannte Silvestrelli-Affäre dar, die zum kurzfrisitigen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien führte.660 Wenngleich eindeutig keine Ablehnung für die Motivation von Attentätern auf Oberhäupter der herrschenden Ordnung zu erkennen ist661, so sind in den Zeilen des Le Réveil ebenso wenig direkte Aufforderungen zu Nachahmungen zu finden und auch Lobgesänge auf Regizide wurden keine 657 | Vgl. dazu exemplarisch den Einstieg in den Artikel »Pour une loi socialiste«: »[L] a participation de la classe ouvrière au parlementarisme impliquait l’acceptation de toutes les iniquités existantes érigées en institutions.« (L.B., »Pour une loi socialiste«, Le Réveil, 15.8.1903, Jg. 4, Nr. 82, S. 1) Dt.Ü.: »[D]ie Beteiligung der Arbeiter am Parlamentarismus implizierte die Akzeptanz aller existierenden, zu wahren Institutionen erhobenen Ungerechtigkeiten.« 658  |  L.B., »L’illusion réformiste«, Le Réveil, 18.7.1903, Jg. 4, Nr. 80, S. 1. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Sobald das Volk der Illusion des politischen Reformismus entrissen ist, möchte ich nicht, dass dieser durch den gewerkschaftlichen Reformismus ersetzt wird. [...] Wir können uns nicht das Ziel geben, ewig Pakte mit der Ungerechtigkeit zu schließen anstatt sie auszulöschen; [...] unsere Propaganda soll nicht auf die Funktionsweise sondern vor allem auf die Existenz an sich des Regimes von Privateigentum und Lohnarbeit abzielen.« Vgl. etwa auch L.B., »Réforme ou Révolution?«, Le Réveil, 27.5.1905, Jg. 6, Nr. 127, S. 1. 659  |  Vgl. diesbzüglich exemplarisch eine unkommentiert zitierte Quelle in Ivanowa, Sonja, »Lettre à une fiancée«, Le Réveil, 12.10.1901, Jg. 2, Nr. 21, S. 2. 660 | Vgl. Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. Für die legislativen Folgen der Silvestrelli-Affäre, die ›Lex Silvestrelli‹, Kap. 3.3 Die Schweiz und der Anarchismus. 661  |  Darauf deutet zumindest hin, dass Gaetano Brescis Aussage vor Gericht in einer Sonderbeilage unkommentiert im Wortlaut abgedruckt wurde. Vgl. »Les déclarations de Bresci«, Le Réveil, 8.9.1900, Jg. 1, Supplement au Nr. 5, S. 1.

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abgedruckt.662 Stattdessen wurden Attentate und Attentäter und ihre Geschichten dazu genutzt, Hypergüter positiver und – vor allem – negativer Art zu vermitteln. Beispielsweise wurde so die bürgerliche Doppelmoral bezüglich Ausdrucksfreiheit oder Formen der Repression wie Freiheitsentzug, Gewalt oder Folter kritisiert.663 Die Straf barkeit der Aufhetzung zu anarchistischen Taten mag ab 1906 ein Grund dafür gewesen sein, dass kaum Artikel zu finden sind, welche die Propaganda der Tat als relevante und valable Methode zur Erreichung der Ziele propagierten. Allerdings ist auch in den Jahren davor kein eindeutiges Statement zu finden, obschon in entsprechenden Artikeln Sympathie und Verständnis für die Beweggründe von Attentätern zu eruieren sind. Aber auch der wohl umstrittenste Artikel des Le Réveil, der die Silvestrelli-Affäre und die entsprechende Gesetzesnovelle zur Folge hatte664, rief nicht zu Attentaten auf. Es wurde zwar punkto Motivation der Propagandisten der Tat Verständnis signalisiert, sodass man daraus durchaus eine Identifikation mit Attentätern ableiten könnte. Im Falle der Ermordung des italienischen Königs Umberto durch den Anarchisten Gaetano Bresci etwa hieß es: »Saluons en Gaetano Bresci un martyr de la liberté! En son âme ont vibré avec une rare puissance toutes nos haines et nos amours, tous nos espoirs, nos désirs et nos volontés.«665 Solch explizite Dithyramben waren aber höchst selten. Die Regel war vielmehr, dass sich die Gemeinschaft nicht prinzipiell von der Gewalt abwandte, zumal sie – wenn überhaupt – als Gegengewalt begriffen wurde. So hieß es etwa in einem Artikel zu einem Streik in Lausanne: »Oh! ouvriers [sic], le seul argument qui nous reste c’est la révolte. A l’union formidable des capitalistes on répond par la grève générale; à la force, on répond par la force. Il n’y a que ça.«666 Andere Bei662  |  Vgl. exemplarisch Perdican, L., »Délits d’opinion«, Le Réveil, 18.8.1900, Jg. 1, Nr. 4, S. 1 zum Attentat Gaetano Brescis auf König Umberto vom 29.7.1900. 663  |  Vgl. ebd., S. 1. 664 | Der Le Réveil weist auf die treffende Bezeichnung des Gesetzes als ›Lex Silvestrelli‹ hin, die zeige, dass dieses Gesetz einem Wunsch des Auslands entstamme. Vgl. L.B., »Lex Silvestrelli«, Le Réveil, 26.5.1906, Jg. 6, Nr. 171, S. 1. In einer ebenso aussichtslosen wie trotzigen Aktion führte das Blatt im Frühling 1906 die unregelmäßig erscheinende Rubrik »Apologie du crime« ein. Darin wurden bürgerliche, klerikale Zeitungen aber auch Versatzstücke aus Theatern zitiert, die gemäß strenger Auslegung des Gesetzes unter die Lex Silvestrelli gefallen wären. Vgl. exemplarisch das erste Erscheinen der Rubrik, das mit dem Zusatz »Dédiée au Conseil fédéral et aux marionettes des deux Conseils« (»Apologie du crime«, Le Réveil, 14.4.1906, Jg. 6, Nr. 166, S. 1-2) die ad absurdum-Führung unterstrich. 665 | L.B., »Pour un martyr de la liberté«, Le Réveil, 8.6.1901, Jg. 2, Nr. 12, S. 1. Dt.Ü.: »Lasst uns Gaetano Bresci als Märtyrer der Freiheit würdigen! In seiner Seele bebten mit seltener Kraft all unser Hass und all unsere Liebe, all unsere Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche.« Ähnlich wird der Attentäter Leon Czolgosz behandelt, der den US-Präsidenten William McKinley erschoss: »Czolgosz, le vengeur des infamies capitalistes est mort. Vive Czolgosz, vivant dans le souvenir des travailleurs et faisant surgir l’obstacle contre les tentatives criminelles du capitalisme international!« (»Czolgosz«, Le Réveil, 9.11.1901, Jg. 2, Nr. 23, S. 1) Dt.Ü.: »Czolgosz, der Rächer des kapitalistischen Niederträchtigkeiten ist tot. Hoch lebe Czolgosz, der im Gedächtnis der Arbeiter weiterlebt und sich den verbrecherischen Unternehmungen des internationalen Kapitalismus in den Weg stellt!« 666 | »Chronique vaudoise«, Le Réveil, 29.9.1900, Jg. 1, Nr. 7, S. 2. Dt.Ü.: »Oh! Arbeiter, das einzige Argument, was uns nun bleibt, ist die Revolte. Unsere Antwort auf den tollen

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träge zur Frage waren – wohl bewusst – vage gehalten, indem zwar im Titel zur Bewaffnung aufgerufen wurde (»Armons-nous!«), aber der Lauftext so gehalten wurde, dass die ›Waffen‹, mit denen die Bewaffnung stattfinden sollte, auch im übertragenen Sinn verstanden werden konnten: »Agissons donc dans les milieux prolétaires, préparons-nous de bonnes armes avec lesquelles nous soyons familiarisés, instruisons-nous. La somme de ses activités conduira à L’Émancipation.«667 Abschließend hieß es aber: »Un révolté a fait parfois délirer de peur des dizaines de rois et trembler des milliers d’âmes; une minorité d’hommes conscients, résolus, amènera par la Révolution la société future, libre, heureuse. Armons-nous!«668 Diese Haltung behält der Le Réveil über die gesamte betrachtete Zeit bei.669 Lediglich eine sprichwörtliche regelbestätigende Ausnahme findet sich in den betrachteten 14 Jahrgängen, in der die Propaganda der Tat explizit als Form der Gegengewalt vermittelt und legitimiert wurde: »[A]ux sabres et aux fusils qu’entendons-nous opposer? Pour sortir victorieux d’un conflit, il est, en effet, indispensable d’user contre l’ennemi d’armes adéquates aux siennes. Si nous ne voulons pas être les éternelles vaincus, nous devons trouver une réponse pratique à cette question. [...] La légalité, pour les travailleurs, c’est donc la lutte des bouts de papier [gemeint sind Stimm- und Wahlzettel, d.V.] contre les fusils. Elle offre encore moins de chances de succès que celle du pot de terre contre le pot de fer. La propagande par le fait nous

Zusammenschluss der Kapitalisten heißt Generalstreik; auf Gewalt erwidern wir Gewalt. Da gibt es nichts anderes.« 667  |  Narco, A., »Armons-nous!«, Le Réveil, 13.10.1900, Jg. 1, Nr. 8, S. 2. Dt.Ü.: »Wir sollten also in proletarischem Umfeld handeln, uns mit guten Waffen vorbereiten, mit denen wir vertraut sind, uns Wissen aneignen. All diese Aktivitäten zusammen führen zur Emanzipation.« 668 | Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Ein Aufständiger hat mitunter ein Dutzend Könige vor Angst verrückt werden und tausend Seelen erzittern lassen; eine Minderheit aufgeklärter, entschiedener Männer wird mit der Revolution die zukünftige freie und glückliche Gesellschaft bringen. Rüsten wir uns!« In eine ähnliche Richtung deutete die Wortwahl in der Besprechung der antianarchistischen Broschüre »Rache für Umberto’s Ermordung« von Graf Vandalin-Mniszech, die 1900 in Zürich erschien. In der Kritik hieß es, dass der Autor die Attentate beschmutze (flétrir), welche ihrerseits die Menschlichkeit ehrten: »En résume, l’Auteur, après avoir flétri – comme il convient – les attentats contre les illustres personnages qui honorent l’humanité, préconise le retour aux vieux principes évangélistes et la mise hors la loi des anarchistes, principalement en Suisse où ils ont pleine liberté!« (N’importe-qui, »Conte d’un Comte«, Le Réveil, 10.11.1900, Jg. 1, Nr. 10, S. 2) Dt.Ü.: »Zusammengefasst empfiehlt der Autor, nachdem er die Anschläge auf berühmte Figuren, die der Menschheit Ehre machen, – ganz so wie es sich gehört – beschmutzt hat, die Rückkehr zu evangelikalen Grundsätzen und die Ächtung der Anarchisten, vor allem in der Schweiz, wo sie vollkommene Freiheit genießen!« 669  |  Vgl. neben den bereits angeführten Beispielen L.B. »Apologie de Mateo Morral«, Le Réveil, 16.6.1906, Jg. 6, Nr. 173, S. 1, oder zum Attentat auf den russischen Premierminister Stolypin L.B., »Et chez nous«, Le Réveil, 1.9.1906, Jg. 6, Nr. 182, S. 2. Im Beitrag zum tödlichen Attentat auf Stolypin vom 14.9.1911 wurde dessen Akte zu seiner Regierungszeit aufgezählt und kommentiert. Da keinerlei Bezüge zum Attentat selbst gemacht wurden, kann dies allenfalls als schwach implizite Legitimation gelesen werden. Vgl. J.W., »Un homme d’ordre«, Le Réveil, 23.9.1911, Jg. 10, Nr. 315, S. 3.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse amenera par contre à défendre nos droits par le fusil, comme les bourgeois défendent leurs privilèges.« 670

Neben der Vermittlung von Hypergütern wirkten sich im Le Réveil auch FramingProzesse stark konstitutiv auf die kollektive Identität aus. Dazu gehörten zusätzlich zu direkten Framing-Prozessen hin zum Bürgertum, zu PolitikerInnen und KapitalistInnen, auch die Abgrenzungen der Gemeinschaft auf indirekte Weise. So etwa, wenn das ›Wir‹ gegenüber der Sozialdemokratie abgegrenzt wurde, indem Letztere wiederholt mit dem Bürgertum gleichgesetzt wurde. Die so also gelegentlich zweifach produktiven Framing-Prozesse gegenüber der Sozialdemokratie wurden sowohl plakativ als auch in Form kleiner Seitenhiebe vollzogen. Ein gutes Beispiel dafür ist in einem an sich antimilitaristisch zugespitzten Beitrag zu finden, der über Umwege auch im Hinweis auf die militärische Tradition des gewaltsamen Vorgehens gegen ArbeiterInnen eine Gelegenheit fand, die Sozialdemokratie respektive deren organisierte Vorläufer671 vorzuführen und sich so von ihr abzugrenzen: »Le 28. Juillet 1875, les troupes du canton d’uri, requises par l’entrepreneur Favre, tirèrent sur les grévistes, sans provocations de leur part. Il y eut six tués et douze blessés, dont plusieurs moururent peu àprès de leurs blessures. N’empêche que plusieurs associations ouvrières et la députation socialiste se sont rendues à l’inauguration du monument Favre!« 672

Framing-Prozesse finden sich etliche, mit denen die Gemeinschaft sich gegenüber der Sozialdemokratie abgrenzte und die kollektive Identität der Gruppe dadurch konstituierte und stärkte. Etwa, indem die Bemühungen der Sozialdemokratie in eine Reihe mit christlichen und liberalen Revolutionen gestellt wurden, die ihrerseits auch autoritäre Regimes überwarfen, aber sich stets selbst als solche installier-

670 | Vgl. L.B., »La Propagande par le fait«, Le Réveil, 20.10.1906, Jg. 6, Nr. 186, S. 1. Dt.Ü.: »[W]as gedenken wir den Säbeln und den Gewehren entgegenzuhalten? Um siegreich aus einem Konflikt hervorzugehen, ist es tatsächlich unumgänglich, Waffen zu ergreifen, die sich mit denen des Feindes messen können. Wenn wir keine ewig Besiegten sein wollen, müssen wir eine konkrete Lösung für diese Frage finden. [...] Für die Arbeiter bedeutet die Legalität, mit Papierschnipseln gegen Gewehre zu kämpfen. Das birgt noch weniger Siegeschancen, als mit Ton gegen Eisen zu kämpfen. Die Propaganda der Tat bedeutet jedoch, dass wir unsere Rechte mit Gewehren verteidigen können, so wie die Bourgeois es mit ihren Privilegien tun.« 671  |  Der geschilderte Fall des militärischen Eingreifens anlässlich des Gotthardstreiks ereignete sich 1875, abgesehen von einzelnen lokalen Organisationen konstituierte sich die Sozialdemokratische Partei der Schweiz unter diesem Namen erst am 21.10.1888. 672 | »Armée... démocratique«, Le Réveil, 21.7.1900, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. Dt.Ü.: »Am 28. Juli 1875 schossen die Truppen des Kantons Uri, die der Unternehmer Favre angefordert hatte, auf die Streikenden ohne jegliche Provokation ihrerseits. Es gab sechs Tote und zwölf Verletzte, von denen mehrere kurz danach ihren Verletzungen erlagen. Trotzdem haben mehrere Arbeitervereine sowie die sozialistischen Abgeordneten der Einweihung des Favre-Denkmals beigewohnt!«

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ten.673 Die Soziale Frage für die ArbeiterInnen sei deshalb auch mit der politischen Aktion der Sozialdemokratie nicht gelöst: »Trompé par le christianisme, trompé par le radicalisme, trompé par la social-démocratie, exploité par tous les maîtres noirs, blancs et rouges, le peuple veut enfin sortir de son esclavage politique et économique [...]. Il faut se décider: ou le peuple sera encore berné et malhereux tant qu’il conservera une parcelle d’autorité; ou il sera vraiment libre et heureux s’il la détruit dans toutes ses manifestations (famille, patrie, religion, propriété).« 674

Wiederholt wurde in Artikeln mit Framing-Prozessen auch apostrophierend von der ›selbsternannten Arbeiterpartei‹ oder den ›selbsternannten Arbeiter-Sozialisten‹ (»soi-disant ouvrier-socialiste«675) gesprochen, womit ihr die Glaubwürdigkeit abgesprochen wurde.676 Die Sozialdemokratie sei, so hieß es in einem weiteren Artikel, in ihrem Bestreben um Eroberung politischer Macht nicht von anderen politischen Parteien zu unterscheiden und sie teile daher auch deren Probleme, etwa die vornehmlich egoistische Handlungsmotivation: »La social-démocratie reste [...] un simple parti politique; les aspirations de ses adhérents ne sont autres qu’une chasse aux fauteuils parlementaires; l’ouvrier n’a pas à s’en mêler. [...] Ils veulent concilier L’Émancipation prolétarienne avec la légalité bourgeoise. Ce n’est pas possible.«677

673  |  Vgl. Quelqu’un, »Reste toi-même!«, Le Réveil, 29.9.1900, Jg. 1, Nr. 7, S. 1. 674 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Getäuscht vom Christentum, getäuscht vom Radikalismus, getäuscht von der Sozialdemokratie, getäuscht von allen schwarzen, weißen und roten Meistern, will das Volk nun endlich politische und ökonomische Versklavung verlassen [...] Man muss sich entscheiden: Entweder wird das Volk weiterhin geprellt und unglücklich sein, solange ein Stück Autorität weiterbesteht; oder es wird wirklich frei und glücklich sein, wenn es diese in all ihren Formen (Familie, Vaterland, Religion, Eigentum) zerstört.« 675  |  L.B., »Chronique genèvoises«, 8.12.1900, Jg. 1, Nr. 12, S. 2. 676 | Vgl. bspw. L.B., »Parti ouvrier-socialiste...«, Le Réveil, 10.11.1900, Jg. 1, Nr. 10, S. 1-2, hier S. 2. Wenngleich die Framing-Prozesse gegenüber der Sozialdemokratie sich in ihrer Gestalt veränderten, blieben sie sich im Kern gleich. Der Sozialdemokratie wurde eine Verbürgerlichung durch Annäherung oder Wesensgleichheit mit der Bourgeoisie vorgeworfen. Daraufhin resp. daraus konstituierte sich Gemeinschaft durch die Abhebung des ›Wir‹ mittels Ausschluss der Beschuldigten aus einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft, die nicht selten mit einer Bezeichnung des kollektiven Selbst als den »vrais socialistes« o.ä. endete. Vgl. für dieses Vorgehen ein Beispiel mit Nationalismusvorwurf in »Chronique vaudoise: Nationalisme«, Le Réveil, 10.11.1900, Jg. 1, Nr. 10, S. 2. 677  |  Arié, Paul, »Simple question«, Le Réveil, 24.11.1900, Jg. 1, Nr. 11, S. 1. Dt.Ü.: »Die Sozialdemokratie ist und bleibt [...] eine simple politische Partei; Die Bestrebungen ihrer Mitglieder sind nichts weiter als eine Jagd auf Parlamentssitze; da braucht der Arbeiter sich nicht drum zu kümmern. [...] Sie wollen die Emanzipation der Proletarier mit der Legalität der Bourgeoisie versöhnen. Das ist nicht möglich.« Hypokritischerweise empörte sich der Le Réveil trotz allen Framing-Prozessen gegenüber der Sozialdemokratie wiederholt darüber, dass sich die sozialdemokratische Presse nicht für anarchistische Kämpfe interessiere. Vgl. dazu exemplarisch L.B., »Chronique genèvois«, Le Réveil, 7.7.1900, Jg. 1, Nr. 1, S. 2, oder die Einleitung in L.B., »Trois grèves«, Le Réveil, 22.6.1910, Jg. 2, Nr. 13, S. 1.

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In eher generellem Ton finden sich wiederholt auch Framing-Prozesse gegenüber jeder Art von Politikern, die eine Vertretung des Proletariats vorgaben. Ihnen gegenüber hielt der Le Réveil das ›Wir‹ affirmierend fest: »[N]ous en avons assez de vous; rentrez dans vos foyers si vous le voulez, puisque les questions économiques ne vous intéressent qu’au point de vue de votre carrière et de votre avenir, mais ne venez pas nous empêcher d’évoluer librement dans toute la plénitude de nos forces, et de révolutionner plus librement encore; nous nous passerons de vous, allez.« 678

Auf vergleichsweise subtile Weise wurden Framing-Prozesse zu autoritär-sozialistischen kommunistischen Tendenzen hin vollzogen. Etwa, wenn Autoren aus ihrer Sicht gelungene Konklusionen von Karl Marx als Ergebnisse seiner ›luziden Momente‹ einführten und so implizierten, dass er von diesen abgesehen als umnachtet einzuschätzen sei.679 Auch dies kann als Seitenhieb gegen Sozialdemokraten gelesen werden, die in Marx das wissenschaftliche Fundament ihrer Praxis sahen. Verbunden hieß es in einem weiteren Beitrag zum Thema der marxistischen Diktatur des Proletariats: »Cette dictature, est bien la plus monstreuse sottise que l’on puisse répéter, mais elle fait partie de la doctrine selon Saint-Marx et nos scientifiques n’y renonceront pas de sitôt.«680 Auch subidentitäre Demarkationen trugen zur Konstitution und Rekonstitution der kollektiven Identität der Gemeinschaft des Le Réveil bei. Wurden 1904 gewerkschaftliche Schritte von Redaktor Bertoni prinzipiell noch als ur-anarchis-

678  |  Rameau, G., »Un obstacle en économie sociale: La politique«, Le Réveil, 1.9.1900, Jg. 1, Nr. 5, S. 1. Dt.Ü.: »Uns reicht es mit euch; geht nach Hause wenn ihr wollt, da die ökonomischen Fragen euch nur insofern interessieren, als dass die eure Karriere und eure Zukunft betreffen, aber stört uns nicht, wenn wir uns frei und in Entfaltung all unserer Kräfte weiterentwickeln wollen und noch freier revolutionieren wollen; wir können auf euch verzichten, echt!« Vgl. diesbezüglich auch G.H., »Contre la politique«, Le Réveil, 10.11.1900, Jg. 1, Nr. 10, S. 1. Ein eigentliches Amalgam aus Framing-Prozessen gegenüber der Sozialdemokratie, der Politik im Allgemeinen und dem Hypergut des Antiparlamentarismus findet sich im Beitrag G.H., »Triomphe électoral«, Le Réveil, 4.7.1903, Jg. 4, Nr. 79, S. 1. 679  |  »M. Marx [...] parlait, dans ses moments lucides, de lutte de classe; il recommandait aux prolétaires de s‹unir entre eux et d’être intransigeants envers les réactionnaires, seules conditions de leur émancipation [...].« (Dubois, Octave, »Deux perles pour un sou«, Le Réveil, 16.9.1900, Jg. 1, Nr. 6, S. 2) Dt.Ü.: »Herr Marx [...] sprach, in seinen hellsichtigen Momenten, von Klassenkampf; er empfahl den Proletariern, sich zu vereinen und den Reaktionären gegenüber unnachgiebig zu bleiben, alleinige Voraussetzungen für ihre Emanzipation [...].« An gleicher Stelle wurde auch von der »science vraie (pas celle de Karl Marx)« [dt.Ü.: »wahren Wissenschaft (nicht die von Karl Marx)«] gesprochen, womit Marx’ Arbeiten und seine Vertreter weiter entwertet werden sollten. 680  |  L.B., »Encore une victoire!«, Le Réveil, 18.12.1909, Jg. 9, Nr. 270, S. 1. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Diese Diktatur ist wohl die ungeheuerlichste Dummheit, die man herumschwätzen kann, aber laut Sankt-Marx ist sie Teil der Doktrin und unsere Wissenschaftler werden sie nicht so leicht aufgeben.«

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tisch681 und – positiv konnotiert – als pragmatisch682 verteidigt und wurde noch im Januar 1907 zur Selbstbezeichnung »[...] nous, les syndicalistes-libertaires, nous, les communistes-anarchistes [...]«683 verwendet, so begann die Begeisterung für anarcho-syndikalistische Ansätze abzuklingen und allmählich setzten subidentitäre Framing-Prozesse ihnen gegenüber ein. Den Ausschlag dafür gab das Akzeptieren des Umschwenkens der Anarcho-SyndikalistInnen auf den Kurs der Politischen Aktion. Im Herbst 1907 hieß es: »L’action anarchiste dans les syndicats a été une action diamétralement opposée à celle des groupements socialistes fascinés par la conquête des pouvoirs publics [...]. Des fautes ont été du reste commises par les anarchistes syndicalistes. La première c’est d’avoir accepté des fonctions salariées, qui les ont neutralisés. La seconde, c’est d’avoir accepté de collaborer à l’organe officiel du parti socialiste l’Humanité. [...] [E]n collaborant à un journal politique, les syndicalistes anarchistes ont diminué de beaucoup l’importance de la résolution d’amiens en prouvant par le fait qu’une collaboration était possible entre syndicalistes et politiciens.« 684

681 | Vgl. den Bezug des Autors Bertoni auf die Gepflogenheiten in der Internationale in L.B., »Syndicalisme et Anarchisme«, Le Réveil, 12.3.1904, Jg. 5, Nr. 96, S. 1. Dieselben Zeilen dienten auch zu Framing-Prozessen gegenüber Politikern und autoritär organisierten und organisierenden Gewerkschaftern. In einer emotionalisierenden Diffamierung hieß es bei Bertoni, diese hätten die Gewerkschaften eigennützig unterwandert: »[...] certains syndicats devenus la proie des politiciens de tout acabit, qui s’en servaient comme d’un tremplin pour satisfaire leurs ambitions [...], charlatans vulgaires de la politique«. (Ebd., S. 1) Dt.Ü.: »[...] einige Gewerkschaften sind Politikern jeglicher Couleur auf den Leim gegangen, die sich ihrer als Sprungbrett bedienten, um ihre Ambitionen zu befriedigen [...] vulgäre Scharlatane der Politik«. 682  |  »Ce serait folie de notre part que d’espérer trouver dans la société bourgeoise des milieux anarchistes. Nous sommes donc mis dans l’Alternative: ou de nous isoler, et je ne vois pas alors la possibilité de la propagande, ou d’entrer dans des groupements ouvriers, plus ou moins embourgeoisisés, pour leur donner une autre tendance.« (Ebd., S. 1) Dt.Ü.: »Es wäre Wahnsinn, darauf zu hoffen, in einer bürgerlichen Gesellschaft anarchistische Milieus zu finden. Wir stehen also vor der Wahl, uns entweder zu isolieren, und dann sehe ich keine Möglichkeiten zur Propaganda, oder einer der mehr oder weniger verbürgerlichten Arbeitergruppierungen beizutreten, um ihr eine andere Richtung zu geben.« 683  |  J.W., »Le mouvement ouvrier en 1906«, Le Réveil, 12.1.1907, Jg. 8, Nr. 192, S. 1. 684 | G., »La politique et les syndicats«, Le Réveil, 7.9.1907, Jg. 8, Nr. 211, S. 1 (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Die anarchistische Aktion in den Gewerkschaften war eine Aktion, die sich den sozialistischen, von der Eroberung der Staatsgewalt faszinierten Gruppierungen diametral entgegenstellt [...] Im übrigen haben die anarchistischen Gewerkschaftler Fehler begangen. Der erste besteht darin, dass sie entlohnte Ämter angenommen haben, die sie neutralisiert haben. Der zweite darin, dass sie bereit waren an dem offiziellen Organ der Sozialistischen Partei, Humanité, mitzuarbeiten. [...] Durch ihre Mitarbeit an einer politischen Zeitung haben die anarchistischen Gewerkschaftler die Bedeutung der Resolution von Amiens sehr geschwächt, denn sie haben gezeigt, dass eine Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaftlern und Politikern möglich ist.«

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Das subidentitäre Framing zum Anarcho-Syndikalismus hin wurde im Le Réveil gleichermaßen von der Entfernung von anarcho-kommunistischen Werten getriggert wie von der unterstellten Annäherung des Ersteren an die sozialdemokratisch-politische Ideologie, durch den immer dominanter auftretenden Verbesserungswillen, der nach anarchistischer Sinndeutung den Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage stellte, sondern perpetuierte.685 Das Ausbleiben nachhaltiger anarchistischer Agitation der breiten, in Syndikaten organisierten Masse wurde in der Folge wiederholt dem nicht konsequenten Einhalten des radikalen anarchistischen Kurses zugeschrieben, für kurzfristige Ameliorationen des Status quo zu kämpfen, statt für die als nachhaltig verstandene Demontage des kapitalistischen Systems an sich.686 Der Paradigmenwechsel zog eine Debatte nach sich, die zunächst persönlich geführt wurde.687 Nach einem kritischen Bericht über den Kongress der FUOSR Mitte April 1909 wurden die subidentitären Demarkationen zur Regel im Le Réveil. In einer Spitze gegen die anarcho-syndikalistischen Aktiven in der FUOSR hieß es: »Nos camarades syndicalistes ne sont pour la plupart que des révolutionnaires à arrière-pensée réformiste, ce qui n’est pas pour nous étonner, mais il en est de même aussi pour quelques anarchistes, et c’est de leur part une grande erreur.«688 Schließlich wurde auch mit der anarcho-syndikalistischen Ansicht gebrochen, mit Syndikaten Zellen der neuen Gesellschaft zu schaffen. Syndikate und die libertäre gewerkschaftliche Agitation wurden von der Gemeinschaft vielmehr als Mittel verstanden, der sozialen Revolution den Weg zu bereiten, und nicht als Ziel an sich: »Nous avons le sentiment très net que toute représentation est un oreiller de paresse nous éloignant de l’action révolutionnaire, qui [...] doit

685  |  Vgl. etwa G.H., »Pratique anarchique«, Le Réveil, 26.12.1908, Jg. 9, Nr. 245, S. 1, der in diesem Zusammenhang gar – überspitzt formuliert – von einem Verrat an der anarchistischen Grundidee sprach. In einem anderen Artikel wurde als Gegenbewegung zur allmählichen Verpolitisierung des ›syndicalisme révolutionnaire‹ der ›anarchisme ouvrier‹ propagiert, der die Weiterführung des ursprünglichen, revolutionär-föderalistisch ausgerichteten anarchistischen Engagements in der gewerkschaftlichen Organisation aktiv erhalten sollte. Vgl. J.W., »La Valeur éducative de l’action«, Le Réveil. 16.11.1907, Jg. 8, Nr. 216, S. 1. 686 | Vgl. noch mit einem Funken Hoffnung für den Anarcho-Syndikalismus, aber bereits dieselben Probleme bezeichnend die zehnteilige Serie L.B., »Anarchisme et syndicalisme«, Le Réveil, 30.11.1907, Jg. 8, Nr. 217, S. 1 (Teil I) - L.B., »Anarchisme et syndicalisme«, Le Réveil, 8.8.1908, Jg. 8, Nr. 235, S. 1-2 (Teil X). 687  |  Vgl. stellvertretend Ton und Ausrichtung in Dunois, A., »Syndicalisme et Anarchisme«, Le Réveil, 25.7.1908, Jg. 8, Nr. 234, S. 1, und die postwendende Antwort des darin angegriffenen Georges Herzig in G.H., »Les deux tendances du syndicalisme (Réponse)«, Le Réveil, 25.7.1908, Jg. 8, Nr. 234, S. 2. 688 | L.B., »Soyons révolutionnaires«, Le Réveil, 17.4.1909, Jg. 9, Nr. 253, S. 1. Dt.Ü.: »Unsere gewerkschaftlichen Genossen sind zum größten Teil nur Revolutionäre mit reformistischen Hintergedanken, was uns nicht weiter erstaunt, aber das Gleiche gilt für einige Anarchisten, und sie begehen da einen großen Fehler.« Dieser Artikel und die im Nachgang entstandene Debatte belastete das Verhältnis von Anarcho-KommunistInnen und AnarchoSyndikalistInnen erheblich. Vgl. dazu auch Kap. 4.4.9 La Voix du Peuple, dem anarcho-syndikalistischen Sparringpartner.

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être l’œuvre de tous. Le syndicat est pour nous un moyen et pas un but en soi.«689 Weitere subidentitäre Framing-Prozesse sind gegenüber anarcho-sozialistischen Inhalten zu finden. Die im Anarcho-Sozialismus prävalente Vorstellung der unmittelbaren Umsetzung der Ideale, etwa in Form von Kolonien und genossenschaftlichen Kooperativen, wurde dabei wiederholt als unanarchistisch bezeichnet. Einerseits, so die Argumentation, könnten anarchistische Kolonien unter den gegebenen Bedingungen des Status quo nie tatsächliche »milieux libres« sein. Andererseits würde die beabsichtigte Schaffung einer neuen Ökonomie durch die zwingenden Konzessionen an das herrschende ökonomische System topediert 690: »Commerce et socialisme sont deux termes contradictoires. Ils représentent même des civilisations absolument différentes. Il y a lieu de s’en persuader et de choisir.«691 Dieser Einstellung blieb der Le Réveil treu: »Je sais très bien que la coopération a sérvi admirablement le réformisme en créant un certain nombre de places propres à exercer une corruption en tout pareille à celle de l’etat [...] Hélas! trop d’ouvriers ne font du socialisme, du syndicalisme ou du coopératisme que pour lâcher l’outil et devenir ... fonctionnaires ... ou, à défaut, plus modéstement, porteurs de pain.« 692 689  |  »Premier Mai 1912«, Le Réveil, 1.5.1912, Jg. 10, Nr. 331, S. 1. Dt.Ü.: »Wir haben das klare Gefühl, dass jegliche Repräsentation nur ein Kissen für Faulenzer ist, das uns von der revolutionären Aktion entfernt, die [...] das Werk aller sein muss. Die Gewerkschaft ist für uns nur ein Mittel und kein Zweck an sich.« Schließlich entfernte sich die angebotene und unterhaltene kollektive Identität im Le Réveil so weit, dass sie auch hoch-ironische Beiträge zur anarcho-syndikalistischen Zielen und Methoden abdruckte. Vgl. »Les deux méthodes«, Le Réveil, 22.6.1912, Jg. 10, Nr. 335, S. 1. Die als »soi-disant anarchistes« apostrophierten Anarcho-SyndikalistInnen, wurden schließlich auf eine Stufe gestellt mit bürgerlichen und konservativen Kräften. Grund dafür war die artikulierte Uneinigkeit in Bezug auf die Rolle der sozialen Revolution, der von anarcho-kommunistischer Seite sehr viel Gewicht zugestanden wurde. Vgl. L.B., »Propagande contre-révolutionnaire«, Le Réveil, 18.1.1913, Jg. 14, Nr. 350, S. 1. 690 | Angebunden wird die Kritik an die Schaffung von genossenschaftlichen Kooperativen, die von anarcho-sozialistischer Richtung angepriesen wurden als erste Schritte, das herrschende (Wirtschafts)System auszuhebeln. Vgl. G.H., »Les réalisations pratiques«, Le Réveil, 9.4.1904, Jg. 5, Nr. 98, S. 1. 691 | J.W., »A propos de Coopératives«, Le Réveil, 1.2.1913, Jg. 14, Nr. 351, S. 3. Dt.Ü.: »Handel und Sozialismus sind zwei gegensätzliche Begriffe. Sie repräsentieren sogar vollkommen verschiedene Zivilisationen. Davon sollte man sich überzeugen und dann wählen.« 692 | L.B., »A propos d’une Coopérative«, Le Réveil, Jg. 9, Nr. 278, S. 3. Dt.Ü.: »Ich weiß sehr gut, dass die Kooperation dem Reformismus wunderbar gedient und eine gewisse Anzahl an Posten geschaffen hat, an denen Korruption ganz so wie von staatlicher Seite ausgeübt werden kann [...] Ach! Zu viele Arbeiter folgen dem Sozialismus, dem Syndikalismus oder dem Kooperatismus bloß, um das Werkzeug niederzulegen und... Beamter zu werden... oder, andernfalls, bescheidener, Brotlieferant.« Vgl. auch J.W., »Au sujet des coopératives«, Le Réveil, 13.5.1911, Jg. 10, Nr. 306, S. 4. Knapp zwei Jahre später hielt derselbe Autor konzis fest: »On aboutit toujours à ceci: que la coopération implique la conciliation de classes, la concurrence capitaliste, les intérêts de petits actionnaires, une morale de consommateurs et non pas de petits actionnaires, un enlisement commercial, un éloignement de la lutte

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

Ein weiterer Mechanismus der Identitätskonstitution ist in Traditionalismen zu finden, also in der Nutzung vergangener Ereignisse zu Schaffung und Unterhalt von kollektiver Identität. So wurden der 18. März für die Pariser Kommune ebenso wie der 1. Mai oder der 11. November für die Haymarket-Unruhen in Chicago zu bewegungseigenen Gedenktagen geschrieben.693 Damit wurde die eigene Bewegung retrospektiv in Kongruenz mit den Zielen dieser Ereignisse gebracht. Mit ostentativ hereditärem Bezug hieß es beispielsweise im Rückblick auf die Geschichte der Pariser Kommune: »Trente ans se sont écoulés; [...] l’idée de transformation sociale a envahi le monde et le capitalisme a un ennemi, attaché à ses flancs, qui ne lâchera sa prise que lorsqu’il aura touché terre.«694 Beim 1. Mai wurde die traditionalistische Rückbindung besonders deutlich. Nicht der Tag als solcher wurde gefeiert und damit gewissermaßen zum gemeinschaftlichen Ritual geschrieben, sondern eine Brücke über den Feiertag hinweg zum 1. Mai als Kampftag wurde geschlagen, was ihn letztlich weit engmaschiger in die kollektive Geschichte einwob und die Gemeinschaft so als authentische und legitime Erbverwalterin dessen inszenierte.695 Diese identitätskonstituierende Kommemorationskultur nahm sich nicht nur bereits damals vergleichsweise historischer Daten an. Auch der Tag der Niederschlagung des russischen Aufstandes am 22. Januar 1905 wurde umgehend zur Gemeinschaftsbildung verwendet.696 Neben diesen intellektuellen Anbindungen, révolutionnaire.« (J.W., »Toujors les Coopératives«, Le Réveil, 15.3.1913, Jg. 14, Nr. 354, S. 2) Dt.Ü.: »Es kommt sich immer aufs Gleiche heraus: Die Kooperation impliziert Klassenaussöhnung, kapitalistische Konkurrenz, Interessen der Kleinaktionäre, eine Moral von Konsumenten und eben nicht von Kleinaktionären, kommerzielle Stockungen, das Entfernen vom revolutionären Kampf.« 693  |  Die folgenden Zitate sind exemplarisch. In jedem Jahrgang finden sich größere Beiträge traditionalistischen und kollektiv kommemorativen Zuschnitts zu diesen Themen. 694  |  Vgl. Nemor, »Le 18 Mars 1871«, Le Réveil, 16.3.1901, Jg. 2, Nr. 6, S. 1. Dt.Ü.: »Dreißig Jahre sind vergangen; [...] der Gedanke des sozialen Wandels hat die Welt erobert und der Kapitalismus hat einen Feind an seiner Seite gefunden, der ihn erst wieder loslassen wird, wenn er am Boden liegt.« 695  |  Verstärkt wurde dies durch einen zeitgleich angestrengten Framing-Prozess gegenüber der Sozialdemokratie, die den 1. Mai zu einem zahnlosen und gesetzlich abgenickten Feiertag gemacht hätte, zu einer »fête champètre«, anstatt seinen Generalstreikscharakter zu pflegen. Vgl. Le Groupe du RÉVEIL SOCIALISTE-ANARCHISTE, »Premier Mai«, Beilage zu Le Réveil, 27.4.1901, Jg. 2, Nr. 9. Ins gleiche Kapitel geht der Wiederabdruck eines Communiqués der zum Tode verurteilten Anarchisten Chicagos, das diese am 11.11.1887 am Tage ihrer Hinrichtung veröffentlichten. Bemerkenswert ist in traditionalistischer Hinsicht die vom Le Réveil hinzugefügte Schlussformel »Bourgeois et prolétaires, souvenez-vous!« (Zisly, Henri, »Assassins et Justiciers!«, Le Réveil, 9.11.1901, Jg. 2, Nr. 23, S. 2). Dass diese Identitätspolitik durchaus aktiv betrieben wurde, zeigt ein Memorial an den 11. November 1887 im Le Réveil des 7.11.1903: »Oui, notre culte des morts se confond avec le culte de l’action elle-même; il ne nous inspire aucun désir de paix, mais la passion de nouvelles batailles.« (L.B., »11 novembre 1887«, Le Réveil, 7.11.1903, Jg. 4, Nr. 87, S. 1). 696 | Vgl. G.H., »22 Janvier 1905«, Le Réveil, 20.1.1906, Jg. 6, Nr. 157, S. 1. Ganz im Gegensatz zur Revolte brachte der Le Réveil der im Nachgang etablierten parlamentarischen Ordnung und ihren Parteien in Russland keinerlei Sympathien entgegen. Besonders an den Revolutionären Sozialisten wurde kein gutes Haar gelassen, da sie die anarchistischen Ma-

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wurden traditionalistische Identitätskonstitutionen zuweilen durch Kommemorationsfeiern um eine gesellige Komponente erweitert.697 Der so geartete Unterhalt der Gemeinschaft dürfte dabei von großer Wirkungsmacht gewesen sein. Durch die geschaffene physische Realität von Gemeinschaft konnte mehr als nur die abstrakte, analysierende Seite der Bewegten angesprochen werden: Das vornehmlich kephale Gemeinschaftsgefühl konnte so zumindest im Potenzialis durch den festiven Rahmen der Kommemorationsfeiern ins Gegenständliche transzendiert werden.698 Dass die identitätskonstituierenden Elemente nicht immer eindeutig sein müssen und sich trotz ihrer einenden Funktion auch widersprechen können, zeigt sich an den produktiven kontradiktorischen Identitätskonstitutionsmechanismen. So fand das Nationale im Le Réveil nicht nur als negatives Hypergut statt, das dezidiert als Nicht-Ziel vermittelt wurde. In kontradiktorischer Manier wurden auch nationale Mythen rekuperiert, um aus ihnen heraus positive Querbezüge auf Mitglieder der Gemeinschaft zu konstruieren. Konkret wurde in der Beilage der Ausgabe zum Prozess gegen den Attentäter Gaetano Bresci ein Querbezug zum Tell-Mythos konstruiert, womit dessen Akt aufgewertet werden sollte. Unter dem Titel »A la gloire de Guillaume Tell« hieß es: »Nous pouvons hautement affirmer que les insurgés de tout temps et de tout pays sont de la même famille, que les rebelles de partout sont les fils de Guillaume Tell bien autrement que les bureaucrates du palais fédéral qui se solidarisent avec le tzar et même avec cette bête sanglante qu’on appelle le sultan. [...] Cet homme fut fort et la Suisse fut libre par la grâce d’une flèche régicide. Tell l’Assassin fut le révolté contre les autorités et les lois d’alors, il fut le vengeur et le justicier d’anonymes souffrances; Gessler [...] était le représentant officiel du crime couronné, de l’Autorité sous toutes ses formes multiples. Tell revendiquait le droit à la liberté et à la vie; dans les montagnes de l’Helvétie une révolution répondait à l’acte de régicide.« 699 ximalisten und ihre Taten während der Revolte in Anspruch nahmen, sich nun aber von ihnen und ihren Ideen distanzierten. Vgl. G.H., »Que veulent-ils donc?«, Le Réveil, 8.9.1906, Jg. 6, Nr. 183, S. 1, und »Pour la Russie«, Le Réveil, 22.9.1906, Jg. 6, Nr. 184, S. 1-2. 697  |  Vgl. mustergültig die identitätskonstitutive Aufzählung und in Beziehungssetzung von gewaltsam niedergeschlagenen Streiks in »Un anniversaire«, Le Réveil, 7.10.1905, Jg. 6, Nr. 143, S. 1. 698  |  Die Kommemorationsfeier für die Pariser Kommune am 18.3.1902 oder die Feier des 100. Geburtstages von Michail Bakunin dienten etwa diesem Zweck. Vgl. den Hinweis darauf in »Chronique genèvoise: Le Réveil«, Le Réveil, 1.2.1902, Jg. 3, Nr. 42, S. 2 resp. den Hinweis zur »Commémoration du centenaire de la naissance de Michel Bakounine«, Le Réveil, 16.5.1914, Jg. 15, Nr. 384, S. 1. 699  |  N’importe-qui, »A la gloire de Guillaume Tell«, Le Réveil, 8.9.1900, Jg. 1, Supplement au Nr. 5, S. 1. Dt.Ü.: »Wir können vollends behaupten, dass die Aufständigen aller Zeiten und aller Länder der gleichen Familie angehören, dass die Rebellen allerorts Söhne des Wilhelm Tell sind, und sich sehr von den Bürokraten des Bundeshauses unterscheiden, die sich mit dem Zaren solidarisieren und sogar mit diesem blutrünstigen Tier, dass man Sultan nennt. [...] Dieser Mann war stark und die Schweiz wurde durch die Gunst eines Pfeils befreit, der einen König tötete. Tell der Mörder revoltierte gegen die Autorität und die Gesetze von damals, er war der Rächer anonymer Qualen; Gessler [...] war der offizielle Repräsentant des

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Nur ein Artikel später wurde in derselben Beilage der Patriotismus als negatives Hypergut vermittelt 700, das mit der traditionalistischen Rekuperation des Nationalen ein kontradiktorisches Konstitutionselementenpaar darstellt. Die Rekuperation des Nationalen trat in verschiedenen Formen respektive im Rahmen verschiedener nationalistischer Narrationen auf. In einem anderen Beitrag findet sich neben dem Tell-Mythos ein ganzes Sammelsurium mythologisch stilisierter Ereignisse, die für gewöhnlich in der nationalistischen und patriotischen Identitätskonstitution verwertet werden: »Journée de Morgarten, où deux mille confédérés écrasèrent, sous des blocs de rochers, six mille Autrichiens, brillants d’acier, la fleur de la noblesse. Mort héroïque de Winkelried, montrant aux serfs comment il faut savoir mourir pour s’affranchir. Partout, à Näfels, aux Grisons, à St-Jacques, le peuple suisse a humilié et vaincu les grands seigneurs, les empereurs tout puissants. Partout la République hélvétique a brisé les couronnes sur les crânes des royautés d’europe, et à Morat elle fit un ossuaire pour rappeler aux princes qu’il est dangereux de menacer la liberté [...]«, wurden anarchistische Wurzeln der Schweiz imaginiert, auf die sich die Gemeinschaft bezog, wenn es wenig später hieß: »[J]e songeais aux nouveaux insurgés, dignes de Waldstaetten qui viseront de leurs armes infaillibles la société capitaliste, religieuse et militaire.« 701 Auch auf dieses Beispiel nationalistischer Rekuperation folgte ein Artikel antipatriotischen Zuschnitts, der identitätskonstituierende Mechanismen, wie unter anderem die Imagination einer gemeinsamen Vergangenheit – die von der Gemeinschaft im Rahmen der Rekuperation des Nationalen just selbst bemüht wurden – anklägerisch enthüllend hervorhob und als negatives Hypergut vermittelte.702 Die Selbstbezeichnung mit Anarchie-Begriffe war allgegenwärtig im Le Réveil und ihr kann konstitutives Potenzial für das kollektive Selbst zugerechnet werden, zumal diese Bezeichnungspraxis bestehende Deutungsmuster der Begriffe selbstbewusst und bewusst durchkreuzte und so eine widerständige Alternative schaffte, in der die Gemeinschaft sich verortete. Nicht nur, aber auch im ersten identitätskons-

gekrönten Verbrechens, der Autorität in ihren zahlreichen Formen. Tell forderte das Recht auf Freiheit und Leben; in den Bergen Helvetias antwortete eine Revolution auf den Königsmord.« 700  |  Vgl. Bornand, H., »Patriotisme... !«, Le Réveil, 8.9.1900, Jg. 1, Supplement au Nr. 5, S. 2. Vgl. dahingehend auch Sansfétiche, »Salut au drapeau«, Le Réveil, 13.10.1900, Jg. 1, Nr. 8, S. 2, wo die Kritik am Patriotismus an einem seiner zentralen Symbole vorgenommen wird: der Flagge. 701 | Dejacques, J., »Toast qui ne sera pas porté au Tir fédéral de 1901«, Le Réveil, 6.7.1901, Jg. 2, Nr. 14, S. 1. Dt.Ü.: »Der Tag von Morgarten, an dem 2000 Eidgenossen 6000 stahlglänzende Österreicher, die Blüte des Adels, unter Felsbrocken begruben. Der Heldentod von Winkelried, der den Knechten zeigte, dass man sterben können muss, um frei zu sein. Allerorts, in Näfels, Graubünden, St. Jakob, hat das Schweizer Volk die großen Fürsten, die allmächtigen Kaiser niedergezwungen und besiegt. Allerorts hat die Helvetische Republik die Kronen auf den Häuptern der Königshäuser Europas zerschmettert und in Murten stellte sie die Gebeine aus, um den Prinzen ins Gedächtnis zu rufen, wie gefährlich es ist, die Freiheit zu bedrohen [...] Ich dachte an die neuen Aufständigen, eines Waldstätten würdig, die mit ihren unfehlbaren Waffen auf die kapitalistische, religiöse und militärische Gesellschaft zielen werden.« 702  |  Vgl. J.W., »Le néant du patriotisme«, Le Réveil, 20.7.1901, Jg. 2, Nr. 15, S. 1.

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tituierenden Leitartikel wurde die Selbstbezeichnung »nous libertaires«703, oder, häufiger, »anarchistes« 704 verwendet. Anarchie-Begriffe werden im Le Réveil nicht nur wertfrei, sondern positiv konnotiert und regelmäßig zur Selbstbezeichnung eingesetzt, auch und gerade in Zeiten verschärfter Repression.705 Mehrere Beiträge zeugen zudem von Bemühen um eine Rehabilitatierung von Anarchie-Begriffen.706 Unregelmäßig wiederkehrende Chansons-Texte schließlich sowie die Anpreisung von Gesangsbüchlein können als Hinweis auf die Wichtigkeit von gemeinsam memorierten und gesungenen Liedern, also der Schaffung kollektiver Momente abseits von Traditionalismen für die kollektive Identität gedeutet werden.707 Für die Konstitution von Aspekten und Teilbereichen kollektiver Identität wurde im Le Réveil überaus häufig die Fremdwahrnehmung bemüht. Zahlreiche Zeitungen und ihre Berichterstattungen über Anarchie, AnarchistInnen und Anarchismus wurden auszugsweise zitiert und identitätskonstituierend kommentiert.708 So wurden etwa die Hypergüter Presse, Rede- und Denkfreiheit vermittelt durch das Zitieren bürgerlicher, liberaler oder sozialdemokratischer Quellen, die selbige für AnarchistInnen beschnitten sehen wollten. Identitätskonstituierend wirkte in diesem Sinne die Neue Zürcher Zeitung, als sie das Verbot eines anarchistischen Kongresses in Lausanne forderte. Das bescherte ihr kurzerhand den Titel »organe du Procureur fédéral« und katalysierte eine Affirmation des Hyperguts der Assoziationsfreiheit.709 Ein anderes Beispiel für die katalytische Wirkungsmacht der Fremdwahrnehmung ist der Artikel »Les fortes paroles de M. Wullschleger« 710. Eine sozialdemokratische Verlautbarung wurde als Diffamierung der Gemeinschaft kolportiert, woraufhin ein eigentlicher Reigen an identitätskonstitutierenden Mechanismen folgte, beginnend bei Framing-Prozessen zu SPS hin: »Ce sont ces chercheurs d’alliance avec les bourgeois qui viennent hypocritement dire que les anarchistes fournissent des forces aux capitalistes; ce sont ces gens, qui ne sont entrés dans les parlaments qu’avec l’Appui des pires réactionnaires et qui ont parfaitememnt laissé confectionner par leurs alliés, en les y aidant même par leur silence, des lois répressives, 703  |  Dubois, Octave, »Principes«, Le Réveil, 7.7.1900, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 704 | G.H., »Socialistes-anarchistes«, Le Réveil, 28.12.1901, Jg. 2, Nr. 27, S. 1. 705  |  Vgl. etwa L.B., »La carotte«, Le Réveil, 16.9.1900, Jg. 1, Nr. 6, S. 1: »Les anarchistes doivent respecter la propriété des gouvernants, mais ceux-ci peuvent à tout instant violer la nôtre.« Dt.Ü.: »Die Anarchisten sollen das Eigentum der Regierenden respektieren, aber diese können sich jederzeit an unserem vergehen.« 706 | Vgl. stellvertretend B.T., »Chronique vaudoise: Ignorance ou mauvais foi«, Le Réveil, 29.9.1900, Jg. 1, Nr. 7, S. 2, oder auch »Chronique vaudoise: Inexactitude«, Le Réveil, 10.11.1900, Jg. 1, Nr. 10, S. 2. Vgl. auch Ranc, A., »Anarchie«, Le Réveil, 10.11.1900, Jg. 1, Nr. 10, S. 1, der eine inhaltlich-philosophische Berichtigung vornahm. 707  |  Vgl. zur performativen Kraft anarchistischen Liedguts für anarchistische Identitäten Manfredonia, Chansons et identité libertaire, und Manfredonia, Libres! Toujours. 708  |  Die beiden Rubriken »Chronique vaudoise« und »Chronique genèvoise« sind ebenso gespickt mit aus der Sicht des Le Réveil verzerrenden und/oder fehlerhaften Berichterstattungen wie einzelne längere Artikel mit Fremdwahrnehmungen angerissen werden. Vgl. die besagten Rubriken in Le Réveil, 18.8.1900, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 709 | »Toujours elle!...«, Le Réveil, 18.8.1900, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 710  |  »Les fortes paroles de M. Wullschleger«, Le Réveil, 8.6.1901, Jg. 2, Nr. 12, S. 1.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse qu’ils savaient être dirigées contre nous, qui viennent aujourd’hui nous accuser d’avoir fourni un mobile à cette réaction et d’avoir désorganisé la classe ouvrière.«711

Ein Hinweis darauf, wie stark nicht zuletzt die sozialdemokratische Fremdwahrnehmung die kollektive Identität zu prägen vermochte, zeigt eine Einleitung zu einem Zweitabdruck eines Artikels von Michail Bakunin: »C’est d’abord une excellente réponse à ceux qui persistent à ne voir en nous que les ›enfants terribles de l’individualisme bourgeois‹; c’est ensuite la preuve que nous n’avons pas été convertis au syndicalisme, mais que celui-ci représente tout simplement, dans ce qu’il a de meilleur, notre vieille conception du mouvement social.«712

Dem wiederkehrenden Vorwurf aus sozialdemokratischen Reihen, der Bourgeoisie zu entspringen, wurde mit einem heroisierenden Rückbezug auf Bakunin begegnet. Auch das Rezitieren und anschließende Korrigieren der Fremdwahrnehmung in der Richtung der Selbstwahrnehmung findet sich regelmäßig im Le Réveil.713 Die kolportierte Fremdwahrnehmung übernahm damit affirmierende Funktionen als Trigger der Vermittlung von Hypergütern der Gemeinschaft.714 Neben den Fremdwahrnehmungen figurierten Tagesaktualitäten als Katalysatoren der Identitätskonstitution. So wurde beispielsweise der Vorstoß der sozialdemokratisch ausgerichteten Luzerner ›Grütlianer‹, ein Stimmobligatorium einzuführen, dazu benutzt, einerseits diese Zwangsmaßnahme (»cette mesure coercitive«) und andererseits Parlamentarismus und Parteipolitik als solches als negative Hypergüter zu inszenieren.715 Als spezifische Form von Tagesaktualitä711  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Es sind die, die Allianzen mit den Bourgeois suchen, die heuchlerisch erzählen, die Anarchisten versorgten die Kapitalisten mit neuen Kräften; es sind Leute, die nur mit der Unterstützung der schlimmsten Reaktionäre ins Parlament gekommen sind und die ihre Verbündeten vollkommen unbehelligt und mit unterstützendem Schweigen haben repressive Gesetze entwerfen lassen, von denen sie wussten, dass sie gegen uns gerichtet waren, die uns heute beschuldigen, dieser Reaktion ein Motiv geliefert und die Arbeiterklasse desorganisiert zu haben.« Vgl. für dieses Vorgehen auch exemplarisch L.B., »Gens de chrèche«, Le Réveil, 23.11.1901, Jg. 2, Nr. 24, S. 1. 712 | Einleitung zu »Organisation de l’internationale«, Le Réveil, 24.2.1912, Jg. 10, Nr. 326, S. 4. (i.O. ist der ganze Einleitungsabschnitt kursiv gedruckt) Dt.Ü.: »Es ist erstmal eine hervorragende Antwort an diejenigen, die darauf bestehen, in uns nur die ›Enfants terribles des bürgerlichen Individualismus‹ zu sehen; weiterhin ist es der Beweis, dass wir nicht zum Syndikalismus konvertiert sind, sondern dass dieser ganz einfach in seinen besten Aspekten unsere alte Vorstellung der Sozialen Bewegung darstellt.« 713  |  Vgl. etwa D.B., »Le Dr Wyss et la Grève générale«, Le Réveil, 25.4.1903, Jg. 4, Nr. 73, S. 1-2 oder O., »Rêveurs«, Le Réveil, 29.8.1903, Jg. 4, Nr. 83, S. 2. 714  |  Nicht nur die gedruckte Fremdwahrnehmung in Form von Zeitungsbeiträgen, sondern auch die aufgeschnappte verbal geäußerte öffentliche Meinung funktionierte katalytisch. Vgl. dazu den Artikel »Le Travail«, der mit der Schilderung von dahingehenden »objections de nos adversaires« beginnt, um schließlich utopische Hypergüter über die Organisation von Arbeit in der Anarchie zu vermitteln. Vgl. Perdican, L., »Le Travail«, Le Réveil, 24.11.1900, Jg. 1, Nr. 11, S. 1. 715  |  Vgl. G.H., »Vote obligatoire«, Le Réveil, 16.9.1900, Jg. 1, Nr. 6, S. 1.

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ten wirkten auch anarchistische Ereignisse katalytisch. Am auffälligsten ist dies in den Hintergrundberichten zu anarchistischen Attentaten, die Raum freibrachen für die Vermittlung von Hypergütern und/oder für Framing-Prozesse, die in der konstitutiven Intensität freilich variierten.716 Die Silvestrelli-Affäre etwa, die der Le Réveil sehr spät aufgriff, obschon er sie verursachte, führte zur Bestärkung der (vagen) Positionen bezüglich der Anwendung von Gewalt im revolutionären Prozess, respektive um diesen in Gang zu bringen.717 Dem Sprengstoffattentat von Carlo Machetto in der Nacht vom 21. auf den 22.12.1902 auf eine Kirche in Genf hingegen wurde wenig Beachtung geschenkt. In einer ersten knappen Reaktion auf eines der wenigen in der Schweiz begangenen anarchistischen Attentate im Fin de Siècle dominierte die Empörung ob der bürgerlichen Vorverurteilung aller AnarchistInnen.718 Identitätskonstituierende Elemente lassen sich auch in der zweiten, ausführlicheren Beschäftigung mit dem Thema nur in Gestalt von Framing-Prozessen gegenüber der Politischen Polizei ausmachen, der Mauscheleien und die gezielte Verbreitung von Falschinformationen vorgeworfen wurde.719 Die Verschärfung der Anarchistengesetze der Schweiz, die ab 1904 vorbereitet und 1906 eingeführt wurden, wirkte ebenfalls katalytisch. Die Erweiterung wurde von der Gemeinschaft als Ansporn verstanden, mit der Propaganda auf dem richtigen Weg zu sein und diesen weiter zu beschreiten: »Il est évident que ce texte [gemeint ist die Erweiterung, d.V.] ne pourra s’appliquer qu’au Réveil ou à toute autre publication anarchiste, et messieurs les journalistes de l’ordre n’ont plus rien à craindre! Faire une loi pour un unique journal [...] montre à quel point les gouvernants craignent notre propagande. C’est le comble de la peur, de la bêtise et de la canaillerie tout à la fois! [...] Le nouvel article 48 bis ne changera rien à notre façon de penser ni d’exprimer notre pensée.«720 716  |  Vgl. exemplarisch einen Artikel zum Attentat des Anarchisten Leon Czolgosz auf den US-amerikanischen Präsidenten William McKinley am 4.8.1901 in G.H., »Les causes«, Le Réveil, 28.9.1901, Jg. 2, Nr. 20, S. 1. 717  |  Vgl. L.B., »La Rupture«, Le Réveil, 26.4.1902, Jg. 3, Nr. 48, S. 1-2. 718  |  Vgl. »Beaucoup de bruit pour rien«, Le Réveil, 3.1.1903, Jg. 4, Nr. 65, S. 2. 719 | Der anfängliche Framing-Prozess gegenüber der Sozialdemokratischen Presse schwächte sich bald ab. Grund für die Demarkation war ein Artikel in der SP-Zeitung Volksrecht, die sich auf eine Falschinformation in einem Polizeicommuniqué stützte und die These (mit)vertrat, dass der Le Réveil das Attentat als Racheakt interpretierte. Das ursprüngliche polizeiliche Communiqué verhieß im Wortlaut: »[L]e Réveil [...] dit que c’est une vengeance contre les procédés du gouvernement genevois à L’Égard des travailleurs pendant la Grève générale.« (G.H., »Cette affaire n’est pas claire«, Le Réveil, 17.1.1903, Jg. 4, Nr. 66, S. 2). Dt.Ü.: »[D]er Le Réveil [...] sagt, dass es sich dabei um einen Vergeltungsakt für das Vorgehen der Genfer Regierung gegenüber den Arbeitern während des Generalstreiks handele.« Im selben Beitrag wurde der Framing-Prozess zur Sozialdemokratie hin per Fußnote relativiert, indem auf eine im Volksrecht des 14.1.1903 publizierte Berichtigung verwiesen wurde. Der dritte und vierte Beitrag zum Thema reaffirmierten hingegen den Framing-Prozess zur Politischen Polizei hin. Vgl. »???«, Le Réveil, 31.1.1903, Jg. 4, Nr. 67, S. 1, und »La Comédie est finie«, Le Réveil, 11.4.1903, Jg. 4, Nr. 72, S. 1. 720  |  L.B., »Contre les Anarchistes«, Le Réveil, 23.4.1904, Jg. 5, Nr. 99, S. 1. Dt.Ü.: »Es ist eindeutig, dass dieser Text nur auf den Le Réveil oder jegliche andere anarchistische Zeitung

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Das anarchistische Ereignis der vereitelten Befreiung des polnischen Anarchisten Georg Kilaschitzky im Juni 1907 mittels Bombenanschlag auf die Zürcher Polizeikaserne wirkte ebenfalls katalytisch und evozierte vornehmlich Framing-Prozesse gegenüber der Sozialdemokratie.721 Demgegenüber sind auch anarchistische Ereignisse zu verzeichnen, die nicht oder kaum katalytisch wirkten. Die Kurznotiz zur Weckruf-Untersuchung – immerhin der zweitgrößten Durchleuchtung des anarchistischen Milieus in der Schweiz seit 1885 – barg kaum Identitätskonstituierendes.722 Auch die Verurteilung von Magarethe Hardegger-Faas wegen Meineids in der Kilaschitzky-Befreiung wurde nur in einer Kurznotiz verhandelt. Wohl wurde darin der Begriff ›justice‹ in Anführungszeichen gesetzt und dessen Relevanz für die Gemeinschaft infrage gestellt. Zu anderen identitätskonstituierenden Momenten kam es aber in diesem Zusammenhang nicht.723

4.4.6.2 Zusammenfassung Kollektive Identität wurde in der Genfer Zeitung Le Réveil mit verschiedenen Mechanismen konstruiert, konstituiert und affirmiert. Über die größte Wirkungsmacht verfügten diverse Framing-Prozesse. Durch Demarkationen des Selbst von – allen voran – der Sozialdemokratie, ferner aber auch von professionellen Gewerkschaften, von der Bourgeoisie und der Classe Politique wurde im Le Réveil das ›Wir‹ maßgeblich geformt. Auch innerhalb der anarchistischen Bewegung fand das ›Wir‹ Raum, sich über die Differenz zu formen. Mit subidentitären FramingProzessen schloss die Gemeinschaft gleichzeitig aus und ein und gewann dadurch an identitärem Profil. Produktiv an der Ausgestaltung der kollektiven Identität war auch die Vermittlung von positiven und negativen Hypergütern beteiligt. Nicht nur, aber sehr häufig auch trat sie in Replik auf Fremdwahrnehmungen auf und fand Eingang als identitätskonstituierender Mechanismus in der langlebigsten anarchistischen Zeitung der Schweiz. Daneben finden sich auch kontradiktorische Identittätskonstitutionen, die auf der einen Seite mit Akten der Rekuperation des Nationalen Identitätspolitik betrieben, die andererseits und oft im gleichen Atemzug Nationalismus und Nation als negatives Hypergut anführten. Auch in anderer Form leisteten Traditionalismen einen wesentlichen Beitrag an Schaffung und Unterhalt der kollektiven Identität im Le Réveil. Wurde mit kollektiven Kommemorationen vornehmlich auf kephaler Ebene Gemeinschaft geschaffen, indem historische Ereignisse in die eigene kollektive Geschichte eingeschrieben wurden, halfen des Öfteren durchgeführte Kommemorationsfeiern diese nun eigene Vergangenangewandt werden kann, und die Herren Journalisten Ordnungshüter haben nichts mehr zu befürchten! Dass ein Gesetz für eine einzige Zeitung gemacht wurde [...] zeigt wie sehr die Regierenden unsere Propaganda fürchten. Es ist die Spitze der Angst, der Dummheit und der Gemeinheit zugleich! [...] Der neue § 48b ändert rein gar nichts an unserer Denkweise oder daran, wie wir ihr Ausdruck verleihen. Vgl. auch Joris, »Un Joyaux«, Le Réveil, 3.2.1906, Jg. 6, Nr. 158, S. 1. 721  |  Vgl. »La bombe de Zurich«, Le Réveil, 22.6.1907, Jg. 8, Nr. 205, S. 1. 722  |  Es wird lediglich in emotionalisierender Absicht auf das angebliche Alkoholproblem des Bundesanwalts Kronauer hingewiesen. Vgl. L.B., »Arrestations d’anarchistes à Zurich«, Le Réveil, 29.7.1905, Jg. 6, Nr. 133, S. 1. 723  |  Vgl. »Notes en marge: Une condamnation«, Le Réveil, 15.5.1913, Jg. 14, Nr. 358, S. 3.

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heit mit der Erfahrungswelt der Gegenwart zu verknüpfen. Dazu wurde ein mit der Bereitstellung eines geselligen Rahmens der Raum eröffnet, Geschichte von einer abstrakten auf eine physische Ebene zu transzendieren und so erlebbar zu machen. Der unregelmäßige Abdruck von Chansons-Texten kann in ähnlicher Weise als Anleitung zu einer Inkorporation von anarchistischen Inhalten ins tägliche kollektive Leben verstanden und damit als Mechanismus zu Stärkung und Unterhalt der kollektiven Identität erachtet werden. Im Unterschied zu den Kommemorationsfeiern spielten diese im Le Réveil allerdings eine untergeordnete Rolle. Als Katalysatoren zeigten sich neben den eingangs bereits erwähnten Fremdwahrnehmungen vornehmlich anarchistische Ereignisse und Tagesaktualitäten für identitätskonstituierende Momente und Mechanismen verantwortlich. Entgegen dem von 1900-1913 in der Kopfzeile geführten Untertitel‚socialisteanarchiste‹ ist die kollektive Identität, die im Le Réveil konstruiert, konstituiert und affirmiert wurde als anarcho-kommunistisch zu bezeichnen. Für eine solche Kategorisierung sprechen die vermittelten Hypergüter, die von jeglicher Anteilnahme am herrschenden System Abstand nahmen. Jegliche Amelioration in politischer oder gewerkschaftlicher Hinsicht wurde in der Sinn- und Weltdeutung des Le Réveil als Konzession an den Status quo verstanden und dementsprechend verurteilt. In der Folge nahmen Distanzierungen sowohl gegenüber der Sozialdemokratie, als auch gegenüber politisch agitierenden, autoritär-sozialistisch ausgerichteten Gewerkschaften in der kollektiven Identität, die im Le Réveil geformt und affirmiert wird, großen Raum ein. In positiver Hinsicht lässt sich die Gemeinschaft als dezidiert antiautoritär, antireligiös, antimilitaristisch, antipatriotisch und internationalistisch skizzieren, wenngleich das Nationale auch dazu verwendet wurde, das kollektive Selbst mit einem ur-schweizerischen Sockel zu unterlegen. Eine dahingehende Wortwahl konnte kein Zufall sein, da eine solche Praxis als Versuch gelesen werden musste, gegen außen dem Vorurteil beizukommen, dass die anarchistische Bewegung der Schweiz wesentlich von AusländerInnen bestellt würde, um so der impertinenten Xenophobie der Zeit nicht in die Hände zu spielen. Mittel und Methoden zur Erreichung der sozialen Revolution fand die Gemeinschaft einerseits in der Auf klärung der ArbeiterInnen und der Bildung der Kinder an freien, modernen Schulen, andererseits in der Direkten Aktion, namentlich im sozialen Generalstreik, im Boykott und in der Sabotage, die selbst ergriffen und durchgeführt werden sollten. Die Propaganda der Tat, ursprüngliches Steckenpferd der anarcho-kommunistischen Strömung der späten 1870er und der frühen 1880er Jahre, wurde zwar nicht direkt als zentrale Methode zur Erreichung des großen Fernziels der Anarchie angepriesen. Mehr oder weniger deutlich sind jedoch Sympathien zwischen den Zeilen zu erkennen. Dies unterstreicht die Absenz jeglicher Verurteilungen dieser Form der Direkten Aktion auf und zwischen den Zeilen des Le Réveil. Entgegen den klaren Prinzipien und der Radikalität, mit der die Gemeinschaft ihre Werte, Ziele und Methoden propagierte, lässt die diachrone Sichtweise auch ihr Bemühen erkennen, die Zeichen der Zeit zu lesen, mit ihnen zu arbeiten und sie zu inkorporieren, sodass die kollektive Identität in bestimmtem Maße wandelbar und undeterminiert erscheint. Die Debatten, welche die Seiten des Le Réveil wiederholt füllen, vermitteln auf den ersten Blick eine heterogene Gemeinschaft. Tatsächlich bietet die Redaktion immer wieder Platz für Repliken auf ihre Artikel, allerdings stammen diese für

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gewöhnlich nicht von regelmäßigen Kontributoren724. Des Weiteren werden Gastbeiträge in der Regel umgehend von Redaktionsmitgliedern angefochten, sodass im Gegenteil zur Aspiration eine in ihren Kernzügen relativ homogene Gemeinschaft in der Redaktion angenommen werden kann. In diachroner Betrachtung lässt sich hingegen Wandel erkennen. Der augenfälligste betrifft die Agitation im Gewerkschaftsmilieu. Lieferten die ersten sieben Jahrgänge, vor allem aber die Jahre 1905 und 1906 begeisterte Voten für die gewerkschaftliche Arbeit an sich und die Mitarbeit der anarchistischen Bewegung in ihr, so drehte sich die Stimmung 1907. Zunächst zögerlich wurde ab 1909 offen gegen anarcho-syndikalistische Agitation angeschrieben und subidentitäre Framing-Prozesse wurden zur Regel. Grund dafür war die vermehrte Bereitschaft von Anarcho-SyndikalistInnen sich immer mehr auf Ameliorationen einzulassen, was in anarcho-kommunistischer Optik kontraproduktiv war für die Erreichung des Ziels einer Massenmobilisierung für die soziale Revolution. In anderen Punkten, etwa dem Antimilitarismus sind lediglich Konjunkturen auszumachen mit Spitzen um 1904 und dann ab anfangs 1913 wieder, als sich Europa in nationalistischer Überhitzung auf den Ersten Weltkrieg hinbegeisterte. Die Argumentation des anarchistischen Antimilitarismus blieb allerdings im Großen und Ganzen dieselbe. Ebenfalls in diachroner Perspektive fällt eine weitere Mutation auf: Führte der Le Réveil von 1900-1913 noch den Untertitel ›socialiste-anarchiste‹, so wandte er sich ab 1913 inhaltlich in subidentitären Framing-Prozessen vermehrt gegen die vor allem im deutschsprachigen Anarchismus populäre Strömung des Anarcho-Sozialismus, die auf Gehversuche in Form von Siedlungen und Genossenschaften im Jetzt auf baute. Punkte des Anstoßes der anarcho-kommunistischen Gemeinschaft waren darin geortete Konzessionen an den Status quo. Diese wirkten letztlich konterrevolutionär, da sie einigen wenigen ein gutes Leben ermöglichten, was diesen die Kampf bereitschaft raubte, für ein für alle geltendes Außerhalb des Systems zu kämpfen, wo erst wirklich alle ein gutes Leben leben könnten. Über die gesamten 14 betrachteten Jahrgänge hinweg finden sich in jeder Ausgabe Beiträge mit identitätskonstituierendem Gehalt. Wie oben bereits erwähnt sind zwar Konjunkturen einzelner Hypergüter auszumachen und damit auch diesbezügliche Verdichtungen. Die Identitätskonstitution als globales Phänomen im Le Réveil wird davon aber weder begünstigt noch beeinträchtigt.

4.4.6.3 Bibliografische Details (1) Le Réveil socialiste-anarchiste (7.7.1900-30.4.1913), Le Réveil communisteanarchiste (1.5.1913-4.1926), Le Réveil Anarchiste (1.5.1926-24.8.1940); (2) Luigi Bertoni; (3) Rue des Savoises 6, Genf (7.7.1900-7.12.1902; 7.11.1903-24.8.1940); M. Rouge, Rue de Coutance 28, Genf (21.12.1902-26.9.1903)725; (4) Genf; (5) 7.7.190024.8.1940; zweiwöchentlich (Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 6, Nr. 129, Jg. 8., Nr. 239 - Jg. 15, Nr. 400 respektive wöchentlich (Jg. 6, Nr. 130 - Jg. 8, Nr. 238, gemäß Angabe in der Kopfzeile; aus Geldmangel wurde auch in dieser Periode immer wieder zweiwöchentlich respektive unregelmäßig publiziert); franz./ital. 2+2 Seiten (Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 9, Nr. 724 | Die männliche Form ist deshalb angezeigt, weil sich in den ersten 14 Jahrgängen kaum von Frauen gezeichnete Artikel finden. 725  |  Redaktionsadressen über meine Betrachtungsperiode hinaus wurden nicht eruiert.

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275; Ausnahme Jg. 7, Nr. 189: 8 Seiten) respektive 4+4 Seiten begleitet von einem Formatwechsel (Jg. 9, Nr. 276; Ausnahme Jg. 14, Nr. 357, italienische Ausgabe: 8 Seiten); (6) Unbetitelte Beilage zu Jg. 1, Nr. 3 (italienisch), Jg. 1, Nr. 5 (kleinformatig); Flugblätter (z.B. 1. Mai 1901, 1903); Beilage »Les Anarchistes aux Électeurs«, Jg. 9, Nr. 267 [Nr. 268]726; Beilage zum 1. Mai 1910, Jg. 9, Nr. 279 (italienisch); (8) Quelque part en Suisse (1940-1946); (9) Schweizerisches Sozialarchiv, Z 41, Zürich (fehlend: Jg. 1, Nr. 1, und Jg. 1, Nr. 3); CIRA, Rf 209GF, Lausanne; (10) Der französischsprachige Teil Le Réveil ist inhaltlich unabhängig vom italienischsprachigen Teil der Zeitung Il Risveglio.727 Zu Beginn der Kriegszeit wurde die Publikation der italienischen Ausgabe Il Risveglio bis zum 1. Mai 1915 ausgesetzt.728 Die Auflage der ersten Nummer betrug 1500729, die der nachfolgenden Nummern in der Regel zwischen 2000 und 3000 Stück.730 Kurz nach Kriegsbeginn scheint die Auflage dramatisch zurückgegangen zu sein.731 Der Druck wurde von verschiedenen Druckereien besorgt. Neben einer Vielzahl von Ausgaben ohne jegliche Angabe sind unter anderem die Druckereien ›Imprimérie commerciale‹, die ›Imprimérie V. Reinert‹, die ›Imprimérie spéciale du Réveil’’ und die ›Imprimerie [sic] des Unions ouvrières à base communiste‹ namentlich aufgeführt. Neben längeren essay-artigen und kürzeren, aktualitätsbezogeneren Artikeln finden sich im Le Réveil selten auch Chansons-Texte. Zusätzlich zu eigenen Artikeln sind immer wieder Reprints 726 | Die Beilage ist entweder falsch datiert oder die Nummerierung ist falsch. Am 20.11.1909 erschien der Le Réveil Jg. 9, Nr. 268. Jg. 9, Nr. 267 erschien am 6.11.1909. 727 | Vgl. Bianco, 100 ans de presse anarchiste, Le Réveil socialiste anarchiste, http:// bianco.ficedl.info/spip.php?article1846 (Stand 8.3.2011). 728  |  Bis zur Ausgabe des 22.8.1914 (Jg. 15, Nr. 391) erschienen Le Réveil und der Il Risveglio unter identischer Nummerierung immer am selben Tag. Während die französische Ausgabe auch in der Kriegszeit fortlaufend erschien und entsprechend weiternummeriert wurde (Ausgabe vom 5.9.1914 entspricht Jg. 15, Nr. 392), wurde die Publikation des Il Risveglio ausgesetzt. Mit der Ausgabe des Il Risveglio vom 1.5.1915 (Jg. 15, Nr. 392) wurde die Nummerierung wiedereingesetzt, weswegen der Le Réveil und der Il Risveglio in seinen späteren Jahrgängen nicht synchron nummeriert sind, obschon sie mit der Ausgabe vom 1.5.1915 wieder am jeweils selben Tag erschienen. 729  |  Vgl. »Recondito amministrativo quindicinale«, Le Réveil, 7.7.1900, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Ab Jg. 2, Nr. 14 schwankte die Auflage und bemaß mal 2300 mal 2700, mal 3000 Stück, ehe sie sich mit Jg. 2, Nr. 21 bei 2500 Stück einpendelte. Vgl. »Rendiconto amministrativo quindicinale«, Le Réveil, 12.10.1901, Jg. 2, Nr. 21, S. 4. 730  |  Vgl. »Reconditio amministrativo quindicinale«, Le Réveil, 21.7.1900, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. Die Ausgaben zum 1. Mai wurden i.d.R. in massiv höheren Auflagen gedruckt. 1907 etwa wurde eine Auflage von 7000 Exemplaren für die 1. Mai Nummer ausgewiesen. Vgl. »Reconditio amministrativo settimanale«, Le Réveil, Jg. 8, Nr. 202, S. 2. 731  |  Betrugen die Druckkosten für die Ausgabe vom 18.7.1914 noch CHF 160,- (vgl. »Rendiconto amminitrativo«, Risveglio, 18.7.1914, S. 4), so schlug der Druck für die erste Ausgabe in der Kriegszeit vom 22.8.1914 lediglich mit CHF 35,- zu Buche. Vgl. »Rendiconto amministrativo«, Le Réveil, 22.8.1914, Jg. 15, Nr. 391, S. 4. Diese Nummer enthielt zwar nurmehr 4 Seiten (3+1) entgegen den ab Jg. 9 üblichen 8 Seiten, allerdings lässt sich damit alleine keine Preisdifferenz von 80% erklären. Die aufgeführten Kosten des Postversands brachen parallel dazu um gut 50% ein. Vgl. »Rendiconto amministrativo«, Le Réveil, 22.8.1914, Jg. 15, Nr. 391, S. 4.

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aus anderen, gelegentlich auch nicht-anarchistischen Zeitungen und Zeitschriften zu finden.732 Auch Zweitabdrucke berühmter anarchistischer Theoretiker wie Peter Kropotkin, Errico Malatesta, F. Domela Nieuwnhuis oder Elisée Reclus waren keine Seltenheit. Als Rubriken fungierten »Chronique vaudoise«, respektive »Chronique genèvoise«, die vornehmlich über Anarchistisches oder aber über Berichte über Anarchistisches in den beiden Regionen des Lac Léman berichteten. In der Rubrik »Correspondances« schließlich wurden bewegungsrelevante Kurznachrichten aus dem Ausland verkündet. Der Le Réveil stand unter stetiger Beobachtung der Bundesanwaltschaft, welche die Abonnentenlisten und Vertriebswege sowohl interkantonal als auch international akribisch nachzeichnete.733 Auf bundesanwältliche Anweisung hin kontrollierte die Post nachweislich alle Sendungen des Le Réveil auf Adressaten hin und ließ gewisse Sendungen verschwinden.734 In einer privaten Unterhaltung ließ der Bundespräsident Brenner scheinbar verlauten, dass nach Gründen gesucht würden, gegen den Le Réveil einzuschreiten.735 Wegen Verherrlichung anarchistischer Verbrechen wurden verschiedene Autoren des Le Réveil angeklagt.736 Nicht nur die Wege oder die Autoren der Zeitung, auch die Zeitung selbst bekam die Repression zu spüren. Bereits in der Ausgabe vom 21.7.1900, also dem zweiten überhaupt je erschienenen Le Réveil, ist das Schreiben eines Kiosks in Lausanne abgedruckt, der schreibt, ihm sei vom Lausanner Präfekten verboten worden, die Zeitung zu verkaufen.737 Über eine 100% Anhebung des Preises an den Verkaufsstellen durch den Eigentümer eines Kioskverbundes wurde zudem versucht, über monetäre Wege die Verbreitung des Le Réveil einzudämmen.738 Die Finanzierung stellte wie bei vielen anarchistischen Zeitungen auch beim Le Réveil ein wiederkehrendes Problem dar. Das erste Jahr wurde die Zeitung von privater Hand aus der Redaktion vorfinanziert, geriet dadurch aber in finanzielle Schwierigkeiten, die im letzten Moment angeblich durch einen AbonnentInnenanstieg abgewendet werden konnten.739 Auch durch die Organisation von Solidaritätsanlässen wurde versucht, den Schulden beizukommen.740

732  |  Vgl. exemplarisch »L’intégration Économique: Exposé des doctrines anarchistes«, Le Réveil, 21.7.1900, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. 733  |  Vgl. dazu BAR E21/14515. 734  |  Vgl. L.B., »Secret postal«, Le Réveil, 22.12.1900. Jg. 1, Nr. 13, S. 1. 735  |  L.B., »Encore le secret postal«, 5.1.1901, Jg. 2, Nr. 1, S. 1. 736  |  Vgl. die Anklagen gegen Louis Bertoni 1906 (BAR E21/14524) und 1912/1913 (BAR E21/14526) sowie gegen Georges Herzig 1906 (E21/14525). 737  |  Vgl. La Rédaction, »Liberté de presse«, Le Réveil, 21.7.1900, Jg. 1, Nr. 2, S. 1, und »Chez nous«, Le Réveil, 4.8.1900, Jg. 1, Nr. 3, S. 2. 738  |  Vgl. G.H., »Chronique genèvoise: Eurêka!«, Le Réveil, 1.9.1900, Jg. 1, Nr. 5, S. 2. 739  |  Vgl. L’Administration, »Aux camarades«, Le Réveil, 28.9.1901, Jg. 2, Nr. 20. 740  |  Vgl. »Chronique genèvoise: Fête du Réveil«, Le Réveil, 7.12.1901, Jg. 2, Nr. 25, S. 2. Neben außergewöhnlichen Solidaritätsabenden wurde auch ein alljährliches Fest durchgeführt. Vgl. »Fête du RÉVEIL«, Le Réveil, 11.2.1905, Jg. 6, Nr. 120, S. 1.

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4.4.7 L’Émancipation Abbildung 18: L’Émancipation, 24.1.1903, Jg. 2, Nr. 20. (CIRA Lausanne, Pf 207)

4.4.7.1 Relevante Er wähnungen In der L’Émancipation nahm die Vermittlung von Hypergütern eine zentrale Rolle ein. Im Leitartikel der ersten Nummer wurde eine ganze Reihe von Hypergütern vermittelt. In programmatischer Aufzählung wurden die Ziele und Aufgaben zusammengefasst, welche die Gemeinschaft als klassenbewusst und -kämpferisch und antinationalistisch darstellte: »Travailler à étendre et à developper l’organisation ouvrière, à la rendre toujours plus consciente d’elle-même et de sa force; créer un lien de solidarité plus puissant et plus large entre les ouvriers d’une même corporation, entre les diverses corporations, étendre cette conception à toute la classe ouvrière, sans distinction de race ou de nationalité, afin que l’ouvrier sache bien qu’il ne doit voir d’ennemis ou d’adversaires que dans ses exploiteurs. En un mot, développer par tous les moyens en notre pouvoir, le mouvement syndical et le niveau moral et matériel de la classe ouvrière.«741 741  |  Le Comité de Rédaction, »Aux travailleurs!«, L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Darauf hinarbeiten, die Arbeiterorganisation stärker auszuweiten und zu entwickeln, und dass sie ein größeres Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Stärke erlangt; stärkere und breitere Solidarität zwischen den Arbeitern der gleichen Korporation, zwischen den verschiedenen Korporationen schaffen, und diese auf die gesamte Arbeiterklasse ausweiten, ohne Unterscheidung nach Rasse oder Nationalität, damit dem Arbeiter klar werde, dass er allein in seinen Ausbeutern seine Feinde und Gegner sehen darf. Mit einem Wort, mit allen in unserer Macht stehenden Mitteln die Gewerkschaftsbewegung sowie das moralische

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Der dominanten abgrenzenden Eingrenzung des ›Wirs‹ als Bewegung der Arbeiterklasse stand eine grundsätzliche politische Offenheit entgegen: »Nous voulons nos colonnes ouvertes à tous, sans pour cela nous réclamer d’aucune école particulière.« 742 Dennoch schien keine vollständige politische Offenheit dagewesen zu sein. Eine sozialdemokratisch anmutende Ausrichtung glaubt man in den Zeilen eines abgedruckten Flugblattes zum 1. Mai 1902 zu erkennen, das sich für Verbesserungen statt für Befreiung einsetzte und dies darüber hinaus über flächendeckende Organisation »[...] dans les organisations ouvriers, syndicales et politiques [...]« 743 erreichen wollte: »C’est par l’organisation seule que vous pouvez améliorer votre existence et c’est elle seule qui est la vraie émancipation.« 744 Diametral dazu finden sich in der L’Émancipation dezidierte Stellungnahmen gegen eine zentrale Autorität, die als »vieille erreur métaphysique« 745 bezeichnet wurde. Sie ist es auch, die in der Weltdeutung der Gemeinschaft für das Ersticken der individuellen Initiative verantwortlich gemacht wurde, und fungierte als negatives Hypergut, von dem das ›Wir‹ sich abgrenzte. Demgegenüber wurde das positive Hypergut der freien, spontanen und autonomen Assoziation portiert: »[C]’est seulement par l’Association d’unités locales, réelles et vivantes qu’on arrive à un ensemble vital et puissant. C’est d’en bas que doit venir la force, que doit monter la sève pour se répandre dans l’organisme fédératif afin d’y apporter vie et mouvement.« 746 Als weiteres Hypergut findet sich mehrfach auch der Antimilitarismus in den Zeilen der L’Émancipation wieder. Am pointiertesten wurde antimilitaristisch formuliert während des Genfer Generalstreiks im Herbst 1902747, oftmals verknüpft mit der Vermittlung anderer, negativer Hypergüter wie dem Kapitalismus oder Framing-Prozessen zur Bourgeoisie hin: und materielle Niveau der Arbeiterklasse vorantreiben.« Ein weiteres antinationalistisches Hypergut findet sich auch im Artikel »État de siège« (Truan, H., »État de siège«, L’Émancipation, 18.10.1902, Jg. 1, Nr. 14, S. 1 [Herv. i.O.]). »[...] les acclamations des snobs et snobinettes de la bourgeoisie, c’est servir la ›patrie‹« [dt.Ü.: »[...] die Vornehmtuer und Vornehmtuerinnen der Bourgeoisie zu bejubeln, bedeutet dem ›Vaterlande‹ zu dienen«], hieß es darin kritisch in Bezug auf die staatlichen Maßnahmen und Repressalien, die zur Beendung des Genfer Generalstreiks von 1902 eingesetzt wurden. Der Begriff ›Vaterland‹ war also in der L’Émancipation durchwegs negativ konnotiert oder in seiner Existenz als solches infrage gestellt, wie die Apostrophierung zeigt. 742  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Unsere Spalten sollen allen offen stehen, ohne uns dafür auf eine bestimmte Schule zu berufen.« 743 | »Premier Mai«, L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 744 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Einzig und allein durch die Organisation könnt ihr eure Lebensgrundlage verbessern und sie allein ist die wahre Emanzipation.« Dass die einige Zeilen weiter unten geäußerte »émancipation complète« von vier Punkten drei dem Thema Arbeit verschreibt (Achtstunden-Tag, das Recht auf Arbeit, Mindestlohn), deutet ebenfalls auf marxistische Verwurzelung der Welt- und Sinndeutung hin. 745  |  Steinegger, C., »Les congrès de Berne«, L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 746 | Ebd., S. 2. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Nur durch einen Verbund tatsächlicher und lebendiger lokaler Einheiten schaffen wir ein vitales und starkes Ganzes. Von unten muss die Kraft kommen, muss der Saft emporsteigen und sich im gesamten föderativen Organismus ausbreiten, um dort Leben und Bewegung hinzubringen.« 747 | Grund dafür ist der Einzug des Militärs zur Bekämpfung des Streiks, was u.a. die Gegenüberstellung von Arbeitern bedeutete. Vgl. Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz.

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»Dans l’expérience que nous faisons actuellement nous pouvons voir que seul le militarisme est le dernier soutien de la bourgeoisie capitaliste.« 748 Im zweiten Jahrgang wurde schließlich eine eigene Rubrik für Antimilitaristisches eingeführt, um »[...] la lutte contre le moloch militariste« 749 zu führen. Mit der Vermittlung der Ökonomie als zentraler Faktor der sozialen Verhältnisse, aber auch der Idee von Syndikaten als Einheiten der zukünftigen, befreiten Gesellschaft wurden klassisch anarcho-syndikalistische Hypergüter vertreten: »Vous [camarades, d.V.] ne devez plus vous désintéresser de L’Évolution économique vers laquelle toute notre pensée doit se retourner. Reconnaissez enfin que votre place est parmi nous aux syndicats, car des syndicats seuls nous pourrons attendre le commencement de la Rénovation sociale!« 750 Neben der Ökonomie wurde die Schaffung von Bewusstsein, oder, anders ausgedrückt, die Bildung als wichtiges Hypergut wiederholt vermittelt und mit dem Ideal einer lokalen, föderalistischen Organisation verknüpft: »[C]ette éducation, nécessaire, indispensable, ne peut se faire d’une façon convenable que localement, par les Universités populaires créées dans le sein même des unions locales.« 751 Am prominentesten trat der Streik als identitätskonstituierende Methode auf, zuweilen auch als Konsumstreik in Gestalt eines Boykotts. So etwa, wenn zum »grève des acheteurs« aufgerufen wurde, um die Sonntagsarbeit von VerkäuferInnen zu bekämpfen.752 Insbesondere der Generalstreik kehrte als Hypergut der Gemeinschaft immer wieder und wurde gelobpreist als »[...] le seul qui puisse épouvanter les capitalistes et les induire à céder« 753. Eine weitere vermittelte Methode zur Erreichung der Ziele war der Auf bau einer proletarischen Parallelökonomie 748  |  »Chronique locale: Contre le militarisme«, L’Émancipation, 18.10.1902, Jg. 1, Nr. 14, S. 4. Dt.Ü.: »In der aktuellen Erfahrung können wir feststellen, dass bloß der Militarismus die letzte Stütze der kapitalistischen Bourgeoisie ist.« 749 | »Antimilitarisme«, L’Émancipation, 24.1.1903, Jg. 2, Nr. 20, S. 3. Aufgrund des lückenhaften Bestandes für die Jahre 1903 und 1904 konnte nur eruiert werden, dass die Rubrik innerhalb dieser Jahres wieder eingestellt wurde. 750  |  Lamarque, »Soyons unis«, L’Émancipation, 31.5.1902, Jg. 1, Nr. 3, S. 1. Dt.Ü.: »[Genossen,] ihr müsst euch für die ökonomische Entwicklung interessieren, der unser gesamtes Denken gelten muss. Erkennt endlich, dass euer Platz in unserer Mitte in den Gewerkschaften ist, denn von ihnen allein könne wir die Soziale Erneuerung erhoffen!« Vgl. für die Vorstellung von Syndikaten als Zellen der Zukunftsgesellschaft auch Oliver, E., »Neutralité ou principe d’éducation«, L’Émancipation, 1.11.1902, Jg. 1, Nr. 15, S. 3. 751  |  Steinegger, G., Centralisation ou fédéralisme«,Supplément à L’ÉMANCIPATION, S. 2, Beilage zu L’Émancipation, 31.5.1902, Jg. 1, Nr. 3. Dt.Ü.: »[D]iese Bildung ist notwendig und unumgänglich und kann nur lokal, durch Volkshochschulen in den lokalen Einheiten selbst auf angemessene Weise erteilt werden.« 752  |  Der Zusatz »En semaine, refusez votre clientèle aux magasins qui ouvrent le dimanche« [dt.Ü.: »Verweigert den Geschäften, die sonntags öffnen, eure Kundschaft unter der Woche.«] weist den Streik als eigentlichen Boykott aus. Vgl. »Fermeture des Magasins le Dimanche«, L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 4. Ein Aufruf desselben Inhalts wird an anderer Stelle auch an die KundInnen von Coiffeuren gerichtet. Vgl., »Afin de [...]«,Supplement à L’ÉMANCIPATION, S. 2, Beilage zu L’Émancipation, 31.5.1902, Jg. 1, Nr. 3. Vgl. auch den Aufruf zum Boykott der Kohlehändler »Chez les Charbonniers«, L’Émancipation, 24.8.1902, Jg. 1, Nr. 9, S. 2-3. 753  |  G.B.G., »En Italie«, L’Émancipation, 13.7.1902, Jg. 1, Nr. 6, S. 2. Dt.Ü.: »[...] das Einzige, das den Kapitalisten einen Schrecken einzujagen und sie zum einlenken zu bringen vermag«.

