Jenseits der Person: Zur Subjektivierung von Kollektiven 9783839438428

Whether corporate identity or team spirit - not only individuals but also collectives are addressed and formed as subjec

260 111 4MB

German Pages 336 [334] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einführung
Theoretische Perspektiven
Jenseits des Individuums
Kollektivität durch Adressierung
Das individuelle Leben und das Gemeinwesen als Baustelle
Politische Kollektivsubjekte
Politische Subjektivation zwischen Subjektkonstitution und Handlungsfähigkeit
Wir sind das unmögliche Volk!
Die Nation als Subjekt
Kollektive Subjektivierung sozialer Bewegungen
Subjektivierung und (Körper-)Politik
Politik und Krankheit
Organisationen als Kollektivssubjekte
Die Subjektwerdungen der juristischen Person
We Are Family?
Organisationswerdung durch Diversität – zur Subjektivierung von Organisationen am Beispiel der Hochschule
Die Produktion der Schule
Mikrokollektive in Kunst und Sport
Der kollektive Künstler
Jazz
Subjektivierung eines Volleyballteams als spielfähiger Kollektivkörper
Kommentar
»Jenseits der Person« – oder doch bloß »diesseits«?
Autoren und Autorinnen
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Jenseits der Person: Zur Subjektivierung von Kollektiven
 9783839438428

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Thomas Alkemeyer, Ulrich Bröckling, Tobias Peter (Hg.) Jenseits der Person

Praktiken der Subjektivierung | Band 10

Thomas Alkemeyer, Ulrich Bröckling, Tobias Peter (Hg.)

Jenseits der Person Zur Subjektivierung von Kollektiven

Diese Publikation und die ihr zugrunde liegende Tagung wurde von der DFGForschergruppe ›Mechanismen der Elitebildung im deutschen Bildungssystem‹ (FOR 1612) und dem DFG-Graduiertenkolleg 1608/2 »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-3842-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3842-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einführung Tobias Peter, Thomas Alkemeyer, Ulrich Bröckling | 9

T heoretische P erspek tiven Jenseits des Individuums Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte. Ein Forschungsprogramm Thomas Alkemeyer/Ulrich Bröckling | 17

Kollektivität durch Adressierung Systemtheoretische Perspektiven auf die Subjektivierung von Interaktion, Organisation und Gemeinschaft Tobias Peter | 33

Das individuelle Leben und das Gemeinwesen als Baustelle Zu einer Leitmetapher zeitgenössischer Subjektivierung Felix Heidenreich | 53

P olitische K ollek tivsubjek te Politische Subjektivation zwischen Subjektkonstitution und Handlungsfähigkeit Oliver Flügel-Martinsen/Franziska Martinsen | 75

Wir sind das unmögliche Volk! Hannes Glück | 95

Die Nation als Subjekt Wolfgang Fach | 113

K ollek tive S ubjek tivierung sozialer B ewegungen Subjektivierung und (Körper-)Politik Zur Bildung des kollektiven Subjekts »Frauenbewegung« Imke Schmincke | 133

Politik und Krankheit Kollektive Subjektivierung durch Patientenbewegungen und -organisationen Helene Gerhards | 151

O rganisationen als K ollek tivssubjek te Die Subjektwerdungen der juristischen Person Subjektivierungstheoretische Überlegungen zur rechtlichen Personalisierung von Kollektiven Doris Schweitzer | 175

We Are Family? Anrufungen organisationaler Gemeinschaft zwischen Unterwer fung und Emanzipation Ronald Hartz | 195

Organisationswerdung durch Diversität – zur Subjektivierung von Organisationen am Beispiel der Hochschule Verena Eickhoff | 217

Die Produktion der Schule Her vorbringungen von Kollektivität im Kontext institutioneller Zielvereinbarungen im Schulsystem Melanie Schmidt/Daniel Diegmann | 239

M ikrokollek tive in K unst und S port Der kollektive Künstler Séverine Marguin/Cornelia Schendzielorz  | 261

Jazz Kollektive Subjektivierung durch Improvisation Christian Müller | 279

Subjektivierung eines Volleyballteams als spielfähiger Kollektivkörper Matthias Michaeler | 295

K ommentar »Jenseits der Person« – oder doch bloß »diesseits«? Ein Kommentar zum Problem der ›kollektiven Subjektivierung‹ Nikolaus Buschmann/Norbert Ricken | 317

Autoren und Autorinnen | 327

Einführung Tobias Peter, Thomas Alkemeyer, Ulrich Bröckling

Die Untersuchung von Subjektivierungsweisen und Subjektpositionen ist inzwischen ein fester Bestandteil sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist die Abkehr von der Vorstellung eines souveränen und autonomen Subjekts. Im Zentrum sowohl der Theoriebildung als auch empirischer Analysen steht die Frage, auf welche Weise das vielfach bedingte, gesellschaftlich kontextualisierte und in sich gebrochene Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst geformt wird und sich selbst formt. Das Subjekt figuriert nicht länger als Ausgangspunkt und Essential, sondern als Fluchtpunkt und Effekt ebenso unhintergehbarer wie unabschließbarer Definitions-, (Selbst-)Modellierungs- und Politisierungsanstrengungen. Forschungen in dieser Perspektive haben in den letzten Jahren erheblich an Breite gewonnen; sie widmen sich der Analytik von Subjektivierungen und untersuchen Anrufungen und Adressierungen, gouvernementale Praktiken der Selbst- und Fremdführung oder Technologien des Selbst. Im Fokus steht dabei bisher die Anrufung des Einzelnen als Subjekt und die Arbeit an seiner Subjektivierung. Ausgeblendet bleibt demgegenüber, dass auch Gruppen, Organisationen, Netzwerke, Gemeinschaften – Unternehmen, Vereine, Familien, soziale Bewegungen, Städte, Staaten usw. – als Subjekte adressiert und formiert werden. Der vorliegende Sammelband fordert dieses Verständnis heraus. Er fragt, inwieweit sich das für die Untersuchung der Subjektivierung von Individuen entwickelte Instrumentarium auch für die Analyse der Adressierungen von Kollektiven sowie deren Selbstdeutungen und -praktiken als »Kollektivsubjekte« nutzbar machen lässt. Wie werden Gruppen, Gemeinschaften oder Organisationen angerufen und wie gelingen oder scheitern diese Versuche einer Herstellung eines kollektiven Subjekts? Welche Effekte zeitigen Diskursen und Praktiken, mit denen Kollektive imaginisiert und mobilisiert werden? Wie generieren Kollektivsubjekte im Angesicht gesellschaftlicher Adressierungen innere Struktur und Eigensinn, um ein Verhältnis zu sich selbst und zu anderen zu gewinnen.

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Tobias Peter, Thomas Alkemeyer, Ulrich Bröckling

Das sind Fragen, die üblicherweise im Rahmen der Sozialpsychologie, Organisations- und Gruppensoziologie oder der Managementtheorie unter Stichworten wie Integration/Desintegration, Organisationskultur, Isomorphismus oder corporate branding verhandelt werden. Was versprechen wir uns davon, wenn wir nun subjektivierungstheoretisch in diesen Feldern wildern? Was ist der spezifische Zugang einer Analyse von Praktiken der »kollektiven Subjektivierung«? Inwiefern ist es plausibel, von der Subjektivierung von Kollektiven zu sprechen? Kann es überhaupt Subjektivierung »jenseits des Individuums« geben? Und welchen Erkenntnisgewinn erwarten wir davon, wenn wir die Frage nach den Formen der Subjektivierung auf die Untersuchung von Gruppen, Organisationen oder Gemeinschaften ausweiten? Der vorliegende Band macht unterschiedliche theoretische Perspektivierungen und empirisch fundierte Zugänge der Subjektivierungsforschung für die interdisziplinäre Untersuchung kollektiver Akteure fruchtbar. Den Ausgangspunkt der einleitenden Theoretischen Perspektiven bildet die gleichermaßen selbstverständliche wie irritierende Vorstellung, dass Kollektive subjektiviert werden und sich subjektivieren. In ihren einführenden Überlegungen beleuchten Thomas Alkemeyer und Ulrich Bröckling mögliche Untersuchungsachsen und die praxistheoretische Dimension einer Subjektivierung von Kollektiven. Tobias Peter sucht die Grundzüge einer systemtheoretischen Perspektive der Subjektivierung kollektiver Subjekte zu entwickeln. Ausgehend vom Konzept der Adressierung arbeitet er die verschiedenen Formen und Steuerungsmechanismen kollektiver Subjektivität heraus. Felix Heidenreich geht schließlich der Frage nach, wie Modelle individueller Subjektivität zur Norm für kollektive Subjekte erklärt werden. Auf der Grundlage metapherntheoretischer Überlegungen untersucht er das kollektivierende Bild von der unabschließbaren, ewigen Baustelle. An grundlegende subjektivierungstheoretische Fragestellungen schließt auch das nächste Kapitel mit dem Fokus auf Politische Kollektivsubjekte an. Franziska Martinsen und Oliver Flügel-Martinsen beschäftigen sich mit dem Spannungsfeld der politischen Subjektivation zwischen Subjektkonstitution und widerständiger Subjektperformanz. In der Auseinandersetzung mit Michel Foucault, Judith Butler und Jacques Rancière diskutieren sie die Möglichkeiten kollektiver politischer Handlungsfähigkeit. Aus einer ähnlichen Perspektive problematisiert Hannes Glück am Beispiel des »(unmöglichen) Volkes« die Selbstkonstitution durch kollektive Annahme eines strittigen Namens. Dabei arbeitet er heraus, wie politische Subjektivierungsprozesse zu ausschließenden Identitäten wie auch zu emanzipatorischen Kollektiven führen können. Über die politische Subjektkategorie der Nation reflektiert Wolfgang Fach in seiner Lektüre politischer Theorien. Er spürt den wechselhaften Rhetoriken von Staat und Gemeinschaft nach, mit denen die ›Zumutung‹ der Nation subjektiviert wird.

Einführung

Ebenfalls auf der Ebene großformatiger Kollektive lassen sich Soziale Bewegungen lokalisieren. So fragt Imke Schmincke in einer historischen Rekonstruktion, wie das konstitutive kollektive Subjekt ›Frauen‹ mobilisiert, verfügbar und adressierbar gemacht werden konnte. Sie zeigt pointiert heraus, dass bei der kollektiven Subjektivierung der Frauenbewegung nicht nur Unterwerfung und Autonomie, sondern auch individuelle und kollektive Subjektivierung eng miteinander verzahnt sind. Helene Gerhards beleuchtet am Beispiel von Patientenbewegungen, dass die kollektive Subjektivierung von sozialen Bewegungen in einer spezifischen politischen Problematisierung gründet. Dabei wird deutlich, dass die (Selbst-)Zuschreibungen von Subjektförmigkeit bzw. Akteursfähigkeit auf Patientenbewegungen mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Umgang mit Patienten als Individualsubjekten variiert. Wie wirkmächtig die Zuschreibung von Akteursfähigkeit auf Unternehmen, juristische Personen oder Bildungseinrichtungen ist, zeigen die Beiträge zu Organisationalen Kollektivsubjekten. Eine geradezu klassische Figur kollektiver Subjektivität thematisiert Doris Schweitzer mit der Subjektwerdung der juristischen Person. Sie arbeitet als wesentliche Dimensionen einer problematisierenden Subjektivierung juristischer Personen den Kampf um die Anerkennung als Rechtssubjekt und die Praktiken der Selbst- und Fremdanrufung der juristischen Person heraus. In Auseinandersetzung mit dem Neoinstitutionalismus untersucht Verena Eickhoff, mit welchen Anrufungen, Instrumenten und Akteurskonstruktionen Hochschulen im Rahmen des Diversity-Diskurses als Kollektivakteure subjektiviert werden. Anschließend an die kritische Managementforschung nimmt Ronald Hartz betriebswirtschaftliche Vergemeinschaftungsprozesse nach dem Motto »Wir, die Firma« in den Blick und fragt, mit welchen Anrufungen und kulturellen Praktiken versucht wird, Unternehmen zu einer verschworenen Gemeinschaft zu machen. Wie mit dem ursprünglich betriebswirtschaftlichen Instrument der Zielvereinbarung die ›Produktion der Schule‹ organisiert wird, analysieren Melanie Schmidt und Daniel Diegmann. Sie zeigen, wie Schulen nicht nur kontraktualistisch gesteuert, sondern qua Vereinbarung auch als kollektive Subjekte hervorgebracht werden. Intensiv werden kollektive Subjekte auf der Ebene von Mikrokollektiven, also in Gruppen und ihren Interaktionen, gebildet und erfahren. An den von Séverine Marguin und Cornelia Schendzielorz analysierten Künstlerkollektiven wird deutlich, wie die individuellen Identitäten von Künstlern in einer Gruppe aufgehen, so dass sie eine »kollektive Singularität« mit einer gemeinsamen Autorschaft bilden. Die Autorinnen arbeiten die Kohäsionsfaktoren und die Sollbruchstellen kollektiver Künstlersubjekte an der Grenze und im Widerstand zur individuellen Künstlerperson heraus. Auf welche Weise im Jazz eine kollektive Subjektivität durch Improvisation entsteht, beschreibt Christian Müller. Er bestimmt anhand von Interviews mit Musikern Subjektivierungs-

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Tobias Peter, Thomas Alkemeyer, Ulrich Bröckling

dynamiken zwischen Handlungsfähigkeit und Unterordnung, in denen eine wirkmächtige kollektive Akteurschaft gerade aufgrund eingeschränkter konkreter Handlungsabsichten entsteht. In praxistheoretischer Perspektive untersucht schließlich Matthias Michaeler, in welchen sozio-materiellen Arrangements und mittels welcher Techniken sich Sportmannschaften als spielfähige Kollektivkörper konstituieren. Anhand von Volleyballteams macht er nachvollziehbar, dass kollektive Subjektivität aus der Praxis wechselseitiger Befähigung und anerkennender Adressierung von individuellen Subjekten resultiert. Abschließend problematisieren Nikolaus Buschmann und Norbert Ricken in ihrem Kommentar die Forschungsperspektive der Subjektivierung von Kollektiven. Sie machen deutlich, welche neuen Blickwinkel auf Prozesse der ›Kollektivierung‹ es ermöglicht, hinterfragen aber auch, was es aus dem Blick geraten lässt und welche Fallstricke es birgt. Die von ihnen umrissenen Fragedimensionen und Denkbahnen eröffnen zugleich ein Potential für weitere, unterschiedliche Perspektivierungen kollektiver Subjektivierung. Dieser Band erhebt nicht den Anspruch, das Feld der Subjektivierung von Kollektivsubjekten umfassend abzustecken. Vielmehr werden mit den Beiträgen auch Fragen aufgeworfen, Leerstellen markiert und mögliche Anschlüsse für weitere Forschungen sichtbar: Inwiefern, unter welchen Bedingungen und Fragestellungen ist es plausibel und sinnvoll, etwa auch Netzwerke, Generationen oder Städte als kollektive Subjekte zu fassen? Auf welche Weise lassen sich neben Prozessen gelingender auch scheiternde Subjektivierungen von Kollektiven beschreiben? Inwiefern beziehen sich kollektive Subjekte wie Gruppen, Organisationen oder Nationen aufeinander? Im Hinblick auf welche Fragestellungen kann das Konzept der Subjektivierung von Kollektiven einen eigenen Beitrag nicht nur zur Subjektivierungsforschung, sondern auch zu organisationssoziologischen, diskurstheoretischen oder praxeologischen Forschungsperspektiven leisten? Im Sinne dieser und weiterer Fragen versteht sich der vorliegende Band nicht als eine abschließende Antwort, sondern als ein Impuls Impuls für weitere Fragen zur Subjektivierung von Kollektivsubjekten. Er ist Ergebnis einer gleichnamigen Tagung, die im Frühjahr 2016 in Leipzig von den Herausgebern gemeinsam mit Martin Saar organisiert wurde. Ihm danken wir nicht nur deshalb, weil er uns bei Organisation zur Seite stand. Mit seinen Zweifeln, ob sich der Subjektivierungbegriff zur Untersuchung von Kollektivphänomenen eignet, war er ebenso wie Volker Schürmann, Irene Paula-Villa und viele andere ein wichtiger Diskussionspartner, der geholfen hat, das Anliegen dieses Bandes zu schärfen.1 Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir Jennifer Röwekampf und Jan Reichelt, die für diese Tagung unersetzlich waren und gemeinsam mit Nadine Glaser die Manuskripte für den 1 | Vgl. den Tagungsbericht von Karsten Schubert, »Widerstand im Kollektiv«, in: Zeitschrift für Politische Theorie 9.1 (2016), S. 136-139.

Einführung

Druck vorbereitet haben. Unsere gemeinsamen Erfahrungen der Zusammenarbeit bei der Tagung sowie der Arbeit an diesem Band zeigen eindrücklich, dass Kollektivität mehr als die Summe der einzelnen Teile ausmacht.

Hinweis: Den Herausgebern ist es ein Anliegen, dass die Beiträge die Vielfalt der Geschlechter abbilden und dabei zugleich lesbar bleiben. Dieser Anspruch wird – unter Verzicht auf eine einheitliche Regelung – auf je eigene Weise in den Beiträgen eingelöst.

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Theoretische Perspektiven

Jenseits des Individuums Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte. Ein Forschungsprogramm Thomas Alkemeyer/Ulrich Bröckling

S ubjek tivierung jenseits des I ndividuums ? Subjekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie handeln und ihnen Handlungsmacht zugeschrieben wird. Sie beziehen sich reflexiv auf sich selbst und ihre Umwelt, begreifen sich als Einheiten und werden auch von ihrer Umwelt als Einheiten wahrgenommen. Subjekte sind adressierbar, haben einen Namen und eine Biografie, sie besitzen eine körperlich-leibliche Materialität und entwickeln einen spezifischen Habitus. Zugleich sind Subjekte weder transzendentale Quellpunkte aller Erfahrung noch autonome Schöpfer ihrer selbst. Ein Subjekt ist man nicht, man wird dazu gemacht und muss sich selbst dazu machen. Subjekte sind in diesem Sinne Effekte von Subjektivierungspraktiken. So etwa lautet die Kürzestfassung philosophischer, kultur- und sozialwissenschaftlicher Subjekt- bzw. Subjektivierungstheorien der vergangenen Jahrzehnte. Versucht man die Diskussionen zu überblicken, dann hat sich jene Verschiebung fort und durchgesetzt, die Michel Foucault 1982 in seinem vorletzten Vorlesungszyklus am Collège de France rückblickend für eine der drei Achsen seines Werks konstatierte: »von der Frage nach dem Subjekt zur Analyse der Formen der Subjektivierung«. Statt »sich auf eine Theorie des Subjekts zu beziehen«, müsse man, so erklärte er, »die verschiedenen Formen analysieren, durch die das Individuum dazu gelangt, sich selbst als Subjekt zu konstituieren, […] und diese Formen der Subjektivierung anhand der Techniken und Technologien des Selbstverständnisses oder, wenn Sie so wollen, anhand dessen […] untersuchen, was man die Pragmatik des Selbst nennen könnte« (Foucault 2009: 18). Diesem Programm sind seither viele gefolgt – mit oder ohne Berufung auf Foucault. Eine große Zahl von Studien widmet sich der Analytik von Subjektivierungsweisen und den durch diese konstituierten Subjektposi-

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tionen; sie untersuchen Anrufungen und Adressierungen, gouvernementale Praktiken der Selbst- und Fremdführung oder Technologien des Selbst. Fraglose und deshalb wohl unausgesprochene Einigkeit besteht in all diesen Forschungen darüber, dass es Individuen sind, die subjektiviert werden und sich subjektivieren. Das Subjekt der Subjektivierung ist der bzw. die Einzelne, nicht im Sinne der singulären Eva Meier oder Peter Müller, sondern von Menschen im Singular. Es bedarf daher der Erläuterung, von der »Subjektivierung kollektiver Subjekte« zu sprechen. Kann es überhaupt Subjektivierung »jenseits der Person« geben? Und welchen Erkenntnisgewinn verspricht es, die Frage nach den Formen der Subjektivierung auf die Untersuchung von Kollektiven, von Gruppen, Organisationen, Netzwerken, Gemeinschaften und Entitäten wie Städten oder Nationen auszuweiten? Kollektive als Subjekte aufzufassen, ist keineswegs ungewöhnlich: Das Rechtssystem kennt seit langem neben den natürlichen auch juristische Personen und spricht ihnen Vertrags- und Haftungsfähigkeit zu. Die Rational Choice Theorie, bekannt für ihren methodologischen Individualismus, arbeitet bezogen auf Organisationen mit dem Konzept des »korporativen Akteurs« (Coleman 1979). Und die Zeiten, als Marxisten über das Proletariat als revolutionäres »Subjekt der Geschichte« (z.B. Hahn/Sandkühler 1980) räsonierten, sind auch noch nicht so lange vorbei. Seit den Tagen der Human-RelationsBewegung (vgl. Mayo 1945) gilt es als ausgemacht, dass Arbeitsgruppen ihre Leistungen dadurch steigern, dass sie Teamgeist entwickeln und ihn pflegen, mit anderen Worten, dass sie zum Kollektivsubjekt (gemacht) werden. Marketingspezialisten wiederum postulieren, Unternehmen benötigten eine corporate identity, um Mitarbeiter und Kunden zu binden. Eine Vorstellung, die Gilles Deleuze (1993: 260) zur entsetzten Feststellung veranlasste, die Botschaft, »dass die Unternehmen eine Seele haben«, sei wirklich »die größte Schreckens-Meldung der Welt«. Ein Vierteljahrhundert später wird dieser Schrecken freilich noch übertroffen von den grassierenden Anrufungen nationaler Identität, die uns keineswegs nur Rechtspopulisten zumuten. Im Alltagsdiskurs wimmelt es ohnehin von Kollektivsubjekten, seien es Sportclubs (Schalke), Bands (Rolling Stones), religiöse Verbände (katholische Kirche), Städte (Berlin, »arm, aber sexy«), soziale Bewegungen (Occupy, »we are the 99 %«), virtuelle Communities (World of Warcraft-Gilde), Bildungsinstitutionen (die Mäusegruppe in der Kita »Villa Kunterbunt«), Interessengruppen (IG Metall), Betroffenengemeinschaften (Anonyme Alkoholiker), Familien (»die Müllers«) oder andere Zusammenschlüsse. Kurzum: Man muss kein Vertreter organizistischer Sozialtheorien sein, um den Begriff des Subjekts mehr als nur metaphorisch auf Kollektive zu beziehen. Irritierend ist dagegen zumindest auf den ersten Blick die Vorstellung, dass diese Kollektivsubjekte auch subjektiviert werden und sich subjektivieren. Wo-

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her rührt dieses Befremden? Da ist zum einen die Bahnung der Theoriediskussion in den Spuren von Michel Foucault, Louis Althusser und Judith Butler, die Subjektivierung auf die gesellschaftliche Anrufung des Einzelnen und die Formung seines Verhältnisses zu sich selbst eng führt. Zum anderen fungieren häufig gerade Organisationen und Gemeinschaften selbst als subjektivierende Instanzen: Sie adressieren ihre Mitglieder oder auch Außenstehende in spezifischer Weise, sie sorgen dafür, dass diese sich selbst entsprechend ausund zurichten, oder sie provozieren widerständige Subjektpositionen, die sich den institutionellen Erwartungen zu entziehen oder sich gegen diese zu wehren versuchen. Wenn Kollektive subjektivieren, so der Kurzschluss, können sie selbst nicht zugleich Gegenstand von Subjektivierungsanstrengungen sein. Demgegenüber soll hier ausgelotet werden, inwieweit sich der für die Untersuchung individueller Selbstverhältnisse entwickelte Werkzeugkasten der Subjektivierungstheorien auch für die Analyse von Kollektiven nutzbar machen lässt und wie er zu diesem Zweck erweitert werden müsste. Wir fragen also nicht nach der Subjektivierung in, sondern von Kollektiven. Es geht um die Anrufung und performative Fabrikation eines Wir, aber auch um das Fehlschlagen entsprechender Anstrengungen. Es geht um die widersprüchlichen Effekte solcher Gemeinschaftsbildungen, um die Praktiken der Mobilisierung und internen Strukturbildung, aber auch kollektiver Selbstsorge, mit denen Organisationen, Netzwerke, Gruppen oder Communities sich auf sich selbst beziehen und Kontur gewinnen. Es geht schließlich um den Eigensinn kollektiver Akteure, welche ihr Selbstverhältnis aus der Absetzung von gesellschaftlichen Adressierungen beziehen. Das sind Fragen, die üblicherweise im Rahmen der Organisations- und Gruppensoziologie, der Sozialpsychologie und -philosophie, der Politikwissenschaft oder der Managementtheorie unter Stichworten wie Integration/Desintegration, Kohäsion, kollektive Identität und Intentionalität, Organisationskultur, Isomorphismus oder corporate branding verhandelt werden. Eine subjektivierungstheoretische Auseinandersetzung mit Kollektiven kann an diese selbst wiederum heterogenen Zugänge anschließen, rückt allerdings andere Aspekte in den Fokus. Die folgenden Thesen präsentieren skizzenhaft mögliche Analyseachsen der Subjektivierung kollektiver Akteure.