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und -welt. So findet sich ein elaborierter Entwurf für einen eigenen Wirtschaftszirkel im Artikel »Rapport de la Commission des Rabais« 754. Via Ausgabe von Jetons sollten einerseits Verbilligungen gegenüber den KonsumentInnen gewährt und andererseits Mittel für die Syndikate beschafft werden. So hätten effektivere und aggressivere Arbeitskämpfe auf dem Weg zum Ziel einer umfassenden Befreiung der Lohnarbeit möglich werden sollen: »[C]e n’est qu’un moyen entre tant d’autres [...] pour réaliser une étape dans la voie de notre affranchissement économique, un pas de plus vers la libération intégrale du prolétariat.« 755 Für eine anarcho-syndikalistische Gruppe überraschend wurde im Artikel »Le Syndicat obligatoire« 756 eine Syndikatspflicht als positives Hypergut vermittelt, also eine Zwangsmaßnahme, die den Syndikalisten zu ihrem Wohle aufgebürdet werden sollte und sie weitab des Konsens der grundlegenden Prämissen anarchistischer Gemeinschaften und Bewegungen, auf Zwang zu verzichten, positionierte.757 Allerdings war diese Position innerhalb der L’Émancipation selbst umstritten, wie sich zeigte. Einerseits blieb sie die einzige dahingehende Position während andere Hypergüter in der Regel mehrfach vermittelt wurden. Andererseits folgte dem Beitrag eine Replik »Le Syndicat Obligatoire (Autre cloche)« 758, die sich für die freie Assoziation und gegen ein Obligatorium einsetzte. Dennoch erlaubt die Formulierung der den Artikel beschließenden Hoffnung den Rückschluss, dass die Frage nach der Organisationsform durchaus zur Debatte stand: »J’espère que d’autres syndiqués apporteront encore quelques arguments en faveur des syndicats libres.« 759 In den Zeilen der L’Émancipation wurden auch negative Hypergüter vermittelt, die identitätskonstituierendes Potenzial bargen. So wurde der Staat und seine legalistische und parlamentarische Funktionsweise bald explizit bald bloß mit typografischen Finessen als negatives Hypergut erkennbar gemacht: »[O]n s’attend à une grève, cependant les mineurs ont adressé une pétition (!) au gouvernement (!!). Cela leur servira probablement à grand’chose!...« 760 Die in Klammern gesetzten Ausrufezeichen deuten das Unverständnis gegenüber der gewählten politisch-legalistischen Kampfmethode in steigender Intensität an. Ganzheitlicher wurde auch das Politische an sich als negatives Hypergut portiert. Die Gemeinschaft positionierte sich dazu in Opposition zum Politischen, indem sie es zum Antonym von Moral und Revolution schrieb und ihm ein inhumanes Menschenbild unterstellte: »La révolution de l’Avenir sera le triomphe de la morale sur la politique pour qui l’homme est un moyen, au lieu 754  |  »Rapport de la Commission des Rabais«, Supplément à L’ÉMANCIPATION, S. 1, Beilage zu L’Émancipation, 31.5.1902, Jg. 1, Nr. 3. 755  |  Ebd., S.1. Dt.Ü.: »[E]s ist nur ein Mittel unter so vielen anderen [...] um eine Phase auf dem Weg zu unserer ökonomischen Befreiung zu erreichen, ein Schritt mehr zur totalen Befreiung des Proletariats.« 756  |  Oliver, E., »Le Syndicat obligatoire«, L’Émancipation, 20.9.1902, Jg. 1, Nr. 11, S. 2. 757  |  Ebd., S. 2. 758  |  E.H., »Le Syndicat Obligatoire (Autre cloche)«, L’Émancipation, 4.10.1902, Jg. 1, Nr. 12, S. 2-3. 759  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »Ich hoffe, andere Gewerkschaftler werden noch weitere Argumente zugunsten der freien Gewerkschaften einbringen.« 760  |  »Revue du Mouvement ouvrier: Étranger : Allemagne Grève«, L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »[W]ir erwarten einen Streik, doch die Mineure haben eine Petition (!) an die Regierung (!!) gesandt. Das wird ihnen wahrscheinlich viel bringen!...«

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d’être une fin. [...] La plus précieuse des libertés, celle de L’Ésprit, s’étiole, périt dans l’Atmosphère des parlements.« 761 Auch mit zuweilen äußerst emotional gehaltenen Framing-Prozessen wurde in der L’Émancipation kollektive Identität konstituiert und unterhalten. Hauptsächlich gegenüber dem Bürgertum und der bürgerlichen Presse wurde das ›Wir‹ abgegrenzt und so das kollektive Selbst als Antipode dazu positioniert. Aussagen wie »votre régime exécré«, »votre conduite innommable«, »votre presse immonde« oder das Bezeichnen von Richtern als »vos soudards empanaché« 762 sind Beispiele dafür, die gerade durch den Framing-Prozess nicht nur das Sein des Bürgertums in der Wahrnehmung der Gemeinschaft beschrieben, sondern durch die Abgrenzung zu Ersterem auch das eigene kollektive Selbst mitschrieben. Das Nicht-Sein des Bürgerlichen wird so zu einem wesentlichen Teil des Seins der anarcho-syndikalistischen Gemeinschaft. Ebenfalls als signifikantes ›anderes‹ erwies sich die Sozialdemokratie, von der sich die L’Émancipation prinzipiell-programmatisch abgrenzte. Im Artikel »Syndicalisme et Socialisme« 763 etwa hieß es, dass die Sozialdemokratie – anders als die Gemeinschaft rund um die Zeitung – hinarbeite auf die vom ›Wir‹ als negativ beurteilte »[...] conquête de pouvoirs publics et conséquemment à l’action éléctorale; or, voilà ce que les syndicats ne veulent pas [...] là n’est pas leur rôle [...]« 764. Daneben finden sich auch pointiertere Framing-Prozesse zu sozialdemokratischen Positionen hin. Im Anschluss an eine Abkanzelung der Partei als machtorientierte Mitspielerin im parlamentarischen Rahmen hieß es in Bezug auf das kollektive Selbst etwa: »Nous excitons le peuple à penser, à réfléchir, à se défier, à juger froidement les hommes et les choses, par cela même nous éveillons, nous excitons L’Ésprit de révolte. [...] nous ricanons au nez des grands hommes, nous nous asseyons sur les choses sacrées et les idoles qui s’écaillent sous notre poussée, montrant aux foules agenouillées leur armature de mensonges et de crimes. Nos insulteurs, eux, sont des excitateurs à la peur, à la bassesse, à l’inhumanité.«765

761  |  Prolo, »Tribune Libre: La Politique«, L’Émancipation, 23.1.1904, Jg. 2, Nr. 45. Dt.Ü.: »In der zukünftigen Revolution wird die Moral über die Politik triumphieren, für die der Mensch eine Mittel und nicht ein Ziel ist. [...] Die wertvollste aller Freiheiten, die des Geistes, verkümmert und stirbt in der Atmosphäre der Parlamente.« 762 | Alle Zitate aus Truan, H., »L’internationale«, L’Émancipation, 29.11.1902, Jg. 1, Nr. 16, S. 1. Dt.Ü.: »euer abscheuliches Regime«, »euer unsägliches Verhalten«, »eure ekelhafte Presse«, »eure verzierten Haudegen«. 763  |  P. D., »Syndicalisme et Socialisme«, L’Émancipation, 13.7.1902, Jg. 1, Nr. 6, S. 3. 764  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »Eroberung der Staatsgewalt und demnach der Wahlbereitschaft; doch das ist es nicht, was die Gewerkschaften wollen [...] das ist nicht ihre Rolle [...]«. 765  |  Rouge, »Pêcheurs en eau trouble«, L’Émancipation, 12.11.1902, Jg. 1, Nr. 15, S. 2. Dt.Ü.: »Wir wollen das Volk anregen, zu denken, zu überlegen, misstrauisch zu sein, Menschen und Sachen kühl zu beurteilen, und dadurch erwecken wir den Geist der Revolte. [...] wir lachen den Großen Männern ins Gesicht, wir setzen uns auf das Heilige und die Abgötter, die unter unserem Druck aufbrechen und den knienden Massen ihre innere Struktur aus Lügen und Verbrechen bloßlegen. Die, die uns beschimpfen, die stacheln die Angst an, die Erbärmlichkeit, die Unmenschlichkeit.«

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

So wurde eine zweifache Wiederauffrischung des ›Wirs‹ hergestellt: einerseits durch die Vermittlung von Hypergütern und die damit einhergehende Festigung der Gemeinschaft, andererseits durch die inklusive Exklusionspraxis, die eine klare Distanzierung von den ›anderen‹ darstellte.766 Eine Differenzierung durch Framing-Prozesse fand aber nicht nur gegen außen statt. Auch subidentitäre Framing-Prozesse gegenüber anderen anarchistischen Strömungen trugen zur Schaffung der kollektiven Identität der Gemeinschaft bei. Der Artikel »A ›l’Avvenire del Lavoratore‹« 767 barg gar eine Mischform: Einerseits erfolgte eine Distanzierung der Gemeinschaft von der Sozialdemokratie, anderseits aber auch vom Anarchismus expressis verbis. Ausschlaggebend war dabei eine sozialdemokratische Fremdwahrnehmung, welche die Gemeinschaft der L’Émancipation als anarchistisch bezeichnete, die unter dem Mantel des Syndikalismus versuche, die Arbeiterbewegung umzupolen. Dies wurde folgendermaßen kommentiert: »Ces façons sont ridicules au possibles, mais là où elles le deviennent davantage, c’est lorsque M. Donatini, avocat, et ses sous-ordres se mêlent d’éplucher tout ce qui s’écrit à L’Émancipation et décident doctement que ceci est anarchiste, ceci est anti social-démocrate, il faudrait le couper etc.«768

Das vehemente Abwinken von Verbindungen der Bewegung mit Anarchie-Begriffen von außen deutet auf eine große negativ-performative Kraft dieser Begriffe hin. Der Hang oder Drang der Gemeinschaft sich von Anarchie-Begriffen zu distanzieren, scheint vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Er lässt sich auf zwei Weisen erklären: Einerseits konnte so zumindest versucht werden, die 1902 hochaktuelle769 »manie de la persécution« 770 zu umgehen. Andererseits dürfte die anarcho-syndikalistische Gemeinschaft durch diese subidentitäre Abgrenzung gegenüber dem Anarchismus versucht haben, die Positionierung des kollektiven Selbst als politisch

766 | Vgl. dazu mit der gleichen identitätskonstituierenden Dynamik H.T., »Maîtres chez nous!«, L’Émancipation, 12.11.1902, Jg. 1, Nr. 15, S. 2, und E.P., »Post tenebras lux«, L’Émancipation, 12.11.1902, Jg. 1, Nr. 15, S. 2. 767  |  Dumas, Pierre, »A ›L’Avvenire del Lavoratore‹«, L’Émancipation, 13.7.1902, Jg. 1, Nr. 6, S. 2-3. 768  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Dieses Aufführen ist lachhaft, wie es mehr nicht ginge, aber Herr Donatini, der Anwalt, und seine Untergebenen übertreffen sich noch selbst, wenn sie alles, was in der L’Émancipation geschrieben steht, bis aufs Kleinste auseinandernehmen und schulmeisterlich entscheiden, das ist anarchistisch, das ist anti-sozialdemokratisch, das muss gelöscht werden etc.« Dass das gleiche Thema in derselben Nummer mit fast identischem Wortlaut ein zweites Mal behandelt wurde, zeigt, dass dieser subidentitäre FramingProzess einen hohen identitätskonstitutionierenden Wert haben musste. Vgl. »Chronique Locale: Syndicat mixte international«, L’Émancipation, 13.7.1902, Jg. 1, Nr. 6, S. 4. 769  |  Im Frühling 1902 eskalierte die Silvestrelli-Affäre. Vgl. Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. 770 | Dumas, Pierre, »A ›L’Avvenire del Lavoratore‹«, L’Émancipation, 13.7.1902, Jg. 1, Nr. 6, S. 2.

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indifferent respektive tolerant zu wahren 771, um ihr Etappenziel, eine einheitliche und daher als schlagkräftiger imaginierte Arbeiterbewegung, zu erreichen. Dem Reizwortcharakter der Anarchie-Begriffe waren sich die Akteure auf jeden Fall bewusst, wie der Artikel »La Guerre inutile« 772 nahe legt. An die Adresse der sozialdemokratischen, sich antianarchistisch gebärenden Zeitung Le Peuple de Genève schrieb sie: »Le mot ›anarchiste‹ fut dans cette polémique l’Argument sumprême résumant à lui seul la haine que vous portez à ceux qui pensent autrement que vous, et qui devait par son effet anéantir cet irascible adversaire.« 773 Die wiederkehrende Distanzierung von Anarchie-Begriffen spielte eine wichtige Rolle in der Konstitution der kollektiven Identität der L’Émancipation. Selbst Luigi Bertoni schrieb »[...] il est [...] faux de dire que c’est un journal anarchiste« 774 und das dem Inhalt nach anarcho-syndikalistische ›Syndicat Mixte International‹ deklarierte, dass ihre »[...] organisation n’a rien d’anarchiste [...]« 775. Statt Anarchie-Begriffen wurde von der Gemeinschaft in der Regel der Begriff ›Syndikalisten‹ zur Selbstbezeichnung verwendet: »Syndicalistes, nous sommes, et rien d’autre.« 776 Die Verwendung des immer wieder auftretenden Begriffs ›travailleurs‹ war inkonsistent. Einerseits wurde er in der ersten Person Plural, andererseits auch wiederholt in der zweiten Person Plural gebraucht. Damit wurde zwar eine Kohärenz gemeinschaftseigener Hypergüter zwischen ›Wir‹ und ›ihr‹ nahegelegt, allerdings geschah so sprachlogisch immer auch ein Ausschluss des ›Wirs‹ aus der proletarischen Gemeinschaft: »Travailleurs [...] [n]’ayez plus foi aux dogmes de L’Église, fuyez les paroles des prêtres malicieux et laissez à leur frais le coût de leur vie. Brisez avec ces religions, impôt de l’ignorance, et allez écouter les paroles de la science. [...] Les portes de la vie s’ouvrent aux rayons d’un 771  |  Vgl. exemplarisch Im-Obersteg, »Neutralité, solidarité!«, L’Émancipation, 13.7.1902, Jg. 1, Nr. 6, S. 1-2. 772  |  Oliver, E., »La Guerre inutile«, L’Émancipation, 6.9.1902, Jg. 1, Nr. 10, S. 2. 773  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Das Wort ›anarchistisch‹ war in der Diskussion das unübertreffliche Argument, dass ganz allein den gesamten Hass auszudrücken vermag, den ihr für die verspürt, die anders denken als ihr, und das durch seine bloße Wirkung den aufschäumenden Gegner vernichten sollte.« 774 | Bertoni, L., »Question d’argent«, L’Émancipation, 27.7.1902, Jg. 1, Nr. 7, S. 2. Allerdings ist bei dieser Formulierung sprachlogisches Kalkül zu orten. Bertoni, als einer der umtriebigsten Anarchisten in der Schweiz überhaupt, argumentierte, dass L’Émancipation deshalb kein anarchistisches Blatt sei, weil es strukturell offen sei und ihre Spalten allen ArbeiterInnen offenstünden, also auch Nicht-AnarchistInnen, womit es gar kein (rein) anarchistisches Blatt sein könne und also auch keine dahingehende Bezeichnung opportun sei. 775  |  »Fédération des Sociétés Ouvrières: Syndicat Mixte International«, L’Émancipation, 27.7.1902, Jg. 1, Nr. 7, S. 4. Für die Distanzierung von Anarchie-Begriffen vgl. auch den abgedruckten Leserbrief Plagnat, Ed., »Correspondance«, L’Émancipation, 4.10.1902, Jg. 1, Nr. 12, S. 2, in der sich der Autor gegen die Fremdbezeichnung als Anarchist in einem »article injurieux et malveillant« der Zeitung Genevois heftig wehrt. 776  |  Le Comité de Rédaction, »Aux travailleurs!«, L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Diese Bezeichnung tritt auch andernorts wiederholt auf, vgl. exemplarisch Steinegger, C., »Les congrès de Berne«, L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Eine korrekte politische Einordnung der Gemeinschaft muss anarcho-syndikalistisch lauten im Hinblick auf die anderweitig vermittelten Hypergüter und Methoden im Blatt.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse soleil nouveau. Le prix de notre effort sera l’Avènement d’une ère nouvelle, éclairée par l’Astre étincelant de la science. À l’oeuvre, travailleurs.«777

Auch Traditionalismen finden sich als Identitätskonstituenten in der L’Émancipation. Gegenüber dem 1. Mai, der bereits 1902 in eigenen Worten als ›traditionell‹ beschrieben wurde, nahm die Gemeinschaft wohl eine kritische Position ein. Genau dadurch trug der Tag der Arbeit zur Konstruktion des kollektiven Selbst bei: »Car il nous semble que les ouvriers ont trop oublié que le premier mai n’était pas seulement une Fête champêtre, mais que c’était une occasion de prouver aux bourgeois notre force et notre désir de n’être plus exploités.« 778 Diese Haltung wurde fünf Nummern später wieder aufgenommen im Artikel »Le Premier Mai syndicaliste« 779, wo das Blatt festhielt, was und wie der 1. Mai sein sollte und was und wie nicht: »›une manifestation économique de la plus haute gravité‹, un mouvement d’agitation syndicale et d’action réellement ouvrière d’une importance capitale, au lieu de la paisible promenade printanière devenue une douce habitude, en place des ridicules ›mises en demeure‹ et des humiliantes démarches et requêtes auprès de nos gouvernants, qu’elle est aujourd’hui par l’intrusion des politiciens«780 .

Mit »des politiciens« waren SozialdemokratInnen gemeint, die unter einer »[...] faiblesse intellectuelle et de pauvreté d’arguments« 781 litten, womit der positive Traditionalismus, den die Gemeinschaft in Form eines ökonomisch anstatt politisch definierten 1. Mai rekonstruieren will, auch einen weiteren identitätskonstituierenden Mechanismus Hilfestellung bietet: einerseits dem Framing-Prozess gegenüber der Sozialdemokratie, andererseits der Vermittlung positiver Hypergüter der Gemeinschaft, etwa der grundsätzlichen politischen und philosophischen Offenheit.782 777  |  Vgl. exemplarisch Oliver, E., »Au prolétariat«, L’Émancipation, 12.11.1902, Jg. 1, Nr. 15, S. 2-3. Dt.Ü.: »Arbeiter [...] schenkt den kirchlichen Dogmen keinen Glauben mehr, meidet die Worte der tückischen Priester, und überlasst ihnen selbst die Kosten ihres Lebens. Brecht mit diesen Religionen, diesen Unwissenssteuern, und hört die Worte der Wissenschaft. [...] Die Pforten des Lebens öffnen sich den Strahlen der neuen Sonne. Als Preis für unsere Anstrengungen bricht ein neues Zeitalter heran, erhellt von dem strahlenden Stern der Wissenschaft. Ans Werk, Arbeiter!« Chiliastisch und für die Arbeiterbewegung geradezu klassisch mutet die bemühte Metapher der aufgehenden Sonne an, die in die neue Ära führt. 778 | »Avis aux Syndicats: Chambre syndicale des coiffeurs«, L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 3. Dt.Ü.: »Denn es scheint uns, dass die Arbeiter zu sehr vergessen haben, dass der erste Mai nicht nur ein Volksfest war, sondern eine Gelegenheit den Bourgeois unsere Stärke zu beweisen sowie unseren Willen, nicht mehr ausgebeutet zu werden.« 779 | Steinegger, C., »Le Premier Mai syndicalliste«, L’Émancipation, 13.7.1902, Jg. 1, Nr. 6, S. 1. 780 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »›eine ökonomische Demonstration größter Bedeutung‹, eine Bewegung für gewerkschaftliche Agitation und Aktion höchster Wichtigkeit, anstatt des friedlichen Frühlingsspaziergangs, der zur nette Gewohnheit geworden ist, mit lachhaften ›Abmahnungen‹ und erniedrigenden Behördengängen und Anfragen bei der Regierung, die daraus heute durch die Einmischung von Politikern geworden ist«. 781  |  Ebd., S. 1. 782  |  »Nous voulons [...] que le premier mai devienne [...] le tocsin d’union pour tous les exploités sans distinction d’opinions politiques ou philosophiques, dont, dans nos syndicats,

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Die Fremdwahrnehmung erwies sich als in katalytischem Sinne produktiv für die Identitätskonstitution. Formulierung und Reformulierung der gemeinschaftseigenen Positionen wurden maßgeblich begünstigt und animiert durch die Beund Verurteilungen in nicht-anarchistischen Zeitungen. Dies zeigt exemplarisch der Artikel »Notre attitude« 783. Darin wurde abwinkend auf die Darstellung der eigenen Werte im sozialdemokratischen Le Peuple de Genève geantwortet und berichtigend mit einer Aufzählung gemeinschaftlicher Hypergüter gekontert. Neben der Schärfung des Klassenbewusstseins und der Abschaffung der Lohnarbeit war die Selbstermächtigung von zentraler Bedeutung: »Les ouvriers seuls pourront y discuter leurs opinions, y soutenir leurs intérêts, y batailler, enfin, sans que le plus petit bout de député soit appelé pour prendre en main la défense des travailleurs [...]. Nous croyons qu’il est bien que le prolétaire s’apprenne à penser par lui-même et rien que par lui les questions qui l’interessent.«784

Auch die Repression erfüllte identitätskonstitutiv performative Aufgaben in der L’Émancipation. Die entsprechenden Artikel bauten dabei wiederholt auf der Umdeutung der Repression auf, die sie von einem Korrektiv zu einem Ansporn bezüglich des gemeinschaftlichen Tuns umformulierten.785 Als äußerst produktiv für die kollektive Identität erwies sich das anarchistische Ereignis des Generalstreiks in Genf vom Herbst 1902. Was als Tramstreik begann und sich zum Generalstreik ausweitete, bot einer Reihe von Artikeln den Hintergrund, vor und mit dem die kollektive Identität der anarcho-syndikalistischen Gemeinschaft umrissen, geschärft und laufend verfeinert wurde.786 Im Leitartikel

nous n’avons nullement à nous occuper.« (Steinegger, C., »Le Premier Mai syndicaliste«, L’Émancipation, 13.7.1902, Jg. 1, Nr. 6, S. 1) Dt.Ü.: »Wir wollen [...] dass der erste Mai [...] eine Sturmglocke für die Vereinigung aller Unterdrückten wird, ohne Unterscheidung nach politischer oder philosophischer Ansichten, die uns Gewerkschaften nicht interessieren brauchen.« Die Fixierung auf ArbeiterInnen verunmöglicht die Einordnung dieses Hyperguts als Universalismus. 783 | »Notre attitude«, L’Émancipation. 31.5.1902, Jg. 1, Nr. 3, S. 1. Vgl. analog Held, E., »Monument législatif«, L’Émancipation, 24.8.1902, Jg. 1, Nr. 9, S. 1-2. 784  |  Vgl. »Notre attitude«, L’Émancipation. 31.5.1902, Jg. 1, Nr. 3, S. 1. Dt.Ü.: »Die Arbeiter könnten dort endlich ihre Ansichten untereinander diskutieren, ihre Interessen vertreten, miteinander streiten, ohne dass auch nur ein einziger Abgeordneter gerufen wird, um die Verteidigung der Arbeiter in die Hand zu nehmen [...]. Wir glauben, dass es wichtig ist, dass der Arbeiter lernt, selbst und er ganz allein über die Fragen, die ihn interessieren, nachzudenken.« 785  |  Vgl. »À nos Lecteurs«, L’Émancipation, 12.11.1902, Jg. 1, Nr. 15, S. 1, und, ebenfalls bestimmt in der Analyse aber gemäßigt im Ton Truan, H., »Le procès de la grève«, L’Émancipation, 12.11.1902, Jg. 1, Nr. 15, S. 1. 786 | In der Folge können nicht alle identitätskonstituierenden Beiträge und Abschnitte zitiert werden. Vgl. allg. die eigentlichen Themenausgaben der L’Émancipation: Jg. 1, Nr. 12 (4.10.1902), Jg. 1, Nr. 12 (2me Edition; weitgehend identisch mit Nr. 12) (5.10.1902), Jg. 1, Nr. 13 (7.10.1902), Jg. 1, Nr. 14 (18.10.1902), sowie die Spezialnummer vom 19.10.1902, die den Prozess und die Plädoyers der Angeklagten L’Émancipation-Autoren Carlo Steinegger und Luigi Bertoni auf 13 Seiten wiederabruckten.

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»Nos Tramways« 787 wurde etwa das Hypergut der Selbstermächtigung, der Unabhängigkeit von institutionalisierten Größen und Parteien und der Autonomie im Kampf betont. Emotionalisierend hieß es über die Streikenden: »[I]ls doivent compter sur eux seuls, à l’exclusion rigoureuse du concours suspect de n’importe quel avocat, politicien, rédacteur. Travailleurs, émancipez-vous vous-mêmes, écartez de vos débats et de la conduite de vos affaires ces intermédiaires malencontreux, parasites ou imposteurs, qui neuf fois sur dix vous pillent ou vous trahissent.«788

In »La Grève Générale« 789 wurde der Generalstreik enthusiastisch begrüßt und die Identitätskonstitution erweitert durch das prospektive Vermitteln zusätzlicher Hypergüter. Als Ziel wurde die ›commune‹ formuliert, der Zusammenschluss aller syndikalistischen AkteurInnen, die von ›neuen Menschen‹ geprägt sein würde. Damit wurde gleichzeitig auch das aspirative Selbstbild des ›Wir‹ mitvermittelt: »En face du vieux monde capitaliste qui agonise, se dressera résolue et héroïque l’humanité de l’Avenir: le peuple travailleur.« 790 Der Zukunftsmensch wurde als resolut, heroisch und arbeitend skizziert. Selbst nach der Beendigung des Generalstreiks bot dieser der Identitätskonstitution der Gemeinschaft in einer Vielzahl von Artikeln Hand.791 Es gilt dabei festzuhalten, dass nicht alle lokalen anarchistischen Ereignisse, die in die Erscheinungszeit der L’Émancipation fielen, identitätskonstitutiv verwertet wurden.792

4.4.7.2 Zusammenfassung Kollektive Identität wurde in der L’Émancipation von verschiedenen Formanten genährt. Den quantitativ wichtigsten Teil bestritt dabei die Vermittlung von Hypergütern positiver wie negativer Art. Auch Framing-Prozesse gegenüber bürgerlichen und sozialdemokratischen Lebenswelten und Weltdeutungen stellten einen wichtigen identitätskonstituierenden Faktor in Schaffung und Unterhalt kollektiver Identität dar. Die ebenfalls auftretenden subidentitären Framing-Prozesse schienen hingegen eher politischem Kalkül zu entspringen, standen sie doch zuweilen im Kontrast zu den vermittelten Hypergütern. Anlass zu identitätskonstituierenden Mechanismen bot in vielen Fällen die Fremdwahrnehmung. Vor allem bürger787  |  Truan, H., »Nos tramways«, L’Émancipation, 20.9.1902, Jg. 1, Nr. 11, S. 1. 788  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Sie müssen auf sich allein zählen, und jegliche zweifelhafte Unterstützung seitens Anwälten, Politikern oder Journalisten strikt abweisen. Arbeiter, emanzipiert euch selbst, und führt eure Debatten und Angelegenheiten ohne unglückselige Vermittler, Parasiten und Betrüger, die euch allzu oft plündern oder verraten.« 789  |  »La Grève Générale«, L’Émancipation, 7.10.1902, Jg. 1, Nr. 13, S. 1. 790  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Im Angesicht der alten dahinsiechenden kapitalistischen Welt wird sich resolut und heldenhaft die Menschheit der Zukunft erheben.« 791 | Vgl. L’Émancipation, 29.11.1902, Jg. 1, Nr. 16, und L’Émancipation, 13.12.1902, Jg. 1, Nr. 17. Da sich weder Konstruktionen noch Gestalt unterscheiden von den bereits aufgeführten, beschränkt sich der Autor auf diesen Verweis. 792  |  Carlo Macchettos Sprengstoffattentat in Genf vom 22.12.1902, vom Urheber als Vergeltungsakt für die repressiven Folgen im Zuge des Generalstreiks bezeichnet, findet kaum Erwähnung. Vgl. »Chronique locale«, L’Émancipation, 24.1.1903, Jg. 2, Nr. 20, S. 3. Die Silvestrelli-Affäre blieb gänzlich unerwähnt.

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liche und sozialdemokratische Fremdwahrnehmungen und Einschätzungen der Gemeinschaft provozierten Artikel, in denen sich das ›Wir‹ durch oben genannte Mechanismen definierte und ihre Konturen akzentuierte. Zumindest ein anarchistisches Ereignis erwies sich ebenfalls als produktiver Katalysator für Konstitution und Unterhalt kollektiver Identität. Da weitere anarchistische Ereignisse denselben Effekt vermissen ließen und gar nicht in dieser Funktion auftraten, ist eine Induktion allerdings nicht zulässig. Die Repression hingegen lässt sich allgemein als Katalysator bezeichnen: Sie trat wiederholt und in verschiedenen Zusammenhängen in dieser Rolle auf. Ebenso bot in der L’Émancipation das Schaffen und/oder Auf bereiten von Traditionalismen Gelegenheit zur Identitätskonstitution. Aufgrund der vermittelten Ziele und Methoden sowie hinsichtlich der mannigfaltigen Abgrenzungen ist die Gemeinschaft, die die Genfer Zeitung L’Émancipation schrieb und für die sie geschrieben wurde, als anarcho-syndikalistisch einzuordnen. Die kollektive Identität, die durch das Blatt gleichermaßen geschaffen wie repräsentiert wird, zeichnet sich am prominentesten durch eine omnipräsente Klassenperspektive aus. Auch wenn bei der Selbstbezeichnung zuweilen sprachlogische Ungereimtheiten festzustellen sind, lässt sich aus der Selbstwahrnehmung eine proletarische Bewegung skizzieren. Die in der L’Émancipation vermittelten Methoden, Ideale und Prinzipien lassen aber auch deutlich anarchistische Züge in der kollektiven Identität erkennen. Die freie, spontane und autonome Assoziation, die Selbstermächtigung der ArbeiterInnen, die Propagierung des Generalstreiks und Idealisierung der ArbeiterInnen, das prinzipielle Ablehnen von Vertreterpolitik, Regierungen und Staat sowie die dezidierten Distanzierungen von bürgerlichen Werten, gleichzeitig aber auch vom sozialdemokratischen Pragmatismus, der Amelioration eine revolutionäre Perspektive zu opfern, fügen sich zu einer anarcho-syndikalistischen kollektiven Identität zusammen. Die antinationalistischen und antirassistischen Perspektiven für die wiederholt Lanzen gebrochen werden, sprechen als klassisch anarchistische Aspekte kollektiver Identität für eine solche Einordnung sowie das Betonen der Bewusstseinsbildung. Die mehrfach auftretenden subidentitären Abgrenzungen in der L’Émancipation gegenüber dem Anarchismus mögen im ersten Moment diese Einschätzung und Einordnung fehlerhaft erscheinen lassen. Aufgrund der oben genannten vermittelten Ziele und Werte, und weil die subidentitären Framing-Prozesse eher dem politischen Kalkül der Gemeinschaft entsprungen sein dürften als der Differenzierung der Gemeinschaft, erscheint die Einordnung als anarcho-syndikalistisch aber legitim. Schließlich konnte mit einer Abgrenzung dem pejorativen Nimbus der Anarchie-Begriffe entkommen werden, wodurch das Zielpublikum nicht a priori polit-philosophisch eingeengt wurde. So konnte die Gemeinschaft die Vorurteile zwar nicht dementieren, die sich am laufend aktualisierten Reizwortcharakter der Anarchie-Begriffe nährten. Aber sie konnte sie umschiffen. Dass mehrere Artikel des bekannten Genfer Anarchisten Luigi Bertoni abgedruckt wurden, spricht jedenfalls nicht unbedingt für eine grundlegende inhaltliche Aversion gegenüber dem Anarchismus und seinen AnhängerInnen. Eigentliche Grabenkämpfe im Sinne eines Richtungsstreits konnten in der L’Émancipation nicht ausgemacht werden. Es lassen sich aber unterschiedliche Positionen ausmachen in Artikeln, die durchaus zentrale Werte tangieren wie die allfällige Einführung eines Organisationsobligatoriums. Die Formulierungen des entsprechenden Artikels und der Replik darauf lassen vermuten, dass der Wertekatalog der

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

Bewegung zu diesem Zeitpunkt nicht fixiert war, sondern diskursiv und dynamisch verhandelt wurde. Eine Einschätzung eines grundlegenden Wertewandels oder gar eines Paradigmenwechsels lässt sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage nur schwer prognostizieren: Von rund 20 Ausgaben des zweiten Jahrgangs sind nurmehr drei Nummern erhalten, was eine fundierte diachrone Beurteilung verunmöglicht, mindestens aber nicht repräsentativ erscheinen lässt. Was gesagt werden kann, ist, dass sich in den vorhandenen Nummern die grundsätzliche Stoßrichtung nicht veränderte. Generell enthält die L’Émancipation über ihre ganze Erscheinungsdauer eine hohe Dichte an identitätskonstruierenden und -konstituierenden Beiträgen. Eine Häufung ist dennoch feststellbar während des Generalstreiks in Genf im Oktober 1902. Auch nach der Beendigung des Generalstreiks wirkte dieser noch produktiv nach auf die kollektive Identität und konnte als kollektive Erinnerung zum Traditionalismus umgeschrieben werden.

4.4.7.3 Bibliografische Details (1) L’Émancipation: Journal syndicaliste. Organe officiel de la Fédération des sociétés ouvrières de Genève; (2) Fédération des sociétés ouvrières de Genève; (3) Emile Held; [Place de la] Fusterie 3, Genf; [Rue de] Coutance 28, Genf (Jg. 2, Nr. 45); Grand’Rue 35, Genf (Jg. 2, Nr. 49); (4) Genf; (5) 1.5.1902-30.4.1904; 14-täglich (außer Jg. 1, Nrn.12, 12 (2e Edition)793 und 13, die innerhalb von vier Tagen erschienen); 4 Seiten; (außer Jg. 1, Numéro spécial, 19.10.1902: 14 Seiten und Jg. 1, Nr. 17, 13.12.1902: 6 Seiten); (6) Supplément à L’ÉMANCIPATION (Beilage zu Jg. 1, Nr. 3); am 8.10.1902 erschien eine Ausgabe auf rotem Papier, welche die L’Émancipation bereits Mitte November 1902 per Annonce für das eigene Archiv suchen musste794; am 19.11.1902 erschien eine Spezialnummer; (7) La Fédération;795 (9) CIRA Lausanne, PF 207; Jg. 1, Nrn. 2, 4, 5, und 8 fehlen in den Beständen, von Jg. 2 liegen nur die Nrn. 20, 45, 48 (nur S. 1) und 49 vor; (10) Der Druck der L’Émancipation wurde von der Imprimerie commerciale bestellt. Die Zeitung finanzierte sich neben Abonnements und Direktverkauf mit Inseraten, die zum Teil mehr als eine Seite der 4-seitigen Zeitung belegten.796 793  |  Inhaltlich ist diese Zweitausgabe größtenteils identisch mit Jg. 1, Nr. 12. 794 | Vgl. »Avis«, L’Émancipation, 12.11.1902, Jg. 1, Nr. 15, S. 1. 795  |  So zumindest gemäß L. Bertoni, »Question d’argent«, L’Émancipation, 27.7.1902, Jg. 1, Nr. 7, S. 2. Die La Fédération erschien angeblich um 1892. Außer der Nennung in diesem Artikel weist nichts auf die Existenz dieses Blattes hin. Vgl. die völlige Absenz im umfassenden Verzeichnis Biancos (Bianco, 100 ans de presse anarchiste, http://bianco.ficedl. info/spip.php?rubrique1&lettre=F [Stand: 25.3.2011]), aber auch beim für seine Akribie berühmten Nettlau, Geschichte der Anarchie, und in Langhard, Anarchistische Bewegung, sind keine Nennungen zu verzeichnen. 796 | Vgl. das Inseratevolumen in L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 3 und S. 4 kombiniert. Erstaunlich ist die Steigerung des Insertionspreis pro Zeile um 50% zwischen der ersten und der zweiten Ausgabe der L’Émancipation. Im Artikel »Travailleurs, ne vous laissez pas voler!« hieß es dagegen: »Notre journal n’étant pas une entreprise commerciale et ne faisant pas ici ›la chasse aux annonces‹, nous croyons rendre service à nos amis en les mettant sérieusement en garde contre les réclames fabuleuses qu’a publiées dans un certain journal ouvrier (?) un agent de change de notre ville.« (Steinegger, C., »Travailleurs, ne vous laissez pas voler!«, L’Émancipation, 20.9.1902, Jg. 1, Nr. 11, S. 3). Dt.Ü.: »Unsere Zeitung ist kein

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Während des Generalstreiks in Genf im Oktober 1902 wurden zudem Exemplare gratis aufgelegt in der Hoffnung, neue AbonnentInnen ans Blatt zu binden.797 Zur Mittelbeschaffung ist mindestens auch ein Benefizabend aktenkundig, an dem es Gesang, Gedichte und Vorträge zu hören gab, und der wohl nicht nur Geld, sondern auch Gemeinschaftsgefühl aufzutreiben verstand.798 Die L’Émancipation hatte mehrere regelmäßige Rubriken. In der »Revue du Mouvement ouvrier« werden lokale (»Genève«), nationale (»Suisse«) und internationale (»Étranger«) Nachrichten aus der Arbeiterbewegung kolportiert. Darunter sind Verbandsnachrichten von Gewerkschaften ebenso zu finden wie verzeichnete Streiks und Aufrufe dazu oder staatliche Repression gegenüber der Bewegung. Die Rubrik »Chronique locale« berichtet über Vorträge und Versammlungen der Arbeiterbewegung. »Tribune libre« wurde als Rubrik erst am 23.1.1904 eingeführt und bot auf der Titelseite redaktionellen Raum für Zusendungen.799 Abgesehen von diesen Rubriktexten sind die Artikel in der L’Émancipation meist größeren Umfangs und tragen zuweilen essayistische Züge.

4.4.8 L’action Anarchiste Abbildung 19: L’action Anarchiste, 14.4. 1906, Jg. 1, Nr. 1. (BGE Genf, Rc 39/32)

kommerzielles Unternehmen und begibt sich auch nicht auf ›die Jagd nach Anzeigen‹, daher wollen wir unseren Freunden einen Gefallen tun und sie ernsthaft zur Vorsicht hinsichtlich einiger märchenerzählenden Reklamen anhalten, die in einer gewissen Arbeiterzeitung (?) von einem lokalen Börsenmakler veröffentlicht wurden.« Die ausnahmsweise 6-seitige Ausgabe Jg. 1, Nr. 17 von 13.12.1902 enthält 2 Seiten Werbung. 797 | Vgl. »Avis«, L’Émancipation, 19.11.1902, Jg. 1, Numéro spécial, S. 1. 798 | Vgl. »Grande Soirée au bénéfice du journal L’ÉMANCIPATION«, L’Émancipation, 24.1.1903, Jg. 2, Nr. 20. Dieses Schaffen eines identitätskonstituierenden Rituals dürfte auch bei der ›Fête ouvrière‹ ein Ziel der Mobilisierung gewesen sein. Vgl. die entsprechende Anzeige in L’Émancipation, 19.3.1904, Jg. 2, Nr. 45, S. 1-4 unten. 799  |  Vgl. den Zusatz am Ende von »Tribune libre: La Politique«, L’Émancipation, 19.3.1904, Jg. 2, Nr. 45, S. 1.

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4.4.8.1 Relevante Er wähnungen In der L’action Anarchiste stellten Framing-Prozesse einen wichtigen konstitutiven Faktor der kollektiven Identität dar. Der Artikel »Contre le suffrage universel«800 würdigte in einem antiparlamentarischen Rundumschlag emotionalisierend sowohl christliche und liberale bürgerliche Parteien als auch die Sozialdemokratie herab und schrieb diese so zu einem mehrköpfigen Antipoden des kollektiven Selbst: »De toutes parts surgissent les assoiffés du pouvoir, les envieux de l’Assietteau-beurre, les mécontents en quête de revanche. Partout hurlent à l’unisson tout le bétail électoral, toute la crapule politicienne. Cléricaux, républicains et socialistes, tous menteurs, tous charlatans [...].« 801 Der Ton blieb nicht immer gleich scharf, zumindest nicht gegenüber der Sozialdemokratie. Allerdings änderte dies das Ergebnis nicht: Das ›Wir‹ zog systematisch Demarkationen wenn es vom Anarchismus sprach: »N’y a-t-il pas imprudence à le confondre, à le commettre avec le Socialisme, par exemple, dont nous nous garderons toutefois d’être les détracteurs systématiques.« 802 Der Einschub »par exemple« deutete zudem ein unikales Selbstverständnis an, das auch an anderer Stelle der Zeitung wieder auf blitzen sollte. Nicht nur explizit, sondern auch implizit wurde der pazifistische und parlamentarische Weg der Sozialdemokratie an mehreren Stellen in emotionalisierender, belächelnder Manier als falsch kritisiert. So beispielsweise im Artikel »La Patrie Suisse«, wo von SozialdemokratInnen als von »[...] comédiens pacifistes, qui endorment la vigilance populaire [...]« 803 gesprochen wurde.804 Die L’action Anarchiste positionierte und affirmierte sich darüber hinaus auch mit subidentitären Demarkationen. Im Artikel »La Grève Générale« 805 hob sie die Gemeinschaft von der syndikalistischen Richtung im Anarchismus ab, indem sie in dahingehenden Abschnitten Personalpronomina in der 1. und der 2. Person Plural anwendete, also von ›ihnen‹ und von ›uns‹ sprach. So wurde im Hinblick auf einen tobenden Richtungsstreit im Syndikalismus zwischen eher autoritären und eher libertären Kräften die eigene Gemeinschaft ausnehmend festgehalten: »[N] e pronons pas parti entre les deux, nous qui désirons aussi la transformation de la société [...].« 806 Vom gewerkschaftlichen und anarcho-syndikalistischen Ansatz divergierten Weltdeutung und politisches Selbstverständnis des ›Wir‹ vor allem 800  |  Oivrony, »Contre le suffrage universel«, L’action Anarchiste, 28.4.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 1. 801  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Überall tauchen Machthungrige auf, die neidisch nach dem Goldesel trachten, die Unzufriedenen, die Vergeltung üben wollen. Überall schreien Wählervieh und Politikerlumpen im Chor. Geistliche, Republikaner und Sozialisten sind alle Lügner, alle Scharlatane [...].« 802  |  L’action Anarchiste, »À Tous«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Ist es nicht unvorsichtig, ihn zu verwechseln und sich zum Beispiel mit dem Sozialismus einzulassen, dessen ständige Kritiker zu sein, wir uns jedoch hüten werden.« 803  |  Truan, H., »La Patrie Suisse«, L’action Anarchiste, 21.4.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. Dt.Ü.: »pazifistische Heuchler, welche die Achtsamkeit des Volkes einschläfern [...].« 804  |  Dieses Bild findet sich auch in Berger, Bienvenue!«, L’action Anarchiste, 21.4.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. 805  |  Truan, H., »La Grève Générale«, L’action Anarchiste, 28.4.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 1. 806  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »[L]asst uns keine Partei zwischen den beiden ergreifen, da wir alle nach dem gesellschaftlichen Wandel streben[...].«

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aus zwei Gründen. Einerseits sah die Gemeinschaft in der permanenten Organisation die Reproduktion der autokratischen Gesellschaft, andererseits würde mit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses die eigene Versklavung aufrecht- und unterhalten.807 Wie einer Kurznotiz der L’action Anarchiste zu entnehmen ist, klagte das Blatt zudem die gewerkschaftlich orientierte Richtung an, die klassische anarchistische Gemeinschaft zu Spitzeln und Schnüfflern zu verklären.808 Im Artikel »Explications« 809 wurde die antisyndikalistische Position sogar expressis verbis unterstrichen: »L’heure est donc à l’Antisyndicalisme chez les anarchistes. Nous persistons à l’Affirmer.«810 Auch im Artikel »La leçon des faits« 811 wurde dieser subidentitäre Framing-Prozess sichtbar, wenn gegen den Anarcho-Syndikalismus der Schule Emile Pougets geschrieben wurde, welcher dem ›Wir‹ der L’action Anarchiste »[...] avait semblé peu anarchiste« 812 . Einige Zeilen weiter hieß es gar: »Nous n’avons pas de reproches à faire aux travailleurs que nous sommes, mais il faut bien constater la ›faillite syndicaliste‹.«813 Die Gründe für diese Feststellung lägen in den prägenden gewerkschaftlichen Grundsätzen, die auch von Anarcho-SyndikalistInnen übernommen würden und die nichts weniger als die Wahrhaftigkeit der Bewegung unterminierten: »L’embrigadement et la centralisation syndicalistes sont un facteur d’impuissance révolutionnaire, un danger pour l’indépendance, la sincérité du mouvement ouvrier.«814 Neben Abgrenzungen wurden in der L’action Anarchiste auch Hypergüter vermittelt um die kollektive Identität zu konstituieren und zu unterhalten. Als Methode positionierte die Gemeinschaft den permanenten Aufstand: »Nous devons servir de rempart à la liberté. La folie homicide des gouvernants et des capitalistes, ne sera réfrénée que par l’insurrection générale des travailleurs. Répétons-le toujours et sans cesse.« 815 Neben der Anpreisung der Methodik, die als insurrektionalistisch avant la lettre bezeichnet werden könnte und den permanenten Aufstand als einzige Methode hervorhob, wurden gleichzeitig auch weitere positive und negative Hypergüter – Freiheit, Kapitalismus, Regierung – vermittelt. Ebenso schimmerte 807  |  Vgl. ebd., S. 1. 808 | Der Verdacht wurde im Hinblick auf Streikentwicklungen in Frankreich geäußert: »Le vieux syndicat lance des affiches mouchardant les anarchistes.« (»Mouvement social: France«, L’action Anarchiste, 28.4.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 1) Dt.Ü.: »Die alte Gewerkschaft veröffentlicht Plakate, die die Anarchisten verunglimpfen.« 809  |  Les Initiateurs, »Explications«, L’action Anarchiste, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 810  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Die Stunde des Antisyndikalismus bei den Anarchisten ist gekommen. Das sagen wir mit Nachdruck.« 811  |  Oman, H., »La leçon des faits«, L’action Anarchiste, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 812  |  Ebd., S. 1. 813  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wir haben den Arbeitern, die wir sind, nichts vorzuwerfen, aber wir müssen das ›gewerkschaftliche Scheitern‹ feststellen.« 814  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Die Rekrutierung und Zentralisierung in den Gewerkschaften sind ein Faktor für die revolutionäre Machtlosigkeit, eine Gefahr für die Unabhängigkeit, für die Aufrichtigkeit der Arbeiterbewegung.« 815  |  L’action Anarchiste, »À Tous«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Wir müssen der Freiheit als Schutzwall dienen. Dem mörderischen Wahnsinn der Regierenden und der Kapitalisten kann nur durch einen allgemeinen Arbeiteraufstand Einhalt geboten werden. Das muss wieder und wieder gesagt werden.«

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darin das Selbstverständnis als ArbeiterInnen durch, das, wie der weitere Verlauf des Beitrags zeigt, nicht an der Aufoktroyierung einer absoluten Wahrheit interessiert war, sondern die Selbstermächtigung fördern wollte: »Et puis, somme toute, nous vous apportons le journal, nous vous l’offrons [...], faites en ce que vous voudrez.« 816 Dithyrambisch vertrat der Artikel »Les anarchistes« 817 die Propaganda der Tat als Methode, wenn er von einer »[...] époque héroïque des soulèvements et des ›tyrannicides‹«818 sprach und weiter nachdoppelte: »Retenons bien l’exemple d’abnégation et de courage donné, autour du changement du siècle, par cette poignée de martyrs aujoud’hui trop méconnus, demain acclamés.«819 Ein weiteres negatives Hypergut stellte das allgemeine Wahlrecht dar. In der Sinndeutung der Bewegung wurden Wahlen als ein letztlich freiheitsfeindlicher Akt präsentiert, da mit ihnen die Beschneidungen der Freiheit durch eine Installierung von Hierarchien legitimiert würden: »Le peuple ›souverain‹ choisis ses maîtres.« 820 Die Kritik am Wahlrecht weitete sich im Artikel aus und mündete ironisch in einer umfassenden Ablehnung des Parlamentarismus, bei der die Vermittlung der negativen Hypergüter reinforciert wurde: »Vote, peuple, vote pour les socialistes, forges des chaînes nouvelles, fais de nouveaux bourgeois; vote, ces gens-là élus par des imbéciles sont des hommes parfaits et un parlement socialiste serait la crème de l’humanité.« 821 Kurz und bündig schloss die L’action Anarchiste: »[N]ous anarchistes et antiparlementaires, nous réclamons l’Abolition du suffrage universel.«822 Einer Verkettung negativer Hypergüter kam eine Artikelserie zum Patriotismus823 gleich. Darin wurde der Patriotismus zum Un-Ziel der Gemeinschaft geschrieben, indem er als (Ersatz) Religion nach der Säkularisierung europäischer Staaten im 19. Jahrhundert beschrieben und so, durch die Gleichsetzung mit der Religion, als doppelt negatives Hypergut inszeniert wurde: »[L]a religion de la Patrie, la plus féroce, la plus intolérante, la plus ridicule de toutes, auprès de laquelle les autres ne sont que peu de chose, actuellement. L’etat le sait bien: le peuple 816 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Und letztendlich geben wir euch diese Zeitung, wir schenken sie euch [...], macht daraus, was ihr wollte.« 817  |  Truan, H., »Les anarchistes«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 818  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »[...] die heldenhafte Zeit der Aufstände und der ›Tyrannenmorde‹«. 819  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wir sollten uns das Beispiel an Opferbereitschaft und Tapferkeit gut merken, das uns eine handvoll Märtyrer um die Jahrhundertwende gegeben hat, die heute viel zu wenig bekannt sind, doch morgen gefeiert werden!« 820  |  Oivrony, »Contre le suffrage universel«, L’action Anarchiste, 28.4.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 1. Dt.Ü.: »Das ›souveräne‹ Volk wählt seine Herrscher.« 821  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wähle, Volk, wähle die Sozialisten, schmiede deine neuen Ketten, mach neue Bourgeois; wähle, diese von Dummköpfen gewählten Leute sind perfekte Menschen und ein sozialistisches Parlament wäre wohl die ›Crème‹ der Menschheit.« 822  |  Ebd., S. 1. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Wir Anarchisten und Antiparlamentarier fordern die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts.« 823  |  Oivrony, »Le dogme patriotique«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1-2 (Teil I), und 21.4.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 2 (Teil II). Vgl. bzgl. Antipatriotismus ferner auch den Artikel »La Patrie Suisse«, worin er als »admirable sentiment« bezeichnet wird, analog zum Antimilitarismus oder der »insoumission« (Truan, H., »La Patrie Suisse«, L’action Anarchiste, 21.4.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1).

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen abruti n’est pas devenu antireligieux; il a changé de religion, il est devenu patriote. [...] Cette Religion-Patrie, c’est l’etat lui-même; ces deux mots, ces deux choses sont indissolublement liés [...].« 824

Die so konstruierte Verbindung führte damit zu einer sich laufend verstärkenden negativen Feedbackschlaufe, bei denen beide Hypergüter sich in ihrer Negativität verstärkten. Abgesehen vom Titel nahmen in der L’action Anarchiste Selbstbezeichnungen mit Anarchie-Begriffen in der Identitätskonstitution des Kollektivs nur wenig Raum ein. Im programmatischen Eröffnungsartikel »À Tous« 825 wurde eine Selbstbezeichnung verwendet, die anzeigte, dass sich das ›Wir‹ als Gemeinschaft manuell Arbeitender sah.826 Im zweiten Teil der Artikelserie »Le dogme patriotique« 827 wurde weiter präzisiert, dass das ›Wir‹ sich als antimilitaristische und anarchistische Subgruppe der »masse prolétarienne« verstand. Die Selbstbezeichnung findet sich in der Vermittlung zweier zentraler Hypergüter der Gemeinschaft: »C’est le patriotisme qui a maintenu l’etat. C’est l’Antipatriotisme qui le tuera. Et nous, antimilitaristes et anarchistes, les vrais sans Dieu, les vrais penseurs libres, nous mènerons à bonne fin cette tâche.«828 Als weiteres Hypergut wurde die Anarchie als Ziel verhandelt. Die Gemeinschaft erkannte sie als »cauchemar des possédants«, ging dabei aber von ihr nicht als unikale Wahrheit aus: »Prétendons-nous que l’Anarchie est le seul, le premier cri des révoltés? loin de là! Mais nous pensons néanmoins qu’elle est le dernier en date.«829 Dennoch hieß es kurz darauf auch: »[N]ous pensons que l’Anarchisme se suffit à lui-même« 830, womit ein Unikalitätsdenken zu erkennen ist, das die Anarchie allerdings als nicht-fixiert und dynamisch vermittelte: »L’Anarchie progresse, l’Anarchie avance et se demeure incertain, hypo824  |  Oivrony, »Le dogme patriotique«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1-2. Dt.Ü.: »Die Religion des Vaterlandes ist die unbarmherzigste, die intoleranteste, die lächerlichste von allen, neben der alle anderen derzeit nicht viel bedeuten. Der Staat weiß nur zu gut: Das verdummte Volk ist nicht anitreligiös geworden; es hat die Religion gewechselt, es ist zum Patrioten geworden. [...] Diese Vaterlandsreligion ist der Staat selbst, diese zwei Worte, diese zwei Sachen sind untrennbar vereint [...].« Dementsprechend sind auch die angepriesenen Maßnahmen der Gemeinschaft gegen den Patriotismus nicht nur gegen ihn gerichtet: »Alors la lutte commence contre la société capitaliste, qui a le patriotisme comme pilier [...].« (Ebd., S. 2) Dt.Ü.: »Und so beginnt der Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft, die vom Patriotismus gestützt wird.« 825  |  L’action Anarchiste, »À Tous«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 826  |  Vgl. »[...] des travailleurs manuelles, dont nous sommes, [...]« (ebd., S. 1). Vgl. auch die oben bereits zitierte Passage »[...] travailleurs que nous sommes [...]« in Oman, H., »La leçon des faits«, L’action Anarchiste, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 827  |  Oivrony, »Le dogme patriotique«, 21.4.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. 828  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Der Patriotismus erhält den Staat aufrecht. Der Antipatriotismus wird ihn zerstören. Und wir, Antimilitaristen und Anarchisten, die wahren ohne Gott, die wirklichen Freidenker, wir werden diese Aufgabe zu Ende bringen.« 829  |  L’action Anarchiste, »À Tous«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Behaupten wir, die Anarchie sei der einzige, der erste Schrei der Aufständigen? Keineswegs! Doch wir denken trotzdem, dass er der jüngste ist.« 830  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »[W]ir denken, dass der Anarchismus sich selbst genügt.«

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thétique l’instant de sa réalisation, tous les jours voient fortifier la certitude de cette réalisation.« 831 Weitgehend einzigartig war eine oxymoronhafte Anordnung der Identitätskonstitution in einem abgedruckten Flugblatt zum 1. Mai 1906 832 . Die L’action Anarchiste benutzte den 1.Mai gewissermaßen als negativen Traditionalismus. Sie bezeichnet ihn als »banal cortège« und als »Pâques du travailleur« und besetzte den traditionellen Kampftag negativ. »Tu t‹y soûleras comme en carnaval, de vin et surtout de mots. .... Ils ne coûtent pas cher en ce jour les mots« 833, hieß es. Weiter wurde der Kampftag als Tradition kollektiv mit den »politiciens roublards, avec des gestes larges empruntés«834 verknüpft und abgewertet. Im Anschluss an diese Pejorativisierung wurden schließlich gemeinschaftseigene Hypergüter vermittelt: »Plus de lois, afin que chaque individu aille à son instinct naturel, sans entraves; Plus d’armées, de massacres, d’officiers fainéantes et pervers, de propriétaires insolents et brutaux. Plus de jugeurs frappant ceux à qui l’ordre social impose lui-même de violer ses lois; plus de prêtres, de parasites, de gouvernement, d’autorité; c’est la liberté absolue, la libre, l’heureuse anarchie! Peuple, lache la politique, fais tes affaires toi-mêmes, suis la voie qui te conduira vers ton émancipation. Cette voie est celle que nous t’indiquons, c’est la grêve générale expropriatrice, c’est la Révolution sociale et libertaire.« 835

Damit tauchte nicht nur in der identitätskonstituierenden Konstellation selbst, sondern auch in den vermittelten Hypergütern eine Kontradiktion auf: Einerseits wurde die Selbstermächtigung als Ideal portiert, andererseits erließ das ›Wir‹ diese Hypergüter im Imperativ und oktroyierte damit Werte auf. Dieses Schaffen negativer Traditionalismen, also von Affirmationen des kollektiven Selbst durch Absetzung von der eigenen Tradition, findet sich auch im Artikel »Les grèves«836, der die an sich aus anarchistischer Perspektive positive Wertung einer traditionellen Form der Direkten Aktion umdrehte, wenn er Streiks als wirkungslos bezeichnete: »Elles [die Streiks, d.V.] se suivent et se ... ressemblent. Elles ne font plus peur à personne. L’opinion les accepte comme une bouchée de pain noir à 831  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Die Anarchie verbreitet sich, die Anarchie schreitet voran, der Augenblick ihrer Verwirklichung bleibt ungewiss, hypothetisch, doch jeder Tag bestärkt die Gewissheit ihrer Verwirklichung.« 832  |  »L’action Anarchiste au Peuple!«, L’action Anarchiste, 28.4.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 2-3. 833  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »Wie beim Karneval wirst du dich dort betrinken, mit Wein und vor allem mit Worten... An diesem Tag kosten Worte nicht viel.« 834  |  Ebd., S. 3. 835 | Ebd., S. 3. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Keine Gesetze mehr, damit jedes Individuum seinen natürlichen Instinkten folgen kann; keine Armeen mehr, keine Massaker mehr, keine faulen und perversen Offiziere, keine unverschämten und brutalen Eigentümer. Keine Richtenden mehr, die es auf jene abgesehen haben, denen die soziale Ordnung das Brechen der Gesetze selbst aufzwingt; keine Priester mehr, keine Parasiten, keine Regierung, keine Autorität; Es ist die absolute Freiheit, die freie, die glückliche Anarchie! Volk, lass die Politik sein, kümmere dich um deine Angelegenheiten, folge dem Weg, der dich zur Emanzipation führen wird. Wir zeigen dir diesen Weg, es ist der enteignende Generalstreik, es ist die soziale und libertäre Revolution.« 836  |  Gueux, »Les grèves«, L’action Anarchiste, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1.

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bouffer de temps en temps.«837 Die Schuld dafür schob er mit einem weiteren Akt eines subidentitären Framing-Prozesses dem Anarcho-Syndikalismus zu, der mit stummen Abkommen (›convention mutelle occulte‹) letztlich gemeinsame Sache mit den Arbeitgebern machte.838

4.4.8.2 Zusammenfassung In der L’action Anarchiste ist eine Vielzahl an identitätskonstituierenden Mechanismen zu erkennen. Prominent vertreten sind Framing-Prozesse, die zuweilen auch subidentitär ausfielen und also aus Sicht der Gemeinschaft gleichermaßen gegen außen wie gegen innen durch Abgrenzungen Gemeinschaft schafften. Daneben stellte die Vermittlung von Hypergütern einen wichtigen Teil der Konstruktion und des Unterhaltes des kollektiven Identität dar. Dabei ist ein Überhang hin zu negativen Hypergütern feststellbar, also zu Zielen, Methoden, Ansätzen und Idealen, die durch ihre Inkohärenz zu Bewegungsmerkmalen werden. Selbstbezeichnungen wie auch der Umgang mit Anarchie-Begriffen sind ebenfalls als konstitutiv für die kollektive Identität zu erkennen, wobei sie numerisch eher spärlich gesät waren, als Titel aber dennoch eine prominente Rolle einnahmen. Ein Novum stellte der Umgang mit Traditionalismen in der L’action Anarchiste dar. Üblicherweise einende traditionalistische Ereignisse oder Methoden wurden zu negativen Traditionalismen umgeschrieben, indem die Divergenz zu ihnen kultiviert wurde und daraus Aspekte des kollektiven Selbst gerinnen gelassen wurden. Die Gemeinschaft der L’action Anarchiste ist als anarchistisch mit anarcho-kommunistischer Färbung zu bezeichnen. Die dahingehende Selbstbezeichnung als ›anarchistisch‹ lässt darüber ebenso wenig Zweifel wie die vermittelten Hypergüter, die in den Zeilen und Spalten des Blattes vermittelt wurden. Die anarcho-kommunistische kollektive Identität beinhaltete eine konsequent abstentionistische, antiparlamentaristische Haltung. Dies betraf dabei nicht nur eine Distanzierung vom Staat in seiner herrschenden Form, sondern äußerte sich auch in einer antisyndikalistischen Position, begründet in deren permanenten und statuarischen Organisation, die um eine hierarchische Gliederung nicht herumkomme. Auch der in der L’action Anarchiste omnipräsente und damit für die kollektive Identität produktive Antimilitarismus und Antipatriotismus können unter diesem Gesichtspunkt erklärt werden. Schließlich bestätigte das – stellenweise dithyrambische – Bekenntnis zur Propaganda der Tat als Methode die Taxonomie der Gemeinschaft der L’action Anarchiste als anarcho-kommunistisches Kollektiv, wobei wiederkehrende Aufrufe zum permanenten Aufstand ihr einen insurrektionalistischen Anstrich avant la lettre verliehen. Mit in der Tatsache begründet, dass die Genfer Zeitung nur gerade über vier Ausgaben hinweg erschienen ist, vermag die Erkenntnis kaum erstaunen, dass weder Grabenkämpfe noch fundamentale Mutationen in der Konzeption und Konstitution der kollektiven Identität auszumachen sind. Auch eine Häufung identitätskonstituierender Artikel ist nicht auszumachen. Im Gegenteil ist festzustellen, dass mit Ausnahme von Kürzestmeldungen fast alle Beiträge zu Formung und

837  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Sie folgen aufeinander und... gleichen sich. Sie machen niemandem mehr Angst. Die Öffentlichkeit akzeptiert sie wie ein Happen dunkles Brot, der von Zeit zu Zeit geschluckt werden muss.« 838  |  Vgl. ebd., S. 1.

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Unterhalt der kollektiven Identität der Gemeinschaft beitrugen, die sie einerseits herausgab, die sie andererseits aber auch repräsentierte.

4.4.8.3 Bibliografische Details (1) L’action Anarchiste; (2) A. Truan; (3) A. Truan, Case Postale Mont Blanc, Genf; (4) Genf; (5) 14.4.1906-28.7.1906; wöchentlich839; 4 Seiten (je 2 Seiten französisch und italienisch) respektive 2 Seiten (je 1 Seite französisch und italienisch) für Jg. 1, Nr. 4; (6) »un manifeste aux travailleurs destiné à l’Affichage dans n’importe quelle localité« 840 in Jg. 1, Nr. 3; nicht in den Beständen; (9) Bibliothèque de Genève, Genf, Rc 39/32 (Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 1, Nr. 3); CIRA Lausanne, PF 701 (Jg. 1, Nr. 4); (10) Die L’action Anarchiste wurde gedruckt von der Imprimerie commerciale, Rue Necker 9 in Genf mit Ausnahme von Jg. 1, Nr. 4, die von der Imprimerie spéciale du bureau de propagande à Alfortville (F), gedruckt wurde, da keine Genfer Druckerei den Auftrag übernehmen wollte.841 Die Auflage umfasste rund 2500 Exemplare und die Zeitung verzeichnete rund 450 AbonenntInnen.842 In der Regel sind die Artikel der L’action Anarchiste anonym verfasst. Die Ausgabe zum 1. Mai 1906, Jg. 1, Nr. 3, enthält ein zweisprachig abgedrucktes Flugblatt. Die Finanzierung der L’action Anarchiste beruhte auf Direktvertrieb, wie der ersten Nummer zu entnehmen ist. Auf Anfrage hin wurden fünf bis zehn Exemplare der zweisprachigen Zeitung an offizielle Adressen verschickt, die sie dann weiterverkaufen sollten. Abgesehen davon setzte die L’action Anarchiste mit zweifelhaften Methoden Abonnements ab: Wie einige anarchistische Zeitungen auch, interpretierte sie das Nicht-Refüsieren von unaufgeforderten Exemplaren als Zeichen des Abonnements, wenngleich die so eingegangene ›Verpflichtung‹ bloß ein Trimester dauern sollte.843 Im französischsprachigen Teil der Zeitung finden sich mehrere Rubriken. »Mouvement social« vermittelte einen Überblick über die internationale und nationale anarchistische Bewegung. In dieser Rubrik wurden vor alle aktuelle Streiks oder staatliche Repression verhandelt, wobei Letztere einmal sogar einen eigenen Zwischentitel (»Persécutions«) erhielt. Die Rubrik »Roulement« fasste die aktuellen Einnahmen und Ausgaben zusammen, »Petite Correspondance« enthielt ein Verzeichnis der eingegangenen Korrespondenz. Die Agitation der L’action Anarchiste beschränkte

839  |  Zwischen Jg. 1, Nr. 3 und Jg. 1, Nr. 4 vergingen drei Monate wegen Druckschwierigkeiten und finanziellen Engpässen. Vgl. Les initiateurs, »Explications«, L’action Anarchiste, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 840 | Vgl. »Avis«, L.‚ Action Anarchiste, 21.4.1906, S. 1. Dt.Ü.: »ein Manifest für die Arbeiter, das in allerlei Orten angeschlagen werden soll«. 841  |  »Aucun imprimeur, à Genève, n’a voulu faire l’action Anarchiste, même payée d’avance [...].« (Les initiateurs, »Explications«, L’action Anarchiste, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1). Dt.Ü.: »Keine einziger Drucker in Genf wollte die L’Action Anarchiste machen, nicht einmal auf Vorauszahlung [...].« Mit dem Wechsel der Druckerei änderte sich auch das Erscheinungsbild des Kopfes der Zeitung. 842  |  Bianco, 100 ans de presse anarchiste, http://bianco.ficedl.info/spip.php?article17 (Stand: 10.3.2011). 843  |  Vgl. »Aux Compagnons, aux Groupes!«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1.

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sich wesentlich auf die Pressetätigkeit; sie enthielt bloß einen Aufruf zu einer anarchistischen Veranstaltung.844

4.4.9 La Voix du Peuple Abbildung 20: La Voix du Peuple, 3.2.1906, Jg. 1, Nr. 4. (CIRA Lausanne, Rf 203 GF)

4.4.9.1 Relevante Er wähnungen Die Vermittlung von Hypergütern wirkte am prominentesten mit an der Konstitution und Konstruktion kollektiver Identität in der La Voix du Peuple. Ihre Färbung als aktionsorientierte Gemeinschaft erhielt sie unter anderem durch die Aufzählung bevorzugter Methoden, vornehmlich Formen der Direkten Aktion: »[...] boycottages, mises à l’index 845 et grêves partielles [...]« 846. Auch das immer wieder 844  |  Es wurde eine öffentliche Konferenz zum Thema »L’idéal libertaire« angepriesen, bei dem ein Mitglied der anarchistischen Gruppe ›Germinal‹ anwesend sein würde. Vgl. »Propagande«, L’action Anarchiste, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 845  |  Der Index ist eine laufend aktualisierte und ergänzte Liste boykottierter Unternehmen. 846  |  La Voix du Peuple, »Aux Travailleurs!«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Diesen drei bevorzugten Methoden blieb das Blatt treu: In der Rubrik »Mises à l’index« waren bspw. in jeder Ausgabe aktualisierte Boykottaufrufe verzeichnet. Diese verhängten Boykotte waren dabei umfassend. Es wurde nicht nur ein Produkt boykottiert, sondern auch die Orte, in denen das Produkt verkauft wurde. Vgl. dazu exemplarisch den verhängten Boykott über den Druckereibesitzer Louis Bron »Mise à l’index.«, La Voix du Peuple, 17.2.1906, Jg. 1, Nr. 6, S. 2. Geschäfte, welche die La Voix du Peuple so gewissermaßen in zweiter Instanz boykottierte, wurden vorhergehend per Brief darüber informiert. Vgl. »Le boycott de la Tribune de Genève à Lausanne«, La Voix du Peuple, 1.-7.1.1910, Jg. 5, Nr. 1, S. 1-2. Weitere umfassend kommunizierte und langwierige Boykotte betrafen die Tabakfabrikanten Vautier oder die Tribune de Genève. Vgl. für eine politische Deutung des Boykotts als revolutionären Akt »Mouvement ouvrier international: Suisse«, La Voix du Peuple, 24.2.1906, Jg. 1, Nr. 7, S. 3-4, oder Bernard, Alice, »Boycottage«, La Voix du Peuple, 29.1.1910, Jg. 5, Nr. 5, S. 4. Im Laufe des Erscheinens wurden weitere Direkte Aktionen propagiert, so z.B. eine flächendeckende

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

formulierte Hauptziel, »L’Émancipation intégrale du travailleur« 847, wurde als Hypergut vermittelt. Dieses sollte mit Bewusstseinsschaffung und Solidarität erreicht werden, die in anarcho-syndikalistischer Manier klassenspezifisch erfolgte und zu den zentralen Anliegen der Gemeinschaft zählen sollten: »[La Voix du Peuple] créera un lien de solidarité plus puissant et plus large entre les ouvriers d’un même syndicat et entre les syndicats eux-mêmes; elle étendra cette conception à toute la classe ouvrière, sans distinction de nationalité ou d’opinion, afin que l’ouvrier sache bien qu’il ne doive voir d’ennemi ou d’adversaire que chez ceux qui l’exploitent; en un mot elle developpera [...] le mouvement syndical et le niveau intellectuel et matériel du prolétariat.« 848

Der anarcho-syndikalistische Zuschnitt ist auch in weiteren vermittelten positiven und negativen Hypergütern zu erkennen: »Fortifions donc nos syndicats, germes des révoltes futures, semons-y crânement l’esprit d’indépendance, la haine de la patrie, des chefs, des lois inutiles [...]. Fortifions l’union et chassons la discorde. Une vie meilleure pour nos enfants, sinon pour nous, naîtra de ces efforts«849, hieß es in einem über ein Jahr später erschienenen Beitrag, womit Antipatriotismus, Unabhängigkeit ebenso wie das monadische Bild der Syndikate portiert wurden. Bezüglich der Propaganda der Tat als Form und Akt der Direkten Aktion bezog die La Voix du Peuple keine eindeutige Stellung. Ob das an den 1906 erweiterten Strafnormen lag, die zu teils drastischen Geld- und Haftstrafen führen konnten, kann nur vermutet werden. Jedenfalls war lediglich zwischen den Zeilen zu lesen, dass durch das Ausbleiben einer klaren Ablehnung gegenüber dieser Methode ein gewisses Verständnis bestand.850 So wurde im Artikel das Zünden von Bomben in revolutionärer Absicht als Antwort von Unterdrückten auf die alltägliche Repression und Unterdrückung verstanden: »[C]haque bombe signifie: ›Malheur Expropriation (vgl. Erlebach, Jules, »L’esprit de révolte.«, La Voix du Peuple, 12.5.1906, Jg. 1, Nr. 18, S. 2) oder die Sabotage (G., »A propos du sabotage«, La Voix du Peuple, 23.2.1907, Jg. 2, Nr. 8, S. 1-2, resp. Noverraz, G., »Grève et Sabotage«, La Voix du Peuple, 20.6.1908, Jg. 3, Nr. 25, S. 1 (Teil I), und Noverraz, G., »Grève et Sabotage«, La Voix du Peuple, 11.7.1908, Jg. 3, Nr. 28, S. 1-2 [Teil II]). 847 | »Notre Programme«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 848  |  La Voix du Peuple, »Aux Travailleurs!«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »[Die La Voix du Peuple] soll eine stärkere und breitere Solidarität zwischen den Arbeitern der gleichen Gewerkschaft und zwischen den Gewerkschaften an sich schaffen, und diese auf die gesamte Arbeiterklasse ausweiten, ohne Unterscheidung nach Nationalität oder nach Ansicht, damit dem Arbeiter klar werde, dass er allein in denen, die ihn ausbeuten, seine Feinde und Gegner sehen darf; in einem Wort, sie soll die Gewerkschaftsbewegung sowie das moralische und materielle Niveau der Arbeiterklasse vorantreiben.« 849 | »Réflexions«, La Voix du Peuple, 5.10.1907, Jg. 2, Nr. 40, S. 3. Dt.Ü.: »Wir müssen also unsere Gewerkschaften stärken, die Keime der zukünftigen Aufstände, wir müssen dort kühn den Geist der Unabhängigkeit, den Hass des Vaterlandes, der Chefs, der unnützen Gesetze säen [...]. Wir müssen die Einigkeit stärken und die Zwietracht bekämpfen. Aus diesen Anstrengungen wird ein besseres Leben, wenn nicht für uns, dann für unsere Kinder hervorgehen.« 850  |  Vgl. Avennier, Louis, »A propos d’une bombe«, La Voix du Peuple, 9.6.1906, Jg. 1, Nr. 22, S. 1.

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à vous, égoïstes, jouisseurs, outres gonflées, race de vipères!‹«851 Der Artikel »Les excitateurs!« vermittelte eine ähnlich vage Haltung, enthielt aber den Satz »Je ne veux pas faire ici d’apologie de l’acte de Madrid [...].« 852 In einem Folgeartikel zum Attentat des Anarchisten Antonio Dalba auf den italienischen König Viktor Emanuel III am 14.3.1912 wurde revolutionäre Gewalt in den Zeilen der La Voix du Peuple aber erneut als Gegengewalt verstanden und damit ansatzweise legitimiert: »Les morts qu’il y a [...] dans les camps des privilégiés ne seront rien auprès des salariés qu’ils assassinent poussés par leur soif de jouissance. D’ailleurs, le nombre des victimes de notre violence révolutionnaire sera proportionné à la résistance des bandits qui, maintenant, dominent.«853 Auch das kontextfreie Abdrucken einer Abbildung des anarchistischen Attentäters Gaetano Bresci, das mit der Bildlegende »Le Martyr Bresci«854 versehen wurde, verriet eine gewisse Affinität zu PropagandistInnen der Tat und ihren Methoden. Andere Direkte Aktionen wie der Streik wurden verquickt mit anderen Hypergütern vermittelt. Beim Propagieren des Antiparlamentarismus etwa wurde die Direkte Aktion des Streikens als einzig wirksames Mittel der integralen Emanzipation der ArbeiterInnen propagiert. 851  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Jede Bombe bedeutet: ›Wehe euch, ihr Egoisten, ihr Wolllüstlinge, ihr aufgeblähten Säcke, ihr Schlangenbrut!‹« 852  |  J.D., »Les excitateurs!«, La Voix du Peuple, 16.6.1906, Jg. 1, Nr. 23, S. 1. Dt.Ü.: »Ich möchte hier die Tat von Madrid nicht verherrlichen [...].« Als am 19.6.1906 vor dem Haus eines Lausanner Patrons eine Dynamitkartusche explodierte, distanzierte sich die Gemeinschaft wiederum nicht, erkannte aber stattdessen in der Bombe ein Werk der Reaktion, die damit die anarcho-syndikalistische Bewegung habe anschwärzen und schwächen wollen: »L’opinion unanime des camarades est que cette explosion est une manœuvre de la réaction. La grève de nos camarades se présentant dans d’excellentes conditions, le patronat avait un puissant intérêt à ce qu’un attentat à la propriété se commette au début de la grève pour mettre l’opinion publique de son côté, et les forces gouvernementales à sa disposition, afin de briser toute résistance des grévistes.« (»La grève des maçons«, La Voix du Peuple, 23.6.1906, Jg. 1, Nr. 24, S. 1). Dt.Ü.: »Die Genossen sind sich einige, dass diese Explosion ein Manöver der Reaktion ist. Da der Streik der Genossen unter hervorragenden Bedingungen anläuft, hatten die Patrons ein höchstes Interesse daran, dass zu Beginn des Streiks ein Attentat gegen das Eigentum begangen wird, um so die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen und die Regierungskräfte zu ihrer Verfügung gestellt zu bekommen, um jeglichen Widerstand der Streikenden zu brechen.« 853  |  Comte, A., »La violence«, La Voix du Peuple, 30.3.1912, Jg. 7, Nr. 13, S. 2. Dt.Ü.: »Die Toten, die es [...] auf der Seite der Privilegierten gibt, sind nichts neben den Lohnarbeitern, die sie getrieben von ihrer Profitgier ermorden. Die Zahl der Opfer unserer revolutionären Gewalt wird dem Widerstand der Verbrecher angemessen sein, die zurzeit herrschen.« Auch ohne vorgängige Attentate bekannte sich die La Voix du Peuple zur revolutionären Gewalt: »Nous devons donc être convaincus qu’il ne faut jamais cacher notre programme, qu’il y a constamment lieu, au contraire, de le [...] propager [...] d’une façon intransigeante de le défendre énergiquemment, et même violemment. Oui, violemment.« (Un syndicaliste, »Un idéal«, La Voix du Peuple, 10.8.1912, Jg. 7, Nr. 31, S. 1) Dt.Ü.: »Wir müssen die Überzeugung haben, dass wir unser Programm niemals verheimlichen müssen, dass es, ganz im Gegenteil, wichtig ist es [...] unnachgiebig zu verbreiten [...] es energisch und sogar mit Gewalt zu verteidigen. Ja, mit Gewalt.« 854 | La Voix du Peuple, 24.8.1912, Jg. 7, Nr. 33, S. 2.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse »S’il est encore des ouvriers qui gardent des illusions sur l’utilité de participer à l’action parlementaire, de faire de la politique électorale dans les syndicats, la lecture de ce qui suit pourra leur donner un enseignement. [...] En réalité, un mouvement n’est possible qu’en cas de grève, et c’est celle-ci que craignent les chefs.« 855

Der Antiparlamentarismus der Gemeinschaft dehnte sich zumindest in der Anfangsphase zwar nicht zu einem Abstentionismus aus: So können in der La Voix du Peuple durchaus auch Abstimmungsempfehlungen gelesen werden.856 Dies änderte sich mit dem Redaktionswechsel 1911 nach Genf, der den Abstentionismus als gemeinschaftliches Hypergut etablierte und in machen Artikeln vermittelte.857 Nichtsdesto trotz finden sich auch vor 1911 schon wiederholte Abgrenzungen gegenüber dem politischen Flügel, die den Antiparlamentarismus als positives Hypergut stützten: »Le socialisme politique est une chose; le socialisme ouvrier en est une autre. Distinction capitale [...].« 858 Auch die Partizipation gehörte zu den Hypergütern der Gemeinschaft rund um die La Voix du Peuple. So positionierte sich die über neun Jahrgänge hinweg erschienene Zeitung bereits im ersten Artikel dementsprechend als zumindest entlang den Klassengrenzen strukturell offenes Gefäß: »La Voix du Peuple sera [...] un journal fait pour le peuple et – ce qui est mieux encore – un journal fait par le peuple, car seuls les ouvriers syndiqués y auront libre discus855 | Ermes, »L’action parlementaire et les bourgeois«, La Voix du Peuple, 5.5.1906, Jg. 1, Nr. 17, S. 3. Dt.Ü.: »Sollte es noch Arbeiter geben, die sich in der Illusion wiegen, die parlamentarische Teilnahme, das Betreiben gewerkschaftlicher Wahlpolitik sei nützlich, kann ihnen die Lektüre des Folgenden eine Lehre sein. [...] In Wirklichkeit ist eine Bewegung nur im Falle eines Streiks möglich und es ist Letzterer, den die Chefs fürchten.« Wenig erstaunlich ist auch die Schaffung des Antonyms ›action indirecte‹, womit legalistische und/ oder parlamentarische Maßnahmen stellenweise auch bezeichnet wurden. Vgl. dazu Kontrhof, »Les deux voies«, La Voix du Peuple, 26.5.1906, Jg. 1, Nr. 20, S. 2-3, und Bartholdi, H., »Syndicalisme révolutionnaire«, La Voix du Peuple, 26.5.1906, Jg. 1, Nr. 20, S. 4. Diese identitätskonstituierenden Momente wurden durch Gegenstimmen durchkreuzt, welche die damit induzierte Spaltung verhindern und eine möglichst breite Bewegung wollten. Diese Stimmen blieben aber sehr vereinzelt. Vgl. Grillon, »L’union fait la force«, La Voix du Peuple, 16.6.1906, Jg. 1, Nr. 23, S. 4. 856  |  Vgl. »Denrées alimentaires«, La Voix du Peuple, 2.6.1906, Jg. 1, Nr. 22, S. 2, oder »La nouvelle loi«, La Voix du Peuple, 2.11.1907, Jg. 2, Nr. 44, S. 1 sowie die Fußzeile derselben Ausgabe. Eine gewisse Sympathie für den Abstentionismus ist in späteren Jahrgängen aber durchaus auszumachen. Einen Artikel beschließend hieß es etwa 1910: »Ne pas voter, c’est bon, mais ça ne suffit nullement. Il faut remplacer la délégation de pouvoir par l’action directe révolutionnaire.« (»Carnaval en plein carême«, La Voix du Peuple, 17.12.1910, Jg. 5, Nr. 51, S. 1) Dt.Ü.: »Es ist gut, nicht zu wählen, aber es ist keineswegs ausreichend. Die revolutionäre direkte Aktion muss an die Stelle der Machtübertragung treten.« 857  |  Vgl. etwa De La Ville, Jean, »La Duperie électorale«, La Voix du Peuple, 11.11.1911, Jg. 6, Nr. 45, S. 1, J.B., »Notre émancipation«, La Voix du Peuple, 18.11.1911, Jg. 6, Nr. 46, S. 1, oder der ebenfalls eindeutig betitelte Beitrag De La Ville, Jean, »Pas de compromission«, La Voix du Peuple, 10.2.1912, Jg. 7, Nr. 6, S. 1. 858 | Dunois, Amédée, »Le Socialisme ouvrier«, La Voix du Peuple, 23.1.1909, Jg. 4, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »Der politische Sozialismus ist eine Sache, der Arbeitersozialismus ist eine andere. Die Unterscheidung ist wesentlich [...].«

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sion.«859 Eng damit verknüpft ist das Hypergut der Selbstermächtigung, das sentenzenhaft in jeder Ausgabe der La Voix du Peuple vermittelt wurde. So hieß es in der Kopfzeile jeder Ausgabe: »L’Émancipation des Travailleurs doit être l’œuvre des Travailleurs eux-mêmes.« 860 Dieses Sentiment wurde aber auch in ausführlichen Artikeln so oft vermittelt, dass von einem zentralen Hypergut ausgegangen werden muss.861 Ebenfalls überaus häufig vermittelte Hypergüter waren Antipatriotismus und Antinationalismus. Einerseits wurde vom Vaterland in der Mehrheit nur in Anführungszeichen862 oder vom »culte de la patrie«863 gesprochen, andererseits wurde eine klassenbasierte Weltdeutung propagiert, die nicht zwischen In- und AusländerInnen unterschied, sondern zwischen ›exploiteurs‹ und ›exploités‹.864 Damit wurde der hochfliegende Nationalismus der Jahrhundertwende als Konstruktion demaskiert, dem es keine Folge zu leisten gelte: »Au reste, quoi qu’on en 859  |  La Voix du Peuple, »Aux Travailleurs!«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Die La Voix du Peuple ist eine Zeitung, die für das Volk gemacht wird, und – noch besser – eine Zeitung, die vom Volk gemacht wird, denn allein die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter können dort frei debattieren.« Den Partizipierenden wurde mit der Rubrik »Tribune libre« dedizierter redaktioneller Raum zugestanden. Vgl. »Tribune libre«, La Voix du Peuple, 3.2.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 3-4. 860 | Vgl. exemplarisch La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Die Emanzipation der Arbeiter muss das Werk der Arbeiter selbst sein.« Für das Führen dieser Kopfzeile erhielt die Zeitung ein Lobschreiben des umtriebigen Gründungsmitglieds der antiautoritären Internationale, James Guillaume. Vgl. »Souhaits de bienvenue«, La Voix du Peuple, 2.2.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 861  |  Vgl. exemplarisch »Invariable contestation«, La Voix du Peuple, 15.9.1906, Jg. 1, Nr. 36, S. 1. Dass es der Gemeinschaft ernst war mit der Selbstermächtigung zeigt die Gründung der kollektiv geführten Druckerei namens ›Imprimerie des unions ouvrières à base communiste‹, die mit separat mobilisierten Bewegungsgeldern finanziert wurde. Vgl. dazu den initialen Aufruf des Zentralkomitees der FUOSR »Aux organisations ouvrières«, La Voix du Peuple, 8.12.1906, Jg. 1, Nr. 48, S. 1. Vgl. ebenfalls die begeisterte Kolportage der Gründung eines kollektiv und kooperativ geführten Coiffeursalons in Genf. Auch diese Selbstermächtigung wurde als politischer Akt gesehen, der an der »[...] disparition du patronat, de l’Autoritarisme, du capitalisme, en un mot du système d’exploitation de l’homme par l’homme« (»Salon de coiffure communiste«, La Voix du Peuple, 16.3.1907, Jg. 2, Nr. 11, S. 3) [dt.Ü.: »Abschaffung des Unternehmertums, des Autoritarismus, des Kapitalismus, kurz: des Systems der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen«] arbeite. Immer wieder wurden Gründungen von Kooperativen begrüßt und zur Unterstützung empfohlen als Direkte Aktion gegen die patronale Struktur des Marktes. Vgl. exemplarisch »Coopératives de production«, La Voix du Peuple, 9.5.1908, Jg. 3, Nr. 19, S. 3-4 und L.D., »La coopération communiste en Suisse romande«, La Voix du Peuple, 6.6.1908, Jg. 3, Nr. 23, S. 2. 862  |  Vgl. »Le mouvement ouvrier international«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 3-4. 863  |  Ls. Ar. »Quelques notes.«, La Voix du Peuple, 20.1.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. 864  |  Vgl. »Le mouvement ouvrier international«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 3. Dahingehend auch Ls.Ar. »Quelques notes.«, La Voix du Peuple, 20.1.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1: »Les patries s’effacent et sont remplacées par les classes.« Dt.Ü.: »Die Vaterländer treten zur Seite und die Klassen an ihrer Stelle.« Die Klassenrhetorik ist über alle Jahrgänge hinweg präsent in der La Voix du Peuple.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

dise, les travailleurs [...] ne reconnaissent que deux nations: d’un coté le prolétariat, les producteurs; d’autre part la bourgeoisie, les exploiteurs. [...] Le coté international de nos luttes s’impose donc à nous tout naturellement.«865 Einer utopischen Auslegeordnung gleich kam der Artikel »Réveil«, worin egalitäre antimilitaristische, freiheitsorientierte und antikapitalistische Ziele und Wünsche der Gemeinschaft konzis zusammengestellt wurden: »Par ce temps de craintes, où l’on ne parle que de guerres, qu’il est doux de rêver de paix; non pas de paix armée, mais d’une paix douce et sereine; d’une paix universelle entre hommes de tous les pays et de toute les conditions; un monde où les larmes, les misères qui découlent de L’État économique actuel seraient bannies, où les hommes redeviendraient hommes dans la plénitude de leurs droits et de leurs devoirs; où la femme, d’esclave, deviendrait compagne; où les enfant s’abreuveraient de liberté, d’amour et de plaisir sur une terre féconde et intarissable, sous les ardent rayons d’un radieux soleil.« 866

Dem Antimilitarismus der Gemeinschaft wurde immer wieder Platz eingeräumt. In Kongruenz mit der Weltdeutung der ›Antimilitaristischen Liga‹ war der Gedankengang, dass im Fall von Streiks letztlich Arbeiter gegen ArbeiterInnen eingesetzt würden, die den Antimilitarismus zu einem der zentralen Anliegen erwachsen lassen würden: »La Voix du Peuple protestera énergiquement dans tous les cas de levées de troupes en cas de grêve et invitera les camarades à refuser de marcher contre des frères luttant pour améliorer leurs conditions économiques.«867 Im Vor865  |  Vgl. »Le mouvement ouvrier international«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 3-4. Dt.Ü.: »Im Übrigen, ganz gleich was gesagt wird, erkennen die Arbeiter [...] nur zwei Nationen an: auf der einen Seite das Proletariat, die Produzierenden; auf der anderen Seite die Bourgeoisie, die Ausbeutenden. [...] Der internationale Aspekt unserer Kämpfe ist uns demnach von Natur her geboten.« Mit dem Krieg als Verkettung von Nationalismus und Militarismus beschäftigten sich in ähnlicher Weise mehrere Artikel. Vgl. stellvertretend Truan, H., »Bruits de guerre«, La Voix du Peuple, 3.2.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 1: »A l’ordre de marche gouvernemental, capitaliste, nous devons répondre par le refus de servir et défendre la Patrie, c’est-à-dire le coffre-fort, et imposer notre volonté par la grève générale insurrectionelle des travailleurs.« Dt.Ü.: »Auf den kapitalistischen Regierungsbefehl zu marschieren müssen wir mit unserer Weigerung zu dienen und das Vaterland, d.h. den Geldschrank, zu verteidigen antworten und unseren Willen durch einen aufständischen Generalstreik der Arbeiter durchsetzen.« 866 | Edné, »Réveil.«, La Voix du Peuple, 17.2.1906, Jg. 1, Nr. 6, S. 3. Dt.Ü.: »In diesen furchterfüllten Zeiten, in denen man nur von Kriegen spricht, ist es angenehm vom Frieden zu träumen; nicht etwa von einem bewaffneten Frieden, sondern einem zarten und ruhigen Frieden; ein universeller Frieden zwischen den Menschen aller Länder und aller Konditionen; eine Welt, aus der die durch diesen ökonomischen Zustand hervorgerufenen Tränen und das Elend verbannt wären, in der die Menschen wieder zu Menschen in der vollen Ausübungen ihrer Rechte und ihrer Pflichten würden; wo die Frau, nicht mehr Sklavin sondern Gefährtin würde; wo die Kinder auf einer fruchtbaren und unerschöpflichen Erde unter dem heißen Licht einer strahlenden Sonne mit Freiheit, Liebe und Freude überschüttet würden.« 867  |  Z., »L’Armée en cas de grêve.«, La Voix du Peuple, 24.2.1906, Jg. 1, Nr. 7, S. 1. Dt.Ü.: »Die La Voix du Peuple protestiert energisch dagegen, wann immer im Falle eines Streikes Truppen aufgestellt werden, und ruft die Genossen dazu auf, sich zu weigern gegen Brüder

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feld und mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs erstarkte der Antimilitarismus erneut im Zusammenhang mit einer umfassenden Antikriegspropaganda.868 Neben zahlreichen Artikeln erschien auch eine Sondernummer mit dem Titel »Contre la guerre: Guerre à la guerre« 869. Der Antimilitarismus der Gemeinschaft wurde in den Jahren vor dem Krieg inhaltlich ergänzt. Die Deutung der Armee als Waffe des Klassenkampfes von oben im Landesinneren870 wurde im Hinblick auf drohendene Kriege um eine internationalistische Perspektive ergänzt.871 Zusätzlich wurde der Krieg als Verkettung von Nationalismus, Kapitalismus und Patriotismus kritisiert.872 Bildung und Erziehung gewannen als Hypergüter der Gemeinschaft kontinuierlich an Bedeutung. Von einer bewegungseigenen Bildung wurde eine nachhaltige Abkehr staatlich-kirchlich verordneter Denkweisen erwartet, da das entstehende Vakuum durch eigene Ideale gefüllt werden könne und den Humus für eine Umgestaltung der Zustände darstellen solle: »Sachons-le, la révolution sociale ne s’accomplira que dans la mesure où la révolution des esprits se réalisera.« 873 Neben der Bewusstseinsbildung bei Erwachsenen stand vor allem die Ausbildung

zu marschieren, die für eine Verbesserung ihrer Arbeitzbedingungen kämpfen.« Vgl. exemplarisch den Hinweis auf eine antimilitaristische Sondernummer der Zeitung »Contre l’Armée [...] numero spécial antimilitariste«, La Voix du Peuple, 7.9.1907, Jg. 2, Nr. 36, S. 1. Die »numéro spécial antimilitariste et antipatriotique« (»Numéro spécial antimilitariste«, La Voix de Peuple, 12.10.1907, Jg. 2, Nr. 41, S. 3) erschien in einer Auflage von 10.000 Exemplaren (Ohne Titel, La Voix du Peuple, 26.10.1907, Jg. 2, Nr. 43, S. 1 oben), wovon 6010 Stück vorbestellt waren (gemäß »Numéro spécial antimilitariste«, La Voix du Peuple, 19.10.1907, Jg. 2, Nr. 42, S. 3). 868  |  Dass das Thema Krieg in der Bewegung an Relevanz gewann, lässt sich an der Traktandenliste des halbjährlichen Kongresses der FUOSR vom 3.3.1912 ablesen, die unter Punkt 7 die Ausarbeitung einer Stellungnahme zum Krieg verhandeln wollte. Vgl. Comité fédératif, »Congrès fédératif«, La Voix du Peuple, 24.2.1912, Jg. 7 Nr. 8, S. 1. Aus Zeitmangel am Kongress nur kurz behandelt, wurde die Relevanz des Themas v.a. in weiteren Artikeln erkennbar: »De l’Attitude de la classe ouvrière en cas de guerre dépendra l’Avenir: ou la réaction et avec elle notre écrasement, ou la révolution et avec elle notre libération.« (Un syndicaliste, »La guerre«, La Voix du Peuple, 23.3.1912, Jg. 7, Nr. 12, S. 1) Dt.Ü.: »Die Zukunft hängt von der Haltung der Arbeiter im Kriegsfalle ab: entweder die Reaktion und mit ihr unser Untergang, oder die Revolution und mit ihr unsere Befreiung.« 869  |  Vgl. A.A., »A bas la Guerre!«, La Voix du Peuple, 1.8.1914, Jg. 9, Nr. 29, S. 1. Dt.Ü.: »Gegen den Krieg: Krieg dem Kriege!« 870  |  Vgl. etwa »Le rôle de l’Armée«, La Voix du Peuple, 26.8.1911, Jg. 6, Nr. 34, S. 2. 871  |  »Refusant d’entrer en lutte contre nos frères d’autres pays, nous saurons nous armer et aller à la bataille contre les potentats de la finance et tous les gouvernants, leurs valets.« (Amiguet, A., »Impressions«, La Voix du Peuple, 22.7.1911, Jg. 6, Nr. 29, S. 1-2) Dt.Ü.: »Wir weigern uns, gegen unsere Brüder anderer Länder zu kämpfen, und wir werden uns zu rüsten wissen, um gegen die Potentaten des Finanzwesens und allen Regierenden, ihren Dienern, in die Schlacht zu ziehen.« 872  |  Vgl. exemplarisch A.A., »Le militarisme révolutionnaire«, 4.3.1911, Jg. 6, Nr. 9, S. 2. 873  |  Aegerter, H., »Instruction et Education«, La Voix du Peuple, 9.1.1909, Jg. 4, Nr. 2, S. 3. Dt.Ü.: »Machen wir uns klar, die soziale Revolution wird nur in dem Umfang stattfinden, wie die Revolution des Geistes sich verwirklicht.«

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von Kindern im Zentrum, für die ›écoles libres‹ angedacht 874 und auch umgesetzt 875 wurden.876 Ansätze und Ziele, die der proletarischen Frauenbewegung der Zeit entsprangen, wurden ebenfalls portiert.877 In einigen Artikeln wurde auch eine Synthese der beiden Bewegungen propagiert.878 Libertärer Kulminationspunkt war der Beitrag einer Autorin, der dem Frauenstimmrecht seinen Zweck absprach und Unabhängigkeit und Freiheit erst in der Abschaffung des herrschenden Systems als möglich erachtete: »La femme ne sera réellement libre, maîtresse de son corps et de son cerveau, que le jour où auront disparu le capitalisme et l’etat. [...] Le bulletin de vote ne nous apportera rien [...], seul le travail affranchi par l’action directe et constante des exploités, pourra réaliser notre bien-être.«879

874  |  Vgl. exemplarisch Amiguet, A., »Education enfantine«, La Voix du Peuple, 15.2.1908, Jg. 3, Nr. 7, S. 2, der v.a. Bildung und Erziehung bei Kindern als von großer Wichtigkeit erachtete. 875  |  Zumindest temporär bestand eine anarcho-syndikalistisch ausgerichtete Sonntagsschule in Lausanne. Die ›L’École libre de Lausanne‹ zählte etwa 20 SchülerInnen und wurde wöchentlich ab 10:30 Uhr morgens alternierend im Volkshaus oder an einem Arbeitsplatz abgehalten, womit eine zentrales Novum der ersten offiziellen anarchistischen Schule der Schweiz, der ›École Ferrer‹ (1910-1919), bereits vorweggenommen wurde. Vgl. »Dans les organisations: Lausanne«, La Voix du Peuple, 4.12.1909, Jg. 4, Nr. 49, S. 2. Für die ›École Ferrer‹ vgl. Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. Die ›École Ferrer‹ erwähnte die Sonntagsschule in ihrer eigenen Geschichte als Vorläuferprojekt. Vgl. »L’École Ferrer de Lausanne: Un peu d’histoire«, Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 876  |  Nach der Eröffnung der ›Ecole Ferrer‹ erschienen regelmäßig Artikel, welche Ziele und pädagogische Grundzüge dieser freien Schule vermittelten. Vgl. stellvertretend den Beitrag über gemischtgeschlechtliche Klassen von Elime, »La coéducation des sexes«, La Voix du Peuple, 5.11.1910, Jg. 5, Nr. 45, S. 1. 877  |  Vgl. bspw. den Artikel von Alice Bernard, der die zeitgeistige Feminisierung als Unterdrückungsmechanismus darstellt Bernard, Alice, »Le rôle des femmes«, La Voix du Peuple, 19.10.1907, Jg. 2, Nr. 42, S. 1-2. 878 | Vgl. Bernard, Alice, »Féminisme«, La Voix du Peuple, 27.7.1907, Jg. 2, Nr. 30, S. 3, Ermes, »La femme et le mouvement ouvrier«, La Voix du Peuple, 29.2. 1908, Jg. 3, Nr. 9, S. 3-4, Schwitzguébel, Adhémar, »Syndicalisme et féminisme«, La Voix du Peuple, 27.6.1908, Jg. 3, Nr. 26, S. 4, oder Libertà, »Syndicalisme et Féminisme«, La Voix du Peuple, 8.5.1907, Jg. 4, Nr. 19, S. 1. 879  |  Despres, Louise, »Le vote de femme«, La Voix du Peuple, 3.2.1912, Jg. 7, Nr. 5, S. 1. Dt.Ü.: »Die Frau wird erst an dem Tag wahrhaft frei und im Besitz ihres eigenen Körpers und Kopfes sein, wenn der Staatskapitalismus abgeschafft ist. [...] Der Wahlzettel wird uns rein gar nichts bringen [...], nur die befreienden Mühen durch die direkte und ständige Aktion der Ausgebeuteten wird unser Wohl verwirklichen können.« Der Kampf um das Frauenstimmrecht wurde in einem weiteren Artikel zum Thema despektierlich als Kampf des hohen Bürgertums bezeichnet, der lediglich dazu diene, den Konservatismus weiter zu festigen. Vgl. »Le vote féminin«, La Voix du Peuple, 10.2.1912, Jg. 7, Nr. 6, S. 3. Vgl. für eine ähnliche Einschätzung des Ringens um das Frauenstimmrecht in England auch X., »Les suffragettes«, La Voix du Peuple, 19.4.1913, Jg. 8, Nr. 16, S. 3.

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Die gesamthaft sehr überschaubare Anzahl880 an Beiträgen zum Thema stand im Kontrast zur bewegungsinternen Einschätzung des Feminismus als »question très à l’ordre du jour«881 respektive zur Feststellung, dass »il est de mode, aujourd’hui, parmi les femmes... et aussi parmi les hommes d’être féministe«882 . Immerhin zählten kontrazeptive Maßnahmen und die Geburtenkontrolle zu den regelmäßigen, wenn auch sehr dezent vermittelten Hypergütern.883 Tatsächlich ist es vor allem die Kadenz der Hinweise auf entsprechende Informationen oder Beihilfen, die darauf schließen lassen, dass bewusste proletarische Familienpolitik ein zentraler Aspekt des Selbstverständnisses der Gemeinschaft war. Diese fanden sich vornehmlich in kleinen Anzeigen884 oder aber in Fußnoten: »[L]a conaissance des moyens préventifs est certainement d’une utilité personelle incontestable pour nos camarades ouvriers et pour nos compagnes surtout.«885 Vor allem in den späten

880 | Erst ab 1912 nahmen feministische Beiträge in der La Voix du Peuple regelmäßig Platz ein. 881 | »Numéro spécial«, La Voix du Peuple, 6.6.1908, Jg. 3, Nr. 23, S. 1. 882 | Bernard, Alice, »Bonnes mœurs, magistrature et police«, La Voix du Peuple, 15.5.1909, Jg. 4, Nr. 20, S. 1. Dt.Ü.: »es heutzutage zur Mode geworden ist, unter Frauen... ebenso wie unter Männern, sich feministisch zu nennen«. Aus heutiger Sicht verfügten zumindest gewisse Autoren über ein sehr konservatives und essenzialistisches Frauenbild, das im Gebären und Muttersein die Kernaufgabe der Frau sieht. Louis Avennier verstand bspw. die Mutterschaft als »[...] fonction pour laquelle, corps et esprit, toute la femme est crée« (Avennier, Louis, »Suffragettes«, La Voix du Peuple, 12.12.1908, Jg. 3, Nr. 50, S. 2) [dt.Ü.: »(...) Funktion, für welche die Frau als Ganze, Körper und Geist, geschaffen ist«]. Dass Avennier politisch aktive Frauen als ›vielles filles‹, also als alte Jungfern betitelte und ihre Gemeinschaft als »[...] classe de femmes incomplètes par la suppression de l’Amour et de la fonction maternelle« (Avennier, Louis, »Suffragettes«, La Voix du Peuple, 12.12.1908, Jg. 3, Nr. 50, S. 2) [dt.Ü.: »(...) Klasse der Frauen, die durch das Fehlen der mütterlichen Liebe und Funktion unvollständig sind«] bezeichnete, unterstreicht diese Einschätzung. 883 | In diachroner Betrachtung ist in der La Voix du Peuple eine sachte Liberalisierung bzgl. Kontrazeption zu registrieren, vgl. die überdeutlichen Hinweise auf eine Wiederauflage von »L’education sexuelle« von Jean Marestan in La Voix du Peuple, 1.5.1911, Jg. 6, Nr. 17, S. 2. Darüber hinaus fand allerdings keine Nennung statt und es dominierten auch in späteren Ausgaben die kleinen Hinweise. 884  |  Vgl. »Limitation des naissances«, La Voix du Peuple, 17.2.1906, Jg. 1, Nr. 6, S. 3, worin Geburtenkontrolle als Thema zwar anerkannt, aber dennoch zurückgestellt wurde: »La Voix du Peuple se propose, lors-qu’elle sera un peu moins chargée de matière, de faire quelques articles de propagande sur ce sujet si angoissant pour les milieux ouvriers.« Dt.Ü.: »Die La Voix du Peuple schlägt vor, wenn wir inhaltlich etwas Luft haben, ein paar Propagandaartikel zu diesem so furchterregenden Thema für die Arbeiterschaft zu veröffentlichen.« 885  |  »Mouvement ouvrier international: Angleterre«, La Voix du Peuple, 31.1.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 4, Anm. 1. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »[D]as Wissen über präventive Mittel ist sicherlich von unbestreitbarem persönlichen Nutzen für unsere Arbeitergenossen und vor allem für unsere Gefährtinnen.« Neben den oben aufgeführten separaten Vermittlungen von Hypergütern finden sich gelegentlich auch Artikel mit Manifestcharakter, die Methoden, Ideale, Werte, Ziele, Sinn- und Weltdeutungen kombinierten. Vgl. dazu F.M., »La conception syndicaliste«, La Voix du Peuple, 11.10.1913, Jg. 8, Nr. 40, S. 1.

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Jahrgängen wurde immer häufiger auch der Antialkoholismus als positives Hypergut vermittelt.886 Als identitätskonstituierendes negatives Hypergut nahm der Reformismus eine prominente Rolle ein. Die häufige Verurteilung der reformistischen Amelioration – mal als falscher Weg, mal als Antithese zur Revolution – beruhte auf der Weltdeutung der Gemeinschaft, die in der Abschaffung der Lohnarbeit die Lösung der Sozialen Frage sah und nicht in der Erhöhung der Löhne, die bloß die »humiliation« und die »travail prostitué« 887 perpetuieren würden. Auch Religiosität wurde tendenziell und in Zwischentönen als negatives Hypergut vermittelt, wie Redewendungen wie »la Bible et ses légendes comme principes«888 zeigen. Allerdings sind in dieser Hinsicht innergemeinschaftliche Friktionen auszumachen: Ein sich von der Antireligiösität distanzierender Leserbrief forderte etwa Toleranz für religiöse Anarcho-SyndikalistInnen ein und löste damit eine Debatte aus, bei der ein genereller Hang zu Antireligiosität festzustellen ist.889 Auch die Autorität als Prinzip wurde als negatives Hypergut vermittelt. Im Rahmen der Beurteilung einer im Raum stehenden Gewerkschaftspflicht hielt die La Voix du Peuple fest: »A la conception autoritaire, opposons la conception libertaire. Elle seule est logique, parce qu’elle fait des convaincus, non des opprimés.«890 Auch in Illustrationen wurde die kollektive Identität mit negativen Hypergüter geschärft. Beispielsweise in der temporär alternativ gestalteten Kopfzeile der La Voix du Peuple, wie sie in den Nummern Jg. 7, Nr. 17 - Jg. 7, Nr. 29 erschien: Militär, Kapital und Geistlichkeit, 886  |  Interessant ist dabei zu sehen, wie versucht wird, das Thema mit rhetorischen Kniffen zu einem Thema der Gemeinschaft zu machen. Bezeichnenderweise ist im Artikel bspw. nicht von Abstinenz die Rede, sondern vom »faire la grève des boissons qui empoisonnent« (R.P., »L’Alcoolisme«, La Voix du Peuple, 6.12.1913, Jg. 8, Nr. 48, S. 2). 887  |  Carette, André, »Le But«, La Voix du Peuple, 10.3.1906, Jg. 1, Nr. 9, S. 2. 888  |  »Sauvons les ›Bouèbes‹«, La Voix du Peuple, 3.3.1906, Jg., Nr. 8, S. 3. 889 | »Correspondance«, La Voix du Peuple, 17.3.1906, Jg. 1, Nr. 10, S. 2. Vgl. zur Diskussion ebenfalls »Tribune libre: Socialisme et religions«, La Voix du Peuple, 5.5.1906 Jg. 1, Nr. 17, S. 4. Dass der Tenor zumindest in der Redaktion ein antireligiöser war, zeigt, dass unmittelbar auf den zitierten Artikel einer mit dem Titel »Déchristianisions les enfants« folgte. Darin nahm die La Voix du Peuple kein Blatt vor den Mund: »Il faut [...] des révolutionnaires. Préparons-en. Pères et mères, opposons-nous à ce que la vermine religieuse s’empare de nos chers enfants comme elle s’est emparée de nous-mêmes. L’esprit religieux a assez fait œuvre néfaste. Place à l’esprit de révolte libérateur. Déchristianisions les enfants.« (»Déchristianisions les enfants«, La Voix du Peuple, 16.3.1906, Jg. 1, Nr. 10, S. 2) Dt.Ü.: »Wir brauchen [...] Revolutionäre. Machen wir sie. Väter und Mütter, verweigern wir dem religiösen Gesindel, dass es unsere Kinder an sich reißt, so wie es uns selbst an sich gerissen hat. Der religiöse Geist hat genug Unheil angerichtet. Machen wir Platz für den Geist des befreienden Aufstands. Lasst uns unsere Kinder säkularisieren.« In dieselbe Kerbe schlug auf den Diskurs in der Zeitung Rückbezug nehmend Jeanmaire, Henri»Syndicalisme et religion«, La Voix du Peuple, 2.6.1906, Jg. 1, Nr. 22, S. 4, resp. Pache-Tanner, Th., »Syndicalisme et religion«, La Voix du Peuple, 23.6.1906, Jg. 1, Nr. 24, S. 4. Die mehrheitlich religionskritische Haltung findet sich auch in späteren Nummern. 890  |  Peinard, Père, »Le syndicat obligatoire«, La Voix du Peuple, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 29, S. 4. Dt.Ü.: »Der autoritären Sicht stellen wir die libertäre Sicht entgegen. Sie allein ist logisch, denn sie schafft Überzeugte statt Unterdrückte.«

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symbolisiert durch Silhouetten von Pfarrern, Zylinder- und Säbelträgern, wurden darin mit physischer Gewalt von Arbeitern, symbolisiert durch Silhouetten, die mit Hämmern und Heugabeln bewaffnet sind, in die Flucht geschlagen respektive getötet.891 Framing-Prozesse waren ebenfalls maßgeblich beteiligt an der Konstitution von kollektiver Identität in der La Voix du Peuple. Im Artikel »A propos de la Révolution russe« 892 wurden gleich mehrere Demarkationen vorgenommen. Primär grenzte sich die Gemeinschaft gegenüber Positionen des orthodox-marxistischen wissenschaftlichen Sozialismus ab, die für gewöhnlich von sozialdemokratischen Kräften der Zeit vertreten wurden. Verbunden wurde damit eine Distanzierung zur akademischen Welt: »Ils [die Arbeiterführer, d.V.] ont prétendu, eux les malins, que le socialisme était la chose la plus compliquée qui se puisse concevoir, et qu’il fallait être au moins docteur en droit pour pouvoir en interpréter le sens. Ils affirmaient, en outre, que le développement de la classe ouvrière est intimement lié au développement du capitalisme lui-même et qu’il est absolument nécessaire de parcourir toutes les étapes possibles et imaginaire de L’Évolution économique, et que le mouvement, en général, devait obéir et se conformer strictement à leur provisions.« 893

Dagegen wurde in Absetzung die revolutionäre Direkte Aktion als wirkungsmächtigeres performatives Element als positives Hypergut vermittelt: »[I]l suffit d’être exploité pour voir immédiatement que la seule solution se trouve dans le partage des terres et dans la prise de possession des usines de la part des intéressés: ce n’est pas plus compliqué que cela.« 894 Damit wurde – auch in zahlreichen anderen Beiträgen – die Wirkungsmacht des Ereignisses über diejenige der theoretischen Auseinandersetzung mit der Befreiung der Arbeiterklasse punkto Sammlungsfähigkeit propagiert.895 In der Mehrzahl waren es aber weit explizitere und zuweilen auch markige Artikel, welche die identitätskonstituierenden Demarkationen zur Sozialdemokratie und ihren Vertretern hin transportieren.

891  |  Vgl. exemplarisch die Kopfzeile in La Voix du Peuple, 1.5.1912, Jg. 7, Nr. 17. 892  |  Topolino, »A propos de la Révolution russe«, La Voix du Peuple, 7.1.1906, Jg. 1, Nr. 3, S. 2. 893 | Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Sie, die Schlauberger, haben vorgegeben, der Sozialismus sein die komplizierteste Sache, die man sich vorstellen könne, und dass man mindestens einen Doktor in Rechtswissenschaften gemacht haben müsse, um seine Bedeutung interpretieren zu können. Sie haben weiter behauptet, die Entwicklung der Arbeiterklasse sei fest an die des Kapitalismus selbst gebunden, und dass es absolut notwendig sei, alle möglichen und vorstellbaren Phasen der wirtschaftlichen Evolution zu durchlaufen, und dass die Bewegung im Allgemeinen gehorchen und sich nach ihren Vorhersehungen richten müsse.« 894 | Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »[E]s reicht ausgebeutet zu werden um sofort zu sehen, dass die einzige Lösung das Teilen der Ländereien und die Besitzergreifung der Fabriken durch die Betroffenen ist: Komplizierter ist es nicht.« 895  |  Vgl. bspw. »Tribune libre: Pour les huit heures. La grève générale II«, La Voix du Peuple, 17.2.1906, Jg. 1, Nr. 6, S. 3, bes. Punkte 2 und 3.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse »Ils [die Sozialdemokraten, d.V.] se font exploiteurs et patrons pour abolir le patronat et l’exploitation de l’homme par l’homme; ils conquièrent les pouvoirs publics pour les abolir; ils sont patriotards et militaristes pour abolir l’Armée; croyez bien que s’ils pouvaient se faire curés pour abolir la religion, ils étaient ... évêques. Tout, dans leurs paroles et dans leurs actes, n’est que contradictions.« 896

Besonders scharf schnitt die Abgrenzung gegenüber der Sozialdemokratie im Artikel »Les défenseurs de l’ouvrier«897, bei der Parallelen in der Weltdeutung des sozialdemokratischen Blattes Grütli und zwei bürgerlichen Zeitungen aufgezeigt wurden, wodurch die beiden Bewegungen auf die gleiche Stufe gestellt wurden.898 Der Beitrag schloss mit den unmissverständlichen Worten: »Ces socialistes-là nous préparent un régime qui pourrait bien nous faire regretter le régime actuel. Ouvriers, ouvrez l’œil!«899 Dieser gleichsetzende Framing-Prozess wurde in anderen Beiträgen wiederholt und untermauert mit Ausschnitten der Fremdwahrnehmung im Grütli, die eine bürgerlich-liberale Praxis imitierten, beispielsweise mittels Diffamierung durch eine Bezeichnung der nicht-politisch ausgerichteten Syndikate als anarchistisch: »Pour le Grutli, tous les syndicats qui se refusent à payer les frais électoraux des candidats de sa coterie sont des syndicats anarchistes.«900 Diese Einschätzung wurde als bewusste Brandmarkung eingeschätzt: »Excellente excuse pour expliquer son complet avachissement: tous anarchistes, ceux qui ne pensent pas par lui.«901 Dass die Gemeinschaft windschief zu den Absichten und Zielen der 896  |  W., »Dans les organisations: Les politiciens à Vevey«, La Voix du Peuple, 3.2.1906, Jg.,1 Nr. 4, S. 2. Dt.Ü.: »Sie werden selbst zu Ausbeutern und Unternehmern, um das Unternehmertum und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abzuschaffen; sie ergreifen die Staatsgewalt, um sie abzuschaffen; sie werden zu den schlimmsten Patrioten und Militaristen, um die Armee abzuschaffen; ihr könnt gern glauben, wenn sie Pfaffen werden könnten, um die Religion abzuschaffen, dann wären sie längst... Bischöfe. Ihre ganzen Worte und Handlungen sind nichts als Widersprüche.« 897 | »Les défenseurs de l’ouvrier«, La Voix du Peuple, 17.2.1906, Jg. 1, Nr. 6, S. 2. Vgl. auch die Einleitung zu »Pour le 1er mai 1906«, wo nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch der Gewerkschaftsbund und seine Mitarbeiter als Parasiten verunglimpft wurden: »Les grands manitous, ennemies née de l’action directe [...]« (Père Peinard, »Pour le 1er mai 1906«, 7.4.1906, Jg. 1, Nr. 13, S. 1). 898  |  Dasselbe Vorgehen ist auch in weiteren Artikeln zu beobachten. Vgl. »La concentration bourgeoise«: »[...] le Grutli, organe officiel du Parti socialiste vaudois, s’est définitivement classé aux côtés des journaux bourgeois [...].« (»La concentration bourgeoise«, La Voix du Peuple, 20.7.1907, Jg. 2, Nr. 29, S. 1) Dt.Ü.: »[...] der Grütli, das offizielle Organ der waadtländischen Sozialistischen Partei, hat sich definitif an die Seite der bürgerlichen Zeitungen gestellt [...].« 899 | Vgl. »Les défenseurs de l’ouvrier«, La Voix du Peuple, 17.2.1906, Jg. 1, Nr. 6, S. 2. Dt.Ü.: »Diese Sozialisten bereiten uns ein Regime vor, unter dem wir gar dem jetzigen Regime nachtrauern würden. Arbeiter, seid wachsam!« 900 | »La concentration bourgeoise«, La Voix du Peuple, 20.7.1907, Jg. 2, Nr. 29, S. 1. Dt.Ü.: »Für den Grütli sind alle Gewerkschaften, die sich weigern die Wahlausgaben der Kandidaten aus seiner Clique zu übernehmen, anarchistische Gewerkschaften.« 901 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Ausgezeichnete Entschuldigung für sein vollständiges Erlahmen: Alle, die nicht wie er denken, sind Anarchisten.« In einem anderen Artikel wird die Brisanz der

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sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Politiker stand, wurde in weiteren Beiträgen auch mit Aussagen aus anderen Titeln der sozialdemokratischen Presse unterstrichen.902 Ein veröffentlichter LeserInnenbeitrag schrieb dem FramingProzess zur Sozialdemokratie hin zusätzlich eine Generationenkomponente ein: »[L]aissons ces vieux politiciens tirer leurs ficelles et nous, les jeunes, prenons le mouvement syndicaliste en main. Plus de cheveux blancs! place aux cheveux noirs! [...] L’Émancipation des travailleurs doit être l’œuvre des travailleurs eux-mêmes.«903 In einer differenzierenderen Distanzierung wurden Vorwürfe der Professionalisierung an die Adresse der Sozialdemokratie gerichtet. Das ›Wir‹ wolle vornehmlich zu denjenigen jegliche Verbindung abbrechen, »[...] qui veulent des titres ou en espèrent, ceux qui veulent des places ou en attendent, ceux qui trouvent enfin que charité bien ordonné commence par soi-même. Ceux-là, nous les visons en effet et s’ils le sentent, tant mieux!«904 Neben eindeutigen und offen ausgesprochenen Framing-Prozessen sind auch latente Demarkationen auszumachen, die mit gemeinschaftsbestärkender Absicht geäußert worden sein dürften. Dazu gehörten auch antisemitische und rassistische Randbemerkungen, die den xenophoben Zeitgeist widerspiegeln, und hinter denen der Versuch geortet werden kann, populistisch Masse zu generieren, beispielsweise für einen bestimmten Boykott oder eine Manifestation. Zu finden waren antisemitische Äußerungen etwa auf einem Plakat zum Typografenstreik bei der Zeitung Tribune de Genève von 1909, das in der La Voix du Peuple wiederabgedruckt wurde.905 Anders als mit einer populistisch-politischen Absicht lässt sich nicht erklären, weshalb auf der Affiche an erster Stelle die an sich völlig irrelevante Konfession des Besitzers – »ancien juif, converti au christianisme«906 – und seines Bruders aufAbgrenzung des Le Grütli zum (vermuteten) Anarchismus hin für einen Mitarbeiter der La Voix du Peuple sogar existenzbedrohend, was Letztere zur Einschätzung der Betreiber ersteren Blattes als Schnüffler und Polizisten verleitete. Vgl. »Mouchards et Policiers«, La Voix du Peuple, 23.4.1910, Jg. 5, Nr. 17, S. 3. 902  |  Vgl. exemplarisch den Artikel zur Fremdwahrnehmung in Peuple Suisse »Leur explication«, La Voix du Peuple, 9.5.1908, Jg. 3, Nr. 19, S. 2 903 | C.R., »Echos du Congrès d’Olten«, La Voix du Peuple, 25.2.1906, Jg. 1, Nr. 7, S. 3. Dt.Ü.: »[S]ollen die alten Politiker ihre Strippen ziehen und wir, die jungen, nehmen die Gewerkschaftsbewegung in die Hand. Keine grauen Haare mehr! Platz den schwarzen Haaren! [...] Die Emanzipation der Arbeiter muss das Werk der Arbeiter selbst sein.« 904 | »Échos: Distinguons!«, La Voix du Peuple, 2.2.1907, Jg. 2, Nr. 5, S. 1. Dt.Ü.: »die Titel wollen oder erhoffen, diejenigen, die Positionen wollen oder erwarten, diejenigen, die meinen, ordnungsgemäße Wohltätigkeit beginne bei einem selbst. Auf die haben wir es tatsächlich abgesehen, und wenn sie das spüren, ist das gut so!« Gegenüber der Sozialdemokratie sind in jedem Jahrgang unzählige Framing-Prozesse zu finden. Besonders in späteren Jahrgängen waren wohl auch persönliche Polemiken Anlass dafür, allen voran ein in den Zeilen der La Voix du Peuple ausgetragener Zwist zwischen dem ehemaligen Mitglied der ›Fédération Jurassienne‹, Auguste Spichiger, und dem schließlich gewählten Sozialdemokraten Charles Naine, der als antimilitaristischer Dienstverweigerer Bekanntheit erlangte. Vgl. das sich über viele Ausgaben erstreckende Hickhack in La Voix du Peuple, 1911, Jg. 6. Naine war auch für andere Autoren des Blattes ein beliebtes Ziel. Vgl. exemplarisch Starckmann, Fritz, »Les débuts«, La Voix du Peuple, 16.12.1911, Jg. 6, Nr. 50, S. 3, der Naines Antimilitarismus als Modeerscheinung herabwürdigte. 905  |  »Grève des Typographes«, La Voix du Peuple, 29.5.1909, Jg. 4, Nr. 22, S. 4. 906  |  Ebd., S. 4.

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geführt wurden. Erwähnung fand die jüdische Abstammung des Besitzers auch in anderen Artikeln, zuweilen auch klar pejorativ wie mit dem Schimpfwort ›youpin‹.907 Der Hinweis, dass die Aktionäre der Tribune de Genève zudem mehrheitlich nicht Schweizer, sondern Amerikaner seien, deckt eine Anbiederung an den Zeitgeist nationalistisch-rassistischer Spielart auf.908 Nicht nur gegen außen, auch gegen innen wurden Demarkationen vorgenommen in Form subidentitärer Framing-Prozesse. So wurden die organisierten AnarchistInnen der ›Fédération communiste-anarchiste de la Suisse romande‹ zwar als »[...] des camarades qui travaillent énergiquement à donner au mouvement ouvrier une orientation révolutionnnaire«909 beschrieben, das ›Wir‹ der Gemeinschaft wurde aber mit der Wendung »[...] nous, ouvriers syndiqués [...]«910 dennoch als von diesen getrennt angeführt. Vor allem in späteren Jahrgängen wurde nicht jede Erwähnung von Anarchie-Begriffen mit einer direkten oder indirekten Distanzierung quittiert.911 Die subidentitären Framing-Prozesse kehrten besonders ab dem vierten Jahrgang wieder. Waren die Demarkationen bis dahin mehrheitlich mit der Absicht auf die Fremdwahrnehmung entstanden, so wurden ab April 1909 inhaltlich-programmatische Differenzen für die subidentitären Framing-Prozesse verantwortlich, die das Anarcho-Syndikalistische von einem klassischen Anarchistischen abhob.912 Wurde zunächst festgehalten, dass »[...] profondes divergences de vues se sont manifestées entre différents délégués [...]«913, schlug sich die Gemeinschaft der La Voix de Peuple durch affirmatives Vermitteln positiver Hypergüter engagiert auf die anarcho-syndikalistische Seite914: »[N]ous en concluons que le meilleur est de rester sur 907  |  Vgl. »Les ›menteurs‹ de la ›Tribune de Genève‹«, La Voix du Peuple, 19.3.1910, Jg. 5, Nr. 12, S. 4. 908 | Louis Avenniers Versuch mehr Differenzierung im Sprachgebrauch zu erwirken, bestätigte die antisemitische Tendenz. Vgl. Avenniers heillos sich verstrickenden Versuch einer Euphemisierung des Begriffs ›juifs‹, bei dem er Vorurteile mittels positiver und negativer Diskriminierung nur noch verstärkte. Vgl. Avennier, Louis, »Juifs!«, La Voix du Peuple, 12.6.1909, Jg. 4, Nr. 24, S. 1. Eine vereinzelte Gegenstimme bot der Beitrag La Voix du Peuple, »La race persécutée!«, La Voix du Peuple, 25.10.1913, Jg. 8, Nr. 42, S. 1, der sich darüber aufhielt, dass sogar in syndikalistischen Zeitungen (!) antisemitische Züge festzustellen seien. 909  |  Baud, Henri, »Bourgeois ou socialistes!«, La Voix du Peuple, 13.4.1907, Jg. 2, Nr. 15, S. 2. Dt.Ü.: »Genossen, die energisch daran arbeiten, der Arbeiterbewegung eine revolutionäre Richtung zu geben«. 910  |  Ebd., S. 2. 911 | Beispielhaft dafür ist die Kurznotiz zum anarchistischen Kongress von Amsterdam 1908, über den die La Voix du Peuple gänzlich ohne Demarkationszwang berichtete. Vgl. »Bibliographie«, La Voix du Peuple, 9.5.1908, Jg. 3, Nr. 19, S. 4. 912 | Der erste dahingehende Artikel erschien zu einer inhaltlichen Kontroverse an einer Versammlung der FUOSR Mitte April 1909: »Soyons révolutionnaires, mais agissons!«, La Voix du Peuple, Jg. 4, Nr. 19, S. 3. 913 | »Soyons révolutionnaires, mais agissons!«, La Voix du Peuple, Jg. 4, Nr. 19, S. 3. Dt.Ü.: »tiefgehende Meinungsverschiedenheiten haben sich zwischen verschiedenen Abgeordneten geäußert«. 914  |  Wohl räumte die La Voix du Peuple gegenteiligen Meinungen Platz ein (vgl. C.P., »La question brûlante«, La Voix du Peuple, 22.5.1909, Jg. 4, Nr. 21, S. 3), die anarcho-syndikalistische Position ihrer Gemeinschaft drang aber deutlich durch.

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le terrain pratique du syndicalisme révolutionnaire en ne négligéant aucune action capable de nous aguerrir et de nous amener à la grève générale expropriatrice.«915 Anarchistische Ansichten wurden demgegenüber als negative Hypergüter vermittelt, indem sie als illusorische Träumerei beschrieben oder – wiederholt – auf eine Stufe mit liberalen und sozialdemokratischen Konzepten gestellt wurden: »L’action stimule les travailleurs, la théorie – hélas! – les laisse trop souvent froids et c’est surtout contre cette indifférence qu’il faut lutter. Toute action politique – qu’elle soit radicale, socialiste ou anarchiste – est destinée à echouer, car elle divise les travailleurs [...]. Ne nous laissons prendre ni aux conseils des politiciens du socialisme, ni à ceux des partisans du tout ou rien. Dans les deux cas, l’Attente serait trop longue et, en effet, nous sommes pressés... très pressés.« 916

Einem Anwurf von anarchistischer Seite, dass der anarcho-syndikalistische Weg zu sehr den Amelioration im Status quo verhaftet sei917, wurde distanzierend ent915 | Dt.Ü.: »[W]ir schließen daraus, dass es am besten ist, auf dem Terrain des revolutionären Syndikalismus zu bleiben und keine Aktion auszulassen, mit der wir unsere Fähigkeiten erproben können, und die uns dem Enteignungs- und Generalstreik näher bringt.« Erkennbar an der affirmativen Vermittlung des positiven Hyperguts Bewusstseinsbildung durch Direkte Aktionen, ohne irgendeine politische Zuordnung. Vgl. »Soyons révolutionnaires, mais agissons!«, La Voix du Peuple, Jg. 4, Nr. 19, S. 3. 916 | »Soyons révolutionnaires, mais agissons!«, La Voix du Peuple, Jg. 4, Nr. 19, S. 3. Dt.Ü.: »Die Aktion treibt die Arbeiter an, die Theorie lässt sie – leider! – zu oft kalt, und vor allem diese Gleichgültigkeit muss bekämpft werden. Jede politische Aktion – sei sie radikal, sozialistisch oder anarchistisch – ist zum Scheitern verurteilt, denn sie spaltet die Arbeiter [...]. Lasst uns weder auf die Ratschläge der sozialistische Politiker hereinfallen, noch auf die der Anhänger des alles-oder-nichts. In beiden Fällen müssten wir zu lange warten und wir haben es tatsächlich eilig... sehr eilig.« 917  |  Luigi Bertoni ließ – im italienischen Teil des Le Réveil vom 14.5.1910 und in der La Voix du Peuple von S. Casteu übersetzt und zweitabgedruckt – verlauten: »Tout le syndicalisme révolutionnaire repose sur une erreur: celle que sa tactique donne aux travailleurs de plus grands résultats immédiats que la tactique réformiste. On est révolutionnaire, non parce qu’on a perdu la foi dans la valeur des réformes réalisables en régime bourgeois, mais parce qu’on croit que c’est l’unique moyen d’être efficacement réformiste.« (Casteu, S., »Pour ou contre un parti révolutionnaire«, La Voix du Peuple, 28.5.1910, Jg. 5, Nr. 22, S. 1). Dt.Ü.: »Der gesamte revolutionäre Syndikalismus beruht auf einem Irrtum: Nämlich dem, dass diese Taktik den Arbeitern umgehend größere Ergebnisse brächte als die reformistische Taktik. Wir sind revolutionär, nicht etwa weil wir den Glauben an den Wert der Reformen, die innerhalb des bürgerlichen Regimes verwirklicht werden können, verloren hätten, sondern weil wir glauben, dass dies der einzige Weg ist effizient reformistisch zu sein.« Stattdessen wurde die Bildung von geheimen, als avantgardistisch verstandenen Zellen propagiert, welche die Masse mit beispielhaften, punktuellen Aufständen zur umfassenden Insurrektion motivieren sollte. Abschließend hieß es: »Préparons donc les masses à la grève générale insurrectionelle pour l’expropriation des classes dirigeantes et l’Avènement du communisme.« (Ebd., S. 2, mit besonderer Beachtung von Punkt 3) Dt.Ü.: »Bereiten wir also die Massen auf den Generalstreik und Aufstand zur Enteignung der herrschenden Klassen und auf den kommenden Kommunismus vor.«

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gegnet, dass theoretische Idealvorstellungen der sozialen Transformation keine Kinder zu ernähren vermöchten. Sichtlich empört über die Anwürfe antwortete die La Voix du Peuple: »[N]ous ne nous lasserons pas de dire que nous prêcherons dans le désert tant que nous nous adresserons à des ouvriers ayant charge de famille.«918 Nach dem Redaktionswechsel von Lausanne nach Genf sind in den späteren Jahrgängen der La Voix du Peuple keine subidentitären Framing-Prozesse mehr auszumachen, die von anarcho-syndikalistischer Seite gegen den anarchistische Herangehensweisen gerichtet waren. Im Gegenteil ließen die positiv oder aber neutral wertenden Erwähnungen und Besprechungen von anarchistischen Zeitungen und Bucherscheinungen eine Anarchismus-freundliche Stimmung erkennen.919 Deutlich wurde dies bereits in einer kleinen Randnotiz, die auf einen Vortrag Luigi Bertonis hinwies und seine Position mit dem Standpunkt der La Voix du Peuple gleichsetzte: »[...] Le camarade Bertoni se rendra à La Chaux-de-Fonds le samedi 7 juin 1913, pour exposer notre point de vue et les faits qui ont faussé le but de la Fédération.«920 Als veritabler Paradigmenwechsel erkennbar wurde die Entwicklung in der Ausgabe vom 26.7.1913. Im Leitartikel »Le syndicalisme révolutionnaire« finden sich subidentitäre Framing-Prozesse, die das ›Wir‹ gegenüber anarcho-syndikalistischen Ansätzen absetzten. Nun wurden anarcho-syndikalistische Positionen und Aktionen kritisiert und als falsch und konterrevolutionär skizziert. Im Blick auf die anarcho-syndikalistische Unterstützung von Lohnkämpfen hieß es beispielsweise: »[L]e fait de conquérir par des moyens violents une amélioration de quelques centimes par heure est-il plus révolutionnaire que le même fait opéré par de moyens pacifiques? Là est toute la question [...] Augmenter son salaire, diminuer ses heures de travail, cela n’a rien de commun avec la transformation de la société.« 921

Solch ein punktueller Kampf »[...] pourra peut-être ameliorer la condition du travailleur, mais elle ne toucherait en rien l’exploitation de l’homme par l’homme, et c’est elle qu’il faut détruire si l’on veut vivre en liberté«922 . 918  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Wir werden nicht müde zu sagen, dass wir selbst in der Wüste noch predigen würden, solange unsere Worte Arbeitern mit Familien gelten.« 919 | Vgl. insbesondere La Voix du Peuple, 1912, Jg. 7. Wenig überraschend lautet denn auch die Bezeichnung von AnarchistInnen in Todesnachrichten »compagnes de lutte«. Vgl. »La mort de Voltairine de Gleyre [sic]«, La Voix du Peuple, 10.8.1912, Jg. 7, Nr. 31, S. 3. 920  |  »A la Chaux-de-Fonds«, La Voix du Peuple, 31.5.1913, Jg. 8, Nr. 21, S. 2. Dt.Ü.: »Der Genosse Bertoni wird am Samstag 7. Juni 1913 in Chaux-de-Fonds seinen Standpunkt und die Tatsachen, die die Ziele der Föderation verirrt haben, darstellen.« 921  |  Betrand, H., »Le syndicalisme révolutionnaire«, La Voix du Peuple, Jg. 8, Nr. 29 (28), S. 1. Dt.Ü.: »[I]st es revolutionärer, eine Aufbesserung von einigen Centimes pro Stunde durch gewaltvolle Aktionen zu erkämpfen als durch friedliche Mittel? Das ist die Frage hier [...] Den Lohn erhöhen, die Arbeitsstunden senken, das hat nichts mit der Veränderung der Gesellschaft zu tun.« Vgl. die gleichen Vorwürfe in »Sur le syndicalisme«, La Voix du Peuple, 1.5.1914, Jg. 9, Nr. 16, S. 2, wo eine stärkere Betonung der anarchistischen Elemente zum Entkommen der Krise des Anarcho-Syndikalismus empfohlen wurde. Der Paradigmenwechsel wurde zudem begleitet von vermehrten Zweitabdrucken anarchistischer Autoren. 922  |  Betrand, H., »Le syndicalisme révolutionnaire«, La Voix du Peuple, Jg. 8, Nr. 29 (28), S. 1. Dt.Ü.: »könnte vielleicht die Lebensbedingungen des Arbeiters verbessern, aber er

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Bereits in der ersten Ausgabe boten Beiträge in der Rubrik »Mouvement ouvrier international«923 ein Beispiel für die Produktivität einer weiteren identitätskonstituierenden Kraft: der Traditionalismen. Die Forderungen der Gemeinschaft wurden darin in einem Atemzug mit Forderungen früherer Bewegungen genannt. Die Niederschlagung von Streiks 1869 wurde mit der staatlich-militärischen Repression gegenüber aktuellen Aktionen gleichgesetzt und als eine Narration präsentiert: »1869, 1875, 1901, 1905, c’est tout un. Et la république suisse n’a plus qu’a supporter le ricanement des monarchies.«924 Andererseits wurden diese gemeinschaftlichen Forderungen als identisch mit denjenigen von Bewegungen in Italien, Deutschland, Österreich und Frankreich dargestellt und so mit dem Hypergut des Internationalismus verknüpft. Durch das Verfassen einer auf Internationalität bedachten, mehr als 50 Jahre währenden Geschichte wurde der Gemeinschaft und ihren Zielen und Absichten eine Traditionalität eingeschrieben, welche der kollektiven Identität der Bewegung in dem Sinne zutrug, als sie ihr durch die eingefaltete, erinnerte Geschichte Legitimität und Glaubwürdigkeit verschaffte: Das Herausheben von Langlebigkeit und Kontinuität untermauerte zusätzlich die Relevanz der Anliegen der Gruppe und festigte so die Gemeinschaft.925 In ähnlicher Weise finden sich zum 1. Mai jährlich kleinere und größere Beiträge, die eine hohe Dichte an

greift keinesfalls die Ausbeutung der Menschen durch den Menschen an und diese ist es, die wir zerstören müssen, wenn wir in Freiheit leben wollen«. Vgl. – etwas sanfter im Ton – auch lvdp., »Sur le syndicalisme«, La Voix du Peuple, 16.8.1913, Jg. 8, Nr. 36, S. 1. Dieser Wechsel wurde nicht von allen Konföderierten gutgeheißen. Namentlich Syndikate aus dem Kanton Wallis forderten eine Rückkehr zu anarcho-syndikalistischen und eine Abkehr von anarchistischen Positionen, wie eine Paraphrasierung der langen Diskussion um die Ausrichtung bezeugt. Vgl. »Le congrès d’Yverdon«, La Voix du Peuple, 27.12.1913, Jg. 8, Nr. 51, S. 1. Diese Kluft zwischen anarcho-syndikalistischen und anarchistischen Gemeinschaften zeigte sich auch gesamthaft in der anarchistischen Bewegung. Das belegt nicht nur »la plus longue discussion« zum Thema, sondern auch der Umstand, dass »syndicalisme et anarchie« traktandiert war am Kongress von rund 400 italienischsprachigen Anarchisten in Zürich vom 11.-12.7.1914. Vgl. M.A., »Le congrès anarchiste de Zurich«, La Voix du Peuple, 25.7.1914, Jg. 9, Nr. 28, S. 1. 923  |  »Le mouvement ouvrier international«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 3-4. 924  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »1869, 1875, 1901, 1905, das ist alles das Gleiche. Und der Schweizer Republik bleibt nichts weiter übrig, als dem Hohngelächter der Monarchien zuzuhören.« 1869 wurden Streiks in Lausanne, Basel, La Chaux-de-Fonds und Genf militärisch niedergeschlagen. 1875 wurde in Göschenen auf Geheiß der Urner Regierung ohne Vorwarnung scharf auf streikende Gotthard-Mineure geschossen, wobei vier Arbeiter ums Leben kamen. 1901 widerfuhr Simplon-Mineuren im Wallis ein ähnliches Schicksal: Ein gemischter, bewaffneter Polizei- und Militäreinsatz führte zu vier ernstlich Verletzten, die wenig später ausgewiesen wurden. Die Chiffre 1905 schließlich bezeichnete den durch das Militär niedergeschlagenen Streik von Fabrikarbeitern in der St.Galler Fabrik Amstutz, Levin & Co. 925  |  Ebd., S. 3-4. Die Geschichte der ›Fédération Jurassienne‹ wurde ebenfalls mit identitätskonstituierendem Mehrwert aufbereitet. Vgl. C.R., »En arrière«, La Voix du Peuple, 8.1.1910, Jg. 5, Nr. 2, S. 3, und C.R., »En arrière«, La Voix du Peuple, 15.1.1910, Jg. 5, Nr. 3, S. 3.

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identitätskonstitutiven Elementen aufwiesen.926 Dabei wurde die Wichtigkeit dieses Tages betont und sein ritueller, identitätskonstituierender Charakter bekräftigt. Dies durchaus auch kritisch: »Chaque 1er mai doit marquer un pas en avant, si petit soit-il. Supprimons les fanfares et tout le tralala stupide et faisons œuvre véritable de révolutionnaires en imposant au capitalisme notre volonté bien arêtée de ne plus travailler que huit heures par jour. Que ce jour-là soit, non plus un jour de fête, mais un jour de travail émancipateur.« 927

Schließlich lassen sich auch Akte kollektiver Kommemoration als identitätskonstituierende Momente traditionalistischen Zuschnitts ausmachen. So wurde die Geschichte der Pariser Kommune 1907 zum Tag der kollektiven Andacht erhoben und so traditionalistisch verdichtet. Durch die so erhöhte mediale Relevanz für die Gemeinschaft wurde ein Gefäß geschaffen, das einerseits an und für sich ein identitätskonstituierendes Element darstellte, das aber andererseits auch Raum bot für weitere produktive oder reproduktive identitätskonstituierende Vorgänge. Durch das Teilen von Hypergütern der betrachteten Gemeinschaft etwa identifizierte sich die Gemeinschaft mit der ›Commune‹, wodurch deren Geschichte Teil der eigenen Geschichte wurde.928 Ein Paradebeispiel für die identitätskonstituierende kollektive Kommemoration in der La Voix du Peuple ist weiter der 11. November, Jahrestag der Hinrichtung von fünf Anarchisten in Chicago, die im Anschluss an die Haymarket Unruhen 1887 verurteilt und exekutiert wurden. Nach einer blumigen Schilderung des Sachverhalts, in der die Zeitung die Verurteilten zu Brüdern und Märtyrern für die Bewegung erklärte, wurde auch der motivationale Charakter kollektiver Kommemoration deutlich. So kam das Blatt zum Schluss: »C’est ainsi que le souvenir de nos morts se confond avec le besoin de l’action elle-même. Le 11 novembre 1887 ne nous inspire aucun désir de paix, mais la passion de nouvelles luttes sociales.«929 In der La Voix du Peuple sind mitunter auch kontradiktorische Identitätskonstitutionselemente zu finden. Konkret in Gestalt einer Rekuperation des Nationalen, die ihren Teil zu Bildung und Schärfung der kollektiven Identität 926  |  Vgl. exemplarisch »Pour le 1er mai 1906«, 7.4.1906, Jg. 1, Nr. 13, S. 1, oder die auch mit Illustrationen arbeitenden Sonderausgaben zum 1. Mai wie La Voix du Peuple, 1.5.1907, Jg. 2, Nr. 17, oder La Voix du Peuple, 1.5.1908, Jg. 3, Nr. 18. 927  |  J.D., »Le Premier-Mai«, La Voix du Peuple, 26.5.1906, Jg. 1, Nr. 20, S. 1. Dt.Ü.: »Jeder 1. Mai muss ein Schritt vorwärts sein, so klein er auch sei. Lassen wir die Kapellen und das ganze dumme Tralala sein und unternehmen wahrhaft revolutionäre Aktionen, indem wir dem Kapitalismus unseren entschiedenen Willen aufzwingen, nur noch acht Stunden täglich zu arbeiten. Auf dass dieser Tag kein Festtag mehr sei, sondern ein Tag des emanzipatorischen Wirkens.« Vgl. auch C.R., »La fête continue«, La Voix du Peuple, 9.4.1910, Jg. 5, Nr. 15, S. 3. 928 | »Commémoration de la Commune«, La Voix du Peuple, 16.3.1907, Jg. 2, Nr. 11, S. 1. 1908 erschien gar eine Sondernummer (La Voix du Peuple, 21.3.1908, Jg. 3, Nr. 12). Vgl. auch die diversen weiteren, alljährlich im März erscheinenden Beiträge, exemplarisch etwa Georges Sergy, »La commune de Paris«, La Voix du Peuple, 19.3.1910, Jg. 5, Nr. 12, S. 1. 929 | La Voix du Peuple, »11.11.1887«, La Voix du Peuple, 9.11.1907, Jg. 2, Nr. 45, S. 1. Dt.Ü.: »So vermischt sich das Gedenken unserer Toten mit dem Bedürfnis der Aktion selbst. Der 11. November 1887 inspiriert uns keinerlei Sehnsucht nach Frieden, sondern die Leidenschaft neuer sozialer Kämpfe.«

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beitrug. In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, wie die ironisierenden Anführungszeichen verschwanden, wenn von ›la patrie‹ geschrieben wurde. Oder es findet sich die Installation des Freiheitsdenkens als ur-schweizerisches Charakteristikum und ein Rückbezug darauf. Beides ist im Beitrag »Nous continuons...«930 präsent. Darin hieß es: »L’heure est passée des querelles de doctrines et de nationalités. Nous ne devons nous rappeler que nous sommes Suisses que pour sentir la brûlante rougeur de la honte nous monter au front devant l’Avachissement de notre patrie, prosternée aux pieds de la réaction européenne.«931 In klassisch nationalistischer Manier wurde der Mythos der archetypischen Schweizer Wehrhaftigkeit nacherzählt und perpetuiert und so gemeinschaftsstärkend nationalistisch rekuperiert, obschon die Gemeinschaft wesenshaft antinationalistische Grundzüge trug. Der Artikel »République et Monarchie«932 schlug in dieselbe Kerbe, wenn er indirekt den unter den erweiterten Anarchistengesetzen angeklagten Luigi Bertoni als ur-schweizerischen Freiheitskämpfer inszenierte durch einen Vergleich mit Wilhelm Tell, der seinerseits – an anderer Stelle – auch als »l’Anarchiste d’uri«933 umschrieben wurde.934 Ebenfalls als kontradiktorische Identitätskonstitution kann der Beitrag »Échos: Les anarchistes« gewertet werden. Darin wurde die Anarchistenverfolgung der Jahrhundertwende mit der Christenverfolgung des 2. Jahrhunderts gleichgesetzt. In einer religiösen Rekuperation hieß es: »Il y a dans l’histoire des quantités de ces haines irraisonnées et stupides, dont l’humanité a honte plus tard, et ces haines féroces s’assouvissent toujours aux dépens de ceux qui veulent nous faire un immense pas en avant.«935 Auch dieser Akt der Identitätskonstruktion erstaunt vor dem Hintergrund, dass das Christentum als autoritäre Institution in der La Voix du Peuple mehrheitlich in Form eines negativen Hyperguts eine identitätskonstituierende Rolle spielte.936 930  |  La commission du journal, »Nous continuons...«, La Voix du Peuple, 7.4.1906, Jg. 1, Nr. 13, S. 1. 931  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Die Zeit der Zwistigkeiten um Doktrin und Nationalität ist vorbei. Der Gedanke, dass wir Schweizer sind, darf uns einzig die Schamesröte in die Stirn treiben angesichts der Erlahmung unseres Vaterlands, dass sich zu Füßen der europäischen Reaktion tief verneigt.« 932  |  Ermes, »République et Monarchie«, La Voix du Peuple, 18.8.1906, Jg. 1, Nr. 32, S. 1. 933  |  Sinner, Alfred, »Rose et noir«, La Voix du Peuple, 2.9.1910, Jg. 5, Nr. 36, S. 1. 934 | Vgl. auch La Voix du Peuple, »Procès de classe!«, La Voix du Peuple, 23.11.1907, Jg. 2, Nr. 47, S. 1 und den mit der gleichen Symbolik rekuperativ operierenden Artikel Un ennemi des Gessler modernes, »La Suisse assassine«, La Voix du Peuple, 6.4.1907, Jg. 2, Nr. 14, S. 3-4. Mit dem gleichen Gedankengang wurde eine abermalige Verhaftung Bertonis am 2.8.1912 in Dietikon ZH (vgl. »Arrestation de Bertoni«, La Voix du Peuple, 10.8.1912, Jg. 7, Nr. 31, S. 1) mit dem Staatsbesuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. verknüpft. Vgl. die Illustration in La Voix du Peuple, 7.9.1912, Jg. 7, Nr. 35, S. 2. 935 | »Échos: Les anarchistes«, La Voix du Peuple, 22.9.1906, Jg. 1, Nr. 37, S. 1. Dt.Ü.: »In der Geschichte gibt es zahlreichen unvernünftigen und dummen Hass, dessen sich die Menschheit später schämt, und dieser unerbittliche Hass wird immer auf Kosten derer befriedigt, die einen großen Schritt vorwärts machen wollen.« 936  |  Im Falle des zitierten Artikels etwa hieß es in derselben Ausgabe zwei Seiten weiter: »Le christianisme [...] a son passé entaché de crimes, de guerre, de dissensions, de luttes venimeuses et passionnées. Aujourd’hui, plus que jamais, il prétend se maintenir par l’Autor-

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Die kolportierte Fremdwahrnehmung aus der bürgerlichen und sozialdemokratischen Presse hatte verschiedene katalytische Funktionen.937 Die bürgerliche Presse spielte aber nicht nur als Motivation zur (Re)Definition der kollektiven Identität eine Rolle. Herablassende und schnippische Kommentare auf Kosten der bürgerlichen Presse wirkten auch auf emotionaler Ebene als Gemeinschaftskitt. Das Hervorstreichen von sprachlogischen Fehlern etwa – allen voran im Journal de Genève – dürfte keinem anderen Zweck gedient haben als der Schaffung eines kollektiven Momentums durch Emotionalisierung.938 Auch die Repression trat neben ihrer Rolle als negatives Hypergut verschiedentlich als Katalysator für identitätskonstituierende Mechanismen auf. Etwa wenn sie als Absurdität mit der Absicht porträtiert wurde, die Indignation in der Gemeinschaft über den Status quo zu vergrößern939 oder wenn sie als Aufforderung zu mehr Aktivität verstanden und propagiert wurde: »Lorsqu’un de nos ité et l’intolérance.« (Kosciusko, »Du christianisme«, La Voix du Peuple, 22.9.1906, Jg. 1, Nr. 37, S. 4) Dt.Ü.: »Die Vergangenheit des Christentum [...] ist befleckt von Verbrechen, Kriegen, Uneinigkeit sowie boshaften und leidenschaftlichen Kämpfen. Heute mehr als je, gibt es vor, sich durch Autorität und Intoleranz zu behaupten.« 937  |  Die Berichterstattung über die bürgerliche Berichterstattung zur Verhaftung Bertonis unter den erweiterten Anarchistengesetzen etwa provozierte subidentitäre Framing-Prozesse. Vgl. Avennier, Louis, »Le ›Journal de Genève‹«, 16.2.1907, Jg. 2, Nr. 7, S. 1. Auch persönliche Distanzierungen oder reguläre Framing-Prozesse konnten identitätskonstituierende Folgen sein. Vgl. dazu die Replik auf Auguste Forels Artikel »L’utopie anarchiste« in der sozialdemokratischen Peuple Suisse im Beitrag L. Knüss et al., »L’Apachisme«, La Voix du Peuple, 19.2.1910, Jg. 5, Nr. 8, S. 1-2. Auch Kaskaden vermittelter Hypergüter konnten auf eine Fremdwahrnehmung folgen, die oft genug als politischer Akt feindlich gesinnter Personen, Gruppen oder Institutionen gewertet wurden. Vgl. dazu De La Ville, Jean, »La hantise anarchiste«, La Voix du Peuple, 13.4.1912, Jg. 7, Nr. 15, S. 1. 938 | Vgl. stellvertretend »Échos: Son purisme«, La Voix du Peuple, 23.2.1907, Jg. 2, Nr. 8, S. 1. 939  |  Zur Vergrößerung der Empörung bzgl. Repression und Überwachung stützte sich die La Voix du Peuple aber zuweilen auch auf Anschauungsbeispiele. Gewissermaßen zu einem frühen Fichenskandal (Maunoir-Affäre) veröffentlichte die Zeitung faksimilierte Dokumente der Politischen Polizei, die belegten, dass auch Einträge zum Privatleben der Überwachten durchaus üblich waren, obwohl von der Polizei stets das Gegenteil beteuert wurde. Dass die politische Überwachung des Kantons Genf allein rund 70.000 Dossiers hervorbrachte, wurde zudem als Beleg dafür angeführt, dass die Politische Polizei und ihre Zuträger zur Jahrhundertwende die selbst auferlegten Regeln kaum beachteten und nicht mit Fingerspitzengefühl, sondern mit »manœuvres occultes, inquisitioriales, malpropres« vorgingen. Vgl. zum Thema La Voix du Peuple, »Le règne des mouchards«, La Voix du Peuple, 20.3.1909, Jg. 4, Nr. 12, S. 1-2, den Folgeartikel, dem das Zitat entstammt, »Hors de l’honneur!«, La Voix du Peuple, 27.3.1909, Jg. 4, Nr. 13, S. 1-2 und den abschließenden mit Quellen untermauerten Artikel »Où l’on voit quels sont les honnêtes gens« La Voix du Peuple, 3.4.1909, Jg. 4, Nr. 14, S. 1-2. In den folgenden Nummern finden sich zudem weitere, eher analytische Beiträge zum Thema, die zuweilen in erstaunlichem Maße Wert legten auf die Anerkennung ihrer investigativen Leistung durch die bürgerliche Presse, die in den drei Jahrgängen davor regelmäßig des Lügens bezichtigt wurde. Vgl. exemplarisch »La déchéance«, La Voix du Peuple, 17.4.1909, Jg. 4, Nr. 16, S. 1.

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militants disparaît, il faut que dix se lèvent pour le remplacer. [...] combattons sans trève; répandons nos idées; redoublons de propagande [...].«940 Diese Umdeutung der Repression trat am akzentuiertesten im Artikel »La réaction«941 zutage, als der Repression mit einem Aufruf zur Bewaffnung der eigenen Gemeinschaft begegnet wurde: »Cessons donc de nous indigner [...]. Imitons les bourgeois radicaux, libéraux ou soi-disant socialistes. ›Travailleurs de tous les pays, armons-nous!‹ Devenons forts et conscients de nos interêts. L’exemple vient de haut.«942 Denkverbote und daran angeschlossene Maßregelungen wurden nicht nur kritisiert, wenn sie von staatlicher Seite kamen. Auch Gängelungen von gewerkschaftlicher Seite wurden scharf kommentiert und so zur Umreißung des kollektiven Selbst genutzt.943 Anarchistische Ereignisse wirkten ebenfalls als Katalysatoren für identitätskonstituierende Momente. Die Verschärfung der Anarchistengesetze, vom 30.6.1906 940  |  La commission du journal, »Nous continuons...«, 7.4.1906 Jg. 1, Nr. 13, S. 1. Dt.Ü.: »Wenn einer unserer Genossen fällt, müssen zehn andere sich erheben, um an seine Stelle zu treten. [...] lasst uns kämpfen ohne Unterlass; unsere Ideen verbreiten; unsere Propaganda verdoppeln [...].« Vgl. das gleiche Muster in Baud, Henri, »Ça continue!«, La Voix du Peuple, 12.10.1907, Jg. 2, Nr. 41, S. 4. Bloß rhetorisch fragte die La Voix du Peuple 1911 nach dem Umgang mit der gerichtlich angeordneten Hinrichtung von zwölf japanischen Anarchisten: »[S]erons-nous toujours réduits à pleurer les assasinés? À maudire les assassins en saluant les vengeurs? [...] Le sang des anarchistes de Tokio vient sceller l’union des révoltés de l’universe.« (Amiguet, A., »L’Assassinat«, La Voix du Peuple, 4.2.1911, Jg. 6, Nr. 5, S. 4) Dt.Ü.: »Wird uns nie etwas anderes übrigbleiben, als um die Ermordeten zu weinen? Die Mörder zu verfluchen und die Rächer zu ehren? [...] Das Blut der Anarchisten von Tokio besiegelt die Einheit der Aufständigen des Universums.« 941 | »La réaction«, La Voix du Peuple, 5.10.1907, Jg. 2, Nr. 40, S. 1. 942 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Hören wir auf damit, uns zu empören [...] Machen wir es wie die radikalen Bourgeois, die Liberalen oder die sogenannten Sozialisten. ›Arbeiter aller Länder, rüstet euch!‹ Lasst uns stark werden und unserer Interessen bewusst sein. Das Beispiel kommt von oben.« Diese Haltung blieb bestehen, wie ein gleichnamiger Artikel zeigt, der drei Jahre später nach der Verhaftung von zwei Schreibern aufgrund aufreizender Artikel in der La Voix du Peuple erschien: »[L]es mesures répressives de nos gouvernants [...] prouvent que nous sommes dans le bon chemin et nous continuerons à lutter pour la réalisation de notre idéal révolutionnaire.« (»La réaction«, La Voix du Peuple, 20.8.1910, Jg. 5, Nr. 34, S. 1. [Herv. i.O.]) Dt.Ü.: »[D]ie repressiven Maßnahmen unserer Regierung [...] beweisen dass wir auf dem rechten Weg sind, und wir werden weiter für die Verwirklichung unseres revolutionären Ideals kämpfen.« Die beiden fehlhaften Journalisten Alfred Sinner und Henri Baud wurden am 22.11.1910 schließlich zu 60 Tagen Haft und einer Buße von CHF 100,- resp. von CHF 400,- verurteilt. Vgl. zum Prozess Un auditeur, »Notre procès«, La Voix du Peuple, 26.11.1910, Jg. 5, Nr. 48, S. 3, und »Notre procès devant le Tribunal criminel de Lausanne«, La Voix du Peuple, 10.12.1910, Jg. 5, Nr. 50, S. 1-2. 943  |  In »La liberté de pensée«, La Voix du Peuple, 5.5.1906, Jg. 1, Nr. 17, S. 2 bspw. wird der Gewerkschaftsbund beschimpft für die versuchte Einschüchterung der zu dieser Zeit anarcho-syndikalistisch agitierenden Margarethe Hardegger-Faas, die schließlich in deren Entlassung gipfelte, was wiederum zu verschärften identitätskonstituierenden Framing-Prozessen der Gemeinschaft gegenüber dem institutionalisierten Gewerkschaftsbund führte, dessen Führung als »potentats« beschimpft wurden. Vgl. exemplarisch »Quelques faits: Pour la camarade Faas«, La Voix du Peuple, 11.8.1906 Jg. 1, Nr. 31, S. 3.

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führte zur wiederholten Verdichtung identitätskonstituierender Elemente in Artikeln. Im Beitrag »Nous continuons...«944 wurden beispielsweise auf wenigen Zeilen politische und emotionalisierende Framing-Prozesse vollzogen sowie eine handvoll positiver und negativer Hypergüter vermittelt: »L’eglise et l’etat sont vendus au capital. La justice n’existe plus pour le prolétariat. Nos militants sont emprisonnés, condamnés expulsés au mépris de la justice la plus élémentaire. Bientôt va disparaître la dernière liberté que l’Arbitraire gouvernemental n’a pas encore osé violer trop ouvertement: la liberté de la presse. Pour cela, les pantins du parlamentarisme, à Berne, fourbissent une bonne petite loi qui permette à notre ivrogne national d’instrumenter contre la presse ouvrière.« 945

In wenigen Worten wurde das ›Wir‹ als antiparlamentarische, antireligiöse, klassenorientierte, von der Staatsgewalt drangsalierte und marginalisierte Gemeinschaft gezeichnet, die sich dadurch in ihrem revolutionären Vorhaben aber nicht ent-, sondern vielmehr ermutigen lasse.946 Die Berichterstattung zur Verhaftung Luigi Bertonis aufgrund dieser Gesetzesverschärfung unterstrich die Tendenz, anarchistische Ereignisse zu identitätskonstitutiven Zwecken zu verwenden.947 Andere anarchistische Ereignisse wie Attentate oder Hinrichtungen von AnarchistInnen, die nicht im direkten Zusammenhang mit Verhaftungen oder Verurteilungen in der Schweiz standen, wurden dagegen nur vereinzelt und knapp verhandelt, mal ohne, mal mit identitätskonstituierendem Mehrwert für die Gemeinschaft.948 Der Artikel zum Selbstmord von Luigi Luccheni etwa bot Hand zur – subtilen – Einordnung des Attentats auf Kaiserin Elisabeth vom September 1898 als mehr oder 944  |  La commission du journal, »Nous continuons...«, La Voix du Peuple, 7.4.1906, Jg. 1, Nr. 13, S. 1. 945 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Die Kirche und der Saat haben sich dem Kapital verkauft. Gerechtigkeit existiert für das Proletariat nicht mehr. Unsere Genossen werden eingesperrt, verurteilt, ausgewiesen, unter Missachtung jeglicher Rechtsgrundsätze. Bald wird die letzte Freiheit verschwinden, welche die Regierungswillkür noch nicht offen anzutasten wagte: die Pressefreiheit. Dazu feilen die parlamentarischen Hampelmänner in Bern an einem Gesetzlein, dass es den nationalen Trunkbolden ermöglichen wird, gegen die Arbeiterpresse vorzugehen.« 946  |  Die Erweiterung der Anarchistengesetze ist in mehreren Artikeln Thema. Vgl. exemplarisch G.N., »Loi nouvelle«, La Voix du Peuple, 26.5.1906, Jg. 1, Nr. 20, S. 1. 947  |  Vgl. dazu die Framing-Prozesse und die vermittelten Hypergüter im Rahmen des Artikels »L’Arrestation de Bertoni«, La Voix du Peuple, 11.8.1906, Jg. 1, Nr. 31, S. 2-3. Exemplarisch für das Aktualisieren gemeinschaftlicher Hypergüter auf ein anarchistisches Ereignis hin ist auch der dreiteilige Artikel Baud, Henri, »La réaction«, La Voix du Peuple, 8.1.1910, Jg. 5, Nr. 2, S. 1 (Teil I), 15.1.1910, Jg. 5, Nr. 3, S. 1 (Teil II), resp. 22.1.1910, Jg. 5, Nr. 4, S. 1 (Teil III). 948 | Für Ersteres vgl. die sehr knapp gehaltene Kurzmeldung zur Hinrichtung Francisco Ferrers, »L’Assassinat«, La Voix du Peuple, 16.10.1909, Jg. 4, Nr. 42, S. 4. Auch der vom Le Réveil übernommene Artikel zur Verurteilung von Margarethe Hardegger-Faas enthielt außer gelegentlichen, emotionalisierenden Beleidigungen gegenüber dem amtierenden Generalstaatsanwalt Kronauer keine identitätskonstituierenden Elemente. Vgl. »Une infamie«, La Voix du Peuple, 10.5.1913, Jg. 8, Nr. 18, S. 1.

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weniger legitimen Akt des Klassenkampfes. So hieß es etwa, dass nicht Lucchenis Attentat erstaune – eine »[...] vengeance plus ou moins logique, plus ou moins judicieuse [...]«949 –, sondern, dass es nicht viel häufiger solche Racheakte der »classe ›basse‹«950 gebe.951 Punkto Selbstwahrnehmung ist die Ausrichtung der La Voix du Peuple vor allem in ihren Anfängen »purement syndicaliste«952, wie die MacherInnen ihr Blatt in eigenen Worten treffend umschrieben. Trotz ihres deutlich zutage tretenden proletarischen Selbstverständnisses finden sich auch Passagen, in denen die Zeitung sich über ›les travailleurs‹ erhebt und sich selbst zur Avantgarde schrieb; eine Stellung, die sie ansonsten zu vermeiden953 und einzureißen suchte, indem sie sich als apolitische Arbeiterbewegung inszenierte: »Quand les travailleurs seront plus intelligents, plus conscients de leur intérêts. Ils comprendront alors la nécessité, L’Éfficacité de la solidarité de l’action, c’est-à-dire de la grève générale.«954 Die häufigste Selbstbezeichnung lautete dementssprechend vor allem in den ersten Jahren »[...] nous syndicalistes-révolutionnaires [...]«955, aber auch der Begriff der AktivistInnen (›militants‹) fand öfters Verwendung, wenn über die eigene Gemeinschaft und ihre Mitglieder gesprochen wurde. In den späteren Jahrgängen wurden neben ›révolutionnnaires‹ und ›militants‹ vor allem Bezeichnungen gebraucht, welche die AkteurInnen als ArbeiterInnen deklarierten. Anarchie-Begriffe kamen in den Selbstbezeichnungen der Gemeinschaft der La Voix du Peuple in der Regel nicht vor. Von dahingehenden Fremdbezeichnungen nahm die Redaktion zunächst Abstand.956 Dass der Inhalt zuweilen anarchistischer Natur sei, stritt die Redaktion indes nicht ab: Konzeptionell sei die La Voix du Peuple ein offenes Blatt, das publiziere, was ihr aus der Arbeiterklasse zugesandt werde, ob christlich oder anarchistisch: »La Voix du Peuple n’en continuera pas moins à être largement ouverte à tou-

949  |  »Lucheni: Mort par persuasion«, La Voix du Peuple, 29.10.1910, Jg. 5, Nr. 44, S. 1. 950  |  Ebd., S. 1. 951  |  Zudem wird aufgrund von präsentierten Indizien der Selbstmord Lucchenis bezweifelt. Ebd., S. 2. 952  |  Latude, »Lettre neuchâteloise«, La Voix du Peuple, 20.1.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. 953  |  In einem anderen Artikel hieß es trotz der Anrede der LeserInnen als »tu, travailleur« denn explizit, dass das ›Wir‹ resp. das (literarische) ›Ich‹ sich nicht über sie erheben wolle: Vgl. B. Nd., »Au travailleur!«, La Voix du Peuple, 2.1.1909, Jg. 4, Nr. 1, S. 2. 954 | Vgl. etwa Kontrhof, »La Solidarité«, La Voix du Peuple, 10.3.1906, Jg. 1, Nr. 9, S. 1. Dt.Ü.: »Wenn die Arbeiter klüger sind und ihrer Interessen stärker gewahr. Dann werden sie Notwendigkeit und die Effizienz der Solidarität in der Aktion einsehen, gemeint ist der Generalstreik.« 955  |  Bspw. in »On nous attaque, défendons-nous«, La Voix du Peuple, 3.11.1906, Jg. 1, Nr. 43, S. 1-2, hier S. 2. 956 | Als die Zeitung im sozialdemokratischen Blatt Lutte mit Anarchie-Begriffen in Verbindung gebracht wurde, distanzierte sich die Redaktion umgehend, nicht zuletzt um nicht der trockenen Guillotine anheim zu fallen: »Gailland [Herausgeber der Lutte, d.V.] (...) connaissait la composition de la Voix du Peuple et savait pertinemment qu’elle ne comptait pas d’anarchistes dans son sein.« (La commission du journal, »Aux travailleurs«, La Voix du Peuple, 2.6.1906, Jg. 1, Nr. 21, S. 1) Dt.Ü.: »Gailland kannte die Zusammensetzung der La Voix du Peuple und wusste sehr wohl, dass es dort keine Anarchisten gab.«

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tes les opinions, sans aucun contrôle. Les articles religieux continueront à coudoyer les articles anarchistes.«957

4.4.9.2 Zusammenfassung Die La Voix du Peuple bediente sich mehrerer identitätskonstituierender Methoden. Quantitativ betrachtet stand einerseits die Vermittlung von positiven und negativen Hypergütern als Formanten und andererseits die Schaffung eines immer provisorischen gemeinschaftsdefinierenden Kataloges durch Framing-Prozesse im Zentrum. Diese beiden Methoden sind auch in diachroner Betrachtung als Hauptkonstituenten zu bezeichnen. Auch subidentitäre Framing-Prozesse tragen zur steten Affirmation und Re-Affirmation kollektiver Identität in der La Voix du Peuple bei. Sie sind von Beginn an produktiv, wandeln sich aber qualitativ mit den Jahrgängen. Zunächst distanziert sich die anarcho-syndikalistische Gemeinschaft vornehmlich von Anarchie-Begriffen – wohl im Hinblick auf die Fremdwahrnehmung der ›anderen‹. Dies wechselt ab dem vierten Jahrgang zu einer inhaltlich begründeten Distanz zu anarchistischen Gemeinschaften. In den letzten Jahrgängen wird allmählich ein Paradigmenwechsel erkennbar und wo sich vormals ein anarcho-syndikalistisches ›Wir‹ durch Abschließung gegenüber anarcho-kommunistischen Vorstellungen affirmierte, wurden die Vorzeichen nach dem Redaktionswechsel von Lausanne nach Genf 1911 getauscht. Subidentitäre Framing-Prozesse finden sich nun in der Gestalt des anarcho-kommunistischen ›Wir‹, das sich durch eine Abschließung gegenüber anarcho-syndikalistischen Positionen und Überzeugungen affirmierte. Eine weitere wichtige Rolle spielten traditionalistische Identitätskonstitutionen. Sie waren in der La Voix du Peuple in verschiedenen Konfigurationen produktiv. Sowohl klassisch traditionalistisch, als auch in Form kollektiver Kommemoration wurden Rückbezüge auf ältere Bewegungen, Kämpfe und Ereignisse geschaffen, deren Geschichte und Relevanz die Gemeinschaft des anarchistischen Blattes sich so aneignete. Auch kontradiktorische Identitätskonstitutionselemente sind in ihr als produktive Elemente zu erkennen. Hierbei wurde das gleiche Thema in widersprüchlichem Sinn als Identitätskonstituens geführt. Es fand gleichzeitig Verwendung als negatives Hypergut und als positiv bewertetes traditionalistisches Element in Form nationalistischer Rekuperationen. Als Katalysator für Konstruktion, Konstitution und Unterhalt kollektiver Identität fungierte am häufigsten die Fremdwahrnehmung, die durch die Vermittlung von Hypergütern berichtigt wurde. Aber auch Repression und – mit Vorbehalten – die Kolportation von anarchistischen Ereignissen boten Hand zur Perpetuierung der kollektiven Identität, indem sie oben genannte Methoden und Mechanismen einleiteten. Die kollektive Identität der Gemeinschaft der La Voix du Peuple lässt sich nicht eindeutig zuordnen. Vor dem Paradigmenwechsel um 1911, lässt sich die kollektive Identität als anarcho-syndikalistisch kategorisieren. Dafür sprechen die klassenorientierte Weltdeutung, die utopischen Ideale ebenso wie die bevorzugten Methoden der Direkten Aktion. Mehr und mehr finden sich in den späten Jahrgängen 957  |  La commission du journal, »Aux travailleurs«, La Voix du Peuple, 2.6.1906, Jg. 1, Nr. 21, S. 2. Dt.Ü.: »Die La Voix du Peuple wird deswegen nicht weniger offen allen Meinungen gegenüber sein, ohne jegliche Kontrolle. Religiöse Artikel werden weiterhin neben anarchistischen Artikeln stehen.«

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aber anarcho-kommunistische Bausteine und Merkmale in der kollektiven Identität der Gemeinschaft in und um die La Voix du Peuple, die sich zuweilen auch offen von anarcho-syndikalistischen Positionen distanzierten. Dazu gehörte der Abstentionismus ebenso wie die resolute Negation ameliorierender Maßnahmen im kapitalistisch dominierten Status quo. Die konstruierte, konstituierte und affirmierte kollektive Identität war durch einen immer stärker werdenden Antimilitarismus ebenso geprägt, wie durch einen dezidierten Antiparlamentarismus, der sich erst in den letzten Jahrgängen zu einem Abstentionismus verdichtete. Die Amelioration durch Direkte Aktionen stand dem selbsterklärt unpolitischen ›Wir‹ zu einer grundlegenden, integralen Emanzipation und Befreiung der ArbeiterInnen nicht im Widerspruch, zu denen sie sich expressis verbis in schon fast mantrahaften Rückbindungen des kollektiven Selbst zählte. In sehr seltenen Fällen wird diese Positionierung von Momenten gebrochen, in denen vom ›Wir‹ über die ArbeiterInnen geschrieben wurde und das Selbst demnach in einer anderen, avantgardistischen Position vermutet werden musste. Die Gewichtung von Bewusstsein und Bildung als zentrale und nachhaltige Maßnahmen zur Selbstermächtigung und – vor allem – zur selbstermächtigten Befreiung der ArbeiterInnen gehörte ebenso zu den zentralen Aspekten der kollektiven Identität in der La Voix du Peuple wie die de facto kategorische958 Abgrenzung gegenüber den institutionalisierten und hierarchisierten Elementen der Arbeiterbewegung der Schweiz wie der Sozialdemokratie oder den zentralistisch organisierten Gewerkschaften. Die Demarkation von bürgerlichen Werten und Lebenswelten nahm ebenfalls viel Raum ein, wenngleich sie eher schwand im Gegensatz zu den Abgrenzungen des ›Wir‹ gegenüber dem parlamentarisch-politischen Flügel der Arbeiterbewegung, die kontinuierlich zunahmen. Das Selbstverständnis der La Voix du Peuple als offenes Blatt erlaubte und förderte Debatten. Das Verhältnis zu Religionen und zur Religiosität stellte dabei ein zentrales umstrittenes Hypergut dar. Hier ist eine Zäsur zwischen Redaktion und Bewegten zu erkennen, die Erstere radikaler erscheinen lässt. Der erwähnte Paradigmenwechsel lässt sich als Symptom für einen Wandel der Gemeinschaft lesen. Die dezidiert anarcho-syndikalistische Position wurde nach dem Redaktionswechsel 1911 von Lausanne nach Genf aufgeweicht und in Richtung eines anarcho-kommunistischen Syndikalismus umgebaut. Daneben lassen sich auch Mutationen erkennen bezüglich Relevanz und Gewichtung von Themen. So war beispielsweise der Antimilitarismus 1914 konjunkturell bedingt ein häufiger vermitteltes Hypergut als noch 1906. Generell gesprochen lässt sich die Gemeinschaft, die beide Flügel trug und mittrug, als anarchistisch bezeichnen. Denn sowohl vor wie auch nach dem Paradigmenwechsel war ein grundsätzlich revolutionärer, antiparlamentarischer, antiautoritärer Kern ebenso Bestandteil der kollektiven Identität in der La Voix du Peuple wie die chiliastische Aussicht auf die neue, freie Gesellschaft. Waren zeitbedingt auch gewisse Identitätskonstituenten verstärkt produktiv, so ist eine Häufung respektive eine Konzentration der Identitätskonstitution an sich in der Zeitung nicht festzustellen. Die zunehmende Dichte an publizierten Illustrationen, Gedichten und anarchistischen Liedern, wo Identitätskonstitutionen in 958 | Die seltenen Einsprengsel, dass es auch bei den SozialdemokratInnen ehrliche Kämpfer gebe, stehen in keinem Verhältnis zu den oftmals harschen und herablassenden Demarkationen ihnen gegenüber.

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konzentrierter Form vonstatten gingen, vermag nicht darüber hinweg zu täuschen, dass jede Ausgabe über identitätskonstituierende Beiträge verfügte. In Form von Kurzbeiträgen oder elaborierteren Traktaten wurde das Bedürfnis nach Aktualisierung, Affirmation und Rekonstitution kollektiver Identitäten in der La Voix du Peuple stetig bedient.

4.4.9.3 Bibliografische Details (1) La Voix du Peuple: Journal syndicaliste. Organe de la Fédération des Unions ouvrières de la Suisse romande; (2) Fédération des unions ouvrières de la Suisse romande; (3) Jg. 1, Nr. 1 - Jg. 1, Nr. 9 Union ouvrière de Lausanne; Jg. 1, Nr. 10 - Jg. 3, Nr. 6 Henri Bornand; Jg. 3, Nr. 7 - Jg. 3, Nr. 38 sowie Jg. 3, Nr. 41 - Jg. 4, Nr. 51 Louis Baud; Jg. 3, Nr. 39 - Jg. 3, Nr. 40 Jean Devincenti; Redaktionsadressen: Jg. 1, Nr. 1-Nr. 9: Pontaise 16, Lausanne, Jg. 1, Nr. 9-Nr. 44: Rue du Vallon 28, Lausanne; Jg. 1, Nr. 45 - Jg. 3, Nr. 3: Rue d’etraz 23, Lausanne; Jg. 3, Nr. 4 - Jg. 4, Nr. 11: La Perraudettaz, Lausanne; Jg. 4, Nr. 12 - Jg. 5, Nr. 52: Pully-Lausanne; Jg. 6, Nr. 1 - Jg. 6, Nr. 30: Case Stande 16853, Genf; Jg. 6, Nr. 32 - Jg. 8, Nr. 30: Boulevard Carl Vogt 55, Genf; Jg. 8, Nr. 31 - Jg. 9, Nr. 4: Avenue du Simplon 14 bis, Lausanne; Jg. 9, Nr. 5 - Jg. 9, Nr. 27: Rue des Bains 23, Genf; (4) Lausanne, Genf; (5) 13.1.1906-18.7.1914959; wöchentlich; 4 Seiten (außer Jg. 8, Nr. 17: 6 Seiten); (6) Le Boycotteur960; (9) CIRA Lausanne, Rf 203 GF (unvollständig); (10) Abgesehen von den Nummern Jg. 7, Nr. 17 - Jg. 7, Nr. 29, die über eine veränderte Kopfzeile verfügten, blieb sich die Typografie gleich. Der Druck von Jg. 9 wurde übernommen von der Imprimerie des Unions Ouvrières in Genf. Die Ausgabe des 1. Mai 1906 wurde mit roter Farbe gedruckt. Offizielle Angaben zur Auflage des Blattes finden sich erst zur zweiten Nummer des dritten Jahrgangs, die 2500 mal gedruckt wurde.961 Ein Leserbrief gibt aber Aufschluss darüber, dass sie auch im zweiten Jahrgang 2100 Exemplare nicht überstieg.962 Einzelnummern erschienen indes in größeren Auflagen von bis zu 10.000 Stück.963 Die Finanzierung der Zeitung erfolgte über AbonnentInnen, Anzeigen wurden aus politischen Gründen keine geschalten.964 In einer LeserInnengewinnaktion wurden alle bemusterten Personen als AbonnentInnen betrachtet (und fakturiert), welche das Bemusterungsexemplar nicht an die Administration der Zei-

959  |  Vom 18.7.1914-28.12.1914 wurden in der La Voix du Peuple aus Kostengründen dieselben Artikel abgedruckt wie im Le Réveil. 960 | Vgl. Kap. 4.4.12 Le Boycotteur. 961  |  »Comptes du journal«, La Voix du Peuple, 18.1.1908, Jg. 3, Nr. 3, S. 4. Im dritten Jahrgang schwankte die Auflage, wie mehreren Kurzmeldungen zu entnehmen ist, zwischen 2500 und 2700 Zeitungen. In Jahrgang fünf pendelte sich die Auflage bei 1700-2000 Stück ein. 962  |  Vgl. »Exemples à imiter.«, La Voix du Peuple, 5.1.1907, Jg. 2, Nr. 1, S. 2. 963 | So z.B. La Voix du Peuple, 29.1.1910, Jg. 5, Nr. 5. 964  |  »[U]n journal de prolétaires, vraiment hostile aux exploiteurs, ne peut pas quêter l’Argent des exploiteurs [...].« (Avennier, Louis, »Les annonces«, La Voix du Peuple, 2.6.1906, Jg. 1, Nr. 21, S. 1) [dt.Ü.: »Eine proletarische Zeitung, die den Ausbeutern feindlich gesinnt ist, kann bei den Ausbeutern kein Geld sammeln.], hieß es dazu in einem Artikel, der auf der Frontseite erschien. Ab Jg. 6 sind zunehmend Anzeigen für Bücher abgedruckt, die bei der Redaktion zu kaufen waren oder für die FUOSR-eigene Druckerei. Nicht weniger als vier Anzeigen finden sich etwa in La Voix du Peuple, 2.7.1911, Jg. 6, Nr. 26.

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tung zurücksandten.965 Gerade zu Beginn des Erscheinens war in jeder Nummer ein Aufruf an die Leserschaft abgedruckt, selber zu abonnieren und um weitere AbonnentInnen zu werben. Der stetige Geldmangel wurde auch mit organisierten Tombolas zu mindern versucht.966 Während der erste Jahrgang auch an Kiosken verkauft wurde, waren die Jahrgänge zwei bis acht offenbar vornehmlich per Abonnement erhältlich.967 Die La Voix du Peuple verfügte über mehrere Rubriken; »Avis et convocations«, worin Administratives der Mitgliedssyndikate der FUOSR mitgeteilt wurde, die selbsterklärende Rubrik »Bibliographie«, eine Liste der zu boykottierenden Firmen und Geschäfte unter »Mises à l’index« und schließlich die ebenfalls selbsterklärend betitelte Rubrik »Mouvement ouvrier international«. Mit Jg. 1, Nr. 4 wurde zudem die Rubrik »Les grèves« eingeführt, die über Streiks in der Schweiz berichtete. Ab Jg. 1, Nr. 42 folgt die selbsterklärende »Chronique antimilitariste«. Neue Rubriken wie »Petite revue« (Presseschau), »Ici et là« und »En quelques lignes« (gemischte Kurznachrichten), »Notre carnet« (Allerlei) »Instruis-toi«, »Choses d’Italie« (Nachrichten aus Italien), »Entre nous« (FUOSR Interna), »Tribune typographique« (Interna vom Syndikat der Typografen) oder »Notre enquête sur la politique et les syndicats« kommen und verschwinden wieder nach einigen Nummern. Die La Voix du Peuple wurde auch zum offiziellen Organ einiger Gewerbeverbände, so der Holzarbeiter und der Tapezierer.968 Nicht alle Beiträge der La Voix du Peuple sind Originalbeiträge, es finden sich hin und wieder Zweitabdrucke von Artikeln die für andere Zeitungen geschrieben wurden.969 Der Verkauf der La Voix du Peuple am Kiosk wurde im März 1909 kurzfristig von der Polizeidirektion Lausanne verboten.970 Neben der Zeitung sind unter der Schirmherrschaft der La Voix du Peuple diverse Broschüren unter dem Namen ›Éditions de La Voix du Peuple‹ erschienen.971 Mit der offiziellen Kriegsdeklaration wurde die La Voix du Peuple am 22.8.1914 mit dem Le Réveil fusionniert um Kosten zu sparen.972 965  |  Vgl. »À nos lecteurs«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1, und »L’union ouvrière de Lausanne«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Im fünften Jahrgang wiederholte die Redaktion diese Politik, indem sie vier Probenummern verschickte und die nicht refüsierenden EmpfängerInnen als AbonnentInnen betrachtete. Vgl. den Hinweis an die ›abonnés probables‹ in »Attention!«, La Voix du Peuple, 27.8.1910, Jg. 5, Nr. 35, S. 4. 966  |  Vgl. »Aux amis de la Voix«, La Voix du Peuple, 18.10.1913, Jg. 8, Nr. 41, S. 4. 967  |  »A nos lecteurs«, La Voix du Peuple, 22.12.1906, Jg. 1, Nr. 50, S. 1. Eine Anzeige in der Ausgabe vom 11.5.1907 wies auf einzelne Ausnahmen hin. Vgl. »La Voix du Peuple est en vente«, La Voix du Peuple, 11.5.1907, Jg. 2, Nr. 19, S. 3. Eine Randnotiz zu einer Preiserhöhung von 100% in der Ausgabe vom 6.7.1907 sowie eine Notiz in der antimilitaristischen Sondernummer vom 26.10.1907 lässt allerdings erahnen, dass die La Voix du Peuple allmählich wieder an Kiosken verkauft wurde. 968  |  »Action syndicale: Dans les fédérations«, 17.2.1906, Jg. 1, Nr. 6, S. 3. 969  |  Vgl. exemplarisch Luigi Bertoni, »La liberté d’opinion«, La Voix du Peuple, 31.3.1906, Jg. 1, Nr. 12, S. 3. 970  |  Gründe sind den entsprechenden Artikeln leider keine zu entnehmen. Vgl. »La bataille commence«, La Voix du Peuple, 6.3.1909, Jg. 4, Nr. 10, S. 1. 971  |  Vgl. exemplarisch die Ankündigung für eine 16-seitige antimilitaristische Broschüre »A bas l’Armée!«, La Voix du Peuple, 20.11.1909, Jg. 4, Nr. 47, S. 3. 972  |  Vgl. den entsprechenden Artikel La Voix du Peuple / Le Réveil, »A tous nos camarades et lecteurs«, Le Réveil, 22.8.1914, Jg. 15, Nr. 391, S. 1.

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4.4.10 L’Almanach Du Travailleur 4.4.10.1 Relevante Er wähnungen Der einleitende Artikel war eine Deklaration von Prinzipien der ›Fédération des Unions ouvrières de la Suisse romande‹ (FUOSR), die als Herausgeberin des L’Almanach du Travailleur auftrat. Die Dichte an identitätskonstituierenden Elementen in der manifestähnlichen Form der Selbstwahrnehmung erstaunt daher nicht wirklich. In wenigen Zeilen wurden Hypergüter wie Ziele, Methoden und Weltdeutungen der Gemeinschaft vermittelt: etwa die Selbstermächtigung der ArbeiterInnen oder das Bestreben, die Unterwerfung durch das Kapital abzuschaffen, die als Ursache »de toute servitude politique, morale et matérielle«973 verstanden wurde. Weiter wurde die Abschaffung des Militärs gefordert, das als integraler Bestandteil der Unterdrückung der Arbeiterbewegung inszeniert wurde: »L’Armée étant l’une des principales entraves à leur émancipation, les travailleurs doivent incessamment poursuivre sa suppression.«974 Als Methoden auf dem Weg zur »émancipation des travailleurs«975 wurden die Enteignung und umgehende Sozialisierung von Produktionsmitteln, Konsum und Tausch sowie die Abschaffung der Lohnarbeit als positive Hypergüter der Gemeinschaft vermittelt. Auch der Beitrag »Avis important«976 erweist sich als reiche Quelle bezüglich Hypergütern. Konzentriert wurden Werte wie Föderalismus, weitestgehende Autonomie freier Assoziationen, ein revolutionärer Anspruch auf die Umgestaltung der Gesellschaft und die Utopie eines Neuaufbaus der Gesellschaft aus Syndikaten heraus artikuliert, die eine anarcho-syndikalistische Skizze der kollektiven Identität erlauben. Der L’Almanach du Travailleur strich dabei »la composition purement prolétarienne« hervor und positionierte die Gemeinschaft als »[...] le seul organisme en Suisse placé sur le vrai terrain de la lutte de classe; le seul qui, par ses principes fédéralistes, laisse la plus entière autonomie à chaque groupement adhérent; et qui, par son action révolutionnaire, vise, sans compromis, à édifier une civilisation basée sur le travail«977. Eckpfeiler anarcho-syndikalistischer Weltdeutung vermittelten auch Illustrationen. In »Aujourd’hui (...) Demain«978 wurde die Gegenwart beispielsweise als klassendominierter Gegensatz von AusbeuterInnen und Ausgebeuteten verstanden. Einem dickwanstig gezeichneten, kapitalkräftigen Investor wurde ein abgemagerter, körperlich arbeitender Proletarier gegenübergestellt, der kaum genügend Wasser zur Verfügung hatte.979 Das ›Morgen‹ als Metapher der Gesellschaft nach der anarcho-syndikalistischen Umwälzung würde schließlich die Entwertung immaterieller Güter mit sich bringen: »Monsieur le capitaliste est en purée. Bouffe ton or et tes billets, cochon, t’en 973  |  »Déclaration de principes«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 2. 974  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Da die Armee eines der wichtigsten Hindernisse zu ihrer Emanzipation darstellt, müssen die Arbeiter ohne Unterlass auf ihre Vernichtung hinarbeiten.« 975  |  Ebd., S. 2. 976  |  LE COMITÉ FÉDÉRATIF, »Avis important«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 88. 977  |  Ebd., S. 88. Dt.Ü.: »den einzigen Organismus in der Schweiz, der sich auf dem wahren Terrain des Klassenkampfes befindet; der einzige, der jeder Mitgliedsgruppe durch seine föderalistischen Grundsätze völlige Autonomie lässt; dessen revolutionäre Aktion kompromisslos darauf hinzielt, eine auf der Arbeit basierende Zivilisation zu erschaffen«. 978  |  »Aujourd’hui (...) Demain«, L’Almanach du Travailleur, 1912, Jg. 4, S. 48. 979  |  Ebd., S. 48.

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feras pas épais!«980 Einfluss und Macht von Kapitalisten sänken demnach in der anarcho-syndikalistischen Gesellschaft durch die (moralische) Entwertung immaterieller Güter. ArbeiterInnen hingegen kämen zu den Bedürfnissen angepassten Lebensbedingungen in der Gemeinde, die durch betriebliche Selbstverwaltung charakterisiert sein würde. Interessantes Detail ist, dass es wohl Wein auf der Tafel des »veinard« gab, seine körperliche Verfassung aber nicht auf Überfluss hindeutete. Eine simple Umdrehung der Vorzeichen in den Machtverhältnissen dürfte damit nicht das Ziel gewesen sein.981 Der Generalstreik nahm als Methode zur Umgestaltung der Gesellschaft eine zentrale Rolle ein, da – so die vermittelte Weltdeutung – die Mächtigen und ihre Macht existenziell von der Arbeit und den Produktionsverhältnissen abhängen würden: »La grève reste la forme la plus logique de la révolte populaire. Le pouvoir du maître est fait essentiellement du travail des esclaves; si ce dernier lui manque, il n’a plus du maître que le nom.«982 Diesem Verständnis folgend wurde die umfassende Expropriation gefordert, da sie die Grundlage für eine Gesellschaft darstelle, die von Gleichheit und Freiheit geprägt sei: »L’expropriation seule de tous les moyens de production, de consommation et d’échange au profit de tous peut établir des rapports d’égalité, venant remplacer les rapports séculaires de maître à esclave.«983 Dieses Ziel wurde mit Anarchie-Begriffen bezeichnet: »La société elle-même de libres et d’egaux [...] ce sera l’Anarchie.«984 In einem zweiten längeren Artikel zur gleichen Thematik wurde der Generalstreik als Form politischer Gewalt als notwendiges Übel diskutiert und legitimiert: »Il serait trompeur de notre part de ne pas penser aux pires éventualités et de présenter la grève générale comme un événement sans violence. [...] Ainsi, bien loin de regarder les actes de violence prolétarienne commes des manifestations de grossièreté et de brutalité – selon l’inepte morale chrétienne et démocratique – nous devons plutôt les considérer commes des preuves de dignité, de sacrifice et souvent d’héroïsme nécessaires.« 985 980  |  Ebd., S. 48. Dt.Ü.: »Der Herr Kapitalist sitzt in der Patsche. Friss dein Gold und deine Scheine, du Schwein, das macht dich nur plump!« 981  |  Vgl. Ebd., S. 48. 982 | Bertoni, L., »La Grève Générale Expropriatrice«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 22. Dt.Ü.: »Der Streik bleibt die schlüssigste Form des Volksaufstands. Die Macht des Herren besteht im Wesentlichen aus der Arbeit der Sklaven; wenn diese ihm abhanden kommt, trägt er vom Herren nur noch den Namen.« Auch die Ausgaben des L’Almanach von 1912 und 1913 wurden eröffnet von längeren Artikeln mit Titel und Inhalt »La grève générale«. Vgl. Wintsch, Jean, »La grève générale«, L’Almanach du Travailleur, 1912, Jg. 4, S. 21-25, und L.A., »La Grève générale«, L’Almanach du Travailleur, 1913, Jg. 5, S. 21-24. Da die in diesen drei Artikeln vermittelten Hypergüter häufig deckungsgleich waren, werden nur solche erwähnt, die Unterschiede in den Konzeptionen der Autoren erkennen lassen. 983  |  Bertoni, L., »La Grève Générale Expropriatrice«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 25. Dt.Ü.: »Allein die Expropriation aller Produktions-, Konsum- und Tauschmittel zugunsten aller kann gleichheitliche Beziehungen begründen, welche die säkulären Herr-Sklaven-Beziehungen ersetzen können.« 984  |  Ebd., S. 31. Dt.Ü.: »Die Gesellschaft zwischen freien und gleichen [Menschen] an sich [...] das wird die Anarchie sein.« 985 | Wintsch, Jean, »La grève générale«, L’Almanach du Travailleur, 1912, Jg. 4, S. 23. Dt.Ü.: »Es wäre trügerisch von unserer Seite, nicht an die schlimmsten Eventualitäten zu

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Die durch die Fremdwahrnehmung zugeschriebene Devianz des gemeinschaftseigenen Wertesystems wurde zunächst neutralisiert, um schließlich umgedeutet und positiv bewertet zu werden und dementsprechend eine positive identitätskonstituierende Wirkung entfalten zu können. Nicht nur im Zusammenhang mit dem Generalstreik wurde Gewalt als Mittel zum Zweck verhandelt.986 Zwar wurde sie als Methode nirgends expressis verbis gutgeheißen.987 Dennoch ist mit einem Minimum an interpretatorischer Leistung eruierbar, dass Gewalt als das Handlungsmittel verstanden wurde, bei dem die Gemeinschaft der Bourgeoisie nicht von vorneherein unterlegen wäre im Unterschied zu politischen Aktionsmitteln und -möglichkeiten, weswegen sie dieses auch besonders fürchtete: »La bourgeoisie [...] ne craint qu’une chose: la violence insurrectionelle [...].«988 Auch das Hervorheben der konstitutiven Rolle der Gewalt bei bürgerlichen Revolutionen, die sarkastisch kontrastiert wurde mit der offiziellen bürgerlichen Einschätzung von ihr als »stérile«989, kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass sie in den Augen der Gemeinschaft des L’Almanach du Travailleur eine potente politische Handlungsweise darstellte. Die Bildung zählt ebenfalls zu den vermittelten positiven Hypergütern. In einem Nachruf990 auf den hingerichteten libertären Pädagogen Francisco Ferrer wurden dessen Konzepte von Selbstermächtigung und Wissen als revolutionäre Grundelemente nacherzählt und so reinforciert: »[L]’émancipation prolétarienne ne peut être que l’œuvre directe et consciente de la classe ouvrière elle-même, de sa volonté de s’instruire et de savoir [...] [E]ssayons également de les faire entrer dans les cerveaux des enfants et des adolescents.«991 Der politische Konsum, welcher Selbstermächtigung, Solidarität und Direkte Aktion kombiniert, stellte ein weiteres Hypergut dar. So wurde zum Rauchen der Zigarettenmarke ›La Syndicale‹ aufgerufen, die aus dem genossenschaftlichen ›Atelier libre de Yverdon‹ stammdenken und einen Generalstreik als gewaltloses Ereignis darzustellen. [...] Und so sollten wir auch proletarische Gewalttaten keineswegs als rüpelhaft und brutal ansehen – ganz nach den dummen christlichen und demokratischen Moralvorstellungen – sondern sie vielmehr als Zeichen für eine gebotene Würde, Opferbereitschaft und oft auch Heldentum betrachten.« 986  |  Vgl. Hervé, Gustave, ohne Titel, L’Almanach du Travailleur, 1914, Jg. 6, S. 58-59. 987  |  Eine mögliche Erklärung für die immer in der Andeutung verbleibende Schreibe sind die 1906 verschärften Anarchistengesetze der Schweiz. Darunter wurden aufhetzende Artikel explizit in der anarchistischen Presse unter Strafe gestellt. Vgl. Kap. 3.3 Die Schweiz und der Anarchismus. 988 | Vgl. Gustave Hervé, ohne Titel, L’Almanach du Travailleur, 1914, Jg. 6, S. 58-59. Dt.Ü.: »Die Bourgeoisie [...] fürchtet nur eins: den gewaltvollen Aufstand [...].« 989  |  Ebd., S. 58 und S. 59. 990  |  »Vive L’École moderne!«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 78-80. 991 | »Vive L’École moderne!«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 79. Dt.Ü.: »[D] ie proletarische Emanzipation kann nur das direkte und bewusste Werk der Arbeiterklasse selbst sein, ihres Willens sich zu bilden und Wissen anzueignen [...]. Das müssen wir auch in die Köpfe der Kinder und Jugendlichen einpflanzen.« Auch das erste anarchistische Schulprojekt der Schweiz, die ›École Ferrer‹ in Lausanne, ist Thema im Almanach. Allerdings finden sich im Artikel v.a. praktische Erziehungstipps und Animationsspiele mit pädagogischem Mehrwert für die Kinder der Leserschaft. Prinzipien, Erziehungsmaximen oder andere Hypergüter der Schule wurden nicht vermittelt. Vgl. Matthey, Th., »Pour les gosses«, L’Almanach du Travailleur, 1912, Jg. 4, S. 37-42.