A nalyse achsen Zeitschleife: Subjektanrufungen, gleich ob sie sich auf Individuen oder Kollektive beziehen, operieren mit einer paradoxen Zeitstruktur, die ein »immer schon« mit einem »erst noch« verbindet: Der Einzelne bzw. das Kollektiv soll werden, was er bzw. es schon ist. Jenes Subjekt, das die Anrufung hervorbringen will, setzt sie zugleich voraus. So entsteht, freilich nur sofern der Ruf Reso-

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nanz findet, eine selbstverstärkende Dynamik des Selbstbezugs: Das angerufene Subjekt sieht sich gehalten, dem zu entsprechen, als was es angesprochen wurde, ohne dieses Ziel jemals vollständig erreichen zu können. Es bleibt ein Überschuss, der weitere Anstrengungen erheischt. Diese Zeitschleife macht es, dass Subjektivierung wie ein Sog funktioniert: Man muss sie als Kraft oder besser als Bündel von Kräften verstehen, die eine unabschließbare Bewegung der Selbsttransformation in Gang setzen (sollen). Auch kollektive Subjekte sind, wie jede Mobilisierung von Volk, Nation oder anderen Glaubens- und Kampfgemeinschaften vorführt, stets à venir; sie befinden sich im Modus des Werdens, nicht des Seins. Assemblagen: Wenn schon das individuelle Subjekt, mit Paolo Virno (2005: 80) gesprochen, »ein Schlachtfeld« und, nach Deleuze (1993: 258) gesprochen, »dividuell« geworden ist, so gilt dies erst recht für Kollektive. Das Subjekt der Subjektivierung ist weder ein homogenes Ganzes, auf das von außen eingewirkt wird, noch der identifizierbare Quellpunkt von Selbstformungsimpulsen. Das konstituierende Moment ist für Kollektive noch wichtiger als für Personen, deren Körperlichkeit, Sprechen und Handeln ja die Suggestion einer Einheit nahelegt, an welche die Subjektivierungspraktiken anschließen können. Jenseits solcher Einheitsfiktionen, auf die es freilich angewiesen ist, hat man das individuelle wie das kollektive Subjekt als Assemblage unterschiedlicher Elemente – Diskurse, Affekte, Artefakte, Praktiken – zu begreifen. Subjektivierung lässt sich folglich als der Prozess verstehen, in dem diese Elemente aufeinander einwirken und sich temporär formieren, ohne dauerhaft eine feste Gestalt anzunehmen. Kollektive Subjekte setzen sich keineswegs nur aus menschlichen Akteuren zusammen, sie bilden vielmehr komplexe Anordnungen verschiedener Entitäten von unterschiedlicher Handlungsmacht, die sich verbinden, einander aber auch abstoßen, die einander affizieren und voneinander affiziert werden. Subjektivieren bedeutet versammeln und wieder zu trennen, zu ordnen und umzuordnen, und immer gibt es mehr als nur eine Ordnungsinstanz. Das Arrangement und Re-Arrangement der Assemblagen folgt keinem Generalplan, diese emergieren vielmehr als Effekte sich kreuzender, überlagernder, einander verstärkender oder sich wechselseitig neutralisierender Kräfte. Analysen von Subjektivierungsprozessen ähneln deshalb der Kartierung von Magnetfeldern oder Strömungslinien. Heteronomie und Autonomie: Die Semantik des Subjekts verbindet Gegensätzliches. Sie verweist sowohl auf das Unterworfene wie auf das Zugrundeliegende. Subjektivierung bedeutet deshalb gleichermaßen Zurichtung wie Selbstfundierung. Autonomie und Heteronomie stehen dabei nicht in einem Verhältnis wechselseitiger Begrenzung, sondern ermöglichen einander. Auch für Organisationen, Gruppen und Gemeinschaften gilt: Wären sie vollständig selbstbestimmt, brauchte es keine Subjektivierungsanstrengungen, fehlte ihnen jegliche Eigenständigkeit, könnte es keine geben. Subjektivierung ist ein

Jenseits des Individuums

zweiseitiger Vorgang: Die Möglichkeiten, ein Kollektiv zu formen, stützen sich auf seine Befähigung zur Selbstformung. Umgekehrt hängt die Selbstkonstitution eines Kollektivsubjekts daran, dass es von anderen als ein solches adressiert und damit anerkannt wird. Keine Agency ohne Agentivierung, ohne die Zurechnung von Urheberschaft oder Wirkmächtigkeit auf einen Akteur (vgl. Bethmann et al. 2012). Die rechtliche Stellung juristischer Personen liefert dafür ebenso reiches Anschauungsmaterial wie die Prozesse der Nationalstaatsbildung. Faltung: Subjektivierung ist ein reflexiver Vorgang bzw. der Vorgang des Reflexiv-Werdens, sie »vollzieht sich durch Faltung« (Deleuze 1987: 146). Das sich subjektivierende und im Prozess der Subjektivierung erst konstituierende Subjekt biegt die Kräfte um, die auf es einwirken, richtet sie auf sich selbst und modifiziert ihre Ansatzpunkte, Richtungen und Intensitäten. Affizieren, Affiziertwerden und Sich-durch-sich-Affizieren kommen zusammen. Mit dieser Trias lassen sich gleichermaßen die Selbstoptimierungsexerzitien eines Life-Loggers wie die Wettbewerbsstrategien eines Unternehmens beschreiben, das sich gegen seine Konkurrenten zu behaupten versucht, indem es Kundenbedürfnisse antizipiert, Nischen sucht, Alleinstellungsmerkmale entwickelt, sich als Marke präsentiert – und vielleicht auch in seinen internen Abläufen Marktmechanismen implementiert. Die Metapher der Falte unterläuft die auch für kollektive Subjekte selbstverständliche Vorstellung eines Innen und Außen. Das Äußere ist das gewendete Innere und umgekehrt. Ein Subjekt als Falte besitzt weder einen authentischen Kern, den es freizulegen gilt, noch eine Fassade, hinter der sich dieser verbirgt. Es ist pure Relationalität oder, in Kierkegaards Formulierung, »ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« (Kierkegaard 1984 [1849]: 13). Die Subjektivierung kollektiver Akteure in dieser Perspektive zu analysieren, bedeutet Beziehungsgeflechte zu explizieren statt Elemente zu einem Ganzen zusammenzufügen oder Zugehörigkeiten und Nichtzugehörigkeiten zu definieren. Iteration: Judith Butler hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Anrufung des Subjekts kein einmaliger Akt, sondern ein iterativer Prozess ist. Subjektivierung vollzieht sich in Wiederholung und Variation. Immer wieder, wenn auch niemals exakt so wie zuvor, ergeht der Ruf; immer wieder, wenn auch niemals in genau derselben Weise, drehen die Angerufenen sich um. Man kann das als Konditionierungs- und Selbstkonditionierungsvorgang verstehen: Mit jeder Wiederholung prägt sich der im »He, Sie da!« des Polizisten artikulierte Appell tiefer ein. Zugleich sind die iterativ zugewiesenen Subjektpositionen niemals stabil. Sie werden in der Wiederholung fortwährend angereichert, unterbrochen, verschoben, übersetzt. In den Wiederholungen und Zitationen von Praktiken, Gesten und Sprechweisen formen sich einerseits Subjekte mit einer auch transsituativ erkennbaren und anerkennbaren, jedoch niemals vollkommen identischen Gestalt. Andererseits eröffnen diese performativen Va-

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riationen Spielräume für die Destabilisierung jener Autoritäten, von denen die Anrufung ausgeht (Butler 2001: 101-123, 2003: 52-67). Die Unhintergehbarkeit des doing birgt ebenso unhintergehbar die Möglichkeit eines undoing. Überträgt man diese Weiterführung von Althussers Anrufungskonzept vom Individuum auf kollektive Akteure, wird man den psychoanalytischen Rahmen von Butlers Argument verlassen müssen. Nicht die initiale Erfahrung absoluten Ausgesetztseins wie beim menschlichen Säugling bildet den Ausgangspunkt der Subjektivierung, vielmehr sind es die fortgesetzten Bemühungen um kommunikative Anschlussfähigkeit, um Affizierbarkeit und Affizierungsfähigkeit und damit um Anerkennbarkeit, die Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen veranlassen, auf die Anrufung zu reagieren. Auch kollektive Subjekte existieren nur so lange, wie sie als solche adressiert, affiziert und anerkannt werden. Ereignis: Beschreibt Butler Subjektivierung als sukzessive, wenn auch fragile Fixierung von Positionierungen und Selbstpositionierungen, so betont Jacques Rancière ihren disruptiven Charakter. Der abtrünnige Schüler und Mitarbeiter Althussers greift dessen Urszene der Subjektivierung auf, modifiziert sie allerdings in mehrfacher Hinsicht. Zum einen besetzt er die Szene mit mehr als nur zwei Akteuren: Mehr als nur ein Polizist ruft, und mehr als nur ein Passant wird angerufen. Zum anderen deutet er an, warum sich die Passanten auf der Straße befinden: Es handelt sich um Teilnehmer einer Demonstration. Drittens schließlich rufen die Polizisten nicht »He, Sie da!«, sondern befehlen: »Weiterfahren! Es gibt nichts zu sehen« (Rancière 2008: 33). Subjektivierung ist hier nicht eine Anrufung im Sinne Althussers, sondern deren Zurückweisung, das Moment der Befreiung vom Bann sowohl des Rufs wie der Gewissheit, gerufen worden zu sein. Rancière fasst die Szene als politisches Ereignis, als Akt kollektiver Auflehnung gegen das Regime der Polizei, welche die Welt nach ihren Regeln aufteilt und jedem seine Position zuweist. Die Straße ist für den Autoverkehr da und eben nicht für Demonstranten; die einen befehlen, die anderen haben zu folgen. Politik und damit Subjektivierung ereignen sich, wenn diejenigen, die bloß Objekt polizeilicher Regulierung waren, ihren Anspruch auf Teilhabe und Anerkennung als Subjekt behaupten, indem sie dem Befehl, die Straße zu räumen, nicht nachkommen. Subjektivierung bedeutet hier reclaim the street, bedeutet Störung, Dissens, Einspruch gegen die Anrufungen der Macht. Rancières Subjekt der Subjektivierung ist kein Resultat des Ordnens (der äußeren Polizisten) und Sich-selbst-Ordnens (eines inneren Polizisten), sondern des Außerkraftsetzens der gegebenen Ordnung durch ein sich in diesem Akt der Selbstermächtigung konstituierendes Wir. Ein solches Verständnis von Subjektivierung löst sich vom Modell des Individuums und insistiert zugleich auf den Nexus von Subjekt und Emanzipation – einer Emanzipation, die das personale Subjekt nicht

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im Kollektiv aufgehen lässt, aber auch keine unhintergehbare Frontstellung von Einzelnem und Gemeinschaft unterstellt.

P r a xeologie Die skizzierten Analyseachsen öffnen die Untersuchung von Prozessen der Subjektivierung auch für praxeologische Zugänge, die der (Selbst-)Bildung kollektiver Subjekte in den »Praxis/Diskurs-Formationen« (Reckwitz 2008) unterschiedlicher Zeiträume und Sozialbereiche historisch-soziologisch nachgehen – beim Arbeiten und Spielen, im Sport und in der Bildung, bei Versammlungen und Demonstrationen (Butler 2016). Das Forschungsinteresse gilt dann der Besonderheit jener Umstände und Praktiken im Sinne sozial verfasster Verknüpfungen symbolischer und materieller Elemente, Kräfte und Aktivitäten, in denen ein kollektives Subjekt sich zeigt und somit konstituiert: den konkreten Räumen, Orten und Schauplätzen der Subjektivierung, den beteiligten Dingen und Artefakten, der Körperlichkeit und Affektivität kollektiver Selbstbildung, dem jeweiligen Verhältnis zwischen dem Kollektivsubjekt und seinen ›Gliedern‹, der Stabilität und Instabilität des sich als Subjekt begreifenden Kollektivs, den situierten affirmativen, subversiven oder kritischen Wirkungen seines Auftretens und Agierens. Räume: Subjektivierungen sind nie ortlos, sondern vollziehen sich in konkreten Umgebungen und auf besonderen Schauplätzen. Sie werden einerseits durch die sozio-materiellen Strukturen sowie die Atmosphäre der Räume beeinflusst und vermittelt, in denen sie sich vollziehen. Andererseits gehen sie mit einer konstruktiven Aneignung oder Subversion dieser räumlichen Strukturen einher. So beantworten Demonstranten die ›polizeiliche‹ Raumkontrolle ›von oben‹ mit einer eigenen Raumpraxis ›von unten‹. Unter dem Blickwinkel der Subjektivierung interessiert vor allem das Wechselspiel zwischen der Stimulierung, Orientierung und Bahnung des Geschehens durch die Ordnungen und Atmosphären gegebener Räume und Orte einerseits und dem Umgang mit diesen Ordnungen und Atmosphären durch eine Menge von Menschen andererseits, die in ihren Praktiken des Aneignens, Umordnens, Neudeutens oder subversiven Überschreitens überhaupt erst als Kollektivsubjekt in Erscheinung tritt. Objekte: Menschliche Kollektive bilden und formen sich unter der Mitwirkung nicht-menschlicher Wesen. Bei der Subjektivierung von Individuen leiten die Eigenschaften, Formen und gegenständlichen Bedeutungen (Holzkamp 1976: 25ff.) der in Praktiken involvierten Dinge und Artefakte das Wahrnehmen und die Tätigkeiten über die jeweilige Situation hinaus an und beeinflussen zudem, unter welchen Umständen diese dem Handeln Widerstände entgegensetzen. Unter dem Gesichtspunkt der Subjektivierung kollektiver

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Subjekte treten die Dinge darüber hinaus als Medien der Kollektivierung hervor. Sie vermitteln den Zusammenschluss von Menschen zu einer Einheit, die sich auch selbst als eine Einheit begreift und als eine solche auftritt und agiert: Musikinstrumente vermitteln das Engagement und Zusammenspiel in einem Jazz-Ensemble, Ball und Netz die Selbstorganisation der Spielerinnen und der Mannschaftsteile in einem Volleyballteam, Flugschriften und Demonstrationsplakate die Einheit einer politischen Versammlung. Um als Kollektivsubjekte anerkannt zu werden, müssen Kollektive ihre Aktivitäten darüber hinaus so für andere darstellen und verständlich machen, dass ihnen eine Einheit (der Intention, der Einstellung, des Handelns usw.) zuerkannt wird. Dazu brauchen sie materielle Repräsentationen: keine Zuschreibung einer kollektiven Absicht ohne deren körperlich-gestische oder sprachliche Mitteilung für andere, keine Nation ohne Flagge, kein Unternehmen ohne Logo. Die Konstitution und Selbstorganisation einer Menge heterogener Individuen als Kollektivsubjekt geht nicht auf eine unbedingte »Willkür-Freiheit« (Rückriem/Schürmann 2012: 11) oder eine der Praxis vorausgehende »kollektive Intentionalität« (Schmid/Schweikart 2009) zurück, deren Realisierung durch materielle Dinge entweder ermöglicht oder aber eingeschränkt wird. Freiheit und Intentionalität werden vielmehr durch die beteiligten Objekte konstituiert: Musikinstrumente sind kein bloßes Mittel oder nur materielle Voraussetzung der Intention, gemeinsam Musik zu machen, sondern Bestimmungen dieser Intention (Schürmann 2014: 218f.) und somit ein unabdingbares Element der Tätigkeit selbst, das heißt in diesem Fall, Musik zu machen und nicht etwa Sport zu treiben. Auf der Folie dieser Unterscheidung zwischen einem Handeln unter (einschränkenden oder ermöglichenden) Bedingungen und einem materiell bedingten Handeln kann danach gefragt werden, inwiefern ein im Sinne Jacques Rancières (2002, 2006) politischer Akt kollektiver Überschreitung konstitutiv durch eben jene sinnliche Ordnung der Dinge bedingt ist, die durch diesen Akt ›entordnet‹ werden soll: Der Blick wird dafür geschärft, dass auch eine widerständige Subjektivität, die etablierte Ordnungen überschreiten und die Grenzen des Erwartbaren durchbrechen will, durch diese Ordnungen gebunden, auf sie verwiesen bleibt. Anders als die Akteur-Netzwerk-Theorie geht dieser Band jedoch nicht den netzwerkartigen Verknüpfungen von humans und nonhumans (›natürliche‹ Dinge, artifizielle Objekte, Tiere, Pflanze, Diskurse) zu hybriden Assemblagen nach, sondern der performativen Fabrikation sich selbst als Subjekte begreifender sozialer Kollektive in den Praktiken der verschiedenen gesellschaftlichen Felder. Es geht also nicht darum, menschliche und nichtmenschliche Wesen als potentielle Initiatoren von Handlungsketten gleich zu behandeln und so den traditionellen soziologischen Begriff der Gesellschaft herauszufordern. Vielmehr richtet sich das Interesse darauf, wie sich menschliche in ihrem Zu-

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sammenspiel mit nichtmenschlichen Wesen als diese oder jene Subjekte zu erkennen geben, identifizierbar und verstehbar machen. Körper: Räume und Dinge sind auf den lebendigen und gelebten menschlichen Körper bezogen: Sie organisieren, kanalisieren und verändern die praktischen Weltbezüge unhintergehbar verkörperter und somit stets materiell mit der gegenständlichen Welt verwickelter Subjekte. Unter dem Blickwinkel einer in praktischen Weltbezügen erfolgenden Subjektivierung tritt der menschliche Körper nicht nur als ein Objekt von Repression, Disziplinierung oder (selbst-) technologischer Gestaltung in den Blick, sondern auch als die grundlegende Bedingung des Weltzugangs und somit einer Selbstzuwendung, in der sich ein ›Irgendjemand‹ zu einem intelligiblen Subjekt gesellschaftlicher Ordnung macht. Anders als ein Individuum besitzt ein soziales Kollektiv jedoch nicht einen Körper, sondern setzt sich aus vielen, heterogenen Körpern zusammen. Wie die Psychoanalyse betont (prominent Lacan 1986 [1948]), ist zwar auch die Subjektivierung von Individuen auf eine Einheitsfiktion angewiesen, die immer wieder aufs Neue in den diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken verschiedener sozialer Felder und Lebensformen bestätigt werden muss. Allerdings erlangt die Einheitsfiktion eines Individuums bereits durch die sichtbare Grenzkontur seines Körpers eine gewisse Evidenz. Die Als-Ob-Einheit von Kollektivsubjekten kann sich hingegen nicht unbedingt auf eine von außen sichtbare, klar konturierte körperliche Gestalt stützen. Hier muss eine solche, die Einheitsfiktion performativ beglaubigende Gestalt vielmehr mühsam errungen werden. Ihr Entstehen setzt voraus, dass sich verschiedenartige, unterschiedlich zueinander positionierte Individualkörper vorübergehend zu einem »pluralen Körper« zusammenfinden und sich selbst als dessen Momente wahrnehmen, erfahren und verstehen (Butler 2016). Erst die Selbsterfahrung und das Selbstverständnis als ein die individuellen Körper übergreifender, pluraler Körper befähigen dazu, gemeinsam zu handeln, geteilte Begehren und Wünsche zu artikulieren und auch sprachlich als ein Wir in Erscheinung zu treten: Die in der internen Divergenz der von den einzelnen Körpern exklusiv eingenommenen Positionen – es können nicht zwei Körper zur selben Zeit am selben Ort sein – und Perspektiven unvermeidlich angelegten Konfliktherde müssen ›kalt‹ bleiben, und es müssen Techniken entwickelt werden, um Konflikte zu befrieden und Diversitätstoleranz sicherzustellen. Damit erhebt sich zum einen die Frage nach der Besonderheit jener Praktiken, die das Entstehen eines solchen pluralen Körpers ermöglichen oder begünstigen, zum anderen die Frage nach der Konnektivität der beteiligten Individualkörper, ihrer Anschlussfähigkeit füreinander. Mit dieser Frage treten Körper nicht als ahistorische und ungesellschaftliche Organismen in den Blick, sondern als gesellschaftliche Konstrukte, die in ihrer Sozialisation, in der Bildung, im Lernen, Üben und Trainieren spezifische Dispositionen entwickeln, deren Realisierung an die jeweiligen

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Umstände gebunden ist: Wer oder was kommt aufgrund seiner erworbenen Dispositionen überhaupt als Kandidat für die Teilnahme an einem historisch bestimmten Kollektivsubjekt in Frage? Was bedingt die Kopplungsfähigkeit der sich zu einem pluralen Körper zusammenfindenden individuellen Körper? Untersuchungsgegenstand der Subjektivierung von Kollektiven ist damit auch die Beziehung zwischen den Dispositionen (des Sich-Bewegens, Sich-Artikulierens, Auftretens usw.), die von den Individuen eingebracht werden müssen, damit sich überhaupt ein Kollektivsubjekt formen und bilden kann, sowie den materiell-symbolischen sowie normativen Ordnungen, in denen darüber entschieden wird, welche dieser Dispositionen als relevant selektiert und bewertet werden können. Affektivität: Menschliche Körper sind nicht nur Mittel der tätigen Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, sondern auch passiv berührbare, affizierbare Medien der Subjektivierung. Für die Subjektivierung kollektiver Subjekte dürfte eine Stimulation, Synchronisation und Ausrichtung der Affekte unerlässlich sein, um die Einheitsfiktion des Kollektivsubjekts sinnlich zu beglaubigen und im Gefühlsleben aller Beteiligten zu verankern. Bereits Émile Durkheim (1981 [1912]) hat in seiner Soziologie der religiösen Formen betont, dass sich gemeinsame Vorstellungen nur bilden und festigen können, wenn sie sich in materiellen Gegenständen, in Figuren, Worten, Klängen und Bewegungen verkörpern und somit sinnlich erfahrbar werden. Für das Erzeugen einer gefühlten Kollektivität, welche die einzelnen Körper umfasst und einschließt, spielen neben Räumen und Dingen vor allem gemeinsame Bewegungen – beim Arbeiten, Kämpfen, Spielen und Tanzen – eine zentrale Rolle als »Affektgeneratoren« (Reckwitz 2015: 41ff.): Bewegungen, vor allem ritualisierte, das heißt in annähernd derselben Form regelmäßig wiederholte Bewegungsabläufe erzeugen und modellieren Affekte, rufen im Körper ›gespeicherte‹ Erinnerungen hervor, schaffen auf diese Weise soziale Bindungen und konsolidieren die soziale Solidarität (vgl. McNeill 1995). In gemeinsamer körperlicher Bewegung entsteht eine spürbare soziale Einheit in Raum und Zeit, eine gemeinschaftliche Gestimmtheit, die das Entstehen eines Kollektivbewusstseins befördert, ohne das kollektive Handlungsfähigkeit nicht zu haben ist. Das tanzende Paar, die marschierende Truppe, die kickende Fußballmannschaft sind mehr und anderes als eine Summe von koordiniert agierenden Individuen; sie bilden Kollektivkörper in actu. Zusammen mit den Bewegungen werden auch die Affekte in gemeinsamer Praxis durch räumlich-materielle Arrangements und jene »teleo-affektiven Strukturen« (Schatzki 2002: 80) von Praktiken reguliert, die Ziele festlegen, Motive erzeugen, Stimmungen orientieren und dem Tun der Teilnehmer einen Sinn verleihen. Jedoch können sich aus der gemeinsamen Praxis überraschend auch neue Affektströme ergeben, die Routinen sprengen, zu Variationen führen und Anlass geben für Beunruhigung oder Reflexion, wie etwa

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in Situationen, in denen zuvor vornehmlich im Modus des Nebeneinanders Mitmachende von starken spontanen Erregungen der Lust oder der Panik ergriffen werden (Reckwitz 2015: 39f.). Stabilität und Instabilität: Überraschende oder experimentelle Veränderungen und Überschreitungen des Gewohnten kommen vor allem über die Situativität und Flüchtigkeit praktischer Vollzüge in den Blick. Eine solche performative Perspektive richtet sich statt auf die Absicherung des Geschehens durch diskursive Ordnungen oder materielle Strukturen auf die Kontingenz der Praxis sowie das fortlaufende Re-Produzieren, Re-Arrangieren, Unterlaufen und Konterkarieren bereits errungener Ordnungen und Subjektformen in den Wiederholungen von Praktiken. In den Hintergrund rückt hingegen die Transsituativität solcher Ausformungen, ihre Kontinuität und Stabilität über verschiedene Kontexte und Zeiträume hinweg. Unter diesem Blickwinkel wird die Verfestigung einer situativ auftauchenden Subjektposition zu einer überdauernden Identität vornehmlich mit Anpassung, Stabilisierung und Reproduktion assoziiert. Allerdings werfen empirische Forschungen, etwa zum Anerkennungsgeschehen in der Schule (Pille/Alkemeyer 2016), die Frage auf, ob und unter welchen Bedingungen womöglich erst eine solche Identität die ›relative‹ Autonomie und Souveränität eines Subjekts bedingt, die es diesem dann auch ermöglicht, sich kritisch zu jenen Verhältnissen zu verhalten, in denen sich seine Subjekthaftigkeit konstituiert. Subjektivität zeigt und bildet sich nicht nur performativ in Praktiken, sondern vor allem auch im Ausbalancieren jener heterogenen Erfahrungen, die zwischen verschiedenen Praktiken mit ihren disparaten, teilweise widersprüchlichen Anforderungsstrukturen und normativen Erwartungshorizonten gemacht werden. Umgekehrt ist völlig offen, wohin Destabilisierung, Desidentifikation und Überschreitung führen: Sie können, je nach Umständen, ebenso in Reflexion, Auflehnung und bewusste Auseinandersetzung einmünden wie in Orthodoxie und -praxie; auch Resignation ist möglich. Für die Analyse der Subjektivierung kollektiver Subjekte bedeutet dies: Erstens wäre zusätzlich zu Analysen der Konstitution kollektiver Subjektivität im Hier und Jetzt praktischer Interaktion (Musikmachen, Sporttreiben, Demonstrieren usw.) nach den Formen und Bedingungen zu fragen, in und unter denen ein Kollektivsubjekt eine transsituativ überdauernde Identität (z.B. als Jazzensemble, Volleyballmannschaft oder Frauenbewegung) erlangt, die dieses Kollektivsubjekt womöglich erst zu Kritik und politischen Stellungnahmen befähigt. Zweitens hätte eine realistische Analyse kollektiver Subjektivierung sowohl die Mehrdeutigkeit und das destabilisierende Potenzial performativer Vollzüge wie auch die Eindeutigkeit und Stabilisierung durch transsituative Strukturierungen zu integrieren. Ambivalenzen kollektiver Subjektivierung: Polizeiliche und politische, ordnende und entordnende Subjektivierungen sind kaum sauber voneinander zu trennen. Die gegenstrebige Gleichzeitigkeit von polizeilicher und politischer

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Subjektivierung äußert sich nicht nur in der Relationalität von affirmativen und subversiven, reaktionären und emanzipatorischen Subjektivierungen, beide Momente können auch in ein und demselben Prozess der Subjektivierung zusammenkommen – zum Beispiel dann, wenn in der Auflehnung gegen die eine Ordnung eine andere Ordnung reproduziert wird. Ein Beispiel sind die Protestformen jener von Paul Willis (1981) in »Learning to Labour« untersuchten männlichen Arbeiterklassenjugendlichen im Großbritannien der 1960er und 1970er Jahre, die in ihren performativen Überschreitungen der schulischen Disziplinarordnung zugleich die dichotome Ordnung der Geschlechter reproduzierten und damit, ungewollt, eine Stütze des industriellen Kapitalismus stabilisierten. Darüber hinaus werden auch in der praktischen Herausforderung einer Ordnung, in der sich ein kritisches Kollektivsubjekt zeigt, interne Differenzen und Konfliktpotenziale temporär ausgeblendet. Somit ist auch der Konstitution eines solchen kritischen Kollektivsubjekts eine die Realität verkennende und in diesem Sinne ideologische Dimension eigen. Wie in der Formierung eines kritischen Kollektivsubjekts ›von unten‹ durchaus konservative oder gar reaktionäre Momente in Erscheinung treten können, kann umgekehrt auch die Agentivierung eines Kollektivs ›von oben‹, etwa durch staatliche Politik, dazu führen, dass dieses die Kräfte, denen es seine Existenz verdankt, umbiegt und einen nur mehr schwer zu kontrollierenden Eigensinn entwickelt.