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te,992 oder es wurde empfohlen, die Haare in den »Salons de coiffure communistes« schneiden zu lassen, denn: »[...] les bénéfices vont exclusivement à la propagande syndicaliste«993. Als Weg zum Ziel wurde im L’Almanach du Travailleur der radikale Abbruch des herrschenden Systems als unausweichlich propagiert: »[N]ous visons à la destruction du régime bourgeois tout entier. Nous ne voulons plus ni exploités ni exploiteurs, ni gouvernants ni gouvernés, ni maîtres ni serviteurs. Un changement complet dans les rapports sociaux est nécessaire pour assurer le bien-être et la liberté à tous, même à ceux qui n’en paraissent pas dignes à certains savantasses, uniquement parce qu’ils sont plus écrasés que les autres par les iniquités sociales.« 994

Der dieser Aussage inhärente Universalismus offenbarte eine klassisch anarchistische Haltung. Der Autor stand damit in Kontrast zu betont anarcho-syndikalistischen Einstellungen an anderen Stellen des Almanachs. Stand bei Bertoni die Befreiung der Menschheit grundsätzlich ungeachtet ihrer Klasse im Vordergrund995, so war bei Jean Wintsch, der zum exakt gleichen Thema zwei Jahre später einen Essay verfassen sollte, eine Fixierung auf das (weitgefasste) Proletariat zu vernehmen. Er hielt fest: »La grève générale [...] c’est l’organisation de la révolte ouvrière, l’effort conscient de transformation sociale sur une vaste échelle; c’est le terme logique et nécessaire de l’action du prolétariat contemporain, l’Amplification, la synthèse des luttes ouvrières. Et par-dessus tout, la grève générale expropriatrice prépare un fédéralisme économique remplaçant la centralisation bourgeoise.« 996

992  |  Anzeige »La Syndicale«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, Umschlag. 993 | Anzeige »Salons de coiffure communistes«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, Umschlag. Dt.Ü.: »der Gewinn kommt ausschließlich der Gewerkschaftspropaganda zugute«. 994 | Bertoni, L., »La Grève Générale Expropriatrice«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 24. Dt.Ü.: »[U]nser Ziel ist die Zerstörung des gesamten bürgerlichen Regimes. Wir wollen weder Ausgebeutete noch Ausbeuter mehr, weder Regierende noch Regierte, weder Meister noch Knechte. Ein vollständiger Wandel der sozialen Beziehungen ist unumgänglich, um das Wohle und die Freiheit aller sicherzustellen, selbst derer, die einigen MöchtegernGelehrten nicht würdig erscheinen, bloß weil die soziale Ungerechtigkeit sie noch stärker erdrückt als die anderen.« In kleineren Exzerpten von Werken anderer Autoren wird die umfassende Demontage des Politischen ebenfalls propagiert. Vgl. »Bakounine«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 52. 995  |  Vgl. auch die Positionen in Bertoni, L., »Notre point de vue«, L’Almanach du Travailleur, 1912, Jg. 4, S. 51-60. 996 | Wintsch, Jean, »La grève générale«, L’Almanach du Travailleur, 1912, Jg. 4, S. 25. Dt.Ü.: »Der Generalstreik [...] das ist die Organisation des Arbeiteraufstands, eine bewusste Anstrengung den sozialen Wandel in großem Maßstab herbeizuführen; er ist das logische und notwendige Ziel der heutigen proletarischen Aktion, die Ausweitung und die Synthese der Arbeiterkämpfe. Und vor allem, der Generalstreik und die Expropriation bereiten einen ökonomischen Föderalismus vor, der den bürgerlichen Zentralismus ersetzen soll.«

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Die permanente Aufklärung stellte einen weiterer wichtiger Baustein dar für die kollektive Identität der Gemeinschaft des L’Almanach du Travailleur. Der Beitrag »À l’Atelier, à l’usine, au Chantier, au Champ«997 rief dazu auf, auch an der Arbeit propagandistische Arbeit zu leisten: »A chaque heure, à chaque minute, nous penserons et besognerons à ce qui peut le mieux anéantir notre ennemi.«998 Neben der Vorstellung einer permanenten Revolution wurde als Hypergut auch die universalistische Konzeption der revolutionären Masse vermittelt, die nicht nur FabrikarbeiterInnen, sondern auch LandwirtInnen umfassen sollte.999 Viel Platz nahm auch der Antimilitarismus ein, der als Hypergut die Gemeinschaft des L’Almanach du Travailleur formte und unterhielt.1000 Verschiedene Taktiken waren dabei produktiv, den Militärdienst und seine Funktionen zu diskreditieren, um die eigene Gemeinschaft zu festigen.1001 Im Beitrag »Démocratie et Lutte de Classes«1002 wurde der Abstand zu Aufgabe, Funktionsweise und Personal des Militärs emotionalisierend vergrößert. Soldaten wurden als ruch- und willenlose brutale Rüpel gezeichnet und mit der Bezeichnung »les chiens de garde du capital«1003 zu Tieren herabgewürdigt.1004 Auch die Freie Liebe wirkte als Hypergut identitätskonstitutiv. Darunter wurde eine Beziehung verstanden, die frei wäre von hierarchischen Strukturen. Dies aber sei unmöglich, solange Ungleichheiten und Abhängigkeiten zwischen den Geschlechtern bestünden. Damit wurde das Plädoyer für die Freie Liebe auch zum Plädoyer für die Befreiung der Frau und für antiautoritäre, nicht-hierarchische Beziehungsstrukturen. In selbstkritischem Ton wurden neben Frauen- auch Kinderrechte angesprochen:

997  |  Karly, Joseph, »À l’Atelier, à l’usine, au Chantier, au Champ«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 45-49. 998  |  Ebd., S. 46. Dt.Ü.: »Zu jeder Stunde, jede Minute denken und wirken wir daran, was unseren Feind am besten vernichten kann.« 999 | Diese universalistische Ausrichtung findet sich in mehreren Artikeln. Vgl. etwa die Karikatur »La question agraire«, die in internationalistischer Manier die gleiche Ausweglosigkeit eines russischen und eines schweizerischen Bauern darstellte und dazu meinte: »Que ce soit en monarchie ou en démocratie, c’est kif-kif: le paysan, après avoir payé tous les impôts, fermages, redevances, hypothèques n’a plus un radis.« (»La question agraire«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 63) Dt.Ü.: »Unter der Monarchie oder der Demokratie ist es das Gleiche: Dem Bauer bleibt, nachdem er alle Steuern, Pachtgelder, Abgaben und Hypotheken bezahlt hat, nicht mal mehr ein Radieschen.« 1000  |  Vgl. Sergy, Georges, »Chronique antimilitariste«, L’Almanach du Travailleurs, 1910, Jg. 2, S. 58-62. 1001  |  Vgl. ebd., bes. S. 60. 1002  |  Tobler, Max, »Démocratie et Lutte de Classes«, L’Almanach de Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 70-74. 1003  |  Ebd., S. 73. Dt.Ü.: »die Wachhunde des Kapitals«. 1004 | Vgl. für weitere Varianten des Hyperguts Antimilitarismus Blanc, H., »Entre ouvriers«, L’Almanach du Travailleurs 1913, Jg. 5, S. 30-33, oder subtiler C.R., »Le Travail libre«, L’Almanach du Travailleur, 1913, Jg. 5, S. 28.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Dans nos rêves d’émancipation, dans notre conception d’un monde nouveau, nous ne pensons au fond qu’à nous-mêmes: nous libérés, les femmes suivront, disons-nous, ou même nous ne nous en préoccupons aucunement. [...] Une cause n’est vraiment populaire, c’est-àdire mûre pour le triomphe, que si non seulement les femmes, mais les enfants mêmes à la rue, tout en jouant, en parlent avec ingénuité qui rend parfois la vérité cent fois mieux que les déclarations entortillées des soi-disant grands hommes. [...] l’œuvre d’émancipation apparaît évidemment impossible sans l’action directe de la moitié la plus malhereuse, parce que la plus esclave, de notre humanité.«1005

Die private Liebe wird damit als gesellschaftlich relevant erachtet.1006 Neben diesen positiv formulierten Zielen und Wegen wirkte auch die Vermittlung negativer Hypergüter konstitutiv für die kollektive Identität im L’Almanach du Travailleur. Im Artikel »Conseils aux locataires«1007 wurde etwa das Eigentum als solches installiert: »La propriété seule confère des droits. Ainsi est L’Égalité démocratique, et cela ne changera qu’avec la suppression de la propriété.«1008 Auch der Patriotismus wurde als negatives Hypergut adressiert. Der Beitrag mit dem programmatischen Titel »Echec à la légende«1009 demontierte dabei den Mythos der Schweizer Armee als Konservatorin des Vaterlandes, die bloß für Unabhängigkeit und Freiheit zu Felde gezogen sei. Dazu fokussierte der L’Almanach du Travailleur das schweizerische Söldnerwesen des 18. Jahrhunderts, das dazu im Widerspruch gestanden habe. Die Autorin fragte deshalb zum Schluss des Artikels rhetorisch:

1005  |  Bertoni, L., »L’Amour libre«, L’Almanach du Travailleur, 1913, Jg. 5, S. 48-49. Dt.Ü.: »In unseren Emanzipationsträumen, in unseren Vorstellungen einer neuen Welt denken wir letztendlich nur an uns selbst: Sobald wir befreit sein werden, werden die Frauen uns folgen, sagen wir uns, oder vielleicht kümmern wir uns gar nicht darum. [...] Eine Sache ist jedoch nur dann wirklich die des Volkes, d.h. reif für den Triumph, wenn nicht nur die Frauen, sondern sogar die Kinder, auch die Straßenkinder, beim Spielen ganz arglos darüber reden, denn so wird die Wahrheit oft hundert Mal besser gesagt als in den verschlungenen Ansprachen sogenannter großer Männer. [...] Die Emanzipation erscheint gewiss unmöglich ohne die direkte Aktion der noch unglücklicheren, da noch stärker versklavten Hälfte unserer Menschheit.« 1006  |  Ein Gedanke, der in den Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre unter dem Motto ›Das Private ist politisch‹ wieder aufgenommen wurde. Vgl. Kunz, Auch das Private. 1007  |  »Conseils aux locataires«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 17-18. 1008 | Ebd., S. 17. Dt.Ü.: »Nur das Eigentum erteilt Rechte. So lautet die demokratische Gleichheit und das wird sich nur mit der Abschaffung des Eigentums ändern.« Das Privateigentum wird auch in anderen Artikeln häufig as Grundübel dargestellt. Vgl. exemplarisch L. Bertoni, La Grève Générale Expropriatrice«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 24: »[...] tout changement des rapports sociaux présuppose un changement des formes de la propriété«. 1009 | Bernard, Alice, »Echec à la légende«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 66-68.

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Framing-Prozesse stellten einen weiteren wichtigen Teil der Identitätskonstitution dar. So wurde im Essay »La Grève Générale Expropriatrice«1011 das ›Wir‹ als Gruppe von Ausgebeuteten skizziert durch die Abgrenzung zu ausbeutenden Nutznießern des Status quo. Darunter wurden Adel, Kapitalisten, Eigentümer und Partei- und Gewerkschaftssekretäre subsumiert, die in der Optik des L’Almanach du Travailleur von der Arbeit des ›Wir‹ lebten: »Rois, prêtres, financiers, industriels, propriétaires, patrons de tout acabit, jusqu’à nos chers permanents et secrétaires d’organisations ouvrières, ne veulent faire reconnaître leur autorité que pour prélever une dîme aussi élevée que possible sur notre travail.«1012 Auch an anderer Stelle wurden Gewerkschaftssekretäre und sozialdemokratische Politiker als Profiteure und damit als Begünstiger des herrschenden Systems gebrandmarkt, wodurch sich die Gemeinschaft von ihr abgrenzte und ihre kollektive Identität festigte und schärfte: »[N]on seulement les gouvernants en place, mais tous les aspirants au pouvoir s’entendentils à merveille pour déconsidérer les grèves. Tous les politiciens du socialisme, de même que nos très savants fonctionnaires des organisations syndicales, vous diront qu’il faut éviter le plus possible les grèves [...] Hâtons-nous de dire que pour ces derniers il ne s’agit plus de supprimer l’exploitation patronale, mais de la réglementer, en établissant une sorte de parlementarisme économique, dont ils seront les députés à vie.«1013

Die Demarkation, die die ›anderen‹ zu Mit-Ausbeutern aus Eigennutz machte, wurde weiter akzentuiert, indem das Verhalten der ›anderen‹ als Reproduktion der 1010 | Ebd., S. 68. Dt.Ü.: »Gibt es einen Anlass, stolz auf unsere Vorfahren zu sein, verachtete Söldner, denen man mit ›patriotischer‹ Frechheit ein Denkmal gesetzt hat, diesen Löwen von Luzern, der jener Seite des Geschichtsbuch gewidmet ist, in dem Schweizer auf das französische Volk geschossen haben, auf Befehl eines lasterhaften, miesen und niederträchtigen Königs? Ja, sollten wir stolz darauf sein?« Mit ›lion de Lucerne‹ war das Löwendenkmal in Luzern gemeint, das 1821 eingeweiht wurde und den 760 gefallenen Schweizer Söldnern des Tuileriensturms am 10.8.1792 in Paris gewidmet ist. 1011 | Bertoni, L., »La Grève Générale Expropriatrice«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 21-33. 1012 | Ebd., S. 21. Dt.Ü.: »Könige, Priester, Finanziers, Industrielle, Eigentümer, Patrons jeder Art, bis hin zu unseren geschätzten Vertretern und Sekretären der Arbeiterorganisationen, wollen nur, dass wir ihre Autorität anerkennen, um von unserer Arbeit die höchstmögliche Abgabe einzutreiben.« 1013 | Ebd., S. 22-23. Dt.Ü.: »Nicht nur die jetzigen Regierenden sondern auch all ihre Machtanwärter verstehen sich bestens dabei, Streiks in Verruf zu bringen. Alle Politiker des Sozialismus ebenso wie die geschickten Beamten unserer Gewerkschaftsorganisationen werden euch sagen, dass Streiks soweit es geht, vermieden werden müssen [...] Wir wollen nicht versäumen klarzustellen, dass es den Letzteren nicht mehr darum geht, die patronale Ausbeutung abzuschaffen, sondern sie durch eine Art ökonomischen Parlamentarismus zu reglementieren, dessen Abgeordneten sie auf Lebenszeit wären.«

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Machtverhältnisse gedeutet wurde. Es führe zu einer »[...] aristocratie du travail à côté d’une masse profondément misérable«1014. In die gleiche Kerbe schlug auch der Beitrag »Le manuel du candidat«1015, dessen abschließende Illustration die Meinung über politische Partizipation konzis zusammenfasste und implizit den Abstentionismus als Hypergut installierte. Auch die Illustration auf dem Titelumschlag von 1910 arbeitete identitätskonstituierend mit Framing-Prozessen in Verbund mit anderen Komponenten. Auf dem Almanach findet sich symbolisch dargestellt die Heilsvorstellung einer von ArbeiterInnen geprägten Zukunft, dargestellt von einer solidarischen Menge vor einer aufgehenden Sonne. Der Vordergrund ist dabei bestimmt von zwei Arbeitern, welche die soziale Revolution einläuten, indem sie ihre Gegner unter Gewaltandrohung verjagen. Die Schärfung des Selbst durch Absetzung geschah dabei gegenüber der organisierten Kirche, spekulierenden Kapitalisten, der Armee und arrivierten Politikern. In punkto Frequenz weniger prominent war die Fremdwahrnehmung als produktive Komponente. Sozialdemokratische und gewerkschaftliche Einschätzungen der Gemeinschaft wurden katalytisch zur Antipode geschrieben und konstituierten dadurch das kollektive Selbst mit.1016 So beispielsweise im Artikel »Inévitables divisions«1017, wo sie zunächst als verzerrend und bewusst politisch diskreditierend dargestellt wurde »Des injures, encore des injures et toujours des injures. Le lecteur n’a que l’embarras du choix. Jugez plutôt: fripouilles, menteurs, calomniateurs, malhonnêtes, faussaire, vendus, jésuites, destructeurs et empoisonneurs du mouvement ouvrier, gens de mauvaise foi, Azew1018 , bandes noires, etc., etc. Voilà en quels termes on parle de nous dans les organes rédigés par les chefs du mouvement ouvrier.«1019 1014  |  Ebd., S. 23. An anderer Stelle im selben Beitrag hieß es gar, dass diese »ennemis encore plus dangereux« (ebd., S. 28) seien für die Bewegung, als die Bourgeoisie. 1015  |  In einer Liste von neun Punkten werden permanent organisierte Gewerkschaften als Sprungbrett für Karrieristen gebrandmarkt. Vgl. »Le manuel du candidat«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 53. 1016  |  Unterschiede innerhalb dieser Presse seien keine auszumachen: »Que vous lisiez la Revue Syndicale, le Korrespondenzblatt, le Métallurgiste, le Négrier brésilien, la note ne varie pas.« (Baud, Henri, »Inévitables divisions«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 80) Dt.Ü.: »Ob ihr die Revue Syndicale, das Korrespondenzblatt, den Métallurgiste, den Négrier brésilien lest, der Ton bleibt der gleiche.« 1017  |  Ebd., S. 80-85. 1018 | ›Azew‹ wurde in diesem Zusammenhang als Synonym für Spitzel gebraucht. Die stellvertretende Verwendung des Namens Azew ging auf den Skandal um Evno Azew (auch: Azef) zurück, ein russischer Agent Provocateur in Paris. Er stand gleichzeitig auf der Lohnliste der zaristischen russischen Geheimpolizei Okhrana, war aber auch für eine größere Zahl anarchistisch motivierter Attentate verantwortlich. Azew wurde 1909 in einem Prozess enttarnt. Vgl. Butterworth, The World That Never Was, S. 1-4, und ausführlicher zur Geschichte der Okhrana S. 374-391. 1019  |  Baud, Henri, »Inévitables divisions«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 80. Dt.Ü.: »Beleidigungen, noch mehr Beleidigungen und wieder Beleidigungen. Der Leser steht nur vor der Qual der Wahl. Urteilt selbst: Halunken, Lügner, Verleumder, Unanständige, Fälscher, Verräter, Jesuiten, Zerstörer und Vergifter der Arbeiterbewegung, bösgläubige Leu-

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Die Wirkungsmacht der bürgerlichen, sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Fremdwahrnehmung für die Gemeinschaft entfaltete sich zum Schluss am deutlichsten in seiner katalytischen und die Identitätskonstitution bedingenden und stimulierenden Funktion: »Ne nous inquiétons ni des lamentations des timorés, ni des insultes des chefs menacés dans leurs intérêts, ni des menaces de la bourgeoisie. En luttant inlassablement, sans défaillance, nous aiderons le bon sens de la masse à prendre définitivement le dessus, et le règne des mauvais bergers aura vécu.«1020

Dieses Stimulieren wirkte sich auch auf die Selbstbezeichnung aus. Der negativen Fremdwahrnehmung ungeachtet verwendete der L’Almanach du Travailleur wiederholt Anarchie-Begriffe zur Selbstbezeichnung, die mit anderen konstitutiven Komponenten verknüpft wurden. So im Beitrag »La grève générale«1021, in dem neben der Selbstbezeichnung als Anarcho-SyndikalistInnen die Selbstwahrnehmung als Avantgarde und die Methode des Generalstreiks als zentrale Hypergüter portiert wurden: »Seuls les travailleurs de l’usine ou des champs ont cette puissance-là [gemeint ist die Kraft, die Verhältnisse nachhaltig zum Guten für die Unterdrückten »productuers« zu verändern, d.V.]. Et c’est à nous, anarchistes-syndicalistes, à leur donner conscience de cette puissance formidable. Quand on est réellement révolutionnaire on ne peut être qu’un partisan convaincu de la grève générale, précisément en raison du caractère très net et unique qu’elle a, d’une rupture complète entre les capitalistes et les producteurs.«1022

Der längere Artikel »L’Amour et la Haine«1023 lieferte schließlich einen Einblick, wie bewusst Emotionen zur Festigung der kollektiven Identität eingesetzt wurden. te, Azew, schwarze Banden etc. etc. Mit solchen Ausdrücken wird in den Zeitungen von uns gesprochen, die von den Vorsitzenden der Arbeiterbewegung verfasst werden.« Neben der konstitutiv wirkenden Abgrenzung werden via Thematisierung der Fremdwahrnehmung auch Hypergüter des ›Wir‹ vermittelt. Dazu zählte eine föderative, antiautoritäre Weltanschauung, welche die Massenaktion als wirkungsmächtigste Methode auf dem Weg in eine neue, radikal andere Zukunft ansah. Sie sollte nicht mehr geprägt sein von den ebenfalls vermittelten negativen Hypergütern einer zentralistisch-autoritären pyramidalen Organisation. Vgl. ebd., S. 82. 1020  |  Ebd., S. 84. Dt.Ü.: »Weder das Gejammer der Zaghaften, noch die Beschimpfungen der Chefs, die ihre Interessen bedroht sehen, noch die Drohungen der Bourgeoisie sollten uns Sorgen bereiten. Wenn wir ohne Unterlass, ohne Schwäche kämpfen, dann helfen wir dem gesunden Menschenverstand der Massen endgültig die Oberhand zu gewinnen, und die Herrschaft der schlechten Hirten wird ein Ende nehmen.« 1021  |  Wintsch, Jean, »La grève générale«, L’Almanach du Travailleur, 1912, Jg. 4, S. 21-25. 1022  |  Ebd., S. 22. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Nur die Fabrik- und Feldarbeiter besitzen diese Kraft. Und es ist an uns, Anarcho-Syndikalisten, ihnen diese tolle Kraft bewusst zu machen. Jeder wahre Revolutionär kann nur ein überzeugter Verfechter des Generalstreiks sein, gerade wegen ihres klaren und einzigartigen Wesens, denn sie stellt den vollständigen Bruch zwischen Kapitalisten und Produzierenden dar.« 1023  |  »L’Amour et la haine«, L’Almanach du Travailleur, 1914, Jg. 6, S. 39-40.

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Ob den omnipräsenten Framing-Prozessen war die Prominenz der Sentiments Abscheu und Hass deutlich. Nicht zuletzt in Schimpftiraden im Rahmen von Framing-Prozessen wurden diese in propagandistischer Absicht immer wieder geweckt und geschürt. Seltener waren Oden an die Liebe. Dennoch wurde die Liebe zu den Mitbewegten und zur Gemeinschaft als zentrale bedingende Kraft der Bewegung verstanden: »En exhaltant [sic] la haine de l’exploité contre l’exploiteur [...] nous avons omis de lui fournir son principal aliment: l’Amour de son semblable [...] [L]’amour des uns fera naître en nous, magnifique, la haine des autres et alors seulement ces deux sentiment parallèles [...] briseront comme verre les obstacles qui renaissent et se multiplent tout au long des étapes.«1024

Verschiedene traditionalistische Praktiken erwiesen sich ebenfalls als produktiv im Almanach. Es finden sich Spuren der der religiösen Rekuperation ebenso wie klassische Formen der Integration revolutionärer Geschichte ins eigene Narrativ. Die Massenaktion des Generalstreiks etwa wurde nicht nur als Idee der Antike definiert, sondern auch damit legitimiert, dass sie in der Bibel und bei den Schriften der Propheten aufgetaucht sei.1025 Dem anarcho-syndikalistischen Hypergut wurde so auf kontradiktorische Weise Geschichtlichkeit eingeschrieben, denn Kirchliches trat im L’Almanach du Travailleur ansonsten allenfalls als negatives Hypergut auf.1026 Als klassisch traditionalistisch kann lediglich das Führen des »Calendrier civil« gelesen werden, also des Kalenders der Französischen Revolution. Dadurch schrieb der L’Almanach du Travailleur sich in einen revolutionären Kontext ein. Über das implizite Betonen der Wertekohärenz hinaus kann diese Praxis auch als indexikalisches Zeichen für den angestrebten totalen Bruch mit dem Status quo gedeutet werden respektive als Symbol für Bereitschaft und Wille zu einer Neugestaltung der Gesellschaft ohne Rückbindungen an die aktuelle, materialisiert im julianischen Kalender.1027 Eine untergeordnete Rolle spielte die Repression als Konstruktions- und Konstitutionsfaktor. Die niedrige Kadenz, mit der sie identitätskonstitutiv auftrat, drängt eine Einordnung als Faktor von nur marginaler Relevanz auf.

4.4.10.2 Zusammenfassung Der L’Almanach du Travailleur bediente sich in erster Linie der Vermittlung von Hypergütern positiver und negativer Art zur Formation und Festigung der kollektiven Identität. Ein Großteil der zumeist längeren, oft auch essay-artigen Beiträge birgte Ziele, Weltdeutungen, Methoden, Werte und Ideale, welche die Bewegung 1024  |  Ebd., S. 39. Dt.Ü.: »Mit der Verherrlichung des Hasses, den der Ausgebeutete seinem Ausbeuter gegenüber empfindet, [...] haben wir versäumt ihm seine Hauptnahrung zu geben: die Liebe für Seinesgleichen [...] [D]ie wunderbare Liebe für die Einen, weckt in uns den Hass gegen die anderen und nur diese zwei parallelen Gefühle [...] werden alle Hindernisse wir Glas zerschmettern, die im Laufe der Fortschritte immer zahlreicher auftreten.« 1025  |  Vgl. L.A., »La Grève générale«, L’Almanach du Travailleur, 1913, Jg. 5, S. 21. 1026  |  Der Ausdruck »les menteurs de L’Église« (Bertoni, L., »L’Amour libre«, L’Almanach du Travailleur, 1913, Jg. 5, S. 50) illustriert die generelle antireligiöse Grundhaltung gut. Vgl. auch Bonhomme, Jacques, »Le ›bon‹ dieu«, L’Almanach du Travailleur, 1914, Jg. 6, S. 53-54. 1027 | Vgl. L’Almanach du Travailleur, Jg. 2 (1910), und Jg. 4 (1912) - Jg. 6 (1914), jeweils S. 2.

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verfolgte und hochhielt oder eben explizit nicht. Auch Emotionen nahmen einen relevanten Platz ein in der Konstruktion kollektiver Identität. Widersprüchlich erscheint eine dem Traditionalismus verpflichtete Identitätskonstitution, welche die proklamierte Historizität mit bewegungsfremden, nämlich kirchlichen Indikatoren zu untermauern suchte. Damit waren auch kontradiktorische Mechanismen an der Ausarbeitung der kollektiven Identität beteiligt, wurde die Religion in der Regel an anderer Stelle als negatives Hypergut vermittelt. Häufig waren die längeren Artikel monothematisch und bedurften keines initialen Inputs. Gelegentlich bot sich aber die Fremdwahrnehmung der Gemeinschaft in bewegungsfremden Zeitungen dazu an. Sowohl bürgerliche als auch sozialdemokratische oder gewerkschaftliche Fremdwahrnehmungen der Gemeinschaft wurden aufgegriffen und zum Unterhalt und zur Schärfung der Bewegung verwendet. Die konstitutive Abgrenzung der Gemeinschaft gegenüber den ›anderen‹ in Form von Framing-Prozessen stellte ein weiteres Element dar, das die kollektive Identität im L’Almanach du Travailleur formte und entwickelte. Die Sozialdemokratie und hierarchisch organisierte Gewerkschaften mit gewählten, permanenten Vertretern dienten zur Kittung des kollektiven Selbst ebenso wie die Bourgeoisie. Andere produktive Komponenten der Konstruktion und Konstitution wie die Repression, Tagesaktualitäten oder – speziell für die literarische Form von Almanachen prädestiniert –Auf bau und Pflege einer spezifisch libertären Erinnerungskultur mittels Traditionalismen finden sich im L’Almanach du Travailleur kaum. Neben essayistischen Beiträgen finden sich konstitutive Komponenten in späteren Jahrgängen vermehrt auch stattdessen in Gedichten und Illustrationen. Punktuelle Verdichtungen sind im diachronen Blick keine auszumachen. Die Selbstbezeichnung im L’Almanach du Travailleur expressis verbis als anarcho-syndikalistische Gemeinschaft gilt es grosso modo zu übernehmen. Neben der Selbstbezeichnung sprechen auch die vermittelten Hypergüter und die vollzogenen Framing-Prozesse dafür. Sowohl die Fixierung auf die Arbeiterklasse, die Ansicht, den Nukleus der Neuen Gesellschaft im Syndikat zu orten, als auch die Apotheose des Generalstreiks als Allheilmittel sind Indikatoren, welche die Einordnung der kollektiven Identität der Gemeinschaft des L’Almanachdu Travailleur als anarchosyndikalistisch erlauben. Prägend für das Sein der Gemeinschaft waren Arbeit und Klassensolidarität und – diese beiden Aspekte amalgamierend – die unaufhörlich propagierte Methode des Generalstreiks, die sie zu einer dezidiert antikapitalistischen, klassenorientierten und antimilitaristisch geprägten Weltanschauung führten. Immer wieder sind auch klassisch anarchistische Positionen zu finden im L’Almanach du Travailleur. Da diese in der Regel auf den umtriebigen Anarchisten und Publizisten Luigi Bertoni zurückzuführen waren, kann keinesfalls von einem Equilibrium zwischen anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Positionen die Rede sein. Vielmehr überwogen anarcho-syndikalistische Positionen deutlich. Als Grabenkämpfe sind diese beiden, in Teilaspekten durchaus auch gegenläufigen Positionen aus dem libertären Spektrum aber nicht zu lesen, da eine konfrontative Ausrichtung gänzlich fehlte. Ob das freundliche Nebeneinander mit strömungsübergreifender Solidarität, gegenseitigem Respekt oder subidentitärer Indifferenz erklärt werden muss, bleibt letztlich Spekulation. Tatsache ist, dass sich die hauptsächlich vorherrschende anarcho-syndikalistische Weltdeutung und die vereinzelten anarchistischen Beiträge nicht miteinander beschäftigten.

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Weder ein grundsätzlicher, noch ein subidentitärer Paradigmenwechsel ist in den Zeilen des L’Almanach du Travailleur festzustellen. Die anarcho-syndikalistischen Anschauungen blieben durch alle ausgewerteten Ausgaben hindurch dominant, allerdings jeweils ohne die weniger häufiger aber regelmäßig erscheinenden anarchistischen Hypergüter und Weltdeutungen zu verdrängen.

4.4.10.3 Bibliografische Details (1) L’Almanach du Travailleur pour l’Année 1909-1914 (2) Édition de la »Voix du Peuple«; (3) Autoren unter anderem Fritz Brupbacher, Luigi Bertoni, Max Tobler, Auguste Spichiger, Henri Baud, Jean Wintsch; (4) Pully-Lausanne; (5) 1908-1913; jährlich; 80 (1912 und 1914) respektive 88 Seiten (1910 und 1913); (9) CIRA Lausanne, RF 24 (Jge. 1 und 3 fehlen); (10) Gedruckt wurde der L’Almanach du Travailleur von der ›Imprimerie des Unions ouvrières à base communiste‹. In jeder Ausgabe findet sich zu Beginn ein gregorianischer Kalender sowie ein Revolutionskalender (»calendrier civil«), der die Monatsbezeichnungen benannte, wie sie seit der Französischen Revolution bis zur napoleonischen Reaktion gegolten hatten. Ebenfalls in jeder Ausgabe sind Tipps zur Selbsthilfe zu finden. Die Themen reichten dabei von Ratschlägen zur Verhinderung von Familienzuwachs über Mietfragen bis hin zu Hilfestellungen bei der Aussaat im Agrarbereich. Daneben sind vor allem in den früheren Ausgaben des L’Almanach du Travailleur längere Essays zu finden. Mit zunehmendem Jahrgang fanden auch immer mehr Gedichte, Sentenzen und Karikaturen Eingang. Da der Bestand zur Zeit unauffindbar ist, konnten keine Reproduktionen der Karikaturen und des Titelbildes vorgenommen werden (Stand 14.5.2012)

4.4.11 L’union Syndicale Abbildung 21: L’union Syndicale, 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2. (BCdF La Chaux-de-Fonds, CFV Journaux 49)

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4.4.11.1 Relevante Er wähnungen Prominent war die Vermittlung von Hypergütern für die Konstituierung und Unterhaltung der kollektiven Identität der Gemeinschaft aus dem Umfeld der L’union Syndicale produktiv. Als bevorzugte Methode der Gemeinschaft wurde die autonome, kollektive Direkte Aktion propagiert: »Il nous reste [...] l’action syndicale. Instruite de l’expérience, la classe ouvrière doit par l’organisation, c’est à dire par les efforts combinés de chacun, former un bloc résistant.«1028 Auch die Selbstermächtigung wurde als erfolgversprechendes Konzept für die Emanzipation der ArbeiterInnen vermittelt. Letzteres wurde in präfigurativer Manier auch praktisch in der Zeitung selbst angewendet. So rief die L’union Syndicale LeserInnen zur Mitarbeit auf, und bestärkte die kollektive Identität der Gemeinschaft im Aufruf gleichzeitig mit einem Framing-Prozess gegenüber autoritären Patrons, Gewerkschaftsvorsitzenden und Sozialdemokraten, die zu einem Feind mit drei Gesichtern amalgamiert wurden.1029 Ein weiteres Hypergut stellte das Ideal einer unbürokratischen, frei föderierten Gemeinschaft von Gemeinschaften dar, die weitestgehende Autonomie in ihren Entscheidungen genoss. Begeistert paraphrasierte die L’union Syndicale einen Vortrag Luigi Bertonis in La Chaux-de-Fonds: »L’orateur termine en montrant que le fédéralisme qui laisse aux séctions le plus d’autonomie, et aux membres le plus de liberté, qui évite les gaspillages bureaucratiques, développe l’esprit d’initiative, éveille l’enthousiasme en introduisant dans le mouvement d’émancipation l’idéal, qui a toujours été le plus puissant inspirateur de progrès.«1030

Ein passiver Abstentionismus, der Wahlen als wirkungslos bezeichnete aber nicht aktiv zum Wahlboykott aufrief, lässt sich aufgrund der hohen Frequenz an Vermittlungen ebenso als wichtiges Hypergut der L’union Syndicale1031 verzeichnen

1028 | Union Syndicale, »L’union syndicale«, L’union Syndicale, 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Uns bleibt [...] die gewerkschaftliche Aktion. Stark durch ihre Erfahrung, muss die Arbeiterklasse durch die Organisation, d.h. die gemeinsame Anstrengung eines jeden, einen widerständigen Block bilden.« 1029  |  »Nous ouvrions les colonnes de notre modeste feuille à tous les exploités: exploités par les patrons, par les politiciens ou par les chefs de syndicats.« (Comité de rédaction de l’union Syndicale, »Avis au public«, L’union Syndicale, Jg. 1, Nr. 2, S. 1) Dt.Ü.: »Die Spalten unseres bescheidenen Blattes stehen allen Ausgebeuteten offen: ausgebeutet von Fabrikbesitzern, von Politikern, von Syndikatsvorsitzenden.« 1030 | »Notre conférence du 8 mars«, L’union Syndicale, 30.3.1912, Jg. 1, Nr. 3, S. 2. Dt.Ü.: »Der Redner endet damit, dass er zeigt, wie sehr der Föderalismus, der den Sektionen die größte Autonomie und den Mitgliedern die größte Freiheit lässt, der bürokratische Verschwendung vermeidet und den Initiativgeist fördert, die Begeisterung dadurch erweckt, dass er der Emanzipationsbewegung das Ideal gibt, das seit jeher die stärkste Inspiration zum Fortschritt gewesen ist.« 1031 | Vgl. die kopfschüttelnde Erkenntnis, dass gewisse Wähler noch an die Wirkungsmacht des »bulletin de vote« glauben in »Jean-Louis, »Tout augmente«, L’union Syndicale, 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2, S. 1.

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wie die geschlechtliche Egalität, die immer wieder thematisiert und propagiert wurde.1032 Die Konstitution kollektiver Identität wurde in der L’union Syndicale fast stärker noch von der Vermittlung negativer Hypergüter geprägt. Nimmt man den ersten, standortbestimmenden Artikel der Zeitung zur Grundlage einer ersten Skizze der kollektiven Identität, so wurde diese sogar vornehmlich konkurriert von Organisationsarten und Methoden, die durch Nicht-Verwendung konstitutiv für die Gemeinschaft waren: »[N]ous sommes devenus adversaires de la centralisation autoritaire et du cortège de tracasseries administratives, de complications bureaucratiques, de parasites qu’elle traine à sa suite [...].«1033 Das ›Wir‹ wurde weiter durch die Unterlassung von definierenden und damit einschränkenden Praktiken und Zielen definiert: »Nous n’établirons pas de principes rigides, de dogmes, qui détermineraient notre attitude.«1034 Die als negatives Hypergut verhandelte Zentralisierung wirkte in vielen Beiträgen identitätskonstituierend. Sie nehme den ArbeiterInnen die Unabhängigkeit, konzentriere die Macht in der Bürokratie, substituiere Solidarität mit Disziplin und raube letztlich der Gewerkschaftsbasis so mehr und mehr die Initiative: »Ce ›centralisme‹ comporte la suprématie de la bureaucratie, ce n’est pas une centralisation de la puissance d’action des travailleurs, mais la centralisation de la puissance et de l’Autorité dans les mains des meneurs.«1035 Daran anschließend stellten Politik und Parlamentarismus weitere wichtige negative Hypergüter der Gemeinschaft dar, die quantitativ und qualitativ maßgeblich zur Gestaltung ihrer kollektiven Identität beitrugen. Über Politiker – unter diesem Begriff werden abermals Royalisten, Sozialdemokraten und Christen zu einem Feindbild zusammengefasst – hieß es zynisch: »[I]ls veulent tous améliorer les uns nos cœurs et nos mœurs, les autres notre salaire et nos conditions d’existence [...]. Car nous avons un faible pour ceux qui nous flattent [...] nous croyons fermement à leur sincérité et nous leur donnons notre confiance.«1036 Die Kittung der Gemeinschaft geschah 1032  |  Vgl. Une régleuse, »Méditations d’une régleuse«, L’union Syndicale, 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. Das der Gemeinschaft eigene Konzept der geschlechtlichen Egalität äußert sich dabei nicht nur explizit. In manchem Beitrag geschieht es auch auf subtilere Weise, etwa, wenn bewusst beide Geschlechtsformen, also Arbeiterinnen und Arbeiter, angesprochen werden. Vgl. exemplarisch »Un règlement centraliste«, L’union Syndicale, 30.3.1912, Jg. 1, Nr. 3 (2), S. 1. 1033 | »Au public«, L’union Syndicale, 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Wir sind zu Gegnern des autoritären Zentralismus und der Prozession von amtlichen Scherereien, bürokratischen Komplikationen und Parasiten geworden, die er in seinem Schlepptau mit zieht [...].« 1034  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wir werden keine starren Grundsätze oder Dogmen aufstellen, die unsere Haltung bestimmen sollten.« 1035 | Dt.Ü.: »Dieser ›Zentralismus‹ beinhaltet die Vorherrschaft der Bürokratie,, denn es handelt sich nicht um die Zentralisierung der Handlungsmacht der Arbeiter, sondern um eine Zentralisierung von Macht und Autorität in den Händen der Anführer.« Vgl. den dahingehenden zweitabgedruckten Artikel Jensen, Albert,, »Le dogme unitaire«, L’union Syndicale, 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 1036 | »La politique«, L’union Syndicale, 1.5.1912, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. Dt.Ü.: »[A]lle wollen sie etwas verbessern: die einen unsere Herzen und unsere Sitten, die andern unsere Löhne und Lebensbedingungen [...]. Denn wir haben eine Schwäche für Schmeichler [...] wir glauben fest an ihre Aufrichtigkeit und wir schenken ihnen unser Vertrauen.«

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dabei über die Schaffung von kleinen Fronten, die bereits Züge von Framing-Prozessen trugen: »Ils en profitent pour améliorer leurs situations, pour faire leur bonheur; ils atteignent enfin les places convoitées et comme il ne leur manque plus rien ils ne pensent plus à nous [...].«1037 Framing-Prozesse wurden auch bei anderer Gelegenheit verwendet, um kollektive Identität zu unterhalten und zu affirmieren. Oft und an prominenter Stelle wurden dazu Abgrenzungen gegenüber autoritär organisierten gewerkschaftlichen Organisationen und dem parlamentarischen Flügel der Arbeiterbewegung gezogen. Die zentralistische gewerkschaftliche Struktur wurde als Joch verstanden und vermittelt, deren Akteure als ›selbsterklärte Retter‹ abgetan: »La classe ouvrière sur qui pèse le joug de l’organisation actuelle de la production ne doit pas tolérer les jougs nouveaux et plus pesants encore que quelques sauveurs attitrés veulent lui imposer.«1038 Auch in weiteren Beiträgen wurde dieses Sentiment propagiert: »[L]a méthode parlementaire, c’est la méthode que les politiciens nous glorifient et nous recommandent chaque jour. Ces politiciens ne sont-ils pas comme ces charlatans vendant leurs produits déstinés à les enrichir plutôt qu’à soulager les misères?«1039 Die Sozialdemokratie übernahm in der L’union Syndicale also eine stark prägende Rolle und diente nicht nur direkt im Rahmen von Framing-Prozessen der Stärkung der kollektiven Identität. Sie leitete so oft auch die Vermittlung von Hypergütern positiver und negativer Art ein.1040 Wie tiefgreifend die Definitionsmacht der Sozialdemokratie für das ›Wir‹ war, zeigt der Fakt, dass die Gemeinschaft die eigene Weltdeutung mehrfach via Beiträge über Fremdwahrnehmungen in sozialdemokratischen Zeitungen affirmierte, ohne, dass sie Teil der Berichterstattung gewesen wären.1041 Die Fremdwahrnehmung der Gemeinschaft in der autoritär1037  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Sie profitieren davon, um ihre Lage zu verbessern, um ihr Glück zu schmieden; endlich schaffen sie es auf die begehrten Positionen und da es ihnen an nichts mehr fehlt, denken sie nicht mehr an uns [...].« 1038 | »Au public«, L’union Syndicale, 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Die Arbeiterklasse, auf der jetzt schon das Joch der Organisation der Produktion lastet, darf keine neuen, noch größeren Lasten auf sich nehmen, die gewisse beauftragte Retter ihr aufzwingen wollen.« 1039 | Union Syndicale, L’union Syndicale, 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Die parlamentarische Methode ist die Methode, welche die Politiker vor uns rühmen und uns täglich empfehlen. Gleichen diese Politiker nicht vielmehr diesen Quacksalbern, die ihre Mittelchen eher verkaufen, um reich zu werden als um das Elend zu mildern?« Mit der Berichterstattung über eine Wahlveranstaltung des Sozialdemokraten Paul Graber wurde diese Haltung untermauert. Vgl. Triboulet, »Veille d’élection«, L’union Syndicale, 1.5.1912, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 1040  |  Bezeichnend ist die Rubrik »Petits rien« der Ausgabe vom 1.6.1912. Von den insgesamt sechs Kurznachrichten, die allesamt grundverschiedene Themen behandelten, enthielt lediglich eine einzige keine Seitenhiebe in Richtung Sozialdemokratie. Vgl. »Petits riens«, L’union Syndicale, 1.6.1912, Jg. 1, Nr. 5, S. 2. 1041 | Vgl. »Confusionnisme«, L’union Syndicale, 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2, S. 2 oder »Un Règlement centraliste«, L’union Syndicale, 30.3.1912, Jg. 1, Nr. 3 (2), S. 1. Wie der Artikel »Impôts communaux« zeigt, reichte für die Gemeinschaft selbst das Ausbleiben eines Echos in der sozialdemokratischen Presse, um sich seiner Ziele mit identitätskonstituierender Wirkung via Fremdwahrnehmung gewahr zu werden und sie zu perpetuieren. Vgl. »Impôts communaux«, L’union Syndicale 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2, S. 2.

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gewerkschaftlichen Presse erfüllte ebenfalls wiederholt die Rolle der Impulsgeberin für konstitutive Mechanismen. Nachdem im Artikel »Réponse à la ›Solidarité horlogère‹«1042 zunächst die aus der Sicht der Gemeinschaft verzerrte Fremdwahrnehmung paraphrasiert wurde, rückte die Gemeinschaft das kollektive Selbst durch Vermittlung von Hypergütern ins ihrer Meinung nach korrekte Licht. Diese Beschäftigung mit Zielen und Nicht-Zielen der eigenen Gemeinschaft lässt eine antiautoritäre, antibürokratische Gemeinschaft erkennen, die sämtliche Privilegien erodieren und eine für alle gerechte Gesellschaft entstehen lassen wollte: »[S]i nous avons englobé les fédérations industrielles coûteuses, autoritaires et bureaucratiques dans nos ennemis, c’est que nous sommes persuadés qu’elles marchent à l’encontre du but pour lequel elles ont été créées, qu’elles sont un nouveau moyen de domination et d’exploitation. Les syndicats centralistes sont un abus du régime actuel [...]. Et si nous avons su acquerir quelque volonté et quelque discernement nous établirons une société qui répondra aux désirs de tous et non aux intérêts d’une coterie quelconque.«1043

Die Demarkationen wurden mit Emotionalisierungen durch das ›Wir‹ gegenüber Gewerkschaftern etwa durch anhaltende Beschimpfungen laufend aktualisiert und reinforciert. Die pejorativen Bezeichnungen reichten dabei von ›arroganten Parasiten‹1044 bis hin zu einem ›Klüngel vulgärer Politiker‹1045. Neben diesen finden sich weitere Identitätskonstitutionsmechanismen, die zur Ausgestaltung der kollektiven Identität beitragen. Dazu gehörte zweifelsohne auch die Schaffung von Traditionalismen, die in der L’union Syndicale von einem explizit lokalen Charakter waren. Das Motto, das die L’union Syndicale in einem floralen Rahmen auf jeder Ausgabe führte, wirkte dahingehend doppelt konstitutiv. Einerseits kann es als Hypergut gelesen werden, andererseits stellte es darüber hinaus einen traditionalistischen Akt dar. Der Ausspruch »Ouvrier, prends la machine! Prends la terre, paysan!«1046 ist tatsächlich ein Teil des Refrains des offiziellen Chansons der für die nationale wie internationale Anarchismusgeschichte kaum zu überschätzenden ›Fédération Jurassienne‹.1047 Die Einordnung des kollektiven Selbst in die lokale libertäre Geschichte dürfte für die kollektive Identität von mindestens so großem Wert gewesen sein, wie die Vermittlung der Hypergüter der 1042  |  »Réponse à la›Solidarité horlogère‹«, L’union Syndicale, 1.5.1912, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 1043  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wenn wir die teuren, autoritären und bürokratischen industriellen Föderationen in die Reihen unserer Feinde aufnehmen, liegt das daran, dass wir davon überzeugt sind, dass sie dem Ziel, für welches sie geschaffen wurden, entgegenwirken, dass sie ein neues Herrschafts- und Ausbeutungsmittel sind. Die zentralistischen Syndikate sind ein Missbrauch des herrschenden Regimes [...]. Und wenn wir über ein wenig Willen und Urteilsvermögen verfügen, werden wir eine Gesellschaft erschaffen, die den Wünschen aller entspricht und nicht den Interessen einer bestimmten Gruppe.« 1044  |  Vgl. »Notre conférence du 8 mars«, L’union Syndicale, 30.3.1912, Jg. 1, Nr. 3 (2), S. 2. 1045  |  Vgl. Un graveur, »Quéstion déplacée«, 30.3.1912, Jg. 1, Nr. 3 (2), S. 2. 1046  |  Dt.Ü.: »Arbeiter, nimm die Maschine! Nimm das Land, Bauer!« Vgl. die entsprechende Bemerkung im Kopf der L’union Syndicale. 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 1047  |  Das Chanson wurde 1874 geschrieben. Der Text stammt von Charles Keller, die Musik schrieb James Guillaume unter dem Pseudonym Jacques Glady.

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Selbstermächtigung, die im selben Moment ebenfalls in diesen Zeilen geschah. Weitere, globalere Gelegenheiten zu traditionalistischen Konturierungen der kollektiven Identität wie sie auch von anderen Zeitungen klassischerweise genutzt wurden, nutzte die L’union Syndicale hingegen kaum. Die Pariser Kommune und ihr Gedenktag am 18. März fanden überhaupt keine Erwähnung, zum 1. Mai wurde zwar eine Kurznotiz verfasst, die Framing-Prozesse gegenüber der Sozialdemokratie enthielt. Eine explizite traditionalistische Anbindung hingegen fand nicht statt.1048 Anarchistische Ereignisse wurden in der Zeitung aus La Chaux-de-Fonds nicht identitätskonstituierend verhandelt. Der 1912 neu aufgerollte Zürcher Bombenprozess gegen Ernst Frick, in den auch Margarethe Hardegger-Faas verwickelt war, fand in der L’union Syndicale in einer Randnotiz inhaltlich die Tatsachen verdrehend1049 zwar Erwähnung und Hardegger Faas wurde »notre cordiale sympathie«1050 ausgesprochen. Allerdings lässt die fehlende inhaltliche Erklärung für die Sympathie eine Einordnung als identitätskonstituierendes Elemente nicht zu. Zur Selbstbezeichnung verwendeten die AutorInnen keine Anarchie-Begriffe, die auch sonst kaum präsent sind im Blatt: Es finden sich in allen erschienenen Nummern lediglich zwei Nennungen.1051 Im ersten Beispiel wurde humoristisch überzogen ein ›kleiner Anarchist‹ eingeführt, der, statt die Miete für ein Schließfach in der Nationalbank zu bezahlen, den ganzen Gebäudekomplex mit selbstgebautem Sprengstoff in die Luft jagt. Ist die Figur auch nicht negativ gezeichnet, leistete die L’union Syndicale mit der Verquickung von Anarchie-Begriffen, Sprengstoff und Attentaten tatsächlich aber der Abwertung der Begriffe allem beabsichtigten Augenzwinkern zum Trotz Vorschub.1052 Die zweite Nennung fiel in einem Bericht zur versuchten Diffamierung von Anarcho-SyndikalistInnen durch SozialdemokratInnen, die alles Nicht-Sozialdemokratische als anarchistisch brandmarken würden. Die ausbleibende Distanzierung von dieser Diffamierung durch die Gemeinschaft lässt allenfalls eine zwischenzeilige Sympathie erahnen.1053

4.4.11.2 Zusammenfassung Kollektive Identität wurde in der Zeitung L’union Syndicale auf mehrere Arten ausgearbeitet, unterhalten und affirmiert. Framing-Prozesse und – vornehmlich – das Vermitteln von Hypergütern stellten die vitalsten Konstitutionselemente dar, wobei es bei Letzterem hauptsächlich die negativen Hypergüter waren, die konturierend für die Gemeinschaft wirkten. Auch Emotionalisierungen spielten eine wichtige 1048 | Vgl. »Premier-mai«, L’union Syndicale, 1.5.1912, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 1049 | Der Artikel berichtet, dass Hardegger-Faas einem russischen Kameraden ein falsches Alibi gegeben habe, um ihn zu retten. Tatsächlich sollte das falsche Alibi aber den Zürcher Anarchisten Ernst Frick retten. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. 1050  |  »A notre camarade Marguerite Faas«, L’union Syndicale, 1.5.1912, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 1051  |  Vgl. die beiden Artikel Jean qui pleure, »Les caves de la Banque Nationale«, L’union Syndicale, 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 2, und »Réponse à la ›Solidarité horlogère‹«, L’union Syndicale, 1.5.1912, Jg. 1, Nr. 4, S. 1. 1052 | Vgl. Jean qui pleure, »Les caves de La Banque Nationale«, L’union Syndicale, 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 1053  |  »Réponse à la ›Solidarité horlogère‹«, L’union Syndicale, 1.5.1912, Jg. 1, Nr. 4, S. 1.

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Rolle in der Etablierung der kollektiven Identität der Gemeinschaft. Ein prominent gesetzter Traditionalismus leistete ebenfalls bedeutende konstitutive Arbeit, wenngleich punkto Umfang in kleinem Ausmaß. In erster Linie katalytisch wirkte die Fremdwahrnehmung, deren Thematisierung oftmals eine Plethora an identitätskonstituierenden Komponenten nach sich zog. In Selbstbezeichnungen und anarchistischen Ereignissen hingegen konnte keine durchschlagende Konstitutionskraft erkannt werden in der L’union Syndicale. Obschon das syndikalistische Element im Zeitungstitel anderes vermuten ließe, ist die kollektive Identität der Gemeinschaft als anarchistisch zu bezeichnen. In positiver Hinsicht war sie flankierend geprägt vom Anstreben einer nicht autoritären, föderativen, freien und klassenlosen1054 Gesellschaft. Fast deutlicher prägte aber das Nicht-Sein das Sein der Gemeinschaft und ihre kollektive Identität. So ist der Glaube an die eigenen Hypergüter als einzig vorstellbare Motivation zum Aktivismus vornehmlich aus dem emotionalisierten Verwerfen sozialdemokratischer und autoritär gewerkschaftlicher Positionen herauszulesen, deren Motivation auch gut bezahlte Stellen oder sozialer Aufstieg hätten sein können. Charakteristisch für die kollektive Identität der Gemeinschaft ist denn auch der Versuch, diesen Potenzialis zu eliminieren durch das Angebot eines durchwegs autonomen und selbstermächtigten kollektiven Selbsts, das sich zudem in jeder Ausgabe prominent in eine Reihe mit den Urvätern anarchistischer Selbstorganisation, der Fédération Jurassienne, stellte. Für die Kategorisierung der kollektiven Identität als anarchistisch spricht auch die ausbleibende Distanzierung von Anarchie-Begriffen, an deren Reizwortcharakter allerdings unbewusst mitgearbeitet wurde. Die kurze Erscheinungsdauer des monatlich erscheinenden Blattes lässt in diachroner Betrachtung keine grundlegenden inhaltlichen Mutationen der kollektiven Identität erkennen. Auch das Ausbleiben von Grabenkämpfen könnte damit erklärt werden, ebenso wie der Umstand, der durchgehend hohen Dichte an identitäskonstituierenden Inhalten des Blattes, das sich Zeit seines Erscheinens im Auf bau befand.

4.4.11.3 Bibliografische Details (1) L’union Syndicale: Organe du Droit et des Libértés des Travailleurs; (2) L’union Syndicale; (3) Rue du Commerce 121, La Chaux-de-Fonds; (4) La Chaux-de-Fonds; (5) 3.2.1912-[6]10557.1912; monatlich; 2 Seiten; (9) Bibliothèque de la Ville de La Chauxde-Fonds, CFV Journaux 49, La Chaux-de-Fonds; (10) Die L’union Syndicale war offizielles Organ eines gleichnamigen Syndikats, das auch Kongresse organisierte.1056 1054 | Obschon sich die Gemeinschaft selbst als ›travailleurs‹ bezeichnete, ist eine Offenheit gegenüber allen Klassen expressis verbis zu finden: »Tous les travailleurs, à quelle profession ou à quelle classe qu’ils appartiennent, trouverons chez nous l’Aide [...].« (Comité de rédaction de l’union syndicale, »Avis au public«, L’union Syndicale. 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2, S. 1) Dt.Ü.: »Alle Arbeiter, ganz gleich welchem Beruf oder welcher Klasse sie angehören, werden bei uns Hilfe bekommen [...].« 1055  |  Die letzte Nummer ist nur mit dem Monat datiert. Gemäß der entsprechenden Bemerkung in der Kopfzeile der L’union Syndicale. 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 1 erschien sie immer am ersten Samstag des Monats, was im Juli 1912 der 6. war. 1056  |  Vgl. die entsprechende Anzeige für ein Referat Luigi Bertonis »Conférence«, L’union Syndicale, 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2, S. 1.

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Es gibt zwei Ausgaben, die mit Nr. 2 bezeichnet sind und am 2.3.1912 respektive am 30.3.1912 erschienen sind. Die Auflage der ersten Nummer der L’union Syndicale betrug 2000 Stück.1057 Neben den zwölf regulären Nummern pro Jahrgang plante die Redaktion die Herausgabe diverser Sondernummern, abhängig vom lokalen Geschehen und den Finanzen.1058 Gedruckt wurde die L’union Syndicale in Lausanne in der ›Imprimerie des Unions ouvrières à base communiste‹, der Druckerei der FUOSR. Die Redaktion der Zeitung arbeitete unentgeltlich1059, die Finanzierung lief über Abonnements sowie über zusätzliche GönnerInnenbeiträge (»souscription volontaire en faveur du journal«1060). Rubriken in der L’Union Syndicale waren »Petits riens«, wo Kurznachrichten zusammengefasst wurden, und »Pensées«, wo sich Zitate und Aphorismen wiederfanden.

4.4.12 Le Boycotteur Abbildung 22: Le Boycotteur, 12.1910, Jg. 1, Nr. 7. (CIRA Lausanne, Pf 206)

1057  |  Vgl. »Avis au public«. L’union Syndicale, 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. 1058  |  Vgl. »Abonnements«, 30.3.1912, J.1, Nr. 3 (2), S. 1-2. Das angepeilte Soll von insgesamt 20 Ausgaben wurde nie erreicht. Die L’union Syndicale stellte ihren Betrieb nach sechs regulären Ausgaben ein. 1059 | Vgl. »Petits riens: La petite différence«, L’union Syndicale, 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. 1060  |  Vgl. »Souscription volontaire«, L’union Syndicale, 2.3.1912, Jg. 1, Nr. 2, S. 2.

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4.4.12.1 Relevante Er wähnungen Das zentrale und am häufigsten vermittelte Hypergut des Le Boycotteur war die Direkte Aktion des Boykotts. Er wurde als gerechtes Mittel angesehen, sich gegen Arbeitsbedingungen und unpopuläre Aktionen des Arbeitgebers zu wehren, wie der Artikel »Le boycottage est-il licite?«1061 zeigt. Im Rahmen des Boykottaufrufs zulasten der Zeitung La Tribune de Genève1062 positionierte der Le Boycotteur die Methode als angebracht und wirksam: »[L]e boycottage était licite. [...] On nous conteste de l’exercice d’un droit constitutionnel, nous nous défendons, rien de plus juste. [...] Pour l’ouvrier le boycottage est une arme puissante et redoutable dont il ne se sert que pour la défense d’un principe, pour revendiquer un droit qu’on lui conteste ou encore pour sauvegarder des libertés péniblement acquises et qu’on voudrait lui ravir.«1063

Der Boykottaufruf zulasten der La Tribune de Genève fungierte als Aufhänger für so gut wie alle Beiträge im Le Boycotteur. Dabei wurde einerseits der Boykott selbst als nützliche und schlagkräftige Methode der Direkten Aktion perpetuiert. Es wurden aber auch andere Hypergüter im vom Boykott aufgespannten Rahmen vermittelt. Dazu gehörte die Propagierung der Selbstermächtigung der Arbeiter zur Besse1061  |  »Le boycottage est-il licite?«, Le Boycotteur, 15.8.1910, Jg. 1, Nr. 3, S. 1. 1062  |  Der Boykottaufruf bezog sich nicht auf die politische Stoßrichtung der La Tribune de Genève, sondern ging auf einen Lohnkampf zurück. Nachdem Arbeitern der La Tribune de Genève eine Anpassung ihrer Löhne an die von Gewerkschaften der Typografen festgelegten Mindestsätze im Mai 1909 verwehrt blieb, traten rund 40 von ihnen in den Streik. Das führte zur Festlegung der Maxime der La Tribune de Genève keine gewerkschaftlich organisierten Arbeiter mehr einzustellen, was die Entlassung der Streikenden bedeutete. Als letzte Maßnahme riefen die entsprechenden Gewerkschaften und ihr Dachverband, die FUOSR, schließlich zum erweiterten Boykott der La Tribune de Genève, ihren Inserenten und Verkaufsstellen auf. Für ihre harte Haltung erhielt die La Tribune de Genève die solidarische Unterstützung der ebenfalls bürgerlichen Zeitungen Suisse und Journal de Genève. 1063  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Der Boykott war zulässig. [...] Uns wird die Ausübung eines verfassungsgemäßen Rechtes aberkannt, wir verteidigen uns, nichts weiter. [...] Für den Arbeiter ist der Boykott eine mächtige und gefürchtete Waffe, derer er sich bloß zur Verteidigung eines Grundsatzes bedient, um ein Recht einzufordern, das ihm aberkannt wird, oder aber um mühsam erkämpfte Freiheiten zu bewahren, die man ihm entreißen will.« Der Boykott der Tribune de Genève betraf dabei nicht nur die Zeitung direkt, sondern auch Betriebe, die der La Tribune de Genève weiterhin Einnahmen bescherten: »Camarades ouvriers, boycottez la Tribune de Genève; Ne fréquentez pas les établissements qui la mettent en lecture; Ne vous servez pas chez les commerçants qui y font insérer leurs annonces.« (Ebd., S. 1) Dt.Ü.: »Arbeitergenossen, boykottiert die Tribune de Genève; geht nicht in die Einrichtungen, die sie zur Lektüre auslegen; kauft nicht bei den Händlern, die dort inserieren.« Die zu boykottierenden Geschäfte und Inserenten finden sich aufgelistet und aktualisiert auf Seite 2 jeder Ausgabe des Le Boycotteur. In späteren Nummern wurden Neuzugänge zudem auf der Frontseite verzeichnet. Vgl. Le Boycotteur, 12.1912, Jg. 3, Nr. 28, S. 1 (Lebensmittelfabrikant Knorr), oder Le Boycotteur, 1.1913, Jg. 4, Nr. 29, S. 1 (Fischereibedarf Coendoz-Berret).

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rung ihrer Lage: »[I]ls sont les maîtres de la situation, parce que producteurs et consommateurs. Toute la coalisation patronale ne pourra rien, s’ils sont résolus à continuer fermement leur aide aux camarades typos.«1064 In einem späteren Artikel hieß es analog und konzis: »Vive l’organisation ouvrière! Vive L’Émancipation des travailleurs par les travailleurs eux-mêmes!«1065 Der Arbeitskampf gegen die La Tribune de Genève erhellte in einem weiteren Artikel zum Thema auch die antikapitalistische Haltung der Gemeinschaft sowie deren langfristige Absicht, letztlich nicht höhere Löhne, sondern eine umfassende Befreiung der Arbeiterklasse zu erkämpfen. »Les travailleurs de Genève entendent ainsi donner un témoinage de leur solidarité entre salariés de tous les métiers pour la défense de leurs intérêts immédiats et la conquête de leur émancipation intégrale«1066, zitierte der Le Boycotteur eine verabschiedete Resolution zum Boykott der La Tribune de Genève. Der Beitrag »Une arme efficace«1067 verdeutlichte die Weltdeutung der Gemeinschaft, die das kapitalistische Wirtschaftssystem als ungerecht vermittelte und es als »[...] l’odieux système économique qui permet aux uns de vivre dans l’opulence et le superflu alors qu’il refuse aux autres le strict nécessaire [...]« 1068 bezeichnete. Zu den Methoden, um eine systemische Ursache zu beheben, zählte die Gemeinschaft des Le Boycotteur drei Elemente auf: den Streik, den mahnenden Zeigefinger (»l’index«) als Metapher einer letzten Chance und schließlich den Boykott, der als letzte, effektivste Waffe bezeichnet wurde.1069 Dabei wurde der Boykott nicht auf die Zeitung La Tribune de Genève beschränkt. Auch anderweitig machte das Blatt den politischen Konsum respektive den konsumistischen Nicht-Konsum zur privat-politischen, täglichen Direkten Aktion.1070 So finden sich in den Fußzeilen des Blattes auch Aufrufe, die Zigarettenmarken Gusel1071, Gauloise, Memphis, Khédi-

1064  |  »Solidarité patronale, solidarité ouvrière«, Le Boycotteur, 15.8.1910, Jg. 1, Nr. 3, S. 2. Dt.Ü.: »Sie sind die Meister der Lage, denn sie sind Erzeuger und Konsumenten. Die gesamte patronale Koalition kann dagegen nichts tun, wenn sie entschlossen mit ihrer Unterstützung für die Genossen Typografen weitermachen.« 1065  |  »Fédération des Unions ouvrières de la Suisse romande«, Le Boycotteur, 1.-2.1911, Jg. 2, Nr. 8, S. 1. Dt.Ü.: »Es lebe die Arbeiterorganisation! Es lebe die Emanzipation der Arbeiter durch die Arbeiter selbst!« 1066 | »Contre la tribune«, Le Boycotteur, 1.1910, Jg. 1, Nr. 6, S. 1. Dt.Ü.: »Die Genfer Arbeiter wollen so den Lohnarbeitern aller Berufe ihre Solidarität aussprechen, für die Verteidigung ihrer unmittelbaren Interessen und den Kampf um ihre vollständige Emanzipation.« 1067  |  »Une arme efficace«, Le Boycotteur, 4.1911, Jg. 2, Nr. 10, S. 1. 1068 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »[...] das schändliche Wirtschaftssystem, dass es den einen erlaubt im Überfluss zu leben, während er den anderen das strikt Notwendige verweigert [...]«. 1069  |  Ebd., S. 1. 1070  |  Ob und inwiefern die Kaufempfehlungen anarchistischer Bewegungen als Frühform des Konsumismus begriffen werden können, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Stellenwert des Konsums für diese Soziale Bewegung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert steht noch aus. 1071 | Vgl. Le Boycotteur, 12.1910, Jg. 1, Nr. 7, S. 2.

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ve Maryland1072 sowie Abbas1073 zu boykottieren, später auch »[...] les cigares et les tabacs de la fabrique de Locarno«1074 .1075 Intensiver als die Vermittlung von Hypergütern und performativer für die kollektive Identität waren Framing-Prozesse, die in den Artikeln zum Boykott zum Tragen kamen. So wurden klare Demarkationen gezogen zu bestehenden, korporatistisch strukturierten Arbeiterorganisationen die emotionalisierend als unsolidarische, zersplitterte Bollwerke von Günstlingen bezeichnet wurden.1076 Framing-Prozesse waren im Le Boycotteur in verschiedenen Formen produktiv. Implizit, indem die Weltdeutungen der ›anderen‹ als negative Hypergüter für die eigene kollektive Identität instrumentalisiert und verwendet wurden. Explizit, indem das Tun oder die Personen selbst als unmöglich, desorientiert oder verwirrt dargestellt wurden. Dies geschah im Le Boycotteur in der Mehrheit der Fälle emotionalisierend über Beschimpfungen. Von »bidagnols«1077 war die Rede, von »crétinisme et canaillerie«1078 und »imbécilité«1079, wenn von MacherInnen und Inhalt der La Tribune de Genève gesprochen wurde. Auch die verbliebene Leserschaft wurde verunglimpft als »[...] quelques crétins à qui il faudrait un marteau-pilon pour faire entrer quelque chose de sensé dans le cerveau«1080. Nebst anderem wurde dem Blatt auch die Redlichkeit abgesprochen, während damitdie eigene Integrität implizit gestärkt und eine moralische Superiorität suggeriert wurde: »Fidèle à sa tradition, la Tribune ment impudemment.«1081 Die Fremdwahrnehmung stellte im Le Boycotteur einen produktiven Ausgangspunkt für die Akzentuierung und Schärfung der kollektiven Identität der Gemeinschaft dar. Katalysierend öffnete sie den Raum für verschiedene, kombinierte identitätskonstituierende Komponenten und damit zur Stärkung und Reaffirmation der Gemeinschaft. Framing-Prozesse in Form von emotionalisierenden verbalen Erniedrigungen leisteten dabei einen gewichtigen Teil der Identitätskonstitution. Im Rahmen der Demarkation wurden auch nationalistische Motive bemüht, um das ›Wir‹ zu konstituieren. In nationalistischer Rekuperation wurden wiederholt 1072 | Vgl. Le Boycotteur, 4.1911, Jg. 2, Nr. 10, S. 2. 1073 | Vgl. Le Boyotteur, 9.1911, Jg. 2, Nr. 15, S. 1. 1074 | Le Boycotteur, 12.1912, Jg. 3, Nr. 28, S. 2. 1075 | Dass dabei der Arbeitskampf im Vordergrund stand und keine gesundheitspolitischen Beweggründe zeigt sich im Umstand, dass nicht das Nichtrauchen, sondern eine Alternative empfohlen wurde: »Demandez partout la cigarette à la main LA SYNDICALE.« (Le Boycotteur, 12.1910, Jg. 1, Nr. 7, S. 2, und Le Boycotteur, 9.1911, Jg. 2, Nr. 15, S. 4) Dt.Ü.: »Verlangt überall die Zigarette LA SYNDICALE.« 1076  |  Vgl. »Solidarité patronale, solidarité ouvrière«, Le Boycotteur, 15.8.1910, Jg. 1, Nr. 3, S. 2. 1077 | Genfer Patois für ›ballot‹ (Trottel, Blödian). »Jésuites!«, Le Boycotteur, 9.1911, Jg. 2, Nr. 15, S. 2. 1078  |  »Crétinisme et Canaillerie«, Le Boycotteur, 10.1911, Jg. 2, Nr. 16, S. 1. 1079  |  »Réponse à la ›Tribune de Genève‹«, Le Boycotteur, 9.1911, Jg. 2, Nr. 15, S. 1. 1080  |  »La série continue«, Le Boycotteur, 1.1913, Jg. 4, Nr. 29, S. 1. Dt.Ü.: »[...] ein paar Idioten, denen man nur mit einem Maschinenhammer etwas Sinnvolles ins Hirn schlagen könnte«. 1081  |  »Réponse à la ›Tribune de Genève‹«, Le Boycotteur, 9.1911, Jg. 2, Nr. 15, S. 1. Dt.Ü.: »Ihrer Tradition treu bleibend; lügt die Tribune schamlos.«

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die nicht-schweizerischen Nationalitäten der Eigentümer der boykottierten La Tribune de Genève hervorgehoben, in negative Kontexte gesetzt und in herablassendem Ton kommentiert. Der Inhalt des Blattes wurde als »vielle bavarde américaine«1082 bezeichnet oder der Le Boycotteur bediente sich bei antiamerikanischen Ressentiments und sprach von den MacherInnen der La Tribune de Genève als »les Yankees de la Julie«1083. Der Grund hierfür lag meines Erachtens in populistischen Anwandlungen, denen ein Expansionsdrang zugrunde gelegen haben dürfte. Um eine möglichst breite Basis zum Boykott zu bewegen und damit eine größtmögliche Machtposition im Konflikt zu erreichen, spiegelte der Le Boycotteur die virulente Xenophobie der Genfer Bevölkerung in der zeitungseigenen Sprache, die mit dem tödlichen Attentat auf Kaiserin Elisabeth in Genf erheblich zunahm.1084 Die gleiche Funktion dürfte der Antisemitismus gehabt haben, der an einigen Stellen des Le Boycotteur auftrat. Unter dem Titel »Un bon chrétien«1085 wurde dem Verwaltungsratsmitglied und Direktor1086 der La Tribune de Genève Samuel Hirsch Doppelmoral vorgeworfen bezüglich seiner Anstellungspolitik. Im Fortschreiten der Diskreditierung Hirschs fielen antisemitische Zusätze wie: »[...] le juif converti, le chrétien social Hirsch [...]«1087. Hirsch, der sich offenbar gerne als überzeugten Christen darstellte, wurde so nicht nur zum schlechten Christen geschrieben, sondern – offenbar noch schlimmer – zum unechten Christen. Dass in einem weiteren Artikel ein Gerücht abgedruckt wurde, das besagte, dass Hirsch bloß Christ geworden sei, um nicht mehr Jude zu sein, dürfte als Befeuerung dieser populistischen Strategie erkannt werden, ebenso wie die im selben Artikel gefallene Bezeichnung »néochrétien«1088 oder das abschätzige »ex-youpin«1089 in einem späteren Artikel. Auch hier kann der pejorative Gebrauch von Juden-Begriffen als Indikator für einen omnipräsenten und performativen Antisemitismus gelesen werden, der die Zeit charakterisierte und der offenbar bis in progressive und an sich universalistische Kreise hinein zu wirken vermochte.1090 Gerade in anarchistischen und anarchosyndikalistischen Zusammenhängen erstaunt dieser Rekuperationsakt, da erstens viele AktivistInnen mit jüdischem Hintergrund im Anarchismus wirkten1091, und da zweitens die Religion – und damit auch die Authentizität etwaiger Religionszu-

1082 | »Entre alliés«, Le Boycotteur, 1.1913, Jg. 4, Nr. 29, S. 2. 1083  |  »Échos: Aux gyms de Plainpalais«, Le Boycotteur, 12.1912, Jg. 3, Nr. 28, S. 2. Julie wurde als Synonym für La Tribune de Genève verwendet. Die etymologischen Hintergründe für diesen Übernamen konnten nicht eruiert werden. 1084  |  Vgl. zur Xenophobie in Genf ab 1898 Im Hof, Mythos Schweiz, S. 190. 1085  |  »Un bon chrétien«, Le Boycotteur, 9.1910, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 1086  |  Gemäß »Les Exploits de Samuel«, Le Boycotteur, 11.1910, Jg. 1, Nr. 6, S. 1. 1087  |  »Un bon chrétien«, Le Boycotteur, 9.1910, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 1088  |  »Les affaires sont les affaires«, Le Boycotteur, 12.1910, Jg. 1, Nr. 7, S. 2. 1089  |  »Échos: Demandes de renseignements«, Le Boycotteur, 4.1912, Jg. 3, Nr. 22, S. 2. 1090  |  Das bestätigte der Le Boycotteur gleich selbst: »On était à L’Époque où l’Antisémitisme faisait rage en France.« (»Les affaires sont les affaires«, Le Boycotteur, 12.1910, Jg. 1, Nr. 7, S. 2) Dt.Ü.: »Wir befanden uns in der Zeit, zu der der Antisemitismus in Frankreich wütete.« 1091  |  Vgl. Portmann, Ja, ich kämpfte.

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gehörigkeit – allenfalls als negatives Hypergut eine Rolle in anarchistischer Idenitätskonstitution spielte.1092 Selbstbezeichnungen im Le Boycotteur fielen in der Regel politisch nicht näher spezifiziert aus. Die Begriffe ›ouvrier‹ oder ›travailleur‹ wurden gleichermaßen verwendet. Einzig der Beitrag »Une porteuse de guigne«1093 ging ein wenig weiter. Die La Tribune de Genève sei »[...] très impopulaire [sic] dans les milieux ouvriers syndicalistes [...]«1094, womit sich die MacherInnen des Blattes im revolutionär-gewerkschaftlichen Milieu positionierten. Anarchie-Begriffe wurden zur Selbstbezeichnung nicht verwendet, sicherlich auch, um den mit populistischen Methoden geweiteten potenziellen Kreis von Boykottierenden nicht wieder künstlich einzuengen.

4.4.12.3 Zusammenfassung Weitgehend an einem spezifischen Boykott orientiert und im Zusammenhang mit ihm thematisiert finden sich in der Mehrheit der Artikel des Le Boycotteur verschiedene identitätskonstituierende Mechanismen und Elemente. Die größte Wirkungsmacht hatten Framing-Prozesse, welche ausgesprochen häufig emotionalisierend ausgeführt wurden, um die Gemeinschaft zu stimulieren und zu unterhalten. Gründe für dieses Vorgehen sind in der Zielsetzung des Blattes zu suchen, einen möglichst wirkungsvollen Boykott zu erreichen, was eine nachhaltige Mobilisierung voraussetzte. Dies wurde teils mit populistischen Methoden mittels Rekuperationen versucht, die die wohl zeitgeistigen, aber an sich bewegungsfernen Steigbügelhalter Nationalismus und Antisemitismus aufgriffen, um einer Verbreiterung der Basis Vorschub zu leisten. Häufig stellte die Fremdwahrnehmung den Initiationspunkt dar, vor dessen Hintergrund sich die Figur des gemeinschaftlichen ›Wir‹ konkretisierte. Neben Faming Prozessen gehörte die Vermittlung von Hypergütern im Le Boycotteur zu den produktiven konstitutiven Komponenten kollektiver Identität. Auch sie wirkten in der großen Mehrheit im Rahmen der Schilderung von Verlauf und Erfolg des politisch motivierten Boykotts der Genfer Zeitung La Tribune de Genève. Selbstbezeichnungen verfügten dagegen kaum über identitätskonstitutive Wirkung: Anarchie-Begriffe finden sich keine, politisch entschärfte Begriffe wie ›travailleurs‹ wurden stattdessen zur Bezeichnung des ›Wir‹ verwendet. Lediglich an einer einzigen Stelle wurde eine Brücke zum zunächst anarcho-syndikalistischen, später anarcho-kommunistischen Mutterblatt La Voix du Peuple geschlagen und das ›Wir‹ damit im anarchistischen Milieu verortet. Inhaltlich ist eine Bezeichnung der kollektiven Identität der Gemeinschaft des Le Boycotteur als anarcho-syndikalistisch berechtigt, auch wenn der Le Boycotteur sich selbst nie so bezeichnete. Die verschiedenen produktiven Mechanismen in den Artikeln ergeben das Bild eines losen Kollektivs, das sich zunächst mit Direkten Aktionen gegen die Beschneidung von Arbeiterrechten einsetzte. Beiträge mit utopischem Gehalt ohne Anbindung an Realia sind kaum zu finden. Nur sehr vereinzelt wurden Zielsetzungen wie das Erkämpfen einer integralen Emanzipation 1092 | Dieses beiläufige antisemitische Verunglimpfen war kein Einzelfall. Vgl. auch den Artikel »Hirsch et les godillots«, in dem mit »L’ex-fils d’Israël«– völlig irrelevant für das in diesem Artikel verhandelte Thema – auf seine ehemalige jüdische Konfession hingedeutet wird. Vgl. »Hirsch et les godillots«, Le Boycotteur, 10.1910, Jg. 1, Nr. 5, S. 2. 1093  |  »Une porteuse de guigne«, Le Boycotteur, 10.191, Jg. 2, Nr. 16, S. 2. 1094  |  Ebd., S. 2.

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angesprochen und selbst dann blieben sie vage, weil keine Aufschluss ergebenden Hypergüter mitvermittelt wurden. Über die vier Jahrgänge hinweg, in denen der Le Boycotteur erschienen ist, veränderte er sich nahezu nicht: Die Themen, die Herangehensweise aber auch die Dichte an identitätskonstituierenden Artikeln blieb gleich, ebenso wie die Konstruktionsmechanismen dieselben blieben. Dementsprechend konsistent war auch die kollektive Identität der Gemeinschaft, die durch den Le Boycotteur repräsentiert wurde, die sehr spezifisch engagiert auftrat und dieser Spezifik zuliebe keinerlei Nuancierungen anstrebte und/oder zuließ.

4.4.12.3 Bibliografische Details (1) Le Boycotteur; (4) Genf; (5) 1910-1913; monatlich, vereinzelt zweimonatlich (Jg. 2, Nr. 8); 2 Seiten, vereinzelt 4 Seiten (Jg. 2, Nr. 8); (9) CIRA Lausanne, Pf 206 (lückenhaft); (10) Die Auflage betrug 25.000 Stück, vereinzelt 30.000 Stück (Jg. 2, Nr. 8) und schließlich 30.000-40.000 Stück (Jg. 2, Nr. 15 - Jg. 4, Nr. 29). Die allermeisten Artikel des Le Boycotteur befassten sich mit dem Boykott der bürgerlichen Zeitung La Tribune de Genève. Auch wenn es verschieden verpackt wurde, blieb sich der Kerninhalt oft gleich. Zu finden sind sowohl längere Beiträge, aber auch Zoten, hämische Notizen oder Witze, in denen die Direkte Aktion personalisiert und emotionalisiert wird. Der Le Boycotteur verfügte auch über Rubriken. »Échos« versammelte die genannten hämischen Notizen zum aktuellen Stand des Boykotts, die Rubrik »Maisons boycottées« lieferte eine Zusammenstellung von Geschäften, die mit der La Tribune de Genève zusammenarbeiteten und folglich ebenfalls zu boykottieren seien.

4.4.13 L’exploitée Abbildung 23: L’exploitée, 8.12.1907, Jg. 1, Nr. 8. (CIRA Lausanne, Pf 370)

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4.4.13.1 Relevante Er wähnungen Die Mehrheit der Konstruktionen und Konstitutionen kollektiver Identität in der L’exploitée erfolgte über die Vermittlung von positiven und negativen Hypergütern. Bereits der Eröffnungsartikel »La femme et la société«1095 bot eine Vielzahl an vornehmlich negativen Hypergütern. Als systematische Unterdrücker der Frau, der »eternelle persécutée«1096, wurden in einer kausalistischen Kette das Christentum, aber auch die herrschenden politischen Verhältnisse diskreditiert, welche die darin verwurzelten Unterdrückungsmechanismen reproduzierten: »Méprisée et avilie par le christianisme [...] elle passa de la domination religieuse sous la servitude juridique et politique. Tous les législateurs [...] la déclaraient un être inférieur et accordaient à l’homme un pouvoir absolu sur elle.«1097 Die kulturell verstandene Verortung der Frau als weitergereichtes, immer aber unterdrücktes Subjekt sowie die Bedingungen, die dies ermöglichten, wurden ebenfalls als negative Hypergüter vermittelt: »Jeune encore, on l’Arrache aux affections familiales, aux joies enfantines, aux illusions de l’Adolescence pour la livrer seule et sans appui aux contre-maîtres grossiers, aux patrons lubriques et flatteurs. Mariée, elle devient non pas la compagne aimée, chérie, protégée, mais l’objet, la chose du mari auquel elle doit, dit la loi, entière obéissance et soumission. [...] Et à la servitude interne s’ajoute la servitude externe, la domestication des bras et des forces physiques au travail de l’Atelier.«1098

Implizit wurde in ähnlicher Hinsicht die in der Jahrhundertwende gültige Unauflösbarkeit der Ehe als negatives Hypergut portiert. Rhetorisch wurde gefragt: »Combien de temps faudra-t-il encore pour comprendre qu’il est déraisonnable de contracter des unions indissolubles?«1099 Auch das Tabu der Geburtenkontrolle wurde wiederholt als Element der strukturellen Unterdrückung der Frau thematisiert. Vornehmlich zwei literarische Wege wurden dazu benutzt. Implizit und 1095  |  Corinne, »La femme et la société«, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 1-2. 1096  |  Ebd., S. 1. 1097  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Vom Christentum verachtet und erniedrigt [...] wechselt sie von der religiösen Herrschaft in die rechtliche und politische Verknechtung. Die Gesetzgeber [...] erklärten sie zu einem untergeordnetem Wesen und erteilten dem Mann die absolute Macht über sie.« 1098  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Noch jung wird sie der familiären Zuwendung, den kindlichen Freuden, den jugendlichen Illusionen entrissen, um sie ganz auf sich allein gestellt den groben Vorarbeitern und lüsternen Patrons auszuliefern. Verheiratet wird sie nicht etwa zur geliebten, geschätzten und beschützten Gefährtin, sondern das Objekt, die Sache des Ehemannes, dem sie, so sagt es das Gesetz, vollkommenen Gehorsam und Unterwerfung schuldet. [...] Und sie kommt zur inneren Knechtschaft die äußere hinzu, die Zähmung der Arme und der körperlichen Kräfte für die Arbeit in der Werkstatt.« Vgl. dazu auch die Verknüpfung von häuslicher Gewalt und der untrennbaren Ehe in »Chez nous: Un mari jaloux«, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Häusliche Gewalt wurde immer wieder in Kurzmeldungen thematisiert, gelegentlich verknüpft mit anderen Themen, z.B. dem grassierenden Alkoholismus der Zeit. Vgl. exemplarisch »Chez nous: Une nouvelle victime de l’Alcool«, L’exploitée, 7.6.1908, Jg. 2, Nr. 2, S. 2. 1099  |  »Chez nous: Un mari jaloux«, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »Wie lange wird es noch dauern, bis klar wird, dass es unvernünftig ist, unauflösbare Verbindungen einzugehen?«

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zynisch, indem die tatsächlichen damit verbundenen Leiden mit bürgerlichen Wahrnehmungen des Problems kontrastiert wurden1100, oder explizit wie im Beitrag »Malthusianisme«1101. Daneben wurde mit der sprachlichen Unterscheidung zwischen »maternité non désirée« und »maternité consciente« die Inexistenz einer Geburtenkontrolle als negatives Hypergut vermittelt.1102 Auch in der kapitalistischen Produktion findet sich ein weiteres, rege vermitteltes negatives Hypergut im Blatt. »La production capitaliste a conduit toute la culture de l’humanité en un culde-sac«1103, hieß es plakativ gleich zu Beginn eines Artikels, der im Fortgang den Widerspruch zwischen immer größerer Produktion und immer weniger Arbeitsstellen hervorhob, der die Massengesellschaft verarmen lasse. Das Grundeigentum wirkte ebenfalls als negatives Hypergut identitätskonstituierend – und dies auf verschränkte Weise sogar zweifach. Es wurde einerseits als eine der zentralen Ursachen der Armut der Bauern verstanden und inszeniert, im Gegenzug aber auch – kollektiv-kommunal verstanden – als positives Hypergut aufgebaut und eingefordert. Untermauert wurde das Ganze von einem kontradiktorischen Konstitutionselement. Zur Verstärkung der Legitimität dieser Forderung wurde von der explizit religionskritischen1104 Zeitung in religiös-rekuperativer Manier ein päpstliches Zitat verwendet: »La terre est la propriété commune de tous les hommes. Pape Grégoire-le-Grand«1105. Überwiegend vermittelte die L’exploitée allerdings positive Hypergüter. Dazu zu zählen war das Einfordern eines freien, gleichberechtigten Daseins für Frauen: »[N]ous voulons nous affranchir de la domination maritale pour ne plus rester que L’Épouse aimante, la digne compagne, la libre mère; nous voulons nous libérer des préjugés sociaux [...]. Avec notre frère et notre compagnon, l’homme, nous voulons combattre les injustices sociales, supprimer la misère, briser les entraves à la liberté. Aux rangs des combattants nous sommes, aux rangs des insurgés nous serons! [...] Nous voulons une société meilleure, nous travaillons aux Temps Nouveaux, nous combattons pour la liberté de tous, partout.«1106 1100  |  Vgl. »Chez nous: Quelle mère heureuse!«, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. 1101  |  Grandjean, Valentin, »Malthusianisme«,, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 4. 1102 | Vgl. ebd., S. 4. Die Propagierung der Geburtenkontrolle als positives Element der Selbstermächtigung der Arbeiterin ist in vielen Artikeln der L’exploitée anzutreffen und dementsprechend als Hypergut von großer Relevanz zu werten. Vgl. dazu exemplarisch Une mère [...], »Chez nous: Une excitation générale«, L’exploitée, 8.12.1907, Jg. 1, Nr. 8, S. 3, wo gegenüber AbtreibungsgegnerInnen als hypokritische ›Moralisten‹ Framing-Prozesse stattfanden. Generell gegen die Tabuisierung des Sexuellen wandte sich v.a. im Hinblick auf hygienische Fragen ausführlich der Artikel Marguerite, »La Question Sexuelle«, L’exploitée, 5.7.1908, Jg. 2, Nr. 3, S. 1-3. 1103 | Dodel, Prof. Dr. A, »La crise«, L’exploitée, 1.3.1908, Jg. 1, Nr. 11, S. 3. Dt.Ü.: »Die kapitalistische Produktionsweise hat die gesamte Kultur der Menschheit in eine Sackgasse gelenkt.« 1104  |  Vgl. exemplarisch für die religionskritische Haltung »Corinne, »Aux gorges de l’esclavage«, L’exploitée, 1.6.1907, Jg. 1, Nr. 2, S. 2, wo es hieß: »[L]’existence dément tous les jours la Bible [...].«Dt. Ü.: »[D]as Leben widerlegt die Bibel täglich [...].« 1105  |  »Au dehors: En Roumanie«, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 6. Dt.Ü.: »Die Erde ist das Gemeinschaftsgut aller Menschen. Papst Gregor der Große«. 1106 | Corinne, »La femme et la société«, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »[W]ir wollen uns von der Herrschaft der Ehe befreien, um nichts weiter als die liebende Gat-

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Der letztlich universalistisch anmutende Ansatz, unabhängig von chromosomaler Disposition eine bessere Gesellschaft erkämpfen zu wollen, ergänzte die zuweilen essenzialistisch anmutende feministische Perspektive um ein anarchistisches Element.1107 Die positiven Hypergüter Antipatriotismus und Antimilitarismus traten in der L’exploitée oftmals als Paar auf. Dass die Nennung von Vaterland in der Regel apostrophiert geschah, vermag die antipatriotische und damit auch antinationalistische Haltung der Gemeinschaft bereits zu erhellen. Letztlich war es aber die Sinndeutung, dass das Militär die Privilegierten auf Kosten der Unprivilegierten schützen würde, die den Antimilitarismus und den Antipatriotismus deutlich werden ließ: »[L]a ›patrie‹ [...] dépense tout en fusils et canons pour la défense de la fortune des privilégiés. [...] Quant à nous, pauvres servantes de la ›patrie‹ [...] cette patrie ne nous donne pas même l’illusion d’un droit.«1108 Ein weiteres wichtiges Hypergut der Gemeinschaft ist die selbstermächtigende Partizipation. Die L’exploitée ermutigte die Leserinnenschaft bereits in der ersten Nummer nachhaltig und ausdrücklich zur inhaltlichen Mitgestaltung des Blattes: »Si vous voulez que l’exploitée devienne votre journal, il faut que vous y collaboriez de tout votre savoir et de toute votre âme.«1109 Das Ideal der Selbstermächtigung wurde auch in generellen Zusammenhängen hochgehalten: »Vous avez des besoins de femmes libres, vous avez besoin d’indépendance, de bien-être, de loisirs. Pour obtenir tout cela, ne comptez ni sur la charité, ni sur les patrons, ni sur les hommes, ni même sur le

tin, die würdige Gefährtin, die freie Mutter zu bleiben; wir wollen uns von den gesellschaftlichen Vorurteilen frei machen [...]. Mit unserem Bruder und Gefährten, dem Mann, wollen wir die soziale Ungerechtigkeit bekämpfen, das Elend auslöschen, die Fesseln unsrer Freiheit aufbrechen. In den Rängen der Kämpfer stehen wir, in den Rängen der Aufständigen werden wir sein! [...] Wir wollen eine bessere Gesellschaft, arbeiten wir für die Neuen Zeiten, wir kämpfen für die Freiheit aller, überall.« 1107 | Nichtsdestotrotz war es in der L’exploitée eine feministische Perspektive, welche die Weltdeutung bestimmte. Die Bezeichnung Anarcha-Feminismus wäre anachronistisch, da der Begriff erst in den 1970er Jahren auftauchte. Es soll aber festgehalten sein, dass nicht wenige Hypergüter in der l’exploitée vermittelt wurden, die auch bei Selbstdefinitionen anarcha-feministischer Aktivistinnen der 2000er Jahre zu finden sind. Vgl. Griff nach den Sternen, bes. S. 3, Punkt 3 und S. 5-6. 1108  |  »Chez nous: Onze petits soldats«, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »[D] as ›Vaterland‹ [...] gibt alles für Gewehre und Kanonen zur Verteidigung der Reichtümer einiger Privilegierter aus. [...] Uns dagegen, uns armen Dienerinnen des ›Vaterlandes‹ [...] dieses Vaterland gibt uns nicht einmal die Illusion eines Rechtes.« Antimilitarismus blitzte auch in anderen Zusammenhängen immer wieder auf. Vgl. etwa die mit antimilitaristischer Kritik angereicherten Passagen in Une femme mariée, »Échos et nouvelles: Ils ont donc voté«, L’exploitée, 10.11.1907, Jg. 1, Nr. 7, S. 3. 1109 | Vgl. Faas, Marguerite, »Aux ouvrières et aux femmes de ménage«, L’exploitée. 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 6. Dt.Ü.: »Wenn ihr wollt, dass die L’Exploitée zu eurer Zeitung wird, müsst ihr mit eurem ganzen Wissen und eurer ganzen Seele daran mitarbeiten.« Tatsächlich weist die L’exploitée viele Zusendungen von Arbeiterinnen auf. Vgl. exemplarisch die vier Zusendungen in der Rubrik, »Chez nous«, L’exploitée, 15.9.1907, Jg. 1, Nr. 5, S. 4-5.

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ciel, ne comptez que sur vous-mêmes et agissez!«1110, propagierte das Blatt.1111 Diese Passage ist ein gutes Beispiel für multiple kollektive Identitäten, arbeitete sie doch einerseits an einer feministischen kollektiven Identität der Leserinnen als Frauen, die auf Männer nicht angewiesen seien, andererseits aber auch an ihrer kollektiven Identität als Proletarierinnen, als die sie sich geschlechterunspezifisch gegen die Patrons zur Wehr setzen sollten.1112 Auch verschiedene vermittelte Methoden, wie der ›Neuen Gesellschaft‹ näher zu kommen sei, finden sich in der L’exploitée. Einer1110 |  Une ouvrière, »Chez nous: Ouvriers et ouvrières d’Yverdon«, L’exploitée, 1.6.1907, Jg. 1, Nr. 2, S. 3. Dt.Ü.: »Ihr habt Bedürfnisse freier Frauen, ihr braucht Unabhängigkeit, Wohlbefinden, freie Zeit. Um all das zu bekommen, zählt weder auf die Wohltätigen, noch auf die Patrons, noch auf die Männer und noch weniger auf den Himmel, zählt allein auf euch selbst und handelt!« 1111 | Das Hypergut der Selbstermächtigung trat oft auch in Zusammenhang mit anderen Hypergütern auf. Ein Appell für die syndikalistische Organisation der weiblichen Arbeiterschaft zeigte zunächst die Ziele auf, die nur als starke Organisation zu erreichen seien, um mit einer Bekräftigung des Ideals der Selbstermächtigung der Frau und der Arbeiterin zu schließen: »[P] ar la puissance de nos organisations, nous arracherons à ce dernier [gemeint ist ›le patronat‹, d.V.] des salaires qui nous permettront de vivre honnêtement, et, graduellement dans la mesure du possible, nous réduirons la durée de la journée de travail. Et ainsi, d’esclaves que nous sommes, nous deviendrons maîtresses de nos destinées.« (Wullschleger, Léa, »L’utilité et la nécessité du groupement syndical«, L’exploitée, 7.7.1907, Jg. 1, Nr. 3, S. 4). Dt.Ü.: »[D] urch die Mächtigkeit unserer Organisationen werden wir ihnen Löhne entreißen, mit denen wir ein ehrliches Leben führen können und Schritt für Schritt werden wir die Länge der Arbeitstage senken. Und so werden wir von den Sklaven, die wir jetzt sind, zu Schmiedinnen unseres eigenen Schicksals werden.« Ebenfalls verquickt trat die Selbstermächtigung der Frau im Beitrag »Les droits de la femme« auf. Darin wurde sie als Voraussetzung für einen nachhaltigen Kampf um Frauenrechte dargestellt, der aufgrund des Desinteresses vieler Frauen in der Mehrheit von Männern geführt worden sei: »Les plus ardents militants féministes ne sont pas des femmes. Donc, il est un peu naïf de dire que si la femme a, dans la société, une position inférieure à l’homme, cela vient uniquement de la faute du sexe fort.« (Ernestine, »Les droits de la femme«, L’exploitée, 3.5.1908, Jg. 2, Nr. 1, S. 2). Dt.Ü.: »Die feurigsten feministischen Aktivisten sind keine Frauen. Es wäre also etwas naiv zu behaupten, dass es allein die Schuld des starken Geschlechts ist, wenn die Frau in der Gesellschaft eine dem Manne untergeordnete Rolle hat.« Frauen, so die Autorin, sollten nicht einem fatalistischen Essenzialismus verfallen, sondern sich Wissen aneignen: »C’est dégradant au dernier degré que de prétendre que l’on est incapable de faire le plus petit travail d’esprit et de dire que, pour que la femme soit femme, il faut qu’elle soit remplie de préjugés, ou du moins très ignorante.« (Ebd., S. 2) Dt.Ü.: »Es ist höchst entwürdigend zu behaupten, wir wären unfähig auch nur die kleinste geistige Arbeit zu leisten, und zu sagen, eine Frau wäre nur dann eine Frau, wenn sie voller Vorurteile oder zumindest sehr unwissend ist.«Vgl. dazu ebenfalls Ida Reymond, »Le droit des Femmes«, L’exploitée, 9.1908, Jg. 2, Nr. 5-6, S. 1-2. 1112 | I.d.R. wurde der multiple Charakter aber nicht zelebriert. In einem anderen Beitrag – von einem männlichen Altmitglied der ›Fédération Jurassienne‹ geschrieben – hieß es etwa: »Pour nous, il n’y a plus d’émancipation féministe, que d’émancipation masculine, il n’y a qu’une émancipation, celle des travailleurs, à n’importe quel sexe l’on appartienne.« (Schwitzguébel, Adhémar, »Nouvelle force«, L’exploitée, 4.8.1907, Jg. 1, Nr. 4, S. 2) Dt.Ü.: »Für uns gibt es die feministische Emanzipation ebenso wenig wie es eine männliche Eman-

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seits wurden Boykottaufrufe gestartet und unterstützt. Andererseits wurden in konsumistischer Manier Empfehlungen für Alternativprodukte abgegeben.1113 Als Ausweg aus der Unterdrückung und der Abhängigkeit der Arbeiterinnen wurde implizit1114 und explizit die Gründung von Genossenschaften als Kampfmaßnahme empfohlen: »La seule solution efficace et rationelle, c’est la coopérative [...].«1115 Eine Verquickung der drei Methoden Boykott, fairer Konsum und genossenschaftliche Produktion findet sich im Artikel »Un rêve à réaliser«1116: »[C]e n’est pas assez d’avoir mis à l’index les cigares Vautier 1117; nous devons encore nous efforcer d’obtenir qu’à la place des cigares Vautier, on achète et on fume d’autres cigares qui auront été fabriqués directement par les ouvrières en grève. Nous devons donc [...] arriver à produire des cigares au moyen d’une coopérative de production.« 1118 zipation gibt, es gibt nur eine einzige Emanzipation, die der Arbeiter, ganz gleich welchem Geschlecht man angehört.« 1113 | Vgl. »Camarades«, L’exploitée, 4.8.1907, Jg. 1, Nr. 4, S. 3. 1114  |  Vgl. »Chez nous: Nos vaillantes camarades d’Yverdon«, L’exploitée, 4.8.1907, Jg. 1, Nr. 4, S. 3 (Herv. i.O.). 1115  |  »Chez nous: On ne trouve [...]«, L’exploitée, 7.7.1907, Jg. 1, Nr. 3, S. 3. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Die einzige wirksame und rationelle Lösung ist die Kooperative [...].« Vgl. auch das dahingehende Bejubeln des genossenschaftlichen Ansatz bei der Gründung einer gemeinschaftlichen »cuisine commune« (»Chez nous: Quelques dames de Neuchâtel«, L’exploitée, 7.7.1907, Jg. 1, Nr. 3, S. 3 [Herv. i.O.]). 1116 | »Un rêve a réaliser«, L’exploitée, 15.9.1907, Jg. 1, Nr. 5, S. 1-2. Vgl. auch »La famine«, L’exploitée, 2.2.1908, Jg. 1, Nr. 10 (9), S. 1-2. Der anonym verfasste Artikel weist eine anarcho-sozialistische Komponente auf, die die Aktion des Machens betonte. In ähnlicher Manier wurde auch die Gründung einer genossenschaftlichen Bäckerei bejubelt und der Konsum bei ihr propagiert. Vgl. »Chez nous: Une nouvelle fabrique coopérative de pain«, L’exploitée, 2.2.1908, Jg. 1, Nr. 10 (9), S. 3. 1117  |  Gegen die Zigarrenproduzenten Vautier Frères aus Yverdon wurden Kampfmaßnahmen ergriffen, weil sie eine handvoll Mitarbeiterinnen entließen, als sich diese gewerkschaftlich zu organisieren begannen. Der Konflikt gipfelte darin, dass Vautier gegen 59 streikende Frauen ein Militärattaché mobilisieren ließ und die Namen der entlassenen Arbeiterinnen an andere lokale Arbeitgeber verschiedener Industriezweige verteilen ließ, um Anstellungen der Streikenden zu verhindern. Als Antwort darauf wurde eine Produktionsgenossenschaft ins Leben gerufen, bei der die Arbeiterinnen ihre Schicht in Heimarbeit erledigten. Diese Produktionsgenossenschaft hatte bis mindestens 1914 Bestand. Vgl. Joris, Hartnäckig und eigensinnig. Der Patron der Vautier Frères kapitulierte im Sommer 1909 und erklärte sich bereit, die gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen wieder einzustellen und ihre Gewerkschaft zu anerkennen. Vgl. Enckell, L’exploitée, S. 6-8. 1118 | »Un rêve a réaliser«, L’exploitée, 15.9.1907, Jg. 1, Nr. 5, S. 1. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Es reicht nicht, die Zigarren Vautier auf den Index gesetzt zu haben, wir müssen uns noch darum bemühen, dass anstatt der Zigarren Vautier, andere Zigarren gekauft und geraucht werden, die direkt von den streikenden Arbeiterinnen hergestellt wurden. Wir müssen es also [...] schaffen, mithilfe einer Produktionskooperative Zigarren herzustellen.« Dieses Terrain der Selbsthilfe war 1907 kein Neuland mehr. Bereits 1905 glückte die Schaffung einer genossenschaftlichen Produktionsstätte im aargauischen Menziken-Burg. Nach einer dreimonatigen Bestreikung der Fabrikanten Kulm beschäftigten sich die Streikerinnen in der Genossenschaft Coop selbst und

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Im Leitartikel »Action syndicale«1119 schimmerten als weitere Hypergüter grundsätzlich revolutionäre und antistaatliche Grundausrichtungen durch: »Il ne suffit plus de poursuivre uniquement l’Amélioration des conditions économiques du prolétariat. Les améliorations sont illusoires, ou tout au moins passagères. [...] Notre servage économique durera donc tant que se maintiendra l’etat capitaliste. C’est pourquoi nous devons attaquer, dans nos syndicats, les bases mêmes de cet Etat. C’est au syndicat que doivent être traitées les questions importantes de l’Antimilitarisme, de l’Antireligion, de la grève générale, etc., en dépit de tous les règlements qui le defendent.«1120 rollten Zigarren mit dem patriotischen Namen ›Helvetia‹. Vgl. ebd., S. 1, und Joris, Hartnäckig und eigensinnig. Per Aufruf (»Appel à la solidarité«, L’exploitée, 15.9.1907, Jg. 1, Nr. 5, S. 6) wurde umgehend versucht, die Finanzierung für die geplante Genossenschaft in Yverdon anzugehen. Der schiere Verzicht auf die zu boykottierenden Tabakwaren wurde, wenn überhaupt, so nur implizit angebracht. Vgl. »Chez nous: Pour la coopérative communiste des ouvrières d’Yverdon«, L’exploitée, 3.5.1908, Jg. 2, Nr. 1, S. 3. Der unmittelbar anschließend abgedruckte Artikel Faas, Marguerite, »La réalisation du rêve«, L’exploitée, 15.9.1907, Jg. 1, Nr. 5, S. 2-4, der einen Businessplan mit Betriebszahlen beinhaltete, wurde zuerst im deutschsprachigen Schwesterblatt Die Vorkämpferin publiziert. Vgl. »Ein zu verwirklichender Traum«, Die Vorkämpferin, 1.9.1907 Jg. 2, Nr. 5, S. 5-8. Gemäß einer Kurznachricht wurde die genossenschaftlich geführte Zigarettenfabrik mit Kapital aus der anarcho-syndikalistischen Bewegung gegründet. Vgl. »Chez nous: Cigarières d’Yverdon«, L’exploitée, 2.2.1908, Jg. 1, Nr. 10 (9), S. 2-3. 1119  |  Albert, »Action syndicale«, L’exploitée, 6.10.1907, Jg. 1, Nr. 6, S. 1-2. 1120  |  Ebd., S. 1-2. Dt.Ü.: »Es ist nicht mehr ausreichend bloß für die Verbesserung der ökonomischen Bedingungen des Proletariats zu kämpfen. Die Verbesserungen sind illusorisch oder zumindest vorübergehend. [...] Unsere ökonomische Knechtschaft wird so lange andauern, wie der kapitalistische Staat fortbesteht. Deswegen müssen wir in unseren Syndikaten die Grundlagen dieses Staates selbst angreifen. In den Syndikaten müssen so wichtige Fragen wie der Antimilitarismus, die Antireligion, der Generalstreik etc. behandelt werden, trotz der Regeln, die dies untersagen.« Auch wenn sie vornehmlich in Kurznachrichten vermittelt wurden, sind auch reformistische Hypergüter – z.B. beschlossene Lohnerhöhungsforderungen an Tagungen etc. – in der L’exploitée zu finden (Vgl. E., »Chez nous: La convention de la Fédération [...]«, L’exploitée, 10.11.1907, Jg. 1, Nr. 7, S. 2). Allerdings waren sie kaum prägend. Einerseits weist die marginale Platzierung in der Zeitung und der wenige Raum darauf hin, andererseits ist es die frappante Überzahl an revolutionären Hypergütern, die m.E. dahingehend interpretiert werden kann, dass letztere Orientiertung und Ausrichtung prägender war für die kollektive Identität der Gruppe der AutorInnen und LeserInnen der L’exploitée. In der gleichen Rubrik derselben Nummer, finden sich zwei Kurznachrichten, die dezidiert antikapitalistisch und an ganzheitlichen Umwälzungen interessiert sind. Vgl. Rédaction, »Chez nous: Une bonne boîte«, L’exploitée, 10.11.1907, Jg. 1, Nr. 7, S. 2, resp. ebenda Jeanne E., pailloneuse, »Chez nous: Le remède radical«, L’exploitée, 10.11.1907, Jg. 1, Nr. 7, S. 2-3. Artikel zum allgemeinen Wahlrecht für die Frauen bilden nur eine vermeintliche Ausnahme. So wurde in einem Leitartikel zum Thema zwar das Wahlrecht eingefordert. Die Absicht dahinter war allerdings nicht die Reformierung des Staates, sondern dessen Destruktion: »Nous ne considérons pas – comme le font les bourgeoises – le droit de suffrage comme un outil pour réparer l’etat vermoulu, mais comme une arme pour le détruire.« (Faas, Marguerite, »Le droit de suffrage universel«, 5.1.1908 [1907], Jg. 1 [2], Nr. 9 [1], S. 2 [Herv. i.O.]) Dt.Ü.: »Wir betrachten das Wahlrecht nicht – so wie es die bürgerlichen Frauen tun – als Mittel, um den wurmstichigen Staat zu reparieren, sondern als Waffe, um ihn zu zerstören.«

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Auch weitere klassische anarchistische Hypergüter wie Antiautoritarismus und Föderalismus wurden als Hypergüter vermittelt, ebenso die Bewahrung größtmöglicher Autonomie im Falle einer Organisation.1121 Auch wenn die Vermittlung von Hypergütern die weitaus größte Wirkungsmacht bezüglich der Konstitution der kollektiven Identität in der L’exploitée hatte. so waren auch andere Komponenten wie Framing-Prozesse produktiv. Die weitaus häufigste Demarkation vollzog die L’exploitée zwischen den ›exploiteurs‹ und der eigenen Gemeinschaft der ›producteurs‹. Damit ist oftmals zusätzlich auch die Vermittlung von Hypergütern verbunden. Identitätstheoretisch interessant zu beobachten ist, dass dieselbe Demarkation gelegentlich auch in einer widersprüchlichen Doppelrolle auftrat. Obschon die Abgrenzung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten durch ihre schiere Omnipräsenz in der L’exploitée von elementar identitätskonstituierendem Ausmaß für die Gemeinschaft erkennbar ist, trat die Unterscheidung an und für sich auch als negatives Hypergut auf. Die klare Trennlinie, die im Rahmen von Framing-Prozessen für die Schaffung von Gemeinschaft willkommen geheißen wurde und dadurch innergemeinschaftlich kittete, wurde als negatives Hypergut in ihrer Klarheit kritisiert und gehörte nach Meinung der L’exploitée abgeschafft: »Les exploiteurs ont-ils plus de mérite à posséder les richesses que les travailleurs qui les produisent? Les possèdent-ils parce que ce sont eux qui turbinent le plus: dix, onze heures par jour? Disposent-ils légitimement de leur fortune dont ils font un véritable instrument de despotisme? [...] Il n’y a plus de droits quand le corps et l’esprit ne sont pas libres; il n’y a plus de droits quand la vie n’est faite que de servitude et d’abdications; il n’y a plus d’indépendance quand on est sous l’Autorité d’un ou de plusieurs hommes.«1122

Die Fremdwahrnehmung entfaltete in der L’exploitée in der Rolle des Katalysators ebenfalls identitätskonstituierende Wirkung. Allerdings trat sie in niedriger Frequenz auf. In der Regel war es das Dementi eines Eindrucks von außen, das Anlass zu identitätskonstituierenden Verlautbarungen in Bezug auf das kollektive Selbst gab. Im Artikel »Chez nous: Avis aux femmes de ménage«1123 wurden beispielsweise zunächst Hypergüter vermittelt, um schließlich zum doppelt gemeinschaftsstiftenden Boykott derjenigen Zeitungen aufzurufen, welche die ›entstellende‹ Fremdwahrnehmung initial publizierte: »Refusez l’Abonnement de leurs journaux.«1124 Wie das ›leurs‹ anzeigt, wurden auch Framing-Prozesse angedeutet, die das ›Wir‹ von bürgerlichen Kreisen abhob. Die Kraftausdrücke, die sich im Rahmen dieser

1121 | Vgl. Faas, Marguerite, »L’organisation de la femme prolétaire en Suisse«, L’exploitée, 8.12.1907, Jg. 1, Nr. 8, S. 1-2. 1122  |  Corinne, »Aux gorges de l’esclavage«, L’exploitée, 1.6.1907, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. Dt.Ü.: »Haben die Ausbeuter mehr Verdienst daran, die Reichtümer zu besitzen, als die Arbeiter, die sie produziert haben? Besitzen sie sie, weil sie diejenigen sind, die am meisten malochen: zehn, elf Stunden pro Tag? Verfügen sie auf legitime Art über ihr Vermögen, aus dem sie ein wahres Instrument der Tyrannei machen? [...], wenn Körper und Geist unfrei sind; es gibt keine Rechte mehr, wenn das Leben einzig aus Knechtschaft und Entsagung besteht; es gibt keine Unabhängigkeit mehr, wenn man der Autorität eines oder mehrerer Männer unterworfen ist.« 1123  |  »Chez nous: Avis aux femmes de ménage«, L’exploitée, 4.8.1907, Jg. 1, Nr. 4, S. 4. 1124  |  Ebd., S. 4. Dt.Ü.: »Verweigert das Abonnement ihrer Zeitungen.«

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Distanzierungen finden, illustrieren die Emotionalisierung, welche die L’exploitée als zusätzlich kittendes identitätskonstituierendes Element anwendete.1125 Selbstbezeichnungen fielen des Öfteren geschlechterspezifisch aus, beispielsweise »femmes prolétaires«.1126 Dabei ist hervorzuheben, dass sich die Zeitung nicht an die strikte marxistische Definition des Proletariatbegriffs klammerte. Nicht der (Mit-) Besitz von Produktionsmitteln, sondern jegliche Form von Abhängigkeit und Unterdrückung wurde als Schlüsselkriterium für die Klassenzugehörigkeit verwendet: »La femme prolétaire est celle qui travaille pour le compte d’un maître quelconque. Que le maître se nomme Etat, corporation, société par actions, fabricant, patron ou mari, n’importe!«1127 Das Klassenbewusstsein wurde im selben Artikel wiederholt bestärkt: »[T]outes nos actions doivent être basées sur le principe de la lutte de classe. Cela signifie: nous, femmes prolétaires [...] n’ont rien à faire avec le mouvement de celles qui vivent du travail d’autrui.«1128 Damit wird abermals deutlich, dass sich verschiedene kollektive Identitäten in der Ausgestaltung des ›Wir‹ der L’exploitée miteinander verwoben.

4.4.13.2 Zusammenfassung Die Konstruktion kollektiver Identitäten in der L’exploitée geschah in der großen Mehrheit über die Vermittlung positiver Hypergüter. Feministische Weltdeutungen, Methoden und Ziele der und für die Gemeinschaft wurden in jeder Ausgabe in größeren und kleineren Beiträgen vermittelt. Direkte Aktionen wie Streiks oder Boykotte waren die Themen, die Anlass dazu gaben, selten auch die Fremdwahrnehmung. Neben der Überzahl positiver Hypergüter trug auch die Vermittlung negativer Hypergüter zu Konstruktion und Unterhalt kollektiver Identitäten im »Organe des femmes travaillant dans les usines, les ateliers et les ménages« bei. Selbstbezeichnungen zeigten sich ebenfalls als normativ für die kollektiven Identitäten und spielten eine zwiespältige Rolle punkto Konstitution der Gemeinschaft. Respektive eben korrekterweise der Gemeinschaften, die mit ›Wir‹ mal eine geschlechtlich getrennte, mal eine chromosomal nicht genauer differenzierte Gemeinschaft beschrieb. Daneben finden sich – seltener – auch weitere identitätskonstitutive Konstruktionenmechanismen in der L’exploitée. Namentlich FramingProzesse waren es, die durch Demarkation und Exklusion gegenüber außen eine gemeinschaftsfestigende Wirkung gegen innen zu entfalten vermochten und ihren Teil zur Skizzierung derjenigen Gruppe beitrugen, welche die L’exploitée als AutorInnen und als LeserInnen portraitierte und repräsentierte. Die Bezeichnung und Beschreibung der Gemeinschaft rund um die L’exploitée erweist sich als problematisch, da in der Zeitung verschiedene Gemeinschaften ad1125  |  Vgl. ebd., S. 4. 1126  |  Vgl. Faas, Marguerite, »L’organisation de la femme prolétaire en Suisse«, L’exploitée, 8.12.1907, Jg. 1, Nr. 8, S. 1-2, oder auch Faas, Marguerite, »Le droit de suffrage universel«, 5.1.1908 (1907), Jg. 1 (2), Nr. 9 (1), S. 1-2. 1127 | Faas, Marguerite, »L’organisation de la femme prolétaire en Suisse«, L’exploitée, 8.12. 1907, Jg. 1, Nr. 8, S. 1. Dt.Ü.: »Die proletarische Frau arbeitet für irgendeinen Meister. Es bleibt sich gleich, ob dieser Meister nun Staat, Korporation, Aktiengesellschaft, Fabrikant, Patron oder Ehemann heißt!« 1128 | Ebd., S. 2. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »[A]ll unsere Aktionen müssen auf dem Prinzip des Klassenkampfes begründen. Das bedeutet: Wir, proletarische Frauen [...] haben nichts mit der Bewegung der Frauen zu tun, die von der Arbeit anderer leben.«

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ressiert wurden und referenziell mit einem ›Wir‹ Zugehörigkeit zu ihnen signalisiert wurde. Gleichzeitig, oftmals sogar in derselben Ausgabe, war einerseits die ›proletarische Frau‹ der Nukleus der Gemeinschaft, deren kollektive Identität als anarchafeministisch avant la lettre bezeichnet werden kann. Andererseits wurde aber auch – nicht nur durch eine omnipräsente Klassenrhetorik – eine Gemeinschaft adressiert und referenziert, die als anarcho-syndikalistisch bezeichnet werden muss. Mit den späteren Ausgaben finden sich zudem vermehrt anarcho-sozialistische Ideale und Ideen in den Zeilen der L’exploitée. Diese Mehrzahl angebotener kollektiver Identitäten, die sich punkto Selbstverständnis inhaltlich durchaus auch widersprachen, koexistierten dabei reibungsfrei. Die kollektive Identität der bewegten AutorInnen und LeserInnen der L’exploitée muss also als multinukleäres, changierendes Gewebe verstanden werden, das unterschiedliche kollektive Identitäten in sich trug und repräsentierte. Da aber in allen Subidentitäten anarchistische Motive und Motivationen festzustellen sind, drängt sich die Bezeichnung der gesamthaften kollektiven Identität der L’exploitée als anarchistisch im Sinne der Bewegung als Ganzes auf, die ihrerseits ebenfalls das Schlüsselcharakteristikum der Multitude zu verbuchen wusste. Dies obwohl, und das gilt es anzumerken, der Anarchismus in der L’exploitée expressis verbis zur Selbstbezeichnung nicht vorkam. Diese mehrteilige kollektive Identität erschwert auch das Beantworten der Frage nach einer Mutation. Da sie es ständig tat, tat sie es eben auch gerade nicht, weil gerade das Changieren des ›Wir‹ Teil ihrer Definition und damit Konstanz war. Daran änderte auch die Zunahme anarcho-sozialistisch kolorierter Beiträge in den späteren Jahrgängen der L’exploitée nichts, da auch diese Positionen nirgends exklusiv positioniert wurden. Auch wenn sich gewisse Hypergüter ereignisbedingt und an Themen geknüpft häufen mochten, so verzeichnete die L’exploitée generell punkto identitätskonstituierender Artikeln weder Haussen noch Baissen, sondern verfügte über eine große Stetigkeit. Nicht zuletzt wohl deshalb, weil sie sich kaum mit anarchistischen Ereignissen aufhielt, sondern ihre identitätskonstituierenden Beiträge in der Regel am Alltag und dessen Kämpfen festmachte, von der staatlich verbrieft patriarchalen Ehe über Fragen der Geburtenkontrolle bis hin zur Gründung eines genossenschaftlichen Betriebes von und für streikende Tabakarbeiterinnen. Das überrascht nicht zuletzt deshalb, weil ein zentrales anarchistisches Ereignis in die Periode des Erscheinens der L’exploitée fällt, das direkt mit deren Chefredaktorin Margarethe Hardegger-Faas zu tun hatte.1129

4.4.14.3 Bibliografische Details (1) L’exploitée: Organe des femmes travaillant dans les usines, les ateliers et les ménages; schließlich zusätzlich: Organe officiel de la Fédération des faiseuses d’aiguilles (Jg. 1, Nr. 6-7); Organe officiel de la Fédération ouvrière des Aiguilles (Jg. 1, Nr. 8 - Jg. 2, Nr. 5-6); (2) Fédération des faiseurs d’aiguilles; (3) Marguerite Faas-Hardegger, Rue du Marché 3, Bern; (4) Bern; (5) 1.5.1907-[6]1130. 9.19081131; monatlich; 4 1129  |  Vgl. für die Kilaschitzky-Befreiung und den nachfolgenden ersten Zürcher Bombenprozess Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. 1130  |  Der 6.9.1908 war der erste Sonntag, an dem laut Angabe der L’exploitée das Blatt jeweils erschien. 1131  |  Die in dieser de facto letzten Nummer erwähnte Ausgabe Jg. 2, Nr. 7 erschien nie. Vgl. Bianco, 100 ans de presse anarchiste, L’exploitée. http://bianco.ficedl.info/spip.php?artic le960 (Stand 9.6.2011).

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Seiten, gelegentlich 6 Seiten (Jg. 1, Nr. 1 und Jg. 1, Nr. 51132); (9) CIRA Lausanne, PF 370; (10) Gedruckt wurde die L’exploitée von der Imprimerie des Unions Ouvrières in Lausanne. Die Auflage der L’exploitée war gleich groß wie die des deutschsprachigen Schwesterblatts Die Vorkämpferin und umfasste 2400 Stück.1133 Die L’exploitée scheint gut verkauft worden zu sein. Bereits in Jg. 1, Nr. 3 wurde verkündet, dass Jg. 1, Nr. 1 vergriffen war.1134 Die Typografie des Kopfes der Zeitung änderte sich nach den ersten zwei Nummern. Verschiedene Rubriken sind in der Zeitung zu finden. »Chez nous« und »En dehors« vermeldeten Geschichten aus der Schweiz respektive aus dem Ausland. Darin wurde der Alltag der arbeitstätigen und in ihren Freiheiten durch Religion oder Gesetze massiv zurückgebundenen Frauen geschildert. »Pensées« enthielt mehrheitlich ganzheitlich-philosophisch orientierte Gedankengänge, wogegen in der Rubrik »Dans les organisations« Relevantes einzelner Komitees von organisierten Arbeiterinnen verhandelt wurde. Unregelmäßig wurde die Rubrik »Boîte aux lettres de la rédaction« geführt, die weitere Informationen der Redaktion verbreitete.1135

4.4.14 Bulletin de L’École Ferrer Abbildung 24: Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1. (BGE Genf, Cc 728)

1132  |  Entgegen dem Flüchtigkeitsfehler bei Bianco, der fälschlicherweise Jg. 1, Nr. 6 als Ausgabe mit 6 Seiten angibt Vgl. Bianco, L’exploitée, 100 ans de presse anarchiste, http:// bianco.ficedl.info/spip.php?article960. (Stand 26.5.2011). 1133 |  Vgl. La Rédaction, »Aux amis et amies de l’eXPLOITÉE«, L’exploitée, 7.6.1908, Jg. 2, Nr. 2, S. 1. 1134  |  Vgl. »Dans les Organisations«, L’exploitée, 7.7.1907, Jg. 1, Nr. 3, S. 4. 1135  |  Bspw. wurde dort die Falschdatierung vom 5.1.1908 mitgeteilt. Vgl. »Boîte aux lettres de la rédaction«, L’exploitée, 2.2.1908, Jg. 1, Nr. 10 (9), S. 4.

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4.4.14.1 Relevante Er wähnungen Kollektive Identität wurde im Bulletin de L’École Ferrer vornehmlich durch Vermittlung von Hypergütern konstituiert. An erster Stelle stand die Portierung von Bildung und Erziehung als geradezu zentrale Hypergüter. So hieß es im Kopf jeder Nummer: »Après le pain, L’Éducation est le premier besoin du peuple.«1136 Andere Hypergüter wurden mit der Formulierung von Prinzipien der freien und freiheitlichen Schulen vermittelt. Dazu gehörten neben der Egalität der Geschlechter auch das bewusste Eliminieren der Kompetition sowie eine frühe Adaption an die Arbeitswelt: »[...] la coéducation des sexes; pas de devoirs à la maison; ni réligion, ni politique dans les leçons, ni morale en préceptes; ni punitions, ni récompenses [...] collaboration des gens de métier«1137. Auch die zwanglose und freie Assoziation zählte zu den primären Hypergütern der Gemeinschaft: »Toute cœrcition [sic] ne peut maintenir que le désordre; le seul ordre véritable est toujours spontané et résulte sans conteste de la libre entente pour une coopération volontairement acceptée.«1138 Neben diesen positiven Hypergütern vermittelte die Gemeinschaft auch solche negativen Zuschnitts. Gleich im ersten Artikel des Bulletin de L’École Ferrer wurde die kollektive Identität auch mittels Ziel- und Prinzipienformulierungen der Betreibergesellschaft der Schule konturiert, die auf negative Ziele, Methoden und Ideale zurückgriff, um sich zu positionieren. So wurden neben Zwang auch Partei- und Kirchenpolitik als Gründe für eine klar negativ konnotierte Folgsamkeit (›docilité‹) verstanden und dementsprechend als negative Hypergüter vermittelt.1139 Weiter geschärft wurde die Gemeinschaft des Bulletin de L’École Ferrer auch durch subidentitäre Framing-Prozesse. So wurde der anarcho-sozialistische Ansatz, die Ideale einer solidarischen Wirtschafts- und Lebensstruktur mittels Genossenschaftsgründungen Realität werden zu lassen, als konterrevolutionär abgelehnt, weil sich eine solche Praxis zu sehr am Bestehenden orientiere, das letztlich zerstört werden solle: »Nous n’avons pas grande confiance dans les éxperiences ou les œuvres pratiques, car de deux choses l’une: ou elles seront entreprises en contradiction avec tout ce qui est et se fait. Et partant les difficultés à vaincre seront trop grandes et trop nombreuses, ou elles s’adapteront au milieu et à toutes ses exigences et ne répresenteront alors qu’une pratique dont le succès ne sera dû qu’ à son caractère bourgeois. Nous savons très bien, que dans ce domaine de la vie, nous ne pouvons nous refuser à faire œuvre partielle de rénovation sous prétexte 1136  | Dt.Ü.: »Nach dem Brot ist die Bildung das erste Bedürfnis des Volkes.« Vgl. bspw. Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 1137  |  »L’École Ferrer de Lausanne«, Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »[...] die gemischgeschlechtliche Erziehung; keine Hausaufgaben; weder Religion noch Politik in den Lektionen, sowie auch keine moralischen Grundsätze; weder Bestrafungen noch Belohnungen [...] Zusammenarbeit der verschiedenen Berufe«. 1138 | Bertoni, L., »Notre école«, Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 9. Dt.Ü.: »Keine Art von Zwang kann Ordnung etablieren; wahre Ordnung entsteht immer spontan und ist unbestreitbar das Ergebnis freier Bündnisse für eine freiwillig angenommene Zusammenarbeit.« 1139  |  Vgl. »Déclaration de principes et but de L’École Ferrer«, Bulletin de l’ École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 1.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse que celle intégrale est impossible, mais certaines pratiques, celles du coopératisme tout spécialement, bien propres à developper l’esprit de lucre et de spéculation, sont absolument au rebours de la mentalité révolutionnaire, telle que nous la comprenons.«1140

Ohne sie explizit beim Namen zu nennen, war klar, dass es sich dabei um eine Kritik an den anarcho-sozialistischen Siedlungsversuchen handelte: »N’avons-nous pas vu faire, il y a quelques années, des tentatives de communisme agricole, par des colonies composées presque eclusivement de citadins, qui prétendaient régénérer la vie, la science et L’Économie rurales tout à la fois? Chacun son métier! reste une maxime toujours bonne à suivre [...].«1141

Mittels weiteren subidentitären und regulären Demarkationen zu sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen und anarcho-sozialistischen Positionen hin kristallisierte sich eine anarcho-kommunistische kollektive Identität heraus, die einzig im radikalen Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung einen Ausgangspunkt für eine neue Gesellschaft entstehen sah: »[...] ne croyons-nous pas plus au réformisme éducatif qu’au réformisme syndical, coopératif ou parlementaire. Non, condition première et essentielle de tout progrès, c’est que l’ordre cesse, ce fameux ordre ne constituant que l’acceptation de tout ce qui est, quitte à en médire plus ou moins hautement.«1142

Der Versuch der Etablierung einer eigenen Ausbildungsstruktur wurde von der Regel ausgenommen, da sie eine moralische Verpflichtung sei und als einziges sichtbaren Erfolg zu bringen verspreche.1143 1140  |  Bertoni, L., »Notre école«, Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 7. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Wir haben nicht viel Vertrauen in praktische Erfahrungen oder Werke, und das aus zwei Gründen: Entweder werden sie im Widerspruch zu allem, was ist und getan wird, unternommen. Und so werden die zu bewältigenden Schwierigkeiten zu groß und zahlreich sein; oder sie gleichen sich dem Milieu und allen Ansprüchen an und stellen also nur noch eine Praktik dar, deren Erfolg allein auf ihr bürgerliches Wesen zurückzuführen ist. Wir wissen sehr wohl, dass wir in diesem Lebensbereich nicht auf einen unvollständigen Wandel verzichten können, unter dem Vorwand, dass ein vollständiger Wandel unmöglich ist, doch einige Praktiken, insbesondere die des Kooperatismus, die vor allem die Profitgier und den Spekulationsgeist erwecken, stehen der revolutionären Mentalität, so wie wir sie verstehen, vollkommen entgegen.« 1141  |  Ebd., S. 7-8. Dt.Ü.: »Haben wir nicht in den letzten Jahren Versuche landwirtschaflichen Kommunismus gesehen, durch Kolonien die fast ausschließlich aus Städtern bestanden, die vorgaben das ländliche Leben, die Agrarwissenschaft und -wirtschaft allesamt neu erfinden zu können? Jedem sein Beruf! bleibt eine weiterhin zu befolgenden Maxime [...].« 1142  |  Ebd., S. 8. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »[...] glauben wir nicht mehr an den Reformismus in der Erziehung als an den der Syndikate, der Kooperativen oder des Parlamentarismus. Nein, die wichtigste und wesentlichste Bedingung jeglichen Fortschritts ist die Aufhebung der Ordnung, dieser berühmten Ordnung, die nur die Akzeptanz allen Bestehenden bedeutet, auch wenn man mehr oder wenig lauthals darüber schimpft.« 1143  |  Vgl. ebd., S. 8.

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Ein weiterer Mechanismus der Identitätskonstitution im Bulletin de L’École Ferrer ist die Emotionalisierung. Der aktive Miteinbezug der Arbeitswelt als zentraler Punkt in der Zielsetzung der Ferrer Schule geschah nicht zuletzt mit dem Hintergrund, das Klassenbewusstsein möglichst früh zu wecken und positiv zu besetzen. Proletarische Herkunft und Kultur wirkte nach dieser Umpolung der Begriffe – im gesamtgesellschaftlichen Diskurs wurde das Proletarische tendenziell negativ bewertet – damit auch in positiver Weise emotional produktiv für die Konstitution der kollektiven Identität und stärkte sie durch die nicht negativ konnotierte Vorstellung einer homogenen proletarischen Gemeinschaft: »Il s’agit de ne pas faire des déclassés, des êtres qui désertent leur classe, qui la renient ou qui en ont honte. Il paraît nécessaire au contraire [...] de former une classe ouvrière consciente de son rôle, fière de ce rôle, fidèle à ce rôle producteur qui forme l’essence de la civilisation et de toute rénovation sociale [...] Ce que nous cherchons à éveiller chez nos élèves, nous l’Avouons sans réticence, c’est l’Amour de leur classe, ouvrière et paysanne, le respect du travail, la fierté de bientôt être des producteurs aussi.«1144

Die chiliastische Vision einer neuen Gesellschaft von ArbeiterInnen, die bereits dem Nukleus des Guten, nämlich der oben genannten homogen proletarischen Gemeinschaft entspringe, deutet auf eine anarcho-syndikalistische kollektive Identität hin.

4.4.14.2 Zusammenfassung Da nur eine einzige Nummer des Bulletin de l’École Ferrer in die berücksichtigte Zeitspanne fällt, die Zeitschrift aber noch bis 1921 erschien, sind generalisierende Aussagen zu Konstruktion und Konstitution kollektiver Identität im und vom Blatt heikel. In der ausgewerteten Ausgabe sind drei produktive Konstitutionsmechanismen auszumachen: die Vermittlung von positiven ebenso wie von negativen Hypergütern, subidentitäre Framing-Prozesse sowie Produktion und Unterhalt von Emotionalien, also die identitätskonstituierende emotionale Neubewertung von Themen zur Stärkung kollektiver Identitäten. Kaum Einfluss zeitigten Selbstbezeichnungen, anarchistische Ereignisse oder Tageasktualitäten. Die kollektive Identität der Gemeinschaft, welche die ›Société de L’École Ferrer‹ ausmachte, kann als genuin anarchistisch bezeichnet werden. Dies nicht, weil sie sich expressis verbis darauf bezogen hätte – Anarchie-Begriffe sind an keiner Stelle zu finden im ausgewerteten Quellenmaterial. Vielmehr erscheint die Gemeinschaft, die hinter der Schule stand und sie konzeptionell trug, als pan-anarchistische Koalition, die über unterschiedliche, auch divergierende Ansichten verfügte,

1144  |  »L’École Ferrer de Lausanne«, Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 4 und S. 5. Dt.Ü.: »Es geht darum, keine Klassenlosen zu schaffen, Menschen, die aus ihrer Klasse desertieren, die diese verleugnen oder sich ihrer schämen. Es erscheint ganz im Gegenteil notwendig [...] eine Arbeiterklasse zu schaffen, die sich ihrer Rolle bewusst ist, stolz auf diese Rolle ist, ihrer Produktionsrolle treu bleibt, die das Wesen der Zivilisation und jedes sozialen Wandels bildet [...] Was wir bei unseren Schülern erwecken wollen, das geben wir vorbehaltlos zu, ist die Liebe zu ihrer Arbeiter- oder Bauernklasse, den Respekt vor der Arbeit, den Stolz bald auch selbst zu den Produzierenden zu gehören.«

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sich aber in Grundfragen wie der weitgehenden Freiheitsvorstellung, der Ablehnung von Staat und Kirche oder der Absenz von Zwang traf. Zu erkennen sind vornehmlich zwei anarchistische Denkschulen. Einerseits herrschten anarcho-syndikalistische Ideale vor, die in der Arbeiterklasse den Hort der neuen Gesellschaft orteten und jeden Schritt in die Richtung der integralen Emanzipation befürworteten. Auf der anderen Seite wurde in wesentlich konfrontativerer Weise eine anarcho-kommunistische Gemeinschaft schraffiert, die keinerlei Reformen, sondern einen radikalen Bruch anstrebte, um eine neue Gesellschaft von Grund auf neu entstehen zu lassen. Aufgrund der kurzen Beobachtungsdauer lassen sich auch zu allfälligen Mutationen, Gewichtungen oder Paradigmenwechseln der kollektiven Identität keine Aussagen machen. Aus denselben Gründen verbieten sich auch Schlussfolgerungen zu Häufungen identitätskonstituierender Beiträge.

4.4.14.3 Bibliografische Details (1) Bulletin de L’École Ferrer; (2) C.N.C.; (3) Dr. Jean Wintsch; (4) Lausanne; (5) 4.1913-5.1921; unregelmäßig (Jg. 1, Nr. 1, 4.1913; Jg. 6, Nr. 27, 6.1920, Jg. 7, Nr. 28, 3.1921, Doppelnr. Jg. 7, Nr. 29-30, 5.1921), beziehungsweise 10 Ausgaben pro Jahr (Jg. 1, Nr. 1 9.1916 - Jg. 5, Nr. 26, 10.1919); 4-20 Seiten, in der Regel 8 oder 16 Seiten; (9) Bibliothèque de Genève, Genf; Cc 728; (10) Gedruckt wurde das Bulletin von der ›Imprimerie de l’union Ouvrière‹, über die Auflage sind keine Angaben zu finden. Die Finanzierung der Zeitschrift bleibt ebenfalls unklar. Obschon das Bulletin de L’École Ferrer abonniert werden konnte1145, ist anzunehmen, dass die Druckkosten dem Schulbudget entnommen wurden, das bei CHF 3000,- pro Jahr zu stehen kam1146 und über Schulgeld und Spenden finanziert wurde.1147 Die Schule befand sich in der Rue Madeleine 16 in Lausanne.

4.5 Z usammenfassung fr anzösischspr achiger anarchistischer Z eitungen Die 14 französischsprachigen anarchistischen Zeitungen, die in der Betrachtungsperiode in der Schweiz erschienen sind, bieten ein vielfältiges Bild im Hinblick auf Konstruktion und Gestalt anarchistischer kollektiver Identitäten. Verfügen die zuweilen über mehrere Jahre hinweg, zuweilen lediglich wenige Monate lang erschienenen Blätter über Gemeinsamkeiten, so manifestieren sich in beiden Bereichen auch durchaus widersprüchliche Unterschiede. In der Konstruktion der kollektiven Identität nahm die Vermittlung von positiven wie negativen Hypergütern eine wichtige Rolle ein. Unter den in den verschiedenen Titeln vertretenen und angebotenen Idealen, Methoden und Aspirationen ist ein gemeinsamer Stock zu finden, der über alle Subströmungen hinweg von einer großen Mehrheit geteilt wurde. Die Solidarität, beispielsweise, zählte in al1145  |  Vgl. École Ferrer, »Avis«, Bulletin de L’École Ferrer, 10.1916, Jg. 2, Nr. 1, S. 1. 1146 | Vgl. La Commission administrative de la Société de L’École Ferrer, »A tous ceux qui...«, Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 10. 1147  |  Vgl. »On peut aider à L’École Ferrer«, Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 16.

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len Gemeinschaften als Schlüsselwert einer gerechten Gesellschaft und wurde dementsprechend häufig vermittelt. So auch in der La Critique Sociale, wo sie als Gegenpol zum als destruktiv verstandenen Privateigentum positioniert wurde: »Nous sentons le besoin de laisser se developper largement en nous L’Ésprit de solidarité, la nature nous y pousse.« 1148 Ebenfalls zu den anarchistischen Kernhypergütern gehörte die individuelle Freiheit, die Abschaffung jeglicher Privilegien oder die Erodierung des Privateigentums. Der Le Révolté forderte beispielsweise »[...] rien moins, ô candeur! que la libérté complète de l’individu, la suppression conséquente de tous les privilèges, la transformation de la propriété particulière en propriété commune à tous les individus [...]«1149. In der L’Avenir wurde das Privateigentum ebenso als negatives Hypergut vermittelt und darüber hinaus in Verbindung gesetzt mit einem antipolitischen, gegen jegliche Machtform gerichteten Standpunkt: »Nous le disons carrément, nous sommes des adversaires convaincus de la politique, du gouvernement qui l’A instituée, qu’il soit autocratique, monarchique, républicain ou socialiste [...]. Ennemis du gouvernement, nous le sommes aussi du monstrueux privilège qui s’abrite sous son aile: le capital, incarné dans la propriété.«1150

Als spezifische Form des Eigentums findet sich auch das Geld als negatives Hypergut wieder in der L’Avenir: »Rien n’a, comme l’Argent, suscité parmi les hommes de mauvaises lois et de mauvaises mœurs [...]. L’Argent déclare la guerre à tout le genre humain.«1151 Im Zusammenhang der Negierung von Macht per se trug auch der Militarismus, der als deren machterhaltende Stütze verstanden wurde, als negatives Hypergut zur Ausarbeitung kollektiver Identität bei. Im L’Almanach du Travailleur wurde beispielsweise nichts weniger als die Abschaffung des Militärs postuliert: »L’Armée étant l’une des principales entraves à leur émancipation, les travailleurs doivent incessament poursuivre sa suppression.«1152 Das Prinzip der Autorität als solches war ein weiteres integrales negatives Hypergut, von dem alle betrachteten 1148 | »Besoins et Aspirations«, La Critique Sociale, 16.6.1888, Jg. 1, Nr. 2, S. 4. Dt.Ü.: »Wir verspüren das Bedürfnis, dass der Geist der Solidarität sich in uns entwickeln und entfalten kann, die Natur drängt uns dazu.« 1149 | »Notre Propagande«, Le Révolté, 14.3.1885, Jg. 7, Nr. 2, S. 1. Dt.Ü.: »[...] nichts weniger, ach so schlicht!, als die vollkommene Freiheit des Individuums, die konsequente Abschaffung aller Privilegien, die Verwandlung des Privateigentums in Gemeinschaftseigentum aller Individuen [...]«. 1150 | »Quelques Mots«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Wir sagen es geradeheraus, wir sind überzeugte Gegner der Politik, der Regierung, die sie eingeführt hat, sei sie autokratisch, monarchisch, republikanisch oder sozialistisch [...]. Als Feinde der Regierung sind wir auch Feinde des ungeheuerlichen Privilegs, dem sie als Deckung gilt: des Kapitals, das durch das Eigentum verkörpert wird.« 1151 | »Glanes: Rien«, L’Avenir, 8.10.1893, Jg. 1, Nr. 1, S. 4. Dt.Ü.: »Nichts anderes als Geld hat unter den Menschen so üble Gesetze und so üble Sitten hervorgerufen [...]. Das Geld erklärt dem gesamten Menschengeschlecht den Krieg.« 1152  |  »Déclarations des principes«, L’Almanach du Travailleurs, 1910, Jg. 2, S. 2. Dt.Ü.: »Da die Armee eines der wichtigsten Hindernisse zu ihrer Emanzipation darstellt, müssen die Arbeiter ohne Unterlass auf ihre Vernichtung hinarbeiten.«

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Zeitungen Abstand nahmen. Gerade auch in der Selbstorganisation sollte jegliche Autorität vermieden werden, wie es beispielsweise in der La Voix du Peuple hieß: »A la conception autoritaire, opposons la conception libertaire. Elle seule est logique, parce qu’elle fait des convaincus, non des opprimés.«1153 In diesem Zusammenhang wirkten die Hypergüter der freien Assoziation und des Föderalismus ergänzend, die eine anarchistische Gegenstruktur zur hierarchischen Organisation und Gliederung von Gemeinschaften bildeten. In der L’Émancipation beispielsweise wurden sie folgendermaßen vermittelt: »[C]’est seulement par l’Association d’unités locales, réelles et vivantes qu’on arrive à un ensemble vital et puissant. C’est d’en bas que doit venir la force, que doit monter la sève pour se répandre dans l’organisme fédératif afin d’y apporter vie et mouvement.«1154 Staat und Patriotismus fungierten als übergreifende negative Hypergüter, die, beispielsweise in der L’action Anarchiste, zusammen mit der Religion zu einem eng verwobenen dreibeinigen Negativum geschrieben wurden: »[L]a religion de la Patrie, la plus féroce, la plus intolérante, la plus ridicule de toutes, auprès de laquelle les autres ne sont que peu de chose, actuellement. L’etat le sait bien: le peuple abruti n’est pas devenu antireligieux; il a changé de religion, il est devenu patriote. [...] Cette Religion-Patrie, c’est l’etat lui-même; ces deux mots, ces deux choses sont indissolublement liés [...].«1155

Schließlich hieß es: »C’est le patriotisme qui a maintenu l’etat. C’est l’Antipatriotisme qui le tuera. Et nous, antimilitaristes et anarchistes, les vrais sans Dieu, les vrais penseurs libres, nous mènerons à bonne fin cette tâche.«1156 Der Antiparlamentarismus war ein weiteres Hypergut, das in französischsprachigen anarchistischen Zeitungen der Jahrhundertwende geradezu ubiquitär vermittelt wurde. Die La Voix du Peuple etwa hielt klar distinguierend fest: »Le socialisme politique est

1153 | Peinard, Père, »Le syndicat obligatoire«, La Voix du Peuple, 28.7.1906, Jg. 1, Nr. 29, S. 4. Dt.Ü.: »Der autoritären Sicht stellen wir die libertäre Sicht entgegen. Sie allein ist logisch, denn sie schafft Überzeugte statt Unterdrückte.« 1154  |  Steinegger, C., »Les congrès de Berne«, L’Émancipation, 1.5.1902, Jg. 1, Nr. 1, S. 2 (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »[N]ur durch einen Verbund tatsächlicher und lebendiger lokaler Einheiten schaffen wir ein vitales und starkes Ganzes. Von unten muss die Kraft kommen, muss der Saft emporsteigen und sich im gesamten föderativen Organismus ausbreiten, um dort Leben und Bewegung hinzubringen.« 1155  |  Oivrony, »Le dogme patriotique«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1-2. Dt.Ü.: »Die Religion des Vaterlandes ist die unbarmherzigste, die intoleranteste, die lächerlichste von allen, neben der alle anderen derzeit nicht viel bedeuten. Der Staat weiß nur zu gut: Das verdummte Volk ist nicht anitreligiös geworden; es hat die Religion gewechselt, es ist zum Patrioten geworden. [...] Diese Vaterlandsreligion ist der Staat selbst, diese zwei Worte, diese zwei Sachen sind untrennbar vereint [...].« 1156  |  Oivrony, »Le dogme patriotique«, L’action Anarchiste, 21.4.1906, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. Dt.Ü.: »Der Patriotismus erhält den Staat aufrecht. Der Antipatriotismus wird ihn zerstören. Und wir, Antimilitaristen und Anarchisten, die wahren ohne Gott, die wirklichen Freidenker, wir werden diese Aufgabe zu Ende bringen.«

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une chose; le socialisme ouvrier en est une autre. Distinction capitale [...].«1157 Im Gegensatz zur im Parlamentarismus vorherrschenden Delegiertenkultur, wurde eine umfassende Selbstermächtigung angestrebt. Die angesteuerte soziale Revolution sollte nicht von obenherab befehligt werden, sondern aus den eigenen Reihen entstehen. In der L’exploitée hieß es mit Fokus auf Anarchistinnen: »Vous avez des besoin de femmes libres, vous avez besoin d’indépendance, de bien-être, de loisirs. Pour obtenir tout cela, ne comptez ni sur la charité, ni sur les patrons, ni sur les hommes, ni même sur le ciel, ne comptez que sur vous-même et agissez!«1158 Nicht zuletzt wurde dieses Prinzip auch auf die Medien- und Meinungsproduktion und dementsprechend auch auf den Bewegungsinhalt selbst angewendet, wie in sehr vielen Titeln, exemplarisch auch im L’Égalitaire zu sehen ist: »Les colonnes de L’Égalitaire sont ouvertes à nos lecteurs pour tout ce qui concerne le mouvement révolutionnaire.«1159 Die Repression als manifeste Form der Staatsgewalt erfüllte eine wichtige Funktion in der Etablierung und dem Unterhalt anarchistischer kollektiver Identitäten, die sich in den französischsprachigen Zeitung abzeichnen. Im Subtext wurde Repression als negatives Hypergut vermittelt, in den Zeilen wurde sie indes als Beschleunigungs- und damit als Motivationsfaktor interpretiert. Geradezu exemplarisch wurde die Repression im Le Réveil umgedeutet: »Même si tous ceux qui manifestent leurs idées libertaires étaient supprimés, l’Avènement de l’Anarchisme ne serait que retardé, la force des choses ferait surgir d’autres combattants. Le progrès de la misère combiné avec le progrès intellectuel ne peur mener qu’à un seul et unique résultat: l’Anarchisme.«1160

Neben solchen ausdifferenziert und separiert vermittelten Hypergütern finden sich oft auch eigentliche Hypergüterkaskaden. Darin wurden unterschiedliche Hypergüter in meist kausale Relation gestellt und in der Gesamtheit als positiv oder negativ bewertet. So wurden sie gemeinschaftsstützend als gemeinschaftseigen oder eben -fremd beurteilt. Der Le Réveil etwa ließ kaskadierend verlauten:

1157  |  Dunois, Amédée, »Le socialisme ouvrier«, La Voix du Peuple, 23.1.1909, Jg. 4, Nr. 1, S. 2. Dt.Ü.: »Der politische Sozialismus ist eine Sache, der Arbeitersozialismus ist eine andere. Die Unterscheidung ist wesentlich [...].« 1158  |  Une ouvrière, »Chez nous: Ouvriers et ouvrières d’Yverdon«, L’exploitée, 1.6.1907, Jg. 1, Nr. 2, S. 3. Dt.Ü.: »Ihr habt Bedürfnisse freier Frauen, ihr braucht Unabhängigkeit, Wohlbefinden, freie Zeit. Um all das zu bekommen, zählt weder auf die Wohltätigen, noch auf die Patrons, noch auf die Männer und noch weniger auf den Himmel, zählt allein auf euch selbst und handelt!« 1159 | »Échos socialiste«, L’Égalitaire, 30.5.1885, Jg. 1, Nr. 1, S. 5. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Die Spalten des L’Égalitaire stehen unseren Lesern offen für alles, was die revolutionäre Bewegung betrifft.« 1160  |  Germinal, »La lutte contre l’Anarchisme«, Le Réveil, 18.1.1902, Jg. 3, Nr. 41, S. 2. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Selbst wenn alle, die ihre libertären Ideen kundtun, ausgelöscht würden, wäre der kommende Anarchismus nur hinausgezögert, es würden zwangsläufig neue Kämpfer auftauchen. Das fortschreitende Elend kombiniert mit dem intellektuellen Fortschritt kann nur zu einem einzigen Ergebnis führen: dem Anarchismus.«

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse »Nous voulons l’Abolition de la propriété individuelle pour la socialisation des moyens de production; l’Abolition de l’etat pour la liberté de tous les hommes [...] Nous voulons L’Éducation, l’organisation économique, l’action directe du peuple contre l’ignorance, l’exploitation, l’Autorité; de bas en haut, que la société s’élève contre l’etat. Nous devenons prôner ces idées; nous pourrons exercer cette action [...].«1161

In Verbindung mit der Vermittlung geschlechtlicher Gleichheit und Gerechtigkeit als positive Hypergüter finden sich auch in der L’exploitée derartige Kaskadierungen: »[N]ous voulons nous affranchir de la domination maritale pour ne plus rester que L’Épouse aimante, la digne compagne, la libre mère; nous voulons nous libérer des préjugés sociaux [...]. Avec notre frère et notre compagnon, l’homme, nous voulons combattre les injustices sociales, supprimer la misère, briser les entraves à la liberté. Aux rangs des combattants nous sommes, aux rangs des insurgés nous serons! [...] Nous voulons une société meilleure, nous travaillons aux Temps Nouveaux, nous combattons pour la liberté de tous, partout.«1162

Methoden, wie die oben genannten anarchistischen Ziele und Ideale zu erreichen seien, finden sich titel- und strömungsspezifisch unterschiedliche. Die freie Bildung findet sich allerdings in den allermeisten vermittelten und repräsentierten kollektiven Identitäten wieder. Im L’Almanach du Travailleur beispielsweise hieß es anarcho-syndikalistisch untermauert: »[L]’émancipation prolétarienne ne peut être que l’œuvre directe et consciente de la classe ouvrière elle-même, de sa volonté de s’instruire et de savoir [...]. [E]ssayons également de les faire entrer dans les cerveaux des enfants et des adolescents.«1163 Der hohe Stellenwert freier Bildung für die anarchistische kollektive Identität wird in der breiten Streuung über fast alle Titel hinweg deutlich und spiegelt sich trefflich in der Titelzeile des Bulletin de L’École Ferrer: »Après le pain, L’Éducation

1161 | Quiconque, »Organisons-nous«, Le Réveil, 21.7.1900, Jg. 1, Nr. 2, S. 1. Dt.Ü.: »Wir fordern die Abschaffung des individuellen Eigentums, zur Vergemeinschaftung der Produktionsmittel; die Abschaffung des Staates, zur Befreiung aller Menschen [...] Wir fordern Bildung, wirtschaftliche Organisation, direkte Aktionen des Volkes, anstelle von Unwissen, Ausbeutung, Autorität; von unten nach oben, die Gesellschaft muss sich gegen den Staat erheben. Wir müssen diese Ideen preisen; wir werden diese Aktionen ausführen [...].« 1162 | Corinne, »La femme et la société«, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »[W]ir wollen uns von der Herrschaft der Ehe befreien, um nichts weiter als die liebende Gattin, die würdige Gefährtin, die freie Mutter zu bleiben; wir wollen uns von den gesellschaftlichen Vorurteilen frei machen [...]. Mit unserem Bruder und Gefährten, dem Mann, wollen wir die soziale Ungerechtigkeit bekämpfen, das Elend auslöschen, die Fesseln unsrer Freiheit aufbrechen. In den Rängen der Kämpfer stehen wir, in den Rängen der Aufständigen werden wir sein! [...] Wir wollen eine bessere Gesellschaft, arbeiten wir für die Neuen Zeiten, wir kämpfen für die Freiheit aller, überall.« 1163  |  »Vive L’École moderne!«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 79. Dt.Ü.: »Die proletarische Emanzipation kann nur das direkte und bewusste Werk der Arbeiterklasse selbst sein, ihres Willens sich zu bilden und Wissen anzueignen [...]. Das müssen wir auch in die Köpfe der Kinder und Jugendlichen einpflanzen.«

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est le premier besoin du peuple.«1164 In der La Critique Sociale etwa wurden Wissen und Wissenschaft gar als Bedingung für eine umfassende Emanzipation der Menschheit positioniert: »[S]i nous devenions plus conscients, si nous avions connaissance des lois naturelles, les plats et vils politiciens ne pourront plus nous endormir avec leurs discours, les noirs prêtres et imposteurs [...].«1165 Neben dem übergreifenden positiven Hypergut der freien Bildung finden sich subströmungsabhängige Häufungen von Methoden, die unter dem gemeinsamen Nenner Direkte Aktionen zusammengefasst werden. Dazu gehörte eine frühe Form des politischen Konsums, der hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, in der Form des Boykotts propagiert und betrieben wurde. Im Falle des Le Boycotteur stellte der Boykott – wie der Name schon zu erkennen gibt – nichts weniger als die Raison d’Être dar. Er erklärte: »[L]e boycottage était licite. [...] On nous conteste de l’exercice d’un droit constitutionnel, nous nous défendons, rien de plus juste. [...] Pour l’ouvrier le boycottage est une arme puissante et redoubtable dont il ne se sert que pour la défense d’un principe, pour revendiquer un droit qu’on lui conteste ou encore pour sauvegarder des libertés péniblement acquises et qu’on voudrait lui ravir.«1166

Weitere Formen des politischen Konsums stellten Kaufempfehlungen dar, welche Solidarität mit bewusstem Konsum verquickten, statt nur mit Konsumverzicht. In der L’exploitée wurden die beiden Elemente am Beispiel Tabakkonsum verquickt. Über den bestreikten Tabakproduzenten Vautier wurde der Boykott verhängt, während gleichzeitig nach einer selbstbestimmten, genossenschaftlich aufgebauten Ersatzlösung gesucht wurde: »[C]e n’est pas assez d’avoir mis à l’index les cigares Vautier; nous devons encore nous efforcer d’obtenir qu’à la place des cigares Vautier, on achète et on fume d’autres cigares qui auront été fabriqués directement par les ouvrières en grève. Nous devons donc [...] arriver à produire des cigares au moyen d’une coopérative de production.«1167 1164 | Dt.Ü.: »Nach dem Brot ist die Bildung das erste Bedürfnis des Volkes.« Vgl. bspw. Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 1165  |  »Guerre aux préjugés«, La Critique Sociale, 7.7.1888, Jg. 1, Nr. 3, S. 3-4. Dt.Ü.: »[W] enn wir ein größeres Bewusstsein erreichten, wenn wir Kenntnis über die Naturgesetze erlangten, dann könnten die geistlosen und schändlichen Politiker uns nicht mehr mit ihren Reden einschläfern, die schwarzen Priester und Betrüger [...].« 1166  |  »Le boycottage est-il licite?«, Le Boycotteur, 15.8.1910, Jg. 1, Nr. 3, S. 1. Dt.Ü.: »[D] er Boykott war zulässig. [...] Uns wird die Ausübung eines verfassungsgemäßen Rechtes aberkannt, wir verteidigen uns, nichts weiter. [...] Für den Arbeiter ist der Boykott eine mächtige und gefürchtete Waffe, derer er sich bloß zur Verteidigung eines Grundsatzes bedient, um ein Recht einzufordern, das ihm aberkannt wird, oder aber um mühsam erkämpfte Freiheiten zu bewahren, die man ihm entreißen will.« 1167  |  »Un rêve à réaliser«, L’exploitée, 15.9.1907, Jg. 1, Nr. 5, S. 1-2. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Es reicht nicht, die Zigarren Vautier auf den Index gesetzt zu haben, wir müssen uns noch darum bemühen, dass anstatt der Zigarren Vautier, andere Zigarren gekauft und geraucht werden, die direkt von den streikenden Arbeiterinnen hergestellt wurden. Wir müssen es also [...] schaffen, mithilfe einer Produktionskooperative Zigarren herzustellen.«

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Der Streik wurde häufig in Absetzung zum politisch-parlamentarischen Weg als einzig gangbare Methode zum Ziel einer gerechten Gesellschaft erklärt, besonders in anarcho-syndikalistisch orientierten Zeitungen. Lapidar lautete es dazu beispielsweise in der frühen La Voix du Peuple: »En réalité, un mouvement n’est possible qu’en cas de grève, et c’est celle-ci que craignent les chefs.«1168 Auch der L’Almanach Du Travailleur vermittelte den enteignenden Streik als zentralen Hebel: »La grève reste la forme la plus logique de la révolte populaire. Le pouvoir du maître est fait essentiellement du travail des esclaves; si ce dernier lui manque, il n’a plus du maître que le nom.«1169 Neben diesen, gewissermaßen als anarchistischer Kanon zu bezeichnenden Hypergütern, finden sich auch Ziele und Methoden, die nicht von allen Titeln und Subströmungen geteilt wurden. Der Abstentionismus, also das Nichtwählen und Nichtabstimmen als Ausdruck der Kooperationsabstinenz mit dem demokratischen System etwa findet sich wiederholt als Hypergut. Der Le Réveil etwa vermittelte es folgendermaßen: »Travailleurs, éloignez-vous des urnes, cet emblème ridicule de la prétendue souverainité populaire [...]. Votre refus sera le premier pas vers votre émancipation totale.«1170 Auch der (permanente) Aufstand wurde als Methode nicht von der Mehrheit der Titel empfohlen. Die L’action Anarchiste etwa hielt fest: »Nous devons servir de rempart à la liberté. La folie homicide des gouvernants et des capitalistes, ne sera réfrénée que par l’insurrection générale des travailleurs. Répétons-le toujours et sans cesse.«1171 Ebenfalls zu den nur von Teilen der Bewegung vermittelten Methoden gehörte das Gutheißen des Ergreifens von Sprengstoffen zur Propaganda der Tat, das in knapp 30% der Titel zu finden ist. Verhältnismäßig verklausuliert ließ der Le Révolté diesbezüglich seine Befürwortung der Methode im Kontext des angeblich geplanten Sprengstoffanschlags auf das Bundeshaus in Bern verlauten:

1168  |  Ermes, »L’action parlementaire et les bourgeois«, La Voix du Peuple, 5.5.1906, Jg. 1, Nr. 17, S. 3. Dt.Ü.: »In Wirklichkeit ist eine Bewegung nur im Falle eines Streiks möglich und es ist Letzterer, den die Chefs fürchten.« 1169 | Bertoni, L., »La Grève Générale Expropriatrice«, L’Almanach du Travailleur, 1910, Jg. 2, S. 22. Dt.Ü.: »Der Streik bleibt die schlüssigste Form des Volksaufstands. Die Macht des Herren besteht im Wesentlichen aus der Arbeit der Sklaven; wenn diese ihm abhanden kommt, trägt er vom Herren nur noch den Namen.« 1170 | Groupe du Réveil socialiste-anarchiste, Le Réveil, 9.11.1901, Jg. 2, Nr. 23, S. 1. (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Arbeiter, haltet euch von den Wahlurnen fern, diesem lachhaften Symbol für die vorgegebene Volkssouveränität. [...] Eure Verweigerung ist der erste Schritt zur vollständigen Emanzipation.« 1171 | L’action Anarchiste, »À Tous«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »Wir müssen der Freiheit als Schutzwall dienen. Dem mörderischen Wahnsinn der Regierenden und der Kapitalisten kann nur durch einen allgemeinen Arbeiteraufstand Einhalt geboten werden. Das muss wieder und wieder gesagt werden.«

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen Alors il [le peuple suisse, d.V.] comprendra que pour combattre l’ennemi on n’a pas le choix des moyens; il saura que les bourgeois, non pas dans un but d’émancipation, mais pour le lucre et la jouissance, n’ont jamais hésité à sacrifier cent innocents; il n’hésitera plus à adopter leur tactique qui se résume en ce proverbe: ›On ne fait pas d’omelette sans casser des œufs‹.«1172

Expliziter wurde die L’action Anarchiste, die von der Zeit der Propaganda der Tat auf der Titelseite der ersten Nummer als einer »[...] époque héroïque des soulèvements et des ›tyrannicides‹« sprach und empfahl: »Retenons bien l’exemple d’abnégation et de courage donné, autour du changement du siècle, par cette poignée de martyrs aujourd’hui trop méconnus, demain acclamés.«1173 Der L’Égalitaire setzte die Propaganda der Tat mit der theoretischen Propaganda gleich und rief in expliziten Aufforderung zur Ergreifung aller Mittel auf: »[E]mploie n’importe quelles armes, mais venge-toi sans plus attendre! [...] Allons, ouvrier! Lève-toi! [...] Tue, vole, assassine, jusqu’à ce qu’il ne reste plus de pierre du vieil édifice social élevé par la bourgeoisie, vive l’Anarchie!«1174 Framing-Prozesse gegenüber außenstehenden Gruppen und politischen Richtungen stellten den zweiten enorm produktiven Identitätskonstitutionskomponenten in der französischsprachigen anarchistischen Presse der Schweiz 1885-1914 dar. Sie kamen in allen Titeln zur Anwendung. Prominent vertreten als Gruppierung, von der sich das ›Wir‹ abschloss, war die Sozialdemokratie, die immer wieder an die Bourgeoisie herangerückt wurde. Sie übernahm eine Schlüsselrolle in der Findung und Firmierung des anarchistischen ›Wir‹. Stellvertretend demarkierte sich beispielsweise das kollektive Selbst der La Voix du Peuple gegenüber dem parlamentarischen Flügel der Arbeiterbewegung:

1172 | »Suisse: Berne«, Le Révolté, 1.3.1885, Jg. 7, Nr. 1, S. 4. Dt.Ü.: »Dann wird es verstehen, dass man keine Wahl hat, mit welchen Mitteln man den Feind bekämpfen kann; es wird sehen, dass die Bourgeois nie gezögert haben, hundert Unschuldige zu opfern, nicht etwa für ein emanzipatorisches Ziel, sondern für ihren Profit und ihr Vergnügen; es wird nicht mehr zögern, ihre Taktik zu übernehmen, die dieses Sprichwort zusammenfasst: ›Wo gehobelt wird, da fallen Späne.‹« 1173  |  Truan, H., »Les anarchistes«, L’action Anarchiste, 14.4.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. Dt.Ü.: »[...] die heldenhafte Zeit der Aufstände und der ›Tyrannenmorde‹ [...] Wir sollten uns das Beispiel an Opferbereitschaft und Tapferkeit gut merken, das uns eine handvoll Märtyrer um die Jahrhundertwende gegeben hat, die heute viel zu wenig bekannt sind, doch morgen gefeiert werden!« 1174 | »Aux despotes«, L’Égalitaire, 8.8.1885, Jg. 1, Nr. 6, S. 3. Dt.Ü.: »[G]anz gleich welche Waffe du gebrauchst, aber räche dich ohne noch weiter zu warten! [...] Los, Arbeiter! Steh auf! [...] Töte, stehle, morde, bis dass kein einziger Stein des alten sozialen Gefüges mehr steht, das die Bourgeoisie geschaffen hat, es lebe die Anarchie!«

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse »Ils [die Sozialdemokraten, d.V.] se font exploiteurs et patrons pour abolir le patronat et l’exploitation de l’homme par l’homme; ils conquièrent les pouvoirs publics pour les abolir; ils sont patriotards et militaristes pour abolir l’Armée; croyez bien que s’ils pouvaient se faire curés pour abolir la religion, ils étaient ... évêques. Tout, dans leurs paroles et dans leurs actes, n’est que contradictions.«1175

Neben und teilweise auch mit der Sozialdemokratie wurde auch das autoritäre Gewerkschaftswesen genutzt, um sich in abgrenzender Geste als Gemeinschaft mit eigenen, anderen Werten zu etablieren und zu stärken. So geschah in der La Critique Sociale beispielsweise eine verknüpfte Demarkation: »Comme les vieux bourgeois dans l’interêt de leur capital, ceux-ci [SozialdemokratInnen und GewerkschafterInnen, d.V.] dans l’interêt de leur prétendue science, ne font autre chose que de s’efforcer de retenir l’humanité dans son état actuel de convulsion. Ils craignent la révolution populaire qui viendra les démontir, et s’efforcent anxieusement d’en eloinger la date. [...] Prenons donc garde, ouvriers, ce sont là nos plus dangereux ennemis.« 1176

Daneben finden sich in allen Titeln auch Beispiele für Abgrenzungen gegenüber bürgerlichen und religiösen Parteien- oder Glaubensgemeinschaften sowie der ›classe politique‹ im Allgemeinen in titelspezifisch unterschiedlicher Gewichtung. Knapp in der Hälfte der ausgewerteten Titel können darüber hinaus subidentitäre Framing-Prozesse zur Identitätskonstitution ausgemacht werden. Die Binnendemarkationen gegenüber anarchistischen Strömungen zur Festigung der eigenen Gemeinschaft wurde von den Titeln La Critique Social, Le Réveil, L’Émancipation, L’action Anarchiste, La Voix du Peuple und dem Bulletin de L’École Ferrer genutzt. Sowohl die Form – namentliches Anklagen einer Strömung vs. inhaltliche Kritik ohne explizite Nennung der Strömung – als auch die Ausrichtungen der subidentitären Framing-Prozesse divergierten dabei je nach Titel. Der anarchokommunistisch orientierte Le Réveil etwa, formierte sich unter anderem durch die zunehmend intensive Abgrenzung gegen anarcho-syndikalistische Positionen: »Nos camarades syndicalistes ne sont pour la plupart que des révolutionnaires à arrière-pensée réformiste, ce qui n’est pas pour nous étonner, mais il en est de 1175  |  W., »Dans les organisations: Les politiciens à Vevey«, La Voix du Peuple, 3.2.1906, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. Dt.Ü.: »Sie werden selbst zu Ausbeutern und Unternehmern, um das Unternehmertum und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abzuschaffen; sie ergreifen die Staatsgewalt, um sie abzuschaffen; sie werden zu den schlimmsten Patrioten und Militaristen, um die Armee abzuschaffen; ihr könnt gern glauben, wenn sie Pfaffen werden könnten, um die Religion abzuschaffen, dann wären sie längst... Bischöfe. Ihre ganzen Worte und Handlungen sind nichts als Widersprüche.« 1176 | »Lentement!«, La Critique Sociale, 11.8.1888, Jg. 1, Nr. 5, S. 1. Dt.Ü.: »Ganz so wie die alten Bourgeois im Interesse ihres Kapitals, tun diese im Interesse ihrer angeblichen Wissenschaft nichts anderes, als die Menschheit in ihrem aktuellen Krampfzustand zu halten. Sie fürchten die Volksrevolution, die sie absetzen wird, und bemühen sich ängstlich, sie immer weiter hinauszuschieben. [...] Lasst uns achtgeben, Arbeiter, dies sind unsere gefährlichsten Feinde.«

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même aussi pour quelques anarchistes, et c’est de leur part une grande erreur.«1177 In einem späteren Artikel des Le Réveil wurde Anarcho-SyndikalistInnen mit der Bezeichnung als »soi-disant anarchistes«1178 eine Identität als AnarchistInnen implizit abgesprochen. Das Bulletin de L’École Ferrer seinerseits wandte sich gegen das zentrale Distinktionsmerkmal anarcho-sozialistischer Inhalte, nämlich den praktischen Umsetzungen revolutionärer Ideen im hier und jetzt. In Absetzung von den anarcho-sozialistisch beworbenen Siedlungsversuchen hieß es: »N’avons-nous pas vu faire, il y a quelques années, des tentatives de communisme agricole, par des colonies composées presque exclusivement de citadins, qui prétendaient régénérer la vie, la science et L’Économie rurales tout à la fois? Chacun son métier! reste une maxime toujours nonne à suivre [...].«1179

Subidentitäre Framing-Prozesse konnten in ihrer Ausrichtung und Intensität persistent bleiben. Sie konnten sich aber auch innerhalb eines Titels verändern. Im Falle der La Voix du Peuple ging das so weit, dass sich die in den 1900er und 1910er Jahren konkurrierenden Strömungen des Anarcho-Syndikalismus und des Anarcho-Kommunismus sogar abwechselten in ihren Rollen als kollektive Identitätsstifter respektive als Demarkationspunkt: War die kollektive Identität der Lausanner Zeitung La Voix du Peuple in den ersten Jahrgängen anarcho-syndikalistisch geprägt und grenzte sich vermittels subidentitären Framing-Prozessen gegenüber anarcho-kommunistischen Positionen ab, wendete sich diese Ausgangslage mit der Verlagerung der Redaktion nach Genf ab 1911 ins Gegenteil. Einen anderen Weg mit der subidentitären Pluralität umzugehen findet sich in den Titeln L’Almanach du Travailleur, Bulletin de L’École Ferrer und L’exploitée. Darin fanden sowohl anarcho-kommunistische als auch anarcho-syndikalistische, respektive anarcho-syndikalistische als auch anarcho-sozialistische Positionen Platz. In übergeordnetem pananarchistischen Sinne geben diese Titel damit ein ganzheitlicheres Abbild der Bewegung, die stets über verschiedene Flügel verfügte. Zu den Identitätskonstitutionskomponenten, die nur bei einem Teil der Gemeinschaften produktiv waren, sind die Schaffung und der Unterhalt von Traditionalismen zu zählen. In der Mehrheit der Fälle verliefen diese identitätspolitisch begründeten Versuche zur Etablierung einer kollektiven Kommemoration auf intellektueller Ebene. Zu beobachten ist dies beispielsweise in der La Voix du Peuple, die Forderungen der Gemeinschaft als Deckungsgleich mit den Forderungen früherer Bewegungen inszenierte und damit ein Narrativ begründete, das die eigene 1177 | L.B., »Soyons révolutionnaires«, Le Réveil, 17.4.1909, Jg. 9, Nr. 253, S. 1. Dt.Ü.: »Unsere gewerkschaftlichen Genossen sind zum größten Teil nur Revolutionäre mit reformistischen Hintergedanken, was uns nicht weiter erstaunt, aber das Gleiche gilt für einige Anarchisten, und sie begehen da einen großen Fehler.« 1178 | L.B., »Propagande contre-révolutionnaire«, Le Réveil, 18.1.1913, Jg. 14, Nr. 350, S.1. 1179 | Bertoni, L., »Notre école«, Bulletin de L’École Ferrer, 4.1913, Jg. 1, Nr. 1, S. 7-8. Dt.Ü.: »Haben wir nicht in den letzten Jahren Versuche landwirtschaflichen Kommunismus gesehen, durch Kolonien die fast ausschließlich aus Städtern bestanden, die vorgaben das ländliche Leben, die Agrarwissenschaft und -wirtschaft allesamt neu erfinden zu können? Jedem sein Beruf! bleibt eine weiterhin zu befolgenden Maxime [...].«

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Gemeinschaft als Element in einer von Kontinuität und Persistenz geprägten Geschichte erscheinen ließ. So wurde in Rückgriff auf eine Reihe niedergeschlagener Streiks die eigene Geschichtlichkeit und die Legitimität der Forderungen akzentuierend präsentiert: »1869, 1875, 1901, 1905, c’est tout un.«1180 Einen motivationalen Zweck gar erfüllten ebenfalls in der La Voix du Peuple kommemorative Beiträge zur Hinrichtung von sieben Anarchisten in Chicago 1887: »C’est ainsi que le souvenir de nos morts se confond avec le besoin de l’action elle-même. Le 11 novembre 1887 nous inspire aucun désir de paix, mais la passion de nouvelles luttes sociales.«1181 In der L’union Syndicale trug der Traditionalismus sehr viel lokalere Züge. In einem floralen Rahmen führte sie den Spruch »Ouvrier, prends la machine! Prends la terre, paysan!«1182, der nicht nur die Expropriation als Hypergut vermittelte, sondern auch ein Teil des Refrains des offiziellen Chansons der ›Fédération Jurassienne‹ war, der ersten organisierten anarchistischen Gemeinschaft. Im Le Réveil wurden Versuche gemacht, das Momentum kollektiver Kommemorationen auf die physische Ebene zu transzendieren: An vom Le Réveil organisierten und beworbenen Kommemorationsfeiern wurde die postulierte gemeinsame Vergangenheit an einen festiven Rahmen einer real existierenden Gemeinschaft gekoppelt und die vorwiegend intellektuelle Kommemoration als Teil der kollektiven Identität mit der emotionalen Komponente der Geselligkeit gekoppelt, verstärkt und aufgewertet. Spuren der Verquickung der eigenen Geschichte mit der Gegenwart im Rahmen von Fest- und Feierlichkeiten finden sich etwa zum 100. Geburtstag Michail Bakunins.1183 Ein besonderes Augenmerk soll kontradiktorischen Identitätskonstitutionsmechanismen zukommen, die eine widersprüchliche Verschränkung von Traditionalismen darstellten. Mehr als ein Drittel der ausgewerteten Quellen, namentlich L’Avenir, Le Réveil, La Voix du Peuple, L’exploitée und L’Almanach du Travailleur setzten dabei identische Themen und Zusammenhänge positiv und negativ gepolt zur Etablierung und Stärkung der kollektiven Identität ein. So wurden auf der einen Seite Religion und Kirche (L’Almanach du Travailleur, L’exploitée), auf der anderen Seite das Nationale (L’Avenir, Le Réveil, La Voix du Peuple) dazu verwendet, der eigenen Bewegung in Rekuperationsakten Tradition, Relevanz aber auch Heimatverbundenheit einzuschreiben. Exakt dieselben Themen wurden andererseits 1180  |  »Le mouvement ouvrier international«, La Voix du Peuple, 13.1.1906, Jg. 1, Nr. 1, S. 3. Dt.Ü.: »1869, 1875, 1901, 1905, das ist alles das Gleiche.« 1869 wurden Streiks in Lausanne, Basel, La Chaux-de-Fonds und Genf militärisch niedergeschlagen. 1875 schoss das Militär in Göschenen auf Geheiß der Urner Regierung auf streikende Gotthard-Mineure. 1901 widerfuhr Simplon-Mineuren im Wallis ein ähnliches Schicksal. Die Chiffre 1905 schließlich bezeichnete den durch das Militär niedergeschlagenen Streik von Fabrikarbeitern in der St.Galler Fabrik Amstutz, Levin & Co. 1181  |  La Voix du Peuple, »11.11.1887«, La Voix du Peuple, 9.11.1907, Jg. 2, Nr. 45, S. 1. Dt.Ü.: »So vermischt sich das Gedenken unserer Toten mit dem Bedürfnis der Aktion selbst. Der 11. November 1887 inspiriert uns keinerlei Sehnsucht nach Frieden, sondern die Leidenschaft neuer sozialer Kämpfe.« 1182  |  Dt.Ü.: »Arbeiter, nimm die Maschine! Nimm das Land, Bauer!« Bspw. in L’union Syndicale, 3.2.1912, Jg. 1, Nr. 1, S. 1. 1183  |  Vgl. »Commémoration du centenaire de la naissance de Michel Bakounine«, Le Réveil, 16.5.1914, Jg. 15, Nr. 384, S. 1.

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aber auch als negative Hypergüter vermittelt und verliehen der eigenen kollektiven Identität so durch inhaltliche Distanzierung Profil. Religiöse Rekuperationen finden sich beispielsweise im L’Almanach du Travailleur. Dort fand das Thema in positiver Konnotation Eingang als Methode der Wahl im Rahmen der Propagierung des Massenstreiks. Der Massenstreik wurde im L’Almanach du Travailleur mitunter damit legitimiert, dass er in der Bibel und auf Schriften der Propheten aufgetaucht sei.1184 In der gleichen Ausgabe aber wurden Religion und Kirche als negatives Hypergut vermittelt, und KirchenarbeiterInnen als »les menteurs de L’Église«1185 verunglimpft. Auch die L’exploitée vermittelte die Kirche einerseits als negatives Hypergut und proklamierte, dass »[...] l’existence dément tous les jours la Bible«1186. Gleichzeitig fand die Kirche positiv konnotiert Eingang in die kollektive Identitätsproduktion in der L’exploitée: In religiösen Rekuperationen wurden positive Hypergüter mit dahingehenden Sentenzen kirchlicher Autoritäten (!) untermauert, die den gemeinschaftseigenen Ansichten und Zielen Legitimation verleihen sollten. Die L’exploitée bestärkte ihr eigenes vermitteltes positives Hypergut des anzustrebenden kommunitären Landbesitzes über die Aussage eines Papstes: »La terre est la propriété commune de tous les hommes. Pape Grégoire-le-Grand«1187. Auch das Nationale bot Raum für kontradiktorische Identitätskonstitutionsmechanismen. So vermittelte etwa die L’Avenir zwar wiederholt Nationalismus als negatives Hypergut. Gleichzeitig versuchte die Zeitung sich, ihre Ansichten und Praktiken in den ur-schweizerischen Diskurs einzuschreiben, indem sie den Anarchisten Paulino Pallas, der ein Attentat auf den spanischen General Martinez de Campos verübte, mit dem Tell-Mythos verquickte. Wie bei Tell sei Pallas’ Handeln zu verstehen als »[...] des sacrifices, suivant les exigences et les moyens du temps«, aber »[...] aujourd’hui, parce qu’un sublime Pallas d’au-delà des Alpes, s’offre en sacrifice à la destruction d’un des innombrables Gessler qui affligent l’humanité, vous exploitez la vertueuse mine de vos mensonges pour faire des anarchistes, Pallas ou autre, de vulgaires assassins!«1188 In ähnlicher Manier finden sich auch Rückgriffe auf Wilhelm Tell in der La Voix du Peuple. Im Le Réveil schließlich wurde ein ganzes Sammelsurium von für gewöhnlich in nationalistisch-patriotischer Absicht mythologisierten Ereignissen zur Stärkung der freiheitsliebenden anarchistischen kollektiven Identität bemüht: »Journée de Morgarten, où deux mille confédérés écrasèrent, sous des blocs de rochers, six mille Autrichiens, brillants d’acier, la fleur de la noblesse. Mort héroïque de Winkelried, montrant aux serfs comment il faut savoir mourir pour s’affranchir. Partout à Näfels, aux grisons, à St-Jacques, le peuple suisse a humilié et vaincu les grands seigneurs, les empereurs 1184  |  Vgl. L.A., »La Grève Générale«, L’Almanach du Travailleur, 1913, Jg. 5, S. 21. 1185  |  Bertoni, L., »L’Amour libre«, L’Almanach du Travailleur, 1913, Jg. 5, S. 21. 1186  |  Corinne, »Aux gorges de l’esclavage«, L’exploitée, 1.6.1907, Jg. 1, Nr. 2, S. 2. Dt.Ü.: »[...] das Leben widerlegt die Bibel täglich«. 1187  |  »Au dehors: En Roumanie«, L’exploitée, 1.5.1907, Jg. 1, Nr. 1, S. 6. Dt.Ü.: »Die Erde ist das Gemeinschaftsgut aller Menschen. Papst Gregor der Große«. 1188 | Percutant, »Sacrifice«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 3-4. Dt.Ü.: »Aufopferung, die den Anforderungen und den Mitteln der Zeit folgt [...] heute, da ein erhabener Pallas sich jenseits der Alpen für die Zerstörung eines der unzähligen Gessler aufopfert, die die Menschheit bekümmern, schlachtet ihr die tugendhafte Grube eurer Lügenmärchen aus, um aus Anarchisten, Pallas oder anderen, gewöhnliche Mörder zu machen!«

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

tout puissant. Partout la République hélvétique a brisé les couronnes sur les crânes des royautés d’europe, et à Morat elle fit un ossuaire pour rappeler aux princes qu’il est dangereux de menacer la liberté [...]«, wurden als anarchistisch imaginierte Wurzeln der Schweiz aufgezählt, um schließlich festzuhalten: »[J]e songeais aux nouveaux insurgés, dignes de Waldstaetten qui viseront de leurs armes infaillibles la société capitaliste, religieuse et militaire.«1189 Bereits in der Folgeausgabe wurde im Le Réveil gegenläufig die identitär gewinnbringende traditionalistische Praktik der Schaffung gemeinsamer Vergangenheiten als patriotisch verunglimpft, und also als negatives Hypergut vermittelt. Identitäre Wirkung zeitigten diese Spielarten von Traditionalismen im Außen ebenso wie im Innen der anarchistischen Bewegung. Potenzielle Neu-Bewegte, die in einer zeitgebunden nationalismusgeschwängerten und zu weiten Teilen religiösen Schweiz enkulturiert wurden, erhielten durch die religiösen und nationalistischen Aspekte der Rekuperationen einen niederschwelligen Einstiegspunkt: Der Anarchismus, der in so ziemlich jedem Punkt quer zum Status quo stand, konnte so wenigstens partiell deexotisiert werden. Bei bereits Bewegten dürften die archetypischen Aspekte der Rekuperationen gegriffen haben: Das Aufzeigen dieser der eigenen Gemeinschaft so eingeschriebenen langen Vergangenheit gemeinschaftseigener Werte und Praktiken dürfte ihr Relevanz, Stabilität und eine gewisse Pertinenz verliehen haben. Weitere produktive Komponenten mit identitärem Mehrwert sind Emotionalien. Die auf Stimulation der Emotionen ausgerichteten identitätskonstituierenden Elemente finden sich etwa im L’Égalitaire. Mit der Einbindung der Freien Liebe und der Familie wurden Zwänge im emotionalen Alltag aufgezeigt, thematisiert und zur Bekämpfung aufgereiht: »Plus de mariage légal, de monogamie, de polygamie forcées, d’adultères, de concubinage, d’infortunes et de meurtres causées par les alliances sexuelles. Une patrie où le nom de famille, cette appélation héréditaire qui sanctionne la possession a disparu.«1190 Im Le Boycotteur sind mit nationalistischen und antisemitischen Rekuperationen Emotionalien zu orten, die in populistischer Weise Emotionen stimulierten. Die Erklärung der boykottierten Zeitung La Tribu-

1189 | Dejacques, J., »Toast qui ne sera pas porté au Tir fédéral de 1901«, Le Réveil, 6.7.1901, Jg. 2, Nr. 14, S. 1. Dt.Ü.: »Der Tag von Morgarten, an dem 2000 Eidgenossen 6000 stahlglänzende Österreicher, die Blüte des Adels, unter Felsbrocken begruben. Der Heldentod von Winkelried, der den Knechten zeigte, dass man sterben können muss, um frei zu sein. Allerorts, in Näfels, Graubünden, St. Jakob, hat das Schweizer Volk die großen Fürsten, die allmächtigen Kaiser niedergezwungen und besiegt. Allerorts hat die Helvetische Republik die Kronen auf den Häuptern der Königshäuser Europas zerschmettert und in Murten stellte sie die Gebeine aus, um den Prinzen ins Gedächtnis zu rufen, wie gefährlich es ist, die Freiheit zu bedrohen [...] Ich dachte an die neuen Aufständigen, eines Waldstätten würdig, die mit ihren unfehlbaren Waffen auf die kapitalistische, religiöse und militärische Gesellschaft zielen werden.« 1190 | »Patrie!«, L’Égalitaire, 27.6.1885, Jg. 1, Nr. 3, S. 2. Dt.Ü.: »Keine rechtliche Heirat, keine Monogamie, keine aufgezwungene Polygamie, keinen Ehebruch, keine außereheliche Beziehung, kein Unglück und keine Morde mehr aufgrund von sexuellen Vereinigungen. Ein Vaterland, in dem der Familienname, diese vererbbare Benennung, die das Eigentum maßregelt, nicht mehr existiert.«

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ne de Genève als »vielle bavarde américaine«1191, die Bezeichnung der MacherInnen als »les Yankees de la Julie«1192 lieferten keinen Informationswert und sind als Beispiele für Stimmungsmache zu erkennen. Ebenso in antisemitischen Rekuperationen die wiederkehrenden, kontextfreien Hinweise auf den religiösen Background des Zeitungsbesitzers Samuel Hirsch, der wahlweise als »[...] le juif converti, le chétien social [...]«1193, als »néochrétien«1194, als »l’ex-fils d’Israël«1195 und damit irgendwie immer auch als unechter Christ, oder aber derb-beleidigend als »ex-youpin«1196 bezeichnet wurde. Diese wiederholten Rückgriffe auf nationalistische und antisemitische Momente können als Versuch gelesen werden, mittels inhaltlichem Einlenken in den xenophoben Diskurs über hochgehende Emotionen eine Massenmobilisierung zu generieren und zu instrumentalisieren. Sie deuten damit gleichzeitig auf eine exorbitante Wirkungsmacht dieser im gesamtgesellschaftlichen Diskurs offenbar produktiven xenophoben Diskurse hin. Dass sie durch eine politstrategische Instrumentalisierung selbst in die kollektiven Identitäten politischer Gruppierungen Eingang fanden, die ansonsten inhaltlich von diesen Mechanismen Abstand nahmen, spricht eine deutliche Sprache. Nicht zuletzt sind unter Emotionalien auch Beschimpfungen und Ridikularisierungen der ›anderen‹ zusammenzufassen. Sie sind in sehr vielen Titeln zu finden. Der Le Révolté hielt sich noch zurück, wenn er von SozialdemokratInnen als »pantins politiques«1197 sprach, also von politischen Hampelmännern. Die L’Avenir schreibt SozialdemokratInnen mit einem Wortspiel von Parlamentariern zu notorischen Lügnern (»les socialos parlementeurs«1198) und das deren Zielpublikum als »majorité composée de roués et d’abrutis«1199, als Gruppe von Geräderten und Blödköpfen. Staatsvertreter wie Richter werden emotionalisiert als »têtes de pipes« oder als »guignols«1200 herabgewürdigt. Anarchie-Begriffe, soviel verrät bereits die Kolportage der Fremdwahrnehmung in der anarchistischen Presse, dürften auch in der französischsprachigen Schweiz den Charakter von Reizwörtern gehabt haben. Nichtsdestotrotz waren artikulierte Berührungsängste mit diesen Begriffen eher die Ausnahme. Zwar nahmen einige wenige Zeitungen Abstand von Anarchie-Begriffen. So die L’Émancipation, in der es über sie selbst hieß, »[...] il est faux de dire que c’est un journal anarchiste«1201 oder sie auch verlauten ließ, dass ihre »[...] organisation n’a rien d’anarchiste

1191 | »Entre alliés«, Le Boycotreur, 1.1913, Jg. 4, Nr. 29, S. 2. 1192  |  »Échos: Aux gyms de Plainpalais«, Le Boycotteur, 12.1912, Jg. 3, Nr. 28, S. 2. Julie ist ein Übername der La Tribune de Genève. 1193  |  »Un bon chrétien«, Le Boycotteur, 9.1910, Jg. 1, Nr. 4, S. 2. 1194  |  »Les affaires sont les affaires«, Le Boycotteur, 12.1910, Jg. 1, Nr. 7, S. 2. 1195  |  »Hirsch et les godillots«, Le Boycotteur, 10.1910, Jg. 2, Nr. 16, S. 2. 1196  |  »Échos: Demandes de renseignements«, Le Boycotteur, 4.1912, Jg. 3, Nr. 22, S. 2. 1197  |  »Mouvement sociale: France«, Le Révolté, 14.3.1885, Jg. 7, Nr. 2, S. 2. 1198  |  »Le Programme Socialiste: Le droit au travail«, L’Avenir, 12.11.1893, Jg. 1, Nr. 3, S. 2. 1199  |  Ebd., S. 2. 1200  |  »Procès des anarchistes de La Chaux-de-Fonds«, L’Avenir, 28.1.1894, Jg. 1, Nr. 8, S. 2 und 3. 1201  |  Bertoni, L., »Question d’argent«, LÉmancipation, 27.7.1902, Jg. 1, Nr. 7, S. 2.

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

[...]«1202 . Die große Mehrzahl verwendete Anarchiebegriffe indes zur Selbstbezeichnung als AnarchistInnen respektive als Anarcho-SyndikalistInnen. Dahingehende Beispiele sind in den Zeitungen Le Révolté, L’Égalitaire, La Critique Sociale, L’Avenir, Le Réveil, L’action Anarchiste respektive La Voix du Peuple 1906-1911 und im L’Almanach du Travailleur während der ganzen Betrachtungsperiode zu finden. Der nonchalante Umgang mit Anarchie-Begriffen spiegelt sich auch in der Tatsache wieder, dass ihr marginalisierender Charakter kaum aufgegriffen und positiv umgedeutet wurde Daraus zu folgern, dass die Fremdwahrnehmung eine kleinere Rolle spielte in der Konstitution der kollektiven Identität in der anarchistischen Presse der Westschweiz wäre aber ein Trugschluss. Tatsächlich stellte sie ähnlich wie in der Deutschschweiz einen der wichtigsten Katalysatoren für Beiträge mit identitätskonstituierenden Elementen dar. Eine mögliche Erklärung wäre, ein größeres Selbstbewusstsein der libertären Westschweiz im Umgang mit und Definition von Anarchie-Begriffen zu vermuten. Als Wiege des organisierten Anarchismus, welche die Westschweiz seit den 1870er Jahren war, dürften die Bewegten eine stärkere Selbstverständlichkeit punkto Deutungshoheit der Anarchie-Begriffe verspürt und artikuliert haben, die sich im Unwillen, sich der Definitionsmacht der Fremdwahrnehmung zu beugen, geäußert haben könnte. Dafür spricht nicht zuletzt auch das Erscheinen der La Tête du Mort, die als humoristisches Blatt 1885 im Jahr der großen Durchleuchtung des anarchistischen Milieus hauptsächlich die Anarchophobie auf die Schippe nahm. Im diachronen Überblick werden bei allen Titeln die gleichen Konstitutionsund Konstruktionsmechanismen bemüht. Was bei der oft nur kurzen Erscheinungsdauer der Zeitungen selbstverständlich scheint, bewahrheitet sich auch bei den Titeln Le Réveil, L’Almanach du Travailleur und La Voix du Peuple, von denen acht respektive vierzehn Jahrgänge ausgewertet wurden. Katalytische Wirkungsmacht für identitätskonstituierende Komponenten entfalteten – je nach Titel unterschiedlich gewichtet – die Fremdwahrnehmung, anarchistische Ereignissen sowie Tagesaktualitäten, denen damit mindestens eine passiv kontributive Auswirkung auch auf die anarchistische kollektive Identität zugestanden werden kann. Das Muster, das sich in den Konstruktionsmechanismen und deren titelspezifischen Gewichtungen zeigt, lässt sich auch für die Ausgestaltung der kollektiven Identitäten der französischsprachigen anarchistischen Presse der Schweiz von 1885-1914 nur bedingt übertragen. Zwar sind einige zentrale Werte wie die umfassende individuelle Freiheit, eine hierarchie- und autoritätsfreie Gesellschaft und integrale Emanzipation als gemeinsame Nenner einer angestrebten Zukunft, Antimilitarismus, patriotismus und kapitalismus, die Ablehnung des Privateigentums und der Hang zu kollektiven Direkten Aktionen als anarchismustypisch für die betrachtete Zeit zusammenfassen. Und auch das reihum geteilte Verständnis der Wichtigkeit von freier, autarker Bildung und Aufklärung zur Etablierung eines für alle und nicht nur für wenige gerechten und würdigen Lebens, das von Solidarität, gegenseitiger Hilfe, umfassender Unabhängigkeit von weltlichen und geistigen Machtkonzentrationen und strukturen und von der Absenz der Ausbeutung des

1202 | »Fédérations des Sociétés Ouvrières: Syndicat Mixte International«, L’Émancipation, 27.7.1902, Jg. 1, Nr. 7, S. 4.

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Menschen durch den Menschen gekennzeichnet sein soll, ist als prägend für die anarchistische kollektive Identität in der Westschweiz anzusehen. Neben diesen größtenteils geteilten gemeinsamen Nennern lässt die Auswertung der französischsprachigen Quellen aber auch das Bild einer Vielfalt von Positionen und Methoden entstehen, die neben der grundsätzlichen Einordnung als anarchistische Zeitungen eine detailliertere Kategorisierung erfordern. Grob sind zwei Subströmungen auszumachen, die den Anarchismus der Westschweiz in der betrachteten Zeit prägten und miteinander rivalisierten. Anarcho-kommunistische Standpunkte wurden vertreten von den Titeln Le Révolté, L’Égalitaire, La Critique Sociale, L’Avenir, Le Réveil und L’action Anarchiste, die in einigen Fällen die Propaganda der Tat (L’Avenir, L’action Anarchiste, L’Égalitaire, implizit auch im Le Révolté), als valable Methode im Kampf für die Zerstörung des Status quo erachteten. In diesen Titeln, die im zuweilen chiliastischen Streben nach der sozialen Revolution vornehmlich auf Propaganda und Aufklärung setzten, überwog eine universalistische kollektive Identität. Die Zeitungen L’Émancipation und Le Boycotteur dagegen vertraten eine dezidiert anarcho-syndikalistische Richtung. Das tat zunächst auch die La Voix du Peuple. In den letzten drei Jahrgängen schwanden in ihr aber allmählich die anarcho-syndikalistischen Elemente zugunsten einer zunehmend anarcho-kommunistischen Orientierung. Die kollektiven Identitäten in anarcho-syndikalistisch orientierten Titeln waren von einer ausgeprägten Klassenorientierung geprägt: Da die soziale Revolution wie auch die neue Gesellschaft von ArbeiterInnen getragen werden sollten, ist eine proletarische Nuancierung erkennbar. Die L’exploitée verfügte wie die La Voix du Peuple ebenfalls über verschiedene kollektive Identitäten, konstituierte und affirmierte diese allerdings nicht seriell, sondern parallel. So ist in der L’exploitée eine anarcha-feministische kollektive Identität avant la lettre ebenso vorzufinden wie eine chromosomal nicht weiter distinguierte anarcho-syndikalistische kollektive Identität, die in späteren Jahrgängen zu einer immer anarcho-sozialistischer geprägten Variante mäandrierte. Ohne je definitiv abzuschließen und nicht ohne sich beständig umzudrehen, mutierte die vermittelte anarchistische kollektive Identität von proletarisch-feministisch zu universalistisch-praktikorientiert. Mit dem L’Almanach du Travailleur, der L’union Syndicale und dem Bulletin de l’ École Ferrer schließlich sind auch anarchistische Titel zu verfolgen, die sich nicht eindeutig einer Subströmung zurechnen ließen. Indem sie Raum und Zeilen boten für die Entwicklung und deren Unterhalt mehrerer anarchistischer kollektiver Identitäten, wurde eine pan-anarchistische kollektive Identität ausgearbeitet, die Reibung und Widerstreit nicht nur zuließ, sondern inkorporierte. Sie war so integraler Bestandteil einer nie verbindlich definierten, sondern stets dynamischen Sozialen Bewegung, die nicht an der schillernden Vielfalt krankte, sondern vielmehr dadurch erblühte. Überblickend ermöglichten die Fragen nach identitätskonstituierenden Kompenenten, ihren Wirkungsgraden, Ausgestaltungen und Zusammenhängen in der französischsprachigen anarchistischen Presse der Schweiz einen guten Einblick in die Konstruktion und in die Gestalt anarchistischer kollektiver Identität. Da sie titelspezifisch auf verschiedene Weisen, in variierender Intensität und mit unterschiedlicher Absicht wirkungsmächtig waren, erstaunt eine Mehrzahl anarchistischer kollektiver Identitäten als Ergebnis ihres Wirkens kaum, deren Existenz die im Schlusswort zu beantwortende Frage aufwirft, ob die anarchistische kollektive

4. Von Vorläufern und Erleuchteten: Anarchistische Presse

Identität im Singular überhaupt existent ist. Neben der Vielheit, die sich als Antwort auf die Frage nach identitätskonstituierenden Mechanismen und deren Effekten ergibt, bietet die Untersuchung der 14 Quellen ein weiteres und auf den ersten Blick gegenläufig erscheinendes Ergebnis: Das Element des ›anderen‹ tritt – in unterschiedlicher Wirkungsweise und -macht, und bisweilen sogar parallel unter verdrehten Vorzeichen – als geradezu integraler Bestandteil von Schaffung und Unterhalt anarchistischer kollektiver Identitäten auf, sei es als negatives Hypergut, als Katalysator zur Selbstverortung oder als positiv konnotierter Andockpunkt. Das führt nicht nur zur Frage, ob sinnhaftig ein Singular der Differenz gedacht werden kann: Die erarbeiteten Zusammenhänge provozieren weit folgenreicher den Gedanken, ob im Hinblick auf die Etablierung selbstzugeschriebener kollektiver Identität das Differente getrennt vom Eigenen und umgekehrt das Eigene losgelöst vom Differenten gedacht werden kann. Beides wird im Schlusswort zu beantworten sein.

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5. Von Läusen und Unkraut

AnarchistInnen und Anarchismus in der nicht-anarchistischen



Presse der Schweiz 1885–1914

5.1 E inleitende W orte Ziel dieses Kapitels ist es, eine Skizze der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen zu erreichen und sie in ihren Rollen als konstitutive Kraft für das bewegungsinterne, aber auch für das gesamtgesellschaftliche Verständnis von AnarchistInnen zu betrachten. Dazu wird ausgewertet, wie die anarchistische Gemeinschaft skizziert und gegen was sie wie abgesetzt wird, aber auch welche Methoden dazu verwendet werden. Weiter soll untersucht werden, welche Bilder, welche Sprache die nicht-anarchistische Presse anwendet, um zu ihrem Ergebnis zu kommen. Hand dazu bietet die kritische analytische Lektüre der Quellen, die durch folgende Fragestellungen strukturiert wird: Was sind AnarchistInnen? Was sind ihre Ziele, werden diese artikuliert? Wenn ja, wie? Wer ist AnarchistIn? Gibt es inhaltliche Differenzierungen oder Generalisierungen? Welcher sprachliche Ausdruck wird verwendet, welche Metaphern werden bemüht? Erlaubt die spezifische applizierte Wertigkeit und Sprachfärbung den Anarchismus zu einer Chiffre mit Reizwortcharakter zu verdichten? Die an temporal disparaten punktuellen Betrachtungen ausgewertete Lektüre soll eine diachrone Perspektive ermöglichen und Aufschluss darüber geben, ob und wie sich die zugeschriebene kollektive Identität veränderte. Im Gegensatz zur anarchistischen Presse kann in der bürgerlich-liberalen, sozialdemokratischen und der neutralen Presse nicht von einer permanenten Beschäftigung mit anarchistischen Inhalten ausgegangen werden. Für die Untersuchung drängt sich deshalb eine Lektüre auf der Basis von Stichproben auf. Als geeignete Zeitpunkte wurden vier zentrale anarchistische Ereignisse ausgewählt, die sich in der Schweiz zutrugen und über einen so großen Nachrichtenwert verfügten, dass eine Berichterstattung über mehrere Artikel hinweg angenommen werden kann. Zumindest im Potenzialis wären damit Raum und Rahmen für eine differenzierte Beschäftigung mit der Thematik gegeben gewesen. Die berücksichtigten anarchistischen Ereignisse sind die geplante Bundeshaussprengung in Bern und deren anschließende gesamtschweizerische Untersuchung (25.1./23.2.1885), das Luccheni-Attentat auf Kaiserin Elisabeth in Genf und der anschließende Prozess (10.9./10.11.1898), die Silvestrelli-Affäre mit Abbruch und Wiederaufnahme der

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen

bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien (10.4.1902/22.7.1902) sowie die versuchte Kilaschitzky-Befreiung in Zürich mit den ihr folgenden ersten und zweiten Zürcher Bombenprozessen (5.6.1907/30.11.1907/26.-30.11.1912). Da im folgenden Art und Weise des Umgangs der nicht-anarchistischen Presse mit Anarchismus und den dazugehörigen Begriffen im Zentrum steht, muss für Details zu diesen vier anarchistischen Ereignissen auf Kapitel 3. Vom Anarchismus und AnarchistInnen verwiesen werden. Auch im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hatten Nachrichten eine kurze Halbwertszeit. Erfahrungsgemäß ebbte das Interesse an einem Thema spätestens nach zwei Wochen ab, im Falle von wöchentlich oder zweiwöchentlich erscheinenden Titeln in der Regel nach rund drei Ausgaben. Die Betrachtungsdauer der ausgewählten nicht-anarchistischen Zeitungen erfolgte über jeweils einen Monat nach dem Eintritt des als relevant taxierten anarchistischen Ereignisses, um nicht nur den Tagesjournalismus, sondern auch allfällige Hintergrundartikel erfassen zu können.

5.2 D eutschspr achige Z eitungen 5.2.1 Neue Zürcher Zeitung (NZ Z) 5.2.1.1 Bundeshaussprengung 1885 Eine erste Erwähnung der geplanten Bundeshaussprengung findet sich in der bürgerlich-liberalen NZZ im Rahmen eines Berichtes über erhöhte Sicherheitsauflagen rund ums Bundeshaus: »Wenn man sich erinnert, dass, seitdem der Bundesrath im Falle war, eine Reihe von Anarchisten auszuweisen, in Most’s ›Freiheit‹ fortwährend Schimpf- und Brandartikel gegen die Schweiz und ihre Behörden erschienen und dass die Anarchisten in allen Schweizerstädten feste Organisationen haben, aus denen die Mörder Kammerer und Stellmacher hervorgingen, erscheinen solche Pläne von Seiten der Anarchisten nicht ausgeschlossen. Man nimmt an, die Eidgenossenschaft werde in die Lage kommen, sämmtliche [sic] notorischen Anarchisten, soweit dieselben Ausländer sind, des Landes zu verweisen, da auch die öffentliche Meinung der Schweiz im Ganzen die Anarchisten längst verabscheut, welche die Freiheiten der Republik zur Planirung [sic] der schwersten Verbrechen missbrauchen.«1

Das Anarchismusbild, das die wenigen Zeilen des Beitrags vermittelten, entsprach demjenigen einer Partei: Mit der Paraphrase der Freiheit wurde ein Zentralorgan imaginiert 2, mit der Vorstellung von Ablegern in allen Städten wurde zudem ein enger Kontakt unter den einzelnen weitgehend als gleichgeschaltet verstandenen Gruppierungen impliziert. Eine Differenzierung blieb aus. Der aufgebaute Gegensatz, in dem sich die ›notorischen Anarchisten‹ und die ›Freiheit der Republik‹ befänden, sowie die implizite Annahme, dass es sich beim Anarchismus in der 1 | »Telegramme: Bern«, Neue Zürcher Zeitung, 30.1.1885, Jg. 65, Nr. 30, Erstes Blatt, S. 3. 2 | Mosts Freiheit attestierte die NZZ »[...] einen unglaublichen Einfluss auf die Genossen [...]« (»Die Bedrohung des Bundesrathhauses durch die Anarchisten«, Neue Zürcher Zeitung, 4.2.1885, Jg. 65, Nr. 35, Erstes Blatt, S. 1).