A naly tisches P otenzial Mit der Frage nach kollektiven Subjekten bewegen wir uns auf dem Terrain kultur- und sozialwissenschaftlicher Organisations-, Netzwerk-, Kleingruppen- und Bewegungsforschung. Unter dem Blickwinkel der Subjektivierung werden Aspekte der Konstitution von Kollektivakteuren beleuchtet, die in diesen Zugängen unterbelichtet bleiben: Statt Organisationen oder Gruppen als korporative Akteure schlicht vorauszusetzen und dann deren Vernetzung und Interaktion mit anderen (individuellen oder kollektiven) Akteuren nachzugehen, rücken wir die Prozesse und Praktiken ihrer Formung und (Selbst-)Bildung in den Relationen gesellschaftlicher Praxis in den Mittelpunkt. Nicht auf die Bedeutung gemeinsamer Ziele, Regeln, Wertvorstellungen und gruppenspezifischer Rollenverteilungen für das Zusammengehörigkeitsgefühl und die interne Gliederung von Kollektiven richtet sich das Interesse, sondern auf die performative Hervorbringung dieser Normen, Differenzierungen und einer bedingten Handlungsmacht, die interne Differenzen zumindest vorübergehend überdeckt. Anders als die sozialwissenschaftliche Bewegungsforschung konzentriert sich die Subjektivierungsanalyse nicht auf die Voraussetzungen, Formen und Wirkungen politischer Selbstorganisation und bürgerschaftlicher

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Einmischung, sondern auf die Gleichzeitigkeit von Unterordnung und Agentivierung in jeder (Selbst-)Bildung kollektiver Handlungsmacht. Was dem Begriff der Subjektivierung im Unterschied zu zweifellos »entspannteren« Begriffen wie »Selbstformierung oder Selbstbildung« eine »gewisse Hysterie« verleiht, die Tatsache, dass Subjekt gleichzeitig den souveränen Autor und das beherrschte subiectum bezeichnet (Hirschauer 2016: 61, Fn. 12), macht im Hinblick auf kollektive Subjekte zugleich seine analytische Kraft aus: Jenseits von Heroisierung einerseits, Depotenzierung andererseits lenkt die Perspektive der Subjektivierung den Blick auf jene politische und normative Befähigung zum Mitmachen und Handeln, die in normativ dünneren Konzepten der Kooperation, Teilnahme oder Mitgliedschaft unterbelichtet bleibt. Sie macht darauf aufmerksam, dass nicht nur jedes Handeln die handelnden Individuen oder Kollektive physisch, psychisch und affektiv formt, sondern die Anerkennung als Handelnde immer auch ein praktisches Befolgen von Normen der Anerkennbarkeit voraussetzt und sich darüber ein Selbstverhältnis bildet. Die eigene Unterordnung wird in dem Maße als Ermächtigung erlebt, in dem sich das sich subjektivierende Individuum oder Kollektiv mit der anrufenden Ordnung identifiziert. Solche Prozesse nachzuzeichnen, bedeutet die Automatismen des Zum-Subjekt-gemacht-Werdens und Sich-zum-SubjektMachens zu problematisieren. Individuen wie Kollektive tendieren dazu, ihre kontingenten Voraussetzungen unsichtbar zu halten. Nach ihrer Subjektivierung zu fragen, ist insofern ein kritisches Programm, das Einheitsimaginationen und Autonomiefiktionen dekomponiert und die Momente der Unterwerfung in der Ermächtigung wie jene der Ermächtigung in der Unterwerfung herauspräpariert. Es sind diese Verschränkungen, welche die Analyse von Subjektivierungsprozessen gleichermaßen auf Distanz zu einer Heroisierung wie zu einer Totalentmachtung der (individuellen wie kollektiven) Subjekte halten. Die Perspektive der Subjektivierung trägt damit der politischen Brisanz Rechnung, die in der Anrufung und Konstitution von Kollektiven als Subjekten steckt. Dies impliziert auch einen gegenwartsdiagnostischen Impuls: Der Wandel vom (ver-)sorgenden zum aktivierenden Sozialstaat adressiert nicht nur das Individuum als ein für sich selbst und darüber hinaus für die Gesellschaft verantwortliches Subjekt (vgl. Lessenich 2008), vielmehr präsentiert sich die neosoziale Gesellschaft der Gegenwart auch als eine Gemeinschaft von Gemeinschaften, die ebenfalls dazu aufgerufen werden, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, und denen sich die Individuen zuordnen sollen. In welchen Praktiken und mit welchen Techniken es gelingt, zu Verantwortungsübernahme und Selbststeuerung befähigte und bereite Kollektivsubjekte zu erschaffen, die sich diese Verantwortung zu eigen machen, entsprechend handeln bzw. ihr Handeln entsprechend inszenieren, oder sich den Zumutungen kollektiver Aktivierung zu entziehen versuchen, das markiert nicht zuletzt das zeitgenössische Feld des Politischen. Unter welchen Umständen be-

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greifen sich aus heterogenen Wesen bestehende Kollektive selbst als Subjekte, bilden ein Einheitsbewusstsein heraus, befähigen sich zur Orientierung im Denken und Handeln und zeigen sich verantwortlich für jene (normativen) sozialen Ordnungen, in denen sie sich bilden? In welchem Maße werden sie dabei zu Komplizen eben jener Bedingungen, in denen ihre kollektive Handlungsmacht sich konstituiert? Und unter welchen Umständen, in welchen Formen der Selbstartikulation und des Handelns werden diese Bedingungen überschritten? Dies sind Fragen, denen die Beiträge dieses Bandes theoretisch und empirisch mit unterschiedlichen Analyse-Optiken nachgehen.

L iter atur Bethmann, Stephanie/Helfferich, Cornelia/Hoffmann, Heiko/Niermann, Debora (Hg.)(2012): Agency. Die Analyse von Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht in qualitativer Sozialforschung und Gesellschaftstheorie, Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2003): Noch einmal: Körper und Macht, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.): Michel Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 52-67. Butler, Judith (2016): Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin: Suhrkamp. Coleman, James S. (1979): Macht und Gesellschaftsstruktur, Tübingen: Mohr & Siebeck. Deleuze, Gilles (1987): Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 254-260. Durkheim, Émile (1981 [1912]): Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2009): Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hahn, Manfred/Sandkühler, Hans-Jörg (1980): Subjekt der Geschichte. Theorien gesellschaftlicher Veränderung, Köln: Pahl-Rugenstein. Hirschauer, Stefan (2016): Verhalten, Handeln, Interagieren. Zu den mikrosoziologischen Grundlagen der Praxistheorie, in: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie, Bielefeld: transcript, S. 45-67. Holzkamp, Klaus (1976): Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung, Frankfurt a.M.: Athenäum. Kierkegaard, Søren (1984 [1849]): Die Krankheit zum Tode, Frankfurt a.M.: Syndikat.

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Lacan, Jacques (1986 [1948]): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: Ders.: Schriften I., Weinheim/Berlin: Quadriga, S. 61-70. Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld: transcript. Mayo, Elton (1945): Probleme industrieller Arbeitsbedingungen, Frankfurt a.M.: Verlag d. Frankfurter Hefte. McNeill, Willliam H. (1995): Keeping Together in Time. Dance and Drill in Human History, Cambridge: Harvard University Press. Pille, Thomas/Alkemeyer, Thomas (2016): Bindende Verflechtungen. Zur Materialität und Körperlichkeit der Anerkennung, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 92 (1), S. 170-194. Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rancière, Jacques (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b-books. Rancière, Jacques (2008): Zehn Thesen zur Politik, Berlin/Zürich: Diaphanes. Reckwitz, Andreas (2008): Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/ Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 188-209. Reckwitz, Andreas (2015): Praktiken und ihre Affekte, in: Mittelweg 36 24 (1-2), S. 27-45. Rückriem, Georg/Schürmann, Volker (2012): Editorial, in: Alexey N. Leont’jev: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit, Berlin: Lehmanns, S. 7-15. Schatzki, Theodore R. (2002): The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park: Pennsylvania State University Press. Schürmann, Volker (2014): Bedeutung im Vollzug. Zum spezifischen Gewicht der Praxisphilosophie, in: Sport und Gesellschaft 11 (3), S. 212-231. Virno, Paolo (2005): Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, Berlin: ID-Verlag. Willis, Paul (1981): Learning to labor. How working class kids get working class jobs, New York: Columbia University Press.

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1. F lucht ins S ubjek t Die Flucht ins Subjekt gilt Niklas Luhmann zufolge als ein Grundzug der Moderne. Auf die gesellschaftsstiftende Ordnungskraft des kühl kalkulierten Eigennutzes ebenso wie des leidenschaftlichen Engagements einzelner Akteure setzen Sozialtheorie und Politikgestalter gleichermaßen. Die Entzauberung der Welt geht mit einer umso stärkeren Verinnerlichung individueller Sinngebung einher, »das Subjekt bietet sich als Erlösungsformel« für eine funktional differenzierte Gesellschaft an; dementsprechend ist es kaum überraschend, dass vielfach »die Gesellschaft als Gesellschaft der Subjekte begriffen« wird (Luhmann 1997: 1027).1 Semantiken der ›Eigenverantwortung‹ oder ›Selbstverwirklichung‹ informieren ebenso wie die anhaltende Personalisierung in Politik, Sport oder Kultur über die ungebrochene Zugkraft der Idee eines souveränen und autonomen Subjekts. Mehr denn je dominiert die Semantik einer durch Freiheit verbürgten Subjektivität den gesellschaftlichen Diskurs. Dabei werden ungebrochen transzendentale und letztlich humanistische Prämissen angenommen, die alle Individuen verbinden, wie die einheitliche ökonomische Motivlage des Nutzenkalküls (vgl. ebd.: 1033f.). Mehr noch: die Individualisierungsrhetorik von Originalität und Autonomie greift immer stärker auch auf Gruppen und Organisationen über. Nicht nur Unternehmen, sondern auch Sportvereine und Universitäten als eigenständige Akteure mit einer unverwechselbaren Identität aufzufassen, scheint zunehmend fraglos – und eben dies erscheint in sozialtheoretischer Perspektive höchst fragwürdig. 1 | Dieser ›starke‹ Subjektbegriff ist Luhmann zufolge mit einer – letztlich scheiternden – transzendental­t heoretischen Deutung des Subjektbegriffs verbunden (vgl. Luhmann 1997: 1027ff.).

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Die Subjektivierungsforschung wendet sich gegen die Vorstellung einer autonomen und intentionalen Subjektivität und begreift das Selbst vielmehr als in gesellschaftlichen Praktiken und Diskursen geformt und gebrochen (vgl. Gelhard/Alkemeyer/Ricken 2013a; Keller/Schneider/‌Viehöver 2012). Ihre Grundannahme, dass das Subjekt nicht als essentielle Innerlichkeit vorhanden, sondern im Zuge komplexer sozialer Prozesse immer wieder neu konstituiert wird, wird von der systemtheoretischen Absage an ›den Menschen‹ geteilt. Die Frage nach dem Subjekt wird hier konsequenterweise aus der Perspektive von Funktions- und Organisationssystemen gestellt (vgl. Luhmann 2008a, 2008c). Wer nicht als Konsumentin2, Lernende, Liebespartnerin usw. im Spiel der gesellschaftlichen Kommunikation dauerhaft akzeptiert wird, sieht sich existenziell infrage gestellt (vgl. Fuchs 1997: 61). Umgekehrt ist die Wirtschaft auf Produzenten mit kühlem Kosten- und Nutzenkalkül ebenso angewiesen wie die Universität auf die Rolle des Studierenden. Dieser wechselseitige Zusammenhang von Fremd- und Selbstkonstitution macht die Systemtheorie anschlussfähig und fruchtbar für die Subjektivierungsforschung (vgl. Bröckling 2013). Gegenüber anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen besteht ihr Vorzug darin, die in Subjektivierungsprozessen zum Tragen kommenden sozialen und organisationsspezifischen Systemlogiken schärfer in den Blick zu nehmen. In der systemtheoretischen Perspektive auf Subjekte liegt jedoch auch ein erhebliches Potential für die Problematisierung kollektiver Subjekte. Analogien liegen nahe, etwa wenn Organisationen im Rechtssystem als juristische Person adressiert werden (vgl. Schweitzer 2017). Die Konstitution eines Kollektivsubjekts ist hier systemnotwendig, schließlich ließe sich mit Unternehmensbelegschaften oder Stadtbevölkerungen schlecht zu Gericht sitzen. Spinnt man diesen Faden weiter, dann wimmelt es in den Funktionssystemen nur so vor kollektiven Personen unterschiedlichster Art. Seine größte Resonanz entfaltet das Sportsystem dort, wo sich Mannschaften im Teamgeist üben und deren Fans sich als verschworene Gemeinschaft verstehen (vgl. Michaeler 2017). Wirtschaftliche Operationen produzieren nicht nur die Akteursfiktion des homo oeconomicus, sondern ebenso corporate identities (Herbst 2009; Kiessling/Babel 2016). Und Erfolg im politischen System wird dann wahrscheinlich, wenn Parteien oder soziale Bewegungen zu Projektionsflächen kollektiver Wünsche und Überzeugungen werden. Diese Schlaglichter werfen eine Reihe von Fragen auf: wie lässt sich das vielfach bedingte, kontextualisierte und gebrochene kollektive Subjekt in der Optik funktionaler Differenzierung und systemischer Kommunikation theoretisieren? Welche Formen kollektiver Subjektivität können identifiziert werden? Mit welchen Verfahren werden kollektive Subjekte geformt? Weil die 2 | In der alternierenden Wahl der männlichen oder weiblichen Form sind jeweils immer alle anderen Geschlechter mitgemeint.

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Beantwortung dieser Fragen unweigerlich das Problem der generellen Konzeptionalisierung von Subjektivität in der Systemtheorie aufwirft, bezieht sich dieser Beitrag immer wieder auf die Subjektivierung von Individuen und die ›doppelte Subjektivierung‹ kollektiver und individueller Subjekte. Er sucht die Grundzüge einer systemtheoretischen Perspektive der Subjektivierung kollektiver Subjekte zu entwickeln und folgt dabei der subjektivierungstheoretischen Suchrichtung, nicht nach dem Wesen des Subjekts, sondern nach der Art und Weise seiner Hervorbringung, nach den Formen und den Techniken der Subjektivierung zu fragen (vgl. Foucault 2009: 18). In einem ersten Schritt mache ich das Konzept der Adressierung für eine Systemtheorie kollektiver Subjektivierung fruchtbar. Auf bauend darauf arbeite ich zweitens die verschiedenen Formen kollektiver Subjektivität heraus. Drittens suche ich schließlich Steuerungsmechanismen kollektiver Subjektivität zu analysieren. Abschließend sollen weiterführende Gedanken und mögliche Anschlüsse diskutiert werden.

2. S ubjek t und S ystem So unterschiedlich die theoretischen Perspektiven auf Subjektivierung sein mögen, sie treffen sich in der Abwendung von einem essentiellen Subjekt als Souverän seiner Selbst. Ausgehend von Althusser und Foucault bildet die prozedurale und historische ›Gewordenheit‹ des Subjekts die zentrale Prämisse der Subjektivierungsforschung (vgl. Althusser 2010: 71ff.; Saar 2013; Foucault 2005). Damit sind freilich keine monokausalen Effekte der Produktion und Unterwerfung gemeint. Vielmehr bildet sich das Subjekt als »Schnittpunkt einer Vielzahl von Bestimmungskräften« (Saar 2013: 21) aus diskursiven Anrufen, institutionellen Routinen und Techniken der Selbstführung. Auch wenn sie sich von einem emphatischen Subjektbegriff distanzieren, bleiben Analytiken der Subjektivierung allzu oft der Zentralität des Subjekts verhaftet. Die subjektivierungstheoretische Sorge um das Selbst kreist um die Anrufung, Ermächtigung oder Unterwerfung des Individuums und droht dabei, eine Systematisierung eben jener Bestimmungskräfte des Subjekts zu vernachlässigen. Demgegenüber hat die Systemtheorie mit dem Primat des Systems das Subjekt radikal dezentriert. Aus ihrer Perspektive vollzieht sich Gesellschaft nicht über individuell zurechenbare Handlungen, sondern über die Kommunikation von Wirtschaft, Politik, Recht oder Erziehungssystem, in die sich das individuelle Subjekt als psychisches System einklinken muss und durch die es zugleich als Konsument, Wählerin, Klient oder Lernender hervorgebracht wird. Zugleich ist systemische Kommunikation auf Subjekte als Zurechnungspunkte angewiesen, um Kommunikation anlaufen und fortlaufen zu lassen. In dieser gegenseitigen Bedingtheit von System und Subjekt vollzieht sich Subjektivierung als Adressierung: Das Subjekt fungiert als Bezugspunkt systemi-

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scher Kommunikation (vgl. Fuchs 1997: 60).3 Damit verbunden sind vielfältige Prozesse der fixierenden und vereindeutigenden Regulation von Erwartungen. Adressen müssen einerseits sicherstellen, dass Botschaften ankommen, damit Kommunikation gelingt. Andererseits ist die Adresse als Figur angelegt, die Botschaften beobachtet und beantwortet. Es ist diese Responsivität, mit der das adressierte Subjekt ebenso wie bei Althussers Anrufung anerkennt, »dass der Anruf ›genau‹ ihm galt und dass es ›gerade es war, das angerufen wurde‹ (und niemand anderes)« (Althusser 2010: 89). Aus systemtheoretischer Warte ist Kommunikation eine voraussetzungsreiche Selektion von Mitteilung, Information und Verstehen (vgl. Luhmann 1984: 102ff., 193ff.). Adressierung gelingt umso eher, je kleiner der Möglichkeitshorizont und je klarer die Erwartungen an Kommunikation sind. Mit der Verfertigung der Figuren des homo oeconomicus oder homo juridicus, homo politicus, homo medicinalis oder homo sporticus gelingt es, kommunikative Komplexität zu reduzieren. Diese Akteursfiktionen dienen als »strukturelle Kopplung von kommunikativen Operationen« in Wirtschaft, Recht und anderen Funktionssystemen »mit den dazu simultan ablaufenden psychischen Operationen« (Hutter/Teubner 1994: 116). Auf diese Weise entstehen Zurechnungspunkte, bei denen damit gerechnet werden kann, dass Informationen nicht ins Leere laufen, sondern als Mitteilungen beobachtet werden und zu Anschlusskommunikation führen. Subjekte lassen sich demnach als kommunikative Strukturen auffassen, die von den Operationen selbst erzeugt sind und diese zugleich leiten. »Als ›virtual realities‹ koppeln sie sich eng an die psychischen Eigendynamiken der beteiligten Menschen an, ohne mit ihnen zu verschmelzen« (ebd.: 110). Das heißt: Akteursfiktionen bilden nicht Bewusstseinszustände psychischer Systeme ab (die aus systemtheoretischer Warte ohnehin nicht kommunikativ erfahrbar wären), sondern soziale Erwartungen, die kommunikativ vermittelt werden. Das systemtheoretische Konzept der Adressierung wurde bisher vor allem auf Individuen angewandt, birgt jedoch auch ein erhebliches Potential, um Kollektivsubjekte zu beobachten. Denn grundsätzlich sind auch kommunikative Adressen jenseits der Individualität psychischer Systeme denkbar. Im Recht werden unterschiedlichste Kollektive als juristische Person adressiert, in der politischen Kommunikation gelten ganze Nationen als schicksalhafte Akteure und in der Wirtschaft bilden Konzerne als ›Global Player‹ wichtige Knotenpunkte ökonomischer Kommunikation. Im Rahmen einer alteuropäischen 3 | Das systemtheoretische Konzept der Adressierung wird hier unterschieden vom subjektivationstheoretischen Konzept der Adressierung, das insbesondere von Ricken sowie Balzer und Reh ausgearbeitet wurde. Diese verstehen Adressierung als analytische Fassung von Anerkennungsakten direkter Kommunikation und Interaktion (vgl. Ricken 2013: 92f.).

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Vorstellung des Subjekts, wie sie bis heute in den Rational Choice-Theorien gepflegt wird, können Kollektive nur metaphorisch als handlungsmächtiger Akteur beschrieben werden. Gruppen, Gemeinschaften oder Organisationen sind in diesem Verständnis lediglich das Ergebnis der in ihnen tätigen Individuen und ihrer Interaktionen. Wenn jedoch Intentionalität, Souveränität und Autonomie als Kategorien eines handlungsfähigen Subjekts suspendiert werden, entfällt ein zentrales Argument gegen die Figur eines Kollektivsubjekts. Sowohl Individuen als auch Kollektive haben dann einen »identischen Realitätsstatus, denn beide, individuelle ebenso wie kollektive Akteure, sind semantische Fiktionen« und lassen sich als Adressen sozialer Kommunikation begreifen (ebd.: 131). Entscheidende Voraussetzung für den Subjektstatus von Kollektiven ist dann ihre kommunikative Erreichbarkeit und die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und selbst in Kommunikation zu treten. Diesem radikal dezentrierten Subjektverständnis zufolge sind individuelle ebenso wie kollektive Subjekte im Wortsinne ›grundlos‹ und konstituieren sich im Zusammenspiel sozialer und psychischer Systeme, gesellschaftlicher Kommunikation und subjektiven Erlebens immer wieder neu. Individuelle und kollektive Subjekte lassen sich als Resultat sozialer Erwartungen begreifen, die an ein bestimmtes Verständnis von Ökonomie oder Bildung anknüpfen. Die funktionsspezifische Universalität der einzelnen Systeme geht dabei mit universalistisch angelegten Subjektfiguren einher: Homo paedagogicus oder homo oeconomicus meinen nicht den ganzen Menschen, sondern nur den pädagogischen oder ökonomischen Part seiner Subjektivität (vgl. Stäheli 2007a: 186). Auch Kollektivsubjekte sind mit funktionalen Anforderungen konfrontiert, aus denen sich ein spezifisches Organisationshandeln ergibt. Das Verständnis von Subjektivierung als Adressierung stellt Subjekt und System als in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Aus der Perspektive der Subjekte erscheinen die Sozialsysteme gar als parasitär. Denn Kommunikation beutet das Bewusstsein psychischer Systeme aus. So benutzt das Erziehungssystem die psychischen und organischen Fähigkeiten von Schülern und Studierenden für seine Operationen des Lehrens und Lernens. In diesem Fall, aber auch in den Fällen von Wirtschaft und Recht wird deutlich, dass soziale Systeme für den Zugriff auf Individuen zwingend Schnittstellen, kollektive Realfiktionen wie Schulen oder Unternehmen benötigen, um ihre Operationen realisieren zu können: »Mit Hilfe der Fiktion der Kollektivakteure parasitieren Wirtschaft und Recht an der internen Dynamik von Organisationen. Und mit Hilfe der Fiktion des organization man parasitiert die Entscheidungssequenz der formalen Organisation an der internen Dynamik von psychischen Systemen« (Hutter/Teubner 1994: 132; Herv. i.O.). Der Zusammenhang liegt auf der Hand: das Erziehungssystem ist auf Bildungseinrichtungen angewiesen, um Lernprozesse und Selektionsentscheidungen vollziehen zu können. Schulen und Hochschulen wiederum benötigen die Akteursfiktionen von

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Schüler und Studentin, um sich als Organisationen zu erhalten. Ähnliche Beziehungskonstellationen finden sich im Zusammenspiel von Markt, Unternehmen und Konsumenten, von Sportsystem, Vereinen und Sportlerinnen und anderen Bereichen. Kollektivsubjekte lassen sich somit als Instanzen einer doppelten Subjektivierung betrachten. Ihre Konstitution vollzieht sich im Zuge der Adressierung durch Funktionssysteme, zugleich adressieren sie individuelle Subjekte. Mit der gegenseitigen Bedingtheit von System und Subjekt lässt sich der seit Althusser subjektivierungstheoretisch prominente Zusammenhang von Unterwerfung und Freiheit reformulieren, nach dem es »Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung« gibt (Althusser 2010: 98). Soziale Systeme machen sich bei der Ausbeutung psychischer Systeme den Umstand zunutze, dass Bewusstsein nur durch Kommunikation anlaufen und fortbestehen kann: Adressierung ist eine Überlebensfrage (vgl. Fuchs 1997: 61). Der zwanglose Zwang dieser Subjektivierungslogik leuchtet auch für kollektive Subjekte unmittelbar ein. Wer sich nicht in basale wirtschaftliche, politische oder pädagogische Kommunikationsspiele einklinken kann, ist nicht nur als Konsumentin, Wähler oder Schülerin, sondern auch als Unternehmen, Partei, Schule verloren. Die Adressabilität entscheidet über die Inklusion oder Exklusion (vgl. ebd.: 63f.). Weil im Zuge dessen entschieden wird, wer überhaupt als Adressat infrage kommen kann, lassen sich Adressierungen als Prozess einer doppelbödigen Unterwerfung zur Freiheit lesen (vgl. Althusser 2010; Butler 2001). Indem individuelle wie kollektive Subjekte die wirtschaftlichen, rechtlichen oder pädagogischen Adressierungen nicht nur beobachten, sondern auch beachten müssen, wirken sie an ihrer sozialen Konditionierung mit. Anders als mit Althusser, der davon fasziniert ist, dass die »Anrufung praktisch niemals ihren Mann« verfehlt (Althusser 2010: 89), lässt sich mit dem Konzept der Adressierung auch das Fehllaufen von Subjektivierungsprozessen in den Blick nehmen. Indem individuelle und kollektive Subjekte an diesem Prozess mitwirken, indem sie Kommunikation beobachten, annehmen oder abweisen, bleiben Adressierungsprozesse immer auch unberechenbar und bergen Irritationspotential, das die weitere Kommunikation beeinflusst.

3. I nter ak tion , O rganisation , G emeinschaft Adressierungen kollektiver Subjekte stellen nicht auf reales Handeln, sondern auf die Beschreibung wirkmächtiger Fiktionen ab, die Wirklichkeit produzieren, indem sie sie voraussetzen. Kollektivsubjekte übersetzen die Systemimperative in konkrete Handlungsanweisungen, Routinen und Konzepte, in denen sich individuelle Subjekte bewegen. Während bei Individuen immer ein und dieselbe Form des psychischen Systems adressiert wird, kommen bei sozialen Systemen unterschiedliche Formvarianten und Ebenen der Systembildung in

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den Blick (vgl. Luhmann 2014). Schließlich macht es einen Unterschied, ob Sportteams und Musikbands, politische Bewegungen oder Großkonzerne adressiert werden. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die drei Systemebenen der Interaktion, Organisation und Gemeinschaft. Dass diese Dreiteilung in der bekannten Luhmannschen Trias die Gesellschaft durch Gemeinschaft ersetzt, folgt der Einsicht, dass die Gesellschaft sich selbst nicht erreichen, sprich nicht Subjekt sein kann. Demgegenüber ist es mit dem Begriff der Gemeinschaft möglich, präzise jene Makrokollektive wie z.B. die Nation in den Blick zu bekommen, die nur schwerlich als Interaktion oder Organisation zu begreifen sind. Als eine Ebene von Kollektivität kommen zunächst Interaktionssysteme in den Blick. Interaktionen als ›Kommunikation unter Anwesenden‹ sind zunächst spontan und lokal (vgl. Kieserling 1999). Angesichts dieser zeitlichen und räumlichen Limitierung kann zufälligen Pausengesprächen, spontanen Arbeitseinsätzen oder Parties zwar eine fragile Kollektivität, aber kaum Subjektivität zugesprochen werden. Erst durch wiederholte Adressierung und Selbstadressierung formieren sich Gruppen wie Freundeskreise, Sportmannschaften, Musikbands oder Lerngruppen (vgl. ebd.: 17, 339ff.).4 Es ist gerade die organisationsunabhängige Spontaneität und die für ihre Bestandsdauer ausgebildete Identität von Gruppen, die ihren spezifischen Subjektcharakter unterstreicht. Dass Unternehmen auf gezielte Teambildung nach dem Motto ›Gemeinsam sind wir stark‹ setzen (vgl. Arnscheid 1999), verweist auf eine spezifische Subjektqualität von Gruppen, ein Mehrwert, der sich aus der Qualität der Kommunikation unter Anwesenden und damit verbundenen intensiven Mobilisierung und Konzentration psychischer Systeme für ein klar umgrenztes Thema ergibt (vgl. Luhmann 2014: 9). Funktionssysteme und Organisationen suchen diesen ›Teamspirit‹ gezielt herbeizuführen, um es für ihre Operationen zu nutzen. So ist ein großer Teil des Sportsystems ohne Mannschaften nicht denkbar. Aber diese finden nur dann als Kollektivsubjekt Berücksichtigung, wenn sie Sieg, Niederlage und Leistung als grundlegende Codes des Sportsystems beachten (vgl. Bette 1999: 36, 61). Im Kunstsystem sehen sich Popbands, Lyriker und Maler mit den Geboten von Originalität und Authentizität konfrontiert (vgl. Luhmann 1995: 480f.). Auf diese Weise »sind und bleiben Interaktionen auf gesellschaftliche Strukturvorgaben angewiesen« (Luhmann 2014: 11). Indem sie sich zu den vielfältigen Adressierungen in Regularien, Fachmagazinen oder In4 | Die Frage, ob Gruppen als ein eigenes soziales System jenseits von Interaktion und Organisation aufgefasst werden können, ist in der Systemtheorie umstritten. (vgl. Kühl 2014; Tyrell 1983a). Hier wird der Argumentation Kieserlings gefolgt, nach der sich Gruppen durch wiederholte Anwesenheit auszeichnen und damit einen Spezialfall der Interaktion darstellen. Wiederum Tyrell folgend lassen sich auch Familien als Sonderform einer Gruppe begreifen (vgl. Tyrell 1983b).

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ternetforen verhalten, werden Interaktionen als kollektives Subjekt konstituiert und wirken zugleich an ihrer Subjektformung mit. Vielfach, aber keineswegs zwingend sind Gruppen auf Organisationen als eine Form von Kollektivität angewiesen, die deutlich fester strukturiert ist. Interaktionen können entweder in Organisationen eingebettet sein (etwa als Mannschaft in einem Verein) oder nutzen diese für sich, ohne deren Bestandteil zu sein (als Band, die in einem Club auftritt). Der Organisationen inhärente Zwang zur Entscheidung (Luhmann 2011: 63ff.) ermöglicht ihnen die notwendige Responsivität, um Kommunikation zu verarbeiten und auf Adressierung reagieren zu können, ohne dies wie Individuen über Bewusstsein oder wie Gruppen über die Interaktion unter Anwesenden zu organisieren. Auch wenn Organisationen bei ihrer Entscheidungsfindung an Interaktionen und Gruppen parasitieren, sind sie durch eine Struktur bestimmt, die prinzipiell unabhängig vom Eigensinn psychischer System arbeiten kann. Dementsprechend bestimmen Organisationsstrukturen und Entscheidungslogiken wie Autorität oder Partizipation wesentlich über die Form der Organisation, umgekehrt sind »Organisationsformen nach ihren Auswirkungen auf das Entscheidungsverhalten« zu beurteilen (Luhmann 1987: 181). In eben dieser Organisationalität, nach der »intelligente Personen in dummen Organisationen agieren können und umgekehrt« (Willke 1997: 107), liegt die spezifische Subjektqualität von Unternehmen, Universitäten oder Parlamenten. Sie versetzt sie in die Lage, unabhängig von psychischen Systemen adressiert zu werden und sich zu Adressierungen zu verhalten. Eine besondere Form kollektiver Subjektivität bilden Gemeinschaften wie Nationen, soziale Bewegungen, Subkulturen oder Communities, die sich weder auf die lokale Ebene von Interaktionen, noch auf die strukturierte Form einer Organisation reduzieren lassen.5 Sie lassen sich als imaginäre Kollektive begreifen, deren Identität sich aus unterschiedlichsten Quellen speist (vgl. 5 | Obwohl die Beschäftigung mit Gemeinschaften eine lange soziologische Tradition besitzt, tut sich die Systemtheorie schwer, diese als eigenständigen Systemtypus auszuweisen. Angesichts ihrer langen Denktradition »beantworten Unterscheidungen wie Menschheit/Gemeinschaften oder Haushalts­g emeinschaften/politische Gemeinschaften bestimmte Fragen – und blockieren andere« (Luhmann 1997: 9). Auch wenn die Verkürzung von Gesellschaft auf Gemeinschaft sozialtheoretisch obsolet ist, ist sie in der gesellschaftlichen Praxis, in der Nationen als Schicksalsgemeinschaften beschworen werden, höchst wirkungsvoll (vgl. Fach 2017). Dennoch greifen Konzeptionalisierungen von Gemeinschaft als Effekt des Politischen zu kurz (vgl. Nassehi 2002; Bohnacker 2003). Denn nicht nur die Nation, sondern auch die Gemeinschaften der Gegenwart von den migrantischen Communities bis zu den neuen sozialen Bewegungen werden als wirkmächtige Adressen gesellschaftlicher Kommunikation quer zum politischen System fundiert.

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Bauman 2007). Dieses Verständnis von Gemeinschaften lässt sich mit dem systemtheoretischen Verständnis von sozialen Bewegungen reformulieren, die sich weder über die Kommunikation von Anwesenden noch über Mitgliedschaft und Entscheidung als Kollektivsubjekt, sondern über »Motive, commitments, Bindungen« konstituieren (Luhmann 1996: 202). Sie müssen dabei die zu überwindenden Probleme und »Gefahren erst selbst kommunikativ erzeugen, bevor sie sich von ihnen betroffen fühlen können« (Schroer 1997: 129). Dieses kommunikative Korrelat bildet den Kern der Kollektivsubjektivität, der mit der Subjektivierung der zugehörigen Individuen verschränkt wird. Verallgemeinert gesprochen adressieren Gemeinschaften Einzelne als Betroffene bestimmter sozialer Lagen. Die spezifische Subjektqualität von Bewegungen liegt dabei nicht in der Kommunikation von Werten an sich, sondern in der ihnen eigenen Mobilisierung von Werten über Protest, religiöse Mission oder andere Formen der Dramatisierung (vgl. Kühl 2014: 71). Indem Gemeinschaften auf diese Weise und zu diesem Zweck Individuen aggregieren, werden Sie für ganz unterschiedliche Systeme überhaupt erst wahrnehmbar. Während das Wirtschaftssystem die Ökologiebewegung unter dem Aspekt von Unternehmensreputation und eines sich verändernden Kundenmarktes beobachtet, wird diese in der Politik als Legitimationsproblem und Aufkommen neuer Wählerschichten relevant (vgl. Luhmann 1986; Büscher/Japp 2010). Auch Subkulturen oder migrantische Communities werden aus den unterschiedlichen Perspektiven von Ökonomie, Recht oder Politik als Wählergruppe adressiert oder als ethnic economy für ihre Zwecke ausgebeutet. Über das Kollektivsubjekt Gemeinschaft gelingt es, psychischen Systemen über kollektiv teilbare Lebensentwürfe Sinn zu verleihen, sie anschlussfähig zu machen und zugleich an den jeweiligen Handlungsvollzügen der Individuen zu parasitieren. Adressierungen unterstellen Kollektivsubjekten eine Rationalität, um daraus spezifische Themen und Motive, Zwecke und Mittel, Verfahren und Mitgliedschaften abzuleiten. Sie lassen sich in der Regel als ›dichte‹ Adressen begreifen, die eng an ein bestimmtes Funktionssystem gekoppelt sind (vgl. Fuchs 1997: 71). Dies eröffnet die Möglichkeit der Komplexitätssteigerung und der umso intensiveren Subjektformung. Nicht nur in Organisationen, sondern auch in Gruppen und Bewegungen werden individuelle Subjekte durch Mitgliedschaft platziert (vgl. Kühl 2014: 69). Unterrichtsinteraktionen und Bildungseinrichtungen müssen sich nicht darum kümmern, ob Schüler oder Studentenin einkaufen, wählen, in Konflikt mit dem Gesetz geraten oder krank sind, sofern es den Erfolg ihrer Operationen nicht berührt. Sie können sich deshalb ganz auf die Frage des Lernens und der entsprechenden Selektion konzentrieren. Die Adressierung von Kollektivsubjekten zielt dementsprechend immer auch darauf ab, deren Mitglieder auf eine jeweils spezifische

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Weise an die Gruppe, Organisation oder Gemeinschaft zu binden.6 Individuen dienen ihrerseits als Identifikationspunkte und Adressen für Kommunikation innerhalb von Kollektiven (vgl. Luhmann 2005: 194). Die mächtigen Institutionen der Normalisierung und Disziplinierung, wie sie insbesondere von Foucault (1969, 1973, 1976) analysiert wurden, lassen sich so als Agenturen gesellschaftlicher Rationalität verstehen, die selbst subjektiviert werden müssen, um ihre Subjektivierungsleistung zu vollziehen. Diese ›doppelte Subjektivierung‹ stützt sich darauf, Individuen als Mitglieder durch spezifische Anforderungen, Aufnahme- und Ausschlusskriterien und Verhaltensregeln der Organisation zu adressieren (vgl. Kühl 2014: 69ff.). Umgekehrt ist die Ausgestaltung der Mitgliedschaftsrollen wesentlich für die Form einer Organisation. Es macht einen Unterschied, ob sich eine Universität als Korporation von Honoratioren oder Statusgruppen, ein Unternehmen als Aktiengesellschaft oder Familienunternehmen versteht. Die Formenvielfalt kollektiver Akteursfiktionen zeigt deutlich die Grenzen auf, die bei Phänomenen der Kollektivität zu beachten sind, wenn man sie als Kollektivsubjekte zu verstehen sucht. Weil die Adressabilität über Inklusion und Exklusion entscheidet, ist die Unterscheidung zwischen realer und virtueller Kollektivität irrelevant. Online-Communities, virtuelle Universitäten oder neue soziale Netzwerke reformulieren und verdoppeln lediglich bereits vorhandene Formen kollektiver Subjektivität. Dagegen verbleibt eine Vielzahl von adressierten Kollektiven als kommunikatives Artefakt, denen nur schwerlich ein Status als Kollektivsubjekt zugeschrieben werden kann. Narrative wie die ›Generation Praktikum‹, die ›Millennials‹ oder die ›Gruppe der Risikoschüler‹ beschreiben wiederkehrende individuelle Merkmale wie Beschäftigungssituation, Alter oder Bildungsstand, ohne dass feste Adressen mit subjektfundierender Responsivität konstituiert werden. Sie dienen vielmehr als kommunikative Referenz, die in Interaktionen, Gruppen oder Organisationen bearbeitet werden kann. Daran wird der Bedingungszusammenhang von Subjektivierungsprozessen deutlich. Soziale Systeme formen Kollektivsubjekte, um sie letztlich für ihre Zwecke auszubeuten. Dabei sind sie auf das responsive, variierende und irritierende Potential der Subjektivität von Kollektiven angewiesen, um sich immer wieder neu zu restabilisieren.

6 | Über die unterschiedliche Art und Weise der Bindung von Mitgliedschaft lassen sich dann unter anderem die Unterschiede zwischen Gruppen, Organisationen und Bewegungen definieren (vgl. Kühl 2014: 69ff.).

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4. Technologien der A dressierung In subjektivierungstheoretischer Perspektive interessiert, mit welchen Technologien, also mit welchen Verfahren und Steuerungsmechanismen unterschiedliche Kollektivsubjekte sich entwerfen und als solche entworfen werden. Es sind »die Prozeduren der Aufzeichnung, Archivierung, Übung, Prüfung, Disziplinierung und Kontrolle, die sich als Techniken, Technologien oder Dispositive der Subjektivierung bezeichnen« und sich daraufhin analysieren lassen, »ob sie Handlungsspielräume erweitern oder beseitigen, ob sie reversible Machtbeziehungen oder starre Herrschaftszustände stützen, ob sie die Möglichkeit einer anderen Praxis offen halten oder nicht« (Gelhard/Alkemeyer/ Ricken 2013b: 11). Technologien bewegen sich dabei grundsätzlich zwischen dem Selbst und dem Anderen, Fremd- und Selbstbestimmung, individueller und gesellschaftlicher Konstitution. Obwohl die gängigen Techniken der Normalisierung, Disziplinierung und Kontrolle in ein komplexes Ensemble von Architekturen, Vorrichtungen und Praktiken eingebunden sind, erlangen diese erst im Kontext systemischer Kommunikation ihre Relevanz (vgl. Peter 2010). Schulbänke, Fabrikanlagen und Gefängnisarchitekturen sind Medien der Adressierung. Sie subjektivieren nicht aus sich selbst heraus, sondern erst im Zuge von Beobachtungen, die auf kommunikativ verfertige Skripte und Anordnungen angewiesen sind. Technologien der Subjektivierung müssen davon ausgehen, dass das Subjekt als »System für sich selbst operativ unerreichbar und damit auch für die eigenen Operationen intransparent bleibt« (Luhmann 2011: 424). Systeme können sich und andere lediglich im Modus der Beobachtung beschreiben; folglich sind es auch Technologien der Beobachtung, mit denen Individuen und Organisationen immer wieder adressiert werden (vgl. Hutter/Teubner 1994: 115). Dass die Benotung und Prüfung den Schüler, die Bilanz das Unternehmen und der Vertrag das Rechtssubjekt subjektiviert, zeigt eindrücklich, dass sich Subjektivierungsprozesse in der Gleichzeitigkeit von Fremd- und Selbstbeobachtung vollziehen. Subjekte exekutieren nicht einfach Systemimperative, sondern sind an ihrer Selbstformung aktiv beteiligt, indem sie Kommunikationen zunächst beobachten und schließlich annehmen, verweigern oder beantworten. Ausgehend von diesem Verständnis lassen sich spezifische Arten und Weisen der Adressierung identifizieren. So zielt die biographische Narration, die sich über die Aufzeichnung von Lebensläufen oder Tagebüchern vollzieht, ebenso wie das wiederholte Erzählen prägender Ereignisse darauf ab, sich selbst als kohärentes Individuum zu begreifen (vgl. Luhmann 2008a: 98). Individuelle wie kollektive Subjekte sind auf die Ausbildung einer spezifischen Identität angewiesen, auf das sie sich angesichts unzähliger Kommunikationsangebote beziehen können. Prozeduren der Narration komponieren aus den heterogenen Adressierungen als Konsumentin, Wähler oder Liebespartner, als Sportfan

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oder Kunstliebhaberin ein unverwechselbares identifikatorisches Selbst entlang einer sowohl retro- als auch prospektiven Erzählung (vgl. Stäheli 2007b: 21f.; Peter 2010: 31ff.). Kollektivsubjekte kopieren diese individuellen Selbstbeobachtungspraktiken und ergänzen sie in Abhängigkeit von der konkreten Subjektform. Kegelclubs produzieren ebenso wie Großkonzerne spezifische Fundierungsmythen und beziehen Sinn aus prägenden Ereignissen. Dabei gilt: »Identitäten ›bestehen‹ nicht, sie haben nur die Funktion, Rekursionen zu ordnen, so dass man bei allem Prozessieren von Sinn auf etwas wiederholt Verwendbares zurück- und vorgreifen kann« (Luhmann 1997: 46f.). Nicht nur die schriftlichen Lebensläufe und Tagebücher, sondern auch die zeitgenössischen Techniken narrativer Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken konstituieren eine Identität, auf die in kritischen Phasen zurückgegriffen werden kann. Narrative schlagen sich in Selbstbeschreibungen nieder, die je nach Subjekttypus auf unterschiedliche Weise fixiert werden. Die Ausbildung weder atomistischer noch beliebiger Selbstbeschreibungen ist zwingend, wollen sich individuelle wie kollektive Subjekte selbsterhalten. Sie sorgen für Anschlussfähigkeit an unterschiedliche teilsystemische Kontexte und sind gleichzeitig hinreichend festgelegt, um Entscheidungen zwischen unterschiedlichen Rollen oder Aufgaben zu ermöglichen (vgl. Luhmann 2008b: 126). Dabei zieht sich das Subjekt keineswegs am eigenen Schopf aus dem Sumpf, sondern nutzt spezifische Identitätsskripte zur Selbstbeschreibung. Der homme copie (Luhmann) eignet sich Identitäten als Hedonistin, Alternativer oder Selbstunternehmerin an, die über Romane, Filme oder Ratgeber popularisiert werden.7 Über dieses Vervielfältigungsprinzip setzen sich schließlich normalistische und proto‑normalistische Subjektivierungen durch (vgl. Link 2009). Auch Mannschaften, Unternehmen oder Hochschulen suchen mit narrativen Techniken bestimmte Images zu kopieren. Da die Selbstbeobachtung von Interaktionssystemen auf Anwesenheit basiert, greifen sie zwar auf schriftlich fixierte Diskurse zurück, artikulieren ihre Selbstbeschreibungen jedoch meist mündlich. So entwickeln Gruppen ein »Gruppenbewusstsein«, das auf die Bewusstseine der beteiligten psychischen Systeme zurückgreift. Auf diese fluide Form kollektiver Selbstbeschreibungen zielen z.B. Maßnahmen des Teambuildings ab. Ihre Wirksamkeit beruht darauf, dass sie durch die gezielte Inszenierung von Erlebnissen, an denen die Relevanz des Kollektivs für bestimmte Operationen deutlich wird, eine gemeinsame Selbstbeschreibung konstituieren.

7 | Angesichts einer prinzipiellen Zukunftsungewissheit, die eine Verortung des Subjekts verlangt, ist die narrativ verfertigte Identität die Antwort auf »die erstaunliche Zumutung von Originalität, Einzigartigkeit, Echtheit der Selbstsinngebung, mit der das moderne Individuum sich konfrontiert findet und die es psychisch kaum anders einlösen kann als durch ein Copieren von Individualitätsmustern« (Luhmann 1997: 1019).

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Diese Form der Selbstbeschreibung reicht für Kollektivsubjekte, die sich auch jenseits von Anwesenheit erhalten müssen, nicht aus. Ohne ein sorgsam entwickeltes Forschungs- und Lehrprofil drohen Universitäten ihre Sichtbarkeit im Kampf um dringend benötigte Forschungsgelder und Nachwuchswissenschaftler zu verlieren. Eine maßgeschneiderte Corporate Identity in Verbindung mit Mission Statement und gemeinsamer Führungskultur soll die Fliehkräfte innerhalb von Unternehmen eingrenzen. Diese Technologien zielen nicht darauf ab, eine Organisation an sich, sondern eine besondere Organisation unter vielen zu schaffen. Gewissermaßen als organisation copie inszenieren sich als Unternehmen mit einer spezifischen Unternehmenskultur und unverwechselbarem Profil, um ökonomischen Erfolg zu steigern (vgl. Schönborn 2014). In den Identitätsangeboten kommen diejenigen Systemrationalitäten zum Tragen, die für das jeweilige Kollektivsubjekt relevant sind. Selbstbeschreibungen spiegeln Dringlichkeiten, denen sich Subjekte stellen sollen und für die Funktionssysteme Angebote bereitstellen. Leitbilder sollen Komplexität reduzieren, indem sie klare Erwartungen formulieren und damit den Raum möglicher Operationen einschränken (vgl. Kühl 2016). Sie spezifizieren die Rationalität des jeweiligen Systems: Hochschulen suchen nicht nur nach wissenschaftlicher Wahrheit, sondern nach Wahrheit in bestimmten Bereichen wie z.B. Bionik oder fernöstlichen Kulturen. Auf diese Weise dienen Leitbilder als Referenz für Entscheidungen, mit denen die Themen eingeschränkt und Optionen präjudiziert werden. Sie können erstens als Entscheidungsprogramme verstanden werden, mit der das Regel-Ausnahme-Verhältnis und die Konditionen von Entscheidungen festgelegt und Organisationen zugleich als Akteurin konstituiert werden (vgl. Luhmann 1987: 176f.). Sie liefern zweitens eine interne Selbstbeschreibung und formulieren konkrete Zielstellungen und Maßnahmen, mit denen Kollektivsubjekte als eigenständige Akteure ins Werk gesetzt werden. Schließlich präferieren sie drittens aufgrund getroffener Wertsetzungen bestimmte Maßnahmen und subjektivieren zugleich die in der Organisation tätigen Individuen. Die Anfertigung von Selbstbeschreibungen zielt darauf ab, eine gemeinsame Identität zu schaffen, auf die sich Kollektive berufen können, wenn Individuen in die Pflicht genommen werden sollen. In Selbstbeschreibungen verbinden sich Selbst- und Fremderwartungen, die mit weiteren Technologien der juristischen Normierung und des Vertrags, der Evaluation, Supervision oder des Teamchoachings operationalisiert werden. Gesetze, Zielvereinbarungen oder Mission Statements bringen unterschiedliche Modi der Adressierung von Kollektivität ins Spiel, die immer wieder auf Technologien der Subjektivierung von Individuen verweisen. Diese sind darauf angelegt, dass die Organisation sie ihrerseits beobachtet und internalisiert. Mit ihnen wird die Differenz zwischen System und Umwelt wieder in die Organisation eingeführt. Die juristische Normierung über Gesetze, Rechtsverordnungen oder Richtlinien legt den Schwerpunkt eindeutig auf die

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Fremdkonstitution von Subjekten. Indem sie durch Regelwerke bestimmte Interaktionen normiert, bringt sie zugleich entsprechende Subjektpositionen wie Mannschaften und Schiedsrichter im Sport hervor. Rechtliche Normierungen formieren Organisationen als juristische Personen (vgl. Schweitzer 2017), belassen jedoch dem Subjekt jenseits der rechtlichen Rahmensetzung hohe Freiheitsgrade. Vertragliche Formen gehen demgegenüber von einer Äquidistanz gleichberechtigter Partner aus, die den jeweils anderen als responsives, weil verhandlungsfähiges, Subjekt unterstellen muss. Zielvereinbarungen konstituieren Subjekte, die an Freiheit gewinnen sollen, indem sie sich selbstformulierten Zielen unterwerfen (vgl. Bröckling 2007: 143ff.). Dabei stellen sie auch auf Erwartungen durch Funktionssysteme oder durch Normen wie Gleichstellung oder Inklusion ab. Steuerungsinstrumente wie Zielvereinbarungen und Evaluationen konstituieren die Organisationen als Kollektivsubjekt, als Akteurin, der eine von ihm beeinflussbare Handlungsmächtigkeit und Rationalität zugerechnet wird, auf die Einfluss genommen werden kann. Dabei werden bekannte Adressierungsmuster des Wirtschaftssystems und Rechtssystems kopiert, wenn z.B. Schulen und Hochschulen mit eigenen Budgets als zahlungsfähig und mit Zielvereinbarungen als Vertragssubjekt adressiert werden (vgl. Tarazona/Brückner 2010). Die skizzierten Technologien operieren selten isoliert, sondern greifen ineinander. Sie zielen auf »idiosynkratische Struktureffekte, kommunikative Selbsterhaltungsenergien« von kollektiver Subjektivität ab, deren Mehrwert für Funktionssysteme nutzbar gemacht werden kann: Teamarbeit, Kreativität und Wissen, die nur aus dem Zusammenspiel von Individuen und Organisationsstruktur erzeugt werden können und nicht zuletzt die Fähigkeit, große Mengen von Information verarbeiten zu können (vgl. Hutter/Teubner 1994: 137). Es sind diese ›sozialen Energien‹, die im Zuge der Subjektivierung von Kollektivsubjekten geweckt werden sollen und die wiederum die ›psychische Energie‹ von Individuen anzapfen. Diese parasitäre Kopplung kann unterschiedliche Formen annehmen: Verträge, hohe oder flache Hierarchien, innerorganisatorische Märkte oder basisdemokratische Verfahren. Ob Organisationen als hierarchische, demokratische, wettbewerbliche oder kreative Kollektivsubjekte adressiert werden, muss sich in systemtheoretischer Perspektive evolutionär bewähren. Auch wenn bestimmte Verfahren aus systemfremden Kontexten importiert werden, erfolgt die Legitimation der Technologien im Rahmen der Selbstbeschreibung des Systems, in dem sie zum Einsatz kommen. Erfolgt etwa die Präferenz von Zielvereinbarungen aus Sicht des Wirtschaftssystems aus Gründen höherer Profitabilität, so optiert das Erziehungssystem für dieselbe Technologie, weil es sich größere Lernerfolge und bessere Abschlüsse erhofft.

Kollektivität durch Adressierung

5. J enseits der A dressierung Das systemtheoretische Verständnis von Subjektivierung als Adressierung eröffnet die Möglichkeit, die Konstitution kollektiver Subjekte aus der Perspektive sozialer Systeme zu analysieren. Diese Sichtweise macht die komplexe Verwobenheit der Subjektkonstitution mit systemischen Rationalitäten besonders deutlich. Dabei zeigen sich vielfältige Formen, aber auch klare Grenzen kollektiver Subjektivität jenseits von Gruppe und Gemeinschaft. Es ist die Verschränkung von Selbst‑ und Fremdkonstitution und die unabdingbare Fähigkeit zur Responsivität, auf denen vielfältige Technologien auf bauen, damit Kollektive zu Subjekten werden. Diese differenzierte Analyseperspektive erlaubt es auch, die zeitgenössische Rhetorik eines ›starken‹ Subjekts einzuordnen. Mit der Semantik von Autonomie und Eigenverantwortung, Profil und individuellen Stärken werden Subjekte nicht geschaffen, sondern lediglich auf eine andere Weise subjektiviert. Ausgehend davon lassen sich im Wesentlichen drei Achsen weiterer Forschungen anschließen: Erstens gilt es in systematischer Hinsicht in den Blick zu nehmen, wie unterschiedliche Subjektformen individueller und kollektiver Subjektivität sich verschachteln, miteinander kombiniert werden und ineinander übergehen (vgl. Kühl 2014: 75ff.). Die Formenvielfalt kollektiver Subjekte wirft die Frage auf, wie die besonderen Subjektqualitäten von Teams von Organisationen ausgebeutet werden, wie sich Unternehmen als verschworene Gemeinschaften subjektivieren und welche Verfahren dabei zum Einsatz kommen. Besonderen analytischen Mehrwert verspricht dabei das Augenmerk auf Kollektivsubjekte als Scharnier zwischen systemischer Rationalität und Individualsubjekten. Zum Zweiten sind in genealogischer Perspektive die kollektiven Akteursfiktionen als variable ›Charaktermasken‹ von Interesse, deren konkrete Konstitution erheblichen zeitlichen und räumlichen Wandlungen unterliegt. Diese Untersuchungsachse sucht zu beschreiben, wie mit veränderten Selbstbeschreibungen von Funktionssystemen auch neue Akteursfiktionen angefertigt werden. So lässt sich die auch für Unternehmen oder ganze Volkswirtschaften in Anspruch genommene Figur des homo oeconomicus gleichermaßen als nüchtern kalkulierende ›Schwäbische Hausfrau‹ oder aber als gerissener Spekulant entwerfen (vgl. Stäheli 2007b). Das Bild der Schule und Schülers des 19. Jahrhunderts entspricht kaum noch dem der Gegenwart, und es bestehen deutliche Unterschiede zwischen dem deutschen und französischen Universitätsideal. In diesem Zusammenhang interessiert auch, wie im Zuge sich wandelnder Adressierungen auch Imperative und Rationalitäten anderer Teilsysteme aufgenommen werden, um kollektive Subjekte zu ökonomisieren oder pädagogisieren.