5. Von Läusen und Unkraut: Nicht-anarchistische Presse

Schweiz um ein vorwiegend ausländisches Phänomen handele – die Ausweisung wurde als Lösung portiert – trugen ebenso zur ausschließlich negativen Färbung bei, wie die Verquickung mit zwei Attentätern dies tat. Diese Konstruktionen wurden in folgenden Artikeln bestätigt und ausgebaut. In »Die Bedrohung des Bundesrathhauses durch die Anarchisten«3 wurden AnarchistInnen zusätzlich als Zerstörer kultureller schweizerischer Traditionen skizziert: »Seit letztem Mittwoch sind im Bundesrathshause [...] mehrere Eingangsthüren, welche sonst Jahr für Jahr jedermann offen standen, geschlossen, und die Tag- und Nachtwache wurde verstärkt. Die schützenden Vorkehrungen hat der Bundesrath angeordnet, seitdem er [...] unterrichtet wurde, dass die Anarchisten ein Dynamitattentat auf das Bundesrathhaus planen.« 4

Die wiederholte, in abwertendem Ton gehaltene Bezeichnung als Ausländer und Fremde, stellte im Rahmen der prononciert xenophoben Grundstimmung in der Schweiz der ausgehenden 19. Jahrhunderts eine gezielte Diffamierung dar. Verstärkt wurde dies durch eine exorbitante Undankbarkeit, die AnarchistInnen zugeschrieben wurde: Sie würden die große Freiheit und das politische Asyl, welche die Schweiz ihnen bot, ausnutzen.5 Erst im letzten Abschnitt des Artikels findet sich eine Erwähnung von Zielen, Absichten und Methoden: »In der Zerstörung der öffentlichen Gebäude liegt ja Logik: da die Anarchisten keine staatliche Form, sondern die unumschränkte Freiheit in der ›freien Gesellschaft‹ wollen, haben sie es auf die Anstalten abgesehen, in denen die Staatsgewalt sich niedergelassen hat, und mit der Zerstörung solcher Gebäude erreicht man noch den Nebenzweck, gleich viele Menschen zu tödten – ein bei den Anarchisten beliebtes Mittel, die ›Bourgeoisie‹ in Schrecken zu jagen.« 6

Auch diese Schilderung schloss also mit einer negativen Konnotation, dem angeblich prinzipiellen beiläufigen Massenmord. Gelegentlich wurden in der Verhand3  |  Ebd., S. 1. 4  |  Ebd., S. 1. Das Brechen der kulturellen Eigenheiten wurde noch im selben Artikel wiederholt und verstärkt: »Es ist nun so weit gekommen, dass wir in der Schweiz im Bundesrathhause Thüren, die Jahrzehnte [sic] lang offen waren, vor den Anarchisten, die Ausländer sind, schliessen müssen; es ist weit gekommen, dass Fremde, die bei uns geduldet werden, die öffentliche Sicherheit in solchem Masse zu brechen wagen.« (Ebd., S.1) Vgl. dahingehend auch »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 21.2.1885, Jg. 65, Nr. 52, S. 1. 5  |  Mit der Rezitation der großen Freiheit für alle in der Schweiz nährte die NZZ einen Mythos, der heute noch nachwirkt. Tatsächlich zeigte sich die Schweiz aber seit den 1840er Jahren von ihrer repressiv-restriktiven Seite punkto politischem Asyl. AnarchistInnen wurden überwacht und oft genug wegen Lappalien ausgewiesen. Bezeichnenderweise erwähnte die NZZ das entweder gar nicht, oder sie spielte die oftmals lückenlose Überwachung herunter: »Wegen der paar Ausweisungen konnten sich nun die Anarchisten sicherlich nicht beklagen, da in der Schweiz im grossen und Ganzen Alles beim Alten blieb.« (»Die Bedrohung des Bundesrathhauses durch die Anarchisten«, Neue Zürcher Zeitung, 4.2.1885, Jg. 65, Nr. 35, Erstes Blatt, S. 1). 6  |  Ebd., S. 1.

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lung von anarchistischen Themen auch diffamierende Themen miteinander verknüpft. So schickte sich die NZZ an, in ihrer Metaphorik xenophobe Abwehrreflexe und Krankheitsbilder in anarchistischen Zusammenhängen zu kombinieren. Sie betonte, »[...] dass die Anarchisten auch schon Schweizer in ihre Reihen gezogen hätten; also sei es hohe Zeit, durch Abschaffung der von außen eingeschleppten Ansteckung einer weiteren Ausbreitung der anarchistischen Pest entgegenzutreten« 7. Der gleichenorts formulierte Wunsch nach einer ›Ausrottung des Übels‹ ließ eine Schädlingsmetaphorik anklingen.8 In den Berichten zur anschließenden, bundesrätlich am 26.2.1885 beschlossenen Durchleuchtung des anarchistischen Milieus fanden diese Be- und Verurteilungen, der Sprachgebrauch und die verwendete Metaphorik Fortsetzung. Die auf einen xenophoben Abwehrreflex der Leserschaft abzielende Diffamierung wurde offen, mitunter aber auch subtil bewerkstelligt. Beispielsweise mit der Schaffung eines inklusiv-exklusiven ›Wir‹, das den Anarchismus nicht nur ausschloss, sondern ihm ein nicht näher definiertes Schweiztum entgegensetze, das als unüberwindbare Mauer in SchweizerInnen und AnarchistInnen einteilte: »Vergegenwärtigt man sich, dass die Anarchisten bei uns Jahr aus Jahr ein ruhig lesen und unbehelligt ›arbeiten‹ konnten [...].«9 Das Bild dominierten Schilderungen blutrünstiger und ehrenloser Ausländer: »Ehrenhafte, unbescholtene Menschen wird man übrigens selten unter den Anarchisten finden. Es liegt dies in der Natur der Dinge; denn es ist nicht jedermanns Sache, zur Propaganda der That überzugehen. Alle, welche bis jetzt irgend eine Rolle spielten, hatten in ihrem Vorleben bereits irgend etwas auf dem Kerbholz, irgend ein Vergehen oder sonst eine schlechte Handlung.«10

Die gewählte, biblisch inspirierte Bildsprache vom dunklen Bösen und dem hellen Guten über die angelaufene Untersuchung lässt keine Zweifel offen über die Verortung der anarchistischen Bewegung durch die NZZ: »Endlich, nachdem wir die Leute Jahre lang geduldet haben, um schließlich selbst von ihnen bedroht zu werden, hat nun der Bundesrath einen ersten wichtigen Schritt getan; er geht den Anarchisten zu Leibe auf dem Boden des eidgenössischen Bundesstrafrechts. Es fängt an zu tagen [...].«11 Weitere Beiträge zur Anarchisten-Untersuchung blieben sich in Tonalität und Duktus gleich.12

7 | »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 21.2.1885, Jg. 65, Nr. 52, S. 1. 8  |  Vgl. ebd., S. 1. 9 | »Eidgenossenschaft: Ueber den Gang«, Neue Zürcher Zeitung, 23.3.1885, Jg. 65, Nr. 82, Erstes Blatt, S. 1 (Herv. d.V.). 10 | »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 2.3.1885, Jg. 65, Nr. 61, Erstes Blatt, S. 2. 11  |  Ebd., S. 1. 12  |  Vgl. etwa den mit den bereits artikulierten Feindbildern operierenden Bericht über die Versiegelung des in Genf erscheinenden Le Révolté in »Eidgenossenschaft: Anarchisten«, Neue Zürcher Zeitung, 5.3.1885, Jg. 65, Nr. 64, Erstes Blatt, S. 2, oder die Diskussion um den Ort der Inhaftierung allfälliger Verurteilter in »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 18.3.1885, Jg. 65, Nr. 77, Zweites Blatt, S. 1. Die Aufhebung der Versiegelung des Le

5. Von Läusen und Unkraut: Nicht-anarchistische Presse

5.2.1.3 Luccheni-Attentat 1898 Auch rund 13 Jahre später nahm die Kategorie der Migration eine Schlüsselrolle ein in der zugeschriebenen kollektiven Identität. Im ersten großen13 Beitrag zum Attentat des Anarchisten Luigi Luccheni auf Kaiserin Elisabeth von Österreich hieß es: »Der schmähliche Feigling hat es fertig gebracht, eine Frau zu töten! [...] Es ist gelinde gesagt, wenn man von der Wut redet, die den friedlichsten Genferbürger ergreift, wenn er darauf zu reden kommt, wie schnöd die Fremdlinge es treiben.«14 Die Gleichsetzung von AnarchistInnen und Fremden wurde aufrecht erhalten, was eine ungebremste performative Kraft der instrumentalisierten Xenophobie erkennen lässt. Neu sind 1898 psychopathologisierende Ansätze festzustellen, welche die zugeschriebene kollektive Identität akzentuierten. So stellte die NZZ das »wahnwitzige Attentat« als Tat eines »abscheulichen Menschen« hin.15 Ebenfalls neu waren Tendenzen der Individualisierung, die Hand in Hand mit einer Viktimisierung einhergingen und den Täter zum Opfer einer so noch diffuser erscheinenden anarchistischen Bewegung stilisierten: »Man hatte es mit einem Menschen zu thun, dem die anarchistischen Ideen den Kopf verdreht hatten, und der sich einbildete, in der Welt eine erlösende Rolle zu spielen, wenn er ein fürstliches Haupt ermorden würde.«16 Das noch schummrige Anarchismus-Bild von einer Gruppe im Hintergrund, die einfach gestrickte oder psychisch kranke Menschen Aufgaben ausführen lasse, wurde bald konkreter benannt. Bar jeglicher Anhaltspunkte wurde gemutmaßt, dass man »[...] einen alten Mann im grauen Bart gesehen haben [will, d.V.] der beim Attentat dem Lucchini folgte. Möglich, dass der Mörder mit dem Tode bedroht war, falls er den ›Auftrag‹ nicht ausführte (?)«17 Dass das Fragezeichen von der NZZ in eine Klammer gesetzt wurde, darf nicht als Interpunktionsfehler gedeutet werden. Vielmehr muss es als indexikalisches Zeichen gelesen werden: Tatsächlich spielte es keine Rolle, ob die These haltlos war oder nicht; sie wurde in den folgenden Artikeln nicht widerrufen und erfüllte damit ein anderes Ziel, nämlich die Nährung des Topos einer ungreifbaren anarchistischen Verschwörung, zu deren Zerstörung jedes Mittel recht sein würde.18 Vor allem in der Frühphase wurde Lucchenis Tat als pathologische, nicht aber als politische Aktion eingeschätzt und wiederholt als

Révolté wurde bezeichnenderweise mit 2,5 Zeilen nur sehr knapp abgehalten. Vgl. »Eidgenossenschaft: In Genf«, Neue Zürcher Zeitung, 6.3.1885, Jg. 65, Nr. 65, Erstes Blatt, S. 1. 13 | Eine erste, telegrammartige Kurznotiz findet sich unter dem Namen »Ermordung der Kaiserin von Oesterreich«, Neue Zürcher Zeitung, Jg. 119, Nr. 252, S. 2. 14  |  »Ermordung der Kaiserin von Österreich« et al., Neue Zürcher Zeitung, 12.9.1898, Jg. 119, Nr. 253, Morgenblatt, S. 1. 15  |  Ebd., S. 1. 16  |  Ebd., S. 1. 17  |  Ebd., S. 2. 18 | Vgl. dazu die Geschichte der ebenfalls nur imaginierten ›Mano Negra‹ im Spanien der 1880er Jahre, die in Verhaftungen, Folterungen und Todesstrafen mündete mit dem Zweck, die anarchistische Bewegung zu brechen. Die nach dem Attentat Lucchenis einberufene Konferenz europäischer Staaten in Rom zur Bekämpfung des Anarchismus peitschte ihre Forderungen nach vernetzter Überwachung ebenfalls unter Vorhalten einer fiktiven anarchistischen Weltverschwörung durch.

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»wahnwitzige Tat«19 bezeichnet. Diese Einschätzung änderte sich allmählich und Lucchenis Person wurde als Paria mit politischer Agenda gezeichnet.20 Je weiter das Attentat in die Ferne rückte, desto mehr rückte die NZZ von der Vorstellung Lucchenis als geistig verwirrtem Täter ab: »Er ist ein überzeugter Anarchist, hat die That bei klarem Verstande begangen und hatte die feste Absicht, einen Grossen dieser Erde zu beseitigen. Er zeigte sich beleidigt bei dem Gedanken, dass man seine That als die eines Geisteskranken bezeichnen könne.«21 Der politische Aspekt des Attentats wurde in einem anderen Zusammenhang weitaus deutlicher: Die liberal orientierte NZZ nutzte die neuerdings entflammte Anarchismus-Diskussion, um Spitzen gegen die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) zu reiten, die dem Freisinn als politische Kraft gefährlich zu werden schien. Aus dem Versuch der SPS, die Politische Polizei – nicht zuletzt auch als direkt Betroffene – zu delegitimieren, schlug die NZZ wiederholt politisches Kapital: »Das ganze Schweizervolk freut sich darüber [gemeint ist die Politische Polizei, d.V.], nur die Sozialisten verlangen fortwährend die Aufhebung der eidgenössischen Polizeibehörde. Sie wissen warum.«22 Diese vergleichsweise vorsichtig offen formulierte Verquickung der SPS mit den zuvor gründlich marginalisierten AnarchistInnen sollte bald expliziter ausfallen: »Damals [vor der Einführung der Politischen Polizei, d.V.] wurde viel politisches Gesindel bei uns geduldet. Es hat kantonale Justiz- und Polizeibehörden gegeben welche mit den fremden Sozialisten und Revolutionären ganz säuberlich umgingen und sie vor aller Verfolgung schützen! [sic] denn diese Leute hatten ihre Freunde an den schweizerischen Sozialdemokraten und das waren Wähler und ihre vielen Stimmen konnte man gar gut benützen im Wahlkampfe gegen die bösen Liberalen und Konservativen. Das war eine Hätschelei von oben herab, die sehr böse Früchte zeitigen musste.«23

Schließlich hieß es unverblümt: »Freilich sind die Sozialisten keine Anarchisten, aber in den meisten Fällen sind die Anarchisten, die ›Männer der That‹, durch die sozialistische Schule hindurchgegangen.«24 Auch in Bezug auf die zugeschriebene kollektive Identität barg die liberale Befürwortung der Politischen Polizei Erhellendes. Ihre Aufgabe sei »[...] die Schweiz von den anarchistischen Männern zu befreien [...] Das Schweizervolk erwartet auch die Anwendung der grössten Energie,

19 | So etwa in A.F., »Ermordung der Kaiserin v. Oesterreich«, Neue Zürcher Zeitung, 13.9.1898, Jg. 119, Nr. 254, Morgenblatt, S. 2. 20  |  Vgl. etwa »Ermordung der Kaiserin v. Oesterreich«, Neue Zürcher Zeitung, 13.9.1898, Jg. 119, Nr. 254, Erstes Abendblatt, S. 2, wo Luccheni als sitten- und ruchlos geschildert wurde: »In Lausanne führte Lucchini [sic] ein sittenloses Leben. Die Mädchen nannten ihn nur ›Le Napolitain‹. [...] War er aber getrunken [sic], so war er eine Bestie; anarchistische Lieder hatte er immer in der Tasche [...] Lausanne verliess er, ohne sein Kostgeld zu zahlen.« 21 | »Tagesbericht«, Neue Zürcher Zeitung, 13.9.1898, Jg. 119, Nr. 254, Erstes Abendblatt, S. 1. Vgl. dahingehend auch den paraphrasierten Brief Lucchenis in A.F., »Ermordung der Kaiserin v. Oesterreich«, Neue Zürcher Zeitung, 13.9.1898, Jg. 119, Nr. 254, Morgenblatt, S. 2. 22 | »Tagesbericht«, Neue Zürcher Zeitung, 13.9.1898, Jg. 119, Nr. 254, Erstes Abendblatt, S. 1. 23  |  Ebd., S. 1. 24  |  Ebd., S. 1.

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um das Land von der Verbrecherbande zu säubern [...].«25 Die verwendete Metaphorik machte aus AnarchistInnen Dreck, der weggewischt werden müsse, könne und solle. Diese Einschätzung, wusste die NZZ, war in einstimmigem Einverständnis mit der Bevölkerung: »Es hallt auch nur eine Stimme durch das Land: Weg von unserem Boden mit den ausländischen Gesinnungsgenossen des Mörders! Bekenner der anarchistischen Sekte, Anhänger der Propaganda der That haben das Gastrecht der Schweiz verwirkt, sofern sie fremden Ursprungs sind. Ihr Bekenntnis und ihre Rede genügt.« 26

Im Prozess gegen Luccheni wurden sowohl die Vorstellungen von Anarchismus als psycho-pathologisches Phänomen als auch die Imagination eines anarchistischen Komplotts erneut bemüht.27 Einerseits wurde Lucchenis Tat auf eine psychische Dysfunktion – ein Aufmerksamkeitsdefizit – zurückgebunden: »Luccheni bot das Bild eines eitlen Menschen, der stolz darauf ist, durch seine That die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gelenkt zu haben. Bis dahin war er nur ein Tropfen im proletarischen Meer.«28 Andererseits wurde eine anarchistische Verschwörung imaginiert und dies obschon die Untersuchung diesen Verdacht an keinem Punkt erhärten konnte. Die Komplotttheorie kurioserweise gleichzeitig entkräftend und bestärkend hieß es: »Luccheni verwahrt sich mit Energie dagegen, Mitschuldige zu haben. Indes und obwohl keine Thatsache für die Teilnahme eines Komplizen hat nachgewiesen werden können, ist es möglich, dass der Akt, den er begangen, nicht einer rein individuellen Eingabe entsprungen ist.«29 In einem anderen Artikel hielt die NZZ schließlich sogar fest, dass man »[...] nach dem ganzen Prozessgang nicht daran zweifeln kann, dass Luccheni nur im Auftrage anderer gehandelt hat«30. Die Formulierungen zur Motivation Lucchenis erlauben weitere Rückschlüsse auf das Anarchismusbild der NZZ, das sie in ihrer Leserschaft verankern wollte: »Die Triebfeder zu dieser That ist leicht erkennbar. Luccheni hat gehandelt für die Rechnung der Ideen seiner Sekte.«31 Die Kategorisierung als Sekte erscheint im Kontext doppelt brisant. Einerseits erweckten Sekten und Geheimbünde höchstes Miss25  |  Ebd., S. 1. 26 | »Tagesbericht«, Neue Zürcher Zeitung, 17.9.1898, Jg. 119, Nr. 258, Abendblatt, S. 1. 27  |  Vgl. »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 10.11.1898, Jg. 119, Nr. 312, Erstes Abendblatt, S. 2, wo von »ersten Symptomen seines Anarchismus« gesprochen wurde. Vgl. außerdem für kaum tendenziöse Berichte »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 10.11.1898, Jg. 119, Nr. 312, Zweites Abendblatt, S. 1, und »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 11.11.1898, Jg. 119, Nr. 313, Morgenblatt, S. 2. 28  |  Ebd., S. 2. 29 | »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 10.11.1898, Jg. 119, Nr. 312, Erstes Abendblatt, S. 2. Diese in bloßer Vermutung wurzelnde Theorie von Strippenziehern im Hintergrund, medizinisch angehaucht ›Katheder-Anarchisten‹ genannt, wurde auch vom Staatsanwalt in seinem Schlussplädoyer angedeutet. Vgl. »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 11.11.1898, Jg. 119, Nr. 313, Morgenblatt, S. 2. 30 | A.F., »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 11.11.1898, Jg. 119, Nr. 313, Zweites Abendblatt, S. 1. 31  | »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 10.11.1898, Jg. 119, Nr. 312, Erstes Abendblatt, S. 2.

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trauen und entsprachen einem gängigen Feindbild. Andererseits wurde darunter für gewöhnlich eine hierarchisch straff organisierte Gruppierung verstanden, die ihre Dynamik aus dem Gegensatz von mächtigen FührerInnen und schwachen Verführten bezog. Besonders die Vorstellung des Letzteren findet sich immer wieder auch in kleinen Formulierungen. »Luccheni spielte seine Rolle, die der anarchistische Drill von ihm verlangte [...]«32, wurde eine solche Vorstellung implizit perpetuiert. Auch die Notion, »Luccheni [...] wandelte sich in einen Menschen, der in den Händen geschickter Verführer zum Verbrecher werden konnte«33, verstärkte das Bild einer dualen Gemeinschaft von Verführenden und Verführten in der zugeschriebenen kollektiven Identität. Er habe keinen Begriff »[...] von der Verrücktheit seines Beginnens und steht ganz unter dem Einfluss der blinden Wut, die ihm eingepflanzt wurde«34. Die Verführer wurden dabei nie Gegenstand der Berichterstattung, sodass – kaum unabsichtlich – ein düsteres, diffuses Bild zurückblieb. Ergebnis davon war tatsächlich, dass mit dem diffusen MittäterInnenprofil auch die geschürten Ängste der LeserInnen durch die zwar wiederlegte, aber in den Augen der NZZ trotzdem als wahrscheinlich inszenierte anarchistische Verschwörung diffus blieben. In größerem politischen Kontext beurteilt konnte dieses immer wieder neu genährte Angst-Trauma genutzt werden, Repression und Einschränkungen bürgerlicher Grundrechte zu legitimieren. Selbst wenn sie wie im konkreten Fall Luccheni augenscheinlich nichts nutzten: Luccheni wurde von der Politischen Polizei wenige Tage vor seinem Attentat kontrolliert, fichiert und als Anarchist gemeldet.

5.2.1.3 Silvestrelli-Affäre 1902 1902 ereignete sich die Silvestrelli-Affäre, die in apologetischen und beleidigenden Artikeln des anarchistischen Genfer Blattes Le Réveil/Il Risveglio ihren Ursprung hatte und zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien führte.35 Unmittelbar nach dem Abbruch am 10.4.1902 folgte eine große Anzahl an Artikeln zum Thema, allerdings ohne dass der Anarchismus groß Thema gewesen wäre. Die Affäre wurde als diplomatische Krise verstanden, die im gegenseitigen Abzug der jeweiligen Diplomaten gipfelte, was »selbstredend große Bewegung«36 verursachte und als »das Ereignis des Tages«37 tituliert wurde.38 32  |  A.F., »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 11.11.1898, Jg. 119, Nr. 313, Erstes Abendblatt, S. 2. 33  |  A.F., »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 12.11.1898, Jg. 119, Nr. 314, Morgenblatt, S. 2. 34  |  Ebd., S. 2. 35  |  Vgl. für eine ausführlichere Darstellung Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. 36 | »Telegramme: Bern«, Neue Zürcher Zeitung, 10.4.1902, Jg. 123, Nr. 99, Zweites Abendblatt, S. 3. 37 | »Telegramme: Bern«, Neue Zürcher Zeitung, 11.4.1902, Jg. 123, Nr. 100, Morgenblatt, S. 2. 38 | Vgl. »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 10.4.1902, Jg. 123, Nr. 99, Zweites Abendblatt, S. 1-2 und »Telegramme: Bern«, Neue Zürcher Zeitung, 10.4.1902, Jg. 123, Nr. 99, Zweites Abendblatt, S. 3. et. al. Die Berichterstattung über die National- und Ständeratssession Ende April, welche die Silvestrelli-Affäre auf ihrer Traktandenliste führte, zeugt davon, dass sie auch in den beiden Kammern lediglich formal-juristisch abgehandelt wurde.

5. Von Läusen und Unkraut: Nicht-anarchistische Presse

Trotz des anarchistischen Ursprungs wurde der Fokus aber auch in den folgenden Beiträgen hauptsächlich auf die juristische Ebene gelegt.39 Auch wenn in Satzfragmenten von »den ruchlosen Artikeln des anarchistischen Risveglio«40 gesprochen wurde und so zumindest eine Tendenz angezeigt war, lässt sich daraus keine zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen extrapolieren. Die entsetzte Kolportage italienischer Pressestimmen, die zuweilen den Bundesrat bezichtigten, nicht in Italien, sondern in den AnarchistInnen seine wahren Freunde zu haben, reicht nicht aus für eine Skizzierung von AnarchistInnen, die etwas anderes vermittelt als die verhalten negative Grundtendenz.41 Auch als am 25.7.1902 die diplomatischen Beziehungen wiederaufgenommen wurden, blieben anarchismusspezifische Beiträge aus.42

5.2.1.4 Befreiungsversuch Kilaschitzky 1907/1912 Die Berichterstattung der NZZ zur versuchten Befreiung des Anarchisten Georg Kilaschitzky weicht in den großen Zügen nicht von den Mustern in den bereits behandelten anarchistischen Ereignissen ab. Im Detail wurden aber durchaus neue Akzente gesetzt. Wurden in den 1890er Jahren hauptsächlich italienische MigrantInnen zu gewalttätigen Wilden stereotypisiert, bedachte die NZZ in den 1900er Jahren nun hauptsächlich MigrantInnen russischer Herkunft mit dieser Rolle und erging sich nicht nur in Vorurteilen und Vorverurteilungen: Hinweise über eine inhaltliche Diskussion der AnarchistInnen-Frage fehlen in der Paraphrase der NZZ vollständig. Vgl. »Die Aprilsession«, Neue Zürcher Zeitung, 29.4.1902, Jg. 123, Nr. 118, Morgenblatt, S. 1. 39 | Die Beleidigung von fremden Souveränen wurde juristisch als Antragsdelikt abgewickelt. Die italienische Regierung verlangte hingegen ein Eingreifen der Schweizer Behörden, wie sie bei einem Offizialdelikt Usus waren. Vgl. dazu ausführlich aus juristischer Perspektive Dr. E.H., »Beschimpfung eines fremden Souveräns – Ein Antragsdelikt«, Neue Zürcher Zeitung, 22.4.1902, Jg. 123, Nr. 111, Morgenblatt, S. 1. 40 | »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 11.4.1902, Jg. 123, Nr. 100, S. 1. 41 | Vgl. »Italienische Pressstimmen«, Neue Zürcher Zeitung, 12.4.1902, Jg. 123, Nr. 101, Morgenblatt, S. 2. »Affäre Silvestrelli«, Neue Zürcher Zeitung, 13.4.1902, Jg. 123, Nr. 102, S. 1-2, »Affäre Silvestrelli«, Neue Zürcher Zeitung, 14.4.1902, Jg. 123, Nr. 103, Morgenblatt, S. 1-2, sowie A.F., »Affäre Silvestrelli«, Neue Zürcher Zeitung, 14.4.1902, Jg. 123, Nr. 103, Erstes Abendblatt, S. 1. Der von der NZZ weitestgehend unkommentierte Abdruck des eidgenössischen Blaubuchs – eine bundesrätlich kommentierte Zusammenstellung der relevanten offiziellen Dokumente zur Silvestrelli-Affäre – enthielt immerhin eine Anerkennung der Vorwürfe an den Il Risveglio (vgl. W., »Das eidg. Blaubuch«, Neue Zürcher Zeitung, 16.4.1902, Jg. 123, Nr. 105, Morgenblatt, S. 1-2). Auch dieser Beitrag entbehrte aber ebenso wie der abschließende Kommentar der NZZ zur Affäre (»Eidgenossenschaft: Grünbuch und Blaubuch«, Neue Zürcher Zeitung, 16.4.1902, Jg. 123, Nr. 105, Zweites Abendblatt, S. 2) anarchismusspezifische Noten. 42 | Vgl. »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 26.7.1902, Jg. 123, Nr. 205, Abendblatt, S. 2, und des Weiteren äußerst knapp die erste Vermeldung zur Neubesetzung der schweizerischen Botschaft in Rom in »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 1.8.1902, Jg. 123, Nr. 211, Erstes Abendblatt, S. 1 Schließlich ausführlicher, wenngleich ebenso inhaltsleer punkto Anarchie-Begriffen und deren Diskussion W., »Die neuen Gesandten«, Neue Zürcher Zeitung, 4.8.1902, Jg. 123, Nr. 214, Morgenblatt, S. 1.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Schlechter konnten die Russen nicht beraten sein, als indem sie ihre terroristischen Revolutionspraktiken auf den Boden ihrer schweizerischen Freistatt verpflanzten. Die Geduld unserer Bevölkerung, die immer geringer war als die der Behörden, ist dem Reissen nahe. Wir fürchten alles, wenn von oben herab nicht rasch eine radikale Säuberung erfolgt und unnachsichtlich allen Elementen, die mit den russischen Terroristen in Fühlung stehen, die zürcherische Gastfreundschaft entzogen wird.« 43

Lag der Fokus der Diffamierung auch auf einer anderen Ethnie44, so blieben sich die Topoi von Säuberung und der propagierten und so reaffirmierten antianarchistischen Empörung der öffentlichen Meinung als grundlegende Mechanismen zur Skizzierung von AnarchistInnen als etwas Fremdes, Dreckiges und dezidiert Unschweizerisches grundsätzlich gleich. Auch hier wurde also gleichzeitig an die Xenophobie appelliert und sie bestärkt.45 Dass eine Beteiligung von SchweizerInnen nicht einmal angedacht wurde, zeigt die fast schon theoretische Frage, die – wohlgemerkt ohne jegliche Hinweise auf die Täterschaft – an die Leserschaft gestellt wurde: »Russisch oder italienisch? Fragt man sich unwillkürlich [...].«46 Auch die relativ breit abgestützte Solidaritätsbewegung zugunsten Kilaschitzkys, an der sich auch zahlreiche Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei47 beteiligten, 43 | »Kantone: Zürich«, Neue Zürcher Zeitung, 5.6.1907, Jg. 128, Nr. 154, Zweites Abendblatt, S. 2. Wie der Asyl-Begriff der NZZ zu dieser Zeit aussah, zeigt ein Artikel, der die distanzierende Stellungnahme von sozialistischen russischen und anderen osteuropäischen Gruppen abdruckte. Abschließend hieß es in einem deutliche Grenzen ziehenden Kommentar: »Den grössten Gefallen würden sie der zürcherischen Bevölkerung erweisen, wenn sie ihre Tätigkeit einstellen oder außerhalb unserer Stadt und unseres Landes verlegen wollten.« (»Lokales: Etwas spät«, Neue Zürcher Zeitung, 15.6.1907, Jg. 128, Nr. 164, S. 2). 44  |  Andere Berichte in derselben Ausgabe der NZZ zeigen, dass italienische MigrantInnen keineswegs rehabilitiert waren mit dem Umschwenken auf das neue Feindbild der RussInnen. Vgl. etwa die in gehässigem Ton zusammengefassten »Italienerskandale« im Beitrag W.B., »Kantone: Zürich«, Neue Zürcher Zeitung, 5.6.1907, Jg. 128, Nr. 154, Zweites Abendblatt, S. 2. 45 | Vgl. die xenophoben und hetzerischen Generalisierungen von geradezu verblüffender Direktheit: »Ist schon der gewöhnliche italienische Arbeiter, wie jedermann zur Genüge weiss, schnell mit Dolch und Messer bei der Hand, so braucht auch der italienische Anarchist die Handhabung dieser Dinge nicht erst zu lernen.« (Die anarchistische Bewegung in der Schweiz«, Neue Zürcher Zeitung, 22.6.1907, Jg. 128, Nr. 171, Erstes Morgenblatt, S. 1). 46 | »Kantone: Zürich«, Neue Zürcher Zeitung, 5.6.1907, Jg. 128, Nr. 154, Zweites Abendblatt, S. 2. Die Verunglimpfung der russischen MigrantInnen verfolgte die NZZ mit großer Hartnäckigkeit. Durch stete Reproduktion der gleichen Vorurteile erreichte die NZZ eine nachhaltige Wirkung. Dies illustrieren die wiederholten Anwürfe und Beschuldigungen, die ohne neue forensische Erkenntnisse immer wieder gemacht wurden, wobei Letzteres nicht einmal verschwiegen wurde: »Leider sind bis heute immer noch absolut keine Anhaltspunkte zur Eruierung der Verfertiger der Unglücksbombe vorhanden und es muss angenommen werden, dass die Urheber unentdeckt bleiben.« (»Lokales«, Neue Zürcher Zeitung, 14.6.1907, Jg. 128, Nr. 163, Drittes Abendblatt, S. 1), hieß es bspw. zwei Wochen nach dem Kasernenüberfall in einem (weiteren) generalverdächtigenden Artikel. 47  |  Vgl. für das Unverständnis der NZZ über den Effort der SP Lausanne, eine Kundgebung gegen Kilaschitzkys Verurteilung durch das Bundesgericht zu veranstalten, »Zum Kilatschiskifall [sic]«, Neue Zürcher Zeitung, 6.6.1907, Jg. 128, Nr. 155, Erstes Abendblatt, S. 1-2.

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wurde als fremdbestimmt und von ausländischen Kräften organisiert abgetan: »Auf diese Weise suchten Ausländer, welche die schweizerischen Rechtsangelegenheiten nichts angehen, auf das Bundesgericht einzuwirken.«48 Das Engagement der schweizerischen parlamentarischen Linken nutzte die NZZ auch, um die SPS zu diskreditieren, indem sie sie mit Anarchismus und Terrorismus zu einem diffusen Feindbild verwob. Die NZZ zitierte zunächst den anarchistischen Le Réveil, dann das sozialdemokratische Volksrecht, das davon sprach, dass die Schweiz sich nicht zu Zuhältern der Möderbande in Warschau machen lassen dürfe49 und schloss kopfschüttelnd und gegen die SPS schießend: »Kann es angesichts solcher Pressestimmen verwundern, wenn sich in Zürich Terroristen, Anarchisten, überhaupt Leute fanden, die durch das Mittel des Terrors den Terroristen Kilatschiski [sic] zu befreien suchten?«50 51 Beide Mechanismen gehen weitgehend ohne die Bemühung von Anarchie-Begriffen vonstatten. Gelegentlich eröffneten diese zwar einleitend Artikel und Diskurs und blieben so dem Thema als Ursache eingeschrieben. Tatsächlich wurden sie aber nach einer initialen Nennung kaum mehr verwendet.52 Ein einziger längerer, gut zwei Wochen nach dem Ereignis veröffentlichter Hintergrundartikel wich von dieser Methodik ab.53 Inhaltlich entfernte sich die NZZ aber auch darin kaum von den früher formulierten Anarchismuskonzeptionen. Die Bewegung wurde als ein der Schweiz fremdes, von deutschen und russischen Revolutionären importiertes Problem geschildert, das, mit Führern bestückt, eine autoritäre und gelegentlich geheimbündlerische Struktur habe: »Bevor die beiden russischen Emigranten Bakunin und 48  |  »Eidgenossenschaft«, 8.6.1907, Jg. 128, Nr. 157, Abendblatt, S. 2. Im selben Artikel wurde konkludierend auch von »dieser ausländischen Kundgebung« gesprochen. 49 | Vgl. »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 8.6.1907, Jg. 128, Nr. 157, Abendblatt, S. 2. 50 | »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 8.6.1907, Jg. 128, Nr. 157, Abendblatt, S. 2. 51 | An einer Brücke zwischen Anarchismus und Sozialdemokratie wurde auch in SPSspezifischen Artikeln gearbeitet. Vgl. stellvertretend die Berichterstattung zum Parteitag in Olten, bei dem die Unglaubwürdigkeit der expliziten Distanzierungen von Anarchismus und Antimilitarismus hervorgehoben wurde, in »Das sozialistische Intransigententum als Sieger«, Neue Zürcher Zeitung, 25.6.1907, Jg. 128, Nr. 174, Erstes Morgenblatt, S. 1. 52 | Vgl. als Extrembeispiel die Beiträge des Russlandkorrespondenten zum Thema, der die Explosion ganz klar in einen anarchistischen Zusammenhang stellte, diesen aber an keiner Stelle mit Anarchie-Begriffen bezeichnete. Vgl. stellvertretend »Zur Bombenexplosion in Zürich«, Neue Zürcher Zeitung, 13.6.1907, Jg. 128, Nr. 162, Erstes Abendblatt, S. 1. Im Artikel »Die Russen in der Schweiz«, Neue Zürcher Zeitung, 27.6.1907, Jg. 128, Nr. 176, Drittes Morgenblatt, S. 1, wirkte derselbe Autor auch nachhaltig auf den xenophoben Diskurs ein, der die Konstitution zugeschriebener kollektiver Identität von AnarchistInnen in der Schweiz maßgeblich mitprägte. »Die ›überlandläufigen‹ Russen aber, die heute ganz Europa überziehen, strotzen von Unrat und Ungeziefer, zumindestens geistiger Art!«, wie die NZZ der vorgegebenen Dreck- und Schädlingsmetaphorik freien Lauf ließ. In welcher Richtung man folglich nach möglichen TäterInnen suchte, ist offensichtlich so klar, dass es kaum mehr explizit erwähnt werden musste. Vgl. für einen der wenigen Fälle, in denen die Suche nach AnarchistInnen explizit erwähnt wurde: »Lokales: Leider«, Neue Zürcher Zeitung, 18.6.1907, Jg. 128, Nr. 167, Erstes Morgenblatt, S. 3. 53 | »Die anarchistische Bewegung in der Schweiz«, Neue Zürcher Zeitung, 21.6.1907, Jg. 128, Nr. 170, Erstes Morgenblatt, S. 1 (Teil I), resp. »Die anarchistische Bewegung in der Schweiz«, Neue Zürcher Zeitung, 22.6.1907, Jg. 128, Nr. 171, Erstes Morgenblatt, S. 1 (Teil II).

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Krapotkin in der Schweiz auftauchten, war es hier noch zu keiner nennenswerten anarchistischen Propaganda gekommen. Etwas weniges war schon unter den Jungdeutschen der französischen Schweiz geschehen, aber vorläufig mehr en famille.«54 Auch die Zuschreibung des Pathologischen findet sich im zweiteiligen Hintergrundartikel: AnarchistInnen, die »[...] erbitterten Elemente und überspannten Köpfe [...]«55, wurden als verführtes Fußvolk portraitiert. Wurde bezüglich strategischer Methoden der seit den 1900er Jahren vermehrt gewählte Zustieg via Antimilitarismus und Generalstreikspropaganda erwähnt, so blieben Zielvorstellungen des Anarchismus gänzlich unbeleuchtet und das schummrige Bild einer unüberblickbaren Masse wühlender AusländerInnen, die lediglich die Ruhe in der Schweiz stören wollten, erhalten.56 Im Rahmen des ersten Bombenprozesses, der dem Befreiungsversuch folgte, ergaben polizeiliche Ermittlungen schließlich, dass weder Russen noch Italiener, sondern Zürcher Anarchisten um Ernst Frick die Polizeikaserne überfallen hatten.57 In der ersten, knappen Erwähnung der bevorstehenden Verhandlung wurde der Angeklagte als »der Anarchist Ernst Frick« eingeführt.58 Damit erhellt sich der Reizwortcharakter von Anarchie-Begriffen, da die politische Überzeugung des Angeklagten für die Verhandlung juristisch irrelevant hätte sein sollen. Außer der Schlechtmachung und Vorverurteilung des Angeklagten wurde damit kein Zweck erfüllt.59 Trotz des Freispruchs, der in wenigen Zeilen kolportiert wurde60, hielt die NZZ in einer ausführlichen Titelgeschichte daran fest, in Frick einen Schuldigen zu sehen. Und sie zeigte sich gewillt, aus ihm einen solchen zu konstruieren, angebunden an dessen anarchistische Überzeugung. So wurde Frick als notorisch kriminell portraitiert: »Als Anhänger der anarchistischen Theorie, Mitarbeiter und zeitweiliger Redakteur des ›Weckruf‹, war Frick der Polizei längst bekannt.«61 Die Alibis, die 54  |  »Die anarchistische Bewegung in der Schweiz«, Neue Zürcher Zeitung, 21.6.1907, Jg. 128, Nr. 170, Erstes Morgenblatt, S. 1. Weiter unten im Text hieß es: »Die anarchistischen Agitatoren, die je in der Schweiz eine leitende Rolle gespielt haben, waren von jeher lauter Ausländer [...]«, und: »Solche Bewegungen spielen sich zum grossen Teil im geheimen ab; die anarchistische Propaganda erfolgt sozusagen unterirdisch.« (Ebd., S. 1). 55  |  »Die anarchistische Bewegung in der Schweiz«, Neue Zürcher Zeitung, 21.6.1907, Jg. 128, Nr. 170, Erstes Morgenblatt, S. 1. 56  |  Vgl. für die Diskussion der Anbindung an Arbeiterbewegung und Antimilitarismus »Die anarchistische Bewegung in der Schweiz«, Neue Zürcher Zeitung, 22.6.1907, Jg. 128, Nr. 171, Erstes Morgenblatt, S. 1. 57 | Vgl. für eine ausführlichere Nachzeichnung von Kasernenüberfall, Bombenprozess, und dem Wiederaufrollen des Falls vor dem Bundesgericht Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz. Detaillierter in Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 30-53 resp. S. 195-228. 58  |  Vgl. »Aus dem Gerichtssaal«, Neue Zürcher Zeitung, 29.10.1907, Jg. 128, Nr. 300, Erstes Abendblatt, S. 2. 59 | Frick bezeichnete sich selbst im Laufe des Prozesses ebenfalls als Anarchisten und Herausgeber des Weckruf. Es geht allerdings nicht aus dem Beitrag hervor, ob Frick aus eigenen Stücken oder auf gezielte Fragen hin dazu kam. Vgl. »Schwurgericht in Pfäffikon«, Neue Zürcher Zeitung, 29.10.1907, Jg. 128, Nr. 300, Zweites Abendblatt, S. 2. 60  |  »Schwurgericht in Pfäffikon«, Neue Zürcher Zeitung, 30.10.1907, Jg. 128, Nr. 301, Erstes Morgenblatt, S. 3. 61  |  N., »Schwurgericht in Pfäffikon«, Neue Zürcher Zeitung, 1.11.1907, Jg. 128, Nr. 303, Zweites Morgenblatt, S. 1.

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Frick von Margarethe Hardegger-Faas und dem Schneider Geiser bestätigt bekam, wurden in satirischem Ton ins Lächerliche gezogen und damit ihrer Glaubwürdigkeit vorverurteilend beraubt.62 Nicht nur in stilistischen, auch in lexikalischen Feinheiten offenbarte sich die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen als prinzipiell Delinquente, die sich darüber hinaus gegenseitig decken würden: Sagten ZeugInnen im Sinne der Anklage aus, so wurden in der Regel die Verben ›sagen‹ und ›bestätigen‹ verwendet. Aussagen von ZeugInnen im Sinne des Angeklagten dagegen wurden ›behauptet‹. Zusammenfassend entstand der Eindruck von AnarchistInnen als einer verschwörerischen Gruppe, die über eine hohe kriminelle Energie verfügte und die auch vor Attentaten und Meineiden nicht zurückschreckte, um ihrer Sache zu dienen, was auch immer diese sein mochte. Die Wiederaufnahme des Zürcher Bombenprozesses Ende November 1912 ging dagegen überraschend nüchtern vonstatten.63 Die meisten Artikel wurden in nüchternem Ton gehalten, und bergen kaum Passagen, welche die zugeschriebene kollektive Identität erhellen könnten.64 Wohl wurde Ernst Frick in Anbindung an sein Engagement in der anarchistischen Bewegung immer noch als vertrauensunwürdig dargestellt.65 Im Übrigen wurden die Stellungnahmen der Verhörten aber weitgehend wertungsfrei kolportiert, sodass keine Häufungen von Konjunktiven oder einseitig gefärbten Verben festzustellen sind, die Rückschlüsse auf Anarchismuskonzeptionen der NZZ erlauben würden.66 Lediglich im Beitrag zur Urteilsverkündung ist eine Verquickung des anarchistischen Milieus mit Devianz zum bürgerlichen Normverhalten zu erkennen: »Ein kleines Stimmungsbild als Finale: rechts fährt der vergitterte Gefangenenwagen mit den Verurteilten zur Polizeikaserne hinunter, links schreitet die Frau des einen Verurteilten, nachdem sie dessen Abfahrt noch beigewohnt, vergnügt plaudernd Arm in Arm mit irgend einem Freund in die Freiheit hinaus.« 67

62  |  Die Aussage des Schneiders Geiser etwa wurde wie folgt eingeleitet: »Auch der Schneider Geiser konnte sich haarscharf erinnern [...].« (N., »Schwurgericht in Pfäffikon«, Neue Zürcher Zeitung, 1.11.1907, Jg. 128, Nr. 303, Zweites Morgenblatt, S. 1). 63 | Eine Hysterie, von der etwa bei Bochsler die Rede ist, kann in der NZZ nicht ausgemacht werden. Auch die Ränge im Gerichtssaal blieben an einigen Tagen schlecht gefüllt, wie sie stattdessen festhielt. Vgl. Bochsler, Ich folgte meinem Stern, S. 212. 64  |  Vgl. etwa den allerersten Beitrag, eine wörtliche Verkündung der Anklageschrift (»Aus dem Gerichtssaal«, Neue Zürcher Zeitung, 22.11.1912, Jg. 133, Nr. 325, Drittes Morgenblatt, S. 2). 65  |  Vgl. »Aus dem Gerichtssaal: Die Bombenaffäre [...]«, Neue Zürcher Zeitung, 26.11.1912, Jg. 133, Nr. 329, Drittes Abendblatt, S. 2. 66  |  Vgl. stellvertretend den Beginn (»Aus dem Gerichtssaal: Die Bombenaffäre [...]«, Neue Zürcher Zeitung, 27.11.1912, Jg. 133, Nr. 330, Drittes Abendblatt, S. 2) und den Schluss der ZeugInnenvernehmung (»Aus dem Gerichtssaal: Die Bombenaffäre [...]«, Neue Zürcher Zeitung, 29.11.1912, Jg. 133, Nr. 332, Erstes Morgenblatt, S. 2), wo die letzten der insgesamt 43 geladenen ZeugInnen und sechs Experten vernommen wurden. 67  |  »Aus dem Gerichtssaal: Die Bombenaffäre [...]«, Neue Zürcher Zeitung, 2.12.1912, Jg. 133, Nr. 335, Erstes Morgenblatt, S. 2.

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Auch hier fielen keine Anarchie-Begriffe aber das plakative Herauskehren der Devianz zum amourösen Normverhalten kann, zumal die Tatsache überhaupt nichts mit dem Prozess zu tun hatte, als das Milieu ausgrenzende Maßnahme interpretiert werden.

5.2.2 Arbeiterstimme/Volksrecht 5.2.2.1 Bundeshaussprengung 1885 In der ersten Stellungnahme des offiziellen Organs der Sozialdemokratie zur geplanten Bundeshaussprengung finden sich mehrere Passagen, die Rückschlüsse auf die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen erlauben. »Es seien 2000 Anarchisten in der Schweiz, meldet eine Notiz, welche die Runde in den Schweizerblättern macht. Entweder eine Null zu viel oder eine zuwenig, je nachdem ob man die Anarchisten im Frack, die vornehmen Halsabschneider, dazu rechnet oder nicht.«68 Anarchie-Begriffe wurden in der sozialdemokratischen Presse dadurch negativ konnotiert, indem sie mit KapitalistInnen gleichgesetzt und damit zu eigentlichen Antipoden des Proletariats wurden, dessen Interessenvertretung die Arbeiterstimme für sich selbst reklamierte.69 Der darauffolgende Satz verstärkte diese Negativkonnotation aus einer anderen Warte: »Die auswärtigen Mächte hätten die Zahl ihrer Spitzel in der Schweiz bedeutend vermehrt. Da darf man bald wieder ›Thaten‹ erwarten.« 70 So wurde der Eindruck konstruiert, dass Anarchismus primär eine Spielwiese ausländischer Polizeien sei, womit nicht zuletzt ein xenophober Reflex bemüht werden konnte. Des Weiteren wurde durch die Verquickung von AnarchistInnen mit dem Spitzelwesen Misstrauen geschürt. Da in demselben Abschnitt auch Ursachen der anarchistischen Agitation als solche erwähnt wurden71, ist von einer Diffamierung mit hohem Bewusstheitsgrad auszugehen. Im einem anderen Artikel wurde die anarchistische Bewegung zunächst als verschwindend kleine Bewegung heruntergespielt, um sie danach als Ergebnis des kapitalistischen Systems zu inszenieren. »Wir halten die paar Dutzend ausgesprochenen Anarchisten, die sich in der Schweiz befinden mögen, für keine Staatsgefahr« 72, hieß es vorab. »Gerade durch [...] raffinierte und rücksichtslose Ausbeutermaxime werden in den gepeinigten unteren Schichten der Glaube und die Hoffnung auf eine friedliche und rechtzeitige Lösung der sozialen Frage vernichtet und [...] der Boden für die anarchistische Wahnsinns- und Verbrechenssaat gelo-

68 | »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 14.2.1885, Jg. 5, Nr. 7, S. 2. Auch die ironischen Bemerkungen zum anarchistischen Schreckgespenst können als Herunterspielungen gelesen werden. Vgl. »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 21.3.1885, Nr. 12, S. 2 69  |  In der marxistischen Theorie bezeichnet die Figur ›Anarchie der Produktion‹ den wildwuchernden Kapitalismus. Eine Überschneidung orthodox-marxistischer nicht orthodoxmarxistischer Begriffe dürfte in diesem Zusammenhang der Arbeiterstimme bewusst gewählt worden sein. 70  |  »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 14.2.1885, Jg. 5, Nr. 7, S. 2. 71  |  Ebd., S. 2. 72  |  »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 21.2.1885, Jg. 5, Nr. 8, S. 2.

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ckert« 73. Eine Gleichsetzung, die den Anarchismus simultan psychopathologisch und delinquent erscheinen ließ. Die Pathologisierung wurde auch zur Verstärkung anderer identitätskonstituierender Konstruktionen verwendet, etwa der abwertenden Gleichsetzung von KapitalistInnen und AnarchistInnen: »Mögen darum die Anarchisten im Frack zusehen, wie sie mit ihren Brüdern, den Anarchisten in der Blouse, fertig werden. Sie haben ja dieselben erzeugt. Wir haben schon längst in Wort und Schrift nach Kräften gegen den Anarchismus und die Most’schen Blut- und Hanswurstiraden angekämpft und werden das auch in Zukunft thun, denn wir wissen, dass mit Tollhäuslereien nur der Sache des Proletariats geschadet wird.«74

Ein weiterer Aspekt der zugeschriebenen kollektiven Identität ist die Skizzierung der anarchistischen Bewegung als hierarchisch strukturiert und die Porträtierung Johann Mosts als deren Anführer. Die »Mostianer« wurden zudem als der sozialistischen Sache schädlich verurteilt: »Hoffentlich kommen Diejenigen, unter den Anhängern des Hans Most, die nicht Schufte oder Narren oder ›verkannte Grössen‹ sind, zur Überzeugung, dass die ganze von Most in Szene gesetzte Tollhäuslerei der Sache des Proletariats nur schaden kann, diese im Volk diskreditirt [sic] und darum die Befreiung der Massen hinausschiebt. Mit Putschen und bubenhaften Dynamitknallereien revolutionirt [sic] man das Volk nicht.« 75

Die Themen Spitzelwesen, Psychopathologie und Anarchismus traten wiederholt in Kombination auf zur Reproduktion und Affirmation der zugeschriebenen kollektiven Identität.76 Zur bundesrätlich angeordneten Anarchisten-Untersuchung sind in der Arbeiterstimme vornehmlich Kurznachrichten zu finden, die entweder keine identitäts73 | »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 21.2.1885, Jg. 5, Nr. 8, S. 2. Richtiggehend lächerlich machte sich die Arbeiterstimme an anderer Stelle betreffend der Anzahl und Schlagkraft der AnarchistInnen in der Schweiz. In einer Kurzmeldung zur losgetretenen Durchleuchtung des anarchistischen Milieus hieß es Ende März: »Von den in Bern verhafteten 23 Anarchisten sind nur noch vier [...] in Haft. Das rothe Gespenst schrumpft sehr bedenklich zusammen und kann kaum noch Kinder, geschweige denn ernsthafte Leute erschrecken.« (»Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 21.3.1885, Jg. 5, Nr. 12, S. 2). 74  |  »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 21.2.1885, Jg. 5, Nr. 8, S. 2. Vgl. dazu auch folgenden Passus: »Der Presse der vornehmen Anarchisten und Geldmenschen wird es auf eine Handvoll mehr oder weniger Lügen gegen uns verhasste Sozialdemokraten nicht ankommen [...].« (C., Eine zeitgemässe Betrachtung«, Arbeiterstimme, 7.3.1885, Jg. 5, Nr. 10, S. 1). Auch in Artikeln, die nicht mit der Bundeshaussprengung in Zusammenhang stehen, findet sich diese Gleichsetzung immer wieder. Vgl. »Einsendungen«, Arbeiterstimme, 21.3.1885, Jg. 5, Nr. 12, S. 1, wo eine »[...] Seelenverwandschaft dieser scheinbar sich feindlichen Brüder [...]« konstatiert wurde. 75  |  C., »Eine zeitgemässe Betrachtung«, Arbeiterstimme, 7.3.1885, Jg. 5, Nr. 10, S. 1. 76  |  Vgl. bspw. ebd., S. 1: »Wenn da ein Mensch käme, und zu einer in die Luftsprengung irgend eines öffentlichen Gebäudes rathen würde oder sonst von einer Verschwörung spräche, so würde man ihn in sozialistischen Kreisen sofort als einen Verrückten oder als einen monarchischen Polizeispitzel betrachten und ihm den Rücken kehren.«

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konstituierenden Elemente enthielten77, oder es wurden die bereits präsentierten Mechanismen bemüht, wie ein Beitrag zeigt, der ein Bild von konterrevolutionären, Johann Most homogen folgenden AnarchistInnen zeichnete, von denen sich die Sozialdemokratie kategorisch abschloss: »Wir würden uns einen schlechten Dienst leisten, würden wir uns zum Vertheidiger der Anarchisten aufwerfen [...]. Wir sind ein entschiedener Gegner des Anarchismus [...].« 78

5.2.2.2 Luccheni-Attentat 1898 Am 1.4.1898 wurde die Arbeiterstimme der Funktion als offizielles Organ der SPS enthoben. Als Zeitung bestand sie als offizielles Organ des Gewerkschaftsbundes aber bis 1908 weiter. Stellvertretend soll an ihrer Stelle das Volksrecht, »socialdemokratisches Tagblatt«, wie es im Untertitel hieß, für die sozialdemokratische Perspektive untersucht werden.79 In seinem ersten Bericht zum Thema erwähnte das Volksrecht die politische Gesinnung des Attentäters der Kaiserin Elisabeth zwar, Spitzen wurden aber ausschließlich gegen die Politische Polizei geritten, die ihre Arbeit aus sozialdemokratischer Sicht schlecht machte und ihrer Aufgabe nicht gewachsen sei.80 Der zweite Artikel zum Ereignis enthielt für die Konstitution der zugeschriebenen kollektiven Identität der AnarchistInnen relevante Erwähnungen. Darin wurde der als Anarchist bezeichnete Luccheni als psychisch ramponiert geschildert, seine frühe Hinkehr zum Anarchismus als Folge eines inexistenten Elternhauses. Die ihm zugehaltenen Anarchie-Begriffe wurden aber nicht ersetzt, sondern ergänzt und modifiziert durch eine ihm unterstellte Geisteskrankheit: »Dass Lucchini [sic] ein Wahnwitziger ist, wer könnte das bezweifeln? [...] er [vernahm, d.V.] schon als Knabe die das Gefühl aufregenden Lehren der anarchistischen Propaganda der That: mit 14 Jahren war der vater- und heimatlose Knabe bereits ein Anarchist.« 81 So wurde eine gegenseitig produktive kausale Verbindung von Geisteskrankheit und Anarchismus impliziert. Ebenfalls eine Verklammerung 77 | Vgl. stellvertretend eine wertfreie Kurznotiz zur Entlassung von Verdächtigen in Bern und Zürich in »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 14.3.1885, Jg. 5, Nr. 11, S. 3. Andere Kurznotizen machten sich über die Ineffizienz und die hohen Kosten der Untersuchung lustig, beschäftigten sich aber nicht mehr mit AnarchistInnen und Anarchismus als solches, sondern mit den Effekten der Untersuchung. Vgl. stellvertretend »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 16.5.1885, Jg. 5, Nr. 20, S. 1-2. 78  |  Vgl. »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 28.3.1885, Jg. 5, Nr. 13, S. 2-3, Zitat S. 2. »[...] [U]nsere aus tiefster Ueberzeugung stammende Gegnerschaft gegen den Anarchismus« wurde in dieser Periode der Untersuchung besonders betont. 79  |  Vgl. zur Ablösung »Etwas wie ein Programm«, Arbeiterstimme, 2.4.1898, Jg. 5, Nr. 27, S. 1, sowie die Einführung in der Nullnummer des Volksrecht »Zur Einführung«, Volksrecht, 19.3.1898, Erste Probenummer, S. 1. 80  |  Die Fähigkeiten der Politischen Polizei bezweifelnd hieß es im Volksrecht: »Der Bundesanwaltschaft war der Mann bekannt. [...] Als die That geschah, war Herr Bundesanwalt Scherb zur Abwechslung wieder einmal nicht auf seinem Posten.« (»Ermordung der Kaiserin von Oesterreich«, Volksrecht, 12.9.1898, Jg. 1, Nr. 137, S. 3). 81  |  »Die wahnwitzige That eines Wahnwitzigen«, Volksrecht, 13.9.1898, Jg. 1, Nr. 138, S. 1. Beide Attribute, ›anarchistisch‹ wie ›psychisch krank‹, wurden auch in späteren Artikeln parallel als Attribute Lucchenis vermittelt. Vgl. stellvertretend »Wer ist verantwortlich?«, Volksrecht, 19.9.1898, Jg. 1, Nr. 143, S. 1.

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kausaler Art wurde im Volksrecht zwischen Kapitalisten und Anarchisten konstruiert: »Der Anarchismus in der Bluse ist nur der Widerschein des Anarchismus im Frack. Würde man oben auf den Geist abstellen, würde von unten auch nur mit den Waffen des Geistes geantwortet. Nun man aber von oben mit Gefängnis und Zuchthaus, Hungertod und Hinrichtung vorgeht, wird von unten mit Dolch und Revolver erwidert.« 82

Hierbei ist die sprachliche Verquickung über die Anarchie-Begriffe von besonderem Interesse, die das kausale Verhältnis zugunsten einer Gleichsetzung aufhob, indem sie suggerierte, das Gegensatzpaar als Seiten derselben Medaille zu begreifen. AnarchistInnen wurden außerdem pauschal als homogene Gruppe von Propagandisten der Tat dargestellt.83 Neben dem Wahnsinn der einzelnen anarchistischen Täter wurde der Anarchismus auch als Theorie in dunklen Tönen gemalt, und gelegentlich als »Theorie des Schreckens« eingeführt, freilich ohne diesen Schrecken als Gefäß mit Inhalt zu füllen.84 Nicht zuletzt wurde auch die Gegenteiligkeit von Sozialismus und Anarchismus beschwörend propagiert, wobei mitunter auch deutliche Worte gewählt wurden, um klare Verhältnisse zu schaffen, und AnarchistInnen dazu auch schon mal als verabscheuungswürdige Kannibalen und Reaktionäre85 betitelt wurden.86 Den negativen Eindruck bestärkte die wiederholte Juxtapostionierung der beiden divergenten Ansätze,beispielsweise mit der Kontrastierung vom »Optimismus des Socialismus« und der »Verzweiflung des Anarchismus«. In die Kerbe der Diffamierung schlug weiter auch der patriotisch anmutende Akt, Anarchismus als unschweizerisches, italienisches Phänomen zu vermitteln und so zu verteufeln: »Dem [...] fluchwürdigen Regierungssystem Ita82  |  Ebd., S. 1. 83 | »Wer auch nur einmal einen Blick auf die Grosszahl der Jugend einer Grossstadt geworfen hat [...], kann sich nur über eines wundern: darüber nämlich, dass nicht viel mehr Anarchisten, Anhänger der Propaganda der That aus diesen Treibhäusern der Verzweiflung hervorgehen.« ebd., S. 1). 84  |  Vgl. »Zu den Anarchisten-Ausweisungen«, Volksrecht, 6.10.1898, Jg. 1, Nr. 158, S. 1. Dem Schreckgespenst Anarchismus war dies verständlicherweise zuträglich. 85  |  Vgl. »Die Mitschuldigen des Genfer Attentates«, Volksrecht, 15.9.1898, Jg. 1, Nr. 140, S. 1: »Es liegt uns vollständig ferne, eine Verteidigung der Propagandisten der That zu schreiben; für den Socialdemokraten [...] sind sie verabscheuungswürdige Kannibalen, Reaktionäre in gewissem Sinne«. Auch als »[...] Helfershelfer der Reaktion und Henker der Freiheit [...]« (»Zu den Anarchisten-Ausweisungen«, Volksrecht, 6.10.1898, Jg. 1, Nr. 158, S. 1) wurden sie mitunter bezeichnet. 86  |  »Die Socialdemokratie allein wird mit der anarchistischen Propaganda der That fertig.« (»Die wahnwitzige That eines Wahnwitzigen«, Volksrecht, 13.9.1898, Jg. 1, Nr. 138, S. 1). Die Demarkation, dass die Sozialdemokratie nichts mit Anarchismus zu schaffen habe, findet sich in einer Vielzahl der Artikel zum Thema. Vgl. etwa die Replik auf einen Artikel der NZZ: »Thatsache ist [...], dass es keinen grösseren Gegensatz gibt, als denjenigen zwischen Anarchismus und Socialismus.« (»Stadt Zürich: Die ›Neue Zürcher Zeitung‹«, Volksrecht, 14.9.1898, Jg. 1, Nr. 139, S. 3). Der Artikel »Durch die socialdemokratische Schule hindurchgegangen«, Volksrecht, 19.9.1898, Jg. 1, Nr. 143, S. 2, bemühte sich ausschließlich um eine Widerlegung der angeblichen Seelenverwandschaft zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus.

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liens verdanken wir Schweizer, die noch niemals einen Propagandisten der That aus unserer Mitte haben erstehen sehen, die ruchlose Schändung unseres gastfreundlichen Bodens durch die Unthat Luigi Lucchenis.« 87 Der Prozess Lucchenis war im Volksrecht nur Gegenstand eines einzigen Artikels. Identitätskonstituierendes lag darin nicht nur insoweit vor, als Lucchenis Bekundungen, Anarchist zu sein, mehrfach erwähnt wurden und der Anarchismus damit implizit enger an das Attentat gebunden und darauf reduziert wurde.88

5.2.2.3 Silvestrelli-Affäre 1902 Das anarchistische Ereignis der Silvestrelli-Affäre wurde im Volksrecht als diplomatisch-politisches Phänomen begriffen und behandelt. In der großen Mehrheit der Artikel nach dem gegenseitigen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien entbehrten die geopolitisch-patriotische Argumentationslinien weitgehend Anarchie-Begriffe: »Es handelt sich nicht nur um die nationale Würde und die politische Selbständigkeit der Schweiz, sondern auch um die Stellung des Bundesrates gegenüber den Mächten. Es handelt sich darum, ob der Vertreter [gemeint ist Silvestrelli, d.V.] einer ›Grossmacht‹ das Recht hat, die Regierung eines kleinen, aber politisch selbständigen Landes wie seinen Lakaien zu behandeln.« 89

Ein Zusammenhang zwischen Anarchismus und der diplomatischen Krise wurde lediglich in einer Kurzmeldung aufgestellt, indem die faktische Erlassung eines Redeverbots für Luigi Bertoni an die Krise angebunden wurde.90 Auch darin findet sich allerdings keine konstituierenden Elemente für die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen.91 Die Beilegung der diplomatischen Krise am 25.7.1902 behandelte das Volksrecht noch knapper. Auch hierbei traten keine identitätskonstituierenden Elemente auf.92

5.2.2.4 Befreiungsversuch Kilaschitzky 1907/1912 Die kombinierten anarchistischen Ereignisse des Zürcher Kasernenüberfalls und der Bombenprozesse 1907 und 1912 zeigen sich als reichhaltige Quellen für die Konstitution zugeschriebener kollektiver Identität. In den Grundzügen fuhr das Volksrecht dort weiter, wo es selbst und die Arbeiterstimme aufhörten. Im ersten Bericht zum Thema fielen keine Anarchie-Begriffe, die Tat wurde eher ›Revolu87  |  »Ausland: Italien ist der Ansteckungsherd«, Volksrecht, 19.9.1898, Jg. 1, Nr. 143, S. 2 (Herv. i.O.). 88  |  Vgl. B., »Prozess Luccheni«, Volksrecht, 11.11.1898, Jg. 1, Nr. 189, S. 3. 89  |  »Inland: Der Konflikt mit Italien«, Volksrecht, 12.4.1902, Jg. 5, Nr. 82, S. 2. Vgl. auch »Vor fünfzig Jahren«, Volksrecht, 13.4.1902, Jg. 5, Nr. 85, S. 1-2, und »Inhalt: Der Konflikt mit Italien«, Volksrecht, 13.4.1902, Jg. 5, Nr. 85, S. 2. 90  |  Vgl. den Zehnzeiler »Neueste Nachrichten: Verhaftung Bertonis«, 15.4.1902, Jg. 5, Nr. 86, S. 3. 91 | Vgl. ebenso »Inland: Die bundesrätliche Botschaft zum schweizerisch-italienischen Konflikt«, Volksrecht, 18.4.1902, Jg. 5, Nr. 89, S. 2, wo ebenfalls (wenige) Anarchie-Begriffe ohne interpretierbare Wertung fallen. 92  |  Vgl. »Inland: Friede mit Italien«, Volksrecht, 30.7.1902, Jg. 5, Nr. 174, S. 2.

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tionären‹ und ›Terroristen‹ zugedacht, die traditionell dem russischen Milieu zugeschrieben wurden.93 Diese Vermutung wurde jedoch bald fallengelassen und AnarchistInnen wurden als mögliche Urheberschaft eingeführt, obschon auch dies zu diesem Zeitpunkt reine Vermutung war: »Die leitenden Polizeiorgane halten es im Gegenteil für gar nicht ausgeschlossen, dass hier andere anarchistische Hände im Spiele sind.«94 Diese Vermutungen wurden schließlich auf Einzelpersonen ausgedehnt. Es würde gemutmaßt, so das Volksrecht, »[...] dass der kürzlich aus Zürich ausgewiesene und der Polizei schon so vielfach Angelegenheit verursachende Anarchist Nacht sich wieder in anarchistischen Kreisen herum getrieben habe«95. Das Volksrecht verwertete die mangelnden Beweise gegen AnarchistInnen damit nicht entlastend für, sondern belastend gegen sie, was den Eindruck eines Generalverdachts AnarchistInnen gegenüber erhöhte. Die Skizzierung als TerroristInnen erschien damit so lange gültig, bis das Gegenteil bewiesen war. Dass der Kasernenüberfall an anderer Stelle als ›Nachtstück‹ bezeichnet wurde, dürfte ebenso kein Zufall, sondern sprachlich raffiniert der subtilen Verstärkung des Generalverdachts gedient haben.96 In einer abgedruckten Kantonsratsrede Hermann Greulichs wurden AnarchistInnen in Zusammenhang mit dem Befreiungsversuch als grundsätzlich feige Schwätzer skizziert und im gleichen Satz durch die Verquickung mit dem ausländischen Spitzelwesen, das sie fremd steuere, weiter stigmatisiert: »Der läppische Ueberfall der Polizeikaserne [...] ist offenbar die Tat erbärmlicher Maulhelden, die wohl von allerlei Gewalttaten schwätzen, ohne wirklich den Mut zu haben, sie auch durchzuführen – die gewöhnliche Sorte von Maulanarchisten. Die verbrecherische Bombengeschichte weist auf die gleiche Quelle hin, zwingt aber zu der Vermutung, dass hinter den Tätern noch Lockspitzel stecken, mit denen wir ja von verschiedenen Polizeistaaten [...] beglückt werden.« 97

Die anschließende Betonung der Verschiedenheit von Sozialdemokratie und Anarchismus dürfte ihre Wirkung als Framing-Prozess für die kollektive Identität der SozialdemokratInnen ebenso wenig verfehlt haben wie für die Negativfärbung der 93  |  Vgl. »Lokales: Eine verbrecherische Lausbüberei oder eine Spitzelgeschichte«, Volksrecht, 5.6.1907, Jg. 10, Nr. 127, S. 2, und »Inland: Die Bombenexplosion in Zürich III«, Volksrecht, 5.6.1907, Jg. 5, Nr. 127, S. 2-3. Wiederholt trat das Volksrecht in späteren Artikeln entschieden gegen Vorverurteilungen von RussInnen als TäterInnen ein. Vgl. etwa »Inland: Die Russenhetze«, Volksrecht, 8.6.1907, Jg. 10, Nr. 130, S. 1, oder »Inland: Die bürgerlichen Hetzer«, Volksrecht, 26.6.1907, Jg. 10, Nr. 145, S. 1. 94  |  »Lokales: Zum Ueberfall in der Polizeikaserne«, Volksrecht, 6.6.1907, Jg. 10, Nr. 128, S. 2 95  |  »Lokales: Zum Ueberfall in der Polizeikaserne«, Volksrecht, 6.6.1907, Jg. 10, Nr. 128, S. 2. Gemeint ist Max oder Siegfried Nacht, die beide am Weckruf mitgearbeitet haben. 96  |  Fünf Tage nach dem Überfall hielt das Volksrecht an seiner Solidarität mit Kilaschitzky fest, »da ändert kein sinnloser Bubenstreich etwas daran«, auch wenn die Sozialdemokraten das »Nachtstück der Gesellen ohne Verantwortungsgefühl aufs schärfste tadeln [...]« (»Inland: Die Russenhetze«, Volksrecht, 8.6.1907, Jg. 10, Nr. 130, S. 1). 97  |  Greulich, Hermann, »Gegen Arbeitermisshandlungen«, Volksrecht, 18.6.1907, Jg. 10, Nr. 138, S. 1.

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zugeschriebenen kollektiven Identität der AnarchistInnen.98 Eine geradezu kategorische Verschiedenheit wurde konstruiert, wenn AnarchistInnen nicht nur von der Sozialdemokratie weg, sondern der Bourgeoisie zur Seite gestellt wurden: »Putsche und Gewaltakte haben die Anarchisten überhaupt nicht von uns gelernt, die wir stets gesetz- und verfassungsmässig vorgegangen sind, sondern von den bürgerlichen Revolutionären [...].«99 Der erste Bombenprozess, der im Zuge der Ermittlungen gegen Ernst Frick eröffnet wurde, schlug im Volksrecht mit nur zwei Artikeln kleine Wellen. Ein knapp paraphrasierender Bericht erschien erst nach der Urteilsverkündung und enthielt kaum identitätskonstitutierende Elemente: Abgesehen von der Bezeichnung des Angeklagten als Anarchist im Titel wurden keine Anarchie-Begriffe verwendet.100 Auch ein längerer Artikel zum Thema bot außer der Bezeichnung Fricks keine Anarchie-Begriffe, aus deren Kontext, Anwendung oder Kontrastierung Rückschlüsse auf die zugeschriebene kollektive Identität gezogen werden könnten.101 Die Berichterstattung zum wiederaufgerollten Bombenprozess 1912 war dominiert von einer sachlichen Paraphrase der Aussagen von allen am Prozess Beteiligten. Die Angeklagten wurden weder verunglimpft noch gegenüber nicht-anarchistischen Beteiligten explizit oder implizit in speziell negatives oder positives Licht gestellt. Kommentare des Volksrechts mit identitätskonstituierendem Inhalt blieben gänzlich aus.102

5.2.3 Der Neue Postillon Da der Neue Postillon erst ab 1895 erschien, liegen zur Bundeshaussprengung und der nachfolgenden Untersuchung keine Illustrationen oder Gedichte vor.

5.2.3.1 Luccheni-Attentat 1898 Der monatlich erscheinende humoristische sozialdemokratische Neue Postillon behandelte das Attentat auf Kaiserin Elisabeth in Genf bereits in der Septemberausgabe, verfügte aber in der kolportierten Geschichte über keine identitätskonstituie98  |  Die Demarkation wird durch eine neuerliche, zusätzliche Verklammerung des Anarchismus mit dem Spitzelwesen verstärkend unterstrichen: »Als der Anarchismus der Putsch und Gewaltakte auftrat, war ich wieder einer, der zuerst dagegen auftrat: es zeigte sich auch bald sehr klar der Zusammenhang mit dem Lockspitzeltum.« (ebd., S. 1). 99  |  Ebd., S. 1. 100  |  »Lokales: Gegen den Anarchisten Frick«, Volksrecht, 30.10.1907, Jg. 10, Nr. 253, S. 3. 101  |  »Gerichtssaal: Der Prozess Frick«, Volksrecht, 31.10.1907, Jg. 10, Nr. 254, S. 4. 102 | Vgl. »Der Bombenprozess vor dem Bundesstrafgericht in Zürich«, Volksrecht, 27.11.1912, Jg. 15, Nr. 279, S. 5, »Der Bombenprozess vor dem Bundesstrafgericht in Zürich«, Volksrecht, 28.11.1912, Jg. 15, Nr. 280, S. 4, »Der Bombenprozess vor dem Bundesstrafgericht in Zürich«, Volksrecht, 29.11.1912, Jg. 15, Nr. 281, S. 5, »Der Bombenprozess vor dem Bundesstrafgericht in Zürich«, Volksrecht, 30.11.1912, Jg. 15, Nr. 282, S. 4, und »Der Bombenprozess vor dem Bundesstrafgericht in Zürich«, Volksrecht, 2.12.1912, Jg. 15, Nr. 283, S. 3. Natürlich dürfte auch die beständige Nennung von Anarchie-Begriffen im Zusammenhang mit Gerichtsprozessen ihren Beitrag zum Reizwort-Charakter geleistet haben. Allerdings bietet sich dazu kein nomenklatorischer Umweg an, sodass in diesem spezifischen Punkt nur bedingt von einer vorsätzlichen Abwertung ausgegangen werden kann.

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renden Elemente. Weder die Pointe der Karikatur, deren Gegenstand Bundesanwalt Scherb und dessen Doppelmandat als Regierungsrat und Generalanwalt war, noch die Gestaltung der Figur Luccheni trugen zur Konstruktion der zugeschriebenen kollektiven Identität der AnarchistInnen der Schweiz bei.103 Anders in einem Gedicht derselben Nummer, wo Anarchie-Begriffe mit Gesetzeslosigkeit gleichgesetzt wurden und der Reihe nach Militaristen, Großfabrikanten, Auslieferungsbeamte und schließlich der Bundesanwalt höchstselbst als anarchistisch agierende Personen dargestellt wurden, weil sie laufend Gesetze überträten. Auch wenn der Beitrag satirisch war, widerfuhr dem Anarchismus daraus eine Bestärkung seiner negativen Konnotationen, da er ausnahmslos mit Feindbildern der Sozialdemokratie gleichgesetzt wurde.104 Der Anarchie-Begriff wurde zudem mit dem orthodox-marxistischen Begriff der Anarchie der Produktion vermengt, deren ProtagonistInnen UnternehmerInnen und KapitalistInnen waren. Aus dieser Verflechtung entstand gewissermaßen als gemeinsamer Nenner die Eigenschaft, über ein stark negatives semantisches Feld zu verfügen. Diese Verklammerung, die Kapital und Anarchie zusammenführte, trat nicht nur in Gedichten auf. In einer unbetitelten Karikatur der Novemberausgabe konnte die Leserschaft einen stereotypisierten Kapitalisten in der Rolle als »[...] vornehmen, wirklichen Anarchisten [...]«105 erkennen. Abbildung 25: Ohne Titel, Der Neue Postillon, 11.1898, Jg. 4, Nr. 11, S. 3. (SozArch, NN 1164)

103  |  Vgl. »Vexir-Bilder vom überburdeten vielgeplagten Bundesanwalt Scherb«, Der Neue Postillon, 10.1898, Jg. 4, Nr. 10, S. 8. Bundesanwalt Scherb wurde nicht nur wegen seines ausbleibenden unmittelbaren Nicht-Erscheinens am Tatort auf die Schippe genommen. Die umgehend erfolgten flächendeckenden Ausweisungen von vermeintlichen italienischen AnarchistInnen, die mitunter auch bereits Ausgewanderte und in einem Fall sogar einen Toten betrafen, waren Ziel des Spotts des Neuen Postillon. Vgl. »Eine theoretische Scene aus der Praxis«, »Privattelegramm« und die Karikatur ohne Titel, Der Neue Postillon, 11.1898, Jg. 4, Nr. 1, S. 4. Vgl. für die als zu rigide vermittelte Praxis des Bundesanwalts auch »Bundesanwaltlicher Kurs für Anarchistenriecher«, Der Neue Postillon, 12.1898, Jg. 4, Nr. 12, S. 5. 104  |  Vgl. »Nieder mit dem Anarchismus!«, Der Neue Postillon, 10.1898, Jg. 4, Nr. 10, S. 5. 105 | Ohne Titel, Der Neue Postillon, 11.1898, Jg. 4, Nr. 11, S. 3 (Herv. i.O.).

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5.2.3.2 Silvestrelli-Affäre 1902 Die Bezeichnung von Privilegierten als AnarchistInnen findet sich auch in einer Karikatur zur Silvestrelli-Affäre. In mit italienischem Akzent versehenem Schweizerdeutsch hieß es: »Silvestrelli, Prinetelli, / Warum maggen Krachio? / Sind sie selber Anarchelli! / Eine feine Compagno. [...]«106, wohl in Anspielung auf die gesetzeswidrige Forderung Italiens, die Schweizer Behörden hätten den Le Réveil/Il Risveglio wegen Beleidigung des italienischen Königs zu verfolgen. Die Erwähnung von Anarchie-Begriffen in der fünften Strophe führte die Arbeit der negativen Konnotierungen des Anarchismus in eine andere Richtung weiter, nämlich indem sie ihn mit Attentaten verklammerte: »[...] Cristo! Jesst die Socialisti: / «Alli Achtig Bundesrat! / Keini Strit mit Anarchisti, / Sus gits wieder Attentat! [...]«107 Neben dieser Gleichsetzung von AnarchistInnen mit der Classe Politique und der Einschätzung von AnarchistInnen als AttentäterInnen, die beide auf ihre Weise die negativen Bilder durch ihre Revitalisierung bestätigten, fand die Silvestrelli-Affäre und deren Auflösung keinen identitätskonstituierenden Eingang im Neuen Postillon.

5.2.3.3 Befreiungsversuch Kilaschitzky 1907/1912 Abbildung 26: »Schöne Seelen finden sich«, Der Neue Postillon, 7.12.1912, Jg. 17, Nr. 23, S. 5 (SozArch Zürich, NN 1164)

Obschon die Ausweisung Georg Kilaschitzkys aus der Schweiz ein wichtiges Thema für den Neuen Postillon war und dem Ausweisungsurteil eine ganzseitige Karikatur gewidmet wurde108, schenkte das sozialdemokratische Witzblatt dem Befreiungsversuch beim Kasernenüberfall kaum Aufmerksamkeit. Nur mit Hintergrundwissen konnte ein dreizeiliges Gedicht überhaupt dem Kasernenüberfall

106  |  Knobel, »An Silvestrelli a.D.«, Der Neue Postillon, 6.1902, Jg. 8, Nr. 6, S. 6. 107  |  Ebd., S. 6. 108  |  Vgl. »Die Asylrechtsfalle«, Der Neue Postillon, 1.6.1907, Jg. 13, Nr. 11, S. 8.

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zugerechnet werden.109 Identitätskonstituierende Passagen finden sich darin allerdings auch dann keine.110 Während der erste Zürcher Bombenprozess im Nachgang des Kasernenüberfalls im Neuen Postillon überhaupt nicht behandelt wurde, findet sich eine Karikatur zum wiederaufgerollten zweiten Prozess im November 1912. Die satirische Zeichnung zeigt Bundesanwalt Otto Kronauer als Henker des Angeklagten Ernst Frick, der nur dank aktiver Mithilfe des Anarchisten Pechotas überhaupt erst angeklagt worden sei. Für die Ausgestaltung der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen ist weniger das Bild und die verwendete Symbolik interessant, als vielmehr die zum besseren Verständnis der Karikatur angemerkte »Zeitungsnotiz: Wie man hört hatte Herr P. dem Bundesanwalt wichtiges Belastungsmaterial im Bombenprozess gegen seinen ehemaligen Gesinnungsfreund Frick offeriert.«111 In Kombination mit der Bildlegende »Moral: Mir trägt es etwas ein, des Henkers treuer Knecht zu sein«112 wurde eine Käuflichkeit von AnarchistInnen suggeriert, die die eigene Überzeugung zugunsten eines persönlichen Vorteils selbst dann fallen lassen würden, wenn der Preis dafür die Auslieferung von MitstreiterInnen bedeutete.113

5.2.4 Der Nebelspalter 5.2.4.1 Bundeshaussprengung 1885 Der fingierte Plan zur Sprengung des Bundeshauses veranlasste den politisch neutral selbstpositionierten Nebelspalter zu einigen Beiträgen konstituierenden Gehalts für die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen. Dass bereits im Vorfeld der angekündigten Bundeshaussprengung unter AnarchistInnen vor allem AttentäterInnen verstanden wurden, zeigt das Gedicht »Quosque tandem!«: »Sprengstoffartikel, Anarchistengesetz! / S’ist um in die Luft zu fliegen! / Sie lernen nicht, wo man die Hebel ansetz’, / Bis all’ unter Trümmern sie liegen.«114 Auch an manch anderer Stelle wurden AnarchistInnen als homogene Gruppe von AttentäterInnen vermittelt, die zudem unter der Führung, zumindest aber in Verbindung mit dem als inoffiziellen Übervater inszenierten Johann Most stünden.115 Metaphorisch wurden anarchistisch Bewegte in einem längeren Gedicht durch 109 | Die Pointe des Kurzgedichts dreht sich um eine Büchse. Ohne zu wissen, dass die (nicht gezündete) Bombe beim Kasernenüberfall in eine Büchse eingebaut wurde, war keine Verbindung zu dieser Affäre zu machen. 110  |  Vgl. »Im Polizeisekretariat«, Der Neue Postillon, 15.8.1907, Jg. 13, Nr. 16, S. 5. 111  |  »Schöne Seelen finden sich«, Der Neue Postillon, 7.12.1912, Jg. 17, Nr. 23, S. 5. 112  |  Ebd., S. 5. 113  |  Ebd., S. 5. 114 | »Quosque tandem!«, Der Nebelspalter, 24.1.1885, Jg. 9, Nr. 4, S. 2. 115  |  Johann Most und der Freiheit wurden vom Nebelspalter determinierende Kraft zugeschrieben. Vgl. »Spreng-Ode«, Der Nebelspalter, 7.2.1885, Jg. 9, Nr. 6, S. 2, oder »Verehrter Herr Prinzipal!«, Der Nebelspalter, 7.3.1885, Jg. 11, Nr. 10, S. 2. Vgl. auch das Gedicht »Die Anarchisten«, Der Nebelspalter, 28.2.1885, Jg. 9, Nr. 9, S. 1, wo implizit mit Most und der Freiheit kritisch ins Gericht gegangen wurde: »[...] Doch Blätter zu vertreiben / Voll Mord und Raubgeschrei / Dem Mörder Freund zu bleiben, / Das lässt dich strafefrei. / Darum pflanzen friedlich Wir den Dynamit; / Seid nicht ungemüthlich – Fliegt sonst selber mit!« (Ebd., S. 1).

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die literarischen Personen eines Nationalrats und seiner Gattin als grundsätzlich schlecht, unchristlich, als das Böse schlechthin schraffiert: »[...] Wollten sie doch lieber schnarchen, / diese schändlichen Anarchen – / oder sagt man Anarchist? / Diess [sic] wohl Nebensache ist. / Er darauf: »Ja, schlechte Christen / Sind die bösen Anarchisten [...].«116 117 Im Gedicht »Der Bundespalast in Gefahr«118 drückte eine weitere diffamierende Charakterisierung durch. Der Anarchismus wurde darin nicht nur als Philosophie des Dynamits vermittelt, sondern auch als fremdes, importiertes Problem dargestellt: »Das Bundeshaus in Mutzopol – Mi – Ma – Mutzopol / Schmögt Dynamit und Petriol – pi – pa – petriol. / Die tausix Anarchisten / ein Attentätlein rüsten; / Sie schleichen her in Zoren / Von Ost, Süd, West und Noren [...].«119 Dass der Nebelspalter von einem »Attentätlein« sprach, deutete bereits an, was danach ausführlich in vier weiteren Strophen folgte. Die Gefahr wurde als nicht besonders real angesehen, sondern als aus politischem Kalkül bewusst groß gehalten.120 Handkehrum deutete die implizit postulierte Forderung nach Eindämmung der anarchistischen Presse, die als Hetzpresse geschildert wurde, darauf hin, dass eine gewisse Furcht existent war, auch wenn solche ernsthafteren Bedenken immer wieder mit humoristischen Beiträgen gekontert wurden.121 Die darauffolgende Untersuchung vom Frühjahr 1885 war im Gedicht »Das Lied vom grossen Schrecken«122 Thema. Auch hier dominierte die Einschätzung des Anarchismus als Gefäß für Attentäter, die ausübten, was Johann Most in Eigenregie geschaffen habe: »Das war mal eine flotte Hatze, / Im Schweizerlande um und um: / Frau Polizei, die schlaue Katze, / nimmt ihre Sachen niemals krumm. / Anarchisten, Attentäter, Vaterlandes Hochverräter. [...] Es ging die Pirsch nach Genf und Basel, / Sankt Gallen, Zürich, selbst nach Zug. / Wo findet sie das Nest der Fasel, / Die sich mit Spreng-Gedanken trug? / Schuster und Hosenflicker, / Most’sche Volksbeglücker.«123

116  |  Schartenmeyer, »Schwere Zeitläufe«, 7.2.1885, Jg. 9, Nr. 6, S. 2. 117  |  Der Hohn des Gedichts galt nicht so sehr den beiden Protagonisten, als vielmehr der verschärften Repression: »Zu die Thüren, und die Weibel, / sind bewaffnet wie die Deibel, / Wenn ein Unbekannter naht, / Schreien gleich sie: ›Attentat!‹« (ebd., S. 2). 118  |  »Der Bundespalast in Gefahr«, Der Nebelspalter, 21.2.1885, Jg. 11, Nr. 8, S. 2. 119  |  Ebd., S. 2. 120  |  Wie oben gezeigt werden konnte, stimmte der Nebelspalter nur wenige Nummern zuvor in die diffuse Angst vor Sprengstoffattentaten ein und befeuerte diese mit ihrer Thematisierung in Gedichten. Vgl. »Quosque tandem!«, Der Nebelspalter, 24.1.1885, Jg. 9, Nr. 4, S. 2. 121  |  Vgl. »Die Anarchisten«, Der Nebelspalter, 28.2.1885, Jg. 11, Nr. 9, S. 1. Die beiden Pole halten sich in etwa die Waage. Vgl. als weitere Kleinmachung durch humoristische Überzeichnung die Karikatur »Vorsichts-Massregeln wenn die Schneider alle Anarchisten sind«, Der Nebelspalter, 7.3.1885, Jg. 9, Nr. 10, S. 4, oder der Prosabeitrag »Verehrter Herr Prinzipal!«, Der Nebelspalter, 7.3.1885, Jg. 11, Nr. 10, S. 2. 122  |  »Das Lied vom grossen Schrecken (Unterthänige Reim-Explosion von Farisek)«, Der Nebelspalter, 28.3.1885, Jg. 11, Nr. 13, S. 1. 123  |  Ebd., S. 1.

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5.2.4.2 Luccheni-Attentat 1898 Abbildung 27: »Sie rafft sich endlich auf«, Der Nebelspalter, 1.10.1898, Jg. 24, Nr. 40, S. 5. (ZBZ Zürich, XXN 12)

Abbildung 28: »Anarchistenbrut«, Der Nebelspalter 29.10.1898, Jg. 24, Nr. 44, S. 5. (ZBZ Zürich, XXN 12)

Abbildung 29: »Wenn die Anarchisten«, Der Nebelspalter 3.12.1898, Jg. 24, Nr. 49, S. 4. (ZBZ Zürich, XXN 12)

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Das Attentat auf Kaiserin Elisabeth von Österreich verhandelte der Nebelspalter drei Wochen nach dem Ereignis, was als Indiz für die Empörung gedeutet werden kann, die darob in der breiten Bevölkerung herrschte und eine humoristische Thematisierung deplaziert hätte erscheinen lassen. Die ganzseitige Karikatur mit dem Titel »Sie rafft sich endlich auf«124 zeigt die Helvetia als symbolische Schweiz, die Bundesanwalt Scherb zur Pflege des eigenen Gärtchens unterweist. Helvetia sagt dabei zu Scherb: »Komm, Gärtner, stich mit die Pflanze aus! Meinen Garten will ich rein haben von Unkraut!«125 Das Unkraut, das mit seinen Wurzeln den Boden der Schweiz aufreißt, ist beschriftet mit »Anarchie« und »Anarchismus« und als Blüten figurieren fratzenhafte, finster dreinblickende Männergesichter mit langen Haaren. In der Interpretation erwächst durch die eingesetzte Unkrautmetaphorik eine zugeschriebene kollektive Identität, die AnarchistInnen als unerwünschte, zugezogene Parasiten und Schädlinge verstehen lässt, die von der Fremde hergeweht Unruhe ins Land bringen. Das Verständnis und die Vermittlung von Anarchismus als importierte, fremde Bewegung und ihre metaphorische Schilderung als lästiges Ungeziefer trat in der Folge des Luccheni-Attentats in mehreren Beiträgen auf. Am explizitesten im Gedicht »Banditen in der Schweiz«126: »Von jeher hat die Schweiz viel Leid erlitten / Von fremden Press- und anderen Banditen. / Von beiden Sorten steht Italia / Als Lieferant in erster Linie da! / Und doch ist dieses Land faul bis in’s Mark / und thäte besser, sich mit seinem Quark / Und Ungeziefer ernstlich zu befassen, / Als anderen Nationen aufzupassen. / Wir geben ihnen Brot und sie vergelten / Uns diesen Dienst mit Schmähen und mit Schelten, / Ihr Anarchistentross stört unsere Ruhe; / Sie schieben frech die Schuld uns in die Schuhe. / Wir geben ihnen Brot, den Dank erweisen / Sie uns mit ihren Flöhen, Wanzen, Läusen, / Und noch mit einem Dritten – dem Messer, / Das Jeder führt, je schärfer desto besser [...].«127

Auch im Gedicht »Ein rechtes Geschenk«128 geschah die Diffamierung primär über eine direkte Kennzeichnung des Anarchismus als originär italienisches Phänomen, eine in den 1890er Jahren stark produktive Stigmatisierung: »Italien schenk der Christenheit / die eifrigsten Paptisten [sic] / Und – sonderbar – in neu’ster Zeit / Die frechsten Anarchisten [...] Zwar hat nicht Beifall überall / solche reichlich’ Importieren, / Und ist man da und dort im Fall, / Das Zeug zu refüsieren [...].«129 Die Versachlichung und damit einhergehende Entmenschlichung von AnarchistInnen, durch die Bezeichnung als ›das Zeug‹, fand ihre Bestätigung und Ergänzung in der anschließenden, klar pejorativen Bezeichnung als »solches Pack«130. Eine Verklammerung der Aspekte lästig, wühlend und fremd zu sein, findet sich wiederholt im Nebelspalter. So zeigt die Karikatur »Anarchistenbrut«131 eine Helvetia, 124  |  »Sie rafft sich endlich auf«, Der Nebelspalter, 1.10.1898, Jg. 24, Nr. 40, S. 5. 125  |  Ebd., S. 5. 126  |  »Banditen in der Schweiz«, Der Nebelspalter, 19.11.1898, Jg. 24, Nr. 47, S. 2. 127  |  Ebd., S. 2. Das als Fakt verkaufte Vorurteil, dass alle Italiener stets ein Messer auf sich trügen und es auch gerne benutzten, findet sich auch in der NZZ der Zeit häufig. 128  |  Vgl. J.K., »Ein rechtes Geschenk«, Der Nebelspalter, 29.10.1898, Jg. 24, Nr. 44, S. 2. 129  |  Ebd., S. 2. 130  |  Ebd., S. 2. 131 | Vgl. »Anarchistenbrut«, Der Nebelspalter, 29.10.1898, Jg. 24, Nr. 44, S. 5.

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wie sie unter den Augen des sichtlich echauffierten italienischen Königs Umberto I. in Hermelin und Krone versucht, Ungeziefer durch Ausschütteln ihres Rocks loszuwerden: »O diese Läus’ – diese Läus’! Gekriegt hat man sie bald! Aber sie hinauszubringen ist schwer! – das hat man von der vornehmen Nachbarschaft!«132 Ziele und Inhalte von AnarchistInnen behandelte der Nebelspalter kaum. Lediglich implizit wurde die Vorstellung der Abschaffung des Privateigentums persifliert. Auch hierbei ging man von den Ideen Johann Mosts als zentrales Gedankengut aus, wie der Titel der Karikatur »Opfer des Anarchisten ›Most‹«133 signalisierte. Zu sehen ist ein im Regen auf dem Boden liegender, sichtlich betrunkener Mann, der versucht mit einem Schlüssel das Schlüsselloch seiner Haustüre zu treffen, das er nicht hat, und darob schimpft: »Mir ist alles egal – Alles Wurst – Donnerwetter – aber ein Schlüsselloch braucht der Mensch doch!«134 Prozess und Verurteilung von Attentäter Luigi Luccheni wurden im Nebelspalter nicht behandelt. Generell zum Anarchismus findet sich aber eine aussagekräftige Karikatur, die für die zugeschriebene kollektive Identität konstituierend wirkte. Gezeigt wurde ein mustergültiger, zerlumpter Paria, bepackt mit Messer, Revolver und einer Schachtel Dynamit, ergänzt um die Zeilen: »Wenn die Anarchisten so herumlaufen würden, hätte man sie bald alle erwischt; aber sie laufen halt nicht so herum.«135 Ein Bild des vorherrschenden Bildes von AnarchistInnen vermochte die Vorstellung alleweil zu geben.

5.2.4.3 Silvestrelli-Affäre 1902 Die an sich als anarchistisches Ereignis einzustufende Silvestrelli-Affäre wurde im Nebelspalter als politisch-diplomatische Affäre verhandelt. Bereits die erste zum Thema erschienene vollseitige Karikatur entbehrte jeglicher Anarchie-Begriffe lexikalischer oder grafisch-symbolischer Natur. Freundschaftlich verbunden wurden Italien und die Schweiz, die beide als junge Frauen dargestellt sind, von einer mit Silvestrelli beschrifteten Wespe in ihrer Ruhe gestört. Die Bildlegende verstärkte dieses Bild: »Mag kommen, was will, das böse Tier kann uns nicht entzweien; wir müssen fest zusammenhalten.«136 Abgesehen von dieser initialen großen Aufmerksamkeit – die Karikatur füllte die Kehrseite vollständig aus – schenkte der Nebelspalter der Affäre wenig Beachtung. Und wenn er es tat, dann in sehr kurzen Beiträgen, die keine konstituierende Wirkung auf die zugeschriebene kollektive Identität zeitigten.137 Auch die nach der Beilegung der Krise erschienen Beiträge waren spärlich und verliefen in nichtkonstitutiven Bahnen.138 132  |  Ebd., S. 5. 133  |  »Opfer des Anarchisten ›Most‹«, Der Nebelspalter, 5.11.1898, Jg. 24, Nr. 45, S. 4. 134  |  Ebd., S. 4. 135  |  »Wenn die Anarchisten«, Der Nebelspalter, 3.12.1898, Jg. 24, Nr. 49, S. 4. 136 | »Die Arbeit«, Der Nebelspalter, 19.4.1902, Jg. 28, Nr. 16, S. 8. 137 | Vgl. etwa die knappe Zeile zum Thema in »Der Unterschied«, Der Nebelspalter, 3.5.1902, Jg. 28, Nr. 18, S. 6. In einem Editorial (»Die Lateiner«, Der Nebelspalter, 10.5.1902, Jg. 28, Nr. 19, S. 2, vierter Abschnitt) wurde die Silvestrelli-Affäre zwar mit dem Attentat von Luigi Luccheni in Verbindung gebracht. Allerdings fanden auch hierbei keinerlei AnarchieBegriffe Anwendung und es wurde staatspolitisch argumentiert. 138 | Vgl. »Hunde-Silvestrelliade«, Der Nebelspalter, 2.8.1902, Jg. 28, Nr. 31, S. 2, »Die Versöhnung«, Der Nebelspalter, 2.8.1902, Jg. 28, Nr. 31, S. 3, oder die ganzseitige Karikatur

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5.2.4.4 Befreiungsversuch Kilaschitzky 1907/1912 Abbildung 30: »Der biedere Eidgenoss in Verzweiflung«, Der Nebelspalter, 15.6.1907, Jg. 33, Nr. 24, S. 1. (ZBZ Zürich, XXN 12)

Mit dem Befreiungsversuch Kilaschitzkys erreichten die AnarchistInnen eine Titelseite im Nebelspalter. Darauf zu sehen ist, wie die Schweiz – stereotypisch als Senn dargestellt – vor der eigenen Alphütte kehrt. Mit einem Reisbesen wischt er in scheinbarer Sisyphusarbeit Ungeziefer und Bomben weg und klagt: »Maichäfer und Räblüüs sy Himmelfügige! Aber das Chaibezüüg, was süsch by nis umegragget! Das cha migottstüri nüm’ länger so ga!«139. Dass mit dem Ungeziefer – Kakerlaken und Käfer – AnarchistInnen gemeint waren, legt der Umstand der in der bürgerlichen Presse umgehend geäußerten Verdächtigungen nahe sowie die Bomben, die klassischerweise mit AnarchistInnen assoziiert wurden. Das in derselben Ausgabe erschienene, gänzlich unsatirische Gedicht »Lästige Ausländer«140 bestätigt dies: »Wie lang schaust Du dem treiben zu, / Lässt mir Dir spielen Blindekuh? / Wie lang an’s Herz, Helvetia / Drückst Wühler Du aus fern und nah? / Bist wohl nicht klug genug durch Schaden? / Mit Zorn noch nicht genug geladen? / Aus Russland und Italien kam / manch Einer, der, erst lämmchenzahm, / Die Lungen voll von Schweizerluft, / Entwickelt sich zum Wolfspelzschuft./ Und was Germania abgeschoben, / War trefflich bei uns aufgehoben / Durch frechen Gastlumps Gaunertric / Gab’s fast ein zweites Köpenik / in uns’rer guten Limmatstadt auf der Kehrseite »Die Wiederversöhnten«, Der Nebelspalter, 9.8.1902, Jg. 28, Nr. 32, S. 8, die ihrerseits nicht um das Stereotyp des immer ein Messer auf sich tragenden Italieners herum kam. 139 | »Der biedere Eidgenoss in Verzweiflung«, Der Nebelspalter, 15.6.1907, Jg. 33, Nr. 24, S. 1. 140  |  Vgl. Der beese Dietrich von Bern, »Lästige Ausländer«, Der Nebelspalter, 15.6.1907, Jg. 33, Nr. 24, S. 5.