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Eine dritte Achse schließlich betrifft die Widerstände und das Fehllaufen von Adressierungen. Ausgehend von der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation (vgl. Luhmann 2005b) können in systemtheoretischer Perspektive die Prozesse des Scheiterns von Subjektivierungsprozessen präzise in den Blick genommen werden. Vor dem Hintergrund, dass Kommunikation und Subjektivität immer wieder neu hergestellt werden müssen, interessieren die Momente der Unterbrechung und Irritation von Kommunikation. Analysen der Sinnzusammenbrüche (Stäheli), in denen systematische Kommunikation immer wieder scheitert, sind nicht nur geeignet, zu analysieren wie unabgeschlossen und brüchig Subjektivierungsprozesse sind, sondern auch die Momente der Entleerung und Wiederauffüllung, der Entwertung und Umkehrung von Sinn herauszuarbeiten. Insbesondere die letztgenannte Untersuchungsachse zeigt das unerwartete widerständige Potential systemtheoretischer Subjektivierungsanalysen auf: Die unabdingbare Wiederholung und Neukonstitution jeglicher Adressierung macht die Kontingenz jeder Subjektivierung deutlich und setzt das Subjekt immer wieder neu »aufs Spiel« (Butler 2001: 32). Seine prinzipielle Freiheit, sich zu den systemischen Adressierungen zu verhalten und Irritationen zu veranlassen, markiert auch das Potential für das Nicht-Funktionieren und das ›Gegen-Verhalten‹, auf das Subjektivierungs­t heoretiker von Butler bis Foucault aufmerksam gemacht haben. Weil sich die polykontexturalen Adressierungen (vgl. Fuchs 1997) immer auch in einem Kampf um das Prärogativ des Subjekts befinden, den letztlich nur das Subjekt entscheiden kann, ist eine einseitige totale Unterwerfung unter einen bestimmten Systemimperativ kaum möglich. Weil in jede Kommunikation ein potentielles Scheitern eingeschrieben ist, ist es immer auch möglich, nicht dermaßen adressiert zu werden. Es bleibt zu klären, inwiefern diese individuelle Option kollektive Realität werden kann.

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Das individuelle Leben und das Gemeinwesen als Baustelle Zu einer Leitmetapher zeitgenössischer Subjektivierung Felix Heidenreich

1. E inleitung In seinem Roman Austerlitz entfaltet W.G. Sebald eine ausführliche Reflexion über die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung von Bunkeranlagen. Die architekturgeschichtlichen Exkurse, die Sebald mal dem Erzähler selbst, mal der rätselhaften Figur des Austerlitz in den Mund legt, können als Versuche gelesen werden, eine Art Geschichte der Materialisierung von Subjektvorstellungen in Gebäuden zu schreiben.1 Dass der Ich-Erzähler gleich zu Beginn des Textes über die »Nutzung« der Bunkeranalagen als Foltergefängnisse durch die Nationalsozialisten reflektiert und der Roman schließlich mit dem Bericht über Verbrechen in Theresienstadt endet, das Thema des Holocaust also den gesamten Text umgreift, kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass der Name Austerlitz hier als Chiffre für Auschwitz steht.2 Sebald konfrontiert den Leser nach dieser Lesart mit einer narrativen, von Digressionen durchzogenen Analyse, welche die Verbindungslinien zwischen der Figur der Souveränität – paradigmatisch imaginiert in Napoleons spektakulärstem Sieg, der Schlacht von Austerlitz – und dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts nachzeichnet. Die Bunker- und Festungsanlagen, die in der absolutistischen Epoche ihre paradigmatische Form in Vaubans sternenförmigen Gebilden annahmen, sind dann nicht nur Ausdruck einer bestimmten Vorstellung vom souveränen Subjekt, sondern bestärken als Spiegel das Selbstbild souveräner Herrscher. 1 | Auch in Die Ringe des Saturn spielt diese Analogie von Subjektform und Gebäude eine Rolle. Hier erscheint am Ende des Romans die rätselhafte Figur eines obsessiven Modellbauers, dessen unabschließbare Bauwerke die Desintegration des von der saturnischen Melancholie befallenen Erzählers zu spiegeln scheinen. 2 | Frankfurt a.M. 2003, vgl. vor allem S. 25ff. und 335ff.

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Sebald deutet, so scheint es, Architektur als ein Medium der Subjektivierung, in dem zum einen aktive und passive Aspekte ineinander übergehen, zum anderen aber die individuelle und die kollektive Ebene systematisch überblendet werden. Der Text Austerlitz versucht sich dann womöglich an einer Genealogie jenes Denkens, das im Absolutismus die Souveränität des Monarchen feiert, geniale Heerführer glorifiziert und schließlich das Volk zum Kollektivsubjekt erklärt. Spätestens im identitären Denken des Nationalsozialismus wird die Gefährlichkeit dieser Analogie zwischen souveränem Führer und souveränen, an keinerlei Recht gebundenem, Volk offensichtlich. Im folgenden Beitrag soll am Beispiel des Topos »Baustelle« der Frage nachgegangen werden, welche Subjektivierungsprozesse kollektiver Subjekte in den Fokus rücken, wenn man die Frage nach dem analogischen »als« auf diese Weise umkehrt – also nicht mehr danach fragt, inwiefern die Bilder vom Kollektiv zur Anleitung einer individuellen Selbstwahrnehmung verwendet werden, sondern umgekehrt, welche Modelle individueller Subjektivität zur Norm für kollektive Subjekte erklärt werden. Zunächst sollen einige allgemeinere Beschreibungen der Subjektivierung durch Analogien dazu beitragen, die Diskussion um Subjektivierungspraxen, wie wir sie von Foucault oder Althusser kennen, mit metapherntheoretischen Überlegungen zu verknüpfen. (2.) Dann werde ich das Metaphernfeld der Architektur aus dem Potenzial konkurrierender Leitbilder herausgreifen und eine These zum historischen Wandel dieses Denkbildes formulieren (3.). Diese eher allgemeinen Überlegungen werden in einem vierten Abschnitt am Beispiel Derridas konkretisiert. In seinen Schriften lässt sich, so eine zweite These, zeigen, wie das Denkbild der bricolage und Dekonstruktion von der Subjekttheorie wieder in die politische Philosophie überspringt, wenn Derrida eine »démocratie à venir« konzipiert, die sich durch genau jene Unabgeschlossenheit und Selbst-Differenz auszeichnet, die Derrida in seinen früheren Schriften als kennzeichnend für das Subjekt ausgewiesen hat (4). Abschließend werde ich das Bild von der unabschließbaren, der ewigen Baustelle nach seinen durchaus fragwürdigen politischen Implikationen befragen (5.) und auf das Verhältnis von Subjektivierung und Subjektivierungsanalyse zurückkommen (6.).

2. Techniken der S ubjek tivierung : I mper ative , N arr ative , A nalogien Um die diskursiven Strategien zu ordnen, die in Prozessen der Subjektivierung eine zentrale Rolle spielen, kann die Bezugnahme auf grammatikalische Kategorien hilfreich sein.3 Die erste, vielleicht grundlegende Form ist der Impe3 | Vgl. hierzu auch die sehr hilfreiche Darstellung bei Saar (2013).

Das individuelle Leben und das Gemeinwesen als Baustelle

rativ. In Althussers Urszene der »interpellation« wird ein Subjekt durch einen Imperativ als etwas angesprochen – beispielsweise als Bürger oder Rechtssubjekt. Der Polizist, der »Stehenbleiben!« ruft, formuliert einen Befehl; indem er ruft: »He, Sie da!«, adressiert er ein Rechtssubjekt, das auskunftspflichtig ist und sich den Gesetzen zu unterwerfen hat (Althusser 1977: 142). Auch ganze Kollektive können sich selbst durch Imperative auf spezifische Weise subjektivieren. Die kollektive Subjektivierung kann durch Transzendenzbezug hergestellt werden, beispielsweise im Sch’ma Jisrael Adonai, in dem das Volk Israel durch den Imperativ »Höre Israel!« konstituiert wird, sie kann die Form einer immanenten Selbstanrufung annehmen (»Allons enfants de la patrie!«) oder sich wie beim »Nie wieder!« auf die Verbrechen eines historischen Kollektivs beziehen. Die Form des Imperativs hat eine besonders enge Verbindung zu den konkreten Praxen der Subjektivierung: Imperative hören wir in Schulen, Kasernen, Fitnessstudios und Assessment-Centern, wo Körper geformt und Selbstwahrnehmungen geprägt werden. Ein zweiter Typus kann unter dem Begriff des Narrativs zusammengefasst werden. Die Herkunft soll für Individuen wie für Kollektive nicht nur Legitimation stiften, sondern zugleich so etwas wie ein Programm beinhalten.4 Nicht nur Individuen werden gefragt »Was ist Deine Geschichte?«.5 Wenn uns beispielsweise historische Fernsehdokumentationen zu erklären versuchen »Wie wir wurden, was wir sind« (so der Titel einer Reihe des ZDF und eines vom Klett-Verlag produzierten Lehrbuchs Geschichte), so wird damit zugleich der Anspruch formuliert, narrativ bestimmen zu können, was wir in einem naturalisierenden Sinne, sozusagen wesensmäßig »sind« – und daher tun sollten. Während Imperative ihren Aufforderungscharakter schwer verbergen können, suggerieren Narrative ihre Plausibilität oft durch ästhetische Verführung oder 4 | Vielleicht ist es hilfreich, daran zu erinnern, wie weit die Analyse der narrativen Produktion kollektiver Subjekte zurückreicht. In seiner Monographie In Geschichten verstrickt von 1976 beschreibt Wilhelm Schapp in den Schlusskapiteln die narrative Produktion von Wir-Subjekten (Schapp 1976: 190ff.). Zwar bewegt sich Schapp noch ganz in einer phänomenologischen, bzw. heideggerianisch anmutenden Terminologie. Für Habermas stellt jedoch Schapps Buch einen wichtigen Referenzpunkt zur Erläuterung des Begriffs der Lebenswelt in der Theorie des kommunikativen Handelns dar (Habermas 1981: 224f.). Die Verstrickung in Geschichten hat nach Habermas lebensweltlichen Charakter, wenn diese Geschichten als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht problematisiert werden. Zur neueren Erzähltheorie vgl. Koschorke (2012). 5 | Am Rande sei daran erinnert, dass man in den USA beispielsweise im Falle einer Verfilmung von Schicksalen ein Copyright auf »seine« Geschichte geltend machen kann. Hier ergibt sich eine interessante Analogie zum Subjektivierungsschema des unternehmerischen Selbst: Das Narrativ eines möglichst dramatischen Schicksals wird hier gewissermaßen zu einem schutzbedürftigen Markenkern erklärt.

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den Verweis auf wissenschaftliche Tatsachen.6 Wir brauchen dann – auf kollektiver wie individueller Ebene – Gegengeschichten, Genealogien, welche die Kontingenz dieser Narrative ausweisen, um ihnen entgegentreten zu können.7 Ein dritter Modus der Subjektivierung ist die Analogiebildung. In diesem Fall sind es Leitmetaphern und Denkbilder, welche die Subjektbildung vorantreiben und prägen. Individuen oder Kollektive verstehen sich meist als etwas; sie bilden Thesen über Ähnlichkeit aus oder werden mit Behauptungen über Ähnlichkeit konfrontiert. Das Schema lautet dann: Ich bin wie[…], oder: wir sind wie[…], oder eben: Du bist/Ihr seid wie[…] In vielen Fällen operieren diese Analogien eher implizit, weil ihre genauen Inhalte unthematisiert mitlaufen. Was es im Einzelnen bedeutet, den Staat als Staatsschiff, die Gemeinde als feste Burg, das Fußballteam als »Uhrwerk« zu verstehen, muss jeweils expliziert werden und ergibt sich keineswegs automatisch.8 Wie die Begriffe gewinnen auch die Analogien ihre Bedeutung durch Gebrauch. Entscheidend ist nicht nur, welche Metaphern Verwendung finden, sondern auch und vor allem wie diese eingesetzt werden, wie sie wirken, welche Schließungen bzw. Öffnungen sie in Subjektivierungsprozessen hervorrufen. Daher muss es einer metaphorologischen Subjektivierungsanalyse immer darum gehen, den Mechanismus der Subjektivierung durch Analogie im Vollzug, als Praxis zu beschreiben. Alle drei Mechanismen, Imperativ, Narrativ und Analogie sind aufgrund ihrer pragmatischen Funktion nur idealtypisch sauber zu trennen. Viele Imperative sind gerade Imperative zur Analogiebildung: Verstehe Dich als[…]! Und auch die Narrative haben meist die Form historischer Analogiebildungen. Sie erzählen nicht einfach (irgend-)eine Geschichte, sondern orientieren sich an vertrauten plot-Strukturen und benutzen dabei historisches Material. Das nationalistische Narrativ von der besonderen Verwandtschaft zwischen den Griechen und den Deutschen, das sich von der Frühromantik bis zu Heidegger nachverfolgen lässt, ist hierfür ein naheliegendes Beispiel. Das analogische »als« kann in den narrativen Bezugnahmen zudem in der Form des Schemas einer Präfiguration erscheinen: Washington versteht sich als Rom, Moskau gar als drittes Rom, Hitler sieht sich als Napoleon, das BREXIT-Votum wird zum Independence 6 | Vor allem die Nationalismusforschung hat diesen Mechanismus seit den 1970er Jahren an zahlreichen Beispielen untersucht. Vgl. die Arbeiten von Benedict Anderson, Bernhard Giesen, Shlomo Sand und vielen anderen. 7 | Besonders deutlich hat dieses Verhältnis von Geschichten und Gegen-Geschichten Martin Saar herausgearbeitet (Saar 2007). Zu einer möglichen Krise narrativer SelbstSubjektivierung vgl. Sennett (2000). 8 | Zu den wichtigsten Analysen der Staatsmetaphorik gehört die bei Friedrich Ohly entstandene Habilitationsschrift von Dietmar Peil, die auf 940 Seiten die Geschichte und Bedeutung zentraler Staatsmetaphern rekonstruiert. Zum Denkbild des Staatsgebäudes vgl. besonders: Peil (1983: 596-699).

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Day erklärt etc.9 Die drei Idealtypen der Subjektivierung bilden daher eine Art interagierendes Dreieck: Imperative brauchen ein legitimierendes Narrativ (der Dekalog braucht den Exodus), Narrative können latent oder explizit imperativische Form annehmen – und beide operieren zugleich analogisierend. Auch wenn die Pragmatik der Techniken ihre Bedeutung definiert, sind doch die Inhalte nicht bloß irrelevantes Material, das jede beliebige Verwendung ermöglicht. Die Anwendung spezifischer Denkbilder ist kontingent, aber nicht einfach unbestimmt. Zwar lassen sich Denkbilder umkehren (Blumenberg würde in diesem Fall von einer Umbesetzung sprechen); sie lassen sich auch weiterentwickeln oder einer technischen Innovation anpassen. Dennoch scheinen spezifische Analogien wie die Mensch-Kollektiv-Analogie bestimmte Implikationen in sich zu tragen. Diese Analogie zwischen individuellem Menschen und Kollektivsubjekt, die Platon zu Beginn der Politeia stilbildend formuliert, als er die dialektische Erörterung des Gerechtigkeitsbegriff an einem »größeren Paradigma« weiterzuführen vorschlägt, ist wohl eine der ältesten Subjektivierungs-Analogien. Auch Analysen der Subjektivierung kollektiver Subjekte operieren noch mit diesem Analogieschluss, wenn sie beispielsweise Foucaults Analysen zur Subjektkonstitutionen auf Kollektive übertragen.10 Zugleich wird dabei durch Thematisierung der Analogieschluss selbst transparent. Die Geschichte dieser Analogie wird besser verständlich, wenn man bedenkt, dass jeweils ein tertium comparationis gebraucht wird, ein drittes Element, das die eigentliche strukturierende Form in den Vergleich einführt. Menschen sind wie kleine Staaten oder Staaten wie große Menschen, insofern sie jeweils beide einem Dritten ähneln, z.B. einem Wagenlenker, einem Staatsschiff oder einem gewaltenteiligen System. Die Analogie von Staat und Subjekt mag vormodern erscheinen. In der Tat ist sie vor allem in einer vorkopernikanischen Welt plausibel, in der in einer great chain of beings alles seinen »angestammten Platz« hat, so dass in einer großen Topologie die Analogien ausweisbar sind. Doch auch in genuin modernen Subjektivierungsprozessen finden wir dieses analogische »als«, etwa im Subjektivierungsschema des »unternehmerischen Selbsts«, der Anrufungsfigur 9 | Die theologischen Subtexte der Figur »Präfiguration« hat Hans Blumenberg in seiner Analyse des politischen Mythos auf anthropologische Konstanten zurückgeführt (Blumenberg 2015). 10 | Der Analogieschluss kommt daher gewissermaßen zweimal vor: Er wird auf der Theorieebene vollzogen, indem wir nach Analogien fragen (Beobachtung zweiter Ordnung); und er kommt auf der Objektseite vor (Beobachtung erster Ordnung), nämlich dort, wo Kollektive durch Analogiebildung subjektiviert werden, beispielsweise indem man den eigentlich individuell konnotierten Begriff der Verantwortung auf ein Kollektiv anwendet.

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eines Subjekts, das sich als Unternehmen zu verstehen hat (Bröckling 2007). Es ist zugleich ein Subjekt, das bestenfalls Teil eines politischen Kollektivs sein kann, das selbst wiederum als Unternehmen gedacht wird, nämlich als neoliberaler Staat der das Human Capital seiner Bürger optimal bewirtschaftet.

3. E ine me taphorologische S ubjek tivierungsanalyse In seinen diskursanalytischen Studien unterscheidet Foucault nicht systematisch zwischen Begriffen, Denkbildern und Metaphern.11 Dabei ist die Prägekraft von Bildern in seinem Werk beständig präsent. Warum sich Foucault nur an wenigen Stellen und eher unsystematisch zu Bildern äußert, hat Ulrich Johannes Schneider ausführlich diskutiert.12 Foucaults nur beiläufiges Interesse an Bildern und Denkbildern ist vor allem deshalb so erstaunlich, weil die Ursprünge der aktuellen bildwissenschaftlichen Debatten bis in die 1920er Jahre zurückreichen. Die Bilder der Gouvernementalität schienen indes für Foucault die strukturierenden Begriffe und Diskurse eher ornamental zu begleiten. Dass die Debatte, die sich um den Topos der »Macht der Bilder« in den vergangenen Jahrzehnten entfaltet hat, dieser Einschätzung fundamental widerspricht, braucht nicht eigens betont zu werden. Bezüglich der Denkbilder und Metaphern war es vor allem Hans Blumenberg, der früh (unter erkennbarem Rückgriff auf Nietzsche) gegen die Theorie der bloßen Ornamentfunktion von Metaphern argumentierte. In seinen »Paradigmen zu einer Metaphorologie« (ursprünglich ein DFG-Antragstext) spricht er nicht nur von »absoluten Metaphern«, sondern vor allem von »Leitmetaphern«; diese organisieren Diskurse. Sie entziehen sich dabei dem souveränen Gebrauch ihrer Schöpfer und entfalten eine Eigendynamik. Genau dieser Umstand macht sie denn auch zu »Leitfossilien«, also herausgehobenen Indikatoren für diskursive Formationen. Blumenbergs eigene Arbeiten wirken indes auf rätselhafte Weise unpolitisch.13 Seine Äußerungen zu verschiedenen »Wirklichkeitsbegriffen« erinnern in ihrer Allgemeinheit eher an Heideggers Thesen über »Seinsverständnisse«. Dass Metaphern immer Elemente sozialer Praxis sind, ist eine Einsicht, die

11 | In Les mots et les choses deutet er bekanntlich das Denken in Analogien als ein historisches Phänomen. In den späten Vorlesungen zum Neoliberalismus spielen Analogiebildungen aber keine systematische Rolle. Müsste der »Markt« nicht auch als Denkbild gelesen werden, nicht nur als Begriff? 12 | Ulrich Johannes Schneider entwickelt eine »Galerie nicht genutzter Bilder« (Schneider 2009). 13 | Ob sie es auch wirklich sind? Vgl. Heidenreich (2015b).

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heute vor allem durch die angelsächsische Kognitionswissenschaft Verbreitung gefunden hat.14 Versucht man indes so etwas wie eine Politische Metaphorologie zu unternehmen, so ergeben sich auch Verknüpfungsmöglichkeiten zu den Schriften des späten Wittgenstein. Auch die Philosophie der Sprachspiele scheint zunächst ganz unpolitisch gemeint zu sein, ja in der Regel wird ihr vorgeworfen, sie sei konservativ, insofern sie die Plastizität von Sprachspielen nicht ausreichend betone.15 Sie kann aber auch dekonstruktiv gelesen werden. »Ein Bild hielt uns gefangen«, heißt es in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen. Eine mögliche subjektivierungstheoretische Aktualisierung könnte lauten: »Eine Analogie subjektivierte uns.« Es wären demnach einzelne Leitbilder oder Lebensmetaphern, an denen sich ein Selbstbild nicht nur auskristallisiert, sondern die zugleich auf das Subjekt strukturierend zurückwirken. Wie sich solche Subjektivierungen intergenerationell übertragen, zeigt eine Schlüsselszene in Karl Ove Knausgårds Roman Sterben, dem ersten Band des Romanprojekts Mein Kampf. Der Erzähler ist nach dem Tod seines Vaters damit beschäftigt, die verwahrloste Wohnung des Verstorbenen zu säubern und zu entmüllen. In einer kurzen Kaffeepause formuliert die Großmutter den entscheidenden Satz – das Leben ist ein Kampf – und legt damit die Subjektivierung offen, die dem Sohn als Deutungsschema mitgegeben wurde und aus dem sich der Erzähler mühsam herauszuarbeiten versucht.16 Knausgård scheint hier ganz bewusst einen Schlüsselmoment der intergenerationellen Übertragung von Subjektivierungen zu thematisieren und führt über tausende Seiten vor, in welchem Sinne der Erzähler – in Wittgensteins Worten – durch ein Bild gefangen gehalten wird. Gerade Wittgensteins Hinterfragen eines vorsprachlichen, sich in einer Privatsprache selbst transparenten Subjekts bietet die Brücke zu einer von Foucault inspirierten Perspektive auf Subjektivierungsprozesse. Es gibt auch bei Wittgenstein kein in einem Zentrum der Macht erkennbares Subjekt, das »uns« mit Bildern gefangen hält, keine Akteure, die uns mit Analogien nach einem perfekten Plan subjektivieren. Subjektivierung durch Analogiebildung geschieht in Diskursen, sie (re-)produziert sich durch Sprachspiele, in denen Subjekte – kollektiv oder individuell – durch Analogiebildungen als etwas vorgestellt werden, sich selbst als etwas vorstellen und damit den Kontingenzraum des eigenen Handelns definieren. 14 | Am bekanntesten vielleicht: Lakoff/Wehling (2014). In der englischsprachigen Debatte wird die historische Dimension von Metaphern, ihr ideengeschichtliche Konnotationsraum, meist ausgeblendet. 15 | Zu dieser Diskussion vgl. Pitkin (1972). 16 | Der Satz wird zwar ironisch gebrochen als Zitat formuliert, verliert dadurch aber nicht die prägende Kraft, die ihm die Umstände verleihen. Vgl. Knausgård (2013: 559).

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Am Beispiel Rousseaus ließe sich verdeutlichen, inwiefern das tertium comparationis dabei entscheidend ist. Rousseaus Bindeglied zwischen Individuum und Kollektiv ist das Denkbild des (souverän beherrschten) Körpers. In seiner Kritik an der Gewaltenteilungslehre appelliert er im Contrat social daran, den corps social in Analogie zum menschlichen Körper als ein unzertrennbares Ganzes zu sehen: Die Souveränität kann nicht geteilt werden, weil auch der Mensch alle seine Glieder souverän bewegen können muss. Souveräne Subjekte nehmen sich hier souveräne Staaten zum Vorbild – und umgekehrt. Da der Analogieschluss hier also als Interaktion zu deuten ist, könnte man auch von einer doppelten Emergenz sprechen: Kollektives und individuelles Subjekt sind gleichermaßen Ergebnis eines als Interaktionsverhältnis erfolgenden, doppelt emergenten Prozesses.

4. K ollek tivsubjek te als G ebäude Auf die Kritik am Denkbild des souveränen corps social kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden (Heidenreich 2017). Das Beispiel soll lediglich zeigen, dass wir sehr wohl für die – in Foucaults Terminologie – juridische Gouvernementalität von einer Analogiebeziehung ausgehen müssen, bei denen Individuen als kleine Staaten und Staaten als große Personen angesprochen werden. Die Liste möglicher Verbindungsglieder, an denen sich der Analogieschluss ebenfalls zeigen ließe, ist lang, wobei das Metaphernfeld des Staatsschiffs vielleicht am klarsten bestimmte Assoziationsketten aufruft (Kapitän, Lotse, schwere See etc.). Der historische Wandel von Gouvernementalitäten ließe sich dann an »Umbesetzungen« von Metaphern nachverfolgen. Für den Übergang einer souveränen Selbstentfaltung und -gestaltung hin zu einem unabgeschlossenen Optimierungsprozess scheint vor allem die eingangs mit Verweis auf Sebald verdeutlichte Analogie aussagekräftig: das Bildfeld Bauen, Auf bau, Gebäude, »gemeinsames Haus«. Es ist hier wohlgemerkt nicht von einer einzelnen Metapher auszugehen, sondern vielmehr von einem Metaphernnetz, einem Feld von Analogien, die alle um die Analogie von Subjekt und Gebäude kreisen.17 Die Formel lautet dann: Individuen sind wie Gebäude, Gebäude sind wie Kollektive.18

17 | Vielleicht ist es wichtig, zu betonen, das Analogieschlüsse immer alle drei Elemente ko-definieren: A ist in Hinsicht auf B wie C – diese Formel definiert alle drei Elemente gleichzeitig durch Relationierung. 18 | In einer Zusammenarbeit mit dem Fotografen Christian Werner hat Markus Krajewski vorgeführt, inwiefern die Formel vom »Gesicht des Hauses« noch für die deutsche Nachkriegsarchitektur gilt. Vgl. Krajewski (2016).