5. Von Läusen und Unkraut: Nicht-anarchistische Presse / die nämlich auch Kasernen hat. / Nur dürft man besser sie bewachen! / Wär’s nicht zum Weinen, – wär’s zum Lachen! / Luccheni und Tatjana-Tat 141 / War nicht bestimmt in Gottes Rat. / Der Völkerfreiheit Gletschertron / zur Sprengstoffabrikation, / Nicht gut sich eigen, meinen viel, / Besorgt zusehend frevlem Spiele. / Helvetia, tu die Augen auf, / Nimm allen Plunder nicht in Kauf! / Erst schau Dir Deine Kunden an, / Die auf sich spielen als Galan. / [...] Hast ja gar liebe Leut’ zur Hand / Ringsum im ganzen Schweizerland; / Viel Freude auch mit starkem Arm / Die bette gut, die halte warm! / Doch was von fern herankriecht: ›bitte!‹ – / Das halt vom Leib Dir auf drei Schritte!«142

AnarchistInnen wurden mit missgünstigem, fremdem Ungeziefer identifiziert, waren »Gastlump«, waren »Plunder«, der »herankriecht«. Die zugeschriebene kollektive Identität zeichnete AnarchistInnen als bombenbastelnde Paria, die aus der Fremde kamen und die innere Sicherheit störten. Das Reizwort musste nicht einmal expressis verbis erwähnt werden, um eine Aktualisierung seiner marginalisierenden Kraft zu erfahren, die im Nebelspalter gelegentlich sogar auf die Sozialdemokratie abfärben sollte.143 Wurde der erste Zürcher Bombenprozess im Nebelspalter überhaupt nicht thematisiert, fand die Wiederaufrollung des Prozesses 1912 zwar Erwähnung, enthält aber keinerlei konstituierende Elemente, welche die zugeschriebene kollektive Identität mitkonstruiert oder affirmiert hätten.144

5.3 Z usammenfassung deutschspr achiger nicht- anarchistischer Z eitungen Die kritische Aufarbeitung gesamtgesellschaftlich relevanter Titel der deutschsprachigen nicht-anarchistischen Presse im Hinblick auf die Gestaltung zugeschriebener kollektiver Identität von AnarchistInnen in der Schweiz hinterlässt in der Ausdifferenzierung einen weitgehend heterogenen Eindruck. Alle vier untersuchten Blätter – politisch bürgerlich-liberal, neutral und sozialdemokratisch orientiert – verfügen allerdings über einen gemeinsamen Nenner: die konstant negative Konnotation von Anarchie-Begriffen. Sei es durch Nennung im Zusammenhang mit schlechten Nachrichten, durch die wiederholte Verklammerung mit Devianz legalistischer oder moralisch-ethischer Art oder durch die kategorische Weigerung, sich den Inhalten der anarchistischen Bewegung anzunehmen. Die Freilegung der aus der Fremdwahrnehmung extrahierten zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen bringt zutage, dass Anarchie-Begriffe in der nicht-anarchis141 | Mit der ›Tatjana-Tat‹ ist der Fall Tatjana Leontieff gemeint. Die junge Russin reiste 1907 in die Schweiz um einen Landsmann in Interlaken zu erschießen. 142  |  Der beese Dietrich von Bern, »Lästige Ausländer«, Der Nebelspalter, 15.6.1907, Jg. 33, Nr. 24, S. 5. 143  |  Vgl. dazu »Die Schaffung eines Normalmenschen«, Der Nebelspalter, 15.6.1907, Jg. 33, Nr. 24, S. 11, wo PropagandistInnen der Tat als verlängerter Arm der Sozialdemokratie dargestellt wurden. 144  |  Im einzigen Gedicht zum Thema wurde vornehmlich der Meineid Margarethe Hardegger-Faas’ thematisiert. Vgl. Jahn, Karl, »Das Zeugnis der Frau Dr. Faas vor Bundesstrafgericht«, Der Nebelspalter, 14.12.1912, Jg. 38, Nr. 50, S. 7.

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tischen Presse bereits in der Jahrhundertwende Reizworte waren. Zu diesem Ergebnis und zu dessen Verfestigung und Fortschreibung führen verschiedene Wege und Methoden, wie ausgedehnte Stichproben rund um vier anarchistische Ereignisse in der Schweiz von 1885 -1912 zeigen. Mochten sie auch nach Titel und in diachroner Optik in ihren Spezifikationen variieren, blieben sie ihrer Stoßrichtung stets treu. So findet sich in fast allen ausgewerteten Zeitungen die Einschätzung von AnarchistInnen als homogene Gruppe prinzipiell gewalttätiger, delinquenter und devianter AttentäterInnen. Die liberale NZZ etwa zeichnete zur angeblich von AnarchistInnen geplanten Bundeshaussprengung im Januar 1885 pauschalisierend in AnarchistInnen großmehrheitlich aberrante Gewalttäter: »Ehrenhafte, unbescholtene Menschen wird man übrigens selten unter den Anarchisten finden. [...] Alle, welche bis jetzt irgend eine Rolle spielten, hatten in ihrem Vorleben bereits irgend etwas auf dem Kerbholz, irgend ein Vergehen oder sonst eine schlechte Handlung.«145 Auch später blieben AnarchistInnen in der NZZ »Verbrecherbande«146. Im sozialdemokratischen Satireblatt Der Neue Postillon findet sich eine Stereotypisierung als AttentäterInnen in einem satirischen, in italienisch gebrochenen Deutsch verfassten Gedicht im Kontext der diplomatischen Krise im Zuge der SilvestrelliAffäre 1902, die auf Artikel in der anarchistischen Presse zurückging: »[...] Cristo! Jesst die Socialisti. / Alli Achtig Bundesrat! / Keini Strit mit Anarchisti, / Sus gits wieder Attentat [...].«147 Die ebenfalls sozialdemokratischen Blättern Arbeiterstimme und Volksrecht erwirkten die Devianz mitunter über eine Psychopathologisierung des Anarchismus, mit der eine Marginalisierung erreicht und, en passant, auch gleich der Ursprung der Delinquenz erklärt wurde. So sprach die Arbeiterstimme im Kontext der Bundeshaussprengung 1885 von der »anarchistische[n] Wahnsinnsund Verbrechenssaat«148 oder pauschalisierte anarchistische Methoden als »Tollhäuslerei«149. Das Volksrecht behielt diese produktiv diffamierende Verquickung von psychischen Defiziten, kultureller Devianz und Anarchismus auch im Kontext des Attentats Luigi Lucchenis auf Kaiserin Elisabeth von Österreich im September 1898 bei: »Dass Lucchini [sic] ein Wahnwitziger ist, wer könnte das bezweifeln? [...] mit 14 Jahren war der vater- und heimatlose Knabe bereits ein Anarchist.«150 Spezifisch für die sozialdemokratische Presse sind Abwertungen auszumachen, die an individuell-moralischen Defiziten von AnarchistInnen festgemacht wurden. Im Volksrecht etwa hieß es zur versuchten Befreiung des russischen Anarchisten Georg Kilaschitzky im Juni 1907 in Zürich, sie sei »[...] offenbar die Tat erbärmlicher Maulhelden, die wohl von allerlei Gewalttaten schwätzen, ohne wirklich den Mut zu haben, sie auch durchzuführen – die gewöhnliche Sorte von Maulanar-

145 | »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 2.3.1885, Jg. 65, Nr. 61, Erstes Blatt, S. 2. 146 | »Tagesbericht«, Neue Zürcher Zeitung, 13.9.1898, Jg. 119, Nr. 254, Erstes Abendblatt, S. 1. 147  |  Knobel, »An Silvestrelli a.D.«, Der Neue Postillon, 6.1902, Jg. 8, Nr. 6, S. 6. 148  |  »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 21.2.1885, Jg. 5, Nr. 8, S. 2. 149  |  C., »Eine zeitgemässe Betrachtung«, Arbeiterstimme, 7.3.1885, Jg. 5, Nr. 10, S. 1. 150 | »Die wahnwitzige That eines Wahnwitzigen«, Volksrecht, 13.9.1898, Jg. 1, Nr. 138, S. 1.

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chisten«151. Der Neue Postillon dagegen skizzierte AnarchistInnen 1912 im Kontext des wiederaufgerollten Bombenprozesses gegen die anarchistischen KilaschitzkyBefreier als käufliche, nur am persönlichen Vorteil Interessierte und portraitierte in einer Karikatur den Anarchisten Pechotas als Henkershelfer der Bundesanwaltschaft: Pechotas hatte belastendes Beweismaterial im Prozess gegen den Anarchisten Ernst Frick geliefert.152 Bildlich untermauert und reproduziert wurde dieser Aspekt der umfassend Aberration von AnarchistInnen in der zugeschriebenen kollektiven Identität in einer Karikatur des neutralen Satireblattes Der Nebelspalter. In der Karikatur »Wenn die Anarchisten«153 wurde der als solcher klar erkennbare Anarchist gezeichnet als ein bis unter die Zähne mit Messer, Schlagstock, Dynamit und Pistole bewaffneter Paria, als Lump mit zerschlissenen Schuhen und löchrigem Jackett. Nicht alle Bausteine der zugeschriebenen kollektiven Identität blieben sich über die betrachtete Zeitspanne gleich. Die Charakterisierung, dass AnarchistInnen als einheitliche Gruppe in autoritären Strukturen organisiert seien, mit der Freiheit ein Zentralorgan und mit ihrem polternden Redaktor Johann Most einen globalen Anführer hätten, findet sich hingegen nur in der Berichterstattung von 1885. Der Nebelspalter dichtete exemplarisch im Anschluss an die mehrmonatige Durchleuchtung des anarchistischen Milieus der Schweiz: »Das war mal eine flotte Hatze, / Im Schweizerlande um und um: / Frau Polizei, die schlaue Katze, / nimmt ihre Sachen niemals krumm. / Anarchisten, Attentäter, Vaterlandes Hochverräter. [...] / Es ging die Pirsch nach Genf und Basel, / Sankt Gallen, Zürich, selbst nach Zug. / Wo findet sie das Nest der Fasel, / Die sich mit Spreng-Gedanken trug? / Schuster und Hosenflicker, / Most’sche Volksbeglücker.«154

Auch die Arbeiterstimme reproduzierte diese Vorstellung von Most als Revolutionsführer: »Hoffentlich kommen Diejenigen, unter den Anhängern des Hans Most, die nicht Schufte oder Narren oder ›verkannte Grössen‹ sind, zur Überzeugung, dass die ganze von Most in Szene gesetze Tollhäuslerei der Sache des Proletariats nur schaden kann, diese im Volk diskreditirt [sic] und darum die Befreiung der Massen hinausschiebt.«155

Die Vorstellung von AnarchistInnen als einer nicht egalitären Gemeinschaft von Verführenden und Verführten blieb aber performativ. So wurde in der NZZ 1898, 1907 und 1912, nicht mehr von einer Einzelperson als FührerIn gesprochen, sondern – weit bedrohlicher – von einer bewusst nicht näher bestimmten diffusen Gruppe von StrippenzieherInnen im Hintergrund. In Aufarbeitung des Lucche-

151  |  Greulich, Hermann, »Gegen Arbeitermisshandlungen«, Volksrecht, 18.6.1907, Jg. 10, Nr. 138, S. 1. 152  |  »Schöne Seelen finden sich«, Der Neue Postillon, 7.12.19012, Jg. 17, Nr. 23, S. 5. 153  |  »Wenn die Anarchisten«, Der Nebelspalter, 3.12.1898, Jg. 24, Nr. 49, S. 4. 154  |  »Das Lied vom grossen Schrecken (Unterthänige Reim-Explosion von Farisek)«, Der Nebelspalter, 28.3.1885, Jg. 11, Nr. 13, S. 1. 155  |  C., »Eine zeitgemässe Betrachtung«, Arbeiterstimme, 7.3.1885, Jg. 5, Nr. 10, S. 1.

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ni-Attentats 1898 pflegte sie beispielsweise hartnäckig die Imagination einer Verschwörung: »Luccheni verwahrt sich mit Energie dagegen, Mitschuldige zu haben. Indes und obwohl keine Thatsache für die Teilnahme eines Komplizen hat nachgewiesen werden können, ist es möglich, dass der Akt den er begangen, nicht einer rein individuellen Eingabe entsprungen ist.«156 Die Formulierung »Luccheni [...] wandelte sich in einen Menschen, der in den Händen geschickter Verführer zum Verbrecher werden konnte«157, stützte eine Wahrnehmung der anarchistischen Bewegung als obskurer Geheimbund ebenso wie Mutmaßungen über die Hintergründe des Attentats: »Luccheni spielte seine Rolle, die der anarchistische Drill von ihm verlangte [...].«158 Die so geschlagene suggestive Brücke zu Geheimbünden, die ihrerseits in der Öffentlichkeit ebenfalls in stark negativem Licht wahrgenommen wurden, werteten die anarchistische Bewegung weiter ab. Allen Blättern durchgehend eigen war die Darstellung von Anarchismus als unschweizerisches, fremdes, importiertes Problem. Etwas, das sich beispielsweise in Formulierungen der NZZ über die gesamte Betrachtungsdauer hinweg findet. So betonte sie 1885, »[...] dass die Anarchisten auch schon Schweizer in ihre Reihen gezogen hätten [...]«159, und zog so eine klare Linie zwischen AnarchistInnen und SchweizerInnen. Die Prämisse, dass Anarchismus grundsätzlich als ausländisches, importiertes Phänomen verstanden wurde, zeigt am besten die Berichterstattung der NZZ zur Kilaschitzky-Befreiung im Juni 1907 in Zürich. »Russisch oder italienisch? Fragt man sich unwillkürlich [...]«160, rätselte die NZZ und verdoppelte so die Diffamierung sowohl von AnarchistInnen, wie auch von Nicht-SchweizerInnen italienischer respektive russischer Provenienz durch die Verquickung der jeweils ohnehin schon als grundsätzlich negativ, zumindest aber suspekt wahrgenommenen Gemeinschaften. Auch im Nebelspalter ist dieses Phänomen zu beobachten. Das ›humoristische‹ Gedicht »Lästige Ausländer«, ebenfalls im Kontext der Kilaschitzky-Befreiung 1907 publiziert, bildet gänzlich ironiefrei diese doppelte Diffamierung ab: »Wie lang schaust du dem Treiben zu, / Lässt mir Dir spielen Blindekuh? / Wie lang an’s Herz, Helvetia / Drückst Wühler Du aus fern und nah? / Bist wohl nicht klug genug durch Schaden? / Mit Zorn noch nicht genug geladen? / Aus Russland und Italien kam / manch Einer, der, erst lämmchenzahm, / Die Lungen voll von Schweizerluft, / Entwickelt sich zum Wolfspelzschuft. / Und was Germania abgeschoben / War trefflich bei uns aufgehoben / [...] Der Völkerfreiheit Gletschertron / zur Sprengstofffabrikation, / Nicht gut sich eigen, meinen viel, / Besorgt zusehend frevlem Spiele. / Helvetia, tu die Augen auf, / Nimm allen Plunder

156  |  »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 10.11.1898, Jg. 119, Nr. 312, Erstes Abendblatt S. 2. 157 | A.F., »Der Prozess Luccheni«, Neue Zürcher Zeitung, 11.11.1898, Jg. 119, Nr. 313, Erstes Abendblatt, S. 2. 158  |  Ebd., S. 2. 159 | »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 21.2.1885, Jg. 65, Nr. 52, S. 1. 160 | »Kantone: Zürich«, Neue Zürcher Zeitung, 5.6.1907, Jg. 128, Nr. 171, Erstes Morgenblatt, S. 1.

5. Von Läusen und Unkraut: Nicht-anarchistische Presse nicht in Kauf! / [...] Doch was von fern herankriecht: ›bitte!‹ – / Das halt vom Leib Dir auf drei Schritte!«161

Auch im sozialdemokratischen Volksrecht sind Formulierungen und Deutungen und Schilderungen zu finden, die AnarchistInnen und das AnarchistInnen-Sein als nicht- und unschweizerisch vermittelten. Mit patriotischen Einschlag formulierte das Volksrecht im Anschluss an das Luccheni-Attentat 1898: Dem »[...] fluchwürdigen Regierungssystem Italiens verdanken wir Schweizer, die noch niemals einen Propagandisten der That aus unserer Mitte haben erstehen sehen, die ruchlose Schändung unseres gastfreundlichen Bodens durch die Unthat Luigi Lucchenis«162 . Die Kategorisierung als etwas Ausländisches kann in einer von Xenophobie geprägten Zeit in ihrer normativen Kraft kaum unterschätzt werden: Die Stigmatisierung als fremdes Phänomen dürfte erheblich zur starken Marginalisierung der Bewegung beigetragen haben. Nicht zuletzt dürfte sie auch mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass die Rekuperation des Nationalen zum valablen Konstituens für Aufbau und Affirmation der bewegungsinternen anarchistischen kollektiven Identität der AnarchistInnen in der Selbstwahrnehmung wurde.163 In der sozialdemokratischen Presse wurde diese Marginalisierung zusätzlich durch die wiederholt geäußerte Verklammerung des Anarchistischen mit dem Fremden und mit dem Spitzelwesen akzentuiert, das diffamierenderweise hinter den untersuchten anarchistischen Ereignissen laut denkend vermutet wurde. Im Zusammenhang mit der Bundeshausspregung formulierte etwa die Arbeiterstimme: »Die auswärtigen Mächte hätten die Zahl ihrer Spitzel in der Schweiz bedeutend vermehrt. Da darf man bald wieder ›Thaten‹ erwarten«164 und skizzierte die anarchistische Bewegung so pauschalisierend als Spielwiese von AusländerInnen, Spitzeln und GewalttäterInnen. Einen nicht unwesentlichen Teil zur durchwegs negativen Färbung der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen trug auch die verwendete Metaphorik bei. Sowohl sprachlich als auch zeichnerisch wurden Bilder von Schädlingen aller Art – Seuchen, Unkraut, Parasiten und Ungeziefer –zur Verbildlichung von Anarchismus und AnarchistInnen bemüht. Die NZZ etwa schrieb im Nachgang der Bundeshaussprengung 1885, es sei »[...] hohe Zeit, durch Abschaffung der von aussen eingeschleppten Ansteckung einer weiteren Ausbreitung der anarchistschen Pest entgegenzutreten«165. Im Nebelspalter finden sich im Anschluss an das Luccheni-Attentat 1898 in Genf verschiedene Umsetzungen von AnarchistInnen als Schädlinge. In einer Karikatur wurden sie als wucherndes Unkraut im reinen Garten Schweiz imaginiert, das den Boden aufreißt und zerklüftet166, im selbserklärenden Gedicht »Banditen in der Schweiz« werden AnarchistInnen als »Flöhe, 161  |  Der beese Dietrich von Bern, »Lästige Ausländer«, Der Nebelspalter, 15.6.1907, Jg. 33, Nr. 24, S. 5. 162  |  »Ausland: Italien ist der Ansteckungsherd«, Volksrecht, 19.9.1898, Jg. 1, Nr. 143, S. 2 (Herv. i.O.). 163  |  Vgl. dazu Kap. 4.3 Zusammenfassung deutschsprachiger anarchistischer Zeitungen. 164  |  »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 14.2.1885, Jg. 5, Nr. 7, S. 2. 165 | »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 21.2.1885, Jg. 65, Nr. 52, S. 1. 166  |  Vgl. Karikatur »Sie rafft sich endlich auf!«, Der Nebelspalter, 1.10.1898, Jg. 24, Nr. 40, S. 5.

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Wanzen, Läuse« bezeichnet, welche »unsere Ruhe« stören167, die, in einer weiteren Karikatur des Nebelspalter den Unterrock der Helvetia befallen.168 Neben der Schädlingsmetaphorik finden sich auch biblisch grundierte Bilder, die zur Diffamierung eingesetzt wurden. Die Deklaration des Anarchismus als das traditionell negativ konnotierte Dunkle, das dem rechtsstaatlichen und unanarchistischen Hellen weiche, findet sich etwa in der NZZ, die damit die flächendeckende Untersuchung der anarchistischen Bewegung in der Schweiz beschrieb: »Endlich, nachdem wir die Leute Jahre lang geduldet haben, um schließlich selbst von ihnen bedroht zu werden, hat nun der Bundesrath einen ersten wichtigen Schritt getan: er geht den Anarchisten zu Leibe auf dem Boden des eidgnössischen Bundesstrafrechts. Es fängt an zu tagen [...].«169 Auch im Nebelspalter finden sich Varianten biblischer Metaphorik. Darin wurde alles Anarchistische zum Unchristlichen oder schlichtweg zum Bösen geschrieben. Exemplarisch geschah dies in einem fiktiven Dialog zwischen einem Nationalrat und seiner Gattin: »[...] Wollten sie doch lieber schnarchen, / diese schändlichen Anarchen – / oder sagt man Anarchist? / Diess [sic] wohl Nebensache ist. / Er darauf: »Ja, schlechte Christen / Sind die bösen Anarchisten [...]«170. Eine weitere, häufig anzutreffende Metapher ist die Säuberung der Schweiz von AnarchistInnen, die diese damit implizit zu Dreck niederstilisierte. Im ersten Nebelspalter nach der Kilaschitzky-Befreiung 1907 etwa wurde die Metapher in der Karikatur »Der biedere Eidgenoss in Verzweiflung«171 verwendet. Darauf versucht ein Alpsenn als verkörperlichte Schweiz mit einem Reisbesen die als Ungeziefer stilisierten, offensichtlich ausländisch gedachten AnarchistInnen von seinem Heim wegzuwischen. Die Versachlichung und Entmenschlichung, die mit der Bezeichnung als »Chaibezüüg«172 stattfand, ist auch in früheren Darstellungen, etwa zum Luccheni-Attentat 1898 im Nebelspalter zu finden, wo AnarchistInnen als »[d]as Zeug« oder »solches Pack«173 betitelt wurden. Stellt die negative Konnotation von Anarchie-Begriffen die große Gemeinsamkeit dar, so ist in der Gestaltung der zugeschriebenen kollektiven Identität auch ein großer Unterschied auszumachen, der seinerseits die größere politische Dimension der kollektiven Identität von AnarchistInnen illustriert: das Verhältnis des Anarchismus zur sozialdemokratischen Bewegung. Die NZZ und der Nebelspalter versuchten wiederholt Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus herzustellen. Die NZZ etwa rückte 1898 in einer Lobrede auf die Politische Polizei Sozialismus und Anarchismus wiederholt aneinander:

167  |  »Banditen in der Schweiz«, Der Nebelspalter, 19.11.1898, Jg. 24, Nr. 47, S. 2. 168 | »Anarchistenbrut«, Der Nebelspalter, 29.10.1898, Jg. 24, Nr. 44, S. 5. 169 | »Eidgenossenschaft«, Neue Zürcher Zeitung, 2.3.1885, Jg. 65 Nr. 61, Erstes Blatt, S. 1. 170  |  Schartenmeyer, »Schwere Zeitläufe«, Der Nebelspalter, 7.2.1885, Jg. 9, Nr. 6, S. 2. 171  |  »Der biedere Eidgenoss in Verzweiflung«, Der Nebelspalter, 15.6.1907, Jg. 33, Nr. 24, S. 1. 172  |  Ebd., S. 1 173  |  J. K., »Ein rechtes Geschenk«, Der Nebelspalter, 29.10.1898, Jg. 24, Nr. 44, S. 2.

5. Von Läusen und Unkraut: Nicht-anarchistische Presse »Damals [vor der Einführung der Politischen Polizei, d.V.] wurde viel politisches Gesindel bei uns geduldet. Es hat kantonale Justiz- und Polizeibehörden gegeben welche mit den fremden Sozialisten und Revolutionären ganz säuberlich umgingen und sie vor aller Verfolgung schützen! [sic] denn diese Leute hatten ihre Freunde an den schweizerischen Sozialdemokraten und das waren Wähler und ihre vielen Stimmen konnte man gar gut benützen im Wahlkampfe gegen die bösen Liberalen und Konservativen. Das war eine Hätschelei von oben herab, die sehr böse Früchte zeitigen musste [...] Freilich sind die Sozialisten keine Anarchisten, aber in den meisten Fällen sind die Anarchisten, die ›Männer der That‹, durch die sozialistische Schule hindurchgegangen.«174

Auch 1907 im Zuge der Kilaschitzky-Befreiung wurde eine Distanzierung der SPS an ihrem Parteitag in Olten von Anarchismus (und Antimilitarismus) nicht für voll genommen, und die beiden grundverschiedenen Bewegung als irgendwo sich deckend imaginiert.175 In umgekehrter Stoßrichtung wehrten sich die sozialdemokratischen Blätter Arbeiterstimme, Volksrecht und Der Neue Postillon vehement gegen eine von außen zugeschriebene Verbrüderung mit AnarchistInnen. Etwa, indem sie deren Methoden ridikularisierten. So hieß es zur Bundeshaussprengung 1885 in der Arbeiterstimme: »[M]it Putschen und bubenhaften Dynamit knallereien revolutionirt [sic] man das Volk nicht.«176 Aber auch explizite Distanzierungen treten auf: »Wir würden uns einen schlechten Dienst leisten, würden wir uns zum Vertheidiger der Anarchisten aufwerfen [...]. Wir sind ein entschiedener Gegner des Anarchismus [...]«177, hieß es abermals in der Arbeiterstimme. Das Volksrecht behielt den Ton auch 1898 in Replik auf einen Anarchismus und Sozialdemokratie amalgamierenden Artikel in der NZZ bei: »Thatsache ist [...], dass es keinen Grösseren Gegensatz gibt, als denjenigen zwischen Anarchismus und Socialismus.«178 Parallel zur Distanzierung vom Anarchismus versuchte die Sozialdemokratie, den Anarchismus als genetisch mit dem Kapitalismus verbundenes Phänomen zu skizzieren, das Letzterem wesentlich näher stünde als dem Sozialismus. Das sehe man an den Methoden, wie das Volksrecht im Rahmen der Kilaschitzky-Befreieung 1907 festhielt: »Putsche und Gewaltakte haben die Anarchisten überhaupt nicht von uns gelernt, die wir stets gesetz- und verfassungsmässig vorgegangen sind, sondern von den bürgerlichen Revolutionären [...].«179 Bildgeworden ist diese Verquickung von Anarchismus und Bourgeoisie etwa in einer Karikatur ohne Titel im Neuen Postillon im Jahr des Luccheni-Attentats 1898. Einen stereotypisierten Unternehmer bezeichnete der Neue Postillon darin als »[...] vornehmen, wirklichen Anarchisten [...]«180. Sprachlich vermengt über den marxistischen Term der Anar174 | »Tagesbericht«, Neue Zürcher Zeitung, 13.9.1898, Jg. 119, Nr. 254, Erstes Abendblatt, S. 1. 175 | Vgl. »Das sozialistische Intransigententum als Sieger«, Neue Zürcher Zeitung, 25.6.1907, Jg. 128, Nr. 174, Erstes Morgenblatt, S. 1. 176  |  C., »Eine zeitgemässe Betrachtung«, Arbeiterstimme, 7.3.1885, Jg. 5, Nr. 10, S. 1. 177  |  »Sozialpolitische Rundschau: Inland«, Arbeiterstimme, 28.3.1885, Jg. 5, Nr. 13, S. 2. 178  |  »Stadt Zürich: Die ›Neue Zürcher Zeitung‹«, Volksrecht, 14.9.1898, Jg. 1, Nr. 139, S. 3. 179  |  Greulich, Hermann, »Gegen Arbeitermisshandlungen«, Volksrecht, 18.6.1907, Jg. 10, Nr. 138, S. 1. 180 | Ohne Titel, Der Neue Postillon, 11.1898, Jg. 4, Nr. 11, S. 3 (Herv. i.O.).

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chie der Produktion, deren ProtagonistInnen KapitalistInnen waren, wirkte dahingehend auch die immer wieder auftretende Gleichsetzung von sogenannten ›Anarchisten im Frack‹ und ›Anarchisten in der Bluse‹, die als zwei Seiten derselben Medaille vermittelt wurden und damit diffamierende Folgen entfalteten – und zwar für die Seiten links und rechts der Sozialdemokratie. Das Volksrecht vermerkte in diese Richtung zielend nach dem Luccheni-Attentat: »Der Anarchismus in der Bluse ist nur ein Widerschein des Anarchismus im Frack. Würde man oben auf den Geist abstellen, würde von unten auch nur mit den Waffen des Geistes geantwortet. Nun man aber von oben mit Gefängnis und Zuchthaus, Hungertod und Hinrichtung vorgeht, wird von unten mit Dolch und Revolver erwidert«.181

In beiden Fällen deutet sich eine politische Dimension der Abwertung der Bewegung an: Zur Diffamierung der politischen und/oder weltanschaulichen GegnerInnen reichte offenbar eine Nebenanstellung der großen, diffusen, schwarzen Gewitterwolke Anarchismus, an der auch die sozialdemokratische Presse aktiv mitschrieb. Nicht zuletzt durch dieses feststellbare Phänomen wird auch der Einfluss des Anarchismus auf die Schweizer Politik deutlich, der sich nicht in der Bewegung selbst, ihren Projekten und Ideen erschöpfte: Im Fin de Siècle figurierte die anarchistische Bewegung als Spielball der Schweizer Innenpolitik, da sie auf alle Seiten hin die Möglichkeit zur Profilierung von Parteien innerhalb des parlamentarischen Systems bot. Das eindeutig politisch motivierte bürgerlich-konservative Konstrukt der pan-sozialistischen Bruderschaft ebenso wie die sozialdemokratische Anschwärzung liberaler Kräfte durch eine Kausalverbindung der ›Anarchisten im Frack‹ und den ›Anarchisten in der Bluse‹ dürften den politischen Interessen der beiden Parteien entsprungen sein, Mehrheiten der wählenden Bevölkerung für die eigene Sache zu gewinnen, indem sie die ›anderen‹ durch eine imaginierte Verbindung zum Anarchismus diabolisierten, den beide Seiten unablässig zu diesem Zweck dämonisiert haben dürften. Die Ausgestaltung der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen schrieb sich damit nicht zuletzt auch fundamental in die Konstitution der kollektiven Identitäten des bürgerlich-liberalen wie des sozialdemokratischen Blocks als negativer Konterpart ein, der als ontologisch produktives Nicht-Sein zuweilen überaus intensiv zu wirken schien. Trotz der dargelegten erheblichen Relevanz der Gestaltung der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen, wurde überrachenderweise nicht jede Gelegenheit ergriffen, sie zu perpetuieren und zu reproduzieren. So wurde die Silvestrelli-Affäre 1902, die eindeutig von Artikeln einer anarchistischen Zeitung ausgelöst wurde, reihum als diplomatisch-politische Krise gewertet. Anderweitig allgegenwärtige eindeutige Kommentare zum Anarchismus, die sich hier angeboten hätten, wie etwa die Störung des äußeren Friedens der Schweiz durch die Provokation einer diplomatischen Krise, blieben aus. Im Überblick divergierte die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen stark von der selbst zugeschriebenen anarchistischen kollektiven Identität: Die durchwegs negative Skizzierung der anarchistischen Gemeinschaft ließ eine 181  |  »Die wahnwitzige Tat eines Wahnwitzigen«, Volksrecht, 6.10.1898, Jg. 1, Nr. 138, S. 1.

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phantomhafte Bande wahnsinniger, selbstzentrierter und weitestgehend moralund inhaltsfreier Parias entstehen, die womöglich von diffusen Figuren im Hintergrund orchestriert wurden und in so ziemlich in jeder Kategorie und Hinsicht gesellschaftlicher Existenz aberrant und deviant waren. Dass aufgrund dieser ebenso sorgfältig wie grobschlächtig kreierten Diskrepanz alles Anarchistische für NichtAnarchistInnen ausschließlich als Antipode zu verstehen war, ist mit Rückblick auf die Betrachtung der bewegungseigenen Konstitution anarchistischer kollektiver Identität fraglich und muss im Schlusswort kritisch hinterfragt werden. Nicht zuletzt weil auch für die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen gezeigt werden konnte, dass das Anarchistische als globale Differenz verschiedene Formen, Ausprägungen und Funktionen hatte, welche die Zuschreibung allein überstieg.

5.4 F r anzösischspr achige Z eitungen 5.4.1 Gazette de Lausanne 5.4.1.1 Bundeshaussprengung 1885 In der Berichterstattung zur geplanten Bundeshaussprengung wurden AnarchistInnen in der dezidiert bürgerlich-liberalen Gazette de Lausanne als un- und anti-schweizerisch182 kategorisiert und Anarchismus als grundgefährliches, ausländisches Phänomen vermittelt, dem mit Ausschaffungen beizukommen sei: »Le moment nous paraît très propice pour purger tout le pays d’un certain nombre de fanatiques étrangers, dangereux pour nous et pour les autres pays d’europe et qui n’usent de l’hospitalité que nous leur donnons que pour comploter des mauvaises actions.«183 Das Bild des Säuberns, das die Gazette de Lausanne bemühte, impliziert 182  |  Nichts Weniger als die Zerstörung der Schweiz im Innern und im Äußeren wurde den als ausländisch verorteten AnarchistInnen angekreidet: »Non seulement les anarchistes compromettent notre sûreté et la bonne réputation de la Suisse, mais ils ont une influence déplorable sur nos paisible ouvriers.« (»Confédération suisse: Le Conseil fédéral et les anarchistes«, Gazette de Lausanne, 18.2.1885, Jg. 86, Nr. 41, S. 2) Dt.Ü.: »Die Anarchisten gefährden nicht bloß unsere Sicherheit und den guten Ruf der Schweiz, sie üben auch einen unerwünschten Einfluss auf unsere friedfertigen Arbeiter aus.« 183 | »Confédération suisse: Les anarchistes à Berne«, 31.1.1885, Jg. 86, Nr. 26, S. 2. Dt.Ü.: »Der Augenblick erscheint uns sehr günstig, das ganze Land von gewissen ausländischen Fanatikern zu säubern, die für uns und die anderen Länder Europas eine Gefahr darstellen und die Gastfreundschaft, die wir ihnen bieten, nur dazu nutzen, böswillige Aktionen zu komplottieren.« In einem anderen Beitrag hieß es: »Il y a actuellement en Suisse mille à deux mille anarchistes. Près-que tous sont étrangers, quelques-uns cependant suisses.« (»Dépêches: Berne«, Gazette de Lausanne, 4.2.1885, Jg. 86, Nr. 29, S. 3) Dt.Ü.: »Zurzeit gibt es in der Schweiz zwischen ein- und zweitausend Anarchisten. Sie sind fast alle Ausländer, einige jedoch Schweizer.« Im Zusammenhang mit den verschärften Sicherheitskontrollen nach der Sprengungsdrohung fragte ein Journalist der Gazette de Lausanne klar AnarchistInnen als Nicht-SchweizerInnen deklarierend rhetorisch: »N’est-il pas triste de voir que nous, Suisses, nous soyons en danger dans notre propre pays à cause de misérables étrangers et que ceux-ci jouissent de la sûreté personnelle la plus étendue? Cela peut-il

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zudem die Konnotation von Dreck und Ungewolltem in Bezug auf AnarchistInnen. Als deren Ziel wurde in rhetorischer Empörung die Abschaffung aller Regierungen zusammengefasst.184 Andere Hypergüter der anarchistischen Bewegung wurden kaum vermittelt, womit ihr Einfluss auf die zugeschriebene kollektive Identität gering blieb.185 Die negative Produktivität der Verbindung von Anarchismus und Nicht-Schweiz wurde hingegen verstärkt. Beispielsweise dadurch, dass AnarchistInnen für die Anwesenheit des ausländischen Spitzelwesens in der Schweiz verantwortlich gemacht wurden: »[L]es puissances étrangères ont sur notre sol des agents de la police qui surveillent de près les anarchistes.«186 Ebenso zum negativen Eindruck der Bewegung dürfte beigetragen haben, dass sie immer wieder als Geheimbund begriffen und vermittelt wurde. Beide Elemente kulminierten gelegentlich in Kombination mit anderen identitätskonstituierenden Elementen, etwa wenn die unterstellte Wurzellosigkeit und Fremdheit mit Geheimbundprojektionen verquickt wurden. So war in einem Beitrag konkret nicht etwa von Basler AnarchistInnen die Rede, sondern subtil differenzierend lediglich von AnarchistInnen, die sich in Basel aufhielten und sich dort geheim organisierten: »La police de Bâle a découvert que les anarchistes en sejour dans cette ville sont au nombre d’une centaine et forment une société secrète organisée de toute pièces.«187 Über die zahlreichen Erwähnungen von Johann Most im anarchistischen Kontext vermittelte die Gazette de Lausanne den Eindruck einer jener zentralen Person und Denkrichtung folgenden parteiähnlichen Gemeinschaft.188 Mosts Präsenz dürfte auch mit dafür verantwortdurer plus longtemps?« (»Confédérations suisse: Le Conseil fédéral et les anarchistes«, Gazette de Lausanne, 18.2.1885, Jg. 86, Nr. 41, S. 2) Dt.Ü.: »Ist es nicht traurig anzusehen, dass wir Schweizer in unserem eigenen Lande bedroht sind aufgrund elender Ausländer, und dass diese die weitmöglichste persönliche Sicherheit genießen? Kann das noch lange so weitergehen?« 184  |  Vgl. »Confédération suisse: Les anarchistes à Berne«, 31.1.1885, Jg. 86, Nr. 26, S. 2. 185  |  Neben der zititerten Stelle findet sich lediglich in einem anderen Beitrag das – neutral vermittelte – Hypergut des Abstentionismus. Vgl. »Dépêches: Berne«, Gazette de Lausanne, 16.2.1885, Jg. 86, Nr. 39, S. 3. 186 | »Dépêches: Berne«, Gazette de Lausanne, 4.2.1885, Jg. 86, Nr. 29, S. 3. Dt.Ü.: »[A] uf unserem Boden agieren Beamte der Polizei ausländischer Mächte, um die Anarchisten genauestens beobachten.« 187 | »Confédération suisse: Anarchistes«, Gazette de Lausanne, 16.2.1885, Jg. 86, Nr. 39, S. 2. Dt.Ü.: »Die Baseler Polizei hat entdeckt, dass sich ungefähr hundert Anarchisten in der Stadt aufhalten und eine geheime Gesellschaft bilden, die aufs Äußerste organisiert ist.« Vgl. auch »Confédération suisse: Le conseil fédéral et les anarchistes«, Gazette de Lausanne, 18.2.1885, Jg. 86, Nr. 41, S. 2. Die Diktion des Geheimbunds wurde hier noch verstärkt. Einerseits durch ein der Bewegung als inhärent unterstellter Hang zur Täuschung und zur Lüge, andererseits durch die alternative Bezeichnung der Bewegung als »secte« (ebd., S. 2). 188  |  Vgl. dazu die Darstellung als in Sektionen organisierte, zentral verwaltete Organisation in »Dépêches: Berne«, Gazette de Lausanne, 4.2.1885, Jg. 86, Nr. 29, S. 3: »Les anarchistes appartiennent à la grande société [de] la Freiheit. Il y a des sections à Zurich, Winterthour, Berne, Bienne, Berthoud, Lucerne, Zoug, Fribourg, Bâle, St-Gall, Lausanne, Neuchâtel et Genève.« Dt.Ü.: »Die Anarchisten gehören zur großen Gemeinschaft [der] Freiheit. Es gibt Sektionen in Zürich, Winterthur, Bern, Biel, Burgdorf, Luzern, Zug, Freiburg, Basel, Sankt

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lich gewesen sein, dass die zugeschriebene kollektive Identität in der Gazette de Lausanne einen illegalistischen und gewaltorientierten Einschlag erhielt.189 AnarchistInnen wurden als »bande dangereuse« skizziert, »[...] armés de toutes pièces. Agrégés à une affiliation internationale, ils portent de faux noms et de faux papiers, et trompent la police de cent façons.«190 Kurzmeldungen, die Anarchie-Begriffe im Zusammenhang mit Ausschaffungen oder Delinquenz erwähnten und so in konziser Weise Brücken zwischen Anarchismus und Verbrechertum zu schlagen vermochten, untermauerten und verdichteten diese Vorstellung.191 In diesem Zusammenhang wurde auch das Verhältnis von Anarchismus und Sozialdemokratie diskutiert.192 Dabei wurde zwar auf die – medial beidseitig kultivierte – Feindschaft dieser Strömungen hingewiesen. Abschließend hieß es aber diffus und die Strömungen nicht unabsichtlich wieder zusammenrückend: »Il restera cependant [...] difficile de tirer la ligne précise où le socialisme finit et où commence l’anarchisme. La différence entre eux est une différence de tactique et non de principes.«193 Auch während der am 23.2.1885 begonnenen bundesrätlichen Untersuchung wurde vornehmlich das illegalistische und delinquente Bild von AnarchistInnen reproduziert. Nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, dass zwar Verhaftungen häufig mit Namens- und Berufsangaben veröffentlicht194 wurden, Entlassungen aus der Untersuchungshaft aber – wenn überhaupt – ohne Angabe von Personalien kolportiert wurden. Während Schuld also politisiert wurde, blieb Unschuld unpolitisiert mit dem Resultat einer Reinforcierung des Delinquenzstigmas.195 Gallen, Lausanne, Neuchâtel und Genf.« Die Vorstellung der Bewegung als Partei findet sich immer wieder. Vgl. etwa »France: Meetings anarchistes«, Gazette de Lausanne, 17.2.1885, Jg. 86, Nr. 40, S. 1, wo von der »parti anarchiste« gesprochen wurde. Als Parteiblatt wurde Mosts Freiheit erkoren. Vgl. »Dépêches: Berne«, Gazette de Lausanne, 14.3.1885, Jg. 86, Nr. 62, S. 3, wo das Blatt flugs zum unikalen »organe des anarchistes« erkoren wurde. 189  |  Vgl. »Etats-Unis: L’anarchiste Most«, Gazette de Lausanne, 31.1.1885, Jg. 86, Nr. 26, S. 1, oder »Anarchistes«, Gazette de Lausanne, 7.2.1885, Jg. 86, Nr. 31, S. 2. Zwar wurden auch andere anarchistische Zeitungen gelegentlich zitiert. Vgl. etwa den Zweitabdruck einer Verlautbarung von Lausanner Anarchisten im leider im Original verschollenen Le Révolté vom 2.2.1885 in »Lausanne: Les Anarchistes à Lausanne«, Gazette de Lausanne, 2.2.1885, Jg. 86, Nr. 27, S. 3. Die Freiheit war aber bei Weitem die meist zitierte. 190  |  »Confédérations suisse: Le Conseil fédéral et les anarchistes«, Gazette de Lausanne, 18.2.1885, Jg. 86, Nr. 41, S. 2. Dt.Ü.: »[...] äußerst bewaffnet. Sie gehören einer internationalen Organisation an, tragen falsche Namen und falsche Papiere und täuschen die Polizei auf hundertfache Weise.« 191  |  Vgl. exemplarisch »Anarchistes: Le conseil fédéral«, Gazette de Lausanne, 7.2.1885, Jg. 86, Nr. 31, S. 2. 192  |  Vgl. »Bulletin politique: À la suite«, Gazette de Lausanne, 3.2.1885, Jg. 86, Nr. 28, S. 1. 193  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Es bleibt dennoch [...] schwierig, eine klare Grenze zu ziehen, wo der Sozialismus aufhört und der Anarchismus beginnt. Der Unterschied zwischen den beiden betrifft die Frage der Taktik und nicht die der Grundsätze. 194  |  Vgl. exemplarisch »Dépêches: Berne«, Gazette de Lausanne, 27.2.1885, Jg. 86, Nr. 49, S. 3. 195  |  Vgl. »Dépêches: Berne«, Gazette de Lausanne, 9.3.1885, Jg. 86, Nr. 57, S. 3. Ein erstes Zweifeln an der unterstellten massiven Gefährlichkeit sowie auch an der Richtigkeit der

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5.4.1.2 Luccheni-Attentat 1898 In der Berichterstattung zum Attentat Lucchenis auf Kaiserin Elisabeth im September 1898 in Genf ist eine Ambiguität in der Gazette de Lausanne auszumachen. Ein Teil der Charakterisierungen wurden eindeutig auf Luccheni als Person gemünzt196, wenngleich er von Beginn an und immer wieder als selbstidentifizierter Anarchist bezeichnet wurde.197 Ein anderer Teil der Artikel band die Tat direkt ans anarchistische Milieu an. So, wenn beschrieben wurde, dass Luccheni »[...] se tient pour le héros d’une cause sainte«198, wenn die Tat als Materialisierung des »fureur anarchiste«199 vermittelt wurde, oder wenn es hieß, dass das »premier attentat anarchiste sur notre sol libre et hospitalier à tous«200 ein »plan abominable de l’anarchiste Luccheni«201 gewesen sei. In beiden Argumentationslinien war eine umgehende und wiederholte Bezeichnung Lucchenis als Ausländer dominant, die auch 1898 die anarchistische Bewegung als ausländisch, un- und nichtschweizerisch deklarierte und diffamierte.202 Lapidar hieß es im einleitenden Kommentar: »Il n’y a pas Untersuchung findet sich am 23.3.1885. Darin analysierte das Blatt, dass etwas gar schwarz gemalt wurde: »[L]eurs moyens d’action [...] ne paraissent pas être aussi redoutables qu’on se l’imaginait.« (»Confédération suisse: Les anarchistes«, Gazette de Lausanne, 23.3.1885, Jg. 86, Nr. 69, S. 2-3) Dt.Ü.: »[I]hre Handlungsmittel [...] scheinen nicht ganz so furchterregend, wie man sie sich vorgestellt hatte.« 196 | Die dämonisierende Charakterisierung Lucchenis enthält sich etwa jeglicher politischer Konnotierung und zielt auf das Individuum: »La police l’emmène, on l’interroge, on lui apprend le résultat lugubre de son acte. Loin de crier grâce, le misérable exulte cyniquement. Loin de pleurer, il chante dans sa prison.« (»L’assassinat de l’impératrice d’Autriche«, Gazette de Lausanne, 12.9.1898, Jg. 101, Nr. 213, S. 1) Dt.Ü.: »Die Polizei nimmt ihn mit, er wird verhört, ihm wird das triste Ergebnis seiner Tat mitgeteilt. Weit davon entfernt, um Gnade zu bitten, frohlockt der Elende ganz zynisch. Weit davon entfernt zu weinen, singt er in seinem Gefängnis.« 197  |  Unterstrichen wird die Trennung von Luccheni und AnarchistInnen indem sie gesondert verhandelt wurden: »[J]e n’entends aujourd’hui que des paroles d’impitoyable exécration, non pas tant pour la misérable brute qui a tué, que pour les anarchistes et les révolutionnaires de cabinet, qui [...] prêchent la haine, la violence et le meurtre.« (Ebd., S. 1) [dt.Ü.: »[I] ch bekomme heute nur unerbittliche Worte zu hören, nicht so sehr hinsichtlich des elenden Rohlings, der getötet hat, vielmehr gegen die Anarchisten und die Kabinettsrevolutionäre, die [...] Hass, Gewalt und Mord predigen.«], womit die bürgerlich-liberale Gazette de Lausanne stattdessen eine Brücke zwischen AnarchistInnen und SozialdemokratInnen schlug. 198  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »[...] hält sich für den Held einer heiligen Sache« Die Einschätzung, dass Luccheni am wahrscheinlichsten ein »assassin conscient et froidement calculateur« (ebd., S. 1) [dt.Ü.: »bewusster und kalt berechnender Mörder«]sei, kann hingegen auf beide Seiten ausgelegt werden. 199  |  »L’assassinat de l’impératrice d’Autriche: Un autre correspondant«, Gazette de Lausanne, 12.9.1898, Jg. 101, Nr. 213, S. 1. 200  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »erste anarchistische Attentat auf unserem freien und gestfreundlichen Boden«. 201  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »abscheulicher Plan des Anarchisten Luccheni«. 202  |  Dass die normative Komponente große Wirkungsmacht hatte, lässt sich am Umstand erkennen, dass dieses Detail bereits bei der allerersten Nennung des Attentäters erwähnt wurde: »Que l’assassin soit un étranger [...]« (Ebd., S. 1) [dt.Ü.: »Dass der Mörder Ausländer

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d’anarchistes suisses.«203 Im gleichen Artikel wurde eine Krankheitsmetapher vermittelt: »[N]ous avions pu nous croire à l’abri de cette contagion«204, die AnarchistInnen nicht nur als fremd, sondern als den gesunden Volkskörper angreifenden Krankheitserreger zeichnete. AnarchistInnen, so die Gazette de Lausanne, seien wilde, einfältige Internationale, die einer kriminellen Besessenheit folgten, womit ihnen auch ein psychopathologisches Stigma angeheftet wurde.205 Das auch 1898 verwendete Bild der Säuberung als Lösung der anarchistischen Frage unterstrich die Vorstellung einer importierten, ausländischen Bewegung, welche die Konnotation von unliebsamem Dreck weckte: Im ›parquet fédéral‹206 brauche es Leute, »[...] qui soient préoccupés de purger le pays des bandits internationaux qui s’y donnent rendez-vous pour préparer ou commettre leurs abominables crimes«207. Dies wurde an anderer Stelle bekräftigt: »On ne peut qu’approuver le Conseil fédérale de ce qu’il entreprend de purger à fond le territoire suisse des bandes d’anarchistes.«208 Im Unterschied zum Bundesrat machte die Gazette de Lausanne aber keine Unterscheidung von ›anarchistes‹ und ›anarchistes dangereux‹, sondern kriminalisierte alle gleichermaßen. »Nous demandons qu’on ne s’arrête pas trop à cet adjectif [dangereux, d.V.]. L’anarchiste agissant et militant est le plus souvent dangereux, parce que la doctrine qu’il professe est criminelle.«209 Zum Entwurf der prinzipiell delinquenten AnarchistInnen kam die Vorstellung von SchläferInnen hinzu, die auf einen Befehl eines imaginierten anarchistischen Kaders warteten: »Il se peut qu’il [gemeint ist l’anarchiste, d.V.] ne commette pas un crime aussi longtemps qu’il n’en trouve pas l’occasion ou n’en reçoit pas l’ordre, mail il ne faudrait pas attendre qu’il

war«]. Die offizielle Schweiz schloss sich dieser Praxis an. Dass der Täter Italiener war, wurde im ersten Satz des ersten Telegramms an die Schweizer Botschaft in Wien erwähnt, mit der Aufforderung zur Mitteilung an die österreichisch-ungarische Regierung. Vgl. »Le Conseil fédéral et l’empereur d’Autriche«, Gazette de Lausanne, 13.9.1898, Jg. 101, Nr. 214, S. 1. 203 | »Un jour de deuil«, Gazette de Lausanne, 12.9.1898, Jg. 101, Nr. 213, S. 1. Dt.Ü.: »Es gibt keine Schweizer Anarchisten.« Auch an anderer Stelle hieß es: »[N]otre pays, qui n’a jamais produit l’anarchisme [...]« (La Liberté économique et les événements d’Italie«, Gazette de Lausanne, 19.9.1898, Jg. 101, Nr. 219, S. 2) Dt.Ü.: [U]nser Land, in dem es niemals Anarchismus gegeben hat [...]«. 204  |  »Un jour de deuil«, Gazette de Lausanne, 12.9.1898, Jg. 101, Nr. 213, S. 1. Dt.Ü.: »Wir dachten, wir wären vor dieser Ansteckung in Sicherheit.« 205  |  Ebd., S. 1. 206  |  Mit ›parquet‹ ist in der Westschweiz die Staatsanwaltschaft gemeint. 207  |  »Confédération suisse: Les anarchistes en Suisse«, Gazette de Lausanne, 20.9.1898, Jg. 101, Nr. 220, S. 2. Dt.Ü.: »deren Sorge es ist, das Land von diesen internationalen Kriminellen zu säubern, die sich hier treffen, um ihre abscheulichen Verbrechen vorzubereiten oder zu begehen«. 208 | »Expulsions d’anarchistes«, Gazette de Lausanne, 24.9.1898, Jg. 101, Nr. 224, S. 1. Dt.Ü.: »Man kann dem Bundesrat nur zustimmen, dass er das Schweizer Gebiet von den Anarchistischen Banden säubern will.« 209  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Wir fordern, dass diesem Adjektiv keine zu große Bedeutung beigemessen wird. Der aktive und kämpferische Anarchist ist meistens gefährlich, denn die Lehre, die er vertritt, ist kriminell.«

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l’eût commis pour le qualifier de dangereux«210, womit auch eine imaginierte hierarchische Staffelung bekräftigt wurde.211 Zusätzlich wirkten 1898 Kurzmeldungen über Verhaftungen von AnarchistInnen produktiv für die inszenierte Kopplung von delinquierendem Verhalten und anarchistischer Überzeugung.212 Auch die Berichterstattung zum Prozess gegen Luccheni war von der oben genannten Zweiteilung in persönlich-individuelle213 und kollektive Elemente geprägt, die bisweilen auch verklammert auftraten. So wurde die Kindheit Lucchenis, der als uneheliches Kind in Heimen und bei Pflegeeltern aufwuchs, mehrfach erwähnt und seine Delinquenz mit seiner kulturellen Devianz erklärt. Dass darin auch der Ursprung seines Anarchismus geortet wurde, stellt aber auch eine kausalistische Verklammerung von kultureller Devianz und Anarchismus dar, der damit als Produkt eines Defizits respektive einer kulturellen Anomalie gedeutet wurde.214 Die Gewichtung lag indes klar bei der psychologisch-individuellen Seite. Wurde der Prozess in einem einzigen Artikel abgehandelt, breitete der emeritierte Psychiatrieprofessor Auguste Forel Lucchenis Motivation in einem dreiteiligen Beitrag aus.215 In diesem Beitrag sind es vornehmlich Zwischentöne, die Aufschluss geben über 210  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Es ist möglich, dass er so lange keine Verbrechen begeht, bis er auf eine Gelegenheit stößt oder den Befehl bekommt, aber man sollte nicht abwarten, dass er es begangen hat, um ihn als gefährlich zu bezeichnen.« 211 | Diese Vorstellung einer hierarchisch gestaffelten Bewegung verfestigte sich in der Kolportage der Verhöre Lucchenis. Darin positionierte er sich selbst als Anarchist und seine Aussagen wurden als klar und luzid bewertet. Vgl. stellvertretend »Confédération suisse: Lucheni [sic]«, 15.9.1898, Jg. 101, Nr. 216, S. 2, oder »Confédération suisse: Lucheni [sic]«, Gazette de Lausanne, 16.9.1898, Jg. 101, Nr. 217, S. 1-2. Dennoch wurde ihm kein Glauben geschenkt, wenn es um ihn als Einzeltäter ging. Hartnäckig vermutete die Gazette de Lausanne Komplizen hinter dem Attentat. Vgl. dazu ebd., S. 2, wo die These eines Identitätsdiebstahls eingeführt wurde, um die Verschwörungstheorie aufrecht zu erhalten resp. »Les expulsions d’anarchistes: Genève«, Gazette de Lausanne, 1.10.1898, Jg. 101, Nr. 230, S. 1, wo ein ganzer Haufen Zufälle und Umstände zu Indizien hochstilisiert wurden, die diese Komplotttheorie bekräftigen sollten. 212  |  Zur Verhaftung reichte die politische Überzeugung bereits aus. Vgl. etwa »Canton de Vaud: Propos des anarchistes«, Gazette de Lausanne, 15.9.1898, Jg. 101, Nr. 216, S. 3, und »Confédération suisse: Les anarchistes en Suisse«, 20.9.1898, Jg. 101, Nr. 220, S. 2. Aber auch bei Diebstahl wurde angeführt, wie der Dieb politisch dachte, was für den Diebstahl wohl nicht sehr wesentlich gewesen sein dürfte, für die u.a. daraus resultierende durchwegs negative Konnotation von Anarchie-Begriffen allerdings sehr wohl. Vgl. »Dépêches: Neuchâtel«, Gazette de Lausanne, 24.9.1898, Jg. 101, Nr. 224, S. 3. 213  |  Vgl. die einleitenden Worte in »Chronique judiciaire: Interrogatoire de Lucheni [sic]«, Gazette de Lausanne, 11.11.1898, Jg. 101, Nr. 265, S. 2. 214 | Vgl. »Chronique judiciaire: Le procès Lucheni [sic]«, Gazette de Lausanne, 10.11.1898, Jg. 101, Nr. 264, S. 2, wo Luccheni als »un fat et un inconscient« [dt.Ü.: »eingebildet und leichtsinnig«] bezeichnet wurde, und ihm damit Handlungsmotivationen fernab seiner politischen Überzeugung unterstellt wurden. 215  |  Vgl. Forel, Auguste, »Luccheni«, Gazette de Lausanne, 29.11.1898, Jg. 101, Nr. 280, S. 1 (Teil I), Forel, Auguste, »Luccheni«, Gazette de Lausanne, 1.12.1898, Jg. 101, Nr. 282, S. 1 (Teil II), Forel, Auguste, »Luccheni«, Gazette de Lausanne, 2.12.1898, Jg. 101, Nr. 283, S. 1 (Teil III).

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die Anarchismuskonzeptionen, welche die Gazette de Lausanne produzierte und reproduzierte. In Rückbezug auf eine mehrfache Enttäuschung Lucchenis durch den Staat formulierte Forel: »Mais il s’agit bien de souligner que pareil fait [gemeint sind besagte Enttäuschungen, d.V.] ne suffit pas et ne doit pas suffire pour rendre anarchiste un homme normal, reflechi, un cerveau tant soit peu bien fait.«216 AnarchistInnen wurden demnach als abnormal und unüberlegt konzipiert und verfügten darüber hinaus über sehr schlecht gemachte Hirne. Forel konstatierte am Beispiel seiner geliebten Ameisen weiter, dass der Anarchismus zwar den natürlichen Urzustand in sozialen (Tier)Beziehungen darstellen würde, dass der moderne Mensch aber mit dem erwachten Individualismus das Soziale zerstört habe, das es zum funktionierenden Betrieb eines anarchistisch organisierten Gemeinschaft brauche. Er verstand und vermittelte den Anarchismus und seine AnhängerInnen also als eine im Wesen atavistisch-reaktionäre, unzivilisierte und prinzipiell dysfunktionale Bewegung: »N’ayant rien compris, ni appris, les théoriciens fantasques et déséquilibrés de l’anarchie, traitant l’homme en fourmi, veulent nous ramener à la bête sauvage et réveillent par la même ces instincts ataviques, assoupis dans les masses qu’ils excitent et affolent, au lieu de comprendre que le bien de la société humaine exige au contraire l’élimination graduelle de tout ce qui pousse aux passions égoïstes et brutales et la culture de l’instinct social par des lois sages et psychologiques [...]«.217

Die Vorstellung einer wesentlich zweigeteilten Bewegung in verführende TheoretikerInnen und aufgestachelte, verwirrte AnhängerInnen, gehörte auch in Forels Beiträgen zu den identitätskonstituierenden Elementen.218 Auch nach anderslautendem Gerichtsentscheid wurde die Vorstellung einer anarchistischen Verschwörung gepflegt, die hinter dem Attentat stecke.219 Darin ist eine Strategie zu erken-

216  |  Forel, Auguste, »Luccheni«, Gazette de Lausanne, 29.11.1898, Jg. 101, Nr. 280, S. 1 (Teil I). Dt.Ü.: »Es geht jedoch sehr wohl darum zu betonen, dass solche Tatsachen nicht ausreichen und nicht ausreichen dürfen, um aus einem normalen, überlegten Mann, mit einem ganz klein bisschen Verstand, einen Anarchisten zu machen.« 217  |  Forel, Auguste, »Luccheni«, Gazette de Lausanne, 1.12.1898, Jg. 101, Nr. 282, S. 1 (Teil II). Dt.Ü.: »Sie haben nichts verstanden, nichts gelernt, die exzentrischen und gestörten Theoretiker der Anarchie, sie behandeln den Mensch wie eine Ameise, und sie wollen aus uns wieder wilde Tiere machen und so die atavistischen Instinkte erwecken, die in den Massen ruhen, die sie so in Angst und Schrecken versetzen, statt zu verstehen, dass das Wohl der menschlichen Gesellschaft ganz im Gegenteil nach der allmählichen Auslöschung von allen egoistischen und brutalen Begehren verlangt, sowie auch nach einer Förderung des sozialen Instinktes durch weise und psychologische Gesetze [...].« 218 | Dass Luccheni zum anarchistischen Attentäter wurde, führte Forel auf eine Verschränkung von sozialem Milieu, Bildungsgrad, strukturellen Gegebenheiten und seinem schlechten Erbgut (»mauvaise hérédité«) zurück, wozu im rassistischen Diskurs der Zeit auch die »instincts cruels de la race italienne« (Forel, Auguste, »Luccheni«, Gazette de Lausanne, 2.12.1898, Jg. 101, Nr. 283, S. 1 [Teil III]) zählten. 219 | Vgl. »Confédération suisse: Les complices de Lucheni [sic]«, Gazette de Lausanne, 14.11.1898, Jg. 101, Nr. 267, S. 2.

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nen, die mit Hilfe eines anarchistischen Phantoms Forderungen nach rigiden legalistischen Maßnahmen legitimieren wollte.220

5.4.1.3 Silvestrelli-Affäre 1902 Den Beginn der Silvestrelli-Affäre kommentierte die Gazette de Lausanne als Resultat des Verhaltens des italienischen Botschafters Silvestrelli. Wohl wurde erwähnt, dass dessen Empörung auf einen anarchistischen Artikel des Il Risveglio zurückging, die Affäre wurde allerdings losgekoppelt von der Anarchismus-Frage behandelt. Konnte noch 1898 die anarchistische Gefahr kaum überschätzt werden, wurden nur vier Jahre später Einfluss und Wirkungsmacht der Bewegung für die Schweiz heruntergespielt.221 Weiterhin positionierte die Gazette de Lausanne AnarchistInnen als un- und nicht-schweizerische Antipoden der SchweizerInnen: »Le peuple suisse est de ceux qui aiment à vivre en paix avec le prochain [...]. Il a horreur du désordre et les propos malfaisants des anarchistes lui répugnent de toutes façon.«222 AnarchistInnen wurden im Gegenzug als ausländisches, von Italien hausgemachtes Fabrikat deklariert: »Si nous considérons la question plus générale de la répression des délits anarchistes, il ne faut pas oublier que le seul crime de ce genre qui ait été commis sur notre sol l’a été par un Italien [...].«223 An anderer Stelle hieß es gar:

220  |  Zu welchen Ergebnissen die übersteuerte antianarchistische Stimmungsmache führen konnte, lieferte die Gazette de Lausanne gleich selbst nach. Wenige Tage später berichtete sie von einer Ausschaffung, die aufgrund des Kleidungsstils eines Arbeiters gefällt wurde. Vgl. »Les aventure d’un Fleurisau«, Gazette de Lausanne, 22.11.1898, Jg. 101, Nr. 274, S. 2. 221  |  So hieß es in der ersten Titelgeschichte zum Thema: »Le Risveglio est un journal révolutionnaire et anarchiste publié, en langue italienne, à Genève [...]. Il n’est pas lu en Suisse [...].« (»La rupture avec l’Italie«, Gazette de Lausanne, 11.4.1902, Jg. 104, Nr. 84, S. 1) Dt.Ü.: »Der Risveglio ist eine revolutionäre und anarchistische Zeitung, die in Genf auf Italienisch veröffentlicht wird [...]. Er wird in der Schweiz nicht gelesen [...].« Diese Position wird wiederholt betont, nicht zuletzt mit der Absicht, das Stigma des Anarchisten-Nests abzuschütteln, das der Schweiz vom Ausland aufgetragen wurde. Der »[...] Risveglio, est sans lecteurs en Suisse et surtout sans influence sur le calme et le bon sens de notre peuple« (»L’incident Silvestrelli au Conseil des Etats«, Gazette de Lausanne, 25.4.1902, Jg. 104, Nr. 97, S. 1) Dt.Ü.: »[...] Risveglio hat in der Schweiz keine Leser und vor allem keinen Einfluss auf die Ruhe und den guten Menschenverstand unseres Volkes.« 222 | »La rupture avec l’Italie«, Gazette de Lausanne, 11.4.1902, Jg. 104, Nr. 84, S. 1. Dt.Ü.: »Das Schweizer Volk gehört zu denen, die in Frieden mit ihren Nächsten leben wollen [...]. Es fürchtet die Unordnung und verabscheut die böswilligen Worte der Anarchisten aufs Äußerste.« 223  |  »Les assertions de la ›Tribuna‹«, Gazette de Lausanne, 12.4.1902, Jg. 104, Nr. 85, S. 1. Dt.Ü.: »Wenn wir uns die Frage der Repression anarchistischer Straftaten im Allgemeinen ansehen, sollten wir dabei nicht vergessen, dass der Täter des einzigen Verbrechens dieser Art, das auf unserem Boden begangen wurde, Italiener war [...].«

5. Von Läusen und Unkraut: Nicht-anarchistische Presse »Il est vraiment étrange d’entendre des journalistes et des ministres italiens récriminer contre la Suisse et son gouvernement quand, d’autre part, on considère que l’anarchisme et les anarchistes sont des produits d’exportation spécifiquement italiens. La régicide, l’assassinat politique sont de longue date des ›articles‹ italiens.« 224

Selbst für die wenigen Schweizer AnarchistInnen trüge Italien die Verantwortung: »Avant Bertoni il n’y avait pas d’anarchistes suisses [...] Le cas même de Bertoni ne prouve rien [...] car c’est en Italie et non chez nous que Bertoni est devenu anarchiste.«225 Daneben wurde das bereits 1898 entworfene Bild von AnarchistInnen als einer von außen eindringenden Schädigung des gesunden Volkskörpers Schweiz auch im Zusammenhang mit der Silvestrelli-Affäre bemüht und reinforciert und allegorisch mit einer Vergiftung gleichgesetzt. Dieser erwehrte sich die Schweiz nicht durch die Applikation immer neuer stärkerer Heilmittel, sondern durch eine überragende Grundkondition und -konstitution, wie es in nationalistischer Superioritätsrhetorik hieß: »Un peuple que ses mœurs préservent du venin anarchiste n’est point pressé de recourir aux remèdes violents en usage dans des pays moins favorisés.«226 Neben diesen häufig auftretenden identitätskonstituierenden Erwähnungen sind auch kleinere, den Anarchismus negativ bewertende Einsprengsel zu finden – so beispielsweise im schnippischen Negieren des Anarchismus als Sozialphilosophie.227 Die Mehrheit der Beiträge der Gazette de Lausannne zur SilvestrelliAffäre befasste sich allerdings weniger mit der anarchistischen Bewegung228, sondern rechnete den Konflikt personalisiert dem Diplomaten Silvestrelli zu.229 224  |  »Le conflit avec l’Italie«, Gazette de Lausanne, 14.4.1902, Jg. 104, Nr. 87, S. 1. Dt.Ü.: »Es mutet seltsam an, zu hören wie die italienischen Journalisten und Minister über die Schweiz und ihre Regierung schimpfen, wenn man sich andererseits überlegt, dass der Anarchismus und die Anarchisten insbesondere italienische Exportprodukte sind. Königsmord und politische Anschläge sind seit Langem italienische ›Waren‹.« Die Konnotation des italienischen und ausländischen wurde konstant unterhalten. So findet sich in der Berichterstattung zum staatlichen Verbot einer Rede Luigi Bertonis im Tivoli in Lausanne eine einschlägige, pejorativ produktive Charakterisierung der ZuhörerInnen: »Il [Bertoni, d.V.] se rendit alors dans le café où étaient réunies une cinquantaine de personnes, pour la plupart des Italiens et des étudiants russes et bulgares.« (»M.Bertoni à Lausanne«, Gazette de Lausanne, 14.4.1902, Jg. 104, Nr. 86, S. 1) Dt.Ü.: »Er begab sich also in das Café, in dem rund fünfzig Leute versammelt waren, vor allem Italiener sowie russische und bulgarische Studenten.« 225  |  »L’article de la ›Nuova Antologia‹«, Gazette de Lausanne, 9.5.1902, Jg. 104, Nr. 107, S. 1. Dt.Ü.: »Vor Bertoni gab es keine Schweizer Anarchisten [...] Auch der Fall Bertoni beweist nichts [...] denn Bertoni ist in Italien und nicht bei uns zum Anarchisten geworden.« 226  |  Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Ein Volk, dessen Sitten es vor dem anarchistischen Gifte bewahren, hat es nicht eilig, die gewaltvollen Mittel einzusetzen, die in weniger begünstigten Ländern angewandt werden.« 227  |  Vgl. »L’incident italien«, Gazette de Lausanne, 12.4.1902, Jg. 104, Nr. 85, S. 1. 228 | Der Artikel, der die Silvestrelli-Affäre ursächlich lostrat, wurde von der Gazette de Lausanne sogar ins Französische übersetzt und abermals veröffentlicht. Vgl. »Le Risveglio«, 12.4.1902, Jg. 104, Nr. 85, S. 1. 229  |  Vgl. »M. Silvestrelli«, Gazette de Lausanne, 11.4.1902, Jg. 104, Nr. 84, S. 1, wo Silvestrelli seine nicht-diplomatische Abstammung zum Vorwurf für sein diplomatisches Ungeschick gemacht wurde.

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Das offizielle Ende der Silvestrelli-Affäre am 22.7.1902 hatte nur noch geringen Nachrichtenwert. Zwar wurde sie bisweilen in Risveglio-Affäre umbenannt 230, darüber hinaus lagen keine konstituierenden Elemente für die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen vor.

5.4.1.4 Befreiungsversuch Kilaschitzky 1907/1912 Der Befreiungsversuch von Georg Kilaschitzky am 4.6.1907 wurde in der Gazette de Lausanne nur knapp verhandelt. Das anarchistische Ereignis wurde vor allem dazu genutzt, den xenophoben Diskurs gegenüber RussInnen zu verfestigen. Dazu druckte die Gazette de Lausanne Artikel und Meinungen anderer Zeitungen,231 aber auch eigene Beiträge ab, die sowohl den Kasernenüberfall als auch die Explosion des weggeworfenen Sprengsatzes tags darauf an der Gartenhofstrasse RussInnen zurechnete.232 Diese wurden wohl als RevolutionärInnen, nicht aber als AnarchistInnen begriffen und vermittelt, weswegen sich keine Ableitungen aus den Typisierungen der vermeintlichen TäterInnen auf die zugeschriebene kollektive Identität machen lassen. Die Charakterisierung der anarchistischen Bewegung als von AusländerInnen bestimmt findet sich auch in themenfremden Beiträgen der Gazette de Lausanne. Über eine anarchistische Demonstration in Lausanne – »entièrement étrangère à notre pays«233 – hieß es: »Cinq ou six cents manifestants russes et italiens, presque exclusivement [...]« seien »en bande« vor das Stadthaus gezogen und hätten sich deplatzierterweise und »en un jargon innommable« über die Repression in der Schweiz beschwert.234 Zur damit unterstellten Wurzellosigkeit der anarchistischen Bewegung in der Schweiz wurde mit der Bezeichnung als Rotten ein negativ besetzter Begriff verwendet, der Konnotationen von plündernden Horden weckt. Die spätere, spezifische Hervorhebung der Tatsache, dass »[...] les femmes sont presque en majorité [...]«235, markierte eine weitere kulturelle Devianz in einer Zeit und in einer Gesellschaft, in der Politik großmehrheitlich als Männersache gehandhabt und verstanden wurde.

230  |  Vgl. »La fin d’un conflit«, Gazette de Lausanne, 26.7.1902, Jg. 104, Nr. 174, S. 1. 231 | Vgl. »La Bombe de Zurich«, Gazette de Lausanne, 6.6.1907, Jg. 110, Nr. 132, S. 2, oder »Les Russes en Suisse«, Gazette de Lausanne, 8.6.1907, Jg. 110, Nr. 134, S. 1, wo Säuberungsbegriffe wie ›nettoyage‹ und ›purger‹ dominieren. 232  |  Vgl. die beschuldigenden Formulierungen fernab jeglichen Potenzialis in »La bombe de Zurich«, Gazette de Lausanne, 5.6.1907, Jg. 110, Nr. 131, S. 3. Obschon dahingehende Beweise ausblieben, lautete auch knapp drei Wochen nach dem Überfall auf die Zürcher Kaserne die Überschrift eines Kurzbeitrages noch »Les Russes en Suisse« in Rückgriff auf Mutmaßungen aus der NZZ. Vgl. »Confédération suisse: Les Russes en Suisse«, Gazette de Lausanne, 22.6.1907, Jg. 110, Nr. 146, S. 2. 233  |  »A propos d’une manifestation«, Gazette de Lausanne, 6.6.1907, Jg. 110, Nr. 132, S. 3. Dt.Ü.: »unserem Lande vollkommen fremd« 234  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »Fünf- bis sechshundert fast ausschließlich russische und italienische Demonstranten [...]«,»in einem unaussprechlichen Jargon«. 235  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »[...] die Frauen fast in der Mehrheit waren [...]«.

5. Von Läusen und Unkraut: Nicht-anarchistische Presse

Die Berichterstattung zum ersten Bombenprozess beschränkte sich auf einen einzigen knappen Artikel.236 Darin vermeldete die Zeitung zwar den Freispruch des Angeklagten, dem »anarchiste convaincu et collaboré au Réveil«237 Ernst Frick. Die wenigen Zeilen wurden dominiert vom Glauben an die Schuld Fricks, die lediglich nicht schlüssig bewiesen werden konnte. »Ernest Frick [...] a été acquitté, le jury n’ayant pas estimé que sa culpabilité était suffisamment établie. [...] Ce n’est qu’après deux heures de délibérations que le jury a rendu son verdict. Frick [...] a essayé, sans y parvenir de façon décisive, d’établir un alibi.«238 Obschon gerichtlich bestätigt, blieb der ›überzeugte Anarchist‹ damit nicht nur tatverdächtig, sondern auch prinzipiell unglaubwürdiger Lügner, der zwar freigesprochen, deswegen aber nicht unschuldig sei. Der zweite Bombenprozess wurde von der Gazette de Lausanne als »procès des anarchistes« eindeutig verortet. Auch die Angeklagten Frick und Scheidegger wurden von Beginn an als Anarchisten eingeführt, obschon die politische Überzeugung für Prozessführung und Urteil keine Rolle hätte spielen sollen.239 Durch diese und auch durch anderweitige einschlägige Personenbezeichnungen wurde die Fremdwahrnehmung kanalisiert. Gleichzeitig konnten auf diese Weise bereits konstituierte und konstruierte Bilder sozial neu aufgeladen und perpetuiert werden. Wenn aus Frick »l’agitateur Frick«240, aus seiner Zeugin Margarethe Hardegger-Faas »Mme Faas, une militante du mouvement syndicaliste«241 wurde, war ihre Delinquenz aufgrund des prinzipiell delinquenten Hintergrunds, der AnarchistInnen kontinuierlich unterschoben wurde, schon sehr viel wahrscheinlicher. Derlei tendenziöse und identitätskonstituierende Verlautbarungen fanden sich in vielen, wenn auch nicht in allen Beiträgen. Die Urteilsverkündung beispielsweise enthielt keinerlei konstitutive Elemente für die zugeschriebene kollektive Identität.242

5.4.2 Le Peuple de Genève/Le Peuple Suisse Die Fremdwahrnehmung von AnarchistInnen in der Schweiz kann zum ersten berücksichtigten anarchistischen Ereignis nicht im Spiegel der sozialdemokratischen Presse der Westschweiz nachgezeichnet werden. Der Grund dafür liegt im Umstand, dass zum Zeitpunkt des Ereignisses keine französischsprachige sozialdemo236  |  »Nouvelles des cantons: Zurich«, Gazette de Lausanne, 30.10.1907, Jg. 110, Nr. 257, S. 3. 237  |  Ebd., S. 3. 238  |  Ebd., S. 3. Dt.Ü.: »Ernest Frick [...] wurde freigesprochen, das Gericht befand, dass seine Schuld nicht genügend nachgewiesen werden konnte. [...] Erst nach einer zweistündigen Beratung hat das Gericht sein Urteil verkündet. Frick [...] hat versucht ein Alibi anzugeben, was ihm nicht vollkommen überzeugend gelungen ist.« 239  |  Vgl. »Le procès des anarchistes«, Gazette de Lausanne, 26.11.1912, Jg. 115, Nr. 322, S. 2. Die Bezeichnungen ›inculpés‹ und ›accusées‹ treten erst im dritten Beitrag zum Thema auf, »Chronique judiciaire: Le procès des anarchistes zurichoises«, Gazette de Lausanne, 29.11.1912, Jg. 115, Nr. 326, S. 2. 240  |  Ebd., S. 2. 241  |  Ebd., S. 2. 242 | »Dernières Dépêches: Anarchistes condamnés«, Gazette de Lausanne, 1.12.1912, Jg. 115, Nr. 377, S. 5.

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kratische Zeitung in der Westschweiz erschien. Der Le Grütli als offizielles Organ des Grütli-Vereins und der organisierten Arbeiterschaft mit sozialdemokratischem Einschlag existierte nach einer ersten Phase des Erscheinens von 1862-1871 243 erst wieder ab 1888244.245 Die sozialdemokratische La Voix du Peuple246 hatte ihren ersten Jahrgang zwar 1885, publizierte ihre erste Nummer aber erst nach dem anarchistischen Ereignis der versuchten Bundeshaussprengung und der losgetretenen großen Anarchisten-Untersuchung am 23.5.1885.247

5.4.2.1 Luccheni-Attentat 1898 Das Attentat auf die österreichische Kaiserin Elisabeth fand ein großes Echo in der sozialdemokratischen Presse. Die Genfer Zeitung Le Peuple de Genève248 distanzierte sich darin umgehend nicht nur vom anarchistischen Attentat auf Kaiserin Elisabeth, sondern im gleichen Atemzug auch vom Anarchismus, der als egoistische, bourgeoise Ideologie bezeichnet und vermittelt wurde: »Le socialisme n’a rien de commun avec les doctrines logiquement individualiste des anarchistes [...] ce qu’il ne faut jamais perdre de vue, est que l’anarchiste est un conservateur [...]. L’anarchie est un fruit, une émanation directe de la bourgeoisie et de ses doctrines.«249 Die Bourgeoisierung des Anarchismus wurde auf verschiedene Arten akzentuiert. So auch durch die Verwendung von Anarchie-Begriffen zur Bezeichnung des Bürgertums, beispielsweise wenn auf Privilegierte als »les anarchiste d’en haut, menteurs,

243  |  Grütli: Le Grütli (I) in: Blaser, Bibliographie der Schweizer Presse, Bd. 1, S. 472. 244  |  Ebd., S. 472. 245 | Ab 1888 erschienen drei Zeitungen parallel, die sich als Organe des Grütli-Vereins und der sozialdemokratischen Kräfte verstanden: La Voix du Peuple in Genf (bis 1889), Le Grutléen in La Chaux-de-Fonds (bis 1891) und Le Grütli in Lausanne, der bis 1943 existierte. Vgl. Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 103. 246  |  Voix: La Voix du Peuple (Ge) in: Blaser, Bibliographie der Schweizer Presse, Bd. 2, S. 1071-1072. 247  |  Vgl. allgemein für die Geschichte der sozialdemokratischen Presse 1880-1914 in der Westschweiz Gruner/Dommer, Arbeiterschaft und Wirtschaft, S. 103-104, und, ausführlicher kontextualisiert, ebd., S. 143-152. 248 | Das Blatt, das in der Umgangssprache kurz Le Peuple genannt wurde, änderte seine Kopfzeile sowie seinen Namen in der betrachteten Periode. Während der Jahrgang 1885 typografisch ebenbürtig Le Peuple de Genève hieß, ist im Jahrgang 1902 das Le Peuple dominant und de Genève in massiv kleinerer Schriftgröße hintangestellt. Diese typografische Hierarchisierung wurde auch beibehalten, als ab Mitte Juni 1906 die Redaktion das ›de Genève‹ in ein ›Suisse‹ umwandelte. Der Grund für die Umbenennung liegt in der Fusion der Zeitung mit den Titeln La Lutte Sociale, La Sentinelle, Le Courrier Jurassien und L’Aurore, die so zum sozialdemokratischen Leitblatt für die ganze Romandie wurde. Die Quellenangaben lauten folglich für 1902 Le Peuple de Genève, für 1907 und für 1912 Le Peuple Suisse. Die sozialdemokratische Ausrichtung behielt das Le Peuple trotz Namensänderungen bei. 249 | »L’anarchie«, Le Peuple de Genève, 17.9.1898, Jg. 4, Nr. 38, S. 1. Dt.Ü.: »Der Sozialismus hat mit den logischerweise individualistischen Lehren der Anarchisten nichts gemein [...] man darf nie aus dem Blick verlieren, dass der Anarchist konservativ ist [...] Die Anarchie ist die Frucht, der unmittelbare Ausfluss der Bourgeoisie und ihrer Lehren.«

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voleurs, faussaires, égorgeurs de peuples [...]«250 Rückbezug genommen wurde. Der Anarchismus wurde so zum Antipoden der ›neuen Zeit‹ aufgebaut, und müsse folglich von der Sozialdemokratie bekämpft werden: »Le devoir du socialisme est de lutter contre ce double adversaire [...]. C’est par le socialisme seulement qu’une société nouvelle sera créée, dans laquelle il n’y a plus de ›conservateurs‹ que de ›chevaliers de la bombe‹.«251 252 Der starke Differenzierungsdrang der Sozialdemokratie, der sich in regelrechten Demarkationskaskaden gegenüber dem Anarchismus äußerte253, erklärt sich in den politisch zu verstehenden Anwürfen von bürgerlich-liberaler Seite, die auch in der Westschweiz beständig versuchte, die Sozialdemokratie dem Anarchismus nahe zu stellen, um sie zu diskreditieren.254 Des Weiteren teilte das Le Peuple de Genève AnarchistInnen in TheoretikerInnen und »cerveaux faibles, mal équilibrés«255 ein. Damit implizierte die Zeitung einerseits eine hierarchische Struktur und evozierte andererseits ein Bild von beidseits nicht von der eigenen Sache überzeugten AktivistInnen, die entweder zu feige seien, ihre Schriften selbst in die Tat umzusetzen, oder aber den Hintergrund ihres Tuns nicht verstünden.256 Aus einer rhetorischen Frage herauszulesen ist schließlich die absolut gesetzte negative Konnotation, welche die Anarchie als (allumfassendes) Übel vermittelte: »Anarchie [...] [d]’où nous vient ce mal?«257 Der Prozess gegen Luccheni vom 10.11.1898 wurde vom Le Peuple de Genève überhaupt nicht erwähnt. Anarchie-Begriffe wurden vornehmlich im Zusammen250  |  »Fin de régime«, Le Peuple de Genève, 24.9.1898, Jg. 4, Nr. 39, S. 1. Dt.Ü.: »die Anarchisten von oben, Lügner, Diebe, Fälscher, Volksmörder [...]«. 251 | »L’anarchie«, Le Peuple de Genève, 17.9.1898, Jg. 4, Nr. 38, S. 1. Dt.Ü.: »Es ist die Aufgabe des Sozialismus gegen diesen zweifachen Gegner zu kämpfen [...] Allein der Sozialismus kann eine neue Gesellschaft erschaffen, in der es ebenso wenige ›Konservative‹ gibt wie ›Ritter der Bomben‹.« 252 | Vgl. auch »Distinguons«, Le Peuple de Genève, 17.9.1898, Jg. 4, Nr. 38, S. 2: »Les anarchistes ne se sont jamais groupés sous le drapeau rouge. Au contraire: partout et toujours, ils nous ont combattus, par la plume, la parole et le ›chahut‹ dans nos assemblés.« Dt.Ü.: »Die Anarchisten haben sich nie unter der roten Fahne versammelt. Ganz im Gegenteil: Sie haben uns immer und überall bekämpft, mit der Feder, dem Wort und dem ›Aufruhr‹ in unseren Versammlungen.« 253  |  Vgl. auch »Un meeting«, Le Peuple de Genève, 24.9.1898, Jg. 4, Nr. 39, S. 2-3: »Que ceux-ci [gemeint sind die Anarchisten, d.V.] fassent de la propagande où ils veulent, mais qu’ils ne viennent pas se mêler aux rangs des ouvriers organisés.« Dt.Ü.: »Sie sollen ihre Propaganda verbreiten, wo sie wollen, aber dass sie sich nicht in die Reihen der organisierten Arbeiter wagen.« 254 | Vgl. Kap. 5.4.1 Gazette de Lausanne, sowie die teils amüsierten, teils enragierten sozialdemokratischen Kommentare darauf, etwa in »Fin de régime«, Le Peuple de Genève, 24.9.1898, Jg. 4, Nr. 39, S. 1, oder in »Ça y est!«, Le Peuple de Genève, 8.10.1898, Jg. 4, Nr. 41, S. 1. 255 | »L’anarchie«, Le Peuple de Genève, 17.9.1898, Jg. 4, Nr. 38, S. 1. 256  |  Vgl. dazu auch »Anarchie«, Le Peuple de Genève, 1.10.1898, Jg. 4, Nr. 40, S. 3: »Ce sont les écrivains qui sèment, par leurs écrits, le germe de haine qui va mûrir dans le cerveau de quelque exalté [...].« Dt.Ü.: »Es sind die Schreiber, die mit ihren Schriften den Keim des Hasses säen, der in den Köpfen einiger Schwärmer heranreifen wird [...].« 257 | »Anarchie«, Le Peuple de Genève, 1.10.1898, Jg. 4, Nr. 40, S. 3.

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hang mit der Anti-Anarchismus-Konferenz in Rom thematisiert. Darin wurde die journalistische Energie indes vor allem für die Kritik der Politischen Polizeien verwendet, sodass für die zugeschriebene kollektive Identität keine konstituierenden Elemente auszumachen sind.258

5.4.2.2 Silvestrelli-Affäre 1902 Das anarchistische Ereignis der Silvestrelli-Affäre veranlasste das Le Peuple de Genève zu einer kritischen Empathiebezeugung mit dem Anarchisten Luigi Bertoni. Bertoni, dem man aufgrund der angespannten außenpolitischen Lage ein Redeverbot in Lausanne erteilte, wurde als Opfer vorauseilenden Gehorsams der Behörden gezeichnet und so als Leidtragender einer letztlich fremdbestimmten Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit inszeniert.259 Die Zeitung fürchtete sich vor »[...] les mesures exceptionelles qui peuvent être prises non seulement contre les anarchistes, mais aussi contre nous socialistes, voire même contre tous les citoyens qui entendent jouir des libertés garanties par notre constitution«260. Damit wurde trotz Empathie eine klare Demarkation gegenüber dem Anarchismus gezogen, die signalisierte, dass Anarchismus und Sozialdemokratie etwas grundsätzlich Verschiedenes seien. Die Affäre selbst bezeichnete das Le Peuple de Genève als Folge des Verhaltens des Diplomaten Silvestrelli, der mit seinen Depeschen vor allem eines gewollt habe: »[...] assouvir sa mauvaise humeur contre les institutions libérales de la Suisse [...]«261. Das offizielle Ende der Silvestrelli-Affäre erwähnte das Le Peuple de Genève nur knapp und ohne identitätskonstituierende Elemente.262 Stattdessen bot eine Polemik zwischen dem Le Peuple de Genève und der Redaktion der de facto anarcho-syndikalistischen L’Émancipation263 Aufschluss über die sozialdemokratische Konzeption von AnarchistInnen 1902. Diese wurden aufgrund ihrer politischen Ausrichtung als weltfremde Träumertruppe bezeichnet, die ihre GeldgeberInnen hinters Licht führten, also in böser Absicht und illoyal gegen die Interessen der ArbeiterInnen handelten.264 258  |  Vgl. etwa »La Conférence«, Le Peuple de Genève, 26.11.1898, Jg. 4, Nr. 48, S. 2. 259  |  Vgl. »Le véritable Danger«, Le Peuple de Genève, 19.4.1902, Jg. 8, Nr. 16, S. 1-2. 260  |  Vgl. ebd., S. 1. Dt.Ü.: »den Außnahme-Maßnahmen, die nicht nur gegen Anarchisten sondern auch gegen uns Sozialisten ergriffen werden können, und sogar gegen jeden Bürger, der die Freiheiten, die unsere Verfassung ihm garantiert, wahrnehmen will.« 261 | Vgl. ebd., S. 1. Dt.Ü.: »[...] seine schlechte Laune den liberalen Institutionen der Schweiz gegenüber zu stillen [...]«. 262  |  Vgl. »A supprimer«, Le Peuple de Genève, 16.8.1902, Jg. 8, Nr. 33, S. 2. 263 | Vgl. Kap. 4.4.7 L’Émancipation. 264  |  Vgl. »Syndicalisme: Notre camarade Donatini«, Le Peuple de Genève, 26.7.1902, Jg. 8, Nr. 30, S. 2. Der entsprechende Artikel erschien ursprünglich im Avvenire del Lavoratore, wurde aber mit affirmativen Bekräftigungen seitens des Le Peuple de Genève zweitabgedruckt, weswegen er m.E. als Meinung des Le Peuple de Genève gelesen werden kann. So hieß es im einleitenden Kommentar zum Wiederabdruck: »Voici sa dernière réponse, que nous empressons nous de faire nôtre.« (Ebd., S. 2) Dt.Ü.: »Dies ist seine letzte Antwort, der wir uns umgehend anschließen wollen.« Die Polemik erstreckte sich über mehrere Ausgaben hinweg, blieb inhaltlich aber unverändert. Vgl. für eine Vorstellung der Kaskaden von Repliken auf Repliken »Pour la vraie neutralité«, Le Peuple de Genève, 9.8.1902, Jg. 8, Nr. 32,

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5.4.2.3 Befreiungsversuch Kilaschitzky 1907/1912 Der Befreiungsversuch von Kilaschitzky vom 4.6.1907 wurde in der Berichterstattung des Le Peuple Suisse nicht expressis verbis mit AnarchistInnen in Verbindung gebracht, sondern mit RussInnen. Zwar wurde Kritik geübt an der anti-russischen Propaganda bürgerlicher Blätter265 – nur acht Zeilen später aber erging sich das Le Peuple Suisse selbst in der Vorverurteilung einer Gruppe, die aufgrund der geschürten Gleichsetzung mit gewalttätigen RevolutionärInnen in der öffentlichen Meinung denkbar nah an AnarchistInnen gerückt worden sein dürfte, denen regelmäßig dasselbe Schicksal widerfuhr.266 Die pauschale Vorverurteilung von RussInnen ebenso wie ihre Kritik daran dürften vor allem den Zweck der Ablenkung des Blickes auf die sozialdemokratischen Sympathiebekundungen für Kilaschitzky gehabt haben. Darin kann ein Versuch erkannt werden, den parlamentarischen Gegnern die franko gelieferte politische Munition wieder zu entreißen, die sie als SympathisantInnen von Bombenlegern zeigte.267 Auch 1907 dominierten im Le Peuple Suisse Demarkationen gegenüber dem Anarchismus, welcher der Zeitung – nicht nur – von liberaler und konservativer Seite268 unterstellt wurde. So positionierte sich das Blatt in ostentativer Manier als »les socialistes antianarchistes, que nous sommes«269. AnarchistInnen hingegen wurden im Gegenzug an anderer Stelle abschätzig als »›socialistes de bas étage‹«270 apostrophiert, wodurch das Verständnis der beiden Bewegungen als Antipoden bestärkt wurde. Fanden sich schon zum Kasernenüberfall vergleichsweise wenige Artikel im Le Peuple Suisse, so erschienen zum ersten Bombenprozes im Oktober 1907 gar keine Beiträge. Spuren, wie AnarchistInnen verstanden und gezeichnet wurden, sind anderorts zu finden, wenn auch eher selten. Wenn sie thematisiert werden, ist das Ergebnis eine Skizzierung von AnarchistInnen als bedingungslose BefürworterIn-

S. 1, und darauf wiederum »A propos de foudre«, Le Peuple de Genève, 23.8.1902, Jg. 8, Nr. 34, S. 3. 265  |  Vgl. »Les attentats de Zurich«, Le Peuple Suisse, 11.6.1907, Jg. 13, Nr. 65, S. 1. 266 | »Du sang-froid«, Le Peuple Suisse, 11.6.1907, Jg. 13, Nr. 65, S. 1-2. 267 | »Cette bonne ›Revue‹«, Le Peuple Suisse, 11.6.1907, Jg. 13, Nr. 65, S. 4. Die ambivalente Haltung gegenüber ›den RussInnen‹, die sich in vagen Schuldzuweisungen einerseits (vgl. »Du sang-froid«, Le Peuple Suisse, 11.6.1907, Jg. 13, Nr. 65, S. 1-2) und durch das Ankreiden von Vorverurteilungen durch die »prose haineuse« bürgerlicher Zeitungen andererseits (»Neuchâtel: Où est la scélératesse?«, Le Peuple Suisse, 25.6.1907, Jg. 13, Nr. 69, S. 2) ausdrückte, hielt im Le Peuple Suisse über längere Zeit an. 268 | Der Le Grütli ließ sich offensichtlich von der antianarchistischen Hysterie anstecken und bezeichnete das Le Peuple Suisse als »›demi-anarchistes‹« (»Les Muets du Sérail«, Le Peuple Suisse, 4.6.1907, Jg. 13, Nr. 62, S. 1, und ausführlicher »Un joli trio«, Le Peuple Suisse, 4.6.1907, Jg. 13, Nr. 62, S. 4), die zusammen mit der liberalen Regierung gegen die ArbeiterInnen wirkte. Grund war, dass sich das Blatt kritisch zum Abstimmungsverhalten von sozialdemokratischen Abgeordneten in einer Budgetfrage äußerte. Der Le Grütli, so ist zu sehen, blieb also beim Verständnis und der Vermittlung des Anarchismus als grundsätzlich bourgeoiser Kraft im orthodox-marxistischen Sinn. 269  |  »Les Muets du Sérail«, Le Peuple Suisse, 4.6.1907, Jg. 13, Nr. 62, S. 1. 270  |  »Le Socialisme chez les bourgeois«, Le Peuple Suisse, 6.6.1907, Jg. 13, Nr. 63, S. 1.

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nen der »[...] adaption de méthodes de violence ou d’illégalisme systématique«271, also als prinzipiell kriminelle AkteurInnen.272 Auch der zweite Bombenprozess 1912 wurde in keinem Artikel erwähnt. Das ist deshalb erstaunlich, weil eine Chance verpasst wurde, das noch 1907 vermittelte Bild von AnarchistInnen als prinzipiell illegalistisch und gewalttätig mit lokalen Ereignissen zu festigen.273 Aber auch das Verschweigen des Meineids von Margarethe Hardegger-Faas erstaunt, zumal sie in Bezug auf Veranstaltungen hin und wieder als Person und Agitatorin im Le Peuple Thema war. 1912 sind auch keine ereignisfremden Artikel auszumachen, die Anarchismuskonzeptionen und -imaginationen enthielten.

5.4.3 La Tribune de Genève 5.4.3.1 Bundeshaussprengung 1885 Ein erstes Mal beschäftigt die fiktive geplante Bundeshaussprengung die politisch neutrale La Tribune de Genève am 31.1.1885.274 Obwohlzum Zeitpunktder Veröffentlichung der Nachricht, dasseine Schließung der Bundeshauspforten für die Öffentlichkeit erlassen worden sei, nichts Näheres zum Anlass dieser Maßnahmen bekannt war, stellte die La Tribune de Genève bereits eine Verbindung zum Anarchismus her. So lautete der Titel fett gedruckt »Anarchistes«, der Inhalt des Artikels beschränkte sich aber auf ein Tappen im Dunkel: »Quel est le motif de cette mesure extraordinaire? Jusqu’à présent, rien n’a transpiré [...] Mystère complet.«275 Die negative Konnotation fußte auf der geschürten und schließlich von der Leserschaft akzeptierten generalverdächtigen Vermutung anarchistischer Hintergründe bei jeder Art von staatlicher Beschneidung der Freiheit im Namen der Sicherheit. Im Zuge des Themas publizierte die La Tribune de Genève aber auch Beiträge, die passiv und wertungsfrei anarchistische Hypergüter kolportierten. Etwa, wenn ganze Abschnitte aus dem anarchistischen Le Révolté kommentarlos zitiert wurden.276 Die überwiegende Mehrheit der Berichte und Kurzmeldungen der La Tribune de Genève stellten Anarchistisches 1885 aber in negativem Kontext dar. Neben der expliziten Verklammerung der Bewegung mit dem diabolisierten Johann Most 277 fin271 | »Mouvement syndical«, Le Peuple Suisse, 14.11.1907, Jg. 13, Nr. 129, S. 1. Dt.Ü.: »[...] Anwendung gewaltvoller Methoden oder systematischer Illegalitäten«. 272 | Vgl. in gleichem Duktus einen Zweitabdruck aus der sozialdemokratischen Berner Tagwacht in »Contre le terrorisme suisse«, Le Peuple Suisse, 14.11.1907, Jg. 13, Nr. 129, S. 2. 273  |  Wie in Kap. 3.2 Der Anarchismus und die Schweiz erwähnt, wurden am zweiten Zürcher Bombenprozess auch der Überfall auf ein Tram und die Schmugglervergangenheit von Angeklagten verhandelt, womit eine günstige Ausgangslage gegeben gewesen wäre. 274  |  Vgl. »Berne: Anarchistes«, La Tribune de Genève, 31.1.1885, Jg. 7, Nr. 26, 3ème édition, S. 1. 275 | Ebd., S. 1. Dt.Ü.: »Welches Motiv steckt hinter dieser außergewöhnlichen Maßnahme? Bis jetzt ist nichts nach außen gedrungen [...] Es bleibt ein vollkommenes Rätsel.« 276  |  Vgl. »Les anarchistes«, La Tribune de Genève, 3.2.1885, Jg. 7, Nr. 28, 3ème édition, S. 2. 277  |  Vgl. »Etats Unis: Anarchistes en Amérique«, La Tribune de Genève, 2.2.1885, Jg. 7, Nr. 27, 2ème édition, S. 2.

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den sich auch wiederholt Anbindungen an die in der Schweiz ansässigen anarchistischen Attentäter Anton Kammerer, Hermann Stellmacher und Julius Lieske, was die Konnotation und Einschätzung von AnarchistInnen als AttentäterInnen befeuert haben dürfte: »Comme les assassins Kammerer, Stellmacher et, paraît-il, aussi le meurtrier de M. Rumpf venaient de Suisse, les puissances étrangères ont sur notre sol des agents de la police secrète qui surveillent de près les anarchistes.«278 Zur Diffamierung trug auch bei, die anarchistische Bewegung als von Spitzeln ausländischer Mächte durchzogen darzustellen. Der damit adressierte xenophobe Reflex wurde auch gesondert bemüht und AnarchistInnen als großer Haufen Fremder portraitiert: »D’après des renseignements précis, il y a actuellement en Suisse mille à deux mille anarchistes. Presque tous sont étrangers, quelques-uns cependant suisses.«279 Wie der unmittelbar folgende Satz belegt, wurden AnarchistInnen zudem als Wilde und als Paria gezeichnet, die in einer internationalen, von Most und seiner Zeitung Freiheit gelenkten Struktur aufgingen: »Il n’y a pas parmi eux de gens cultivés. Les anarchistes appartiennent à la grande société internationale la Freiheit.«280 An anderer Stelle wurde ihnen zudem eine kriminelle Ader attestiert. Unter dem Titel »Anarchistes« verkündete die Zeitung: »[I]l y a des individus qui ne sont que trop souvent des repris de justice, des malfaiteurs en rupture de ban [...]

278 | Vgl. »Anarchistes [I]«, 5.2.1885, Jg. 7, Nr. 30, 3ème édition, S. 1. Dt.Ü.: »Da die Mörder Kammerer, Stellmacher und, so scheint es, auch der Mörder des Herrn Rumpf aus der Schweiz kamen, agieren auf unserem Boden Beamte der Geheimpolizei ausländischer Mächte, um die Anarchisten genauestens beobachten.« Diese Meldung ist im exakt gleichen Wortlaut auch einen Tag früher in der Gazette de Lausanne zu lesen und wurde offensichtlich übernommen. Diese Verklammerung ebenfalls affirmierend ist »Berne: Anarchistes, dynamite«, La Tribune de Genève, 5.2.1885, Jg. 7, Nr. 30, 3ème édition, S. 1. 279  |  Vgl. »Anarchistes [I]«, La Tribune de Genève, 5.2.1885, Jg. 7, Nr. 30, 3ème édition, S. 1. Dt.Ü.: »Sehr genauen Auskünften zufolge, gibt es zurzeit in der Schweiz zwischen ein- und zweitausend Anarchisten. Sie sind fast alle Ausländer, einige jedoch Schweizer.« Vgl. auch identisch »Anarchistes«, La Tribune de Genève, 12.2.1885, Jg. 7, Nr. 36, 3ème édition, S. 1. Auch in Erwähnungen en passant sind die Ressentiments, die diesen Reflex bedienten, immer wieder zu finden. Geradezu typisch im Beitrag »Chez les anarchistes«, La Tribune de Genève, 25.2.1885, Jg. 7, Nr. 46, 3ème édition, S. 2, in dem über ein anarchistisches Treffen in Genf berichtet wurde: »[R]evenons à la séance d’hier qui a été ouverte par le citoyen R., un Genevois, car il y a, paraît-il, deux ou trois Genevois, parmi les anarchistes de Genève.« Dt.Ü.: »Kommen wir auf die gestrige Sitzung zurück, die vom Bürger R., einem Genfer, eröffnet wurde, denn es sind anscheinend zwei oder drei Genfer unter den Anarchisten aus Genf.« Abgesehen von diesem Seitenhieb berichtete die Zeitung allerdings neutral und bot damit Raum, die zugeschriebene kollektive Identität der AnarchistInnen auch mit tatsächlichen anarchistischen Hypergütern zu füllen, welche die Methode der Direkten Aktion überstiegen. 280  |  Vgl. »Anarchistes [I]«, La Tribune de Genève, 5.2.1885, Jg. 7, Nr. 30, 3ème édition, S. 1, (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Unter ihnen gibt es keine gebildeten Leute. Die Anarchisten gehören zur großen internationalen Gemeinschaft der Freiheit.« Vgl. für die angebliche Fixierung auf Most aller AnarchistInnen auch »Zug – Anarchistes«, La Tribune de Genève, 18.2.1885, Jg. 7, Nr. 40, S. 1.

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vulgaires criminels.«281 So verband die La Tribune de Genève anarchistische Überzeugungen ebenso beiläufig wie nachhaltig mit Kriminalität in ihrer Deutung.282 Die Artikel zur Anarchisten-Untersuchung lieferten juristische und administrativ-personelle Details. Im Ton blieben sie neutral und im expliziten Sinn wertungsfrei.283 Tatsächlich dürfte der Umstand, dass AnarchistInnen in der Zeit der großen Untersuchung allein wegen ihrer Überzeugung284 verhaftet wurden, dennoch zu einer negativen Färbung der Fremdwahrnehmung beigetragen haben: Das Thema fand fast ausschließlich im Zusammenhangmit Delinquenzund Devianz statt. Selbstwenn Entlassungen aufgrund haltloser Anschuldigungen ebenfalls kolportiert wurden285, dürfte das Stigma des Kontaktes mit der Staatsgewalt zur nachhaltigen negativen Einfärbung der zugeschriebenen kollektiven Identität beigetragen haben. Obschon ausbleibende Resultate der Untersuchung die La Tribune de Genève an der Authentizität der Bedrohung zweifeln ließen286, veränderte sich der Charakter von Anarchie-Begriffen als Reizworte nicht. Auch die Vorstellung von AnarchistInnen als einer homogenen Gruppe im Sinn einer Partei mit der Freiheit als Zentralorgan blieb wirkungsmächtig: »Le conseil fédéral a invité les offices postaux à cesser l’éxpedition du journal central des anarchistes, la Freiheit.«287

281 | »Anarchistes«, La Tribune de Genève, 7.2.1885, Jg. 7, Nr. 32, 3ème édition, S. 1. 282  |  »Quant aux autres, tant qu’ils se tiendront tranquilles, qu’ils ne prendront pas notre pays pour le quartier général de l’anarchie, nous éstimons qu’ils doivent continuer à jouir du bénefice du droit d’asile et rester dans le doit commun.« (»Anarchistes«, La Tribune de Genève, 7.2.1885, Jg. 7, Nr. 32, 3ème édition, S. 1) Dt.Ü.: »Was die anderen betrifft, solange sie sich ruhig verhalten und unser Land nicht als Hauptquartier der Anarchie gebrauchen, sollten sie unseres Erachtens weiterhin der Gunst des Asylrechts teilhaftig werden können und dem allgemeinen Recht nach behandelt werden.« 283 | Vgl. »Anarchistes«, La Tribune de Genève, 2.3.1885, Jg. 7, Nr. 50, 3ème édition, S. 1, »Chronique locale: Perquisitions«, La Tribune de Genève, 2.3.1885, Jg. 7, Nr. 50, 3ème édition, S. 2, »Procédure penale féderale [sic]«, La Tribune de Genève, 6.3.1885, Jg. 7, Nr. 54, 3ème édition, S. 1, oder »Anarchistes«, La Tribune de Genève, 11.3.1885, Jg. 7, Nr. 58, 3ème édition, S. 2. 284 | Unmissverständlich hieß es in »Berne – Anarchistes«, La Tribune de Genève, 16.3.1885, Jg. 7, Nr. 62, 3ème édition, S. 1: »Un autre anarchiste a été découvert et mis en état d’arrestation à Utzwil, canton de St.Gall.« Dt.Ü.: »In Uzwil im Kanton von Sankt Gallen wurde ein weiterer Anarchist entdeckt und verhaftet.« 285  |  Vgl. etwa ebd., S. 1. 286 | Vgl. dazu den zusammengefassten Zweitabdruck eines Artikels der Zeitung Le Genevois in: »Anarchistes«, La Tribune de Genève, 12.3.1885, Jg. 7, Nr. 59, 3ème édition, S. 1, sowie die Zusammenfassung eines NZZ-Artikels, der im Sprengungsplan eine Mystifikation ortete. Bei letzterem Artikel betont die La Tribune de Genève allerdings deutlich, dass diese Annahme von der NZZ geleistet wurde. Vgl. »Les anarchistes«, La Tribune de Genève, 24.3.1885, Jg. 7, Nr. 69, 3ème édition, S. 1. 287 | »Anarchistes«, La Tribune de Genève, 19.3.1885, Jg. 7, Nr. 65, 3ème édition, S. 1. Dt.Ü.: »Der Bundesrat hat die Postämter dazu aufgefordert, die Verschickung der zentralen Zeitung der Anarchisten, der Freiheit, einzustellen.

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5.4.3.2 Luccheni-Attentat 1898 Auch bei der Aufarbeitung des Attentats auf Kaiserin Elisabeth 1898 in Genf dominierte der zugeschriebene delinquierende, deviante Charakter – wenn er denn vermittelt wurde. Tatsächlich äußerten sich viele Artikel ohne Anarchie-Begriffe zum Attentat. Sie taten es derart spezifisch und explizit zu Lucchenis Person, dass die verwendeten und evozierten Bilder nicht für eine Skizze der zugeschriebenen kollektiven Identität der AnarchistInnen verwertet werden können.288 Wurden Anarchie-Begriffe verwendet, schimmerten Grundaspekte der Fremdwahrnehmung von 1885 durch. Der »assassin anarchiste Lucchini [sic]« wurde als Paria, dunkel, derb und diffus furchteinflößend geschildert: »Toute l’apparence de l’individu le classe parmi ceux qu’on n’aime pas rencontrer au coin d’un bois.«289 Gleichsam eine Abwertung der Begriffe wie auch eine Diabolisierung der Bewegten bewirkten wiederkehrende Meldungen von vorgenommenen Verhaftungen von AnarchistInnen im Zusammenhang mit der Untersuchung des Attentats in und um Genf.290 Diese Meldungen kontrastierten die ubiquitären Sympathie- und Trauerbekundungen an das österreichisch-ungarische Königshaus, die den Großteil der Berichterstattung der La Tribune de Genève ausmachten. So wurden AnarchistInnen, die kein Mitleid mit der Kaiserin Elisabeth zeigten oder Lucchenis Tat lobten, in ihrer zugeschriebenen Eigenart als gewissen- und ruchlose Haudegen verurteilt.291 Wiederholt baute die La Tribune de Genève auch eine Komplotttheorie auf, die das Attentat als von langer Hand geplant imaginierte. So hieß es zur Verhaftung des Anfertigers vom Holzgriff der Tatwaffe:

288 | Vgl. bspw. »Bulletin politique«, La Tribune de Genève, 1.-12.9.1898, Jg. 20, Nr. 212, 1re édition, S. 2, und »Chronique locale: Assassinat de l’impératrice d’Autriche«, La Tribune de Genève, Jg. 20, Nr. 212, 1re édition, S. 2-3. Das Ausbleiben von Anarchie-Begriffen erstaunt v.a. deshalb, weil Luccheni sich stets als Anarchist bezeichnete. Vgl. exemplarisch »Chronique locale: Assassinat de l’impératrice d’Autriche«, La Tribune de Genève, 14.9.1898, Jg. 20, Nr. 214, 1re édition, S. 2. Vgl. für die Selbstbezeichnung ein mitgeschriebenes Interview von zwei Journalisten aus Turin und Österreich, das in der La Tribune de Genève abgedruckt wurde: »[Luccheni:] – J’agi pour mon idéal. Je suis anarchiste. [Wiener Journalist:] – Mais vous savez bien que des anarchistes vous réprouvent. [Luccheni:] – Mon anarchisme est le seul juste.« (»Chronique locale: Echoes d’un crime«, La Tribune de Genève, 20.9.1898, Jg. 20, Nr. 219, 1re édition, S. 3) Dt.Ü.: »– Ich handele für mein Ideal. Ich bin Anarchist. – Aber Sie wissen doch, dass die Anarchisten Sie missbilligen – Mein Anarchismus ist der einzig wahre.« 289  |  »Chronique locale: On nous demande«, La Tribune de Genève, 13.9.1898, Jg. 20, Nr. 213, 1re édition, S. 2 Dt.Ü.: »Das gesamte Erscheinungsbild der Person stuft sie in jene Kategorie ein, der man nicht am Waldrand begegnen möchte.« 290  |  Vgl. bspw. »Troisième édition d’hier, Chronique locale: Quant aux trois«, La Tribune de Genève, 14.9.1898, Jg. 20, Nr. 214, 1re édition, S. 3. 291  |  Vgl. etwa »Cinquième édition de samedi, Chronique locale: Assassinat«, La Tribune de Genève, 18.-19.9.1898, Jg. 20, Nr. 218, 1re édition, S. 3, oder »Chronique locale: Les anarchistes«, La Tribune de Genève, 20.9.1898, Jg. 20, Nr. 219, 1re édtion, S. 3.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Un de ceux qu’elle [gemeint ist die Polizei, d.V.] a arrêtés a avoué avoir fabriqué la manche de la lime [...] Cet aveu prouve d’une manière incontestable que le coup était préparé de longue date [...]. [Luccheni, d.V.] se reconnait l’auteur unique du crime. Dès qu’on touche la question des complices, il devient aussi muet qu’une carpe. La découverte à Lausanne en prouve cependant long à ce sujet.« 292

Die Vorstellung einer geheimbündlerischen, im diffusen Dunkel planenden Gruppe ist auch hier als Mutter des Gedankens auszumachen. Zum Luccheni-Prozess veröffentlichte die La Tribune de Genève eine Sonderbeilage.293 Auch darin stand seine anarchistische Gesinnung nicht im Zentrum. Luccheni als Anarchist wurde ausschließlich im Rahmen der Paraphrase seiner Aussagen auf lediglich drei Zeilen der zweiseitigen Sonderbeilage thematisiert: »Il avoua être anarchiste et avoir agi avec prémédiation, dans un but exemplaire, pour faire avancer la cause anarchiste.«294 Fremdkonzeptionen des Anarchismus wurden in der La Tribune de Genève eher in der Schilderung von Lucchenis Werdegang deutlich. Dabei wurde Anarchismus als Krankheit verstanden, wie die medizinale Wortwahl implizit vermittelt: »C’est en Italie que se sont sans doute, éveillés les premiers symptômes anarchistes, qui se developpèrent plus tard au cours de sa vie itinérante.«295 Der Sonderbeilage folgten überraschenderweise wenige Beiträge mit konstituierendem Inhalt für die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen. Im Zusammenhang mit Anarchismus sind es meist Berichte über Ausweisungen italienischer AnarchistInnen, die ihrerseits neutral und unkommentiert blieben, aber dennoch die Bande zwischen Anarchismus und AusländerInnen implizit stärkten.296

292  |  »Cinquième édition d’hier, Chronique locale: Comme nous l’avons dit«, La Tribune de Genève, 14.9.1898, Jg. 20, Nr. 214, 1re édition, S. 3. Dt.Ü.: »Einer der beiden, die sie verhaftet hat, hat gestanden, den Griff der Feile angefertigt zu haben [...] Dieses Geständnis liefert den unbestreitbaren Beweis, dass das Ganze seit Langem geplant war [...]. [Luccheni] sagt er sei der einzige Verantwortliche für das Verbrechen. Sobald die Frage eventueller Komplizen angesprochen wird, wird er stumm wie ein Fisch. Die Entdeckung in Lausanne zeigt jedoch eine andere Sachlage.« Dieser Idee verschrieb sich auch die Politische Polizei – zumindest nach außen hin. Vgl. auch »Quatrième édition d’hier, Chronique locale: La police«, La Tribune de Genève, 5.9.1898, Jg. 20, Nr. 215, 1re édition, S. 3. 293 | »Supplément à la Tribune de Genève: Affaire Lucheni [sic]«, La Tribune de Genève, 11.11.1898, Jg. 20, Nr. 264, 1re édition, S. 5-6. 294  |  Ebd., S. 5. Dt.Ü.: »Er gestand Anarchist zu sein und vorsätzlich gehandelt zu haben, um ein Beispiel zu geben, um die anarchistische Sache voranzutreiben.« 295 | Ebd., S. 5. Dt.Ü.: »Es war zweifellos in Italien, wo sich die ersten anarchistischen Symptome bei ihm zeigten, die sich im Laufe seines unbeständigen Lebens weiter herausbildeten.« 296  |  Vgl. »Echos de l’Affaire Lucheni [sic]«, La Tribune de Genève, 16.11.1898, Jg. 20, Nr. 268, 1re édition, S. 3.

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5.4.3.3 Silvestrelli-Affäre 1902 Die anarchistischen Wurzeln der Silvestrelli-Affäre von 1902 finden in redaktionellen Beiträgen höchst selten Erwähnung.297 Zwar wurde gelegentlich von einer Artikelserie mit apologetischem und ehrverletzendem Inhalt im Le Réveil gesprochen. Dass es sich dabei um eine anarchistische Zeitung handelte, wurde indes nicht erwähnt.298 Dass die La Tribune de Genève sich des Hintergrunds bewusst war, bestätigte die Einstiegsfrage in einem Interview mit Bundespräsident Zemp.299 Trotzdem wurde die Affäre als diplomatische Krise, als juristisch-personelle Angelegenheit zwischen Diplomat Silvestrelli und dem Bundesrat vermittelt. Eine dahingehende Interpretation der Silvestrelli-Affäre als »incident purement diplomatique«300 erklärt auch die Abwesenheit von identitätskonstituierenden Elementen in der großen Mehrzahl der Artikel.301 Auch nach dem Ende der Silvestrelli-Affäre am 22.7.1902 änderte sich nichts am dominanten Deutungsparadigma und der ursprüngliche Auslöser wurde nie thematisiert.302 Die Lösung der diplomatischen Krise war zudem ein ungleich kleineres Thema als ihr Beginn. In einem die Regel bestätigenden Ausnahmeartikel wurden AnarchistInnen als Mitglieder einer grundsätzlich heterogenen Bewegung dargestellt. Auf der einen Seite intellektuelle TheoretikerInnen, auf der anderen Seite kriminelle PraktikerInnen:

297 | Vgl. »Confédération suisse: Rupture diplomatique avec l’Italie«, La Tribune de Genève, 11.4.1902, Jg. 24, Nr. 83, 4me édition, S. 2. 298 | Vgl. »Dépêches du jour – Rupture avec l’Italie: Rome 10«, La Tribune de Genève, 11.4.1902, Jg. 24, Nr. 83, 4me édition, S. 3. 299 | Obwohl die erste Frage explizit anarchistische Artikel als Ursprung der Krise vorschlug, wurde weder in der unmittelbaren Antwort, noch im weiteren Gesprächsverlauf darauf zurückgekommen. Vgl. »Dépêches du jour [...] Entrevue avec M. Zemp Président de la Confédération«, La Tribune de Genève, 12.4.1902, Jg. 24, Nr. 84, 4me édition, S. 3, oder auch »Dépêches: Rupture avec l’Italie«, La Tribune de Genève, 25.4.1902, Jg. 24, Nr. 95, 4me édition, S. 4. Selbst beim Bericht zur Verhaftung des Le Réveil Redaktors Luigi Bertoni in Lausanne vom 12.4.1902 wurden keine Bezüge zwischen Staatsaffäre und Anarchismus hergestellt, der Verhaftungsgrund war das Brechen eines Redeverbots. Vgl. »Arrestation de M. Bertoni«, La Tribune de Genève, 13.-14.4.1902, Jg. 24, Nr. 85, 4me édition, S. 3. Die Ergebnisse des Verhörs, die in einem anderen Artikel bekannt gegeben wurden, zeigen aber, dass Bertonis Redeverbot sehr eng verknüpft mit der Silvestrelli-Affäre war und aus Gründen der diplomatischen Rücksichtnahme verhängt wurde. So wurde im Verhör eruiert, dass Bertoni die entsprechenden Artikel, die Silvestrelli so erbosten, nicht selbst geschrieben hatte. Vgl. »Le cas de M. Bertoni«, La Tribune de Genève, 15.4.1902, Jg. 224, Nr. 86, 4me édition, S. 3. 300 | »Chronique locale: Relations entre la Suisse et l’Italie«, La Tribune de Genève, 11.4.1902, Jg. 24, Nr. 83, S. 2. 301  |  Vgl. dazu auch »Éditions du jour [...] Le conflit italo-suisse«, La Tribune de Genève, 25.4.1902, Jg. 24, Nr. 93, 4me édition, S. 3, wo Silvestrelli zur Hauptursache der Affäre geschrieben wurde: »Le point de départ initial de l’incident, sinon son début, est indiqué par le télégramme du commandeur Silvestrelli du 5 février de cette année.« (Ebd., S. 3) Dt.Ü.: »Den eigentlichen Ausgangspunkt des Vorfalls, wenn nicht seinen Beginn, markiert das Telegramm des Kommandeur Silvestrelli vom 5. Februar dieses Jahres.« 302 | Vgl. »Bulletin«, La Tribune de Genève, 29.7.1902, Jg. 24, Nr. 175, 1re édition, S. 2.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Le Conseil fédéral [...] a promis de faire procéder à une revision de la legislation suisse au sujet des menées anarchistes. [...] Il est évident que jamais il ne pourra être question de poursuivre les anarchistes que l’on peut qualifier d’intellectuels, ceux qui, par exemple, estiment que le meilleur des gouvernements ne vaut rien: ce on quoi il peuvent avoir raison, mais seulement ceux qui sous prétexte d’anarchie poursuivent la satisfaction d’instincts criminels et portent atteinte à la sécurité des chefs d’etat et de ceux qui font partie des gouvernements regulièrement établis.« 303

Mit dieser Teilung wurde die Imagination eines hierarchischen Machtgefälles deutlich, das geprägt ist von StrippenzieherInnen im Hintergrund und AktionistInnen im Vordergrund, denen nicht nur ein prinzipielles Desinteresse an der Sache an sich unterstellt wurde, sondern auch ein prinzipieller Hang zur Delinquenz. Dieses Bild von Leitfiguren und Ausführenden trat von dieser Ausnahme abgesehen eher in Beiträgen mit anarchistischer Thematik auf, die nicht direkt mit der Silvestrelli-Affäre zusammenhingen. Themenfremde Artikel sind es denn auch in der Hauptsache, die Aufschluss darüber geben, wie AnarchistInnen 1902 in der La Tribune de Genève imaginiert, skizziert und perpetuiert wurden. Die Beschreibung des Ende Juli 1902 im Piemont vermutlich unter falschem Namen verhafteten vermeintlichen Tessiner Anarchisten Benjamino Torelli304 vermittelte beispielsweise ebenfalls den Eindruck der anarchistischen Bewegung als einer hierarchisch gestaffelten Gemeinschaft, deren Kader von Zentren aus Attentatsaufträge herausgebe, die von fremdgesteuerten sektierisch Verblendeten ausgeübt würden: »Cet individu était signalé depuis longtemps comme un instrument aveugle des sectes révolutionnaires. On a trouvé sur lui des lettres que lui avaient adressés ses camarades de Patterson [...] un des grands centres anarchistes d’Amerique.«305 Diese Skizzierung trat mit leicht verändertem Wortlaut – statt von ›séctaires révolutionnaires‹ wurde von ›corréligionnaires politiques‹ gesprochen – in der La Tribune de Genève von 1902 öfters auf.306 303  |  Ebd., S. 2. Dt.Ü.: »Der Bundesrat [...] hat versprochen, die Schweizer Gesetzgebung in Bezug auf die anarchistischen Umtriebe einer Revision zu unterziehen. [...] Gewiss kommt es keineswegs in Frage, diejenigen Anarchisten zu verfolgen, die man als Intellektuelle bezeichnen kann, die zum Beispiel meinen, dass die beste Regierung nichts Wert sei: Worin sie recht haben könnten. Es geht um diejenigen, die unter dem Vorwand der Anarchie kriminelle Instinkte befriedigen wollen und die Sicherheit der Staatschefs und der Personen gefährden, die Teil der ordnungsgemäß etablierten Regierungen sind.« 304 | Wie eine später kolportierte Untersuchung ans Licht brachte, hieß der Verhaftete Remo Borsacchini und war Italiener. Für die Imagination des Anarchisten-Seins spielte dies allerdings keine Rolle, zumal die identitätskonstituierenden Mutmaßungen durch den Abdruck bereits geäußert, reproduziert und perpetuiert worden waren. Vgl. die Berichtigungen in »Troisième édition d’hier – Dernier Courrier: Arrestation d’un Anarchiste«, La Tribune de Genève, 23.7.1902, Jg. 24, Nr. 170, 1re édition, S. 3. 305 | »Étranger – Italie: Importante arrestation«, La Tribune de Genève, 22.7.1902 (23.7.1902), Jg. 24, Nr. 169, 1re édition, S. 4. Dt.Ü.: »Dieses Individuum war seit Langem als blindes Werkzeug der revolutionären Sekten bekannt. Er trug Briefe von seinen Genossen aus Patterson bei sich [...] einem der großen anarchistischen Zentren in Amerika.« 306  |  Vgl. etwa auch »Troisième édition d’hier – Dernier Courrier: Suicide d’un anarchiste«, La Tribune de Genève, 16.8.1902, Jg. 24, Nr. 190, 1re édition, S. 5.

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5.4.3.4 Befreiungsversuch Kilaschitzky 1907/1912 Nachdem der Kasernenüberfall zur Befreiung Kilaschitzkys in Zürich vom frühen Morgen des 5.6.1907 zunächst RussInnen zugerechnet wurde,307 richtete sich der Fokus nach knapp einer Woche auf mögliche anarchistische TäterInnen.308 Der entsprechende Artikel wie auch die nachfolgende Berichterstattung enthielten allerdings keine konstitutiven Passagen für das imaginierte Kollektiv.309 Im ersten Beitrag zum vier Monate später eingeleiteten ersten Bombenprozess wurde auch im Genfer Blatt auf die politische Überzeugung des Angeklagten Ernst Frick hingewiesen und so Delinquenz noch vor dem Urteil mit Anarchismus bewusst verklammert.310 Der noch in derselben Ausgabe folgende und etwas ausführlichere Bericht hingegen verzichtete auf die Verwendung von Anarchie-Begriffen.311 Da weder der Verlauf noch der Entscheid des Schwurgerichts in Pfäffikon zum ersten Bombenprozess Thema weiterer Artikel waren, blieben die Vorverurteilungen auch über das Urteil hinweg produktiv. Außerhalb dieses Rahmens finden sich 307 | »Cinq individus, probablement des Russes, ont pénétré dans la cour de la caserne de police pour y délivrer vraisemblablement leur compatriote Kidalisky [sic].« (»Quatrième édition d’hier: Tentative à main arée sur un poste«, La Tribune de Genève 5.6.1907, Jg. 29, Nr. 150, S. 6) Dt.Ü.: »Fünf Personen, wahrscheinlich Russen, drangen in den Hof der Polizeikaserne ein um dort vermutlich ihren Landsmann Kidalisky zu befreien.« Interessant ist das Faktum, dass diese Vermutung bereits beim zweiten Artikel zur Gewissheit wurde – ohne jegliche Indizien oder Beweise, wie die Zeitung sogar selbst festhielt. Vgl. »Dépêches – Troisième édition d’hier: Les Russes à Zurich«, La Tribune de Genève, 6.6.1907, Jg. 29, Nr. 151, 1re édition, S. 5. RussInnen standen 1907 im Generalverdacht und die Öffentlichkeit wünschte sich strengste Maßnahmen gegen sie wie die La Tribune de Genève wusste, auch wenn wie erwähnt keinerlei Beweise vorlagen wie im konkreten Fall: »Quand on aura purgé l’université et le pays des auteurs de ces désordres, tout le pays applaudira.« (»Confédération suisse: La bombe de Zurich«, La Tribune de Genève, 7.6.1907, Jg. 29, Nr. 152, 1re édition, S. 2) Dt.Ü.: »Wenn die Universität und das Land von den Verantwortlichen für diese Unruhen gesäubert sein wird, wird das gesamte Land applaudieren.« 308 | »Confédération suisse: La bombe de Zurich«, La Tribune de Genève, 9.-10.6.1907, Jg. 29, Nr. 154, 1re édition, S. 2. Auch danach änderte sich aber am xenophoben Grundton gegenüber RussInnen wenig: Gut 50% der Zeilen des Artikels, der die RussInnen als kollektiv Vorverurteilte entlasten sollte, beschäftigen sich mit der unkommentierten, abnickenden Wiedergabe von harschen Ressentiments ihnen gegenüber. Es finden sich zudem auch weiterhin Ausdrücke wie »la bombe russe d’Aussersihl« (»Zurich: La bombe de Zurich«, La Tribune de Genève, 13.6.1907, Jg. 29, Nr. 157, 1re édition, S. 4) in Artikeln zum Thema, die eine Zuordnung deutlich machten. 309  |  Zuschreibungen der stereotypisierten RussInnen auf AnarchistInnen zu übertragen, ist nicht zulässig. Wohl schwang in der Notion ›der RussInnen‹ immer auch ein Bild von gewaltbereiten RevolutionärInnen mit, allerdings fehlte auch in der La Tribune de Genève eine direkte Gleichsetzung mit AnarchistInnen, die eine dahingehende Verwertung legitimierte. 310  |  Da für den Hinweis auf die bevorstehende Gerichtsverhandlung die politische Einstellung objektiv gesehen keine Relevanz gehabt hätte, muss die Erwähnung dahingehend interpretiert werden. Vgl. »Troisième édition d’hier: L’attaque de la caserne de police de Zurich«, La Tribune de Genève, 30.10.1907, Jg. 29, Nr. 255, 1re édition, S. 5. 311  |  Vgl. »Troisième édition d’hier: L’attaque de la caserne de Zurich«, La Tribune de Genève, 30.10.1907, Jg. 29, Nr. 255, 1re édition, S. 5-6.

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Beiträge mit Anarchie-Begriffen, die große Mehrzahl davon in Zusammenhang mit Delinquenz in legalistischer Hinsicht, woraus die negative Färbung der Begriffe bestätigt und verstärkt wurde. Weitere Erwähnungen im Zusammenhang mit kultureller Devianz führten zur abermaligen Abwertung der Anarchie-Begriffe, wenngleich diese weitaus seltener waren. Die induzierte, pejorative Metaphorik der Geisteskrankheit wurde etwa in einem Artikel zur Beerdigung eines verunfallten Arbeiters in Zug bemüht. Wie die La Tribune de Genève kolportierte, nutzte ein anarchistischer Kamerad die Gelegenheit für eine Anklage der verantwortlichen Zustände für den Unfalltod seines Kollegen: »Soudain, on vit s’avancer au bord de la fosse un compatriote du défunt, qui, dans un discours d’une violence d’éxtrême, se mit à déblatérer contre les patrons, les autorités, la société. Des murmures de protestation contre ces paroles s’étant fait entendre, il s’excita toujours plus, proféra des menaces, tant et si bien qu’on l’arrêta sur le tombe même et qu’on le livra à la police. Cet énergumène était un anarchiste venu de Zurich.« 312

Sowohl die als exorbitant hervorgestrichene Deplatziertheit der Anliegen als auch die Formulierung, dass sich die Mehrheit der Anwesenden im Unmut über den Redner befanden und ihn der Polizei übergaben, führten schließlich zur Verurteilung des Anarchisten als Wahnsinnigen, als Bessessenen. Gelegentlich sind normative Gesten in der La Tribune der Genève auch im Subtext zu erkennen. Die Tatsache, dass die Zeitung eine Kurzmeldung mit dem Inhalt abdruckte, dass weiße anarchistische Affichen in der Stadt Genf mit der Schlussformel »Vive l’anarchie!« entdeckt worden seien, ließ die anarchistische Agitation als etwas Außergewöhnliches und außergewöhnlich Abnormales erscheinen, wurde doch in der ganzen betrachteten Periode der La Tribune de Genève keine Affichage irgendeiner anderen politischen Gruppe erwähnt.313 Auch zu Beginn des zweiten Bombenprozess wurden die Angeklagten – juristisch irrelevant314 – als Anarchisten eingeführt. Weder bezüglich Inhalt noch bezüglich Stil sind darüber hinaus identitätskonstituierende Elemente zu finden: Der Ton ist durchwegs neutral und sowohl lexikalisch als auch quantitativ sind keine Bevorzugungen auszumachen, die als implizites Statement interpretiert werden könnten: Staatsanwaltschaft und Verteidigung wurden gleichermaßen berücksich312 | »Confédération suisse – Chronique fédérale: Zoug Oraison funèbre anarchiste«, La Tribune de Genève, 20.11.1907, Jg. 29, Nr. 273, 1re édition, S. 3. Dt.Ü.: »Plötzlich sah man einen Landsmann des Verstorbenen, der sich dem Rand des Grabes näherte und in einer extrem gewaltvollen Rede anfing, über die Fabrikbesitzer, die Autoritäten, die Gesellschaft zu schimpfen. Ein Protest-Raunen gegen seine Worte war zu hören und er erhitzte sich immer mehr, stieß gar Drohungen aus, sodass man ihn am Grab selbst festnahm und der Polizei übergab. Dieser Wahnsinnige war ein Anarchist aus Zürich.« 313  |  »Cinquième éditions d’hier – Chronique locale: Etiquettes anarchistes«, La Tribune de Genève, 19.11.1907, Jg. 29, Nr. 272, 1re édition, S. 5. 314 | »Confédération: Zurich – Le procès des anarchists zurichoises«, La Tribune de Genève, 29.11.1912, Jg. 34, Nr. 279, 1re édition, S. 3. Die Angeklagten wurden zwar mittels der sogenannten Anarchistengesetze zur Rechenschaft gezogen. Tatsächlich enthielten diese aber nur in Bezug auf Pressearbeit explizit Anarchie-Begriffe, nicht aber auf Sprengstoffdelikte, für die der Prozess eröffnet wurde.

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tigt.315 Auch die weiteren Artikel zum Thema enthielten abgesehen von der Bezeichnung der Angeklagten als Anarchisten kein identitätskonstituierendes Material.316 In themenfremdem Zusammenhang wurden AnarchistInnen abermals als zweiteilig organisierte Bewegung geschildert mit einem ausführenden, verzweifelten und devianten Flügel und einem kühl berechnenden Kader, das unerkannt im Hintergrund agierte.317 Die diffuse Vorstellung einer komplottartigen Struktur blieb damit erhalten. Folgeartikel blieben aus und affirmierten so die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen als hierarchisch gestufte Bewegung, die Minderbemittelte skrupellos zu eigenen Zwecken ausnutzen würde.

5.5 Z usammenfassung fr anzösischspr achiger nicht- anarchistischer Z eitungen Die Analyse drei relevanter Titel der französischsprachigen, nicht-anarchistischen Presse der Westschweiz liefert im Detail ein weitgehend heterogenes Bild der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen. Insbesondere sozialdemokratische und bürgerlich-liberale Titel unterscheiden sich etwa in Gleichsetzungen und – daraus abgeleitet – deren identitätsrelevanten Folgen. Die übergreifende Stoßrichtung aber, die sich in Titeln der bürgerlich-liberalen, sozialdemokratischen und neutralen Presse der Jahre 1885-1912 anhand von Stichproben zu anarchistischen Ereignissen offenbart, ist dieselbe. In allen drei Titeln wurden AnarchistInnen in der Regel negativ thematisiert und – abgesehen von drei Ausnahmen – geschah dies in Absenz einer Auseinandersetzung mit anarchistischen Inhalten. Die Nennung in negativen Kontexten, in herablassender, verunglimpfender und verurteilender Weise sowie im Zusammenhang mit Delinquenz und/oder Devianz führte dazu, dass Anarchie-Begriffe auch für die französischsprachige Westschweiz des Fin de Siècle als Reizworte funktionierten. Für die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen sind innerhalb des besagten negativen Spektrums sowohl aus diachroner wie aus synchroner Perspektive Differenzen, aber durchaus auch Gemeinsamkeiten festzustellen. So wurden AnarchistInnen in vielen Titeln eine inhärente prinzipiell Gefährlichkeit und Gewalttätigkeit zugeschrieben. Die bürgerlich-liberale Gazette de Lausanne etwa schilderte AnarchistInnen im Zusammenhang der versuchten Bundeshaussprengung 1885 pauschalisierend als »bande dangereuse [...] armés de toutes pièces. Agrégés à une affiliation internationale, ils portent de faux noms et de faux papiers, et

315 | Die Paraphrase der staatsanwältlichen Position umfasst 10 Zeilen, die der Verteidigung 9 Zeilen. Vgl. ebd., S. 3. Vg. Ebenfalls ausgeglichen war die Berichterstattung zum vierten Prozesstag »A Zurich: Le procès des bombes«, La Tribune de Genève, 1.-2.12.1912, Jg. 34, Nr. 281, 1re édition, S. 6. 316  |  Vgl. »Confédération: Les bombes de Zurich«, 30.11.1912, Jg. 34, Nr. 280, 1re édition, S. 3. Selbst diese Keule wurde nicht immer geschwungen. Eine Kurzmeldung zu Luigi Bertonis Prozess bspw. kommt ohne eine Bezeichnung des Angeklagten Bertoni als Anarchisten aus. Vgl. »Bertoni jugé à Zurich«, 22.12.1912, Jg. 34, Nr. 299, 1re édition, S. 6. 317  |  Vgl. »Pour tuer le roi: La mort de l’anarchiste«, La Tribune de Genève, 24.12.1912, Jg. 34, Nr. 300, S. 8.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen

trompent la police de cent façons.«318 In der Berichterstattung rund um das Attentat des Anarchisten Luigi Luccheni auf Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn 1898 in Genf schätzte die Gazette de Lausanne es gar als Pleonasmus ein, von ›gefährlichen AnarchistInnen‹ zu sprechen: »Nous demandons qu’on ne s’arrête pas trop à cet adjectif [gemeint ist ›dangereux‹, d.V.]. L’anarchiste agissant et militant est le plus souvent dangereux, parce que la doctrine qu’il professe est criminelle.«319 Das sozialdemokratische Le Peuple Suisse stimmte mit in diesen Chor ein und thematisierte AnarchistInnen im Kontext der versuchten Befreiung des Anarchisten Georg Kilaschitzky aus der Ausweisungshaft als bedingungslose BefürworterInnen der »[...] adaption de méthodes de violence ou d’illégalisme systématique«320 und damit als prinzipiell kriminelle AkteurInnen. Ebenso flächendeckend wird eine grundsätzliche Delinquenz und Devianz bei AnarchistInnen vermutet und behauptet. »[E]ntièrement étrangère à notre pays«, formulierte etwa die Gazette de Lausanne in der Berichterstattung einer anarchistischen Demonstration in Lausanne 1912, seien AnarchistInnen in Rotten (»en bande«) aufgetreten und hätten sich »en un jargon innommable« über die Repression in der Schweiz beschwert.321 Die Betonung sprachlicher, sozialer und kultureller Normübertretungen sorgte dabei für eine Diffamierung, die auf mehreren Ebenen wirkungsmächtig war. Auch im sozialdemokratischen Le Peuple Suisse finden sich im Kontext der versuchten Befreiung des russischen Anarchisten Kilaschitzky in Zürich 1907 Schilderungen von AnarchistInnen als prinzipiell und durchwegs gewalttätig, indem sie als bedingungslose BefürworterInnen der »[...] adaption de méthodes de violence ou d’illégalisme systématique«322 bezeichnet wurden. Auch die spezifische Hervorhebung, dass »[...] les femmes sont presque en majorité [...]«323 kann als Devianzindikator gelesen werden. Wiederholt sind Zuschreibungen prinzipieller Devianz auch zwischen den Zeilen zu finden. Beispielsweise in der Gazette de Lausanne wurde 1907 im Kontext des ersten Prozesses rund um die Kilaschitzky-Befreiung gegen den Anarchisten Ernst Frick seine gerichtlich schließlich (zunächst) bestätigte Unschuld konsequent infrage und implizit in Abrede gestellt. Frick ›versucht‹, sein Alibi wird in jedem Fall nur ›erstellt‹: »Ernest [sic] Frick [...] a été acquitté, le jury n’ayant pas estimé que sa culpabilité était suffisamment établie. 318  |  »Confédération suisse: Le Conseil fédéral et les anarchistes«, Gazette de Lausanne, 18.2.1885, Jg. 86, Nr. 41, S. 2. Dt.Ü.: »gefährliche Bande [...] äußerst bewaffnet. Sie gehören einer internationalen Organisation an, tragen falsche Namen und falsche Papiere und täuschen die Polizei auf hundertfache Weise.« 319 | »Expulsions d’anarchistes«, Gazette de Lausanne, 24.9.2898, Jg. 101, Nr. 224, S. 1. Dt.Ü.: »Wir fordern, dass diesem Adjektiv keine zu große Bedeutung beigemessen wird. Der aktive und kämpferische Anarchist ist meistens gefährlich, denn die Lehre, die er vertritt, ist kriminell.« 320 | »Mouvement syndical«, Le Peuple Suisse, 14.11.1907, Jg. 13, Nr. 129, S. 1. Dt.Ü.: »[...] Anwendung gewaltvoller Methoden oder systematischer Illegalitäten«. 321 | »A propos d’une manifestation«, Gazette de Lausanne, 6.6.1907, Jg. 110, Nr. 132, S. 3. Dt.Ü.: »[U]nserem Lande vollkommen fremd«, »in einem unaussprechlichen Jargon«. 322 | »Mouvement syndical«, Le Peuple Suisse, 14.11.1907, Jg. 13, Nr. 129, S. 1. Für die dt.Ü. s. Fußnote 3. 323  |  »A propos d’une manifestation«, Gazette de Lausanne, 6.6.1907, Jg. 110, Nr. 132, S. 3. Dt.Ü.: »[...] die Frauen fast in der Mehrheit waren [...]«.

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[...] Ce n’est qu’ après deux heures de délibérations que le jury a rendu son verdict. Frick [...] a essayé, sans y parvenir de façon décisive, d’établir un alibi.«324. Weniger die legalistische als die kulturelle Devianz von AnarchistInnen markierte die La Tribune de Genève im Rahmen ihrer Berichterstattung zum Luccheni-Attentat 1898. Kontrastrierend zu den ubiquitären Beileidsbezeugungen der Zeitung an das österreichisch-ungarische Königshaus wurden AnarchistInnen marginalisierend portraitiert als gewissen- und ruchlose Haudegen, die keinerlei Mitleid zeigten oder gar die Tat Lucchenis lobten.325 Kulturelle Devianz markierend, psychopathologisierend und damit doppelt marginalisierend wirkte ein Artikel der gleichen Zeitung 1907, der das nicht normkonforme Verhalten eines anarchistischen Arbeiters auf dessen politische Überzeugung projizierte. Die Beerdigung eines Kameraden nutzte dieser offenbar zur Bekanntmachung der politischen Zusammenhänge der gesellschaftlichen Situation und des Todes des Arbeiters: »Soudain, on vit s’avancer au bord de la fosse un compatriote du défunt, qui, dans un discours d’une violence d’extrême, se mit à déblatérer contre les patrons, les autorités, la société. Des murmurs de protestaion contre ces paroles s’étant fait entendre, il s’excita toujours plus. proféra des menaces, tant et si bien qu’on l’arrêta sur le tombe même et qu’on le livra à la police. Cet énergumène était un anarchiste venu de Zurich.« 326

Ähnlich wie in der nicht-anarchistischen Presse der Deutschschweiz wurde auch in der Westschweiz die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen parteiähnlich verstanden und wiederholt als »parti anarchiste«327 bezeichnet, beispielsweise in der Gazette de Lausanne. Im Kontext der Bundeshaussprengung 1885 wurde der deutsch-amerikanische, verbal polternde Johann Most allein durch seine ubiquitäre Nennung als Wortführer, dessen Freiheit unikal als »l’organe des anarchistes«328 vermittelt, die nicht nur inhaltlich einen umfassenden Schirm darstelle, sondern auch Namensgeberin sei, wie es in der Gazette de Lausanne hieß: »Les anarchistes appartiennent à la grande société la Freiheit. Il y a des sections à Zurich, Winterthour, Berne, Bienne, Lucerne, Zoug, Fribourg, Bâle, St-Gall, Lau324  |  »Nouvelles des cantons: Zurich«, Gazette de Lausanne, 30.10.1907, Jg. 110, Nr. 257, S. 3. Dt.Ü.: »Ernest Frick [...] wurde freigesprochen, das Gericht befand, dass seine Schuld nicht genügend nachgewiesen werden konnte. [...] Erst nach einer zweistündigen Beratung hat das Gericht sein Urteil verkündet. Frick [...] hat versucht ein Alibi anzugeben, was ihm nicht vollkommen überzeugend gelungen ist.« 325 | Vgl. exemplarisch »Cinquième édition de samedi, Chronique locale: Assasinat«, La Tribune de Genève, 18.-19.9.1898, Jg. 20, Nr. 218, 1re édition, S. 3. 326 | »Confédération suisse – Chronique fédérale: Zoug Oraison funèbre anarchiste«, La Tribune de Genève, 20.11.1907, Jg. 29, Nr. 273, 1re édition, S. 3. Dt.Ü.: »Plötzlich sah man einen Landsmann des Verstorbenen, der sich dem Rand des Grabes näherte und in einer extrem gewaltvollen Rede anfing, über die Fabrikbesitzer, die Autoritäten, die Gesellschaft zu schimpfen. Ein Protest-Raunen gegen seine Worte war zu hören und er erhitzte sich immer mehr, stieß gar Drohungen aus, sodass man ihn am Grab selbst festnahm und der Polizei übergab. Dieser Wahnsinnige war ein Anarchist aus Zürich.« 327  |  Exemplarisch in »France: Meetings anarchiste«, Gazette de Lausanne, 17.2.1885, Jg. 86, Nr. 40, S. 1. 328 | »Dépêches Berne«, Gazette de Lausanne, 14.3.1885, Jg. 86, Nr. 62, S. 3.

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sanne, Neuchâtel et Genève.«329 Eine Vorstellung, die sich in identischem Wortlaut auch in der Tribune de Genève findet, wo Mosts Zeitung Freiheit ebenfalls als »journal central des anarchistes«330 vermittelt wurde. Eine hierarchische Staffelung der Bewegung wird unterschiedlich lang und in verschiedener Form zugeschrieben. Ein Beispiel impliziter Zuschreibung ist die vermittelte Vorstellung der anarchistischen Gemeinschaft als Gruppe von SchläferInnen, die durch Befehle eines imaginierten Kaders zur Tat geweckt würden. Im Zuge des Luccheni-Attentats schrieb die Gazette de Lausanne hierzu: »Il se peut qu’il [gemeint ist l’anarchiste, d.V.] ne commette pas un crime aussi longtemps qu’il n’en trouve pas l’occasion ou n’en reçoit pas l’ordre, mais il ne faudrait pas attendre qu’il l’eût commis pour le qualifier de dangereux.«331 Auch das sozialdemokratische Le Peuple de Genève teilte im Zuge des Lucchenis-Atentats die anarchistische Bewegung in einen theoretisierenden und implizit als handlungsanleitenden verstandenen Überbau und in einen handelnden Rest von »cerveaux faibles, mal équilibrés«332 ein. Die La Tribune de Genève entwarf in ihrer Berichterstattung 1902 ebenfalls das Bild einer hierarchisch gestaffelten anarchistischen Bewegung, die über Kader und Ausführende verfüge. Gewissermaßen extrakurrikulär hieß es in einem Artikel über den im Piemont verhafteten italienischen Anarchisten Remo Borsacchini, den die La Tribune de Genève zunächst als Tessiner portierte: »Cet individu était signalé depuis longtems comme un instrument aveugle des sectes révolutionnaires. On a trouvé sur lui des lettres que lui avaient adressés ses camarades des Patterson [...] un des grands centres anarchistes d’Amerique.«333 Dieses Beispiel zeigt nicht zuletzt auch gut die Verwebung produktiver negativer Zuschreibungen. In diesem Beitrag verstärkte sich das Bild einer revolutionären Sekte mit dem Bild einer internationalen und interatlantischen Verschwörung. Als stark normativ im Fin de Siècle ist die Verortung vom Anarchismus als etwas Ausländisches, Nicht- und Unschweizerisches einzuschätzen. Die Formulierung der bürgerlich-liberalen Gazette de Lausanne im Kontext der Bundeshaussprengung 1885 lässt diesbezüglich tief blicken. Sie dividierte ›die Anarchisten‹ und die schweizerisch gedachten ›wir‹ und ›uns‹ klar auseinander: »Non seulement les anarchistes compremettent notre sûreté et la bonne réputation de la Suisse, mais ils

329 | »Dépêches: Berne«, Gazette de Lausanne, 4.2.1885, Jg. 86, Nr. 29, S. 3 (Herv. i.O.) Dt.Ü.: »Die Anarchisten gehören zur großen Gemeinschaft [der] Freiheit. Es gibt Sektionen in Zürich, Winterthur, Bern, Biel, Burgdorf, Luzern, Zug, Freiburg, Basel, Sankt Gallen, Lausanne, Neuchâtel und Genf.« 330 | »Anarchistes«, La Tribune de Genève, 19.3.1885, Jg. 7, Nr. 65, 3ème édition, S. 1. 331 | »Expulsions d’anarchistes«, Gazette de Lausanne, 24.9.1898, Jg. 101, Nr. 224, S. 1. Dt.Ü.: »Es ist möglich, dass er so lange keine Verbrechen begeht, bis er auf eine Gelegenheit stößt oder den Befehl bekommt, aber man sollte nicht abwarten, dass er es begangen hat, um ihn als gefährlich zu bezeichnen.« 332 | »L’anarchie«, Le Peuple de Genève, 17.9.1898, Jg. 4, Nr. 38, S. 1. 333 | »Étranger – Italie: Importante arrestation«, La Tribune de Genève, 22.7.1902 (23.7.1902), Jg. 24, Nr. 169, 1re édition, S. 4. Dt.Ü.: »Dieses Individuum war seit Langem als blindes Werkzeug der revolutionären Sekten bekannt. Er trug Briefe von seinen Genossen aus Patterson bei sich [...] einem der großen anarchistischen Zentren in Amerika.«

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ont une influence déplorable sur nos paisible ouvriers.«334 An anderer Stelle verwob die Gazette de Lausanne sprachlich subtiler codiert aber inhaltlich mit identischer Wirkung die unterstellte a priori Fremdheit mit Bildern von Wurzellosigkeit und Geheimbündlerei. Sie schrieb: »La police de Bâle a découvert que les anarchistes en sejour dans cette ville sont au nombre d’une centaine et forment une société secrète organisée de toute pièces.«335 Die AnarchistInnen Basels, so der Subtext, hielten sich nur in Basel auf; dass es Basler AnarchistInnen geben könnte, erscheint so undenkbar. Die Schraffierung alles Anarchistischen als ausländisch hielt sich über die ganze Betrachtungsdauer. Am lapidarsten verkündete die Gazette de Lausanne im Zusammenhang mit dem Luccheni-Attentat 1898: »Il n’y a pas d’anarchistes suisses.«336 Die neutrale Tribune de Genève appelierte an denselben xenophoben Reflex in ihrer Schilderung der anarchistischen Bewegung um 1885, blieb allerdings bei einer massiven Überzahl von AusländerInnen: »D’après des renseignements précis, il y a actuellement en Suisse mille à deux mille anarchistes. Presque tous sont étrangers, quelques-uns cependant suisses.«337 Auch wenn diese Karte des Fremden von der sozialdemokratischen Presse nicht aktiv gespielt wurde, ist darin ein äußerst produktives Element der Gestaltung der zugeschriebenen kollektiven Identität zu erblicken. Dafür spricht nicht zuletzt, dass der xenophobe gesamtgesellschaftliche Diskurs sich analog zur Deutschschweiz auch in der französischsprachigen anarchistischen Presse der Schweiz in der Praxis der Rekuperation des Nationalen niederschlug und sich bis in antisemitische Bereiche ausweitete.338 Bilaterale Gemeinsamkeiten zwischen den Titeln finden sich im Punkt der Verquickung der Bewegung mit dem ausländischen Spitzelwesen oder der Einschätzung der Bewegung als geheimbündlerisch sich verschwörende Truppe. So strickte die La Tribune de Genève etwa im Kontext des Luccheni-Attentats 1898 eine Komplotttheorie, die das Attentat nicht als Tat eines Einzelnen vermittelte, sondern vielmehr als die einer nicht weiter ausgeführten und damit diffusen, verschworenen Gemeinschaft. Im Zusammenhang mit der Verhaftung eines Handwerkers in Lausanne, der den Griff von Lucchenis Tatwaffe, einer Feile, fertigte, hieß es:

334  |  »Confédération suisse: Le Conseil fédéral et les anarchistes«, Gazette de Lausanne, 18.2.1885, Jg. 86, Nr. 41, S. 2. Dt.Ü.: »Die Anarchisten gefährden nicht bloß unsere Sicherheit und den guten Ruf der Schweiz, sie üben auch einen unerwünschten Einfluss auf unsere friedfertigen Arbeiter aus.« 335 | »Confédération suisse: Anarchistes«, Gazette de Lausanne, 16.2.1885, Jg. 86, Nr. 39, S. 2. Dt.Ü.: »Die Baseler Polizei hat entdeckt, dass sich ungefähr hundert Anarchisten in der Stadt aufhalten und eine geheime Gesellschaft bilden, die aufs Äußerste organisiert ist.« 336  |  »Un jour de deuil«, Gazette de Lausanne, 12.9.1898, Jg. 101, Nr. 213, S. 1. Dt.Ü.: »Es gibt keine Schweizer Anarchisten.« 337 | »Anarchistes [I]«, La Tribune de Genève, 5.2.1885, Jg. 7, Nr. 30, 3ème édition, S. 1. Dt.Ü.: »Sehr genauen Auskünften zufolge, gibt es zurzeit in der Schweiz zwischen ein- und zweitausend Anarchisten. Sie sind fast alle Ausländer, einige jedoch Schweizer.« 338 | Vgl. Kap. 4.5 Zusammenfassung französischsprachiger anarchistischer Zeitungen.

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen »Un de ceux qu’elle [gemeint ist die Polizei, d.V.] a arrêtés a avoué avoir fabriqué la manche de la lime [...]. Cet aveu prouve d’une manière incontestable que le coup était préparé de longue date [...]. [Luccheni, d.V.] se reconnait l’auteur unique du crime. Dès qu’on touche la question des complices, il devient aussi muet qu’une carpe. La découverte à Lausanne en prouve cependant long à ce sujet.« 339

Diese Vorstellung einer komplottartigen Struktur, bestehend aus einer verzweifelten Basis und einem kühl berechnenden Kader, blieb über die gesamte Betrachtungdauer wirkungsmächtig und findet sich beispielsweise diese zementierend auch in der La Tribune de Genève 1912 wieder.340 Darüber hinaus war in allen konsultierten Blättern eine eigentliche Psychopathologisierung von AnarchistInnen produktiv, die diesen sowohl individuell als auch kollektiv angetragen wurde. Die Gazette de Lausanne etwa stellte in einer Beitragsreihe des Psychiatrieprofessors und Eugenikers Auguste Forel, die den Attentäter Luigi Luccheni und die anarchistische Bewegung beurteilten, den Anarchismus als Antipode zu Normalität, zu Reflektiertheit und zu einem funktionierenden Hirn auf: »Mais il s’agit bien de souligner que pareil fait [gemeint sind herbe Enttäuschungen im Leben, d.V.] ne suffit pas et ne dit pas suffire pour rendre anarchiste un homme normal, reflechi, und cerveau tant soit peu bien fait.«341 Anarchistische Theorie stamme von »théoriciens fantasques at déséquilibrés«342 . Dahingehende Bezeichnungen von AnarchistInnen als psychisch minderbemittelte »cerveaux faibles«343 finden sich auch in der sozialdemokratischen Presse. Weiter finden sich Charakterisierungen, die von negativen kollektiven Charaktereigenschaften ausgingen wie notorischem Lügen, einer fortgeschrittenen Hinterlistigkeit oder Dummheit. So lässt sich eine Charakterisierung der Gazette de Lausanne von Anarchisten im Zuge der Silvestrelli-Affäre 1902 als weltfremde Träumertruppe zusammenfassen, deren GeldgeberInnen in böser Absicht handelten und sich den ArbeiterInneninteressen gegenüber illoyal verhielten.344

339  |  »Cinquième édition d’hier, Chronique locale: Comme nous l’avons dit«, La Tribune de Genève, 14.9.1898, Jg. 20, Nr. 214, 1re édition, S. 3. Dt.Ü.: »Einer der beiden, die sie verhaftet hat, hat gestanden, den Griff der Feile angefertigt zu haben [...] Dieses Geständnis liefert den unbestreitbaren Beweis, dass das Ganze seit Langem geplant war [...]. [Luccheni] sagt er sei der einzige Verantwortliche für das Verbrechen. Sobald die Frage eventueller Komplizen angesprochen wird, wird er stumm wie ein Fisch. Die Entdeckung in Lausanne zeigt jedoch eine andere Sachlage.« 340  |  Vgl. »Pour tuer le roi: La mort de l’anarchiste«, La Tribune de Genève, 2.12.1912, Jg. 34, Nr. 300, S. 8. 341  |  Forel, Auguste, »Luccheni«, Gazette de Lausanne, 29.11.1898, Jg. 101, Nr. 280, S. 1 (Teil I). Dt.Ü.: »Es geht jedoch sehr wohl darum zu betonen, dass solche Tatsachen nicht ausreichen und nicht ausreichen dürfen, um aus einem normalen, überlegten Mann, mit einem ganz klein bisschen Verstand, einen Anarchisten zu machen.« 342  |  Forel, Auguste, »Luccheni«, Gazette de Lausanne, 1.12.1898, Jg. 101, Nr. 282, S. 1 (Teil II). 343 | »L’anarchie«, Le Peuple de Genève, 17.9.1898, Jg. 4, Nr. 38, S. 1. 344  |  Vgl. »Syndicalisme: Notre camarade Donatini«, Le Peuple de Genève, 26.7.1902, Jg. 8, Nr. 30, S. 2.

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Die verwendete Metaphorik bewegte sich ebenfalls im stark negativ bewertenden Bereich. Auf der einen Seite zählte dazu das Bild der Körperlichkeit. Ein gesunder, in sich geschlossen optimal funktionierender Schweizer Volkskörper wurde in verschiedenen Titeln und Zeiten imaginiert, der vom Anarchismus immer von außen her angegriffen werde. Im Zuge des Attentats auf Kasierin Elisabeth von Österreich 1898 wurde der Anarchismus so etwa in der La Tribune de Genève pathologisiert, indem er als Krankheitsverlauf beschrieben wurde. Über Ort und Zeitpunkt der Politisierung von Attentäter Luccheni hieß es: »C’est en Italie que se sont sans doute, éveillés les premiers symptômes anarchistes, qui se developpèrent plus tard au cours de sa vie itinérante.«345 Ein eigentlicher Homozid der Schweiz durch den Anarchismus wurde gar imaginiert, wenn Letzterer zum Gift stilisiert wurde, dem die Schweiz, in überschwänglich nationalistischer Superioritätsrhetorik, aber durch die prävalenten guten Sitten beikomme. Im Kontext der Silvestrelli-Affäre formulierte die Gazette de Lausanne 1902: »Un peuple que ses mœurs préservent du venin anarchiste n’est point pressé de recourir aux remèdes violents en usage dans des pays moins favorisés.«346 Eine weitere, vor allem in der Gazette de Lausanne rege verwendete Metapher war die der Säuberung der Schweiz von AnarchistInnen, die Letztere so zu Dreck schrieb und abwertete. Im Zuge des Luccheni-Attentats etwa schrieb sie, dass in der Bundesanwaltschaft Leute gebraucht würden, »[...] qui soient préoccupés de purger le pays des bandits internationaux qui s’y donnent rendez-vous pour préparer ou commettre leurs abdominables crimes«347. Neben diesen pluri- und bilateralen Gemeinsamkeiten war auch der westschweizerischen Presse eine grundsätzliche Verschiedenheit eigen: Die Einschätzung des Verhältnisses zwischen der Sozialdemokratie und dem Anarchismus. Dieses wurde wie in der Deutschschweiz auch von den parlamentarisch aktiven Parteien nicht inhaltlich, sondern politisch instrumentalisierend vorgenommen, und die Beweggründe dürften ebenfalls dieselben gewesen sein: Der liberal-bürgerliche Titel Gazette de Lausanne nutzte den schlecht geschriebenen Anarchismus zur Diffamierung der Sozialdemokratie durch wiederholtes Verbinden der beiden Bewegungen in Hoffnung auf eine daraus erfolgende Zurückbindung des parlamentarischen Flügels der Arbeiterbewegung. In der Gazette de Lausanne konnte das bereits im Kontext der Bundeshaussprengung 1885 beobachtet werden. In einem Artikel zum Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus wurden die beiden inhaltlich mitunter stark divergierenden Richtungen zusammenge345 | »Supplement à la Tribune de Genève: Affaire Lucheni [sic]«, La Tribune de Genève, 11.11.1898, Jg. 20, Nr. 264, 1re édition, S. 5. Dt.Ü.: »Es war zweifellos in Italien, wo sich die ersten anarchistischen Symptome bei ihm zeigten, die sich im Laufe seines unbeständigen Lebens weiter herausbildeten.« 346  |  »L’article de la ›Nuova Antologia‹«, Gazette de Lausanne, 9.5.1902, Jg. 104, Nr. 107, S. 1. Dt.Ü.: »Ein Volk, dessen Sitten es vor dem anarchistischen Gifte bewahren, hat es nicht eilig, die gewaltvollen Mittel einzusetzen, die in weniger begünstigten Ländern angewandt werden.« 347  |  »Confédération suisse: Les anarchistes en Suisse«, Gazette de Lausanne, 20.9.1898, Jg. 101, Nr. 220, S. 2. Dt.Ü.: »deren Sorge es ist, das Land von diesen internationalen Kriminellen zu säubern, die sich hier treffen, um ihre abscheulichen Verbrechen vorzubereiten oder zu begehen«.

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rückt: »Il restera cependant [...] difficile de tirer la ligne précise où le socialisme finit et où commence l’anarchiste. La différence entre eux est une différence de tactique et non de principes.«348 Einen gewissermaßen entgegengesetzten Kurs fuhr die sozialdemokratische Presse. Zu den diffamierenden identitätskonstituierenden Elementen ist die Imagination der AnarchistInnen als essenziell bürgerliche Bewegung zu verzeichnen. So verortete das Le Peuple de Genève im Anschluss das Luccheni-Attentat 1898 den Anarchismus als bourgeoises Projekt und distanziert den Sozialismus und sich selbst davon: »Le socialisme, n’a rien de commun avec les doctrines logiquement individualiste des anarchistes [...] ce qu’il ne faut jamais perdre de vue, est que l’anarchiste est un conservateur [...]. L’anarchie est un fruit, une émanation directe de la bourgeoisie et de ses doctrines.«349 Anarchie-Begriffe wurden gelegentlich auch synonym zur Bezeichnung von Bürgerlichen verwendet. Diese aus pansozialistischer Perspektive negative Schattierung wurde mit einer Aufreihung von weiteren negativen Attributen abgewertet: Der Le Peuple Genève sprach von »les anarchistes d’en haut, menteurs, voleurs, faussaires, égorgeurs de peuples [...]«.350 Schließlich wurde die so nicht nur im Subtext vermittelte fundamentale Verschiedenheit von Sozialdemokratie und Anarchismus wiederholt auch explizit und mit Nachdruck betont. So wurde der Anarchismus ebenfalls im Zusammenhang mit dem Luccheni-Attentat einerseits zum allumfassenden Übel geschrieben mit der Frage: »Anarchie [...] [d’]où vient ce mal?«351. Andererseits wurde er zum eigentlichen Gegner beschworen: »Le devoir du socialisme est de lutter contre ce double adversaire [...]. C’est par le socialisme seulement qu’une société nouvelle sera créée, dans laquelle il n’y a plus de ›conservateur‹ que de ›chevaliers de la bombe‹.«352 Auch bei der Silvestrelli-Affäre 1902 und der Kilaschitzky-Befreiung 1907 wurde dezidiert auf die Separierung der Richtungen geachtet. 1907 positionierte sich die Gemeinschaft des Le Peuple Suisse als »les socialistes antianarchistes, que nous sommes«353. Auch in der sozialdemokratischen Presse der Westschweiz sind diese zuweilen regelrechten Demarkationskaskaden gegenüber AnarchistInnen als Abwehrmechanismus gegenüber der politisch motivierten bürgerlich-liberalen Amalgamierung von Sozialdemokratie und Anarchismus zu verstehen. Geradezu exem348  |  »Bulletin politique: À la suite«, Gazette de Lausanne, 3.2.1885, Jg. 86, Nr. 49, S. 3. Dt.Ü.: »Es bleibt dennoch [...] schwierig, eine klare Grenze zu ziehen, wo der Sozialismus aufhört und der Anarchismus beginnt. Der Unterschied zwischen den beiden betrifft die Frage der Taktik und nicht die der Grundsätze. 349 | »L’anarchie«, Le Peuple de Genève, 17.9.1898, Jg. 4, Nr. 38, S. 1. Dt.Ü.: »Der Sozialismus hat mit den logischerweise individualistischen Lehren der Anarchisten nichts gemein [...] man darf nie aus dem Blick verlieren, dass der Anarchist konservativ ist [...] Die Anarchie ist die Frucht, der unmittelbare Ausfluss der Bourgeoisie und ihrer Lehren.« 350  |  »Fin de régime«, Le Peuple de Genève, 24.9.1898, Jg. 4, Nr. 39, S. 1. Dt.Ü.: »die Anarchisten von oben, Lügner, Diebe, Fälscher, Volksmörder [...]«. 351 | »Anarchie«, Le Peuple de Genève, 1.10.1898, Jg. 4, Nr. 40, S. 3. 352 | »L’anarchie«, Le Peuple de Genève, 17.9.1898, Jg. 4, Nr. 38, S. 1. Dt.Ü.: »Es ist die Aufgabe des Sozialismus gegen diesen zweifachen Gegner zu kämpfen [...] Allein der Sozialismus kann eine neue Gesellschaft erschaffen, in der es ebenso wenige ›Konservative‹ gibt wie ›Ritter der Bomben‹.« 353  |  »Les Muets du Sérail«, Le Peuple Suisse, 4.6.1907, Jg. 13, Nr. 63, S. 1.

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plarisch sind die Formulierungen im Le Peuple de Genève 1898: »Les anarchistes ne se sont jamais groupés sous le drapeau rouge. Au contraire: partout et toujours, ils nous ont combattus, par la plume, la parole et le ›chahut‹ dans nos assemblés.«354 Eine weitere Gemeinsamkeit der nicht-anarchistischen Presse der Westschweiz mit derjenigen der Deutschschweiz ist der Umstand, dass nicht alle anarchistischen Ereignisse gleichermaßen Ausschlag gaben für die Schaffung der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen. Trotz des klar anarchistischen Ursprungs der Silvestrelli-Affäre waren Anarchismuskonzeptionen 1902 fast ausschließlich aus nicht ereignisgebundenen Artikeln zu extrahieren. Auch der Kasernenüberfall von 1907 und die nachfolgenden Prozesse 1907 und 1912 hatten nur ein kleines Echo. Andere Titel wie das Le Peuple Suisse 1912 nahmen überhaupt keinen Bezug darauf. Letzteres überrascht, weil alle Titel, wie zu sehen war auch das sozialdemokratische Medium, auf einfachste Weise identitäres Kapital daraus hätten schlagen können: Sie hätten den Fall lediglich als Bestätigung ihrer zugeschriebenen kollektiven Identitäten von AnarchistInnen präsentieren müssen. Im Überblick divergiert die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen stark von der selbst zugeschriebenen anarchistischen kollektiven Identität:355 Die durchwegs negative Skizzierung der anarchistischen Gemeinschaft ließ eine phantomhafte Bande wahnsinniger, selbstzentrierter und weitestgehend moral- und inhaltsfreier Parias entstehen, die womöglich von diffusen Figuren im Hintergrund orchestriert wurden und so ziemlich in jeder Kategorie und Hinsicht gesellschaftlicher Existenz aberkannt und deviant waren. Dass aufgrund dieser ebenso sorgfältig wie grobschlächtig kreierten Diskrepanz alles Anarchistische für Nicht-AnarchistInnen ausschließlich als Antipode zu verstehen war, ist mit Rückblick auf die Betrachtung der bewegungseigenen Konstitution anarchistischer kollektiver Identität fraglich und muss im Schlusswort kritisch hinterfragt werden. Nicht zuletzt weil auch für die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen gezeigt werden konnte, dass das Anarchistische als globale Differenz verschiedene Formen, Ausprägungen und Funktionen hatte, welche die Zuschreibung allein überstieg.

354 | »Distinguons«, Le Peuple de Genève, 17.9.1898, Jg. 4, Nr. 38, S. 2. Dt.Ü.: »Die Anarchisten haben sich nie unter der roten Fahne versammelt. Ganz im Gegenteil: Sie haben uns immer und überall bekämpft, mit der Feder, dem Wort und dem ›Aufruhr‹ in unseren Versammlungen.« 355  |  Anmerkung: Dieser kurze Absatz ist der einzige im ganzen Manuskript, der vom Autor Nino Kühnis nicht mehr abschliessend redigiert werden konnte. Er befindet sich also gewissermassen im »Rohzustand« und ist für die Publikation so belassen worden.

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6. Schlusswort 6.1 E rgebnisse , I nterpre tation und F a zit »Wie die Verzweifelten kämpften wir – vor uns das Vorurteil, hinter uns die Verleumdung.«1

Die vorliegende Arbeit beschäftigte sich mit der kollektiven Identität von AnarchistInnen in der Schweiz von 1885-1914. Im Zentrum des Interesses standen Fragen nach Konstruktionsmechanismen, Formen und Funktionen kollektiver Identitäten für die anarchistische Bewegung, aber auch nach daraus erwachsenden Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft der Schweiz des Fin de Siècle. Als Grundlage figurierte die bewegungseigene und die bewegungsfremde Presse, die als Gestaltungs- und Verhandlungsorte kollektiver Identitäten verstanden wurde. Ein besonderes Augenmerk galt darüber hinaus den relationalen Beziehungen zwischen der anarchistischen kollektiven Identität aus der Bewegungsperspektive, fortan ›anarchistische kollektive Identität‹ genannt, und der zugeschriebenen anarchistischen kollektiven Identität, fortan ›kollektive Identität von AnarchistInnen‹ genannt. Nicht zuletzt dadurch sollten zudem Erkenntnisse über den betrachteten Spezialfall hinaus gewonnen werden, die dazu beitragen können, tote Winkel der Erforschung Sozialer Bewegungen auszuleuchten. Die Auswertung der bewegungseigenen und bewegungsfremden Presse zur Skizzierung kollektiver Identitäten von AnarchistInnen erwies sich äußerst fruchtbar, wenngleich sich die Suche nach der anarchistischen kollektiven Identität im Singular als schwierige, wenn nicht gar unmögliche Jagd eines Phantoms entpuppte. Und dies nicht nur aufgrund der Diskrepanz, die sich aus der nur auf den ersten Blick polaren Lage der anarchistischen und nicht-anarchistischen Presse ergab. Zum einen zeigte die Untersuchung, dass bereits in der anarchistischen kollektiven Identität in diachroner wie in synchroner Perspektive Pluralität vorherrschte. Diese aus 24 anarchistischen Zeitungen erarbeiteten, unablässig konstruierten und (re-)affirmierten gemeinschaftlichen kollektiven Identitäten verfügten zwar alle über einen Grundstock an geteilten Hypergütern: Teile dieses identitären pananarchistischen Kanons waren Antiautoritarismus, Dezentralisierung, Solidarität und gegenseitige Hilfe. Ebenso zählten dazu das Streben nach Elimination von Kapitalismus und Krieg, die Abschaffung von der Gesellschaft und dem Individuum 1  |  M., »Unser Woher – Unser Wohin«, Der Sozialist, 15.1.1909, Jg. 1, Nr. 1, S. 2.

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aufoktroyierten Zwängen und vom Staat als Ganzes, der als Chiffre des Unbehagens kultiviert wurde. In ebenfalls prägenden Bereichen der Genesis anarchistischer kollektiver Identität zeigten sich aber auch erhebliche Differenzen: Methodenwahl, Bewegungssubstrat und selbst grundsätzliche Revolutionskonzeptionen erwiesen sich in den gleichsam imaginierten wie repräsentierten anarchistischen Gemeinschaften als produktive Identitätskomponenten unterschiedlicher, zuweilen geradezu gegensätzlicher Ausrichtung. Gespiegelt wurde die sowohl seriell als auch parallel prävalente inhaltliche Pluralität in Anwendung und Gewichtung der produktiven Konstruktionskomponenten: Wenngleich die Vermittlung von positiven und negativen Hypergütern, Framing-Prozessen, subidentitären FramingProzessen, von Selbstbezeichnungen, Traditionalismen und Emotionalien Komponenten sind, die bei allen Titeln produktiv auftreten, sind Variationen punkto Intensität, Emphase und Wirkungsmacht der festgestellten Konstruktionsmechanismen festzustellen. Hinzu kommen titelspezifische Erweiterungen der identitätskonstituierenden Komponentensets. Dazu zu zählen sind das Etablieren von linguistischen Reappropriationen in Form von Geusenwörtern oder nationalistische und religiöse Rekuperationen. Sie richten die Intensität und Wirkungsmacht der aktiven Elemente neu aus und können sie zuweilen sogar ad absurdum führen, wenn sie inhaltlich kollidieren und so inhaltlich kontradiktorische Konstitutionskomponentenpaare ausbilden. Besonders Rekuperationen sind dabei als Versuche zu lesen, den eigenen Diskurs an einen gesamtgesellschaftlichen anzubinden, in der Absicht, die eigene Exotik zu reduzieren und trotz einer radikalen Philosophie als valable Alternative wahr- und entsprechend ernst genommen zu werden. Nicht zuletzt zeigen die herausgearbeiteten rekuperativen Praktiken auf, dass sich auch fundamentaloppositionelle Bewegungen gesamtgesellschaftlichen Diskursen kaum entziehen können, sondern sie vielmehr partiell sich selbst ein- und damit auch mitschreiben. Der gewählte theoretische Zugriff erlaubte es, die entstandene Vielzahl historisch spezifischer Skizzen anarchistischer kollektiver Identität dahingehend zu interpretieren, die Soziale Bewegung des Anarchismus als vielteilige, dynamische, adaptive, integrative und universalistische Gemeinschaft, als Gemeinschaft von Gemeinschaften zu erkennen und die anarchistische Bewegung trotz ihrer Uneinigkeiten und Reibungsflächen nicht als dysfunktionale und von einer Identitätskrise betroffene, sondern vielmehr als progressive, dynamische und inhaltlich offene Bewegung einzuschätzen. Dank des vielseitigen, nicht hierarchisierenden und auf eine in ihrer Wirkungsmacht changierende Mehrzahl von Konstitutionskomponenten und Beurteilungskategorien setzenden Zugriffs entstand so ein Mosaik, das eine vitale Soziale Bewegung von Bewegungen zeigt. Dieses Mosaik kollektiver Identitäten vermittelt aufgrund der stetig neu verhandelten Sets an prägenden produktiven Identitätsmechanismen den Eindruck einer immer transitorischen, in stetiger Werdung verhafteten Gemeinschaft, deren Mitglieder sich mindestens als AgentInnen der Aufklärung für die Neue Zeit, maximal als deren HerbeiführerInnen begriffen. Zum Zweiten zeigt die vorliegende Arbeit, dass auch die zugeschriebene kollektive Identität von AnarchistInnen nicht von Einheitlichkeit geprägt war. Die inhaltlichen Variationen, die in sieben bürgerlich-liberalen, sozialdemokratischen und als politisch neutral kategorisierten Titeln der nicht-anarchistischen Presse erarbeitet wurden, spielen sich allerdings in einem weit engeren Feld ab. So sind sämtliche Ausprägungen von einem negativen Bild und einem abwertenden Gestus der Zu-

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schreibenden charakterisiert. Die Verklammerung von Anarchismus-, AnarchistInnen- und Anarchie-Begriffen mit Negativa aller Art folgte dabei zwar jeweils zeitgeistigen Mustern, blieb ihrem pejorativen Duktus aber treu. Dies geschah unabhängig von der politischen Richtung, aus der die Zuschreibungen erfolgten. In nahezu vollständiger Absenz inhaltlicher Auseinandersetzung gestaltete sich die kollektive Identität von AnarchistInnen wie ein Sammelsurium verkürzender Induktionen, die vornehmlich der Reproduktion von Vorurteilen diente. Die Beharrlichkeit, mit der über 30 Jahre an der Chiffre des Anarchismus festgehalten und gearbeitet wurde, wirft Fragen auf, die mit einem Blick auf die politische Utilität der zugeschriebenen kollektiven Identität beantwortet werden können. Bei bürgerlich-liberalen Kräften ist in der konstanten Abwertung des Anarchismus eine vorbereitende Handlung zur Diffamierung der Sozialdemokratie zu erkennen. Die omnipräsenten Versuche, eine Verbindung zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus zu schaffen, um der Ersteren den negativen Nimbus der Letzteren anzuhängen, lässt das Fernziel vermuten, die Sozialdemokratie auf diese Weise parlamentarisch-politisch unwählbar zu machen. Darin ist wiederum eine Strategie zur Reproduktion der liberalen Machtverhältnisse zu erkennen, die zeitlich mit dem, aber nicht gezwungenermaßen monokausal durch das Aufkommen der sozialdemokratischen Partei allmählich an Macht und Einfluss verlor. Die hartnäckige Anbindung des Anarchismus an das Negative in sozialdemokratischen Blättern dürfte hingegen einer Doppelstrategie gefolgt sein. Einerseits konnte durch die semantische Verquickung von Anarchie-Begriffen mit der ausbeutenden Klasse oder mit Vertretern der Staatsgewalt Misstrauen in der Arbeiterschaft geweckt werden. Damit dürfte auf diejenigen anarchistischen Strömungen gezielt worden sein, die explizit und zum Teil ausschließlich unter ArbeiterInnen agitierten und dem parlamentarischen Flügel das Wählersubstrat und damit den Wind aus den Segel zu nehmen drohten. Andererseits dürften die mantrahaft wiederholten Abwertungen dazu gedient haben, die Wesensfremdheit von Sozialdemokratie und außerparlamentarischer oder gar staatsauflösender Politik und Agitation gegen außen hin zu betonen. Die Abschottung ist als Strategie zu deuten, die Wählbarkeit der Sozialdemokratie zur Mitte hin zu erhöhen, die sich gerade in der Phase nach dem bürgerlichen Schulterschluss 1891 in der Bundesregierung einer Doppelfront aus bürgerlichen und katholisch-konservativen Kräften ausgesetzt sah, die just dies zu verhindern gedachten. Die neutrale Presse ihrerseits verfestigte diesen antianarchistischen Diskurs der nicht-anarchistischen veröffentlichten Meinung und trug, wenn zuweilen auch weniger aggressiv, über thematische Schwerpunkte und zuweilen einschlägige Wort- und Metapherwahl ihren aktiven Teil dazu bei, dass Anarchie-Begriffe bereits im Fin de Siècle zu Reizworten stilisiert wurden: In den allermeisten Fällen wurden Anarchie-Begriffe entweder kaum inhaltlich differenziert erörtert, oder es wurden bestehende Emotionalisierungen durch die Wahl negativer Symbolik und Rhetorik perpetuiert. Die Praxis der Ausgestaltung der zugeschriebenen kollektiven Identität von AnarchistInnen durch bürgerlichliberale, sozialdemokratische und politisch neutrale Kräfte muss als Vehikel der Instrumentalisierung zu eigenen Zwecken verstanden werden, die zur Hauptsache in der parlamentarisch-politischen Profilierung zu orten ist. Die in bewegungseigener und bewegungsfremder Presse verdichteten anarchistischen kollektiven Identitäten der Fremd- und Selbstwahrnehmung lassen auf den ersten Blick ein disparates Bild entstehen. Diese Diskrepanz kann als Spur gelesen

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werden für die verschiedenen Funktionen anarchistischer kollektiver Identität: Die starr getrennten kollektiven Identitäten lassen auf diametrale Welt- und Sinndeutungen schließen. In der bewegungsinternen Bewertung der Isolation wurde die Funktion der Attraktivitätssteigerung der anarchistischen Gemeinschaft durch eine fortlaufende Isolation befeuert. Bewegungsextern wurde die konstruierte unbewegliche kollektive Identität von AnarchistInnen dazu genutzt, ihren ChiffreCharakter zu unterhalten und weiter auszubauen, der zur sozialen Kohäsion in Regierung und Bevölkerung eingesetzt wurde. In gewissem Sinne konträr zu dieser Diskrepanz wird in den Konstitutionsprozessen der jeweiligen anarchistischen kollektiven Identitäten aber auch eine gegenseitige Durchdringung offenbar. Greift die Fremdwahrnehmung zur Affirmation der zugeschriebenen kollektiven Identität verkürzend und stilisierend auf plakative und damit wirkungsvoll instrumentalisierbare Elemente der Selbstwahrnehmung zurück, so ist der bewegungseigenen kollektiven Identität ein Sein erst durch die Einfaltung der zugeschriebenen kollektiven Identität möglich: Als Katalysator stellte diese überaus häufig den Grundstein für die bewegungseigene Konstitution und Akzentuierung kollektiver Identität dar. Weitere Spuren der Auflösung starr geglaubter Binaritäten in der Konstruktion kollektiver Identitäten lassen sich in der prominenten Rolle der Framing-Prozesse erkennen: Keinem der ausgewerteten Periodika gelang es, kollektive Identität ohne die ›anderen‹ zu konstituieren. Im Gegenteil waren alle Titel existenziell auf deren Präsenz in Form von immer nur simulierter Abwesenheit angewiesen, um das kollektive Selbst zu gestalten und zu pflegen. Der Blick auf die Konstitutionsprozesse von bewegungsinternen und bewegungsexternen anarchistischen kollektiven Identitäten ist es denn auch, der als dritte zentrale Erkenntnis dieser Arbeit zu erkennen gibt, dass ein Verständnis einer totalen Verschiedenheit der beiden eine Täuschung ist. Die Vorstellung von isolierten und dominanten losgelösten Diskursen auf beiden Seiten muss sowohl für die aus der anarchistischen Selbstwahrnehmung als auch für die aus der nicht-anarchistischen Fremdwahrnehmung extrahierten kollektiven Identitäten infrage gestellt werden, wenn bereits auf der Stufe der Konstruktion der entsprechenden kollektiven Identitäten eine existenzielle Verwobenheit vom Eigenen und vom Anderen vorherrschte. Um den Forschungsergebnissen gerecht zu werden, soll deshalb in Konsequenz an die Stelle einer leibniz’schen Vorstellung von geschlossenen Identitätsmonaden eine derrida’sche Vorstellung von kollektiven Identitäten als strukturell offene Texte treten. Diese sind als historisch spezifisch zu denken, von Spuren des Seins ebenso wie des Nicht-Seins temporär (mit-)bestimmt und durchdrungen und mit der Eigenschaft betraut, das grundsätzlich Andere von der Rolle eines Supplements zu befreien und es stattdessen als Komplement zu begreifen, das durch wiederkehrende Invaginationen ebenso zur Genese des kollektiven Selbst beiträgt wie das grundsätzlich Eigene. Damit wird der Vorstellung der jüngeren Identitätsforschung von kollektiver Identität als flüssig und entgrenzt entsprochen, diese aber um die Komponente der bereits in der Genese produktiven stetigen Verweise und Rückverweise ergänzt. Diese lässt letztlich eine Hegemonialstellung des einen Diskurses über den anderen in ihrer Berechtigung implodieren und setzt an die Stelle einer hierarchisierten temporalen Abfolge von Dominatoren und Rezessivisten das Bild einer Verflechtung, die Eindeutigkeiten durchkreuzt, da sie Diskurse imaginiert, die teilhaftig dominant und rezessiv, Wirt und Virus sind.

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Die Relevanz kollektiver Identität – und damit auch die Relevanz ihrer Erforschung – zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Präsenz: Häufigkeit und Umfang, den Konstruktions- und Konstitutionsmechanismen in der anarchistischen Presse einnahmen, ebenso wie die Intensität, mit der sie betrieben wurden, vermögen eine Vorstellung ihrer gewichtigen Rolle in Gestaltung und Reproduktion der anarchistischen Bewegung als Ganzes anzudeuten. Gemeinsame Ziele ebenso wie gemeinsame Feinde, gemeinsame Geschichte ebenso wie gemeinsame Emotionen oder kurz: gemeinsame Nenner figurierten nicht nur als produktive Identitätskomponenten, sondern sind als integrale Pfeiler sozialer Kohäsion zu deuten, welche die kollektive Identität als lapidare Motivation für Teilnahme und Verbleiben in der anarchistischen Bewegung der Jahrhundertwende stützten. Wie gezeigt werden konnte, erhöhte sich darüber hinaus während der stetigen Produktion und Reproduktion kollektiver Identität nicht nur die soziale Kohäsion der Sozialen Bewegung im unmittelbaren Blickfeld. Durch ihre strukturelle, an der Genese angesiedelte Verwobenheit stieg auch die soziale Kohäsion der an der Konstruktion wesentlich mitbeteiligten Nicht-Bewegten an, da jenen so Raum und Rahmen verschafft wurde, Identitätsarbeit in eigenem Sinne zu leisten, die letztlich deren Ziele und Zwecke reinforcierte. Dass diese instrumentalisierten, zugeschriebenen kollektiven Identitäten von AnarchistInnen schließlich von Letzteren selbst als Katalysatoren in den bewegungseigenen Konstitutionen anarchistischer kollektiver Identität wiederverwendet wurden, rundet das Bild der kollektiven Identität von AnarchistInnen in der Schweiz des Fin de Siècle im Singular als offener, mehrfach durchdrungener Struktur ab. Die Skizze, die sich aus ihrer Erforschung ergibt, bezieht ihren historiografischen Mehrwert schließlich auch daraus, dass sie sowohl eine Skizze der Bewegung darstellt, als auch eine solche ihres diskursiven Kontextes, der sich ihr und dem sie sich kontinuierlich einschreibt.

6.2 B e wertung und A usblick Eine kritische Bewertung der Aufarbeitung anarchistischer kollektiver Identität in der Schweiz des Fin de Siècle muss bei der Beurteilung beginnen, ob die gestellten Fragen sich als erhellend erweisen. Nach einer Auswertung der über mehrere Disziplinen verzettelten theoretischen Grundlagen der Identitätstheorie und der ihr folgenden Adaption auf den historischen Forschungsgegenstand ermöglichte sie einen differenzierten, wenn auch immer nur vorläufigen und unvollständigen Blick auf die Soziale Bewegung des Anarchismus im ausgehenden 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert, während sie gleichzeitig einen Einblick in ihre Funktionalisierung lieferte. Die erzielten Ergebnisse lassen das Forschungsvorhaben aber nicht zuletzt deshalb als fruchtbar und erfolgreich beurteilen, weil es über die Betrachtung der historischen AkteurInnen hinaus Erkenntnisgewinn ermöglichte. Für Forschungen zu außerparlamentarischen Sozialen Bewegungen stellt der gewählte methodische Zugriff ein geeignetes Instrumentarium. Gerade in der Beschäftigung mit Bewegungen, die sich gängigen Bewertungsurteilen durch alternative Sinn- und Weltdeutungen entziehen, erscheint der Ansatz der kollektiven Identität als Methode von großem Wert, weil er eine Beurteilung ermöglicht, die nicht von einer fixierten Hierarchisierung von Abstrakta und Realia ausgeht.

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Auch ausblickend kann sowohl der theoretische Ansatz als auch die weitere Betrachtung der AkteurInnen als vielversprechend angesehen werden. Insbesondere in der Anwendung auf zeitgeschichtliche außerparlamentarisch agierende politische Gemeinschaften dürfte er vielversprechend sein: In Verbindung mit anderen historischen Methoden wie der Oral History wären höhere Auflösungen der Skizzierung denkbar, da sich die Wirkung einzelner aus den Quellen erhobenen Identitätskomponenten in ihrer Produktivität für die Bewegten überprüfen und zusätzlich qualitativ bewerten ließen. Besonders der Bereich der Emotionalien könnte so erschlossen werden und wirkungsmächtige Akteure nicht-menschlicher Art als identitär produktiv erkannt und klassifiziert werden, wie beispielsweise anarchistische Räume. So ließe sich eine – freilich temporäre und fluide – erweiterte Taxonomie der Identitätskonstituenten ableiten, die letztlich spezifischere Antworten darauf ermöglichen würden, wieso sich Personen in Sozialen Bewegung engagieren, die vor allem auf Abstrakta auf bauen und Realia wenn überhaupt, nur im negativen Sektor ansiedeln. In einer diachronen Betrachtung von AkteurInnen könnte diese verfeinerte Methode zudem auch höher aufgelösten kontexterhellenden Aufschluss versprechen, da die jeweils historisch gebunden anzunehmenden Taxonomien auch als Sensorium für die Wirkungsmacht gesamtgesellschaftlicher Paradigmen gelesen werden können, die sich auf die eine oder andere Weise in der kollektiven Identität der betrachteten Gruppen niederschlagen.

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v.a. vor allem vgl. vergleiche ZBZ Zentralbibliothek Zürich, Zürich zit. zitiert z.T. zum Teil

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Dank

Dass die Wissenschaft, wie ein englisches Bonmot behauptet, eine grausame Mätresse sei, kann mit Blick auf die vierjährige Arbeit an der vorliegenden Dissertation belegt werden: In vielen Momenten musste das Sozialleben zurückgestellt werden während ihrer Entstehung und für jeden einzelnen davon möchte ich mich an dieser Stelle bei den betroffenen Personen in aller Form entschuldigen. Andererseits ermöglichte das historische Arbeiten Begegnungen, fachlichen und menschlichen Austausch, die erquickender nicht hätten sein können. Beide und viele weitere Aspekte wären nicht möglich gewesen, hätte Prof. Dr. Béatrice Ziegler-Witschi mir nicht angeboten, mein historisches Interesse und die dazugehörigen beruflichen Fähigkeiten im Rahmen einer Doktorarbeit zu vertiefen. Für ihre Offenheit dem Thema gegenüber, vor allem aber für das Vertrauen und nicht zuletzt für die Jovialität, mit der sie mich durch Krisen kleinerer und größerer Ausprägung während des Verfassens begleitete, sei ihr hiermit herzlichst gedankt. Dass sich mit Prof. Dr. Christian Koller und Prof. Dr. Thomas Hengartner zwei Korreferenten mit höchster fachlicher Qualifikation für Thema und Fragestellung begeistern liessen, erfreute mich ebenso, wie es mich anspornte, die vorliegende Arbeit zu schreiben. Den ungezählten, stets hilfsbereiten MitarbeiterInnen der konsultierten Archive in Zürich, Lausanne, Genf, La Chaux-de-Fonds, Bern, Nürnberg und Amsterdam gebührt ein besonderer Dank. Ohne die von ihnen bereitgestellten Quellen fehlte dieser Arbeit nichts Weniger als das Herz. Gesondert hervorgehoben seien an dieser Stelle Dr. Anita Ulrich und die gesamte sympathische Belegschaft des Schweizerischen Sozialarchivs in Zürich, die nicht nur bereitwillig und unkompliziert einen Großteil der Quellen im Original zur Verfügung stellten, sondern dem Autor auch einen angenehmen Arbeitsplatz in einem inspirierenden Umfeld. Ebenfalls ein inniger persönlicher Dank sei an Marianne Enckell vom Centre International de Recherches sur l’anarchisme in Lausanne gerichtet, die das vorliegende Werk mit ihrem unerreichten Wissen weit über ihre Aufgabe als Archivarin hinaus begleitete und auf Material hinwies, das ansonsten unbeachtet geblieben wäre. Dass während eines Dreivierteljahres die Öffnungszeiten von täglich drei auf täglich sieben Stunden ausgedehnt wurden für den Autor, bleibt unvergessen. Zu besonderem Dank bin ich auch den Personen verpflichtet, die mit ihrer kritischen Lektüre und ihren wertvollen Fragen und Kommentaren Leserlichkeit und Lesbarkeit dieser Arbeit verbesserten, also Nadine Stanek, Lino Sevcik, Nina Hössli und Konrad Kuhn, der mir seit Jahren mehr ist als kompetenter Sparring Partner

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»Anarchisten!« Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen

in historischen Fragen rund um Soziale Bewegungen. Für die im Text verbliebenen Fehler liegt die volle Verantwortung nichtsdestotrotz allein beim Autor. Intensive Forschung bedarf nicht nur wohlmeinender Doktoreltern und ArchivarInnen, sondern auch finanzieller Mittel. Ohne die großzügige Unterstützung des Fonds Forschung Ellen Rifkin Hill und meines langjährigen Arbeitgebers, der Elixir GmbH, die mir während der gesamten Forschungszeit eine Prozentstelle gewährte, wäre diese Arbeit schlicht nicht möglich gewesen. Beiden Institutionen sei hiermit für ihr Vertrauen und ihr Entgegenkommen herzlich gedankt. Für Vertrauen und Entgegenkommen soll an dieser Stelle auch meinen Eltern Norma Kühnis-Bieler und Edi Kühnis innigst gedankt sein, die meine Entscheidung, Geschichte zu studieren stets unterstützten. Ebenso möchte ich mich vor meinem persönlichen Umfeld rund um die Großwohngemeinschaft Schwarzer Anker in Zürich-Aussersihl dankend verneigen, die nicht Wohn-, sondern stets Lebensraum war und ist dank den großartigen MitbewohnerInnen Babs Kunz, Colette Baumgartner, Tomas Besmer, Joanna Philipps, Christian Gantenbein, Nina Hössli, Mathias Peter, Holger Schwarz, Maja Gehrig und Anna Kehl. Gewidmet ist dieses Buch meiner großen Liebe Nadine Stanek, der ich hoffentlich auch in Zukunft noch viele weitere Arbeiten werde widmen dürfen. Nino Kühnis, Zürich-Aussersihl, 15.5.2012

Histoire Stefan Brakensiek, Claudia Claridge (Hg.) Fiasko – Scheitern in der Frühen Neuzeit Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolgs Juni 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2782-4

Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (3., überarbeitete und erweiterte Auflage) Juli 2015, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2366-6

Cornelia Geißler Individuum und Masse – Zur Vermittlung des Holocaust in deutschen Gedenkstättenausstellungen September 2015, ca. 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2864-7

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Histoire Alexa Geisthövel, Bodo Mrozek (Hg.) Popgeschichte Band 1: Konzepte und Methoden 2014, 280 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2528-8

Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.) Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie Dezember 2015, ca. 310 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3021-3

Detlev Mares, Dieter Schott (Hg.) Das Jahr 1913 Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2787-9

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Histoire Sophie Gerber Küche, Kühlschrank, Kilowatt Zur Geschichte des privaten Energiekonsums in Deutschland, 1945-1990 2014, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2867-8

Katharina Gerund, Heike Paul (Hg.) Die amerikanische Reeducation-Politik nach 1945 Interdisziplinäre Perspektiven auf »America’s Germany« Januar 2015, 306 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2632-2

Carsten Gräbel Die Erforschung der Kolonien Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen, 1884-1919 Februar 2015, 406 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2924-8

Ulrike Kändler Entdeckung des Urbanen Die Sozialforschungsstelle Dortmund und die soziologische Stadtforschung in Deutschland, 1930 bis 1960 Mai 2015, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2676-6

Sebastian Klinge 1989 und wir Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall Mai 2015, ca. 440 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2741-1

Anne Katherine Kohlrausch Beobachtbare Sprachen Gehörlose in der französischen Spätaufklärung. Eine Wissensgeschichte

Felix Krämer Moral Leaders Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre März 2015, 418 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2645-2

Nora Kreuzenbeck Hoffnung auf Freiheit Über die Migration von African Americans nach Haiti, 1850-1865 2014, 322 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2435-9

Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel, Jürgen Danyel (Hg.) Popgeschichte Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988 2014, 384 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2529-5

Karsten Uhl Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert 2014, 404 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2756-5

Karla Verlinden Sexualität und Beziehungen bei den »68ern« Erinnerungen ehemaliger Protagonisten und Protagonistinnen Januar 2015, 468 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2974-3

Andrea Wienhaus Bildungswege zu »1968« Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes 2014, 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2777-0

April 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2847-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de