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Eine schematisierende Rekonstruktion der historischen Abfolge würde wie folgt aussehen: Während vormoderne Formen architektonischer Subjektivierung in kleinen Gemeinschaften, wie beispielsweise das »Barn-raising« der Amish, vor allem die kollektive Handlung des Bauens hervorheben,19 verkörpert die absolutistische Architektur auch als Resultat auf ganz transparente Weise die Vorstellung eines souveränen Subjekts. Die Idee des souveränen Subjekts wird zunächst im Ergebnis materialisiert, also beispielsweise in der Architektur des Schlosses in Versailles, in der sonnenhaft alle Wege aus dem Zentrum heraus zu strahlen scheinen. Die Analogie zwischen Einzelsubjekt und Kollektiv ist hier ganz offensichtlich, weil hier die zwei Körper des Königs, individuelles und kollektives Subjekt, in eins gehen: L’etat c’est moi. Die Analogie wird hier zur Identität gesteigert. Gewissermaßen wird mit der Königs-Architektur zugleich versucht, die Sterblichkeit des Königs-Leibs zu kompensieren und die staatliche Macht intergenerationell zu festigen. Andererseits belegt das souveräne Subjekt bereits im Prozess, im Akt des Entwerfens und Bauens selbst seine Gestaltungsfähigkeit.20 Die Sternenförmigkeit dieser Materialisierungen zieht sich bis in die Festungsanlagen dieser Epoche, in der Baumeister wie Vauban ausgeklügelte Fraktale entwarfen,21 die zugleich eine Art Verpanzerung des Subjekts symbolisieren. Napoleon ist die paradigmatische Figur, die den Geniegedanken aus der Ästhetik in die Politik überträgt und so die Vorstellung vom souveränen Subjekt unter modernen Vorzeichen inszeniert. Als ungebundener Formgeber Europas ist Napoleon immer auch ein architektonischer Gestalter, der mit Triumphbögen, Avenuen und Marschstraßen den Kontinent zu formen versucht und so die eigene Souveränität belegt.22 19 | Beim »Barn-raising« der Amish werden im Rahmen eines Gemeindefestes tonnenschwere Balkenrahmen für Häuser oder Scheunen aufgerichtet. Hierzu wird die präzise koordinierte Handlung von rund 40 Männern benötigt (die Frauen kümmern sich streng abgetrennt um die Verpflegung). Das kollektive Subjekt der Gemeinde spiegelt sich hier zum einen in der kollektiven Handlung, aber auch in der kargen Architektur des berühmten shaker-Stils, der für seine klaren Linien und seine modern anmutende Schlichtheit bekannt ist. 20 | Ausführlicher zum Verhältnis von Theoriebau und Architektur vgl. Heidenreich (2016). 21 | Zur Ästhetik und Kulturgeschichte des Festungsbaus vgl. auch Rudi (2011). Hier wird an österreichischen Beispielen das Wechselspiel von ästhetischer Selbstdarstellung und Funktionalität im Festungsbau deutlich. 22 | Vgl. hierzu Poisson (2002). Zu den Topoi der »souveränen« Stadtgestaltung gehört bei Napoleon (auch hierin sicher Vorbild für Hitler) die Gestaltung großer Achsen, die rücksichtlos durch die Stadt geschlagen wurden. (Poisson 2002: 112ff.) Dass bis heute französische Präsidenten versuchen, die Souveränität der Nation, bzw. der eigenen

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Wie sich die Vorstellung vom genialisch-souveränen Subjekt in architektonischen Projekten oder Phantasien spiegeln kann, zeigt auch der Fall Hitler. Mehrfach ist die Linie herausgearbeitet worden, die vom genialischen Künstler (Paradigma Goethe) zum genialischen Politiker (Paradigma Napoleon) zum genialischen Diktator führt (Paradigma Stalin und Hitler).23 Hitlers Pläne für die Reichshauptstadt Germania orientieren sich interessanterweise in Teilen am Vorbild Napoleons. Vor allem aber der Gestus eines freien Verfügens über eine zu gestaltende Welt wird von Hitler in den stadtplanerischen Sandkastenspielen mit Albert Speer wirkmächtig inszeniert und verstärkt das Selbstbild. Das souveräne Subjekt beugt sich dabei über die Welt wie über einen Kartentisch;24 die Materialisierungen, die es dabei hervorbringt, sollen genau jener Größe Ausdruck verleihen, die es für sich und die eigenen Handlungen in Anspruch nimmt. In totalitärer Architektur und Stadtplanung manifestiert sich gewissermaßen der Triumph des Willens. Dass sich dieses Paradigma des souverän gestaltenden Subjekts im 20. Jahrhundert selbst dekonstruiert hat, stimmt nur teilweise. Es konnte von der politisch-militärischen Sphäre in den Bereich der Wirtschaft abwandern, wo heute vor allem genialisch-souveräne Unternehmer dem eigenen Selbstbild architektonisch Ausdruck verleihen. »Souveräne« architektonische Selbstrepräsentation finden wir heute bei der EZB oder der Firmenzentrale von BMW, in seltenen Fällen auch in der narzisstischen Selbstinszenierung architektonischer Souveränität wie dem von Donald Trump in Auftrag gegebenen Trump Tower. Immer schon gab es jedoch auch konkurrierende (Gegen-)Bilder vom individuellen oder kollektiven Selbst. Hierzu gehört nicht nur das Denkbild der romantischen Seelenruine oder des Geisterschlosses, sondern auch das Bild der Baustelle. Eine einflussreiche Umbesetzung des Konstruktionstopos hat Jacques Derrida vorgenommen. Der erste Schritt in diesem Prozess ist die Dekonstruktion der Vorstellung vom selbsttransparenten, souveränen Subjekt, die bei Derrida bereits mit der Auseinandersetzung mit Husserl beginnt. Während dieser noch zu glauben schien, das Subjekt der Phänomenologie könne die Kartierung der eigenen Wahrnehmungen souverän, verzerrungsfrei und über seine Stimme gebietend formulieren, zeigt Derrida in »Die Stimme und das Phänomen« (1967), dass das vermeintlich souveräne Subjekt eben nicht Herr über die eigene Sprache ist. Spätestens in »Des tours de Babel« verknüpft Derrida diese These explizit mit dem Denkbild der Architektur. Die SelbstPerson durch große Bauprojekte wie La Défense zu materialisieren, ist aus dieser Sicht ein zweifelhaftes Erbe. 23 | Jochen Schmidt ist dieser Rezeptionslinie aus germanistischer Sicht nachgegangen, Hans Blumenberg aus mythostheoretischer Sicht. 24 | Die Bedeutung der Karten und Kartentische für Hitlers Denken und Agieren hat Wolfram Pyta herausgearbeitet. Vgl. Pyta (2015).

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dekonstruktion, die sich an Babylons Türmen beobachten lässt, betrifft alle Gedankengebäude gleichermaßen: Die Konstruktion trägt immer schon den Keim der Dekonstruktion in sich. Das Paradigma des souveränen Subjekts ist hier – analog zur Neudeutung des Machtbegriffs bei Foucault – die Kontrastfolie. Derridas Umdeutung der Architekturmetapher in »Des tours de Babel« zeigt einen Prozess, in dem die »Subjekte« über ihre Mittel (vor allem die Sprache) gerade nicht souverän gebieten. An die Stelle des systematischen Auf baus tritt ein beständiges Umschichten, eine horizontale Bewegung des Verschiebens, das Sprach- und Mediengrenzen immer schon überschreitet und kein Außen mehr kennt. Die Rede von Babel steht dann nicht mehr nur, wie Derrida betont, für die Vielzahl der Sprachen, sondern zeigt »un inachèvement, l’impossibilité de compléter, de totaliser, de saturer, d’achever quelque chose qui serait de l’ordre de l’édification« (Derrida 1987: 203). Dass diese Einsicht in die Unmöglichkeit eines totalisierenden »Bauens« oder »Errichtens« (édification) auch eine politische Dimension hat, scheint heute, im Rückblick auf Derridas Werk, dessen politische Implikationen vor allem in den späten Veröffentlichungen klar zutage traten, beinahe trivial. Natürlich müssen auch schon die frühen Schriften Derridas als im weitesten Sinne politische Philosophie gelesen werden, insofern sie gegen Naturalisierungen aller Art Einspruch erheben. In den späten, demokratietheoretischen Schriften wird indes erst deutlich, inwiefern er die Unabgeschlossenheit der Selbstauslegungsprozesse des Individuums durch einen Analogieschluss auf das Subjekt der Demokratie überträgt: Offen, unabgeschlossen, immer auslegungsbedürftig und prekär, durch ein vokativisches Ansprechen erst in die Welt zu bringen – so werden nun individuelles wie kollektives Subjekt gedacht. Derridas Hinweis auf eine unhintergehbare »semantische Instabilität« (Flügel 2004: 34) verweist auf den mythischen Charakter jeder Form naturalisierender Stabilitätsbehauptungen und macht sie damit hinterfragbar: Eine Demokratie kann niemals ein abgeschlossenes Gebäude auf festem Grund sein. Sie mag Grundgesetze für sich in Anspruch nehmen, entrinnt aber nicht der Paradoxie Rechtssetzung, die sich – beispielsweise im Moment der Verfassungsgebung – nicht im selben Sinne auf einen Rechtsbasis berufen kann.25 Der Begriff der »démocratie à venir« deutet an, was dann möglich bleibt: Die »démocratie à venir« ist die mit sich selbst nicht-identische Demokratie – kein erreichtes oder auch nur erreichbares politisches System, sondern ein unabschließbarer Suchprozess. Sie ist die ewig »vertagte Demokratie« (Derrida 1992: 82f.). An die Stelle einer poli25 | Vgl. Derrida (1991). Auf der »konkreten« Ebene zeigt sich dies beispielsweise dadurch, dass die Demokratie nach Derrida keine unverhandelbaren »Grundlagen« haben kann: Auch die Verfassung ist immer wieder und immer neu verhandelbar. Auch sie kann sich nicht als abschließenden Fundament oder »Grund«-gesetz unhinterfragbar machen.

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tischen Architektur der Gründung tritt eine dekonstruktive Architektur, die ihre eigene Unabgeschlossenheit immer schon mitdenkt, das Gemeinwesen als offen, ja als eine Art nie vollendete Baustelle begreift. Die »démocratie à venir« bezeichnet damit zugleich ein kollektives Subjekt, das als unabschließbare Baustelle ohne Masterplan, ohne gegebenes Telos, angesprochen wird. Dieses Subjekt muss als irgendwie souverän gedacht werden, kann aber zugleich nicht in jenem Sinne souverän sein, in dem es sich durch Abgrenzung von einem Außen, einem »Biest« definiert.26 In diesem Sinne ist »die vertagte Demokratie« der genaue Gegenentwurf zum Staatsaufbau der imperial-republikanischen Tradition: Weder ist sie das Produkt eines souveränen Subjekts, noch kann sie je abgeschlossen sein. Das demokratische »Wir« kann daher niemals mit Bestimmtheit sagen, wen es im Einzelnen bezeichnet. Das demokratische Subjekt hat keine Identität, sondern immer nur neu zu entwerfende Identifizierungen.

5. A mbivalenzen der B austelle : V om V ersprechen zur D rohung Derrida scheint damit einen Modus der Subjektivierung auf den Begriff zu bringen, der sich auch in den populär verbreiteten Architekturmetaphern widerspiegelt. Das Denkbild verändert sich in dieser Umdeutung jedoch grundlegend. Eigentlich würde man vermuten, jede Baustelle strebe immer schon auf ein Telos zu; zwar mag es bleibende Aufgaben der Erhaltung und Restaurierung geben, wie bei den gotischen Kathedralen, wo die Bauhütte im Jahresrhythmus um das Gebäude wandert. Eine unabschließbare Baustelle scheint indes schwer vorstellbar, ja sie ist wohl noch am ehesten in Bauwerken wie Dammanlagen an der Küste vorstellbar, die ebenfalls in beständiger Fortentwicklung begriffen sind. Die Paradoxie eines post-souveränen Bauens diskutierte Derrida selbst in der Auseinandersetzung mit der Architektur seiner Zeit (Derrida 1988). Doch nicht nur Derrida verfolgt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein anti-souveränes Programm. Vielmehr lässt sich beobachten, wie sich der Konnotationsraum des Denkbildes auch außerhalb der Philosophie in den 1980er und 1990er Jahren verändert. Wenn in dem 1997 veröffentlichen Film »Das Leben ist eine Baustelle« auf geradezu idealtypische Weise die GebäudeAnalogie vollzogen wird, so geschieht dies nach einer zentralen Umbesetzung. Die Subjektivierung erfolgt hier in der Form des Narrativs: Erzählt wird die Geschichte von Charakteren, die sich als tapfere, aber wenig souveräne Arbei26 | Die Ambivalenz einer demokratischen Souveränität ohne Feindstellung zu einem »Biest« wird in Derridas letzten Vorlesungen ausführlich thematisiert. Vgl. Derrida (2008).

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ter auf der recht chaotischen Baustelle ihres Lebens erweisen. Die Baustelle ist hier gerade nicht das Projekt souveräner Subjekte, die auf »feste Grundlagen« bauen können. Vielmehr führt der Film vor Augen, dass der »Bau« am eigenen Leben einer beständig kompensierenden bricolage gleicht und eine von Unplanbarkeiten geprägte Baustelle auf schwankendem Grund darstellt. Die Befreiung von bürgerlichen Konventionen wird hier noch als Lizenz zur Improvisation gefeiert, das Leben einer freien Bohème glorifiziert. Das absolutistische oder totalitäre Bild von der souverän beherrschten Baustelle scheint hier längst in der historischen Distanz verschwunden zu sein. Verstärkt wird diese Umcodierung in der Gegenwart durch die kollektive Erfahrung, dass Versuche souveränen kollektiven Planens nicht selten in unfreiwilligen Dauerbaustellen enden. Die Großprojekte »Stuttgart 21«, der Hauptstadtflughafen in Berlin oder die Hamburger Elbphilharmonie sind hier nur die prägnantesten Beispiele.27 Die Kulturgeschichte der Baustelle kann zudem zeigen, dass im Falle von Großbaustellen die Grenzen zwischen Stadt und Baustelle vollends verschwinden können, weil Arbeitersiedlungen zu neuen Städten und ganze Städte zu riesigen Baustellen werden: Das Subjekt des Bauens kontaminiert sich gewissermaßen mit der Kontingenz seines Objekts (Heine 2015). Die Veränderungen des materiellen Konnotationsraums der Subjektivierungsanalogie verändert so allmählich seine Bedeutung: Die Baustelle wird zu einer durchaus ambivalenten Leitmetapher. Die Ausweitung der Bauzone ist nicht nur Versprechen, sondern zugleich Drohung. Diese Umbesetzung erfolgt zudem in einem Kontext, der Auf bauprozesse zum einen tendenziell privatisiert und andererseits Kontingenz zur Pflicht erhebt. Die neoliberale Idealisierung von Flexibilität, Prekarität und Unverbindlichkeit harmoniert mit der Leitmetapher der Baustelle: Zwar soll das neoliberale Subjekt so tun, als sei das eigene Leben ein souverän gestaltbares Projekt, bei dem das Selbst wie ein Unternehmen gesteuert werden kann; zugleich aber muss die Erfahrung der Kontingenz in dieses Narrativ integrierbar sein. Auch das Scheitern wird dann zum Ausweis der erfolgreichen Selbstoptimierung und kann in »Fuck-up-Nights«, in der sich Start-up-Unternehmer mit ihren (möglichst spektakulären) Misserfolgen brüsten, in den Rahmen einer narzisstischen Selbstinszenierung eingebettet werden. Die Analogie der Baustelle leistet die Überdeckung des Konflikts zwischen neoliberalem Narrativ der individuellen Souveränität und der verbreiteten Erfahrung der wegbrechenden Vorbedingungen. Das Schema Leben als Baustelle zu leben bedeutet, sich der Illusion souveräner Selbstgestaltung hinzugeben und im Falle des Scheiterns dieses Scheitern ins Narrativ durch Umbesetzung einbetten zu können, ohne 27 | Zur Kontrastierung lohnt eine Betrachtung des Schweizer Projekts des GotthardBasis-Tunnels. Dessen Erfolg wurde entsprechend als Ausdruck der eidgenössischen Souveränität inszeniert und gefeiert. Vgl. die Analyse bei Sieber (2012).

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thematisieren zu müssen, dass womöglich der kollektiv zu bestellende Baugrund ungleich verteilt oder zu Sand zermahlen war. Die äußerst ambivalenten Implikationen der Analogie lassen sich besonders deutlich am Beispiel des »gemeinsamen Hauses Europa« zeigen, aus dem diskursiv längst eine Baustelle, bisweilen gar eine »brennende Baustelle« (List 1999) geworden ist – eine interessante Verdopplung der Metapher, die zwei Krisenbilder fusioniert. Mit der Umbesetzung dieser Leitmetapher verschieben sich jedoch zugleich die Ansprüche an das Kollektivsubjekt »Europa«: Statt stabiler Grundlagen und transparenter Prozesse genügt es nun, (noch) nicht eingestürzt zu sein. Die Erwartungen und Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger werden so nach unten der Realität angepasst. Ein Seitenblick auf photographisch vermittelte Denkbilder kann zeigen, dass die Transformation des Bildfeldes wiederum auf die Ebene individueller Subjektivierung zurückwirkt. Die Wirtschaftszeitschrift brandeins publizierte im Herbst 2015 einen Titel, der als idealtypische Subjektivierungsformel gelesen werden kann (Abb. 1). Suggestiv ist dieser Titel auch insofern er nicht etwa als Imperativ daherkommt, sondern insinuiert, das Leben als Baumhütte auf instabilen Stelzen sei ein selbstgewähltes Modell.

Abb. 1: Titelbild von brandeins 10/2015. Der Redaktion sei an dieser Stelle für die Möglichkeit des Abdrucks herzlich gedankt.

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Abb. 2: Luxus-Hochhaus in Sao Paulo neben Favela. Mit besonderem Dank für die Möglichkeit des Abdrucks an Tuca Vieira. Aus metaphorologischer Sicht müsste man nun davon ausgehen, dass diese Analogien eben nicht nur ornamental einem gewissen Lebensgefühl der Universalprekarisierung Ausdruck verleihen, sondern zugleich die Erwartungen und Selbstbilder mitdefinieren. Inwiefern hier Narrative, Imperative und Analogien verschränkt sind, lässt sich an weiteren Beispielen zeigen. In einem »Das Leben ist eine Baustelle« betitelten Interview wirbt die Entwicklungspsychologin Ursula M. Staudinger, die bis 2013 das Jacobs Center on Lifelong Learning and Institutional Development an der Jacobs University Bremen leitete und seither in New York lehrt, für die lebenslange Gestaltung der eigenen Gewohnheiten und die unabschließbare Optimierung der eigenen Fähigkeiten. Zentral für die Arbeit auf dieser Baustelle des Lebens ist ihrer Auffassung nach die »internale Kontrollüberzeugung«, die funktionsnotwendige Souveränitätsfiktion, die durch Praxis eingeübt werden kann: »Wenn man feststellt, dass man sich oft ausgeliefert fühlt, kann man versuchen, sich mit Zetteln am Spiegel immer wieder zu erinnern, dass man mitentscheidet, wie man die Welt sieht.« (Schnurr 2013). Die Ambivalenz dieser Formulierung ist evident: Sie könnte einerseits gelesen werden als Aufforderung, internalisierte Imperative zu hinterfragen; womöglich hat sie aber einen gegenteiligen, entpolitisierenden Effekt: Die Arbeit auf der Baustelle des psychischen Haushalts ersetzt dann die Mitarbeit am Haus des politischen Gemeinwesens, die dazu beitragen könnte, die Quellen von Ohnmachtsgefühlen zu thematisieren.

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Wer subjektiviert wird als ein Subjekt, das ohnehin nur die ewig unabgeschlossene bricolage erwartet, wird den Flexibilisierungsdruck nicht mehr als kontingente und gestaltbare Größe erleben, sondern als natürlich hinnehmen. Indem die Leitmetapher der Lebensbaustelle subjektiviert, definiert sie Erwartungen, Hoffnungen und zugleich das Maß der Konfliktbereitschaft. Aus der Deskription droht unterschwellig eine Präskription zu werden: Das Leben ist (nun mal) eine (ewige) Baustelle! Damit kann die Formel zugleich darüber hinwegtäuschen, dass eben nicht alle Baustellen gleich sind, wie das Bild des brasilianischen Photographen Tuca Vieira zeigt (Abb. 2). Auch hier gilt, was ein Blick auf die architektonische Materialisierung sozialer Ungleichheit zeigt: Der Kontext macht die Metapher, denn wer mit der Metapher der Baustelle die Arbeit an der eigenen Villa assoziiert, erlebt eine andere Subjektivierung, als jene, deren Baustelle in den benachbarten Favelas steht.

6. G e wählte S ubjek tivierung : D ie F reiheit, sich subjek tivieren zu l assen Der Durchgang durch das Material zeigt, dass die politische Dimension der Subjektivierung durch Analogie oft latent bleibt. Denn der bricolage-Charakter sowohl der individuellen Lebensführung als auch der Selbstwahrnehmung politischer Kollektive, wird tendenziell naturalisiert. Wenn das vielbeschworene »Haus Europa« als »ewige Baustelle« beschrieben wird, droht aus dem Blick zu geraten, dass accountability, transparente Strukturen und menschenrechtliche »Grund«-lagen für das Institutionengefüge der EU zurecht als abschließbare Bauphasen betrachtet werden können. Baustellen, die aber gar nicht von sich beanspruchen, sich an einem kollektiven Plan zu orientieren, brauchen die Mitbestimmung ebenso wenig wie ein politisches Gemeinwesen, das die Idee des Gemeinwohls verabschiedet hat und jede Steuerung an Markmechanismen zu delegieren droht. Bedeutet dies nun, dass aus der poststrukturalistischen Analyse des Subjektivierungsschemas »Souveränität« eine Alternative resultierte, die sich perfekt in das Schema der neoliberalen Flexibilisierung und Prekarisierung einfügt? Eine solche Allianz aus Neoliberalismus und Poststrukturalismus wird oft behauptet, besonders medienwirksam von Slavoj Žižek. Sie verfehlt jedoch die Stoßrichtung der Subjektivierungsanalyse, insofern diese – in völligem Gegensatz zum Neoliberalismus – gerade die Kontingenz von Subjektivierungen herausarbeitet. Wo der Neoliberalismus an Mythen baut, stellt die subjektivierungstheoretische Betrachtung von Analogien, die politische Metaphorologie, diese in Frage. Damit liefert die Subjektivierungsanalyse auch einen Beitrag zur vieldiskutierten Frage danach, wie Freiheit in einem von Foucault inspirierten Theorierahmen zu denken sei (Heidenreich 2015a). Die doppelte

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Emergenz kollektiver und individueller Subjekte eröffnet aus dieser Perspektive dort Freiheitsräume, wo Subjektivierungen reflektierbar werden. Die subjektivierungstheoretische Analyse von Analogien macht den Spielraum in der Wahl deutlich, von welchen Bildern wir uns – in Wittgensteins Terminologie – gefangen halten lassen wollen und von welchen Leitmetaphern wir uns und unsere Kollektive subjektivieren lassen wollen. Die Diskussion darüber, ob wir ein Leben als (ewige) Baustelle führen wollen, ob wir ein politisches Gemeinwesen als Baustelle (und falls ja, als was für eine) verstehen wollen, kann die Subjektivierungsanalyse nicht beantworten. Aber die politische Metaphorologie kann dazu beitragen, diese Frage überhaupt formulierbar zu machen.

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Politische Kollektivsubjekte

Politische Subjektivation zwischen Subjektkonstitution und Handlungsfähigkeit 1 Oliver Flügel-Martinsen/Franziska Martinsen

1. E inleitung In der politikwissenschaftlichen Demokratietheorie wird das politische Subjekt, vereinfacht gesagt, auf zwei Weisen verstanden: Die eine, eher von republikanischen Ansätzen vertretene, Variante identifiziert das politische Subjekt mit dem ›Volk‹ oder demos, die andere, liberale, Variante verortet es im einzelnen Individuum als abstrakter Rechtsträgerin und politischer Individualakteurin. Beide Lesarten des politischen Subjekts erweisen sich jedoch insofern als problematisch, als sowohl die eine als auch die andere etwas als gegeben voraussetzen, das, so unsere Ausgangsthese, im Rahmen von politischen Subjektivationsprozessen überhaupt erst hervorgebracht wird. Wir gehen vielmehr davon aus, dass es erläuterungsbedürftig ist, wer oder was politische Subjekte sind. Im Folgenden setzen wir uns mit dem Begriff der politischen Subjektivation2 auseinander. Wir zeigen, dass die verbreiteten Bestimmungen eines ›Subjekts‹ des Politischen häufig auf unreflektierte Entitätsvorstellungen zurückgreifen, denen gleichsam eine politische Semantik aufgestempelt wird, obwohl der Prozess der Subjektivation überhaupt erst als politisches Handeln von Subjekten, die sich durch dieses Handeln konstituieren, zu begreifen ist. Von politischer Subjektivation zu sprechen, bedeutet demnach, Ideen vorpolitisch scheinbar klar umrissener politischer Subjekte einer dekonstruktiven Bewegung zu unterziehen. Mit Blick auf den Begriff des Volkes lässt sich beispielsweise mit Derrida sagen, dass kein Volk mit sich selbst identisch ist und 1 | In den nachfolgenden Aufsatz gehen, ohne dass das immer im Einzelnen kenntlich gemacht wird, Überlegungen aus folgenden Texten ein: Flügel-Martinsen (2017a und b, 2017) sowie Martinsen (2018). 2 | Im Folgenden wird, wie in zahlreichen deutschsprachigen Texten üblich, »Subjektivation« und »Subjektivierung« synonym gebraucht.

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Oliver Flügel-Mar tinsen/Franziska Mar tinsen

dass es keinen natürlichen Begriff der Zugehörigkeit gibt, wie er etwa durch die – ohnehin androzentrische – Idee der Brüderlichkeit suggeriert wird, ganz zu schweigen von höchst strittigen Ideen wie nationaler Kultur oder ethnischer Abstammung. Vielmehr beginnt die originär politische Auseinandersetzung darüber, was als politisches Subjekt gelten könne, laut Rancière immer genau dort, wo die Frage danach gestellt wird, wer mitgezählt wird und wer nicht, aber auch, wer auf welche Weise mitgezählt wird (Rancière 2002: 3648). Das Volk ist also kein fest umrissenes politisches Subjekt, sondern der Streit um seine Deutung ist in eminenter Weise selbst ein politischer Vorgang. Und Vergleichbares gilt für andere kollektive politische Akteure, die keineswegs einfach vorausgesetzt werden können, deren Konstitution vielmehr zu erläutern ist. Aus dieser befragenden und dekonstruierenden Perspektive erschließen sich zwei weitere grundlegende Fragen. So ist zum einen zu fragen, auf welche spezifische Weise Subjekte, auch das Kollektivsubjekt des Volkes, überhaupt konstituiert werden. Nimmt man Überlegungen zur Dekonstruktion von Subjektvorstellungen und zur Subjektkonstitution, wie sie in den Theoriediskursen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart von Foucault und Derrida über Laclau und Mouffe bis zu Butler und Rancière angestellt werden, auch nur halbwegs ernst, dann liegt es auf der Hand, dass uns hier eine Präsupposition von Kollektiven nicht weiterhilft. Ebenso klar ist, dass wir uns kaum auf solche im Grunde obskuren Annahmen von Kollektivsubjekten als Gruppen von Individuen stützen können, wie sie aggregative und assoziative Theorien der Politik gleichermaßen zugrunde legen3, die beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, Kollektive aus ihnen vorausgehenden Individuen erklären. An dieser Stelle wird wiederum deutlich, dass die liberalen Theorien zugrunde liegende Annahme des Einzelmenschen als ›Keimzelle‹ oder Ursprung des politischen Subjekts den Aspekt der diskursiven Erzeugung dieser Individualakteurin selbst nicht reflektieren. Neben der Frage nach der Konstitution von Subjektivität stellt sich zum anderen die nach der politischen Handlungsfähigkeit. Verstehen wir diese von ihrem kritischen Potenzial her, müssen wir also erkunden, wie diese Subjekte in die Lage versetzt werden, bestehende soziale und politische Ordnungen und Prozesse einer kritischen Befragung zu unterziehen. Das ist die andere, für eine emanzipatorische Politik wesentliche Seite der Medaille politischer Subjektivation: Mit der Vorstellung, dass Subjekte durch soziale Prozesse und Ordnungen hervorgebracht, dass sie also diskursiv erzeugt werden, ist noch nichts darüber gesagt, woher die Möglichkeit zu einer befragenden und widerständigen Performanz rühren könnte, die sich gegen diese Prozesse und Ordnungen richtet. Diese ist aber wesentlich, soll eine solche Idee wie die des demokratisch-emanzipatorischen Streits um die Einrichtung der Welt irgend3 | Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung damit: Young (1990: 44f.).

Politische Subjektivation zwischen Subjektkonstitution und Handlungsfähigkeit

einen Sinn ergeben. Mit diesen beiden Fragen, der nach der Subjektkonstitution einerseits und der nach der widerständigen Subjektperformanz andererseits, ist die Spannung umrissen, mit der sich unser Beitrag auseinandersetzt. Im Wesentlichen geht es also um die folgende Problematik: Einerseits kommen wir nicht umhin, Subjekte in ihrer Gewordenheit in sozialen und politischen Ordnungen, die nicht zuletzt auch Machtbeziehungen sind, zu betrachten, andererseits lassen sich aber, wie u.a. Foucault, Butler oder Rancière hervorheben, durchaus Kontestationen dieser Ordnungen beobachten, die sich, wenngleich in unterschiedlichem Maße, in spezifischer Weise als politische Emanzipationsbewegungen begreifen lassen. Wir können Subjekte oder Subjektivitätsformen demnach nicht einfach als einen bloßen Effekt diskursiver Ordnungen verstehen, denn dann bliebe der Umstand, dass diese Ordnungen Deutungskämpfen unterliegen, hochgradig unklar. Gleichzeitig können wir aber ebenso wenig auf die Annahme freier oder gar autonomer und handlungsfähiger Subjekte bauen, würden wir damit doch deren Konstitution in gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Machtzusammenhängen verschleiern. Damit müssen wir letztlich danach fragen, wie sich eine befragende, kritische und widerständige Praxis jenseits von Vorstellungen subjektiver Autonomie denken lässt. Wir werden uns an diese Fragen durch eine Auseinandersetzung mit dem ambivalenten Begriff der Subjektivation, wie er in unterschiedlicher Weise in den Schriften Foucaults, Butlers und Rancières Verwendung findet, annähern. Im nächstfolgenden Abschnitt erinnern wir in einem kurzen Überblick an die Kritik am methodischen und normativen Individualismus, wie sie schon bei Hegel und Marx vorgebracht wird. In ihr findet sich bereits die gesellschaftstheoretische Erläuterung der Konstitution individueller und kollektiver Ansprüche und Identitätsvorstellungen. Insbesondere bei Marx und im Marxismus werden die Probleme (politischer) kollektiver Handlungsfähigkeit sichtbar, die sich auch gegenwärtig einer Theorie politischer Subjektivation stellen, der es im Sinne der oben herausgestellten Spannung nicht nur darum geht, Prozesse der Subjektkonstitution zu beschreiben, sondern auch widerständige Performativität zu denken (2.). Bei Ernesto Laclau stoßen wir, wenngleich ohne zentralen Rekurs auf die Kategorie der Subjektivierung, auf eine Theorie der Herausbildung politisch handlungsfähiger kollektiver Identitäten (3.). Bei Michel Foucault und Judith Butler finden wir eine ausgearbeitete Theorie der Subjektivierung, die freilich stärker auf die Subjektkonstitution fokussiert und bei der die Dimension widerständigen politischen Handelns eine zwar eminente, aber gleichzeitig unterbelichtete Rolle spielt (4.). Das vielleicht interessanteste Angebot unterbreitet aus unserer Sicht mit seinem Begriff politischer Subjektivierung Jacques Rancière (5.) – auch wenn in seinem Fall nicht unterschlagen werden darf, dass die Unterwerfungsdimension, die bei Foucault und Butler so deutlich herausgekehrt wird, zu wenig Aufmerksamkeit erfährt.

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2. Z ur K ritik am Par adigma des me thodischen und normativen I ndividualismus Die weitgehend unangefochtene Vorstellung eines Volks oder demos als kollektives Subjekt hängt nicht zuletzt eng mit der Annahme des Individuums als zentralem methodischen und vor allem auch normativen Referenzpunkt für die moderne politische Theorie demokratischer Gesellschaften zusammen. Der individualistische Zuschnitt einschlägiger Ansätze, exemplarisch sei hier auf die vertragstheoretischen Konzeptionen Hobbes’ und Lockes verwiesen, dominiert nach wie vor innerhalb des westlichen Diskurses über das Politische und verstellt von vornherein den Blick dafür, überhaupt danach zu fragen, wie individuelle oder kollektive Subjekte als Identitätsformen in die Welt kommen. Die Antwort auf die Frage nach individuellen Subjekten entfällt schlichtweg, bilden diese doch den analytischen und, spätestens seit Locke, auch normativen Ausgangspunkt des Denkens über politische Subjekte (vgl. Taylor 1995). Die Dominanz kontraktualistischer politischer Theoriebildung ist in der Folge dieser politischen Ontologie entsprechend auch wenig verwunderlich, wird das Problem der Herausbildung politischer Kollektive doch folgerichtig wesentlich als eines der politischen Assoziation von Individualakteurinnen verstanden. Der methodische und normative Individualismus können dabei für die vorliegenden Zwecke folgendermaßen charakterisiert werden: Methodisch individualistisch ist eine Vorgehens- oder Betrachtungsweise immer dann, wenn politische und soziale Zusammenhänge ausgehend von Individuen – und eben nicht von mit ihnen verbundenen oder übergeordneten Zusammenhängen wie Gemeinschaften, sozialen Strukturen o.ä. – erläutert werden sollen, wenn also bei der Frage nach der Konstitution von politischer Ordnung oder dem Wandel von politischen Ordnungen zuvorderst von Modellen individuellen Handelns ausgegangen wird. Das jedoch ist der Kern der bei Hobbes entwickelten und für den modernen Liberalismus bis in unsere Tage maßgeblichen Vorstellung, dass es Individuen sind, aus denen sich Gesellschaften zusammensetzen. Als Ausgangspunkt von politischen Gemeinschaften und sozialen Ordnungsmodellen gilt die Interaktion zwischen Einzelnen, die nach einem bestimmten Subjektmodell, in der ökonomisch-liberalen Tradition zumeist dem des homo oeconomicus verstanden werden. Normativ individualistisch meint dann über die soeben beschriebene methodische Haltung hinaus, dass ein normativer Vorrang von Individuen und ihren Rechten als selbstverständlich vorausgesetzt wird.4

4 | Das ist etwa in einer libertären Konzeption wie derjenigen, die Robert Nozick in Anarchy, State, and Utopia entwirft, der Fall, in der die gar nicht weiter begründete Prämisse in Anspruch genommen wird, dass einzig Individuen Rechte haben können (vgl. Nozick 1974: ix).

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Sowohl der methodische als auch der normative Individualismus werden bereits in der politischen Ideengeschichte kritisiert. Hegel und Marx sind prominente Skeptiker, aber auch schon Ferguson bezweifelt die Vorstellung eines vorsozialen Individuums, da Individuen aus seiner Sicht in gesellschaftlichen Zusammenhängen erst konstituiert werden (vgl. Ferguson 1988: 100, 105). Hegel entwirft mit dem Theorem der Herausbildung einer zweiten Natur im Grunde genommen eine Subjektivierungstheorie avant la lettre. Er geht davon aus, dass wir, um zu verstehen, wie Subjekte sozial hervorgebracht werden, lebenslange, besonders deutlich aber in den kindlichen und juvenilen Lebensphasen wirksame Sozialisationsprozesse gesellschaftstheoretisch entschlüsseln müssen. Parallel zu diesen individuellen Subjektivationsprozessen nimmt Hegel auch kollektive Prozesse in den Blick, indem er die Wirkung ähnlicher institutioneller Kontexte auf die Herausbildung einer gemeinsamen Identität beschreibt. Hegel nimmt jedoch weniger die Herausbildung gemeinsamer Handlungsfähigkeit als die gemeinsamer Zugehörigkeit in den Blick – ein Beispiel ist hier die gelingende intrafamiliale Sozialisation, an deren Ende das (männliche) Subjekt als freies Mitglied in die bürgerliche Gesellschaft entlassen wird (Hegel 1986: §§ 173-180). Bei Marx wiederum ist die Subjektivation kollektiver Identitäten insofern von Bedeutung, als es ihm vor allem darum geht, die Konfliktdynamiken zwischen verschiedenen Konfliktgruppen, insbesondere den Klassen, zu beschreiben und theoretisch gleichsam anzuheizen. Deutlicher noch als bei Hegel sind wir bei Marx mit der eingangs geschilderten Spannung einer Theorie kollektiver Subjektivierung konfrontiert, da es ihm eben nicht allein darum geht, die Modi der Subjektivierung analytisch zu verstehen, sondern die Aufgabe darüber hinaus für ihn darin besteht, Punkte für eine kollektive Performativität aufzuspüren, von denen aus gegen die Subjektivationsformen und gesellschaftlichen Kontexte auf begehrt werden kann. Bei Marx (und auch im Marxismus) wird das als Problem des Klassenkampfs und der Herausbildung von Klassenbewusstsein beschrieben. Die Modi der Subjektivation werden, schematisch gesprochen, über die objektivistische Sozialstrukturanalyse der Klassensituation thematisiert (Klasse an sich), wodurch allerdings noch nichts über die Modi des politischen Kampfes gesagt ist, die es erforderlich machen, dass die Klassenlage subjektiv erfasst (Klasse für sich) und zudem die historische Aufgabe ergriffen wird (Klasse an und für sich). Das ist für sich genommen, wie die langwährende marxistische Diskussion über (fehlendes) Klassenbewusstsein deutlich macht, eine wenig befriedigende Behandlung der Spannung zwischen Subjektkonstitution und Handlungsfähigkeit. Zudem wird sie schon innerhalb der marxschen Theorie dadurch erschwert, dass Marx die Theorie des Klassenkampfes eben nicht als eigenständige Theorie politischer und sozialer Kämpfe entwirft, sondern sie durch eine objektivistische Geschichtsphilosophie zu flankieren sucht, die aber letztlich droht, die Kampf-

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theorie beiseite zu setzen (vgl. schon früh: Castoriadis 1990: 52-59). Das wird insbesondere in der postmarxistischen Kritik an und Weiterentwicklung von Marx deutlich, wie wir sie bei Laclau finden. Ein Blick auf seine Überlegungen erscheint aus unserem Problemzusammenhang heraus aber nicht allein deshalb sinnvoll, weil der ideengeschichtlich bislang angedeutete Denkweg damit noch ein Stück weiter verfolgt werden kann, sondern weil Laclau umfassende Überlegungen zu der uns hier interessierenden Spannung zwischen der Konstitution politischer Identitäten einerseits und deren politischer Handlungsmöglichkeit andererseits anstellt.

3. P opul are I dentitäten und die konflik thafte V erfasstheit des P olitischen Laclaus Kritik und Weiterführung des Marxismus setzt bei der schon angedeuteten Spannung in Marx’ Denken zwischen ökonomistischem Geschichtsobjektivismus und Klassenkampftheorie an. Diese Spannung besteht Laclau zufolge darin, dass auf der einen Seite eine systematische Geschichtsphilosophie steht, die Geschichte als objektiven Vorgang versteht, angesichts dessen Akteurinnenkonstellationen eine eher nebensächliche Rolle spielen, weil sie sich aus der historisch objektiven Situation notwendig ergeben sollen, und auf der anderen Seite eine Theorie des Klassenkampfes, in der die konkreten revolutionären Konstellationen, aber auch vor allem Strategien eine zentrale Funktion übernehmen; beides scheint ihm unvermittelt, ja unvermittelbar: »Ich kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass es unmöglich ist, diese beiden Sichtweisen miteinander zu vereinbaren, und dass die sogenannte ›Krise des Marxismus‹ zu einem Großteil aus dieser Unmöglichkeit resultierte« (Laclau 2007: 25). Zudem hebt Laclau hervor, dass sich angesichts der politischen Entwicklungen auf der Linken in den 1960er und 1970er Jahren die marxistische Fixierung auf den dualistisch verstandenen Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat nicht nur nicht halten ließ, sondern dass darüber hinaus mit der Konzentration etwa auf Volksbewegungen in den revolutionären Bewegungen Kategorien ins Spiel kamen, die innerhalb des marxistischen Denkens wenig berücksichtigt, ja gar verpönt waren (Laclau 2014: 3). Es ist diese Frage nach der Konstitution des Volkes, die sich als Laclaus Beitrag zu einer Theorie politischer Subjektivation verstehen lässt. Die wohl umfassendste Ausarbeitung seiner Überlegungen zur Konstitution kollektiver Identitäten hat Laclau 2005 in der Monographie On Populist Reason vorgelegt. Seine gesamte politische Theorie geht davon aus, dass die Konstitution sozialer und politischer Ordnungen ein hochgradig erklärungsbedürftiges Phänomen ist. Dieser Fragestellung korrespondiert, was in der politischen Theorie leicht übersehen wird, als Gegenstück die ebenso entschei-

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dende und gleichermaßen erklärungsbedürftige Frage, wie kollektive Identitäten hervorgebracht werden. Der Ausgangspunkt von On Populist Reason liegt dementsprechend in Laclaus Unzufriedenheit mit den üblichen und aus seiner Sicht unbefriedigenden sozialwissenschaftlichen Antworten auf diese Herausforderung: »My whole approach has grown out of a basic dissatisfaction with sociological perspectives which either considered the group as the basic unit of social analysis, or tried to transcend that unit by locating it within wider functionalist or structuralist paradigms« (Laclau 2005: ix).5 Warum dabei die Hinwendung zum Populismus aus Laclaus Perspektive geradezu den Königsweg darstellt (vgl. 67), um die ontologische Konstitution des Politischen zu verstehen, wird rasch klar, sobald man sich kurz die entscheidenden Elemente von Laclaus politischer Theorie und die offene Frage, die sich aus ihrem Zusammenspiel ergibt, vor Augen hält. Laclau rekapituliert hier drei Elemente (vgl. 68ff.): Erstens einen Begriff des Diskurses, mit dem sich die Vorstellung einer diskursiven Erzeugung sozialer Objektivität verbindet; zweitens leere Signifikanten und Hegemonie, um die Konfliktlogik hegemonialer Kämpfe um die Konstitution des Sozialen zu erörtern; und drittens Rhetorik, um die Bedingungen von Bedeutungsverschiebungen zu untersuchen, die für hegemoniale Operationen grundlegend sind. Gleichermaßen offen wie entscheidend bleibt hier die Frage, wie sich kollektive Identitäten konstituieren, welche die hegemonialen Kämpfe austragen. An dieser Stelle betritt die Populismustheorie die Bühne.6 Laclaus Unbehagen gegenüber dem weitgehend unerklärten Begriff der Gruppe haben wir schon beobachten können. Er setzt deshalb unterhalb konstituierter Gruppen an und bringt die Kategorie der demands (Forderungen) ins Spiel, um die herum sich kollektive Identitäten konstituieren können. Diesen Vorgang diskutiert er deshalb unter der Rubrik des Populismus, weil es in politischen Kämpfen um die Herausbildung popularer Identitäten geht, deren Instituierung Laclau nachspürt, statt sie als Gruppen vorauszusetzen (vgl. 129, 224). Unter Populismus versteht Laclau entsprechend den Modus der Konstitution der Einheit einer Gruppe (vgl. 73), die sich allerdings nur unter bestimmten Bedingungen herstellen lässt. Hierzu ist die Bündelung einer Gruppe von demands erforderlich, die Laclau als popular demands bezeichnet und von isolierten demands abgrenzt, die er eigentümli-

5 | Im Nachfolgenden erfolgen Verweise auf dieses Buch in Klammern im Text, so nicht anders angegeben. 6 | Laclau entwirft in On Populist Reason ein hochkomplexes und teils sogar angesichts zahlreicher terminologischer Verästelungen leicht ›übertheoretisiert‹ erscheinendes Modell des Populismus. Wir werden uns hier auf eine holzschnittartige und entsprechend vereinfachende Skizze beschränken.

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cherweise democratic demands nennt.7 Die Konstitution einer popularen Identität, eines people, fügt sich dabei in die Logik hegemonialer Kämpfe ein: Damit diese Konstitution gelingen kann, ist es seiner Auffassung nach erforderlich, dass eine antagonistische, gleichwohl bewegliche Grenze etabliert wird, welche die populare Identität von der gegenwärtig hegemonialen Macht scheidet (vgl. 74); weiterhin müssen die Forderungen in eine Äquivalenzordnung und »a stable system of signification« (74) gebracht werden (vgl. auch 93). Gelingt das, stehen sich die verschiedenen Lager antagonistisch gegenüber und die populare Identität des Volkes (people), das zwar nicht in einem ontologischen Sinne die Totalität der Gemeinschaft sein kann, beansprucht erfolgreich, »to be conceived as the only legitimate totality« (81). Laclau betont, dass sich die Frage nach der Konstitution popularer Identitäten auch in Demokratien stellt. Mit seiner Hinwendung zum Populismus wendet er sich also nicht von der Demokratie ab und dem Populismus zu, sondern die populistische Perspektive blickt gleichsam analytisch tiefer: Sie erkundet, wie das Politische in die Welt kommt und wie es prozediert. Die analytische Hinwendung zum Populismus liegt also auf einer anderen Ebene als die Frage nach Demokratie. Natürlich kann die Konstitution popularer Identitäten auf andere als demokratische Bahnen führen. Das aber ist aus seiner Sicht eine analytische Einsicht und nicht eine konzeptionelle Abkehr von der Demokratie. Entscheidend ist für Laclau, dass wir diese populistische Logik des Politischen verstehen müssen, wenn wir die Demokratie ebenso wie andere politische Konfigurationen verstehen wollen. Diese Fragen wären in einer Auseinandersetzung mit Laclaus Demokratiedenken zu vertiefen. Hier sind aber zunächst einige andere problematische Punkte von Gewicht, die an dieser Stelle lediglich kurz benannt werden können: Zunächst fällt in der gesamten Architektur von Laclaus politischer Theorie auf, dass er zwar die objektivistische Geschichtsphilosophie, die er bei Marx diagnostiziert, durch eine Theorie politischer Kämpfe ersetzt, die ohne inhaltlich substanzielle Annahmen auskommt. Gleichzeitig bleibt seine politische Theorie aber im Ganzen auf eine formale Strukturtheorie hegemonialer Kämpfe in antagonistischen Konstellationen angewiesen, die sich gewissermaßen als dauerhafte Bedingung aller Konfigurationen des Politischen durch die Geschichte politischer Kämpfe zieht. Überdies bleiben, weil Konflikthaftigkeit und Konfliktaustrag damit gleichsam metatheoretisch vorausgesetzt werden, Fragen der widerständigen Handlungsfähigkeit ausgeklammert. Um das Spannungsverhältnis von unterwerfender Subjektkonstitution und widerständiger Handlungsfähigkeit genauer zu verstehen, müssen wir den Blickwinkel auf andere Ansätze erweitern. 7 | Zur Begründung dieser Begriffswahl, die wir dennoch nicht wirklich geglückt, da ohne weitere Erläuterung missverständlich, finden: Laclau (2005: 125-128).

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4. S ubjek tivation z wischen U nterwerfung und W iderstand Am deutlichsten ist die besagte Spannung zwischen einer als Unterwerfung wirksamen Subjektkonstitution und Handlungsfähigkeit in Form von Widerstand vielleicht in den Überlegungen sichtbar, die Foucault und im Anschluss an diesen Butler angestellt hat. Foucault hat insbesondere in seinen Arbeiten der 1970er Jahre auf diesen engen Zusammenhang von Machtbeziehungen und Subjektkonstitution aufmerksam gemacht und dabei den hervorbringenden, schöpferischen Charakter von Macht hervorgehoben; einer Macht, die Subjekte aus uns allen macht (vgl. Foucault 2001a, 2001b). Obwohl Foucault dabei bekanntlich auf eine allgemeine Theorie der Macht oder der Subjektivation in Machtbeziehungen verzichtet hat, hat er hervorgehoben, dass die Dimension des Widerstands von zentraler Bedeutung ist. In seinem programmatischen Aufsatz Le sujet et le pouvoir (2001a) hebt er deshalb, nachdem er eine kritische Weltanalyse als Aufgabe der Philosophie bestimmt hat, hervor, dass es nicht nur um eine analytisch-diagnostische Erfassung von Formen der Selbstbildung gehen kann, sondern dass es darüber hinaus vor allem darauf ankommt, die gängigen Subjektivitätsformen zurückzuweisen und andere Formen zu erschließen: »Das Hauptziel besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. […] Wir müssen nach neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art der Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt«.8 Die Frage, die sich angesichts einer solchen Stellungnahme noch einmal in aller Deutlichkeit stellt, ist, wer dieses Wir sein soll, das Subjektivierungsformen zurückweisen kann, und woraus sich seine Widerstandsfähigkeit speist. Warum es sich um ein Wir handelt, ist dabei leichter zu beantworten, als woher Widerstand kommen kann. Dass es sich um ein Wir, also eine kollektive Subjektivität handelt, liegt allein schon deshalb nahe, weil Foucault den gesamten Vorgang der Subjektivierung als Konstitutionsprozess in einem diskursiven Machtgefüge versteht. Subjektivierung in Machtbeziehungen meint daher nicht allein, dass Einzelne auf Weisen subjektiviert werden, die auch Andere betreffen – dass Andere also auf ähnliche Weise subjektiviert werden. Es bedeutet auch, wie Foucaults vielfache Verweise auf Gegenverhalten und Gegenbewegungen (contre-conduites) (Foucault 2004: 363f.; dt. 509)9 illustrieren, dass ver8 | »Sans doute l’objectif principal aujourd’hui n’est-il pas de découvrir, mais de refuser ce que nous sommes«. Und etwas später: »Il nous faut promouvoir de nouvelles formes de subjectivité en refusant le type d’individualité qu’on nous a imposé pendant plusieurs siècles«. (Foucault 2001b: 1051; dt. 2005: 250f.). 9 | Die deutsche Übersetzung gibt Foucaults Rede von contre-conduites an dieser Stelle eigentümlicherweise unerläutert mit Gegenbewegungen wieder und schneidet damit

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schiedene Gruppen von Subjekten Kämpfe um die diskursive Ordnung austragen. Festhalten lässt sich deshalb: Subjekte existieren offenbar nicht außerhalb von Machtbeziehungen, sondern werden in ihnen hervorgebracht. Es werden nämlich nicht bereits vorhandene Subjekte unterworfen, sondern diese werden in Machtkonstellationen erst konstituiert. Unterwerfung und Konstitution fallen so zusammen. Foucault mag hier auf ein doppeldeutiges Vokabular setzen, die Dimension der Unterwerfung tritt dabei dennoch so deutlich hervor, dass sich ernsthaft die Frage stellt, woher das Widerstandspotential rühren soll. Foucault selbst konstatiert dabei in der historischen Perspektive des Genealogen von Machtverhältnissen schlicht, dass es Widerstandsbewegungen gibt (vgl. Foucault 2004: 363f.; dt. 509). Die Frage aber bleibt bestehen, wodurch die Kollektive von Subjekten in die Lage versetzt werden, Widerstand zu leisten. Einen wichtigen Hinweis darauf erhalten wir, wenn wir mit Judith Butler den Umstand hervorheben, dass Subjektivation kein einmaliger, sondern ein iterativer Vorgang ist (vgl. Butler 2001: 81-100). Betrachten wir den Unterwerfung und Konstitution gemeinsam umfassenden Prozess der Subjektivation auf der Zeitachse, stellen sich die Dinge bereits anders dar. Was zunächst wie ein unausweichlicher, ja ohnmächtiger Unterwerfungsprozess erscheint, in dem Subjekte von einer ihrem Zugriff entrückten Macht erzeugt werden, stellt sich in der diachronen Perspektive als ein Wechselspiel von Subjekt, Macht und Gegenmacht dar. Wenn Subjekte in einem iterativen Prozess konstituiert werden,10 dann ergeben sich Möglichkeiten widerständiger Performativität. Jede Wiederholung wirkt auf Subjekte ein, die abweichen können und in keiner Wiederholung wird die gleiche Macht wirksam. Sie verschiebt sich ebenso wie die Subjekte, auf die sie einwirkt. Es sind, so gesehen, eben jene Subjekte der Macht, die unter bestimmten Umständen die Möglichkeit gewinnen, die diskursiven Prozesse der Subjektivation und damit auch die Machtdiskurse umzuschreiben. Butler weist mit großem Nachdruck auf diesen Doppelcharakter der Subjektivation hin: Sie ist in einem Zug Unterwerfung und Subjektwerdung (vgl. Butler 2001: 8). Subjekte, so können wir diese Überlegungen weiterführen, sind keine passiven Entitäten, sondern sie verfügen über bestimmdie semantische Beziehung zum Verhalten durch, obwohl gerade Überlegungen zu Verhalten und Gegenverhalten an dieser Stelle elementar sind. Das Bild der Bewegung benutzt Foucault dort zwar auch, aber nur mit Bezug auf mouvements de résistance. Dass die deutsche Fassung beides – contre-conduites und mouvements de résistance – mit Bewegung übersetzt, ist daher etwas unglücklich. 10 | Verwiesen sei hier nur auf die Disziplinierungspraktiken, die Foucault in Überwachen und Strafen nicht nur im Gefängnis, sondern auch in Schulen und Fabriken analysiert (Foucault 1994: Teil III): Zum getakteten Arbeiter oder zum gelehrigen, pünktlichen Schüler wird niemand mit dem Eintritt in Schule oder Fabrik. Dazu bedarf es steter Wiederholung.

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te performative Potentiale, die sie auch widerständig aktualisieren können. Außerdem muss Macht im radikalen Plural der Mächte verstanden werden: Subjekte werden nicht durch die Macht im Singulär hervorgebracht, sondern in Kraftfeldern subjektiviert, in denen verschiedene Mächte aufeinander treffen, wodurch sich die Diskurse und mit ihnen die Subjekte verschieben. In der diachronen Sicht können also nicht nur die Subjekte ein Widerstandspotential zurückgewinnen, das verloren schien, sondern es wird überhaupt erst verständlich, wie sich Deutungskämpfe vollziehen können. Diese Deutungskämpfe werden, wie es schon Foucaults Verweis auf Widerstandsbewegungen deutlich gemacht hat, in den wenigsten Fällen individuell ausgetragen: Auch wenn der Widerstand Einzelner keineswegs ausgeschlossen ist, muss sich die Kraft des Widerstands in der Regel auf Kollektive von Subjekten stützen, die sich gegen die in einer diskursiven Formation vorgesehenen Subjektpositionen erheben. Judith Butler, die sich von Anfang an als Theoretikerin in enger Verbindung zu sozialen Bewegungen verstanden hat, hat wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieses Erfordernisses kollektiver Widerstandspolitiken die politische und damit kollektive Dimension widerständiger Performativität in den Fokus ihrer jüngeren Arbeiten gerückt (vgl. Butler 2016). Auch wenn Widerstand, wie wir mit Butler annehmen können, demnach keineswegs ausgeschlossen ist, darf die Ambivalenz des Subjektivationsgeschehens nicht aus dem Blick verloren werden: Butler unterstreicht zu Recht, dass die Handlungsfähigkeit, die auch Teil der Subjektivation ist, offenbar nur um dem Preis der Unterwerfung zu haben ist, denn wir werden handlungsfähige Subjekte nur in dem Maße, in dem wir uns in Subjektpositionen unterordnen (vgl. Butler 2001: 16). Das hat besonders für emanzipatorische Bemühungen die fatale Konsequenz, dass neue, in der gegebenen hegemonialen Matrix nicht vorgesehene und diese überschreitende Subjektformen ausgesprochen schwer zu formen sind. Zu denken ist hier an Subjektformen jenseits misogyn-androzentrischer Diskursformationen ebenso wie an jene jenseits rassistischer oder heterosexueller Ordnungen. Hier riskieren wir als unterworfene Subjekte, in dem Moment, in dem wir neue Subjektformen zu erschließen versuchen, ins soziale und politische Leere zu treten. Wir stellen unseren Status als Subjekte auf Spiel, ohne bereits auf neue Subjektformen zugreifen zu können (vgl. Butler 1998: 189). Das ist gerade für politische Emanzipationsbewegungen keine geringe Bürde, drohen diesen doch damit sowohl die Konturen der Forderungen als auch der Ziele zu verschwimmen. Um die Möglichkeit von Widerstand genauer zu verstehen, kommt es im Wesentlichen darauf an, ein fluideres Verständnis der Beziehung zwischen Subjekt und Ordnung des Diskurses zu entwickeln. Butlers Formulierungen legen an manchen Stellen den Eindruck nahe, Subjekte seien lediglich Effekte von Diskursen. Wenn sie etwa schreibt, dass »culturally intelligible subjects as the resulting effects of a rule-bound discourse« (Butler 1999: 184) zu verste-

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hen sind, klingt das, als hätten Subjekte ihre Handlungsfähigkeit vollständig eingebüßt und Emanzipationspolitiken seien mehr oder weniger bloße Zufallsprodukte einer dunkel bleibenden Verschiebung innerhalb der Kräfteverhältnisse diskursiver Formationen. Das ist aber deutlich zu kurz gedacht. Wir haben bereits mehrfach auf den ambivalenten Charakter der Subjektivation als eines zugleich unterordnenden und Handlungsfähigkeit verleihenden Geschehens hingewiesen. Wenn es sich so verhält, dass Subjekte nicht einfach aus ihrer Subjektivitätsform aussteigen können, weil ihre Identität wesentlich von den in einer bestimmten diskursiven Formation gegebenen Subjektivitätsformen abhängig ist, dann heißt das nicht, dass Subjekten alle Formen widerständigen Handelns verschlossen bleiben, und es bedeutet auch keineswegs, dass sich emanzipatorische Wege nicht beschreiten lassen. Emanzipation und Widerstand mögen auf unsichere Pfade leiten, aber sie führen weder zwangsläufig an Abgründe, die zu überschreiten nur den freien Fall zu Folge hat, noch auf Holzwege, die im unbegehbaren Dickicht enden. Wenn sich mit Subjektivität auch eine – in vieler Hinsicht empirisch ja zweifelsohne konstatierbare – Handlungsfähigkeit verbindet, dann heißt das auch, dass emanzipatorische und widerständige Subjektperformanzen möglich sind. Judith Butler hat jüngst in Form einer performativen Theorie der Versammlung selbst die Chancen, aber auch die Probleme kollektiver politischer Widerstandsprozesse hervorgehoben (vgl. Butler 2016). Auch wenn sie dort nicht explizit von Subjektivierung spricht, untersucht sie zweifellos Prozesse der kollektiven Subjektkonstitution, wenn sie der Frage nachgeht, wie etwa die Konstitution eines widerständigen Volkes in protestierenden Versammlungen zu verstehen ist. Das politisch fatale Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in jüngerer Zeit, das Butler am Beispiel von Pegida anspricht (vgl. ebd.: 9f.), weist uns dabei darauf hin, dass die Deutungskämpfe nicht einfach zwischen einer gegebenen diskursiven Ordnung und widerständigen Kollektiven von Subjekten ausgetragen werden, sondern dass auch die Deutungskämpfe selbst pluralistisch verfasst sind – und dieser Pluralismus etwa dann deutliche Schattenseiten hat, wenn rechte Bewegungen die kollektive Semantik des demokratischen Volkes auf ihre völkische Weise zu besetzen und umzudeuten suchen. Im folgenden und letzten Abschnitt gehen wir schließlich auf die bereits angesprochenen Deutungskämpfe ein, die sich, wenn es sich um politische Emanzipationsakte handelt, weniger in den Mustern von Unterwerfung und Widerstand, sondern ausgehend vom Widerständigen vielmehr im Rahmen von Ermächtigung abspielen. Wir zeigen anhand von Rancières Begriff der subjectivation politique, unter welchen Bedingungen es zur Herausbildung befragender und widerständiger bzw. sich selbst ermächtigender kollektiver Subjektivitätsformen kommen kann. Rancières Begriff einer subjectivation politique ist gerade angesichts der von Butler hervorgehobenen Problematik rechter Aneignungsversuche kollektiver Subjektformen deshalb besonders aufschluss-

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reich, weil er ihn in eine inklusive Semantik der Forderung nach Einschreibung in eine gemeinsame politische Bühne einkleidet und damit stets auch auf Exklusion bedachte rechtspopulistische und völkische Aneignungsversuche schon von vornherein auf einer begrifflichen Ebene zurückweist.

5. P olitische S ubjek tivation z wischen O hnmacht und E rmächtigung Rancière hat eine umfassende politische Ästhetik entwickelt, die sich vom altgriechischen aisthesis herschreibt und eine Lehre von der Wahrnehmung von Welt insgesamt meint: Nach seiner Auffassung wird die (Auf-)Teilung der Welt als eine (Auf-)Teilung des Sinnlichen11 in einem grundlegend ästhetischen Modus hervorgebracht. Entscheidend für seine politische Philosophie ist die Annahme, dass diese Konstitution nicht nur im Bereich der Kunst, sondern eben auch in der Politik vollzogen wird (vgl. Rancière 2000: 62). Diese Vorstellung einer, wenn man so will, diskursiv-polemischen Weltkonstitution hat Rancière bereits auf Politik und Demokratie bezogen, bevor er seine einschlägigen Texte zur politischen Philosophie vorgelegt hat: So arbeitet er in der Studie Les noms de l’histoire, in der er es dem Untertitel zufolge um den Entwurf einer Poetik des Wissens gehen soll, die Vorstellung eines Deutungskampfes um Wissens- und Sozialordnungen aus. Das demokratische Zeitalter zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es zu subjectivations hasardeuses kommt, welche die bestehenden Ordnungen durcheinanderwirbeln.12 Diese Idee einer streitenden, dissentierenden Weltkonstitution taucht auch an zentraler Stelle in Das Unvernehmen auf, wenn Rancière in kritischer Auseinandersetzung mit Habermas’ konsenstheoretischer Argumentationstheorie darauf insistiert, dass Politik nicht einfach ein Argumentationsspiel, sondern immer auch eine Weise der Weltöffnung ist; sie eröffnet streitend »Welten, in denen das Subjekt, das argumentiert, als Streiter des Worts zählt« (Rancière 2002:70).13 Dieser Streit um die gemeinsame Welt stellt für Rancière unter bestimmten Umständen bereits eine politische Handlung dar, und seine Möglichkeit verleiht dem Streit um Worte und Rederechte ein so enormes Gewicht: Der Kampf bzw. die Schlacht (la bataille) um die Worte ist, wie Rancière betont, immer auch eine 11 | Partage du sensible lautet folgerichtig auch der Titel eines einschlägigen Buchs Rancières (2000). 12 | Rancière (1994: 186). Rancière macht übrigens selbst auf eine gedankliche Verwandtschaft seiner Vorstellung einer partage du sensible und Foucaults episteme aufmerksam (vgl. Rancière 2008: 71f.). 13 | Frz.: »de mondes où le sujet qui argumente est compté comme argumenteur« (Rancière 1995: 89).

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Schlacht um die Dinge (vgl. Rancière 2011b: 110f.). Abhängig davon, wie wir die Worte verstehen, wer sie wann und wo gebrauchen darf und Gehör findet, also das Recht besitzt, zu sprechen und gehört zu werden, haben wir es jeweils mit einer anderen Aufteilung der Welt zu tun. Diese ästhetische Dimension der Politik ist für Rancière nicht zuletzt deswegen so wichtig, weil es die Ästhetik erlaubt, bestehende Hierarchien zu suspendieren und eine neue Aufteilung des Sinnlichen herbeizuführen (vgl. Rancière 2008: 42f.) – und genau das vermag auch eine gelingende Politik: Sie schreibt die gemeinsame Welt um und setzt eine neue an ihre Stelle. Die Frage ist nun freilich, wie sie das tun kann. Hier gewinnt die Kategorie der politischen Subjektivation Bedeutung. In La Mésentente findet sich ein Passus, der die Wirkungsweise der politischen Subjektivierung plastisch beschreibt: »Eine politische Subjektivierung teilt das Erfahrungsfeld neu auf, das jedem seine Identität mit seinem Anteil gab. Sie löst und stellt die Verhältnisse zwischen den Weisen des Tuns, den Weisen des Seins und den Weisen des Sagens neu zusammen, die die sinnliche Organisation der Gemeinschaft, die Verhältnisse zwischen den Räumen, wo man eines macht und denen, wo man anderes macht, die an dieses Tun geknüpften Fähigkeiten und jene, die für ein anderes benötigt werden, bestimmen«.14

In diesem Zitat wird zum einen noch einmal die bereits hinlänglich beschriebene, weltkonstituierende und -verschiebende Wirkung von Politik unterstrichen, zum anderen die politische Subjektivation gleichsam als Modus dieser subversiv-konstitutiven Wirkung von Politik eingeführt. Was aber ist eine politische Subjektivation? Zunächst einmal geht Rancière davon aus, dass politische Subjekte keine vorweg determinierten Entitäten sind. Sie konstituieren sich erst im Zuge insbesondere bestimmter Prozesse als politische Subjekte (vgl. Rancière 2011a). Politische Subjektivation wird hier deutlicher noch als bei Foucault und Butler vom Aspekt des Widerständigen aus gedacht. Sämtliche Beispiele für politische Subjektivation in den Texten Rancières, historische wie 14 | »Une subjectivation politique redécoupe le champ de l’expérience qui donnait à chacun son identité avec sa part. Elle défait et recompose les rapports entre les modes du faire, les modes de l’être et les modes du dire qui définissent l’organisation sensible de la communauté, les rapports entre les espaces où l’on fait telle chose et ceux où on fait une autre. Les capacités liées à ce faire et celles qui sont requises pour un autre.« (Rancière 1995: 65; Herv. i.O.; dt. 2002: 52; Herv. i.O.). Übers. leicht geändert: Das Verb redécouper ([u]ne subjectivation politique redécoupe), das in der Übersetzung von Richard Steurer mit neu zerschneiden übertragen wird, scheint uns mit neu aufteilen besser übersetzt zu sein, da der Sinn des ganzen Passus und anderer Passagen über die politische Subjektivierung auf die neue Zusammensetzung mindestens ebenso wie auf das Zerschneiden verweist.

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aktuelle, beziehen sich auf Akteurinnen, die sich gegen die jeweils herrschende Ordnung wenden, sich ihrem jeweiligen Modus der Aufteilung von Welt entweder entziehen oder diesen kritisch befragen bis hin zum aktiven Widerstand, z.B. mit gemeinsamen Akten des zivilen Ungehorsams in Form der Besetzung von Räumen und Orten, an denen bestimmte Personen – Proletarier, Frauen, Geflüchtete usf. – nicht vorgesehen sind, oder Einzelhandlungen, die ein gemeinsames Netz spannen, durch das sich eine politische Subjektivation zu vollziehen vermag. Als historisches Beispiel nennt Rancière die Stimme Olympe de Gouges’ zur Diskrepanz zwischen den deklarierten allgemeinen Menschen- und Bürgerrechten und dem Ausschluss von Frauen aus ebendiesem Geltungsbereich während der Französischen Revolution (vgl. Rancière 2011b: 73f.): De Gouges’ Gegenentwurf zu den droits de l’homme et du citoyen, die analoge Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, geht von der historischen Erfahrung aus, dass Frauen, obwohl sie nicht über politische Rechte verfügen, dennoch für ihre politische Meinung und entsprechendes öffentliches Handeln bestraft werden konnten, weil dies als »unerwünschte Einmischung« in die den Männern vorbehaltene Sphäre aufgefasst wurde (vgl. Burmeister 1999: 8). Aus dem Recht, das Schafott zu besteigen, folgert de Gouges das Recht auf politische Partizipation: »Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen; sie muss gleichermaßen das Recht haben, die Tribüne zu besteigen« (de Gouges 1999: 162). De Gouges’ »Syllogismus« (Rancière 2011b: 73) beruhe auf einer Ableitung aus der politischen Gleichheit, die durch die Maßgabe des politischen Bürgers gesetzt, von einer massiven (sozialen) Ungleichheit allerdings konterkariert wird. Ihr sind die Individuen ausgesetzt, die nicht politisch werden können, sondern aufgrund der polizeilichen Zuteilung privat verbleiben. Wird zugleich die universelle Gültigkeit von Menschen- und Bürgerrechten propagiert, resultiert daraus schließlich folgender Widerspruch: »Die ›Rechte der Frau und Bürgerin‹ sind die Rechte derjenigen, die nicht die Rechte haben, die sie haben, und die die Rechte haben, die sie nicht haben« (ebd.: 74). Willkürlich würden den Frauen also die Rechte vorenthalten, die die Erklärung der Menschenrechte unterschiedslos den Mitgliedern der französischen Nation und der menschlichen Gattung zuspricht. »Durch ihr Handeln aber üben sie gleichzeitig das Recht von Bürgerinnen aus, das das Gesetz ihnen nicht zugesteht und dadurch zeigen sie, dass sie sehr wohl diese ihnen verwehrten Rechte haben.« (Ebd.) Regelrecht emphatisch entwirft Rancière in diesem Zusammenhang das Bild eines demokratischen Prozesses, der Handlungen umfasst, »die auf das Intervall zwischen den Identitäten einwirken und so die Aufteilungen von Privatem und Öffentlichem, Universalem und Partikularem verändern. Die Demokratie kann somit nicht einfach als Herrschaft des Universalen über das Partikulare verstanden werden« (ebd.: 65). Die Verwendung des Begriffs »Intervall« ist dabei nicht in einem metaphorischen, sondern einem konkreten

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Sinne zu verstehen. Der Raum, der sich zwischen denjenigen befindet, die innerhalb und denjenigen, die außerhalb der Ordnung stehen, wird in dem Moment durch letztere eingenommen, in dem sie ihn, ohne dass ihnen das Recht zustünde, durch ihre Demonstration besetzen. Bereits in den 1990er Jahren begannen undokumentierte Migrantinnen in Frankreich Kirchen zu besetzen und im Rahmen von Demonstrationen im öffentlichen Raum gegen die Bedingungen ihrer Illegalität zu protestieren. Durch solcherlei Usurpationen des öffentlichen (im Falle der Kirche halb-öffentlichen) Raumes wird das (staatsbürgerliche) Publikum Zeuge von paradoxen Szenen wie jener, in der »neben dem demokratischen Monument der Bastille undokumentierte Migrantinnen per Megaphon ihre Rechte einfordern, Abschiebungen und exekutive Gewalt anklagen, während Polizisten sich unterhaltend danebenstehen und die Straße gesperrt halten« (Ludwig 2008: 81). Anhand des von Rancière (1997: 71, 2002: 50) bezeichneten »Unrechts«, das in ebenjener paradoxen Form sichtbar wird und den Ausgeschlossenen ebenjenen Anlass bietet, sich im Sinne eines politischen ›Handelns als ob‹ dennoch das Recht zu nehmen, am politischen Prozess teilzuhaben, charakterisiert Andrew Schaap die spezifischen Merkmale politischer Subjektivation: »By publicizing their political exclusion, the sans papiers draw attention to their plight and the ways in which they are denied the same universal human rights from which the French state claims to derive its legitimacy. […] They demonstrate their equality as speaking beings despite being deprived of legal personhood. The sans papiers enact the right to have rights when they speak as if they had the same rights as the French nationals they address. They occupy a church to draw attention to their economic participation within French society rather than remaining unseen and unheard on threat of deportation. Instead of hiding from the police they turn up to police headquarters and say ›we are the sans papiers of Saint-Bernard and we have business in this building‹« (Schaap 2011: 34; Herv. i.O.).

In dieser Szene taucht nicht nur der so genannte »Anteil […] der Anteillosen [la part des sans-part]« (Rancière 2002: 22) plötzlich und unerwartet im öffentlichen Raum auf, in dem er – gemäß der herkömmlichen Logik der Repräsentationsordnung – nicht erscheinen dürfte. Darüber hinaus bemächtigt sich dieser »Anteil der Anteillosen« außerdem der spezifischen Handlungsweisen politischer Partizipation, und zwar so, als ob ihm diese zustünden. Das Paradox dieser Ermächtigungsstrategie drückt sich darin aus, dass nicht nur auf das Unrecht der Nicht-Teilhabe aufmerksam gemacht wird, sondern das Aufmerksammachen selbst bereits eine politische Handlung darstellt, die eigentlich ausgeschlossen ist. Der Kern dieser politischen Handlung besteht in der Forderung nach Teilhabe, nach dem ›Dazugezähltwerden‹, und zugleich, während diese Forderung öffentlich ausgesprochen wird, wird Teilhabe im Grunde ge-

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nommen bereits praktiziert. Kurzum: die Exkludierten vollziehen in diesem Augenblick eine »Praktik des Als-ob« (ebd.: 101), sie sind zwar, institutionell betrachtet, rechtlos, aber »nicht ohne Stimme« (Schwenken 2009). Abschließend lässt sich sagen, dass Unterwerfung in Form der polizeilichen Platzzuweisung auch bei Rancière eine wichtige Rolle spielt; mit der politischen Subjektivation versucht er allerdings den Prozess zu beschreiben, in dessen Verlauf sich Subjekte nicht nur dieser Platzzuweisung entziehen, sondern eine neue Welt, eine wenn auch nur temporär originäre Politik, aber auch eine andere polizeiliche Ordnung zu konstituieren. Politik via politische Subjektivierung vollzieht sich demnach notwendig als eine »Desidentifikation« (Rancière 2008: 65), als ein Sichentziehen vom zugewiesenen Platz. Wichtig ist, dass die Akte nicht auf rein partikulare oder privatistische Interessen beschränkt bleiben, sondern die gegebene polizeiliche Ordnung tangieren oder sie gar, wenn auch nur für kurze historische Augenblicke, aussetzen: Ein Streik um Lohnerhöhungen ist so noch keine politische Subjektivierung, einer, der auf eine andere Einrichtung der Arbeitswelt und eine andere Gestaltung der Rechtsbeziehungen zielt, kann es hingegen sein. Demokratische politische Bewegungen überschreiten so die gegebenen Grenzen und zielen zugleich auf einen neuen Verlauf. Politische Subjektivation verweist damit auf die Konstitution eines gemeinsamen Anspruchs, einer gemeinsamen Forderung, von der aus die hegemoniale Einteilung des Gemeinsamen der polizeilichen Ordnung in Frage gestellt werden kann. Rancière erinnert exemplarisch an den Fall Auguste Blanquis, der 1832 im Zuge einer Gerichtsverhandlung auf die Frage nach seinem Beruf keine einzelne Berufsbezeichnung nennt, sondern sich als Proletarier bezeichnet und so zur politischen Subjektivierung der Arbeiterbewegung beiträgt (vgl. Rancière 2004: 118, 2002: 49f.). Die Desidentifikation, die nach Rancières Überzeugung wesentlicher Bestandteil von Akten politischer Subjektivierung ist, lässt die daran Beteiligten in eine prekäre Situation geraten, verlassen sie doch ihre Subjektpositionen, ohne dass bereits neue Subjektivitätsformen zur Verfügung stehen. Allerdings geht es wiederum nicht um einmalige Vorgänge, wenngleich es, etwa in revolutionären Situationen oder Erhebungen, zu punktuellen Umschwüngen kommen kann. Diese werden aber nicht ex nihilo vollzogen, sondern ihnen gehen zumeist Sinnverschiebungen voraus, die sich zuweilen über einen längeren Zeitraum subkutan vollziehen können, um dann in einer zugespitzten Situation mit großer Vehemenz hervorzubrechen. Emanzipationspolitiken und Subversionsversuche bleiben zwar ein Auf bruch ins Ungewisse, aber sie sind keineswegs unmöglich: Bei ihnen handelt es sich um jene politischen Befragungen gegebener politischer – mit Rancière: polizeilicher – Ordnungen.

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P olitische S ubjek tivierung von bei J acques R ancière

K ollek tiven

»Wir sind das Volk!« – Die Parole der entscheidenden Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig wird 25 Jahre später bei den Demonstrationen und im Umfeld von PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) erneut skandiert.1 Die gleiche Wortfolge, artikuliert in zwei unterschiedlichen Kontexten, in Auseinandersetzung mit verschiedenen Kollektividentitäten, zeigt die Bandbreite von gesellschaftlichen Wirkweisen auf, welche die Berufung auf einen geteilten Namen entfalten kann. Die Berufung auf das Volk ist dabei insofern ein prägnantes Beispiel für die Subjektivierung kollektiver Subjekte, als dass sie Fragen der Legitimität und Zugehörigkeit unmittelbar mit aufruft. Die konstitutive Kraft und Ermächtigungswirkung der öffentlich vorgetragenen Selbstbezeichnung speist sich aus der Kombination von performativer Inszenierung einerseits und der Reihe damit zitierter Ereignisse und Ideen andererseits. Was wird hier zitiert?

1. D ēmos , peuple , people : D as V olk in der (I deen -)G eschichte PEGIDA bezieht sich zunächst auf Leipzig 1989. Beide Sprechakte verweisen auf das Prinzip der Volkssouveränität. Der Satz »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« findet sich sowohl im Grundgesetz als auch in der Verfassung der DDR von 1949. 1 | Die hier vorgetragenen Überlegungen gehen zurück auf lang jährige freundschaftliche Streitgespräche mit Vincent Schmiedt, Judith Mahnert, Frank Schubert und Frank Beiler. Darüber hinaus danke ich neben den Herausgebern insbesondere Martin Saar und Ruth Sonderegger für konstruktive Kritik und anregende Diskussionsrahmen.

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Während in den Dokumenten der Französischen Revolution der Bezug auf die Nation als Trägerin der Souveränität dominiert,2 ist in der US-amerikanischen Tradition die Berufung auf the people bestimmend: von Lincolns Diktum des »government of the people, by the people, for the people«3 , über das einleitende »We the People of the United States[…]« der Verfassung von 1787, bis zur Begründung des Widerstandsrechts des Volkes in der Declaration of Independence von 17764. Den ideengeschichtlichen Hintergrund bildet die Entwicklung der Vertragstheorien von Bodin über Hobbes und Locke bis hin zu Rousseau, in deren Verlauf die Volkssouveränität mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Diese Theorien speisen sich wiederum aus der antiken Auseinandersetzung mit der Figur des dēmos. In der neueren Politischen Theorie erlebt die Beschäftigung mit dem Volk (peuple/people/dēmos) eine Renaissance als Ringen um einen neuen Gemeinschaftsbegriff, der jedoch nun ohne Bezugnahme auf Natur- oder Wesenskategorien auskommen und dennoch politische Schlagkraft entfalten soll (vgl. Vogl 1994; Derrida 1986; Badiou et al. 2013; Butler 2015a).5 Neben der Gemeinschaftsdebatte und teils eng mit ihr verflochten finden sich auch in den verschiedenen Theorien der Subjektivierung Hinweise zum genaueren Verständnis von politischen Kollektivsubjekten wie dem Volk. Der Befund, dass die meisten Subjektivierungstheorien jedoch beim Individuellen stehen bleiben bzw. Kollektivität lediglich kumulativ oder als abgeleitetes Phänomen beschreiben, markiert ein Forschungsdesiderat, auf das dieser Band reagiert.6 2 | »Le principe de toute Souveraineté réside essentiellement dans la Nation.« (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen de 1789, Art. 3). Oft Bezug genommen wird jedoch auf den Mirabeau zugeschriebenen Ausspruch »que nous sommes ici par la volonté du peuple, et qu’on ne nous en arrachera que par la puissance des baïonnettes« bei der Versammlung der Generalstände 1789. 3 | Gettysburg Adress (1863): »we here highly resolve that these dead shall not have died in vain—that this nation, under God, shall have a new birth of freedom – and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.«. 4 | »That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it«. 5 | Auf Laclau (2007), Agamben (2006, 2002) und Brossat (2012), die mit dem lateinischen Begriffspaar plebs/populus operieren, gehe ich hier nicht ausführlicher ein, für eine Positionierung der drei Autoren relativ zu Rancière vgl. Marchart (2016). 6 | Um Redundanzen zu vermeiden verweise ich für die Diskussion des diese Leerstelle bedingenden Individualismus und die Verortung des hier vertieften Rancière’schen Ansatzes auf Martinsen/Flügel-Martinsen im gleichen Band.

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Bei allen Brüchen und Verschiebungen zwischen den Übersetzungen und historischen Kontexten des Volksbegriffs sticht als Gemeinsamkeit der phantasmatische Überschuss ins Auge, den die Berufung auf das Volk ins Spiel bringt: Die sozio-politische Wirklichkeit kann dem fundierenden universellen Anspruch nie ganz gerecht werden. Diese Hypothek, die letztlich im derivativen Charakter jeglicher Staatsgewalt und Regierungsmacht liegt, bildet (1989 wie auch bei PEGIDA) den Ausgangspunkt, um den Status quo infrage zu stellen. Nun ruft ein Beispielpaar wie 1989/PEGIDA geradezu nach Differenzierungen, nach Analysekategorien für normativ gehaltvolle Unterscheidungen, die mehr sind als eine Verklärung der »Friedlichen Revolution« einerseits und eine einfache Verurteilung des »braunen Mobs« andererseits. Eine politische Theorie mit politischem Anspruch sollte in der Lage sein, sowohl die Ähnlichkeit der beiden Sprechsituationen zu erklären, als auch Kriterien für eine normative Unterscheidung bereit zu stellen. Hierzu ist ein genauerer Blick auf die kollektive Dimension der in solchen Situationen ablaufenden Subjektivierungsprozesse nötig: »Wir sind das Volk!« – Wer ist jeweils adressiert? Wer spricht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Form der Subjektivierung dieser Kollektive und deren politischemanzipatorischen Qualitäten? Um diesen Fragen nachzugehen und so die Entstehung und politische Wirksamkeit kollektiver Subjekte – wie sie in Berufungen auf das Volk paradigmatisch zu beobachten sind – zu analysieren, greife ich auf die politische Theorie Jacques Rancières zurück. Sein Konzept der politischen Subjektivierung ist explizit kollektiv angelegt und bietet gleichzeitig eine enge Definition von Politik und Emanzipation. Das Problem der Selbstkonstitution durch kollektive Annahme eines strittigen Namens diskutiert er selbst am Beispiel des Volkes (peuple). Darüber hinaus findet sich bei ihm ein differenziertes Vokabular zur Beschreibung der verschiedenen zeitlichen, sprachlichen und sinnlichen Aspekte von Subjektivierungsprozessen und mit diesen verbundenen Ein- und Ausschlüssen. Im ersten Teil meines Beitrags skizziere ich Schritt für Schritt die zum Verständnis der politischen Subjektivierung notwendigen Elemente von Rancières Begriffsgebäude und konfrontiere sie jeweils mit dem Beispielpaar 1989/ PEGIDA. Der Fokus liegt dabei einerseits auf der Subjektivierung kollektiver Subjekte, andererseits auf der Suche nach Kriterien, um Kollektivsubjekte und ihre Entstehungsprozesse als politisch oder emanzipatorisch zu qualifizieren. Dabei handelt es sich zunächst um eine definitorische Operation – Politik und Emanzipation formal zu bestimmen –, die jedoch anschlussfähig für Bewertungen, normative Schlussfolgerungen, Interventionsimpulse ist, die den zweiten Teil des Beitrags bilden.

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2. P olitische S ubjek tivierung bei J acques R ancière Der dēmos und der Anteil der Anteillosen In seinem politiktheoretischen Hauptwerk La Mésentente [Das Unvernehmen] entwickelt Rancière seinen spezifischen Politikbegriff zunächst in Auseinandersetzung mit Platon und Aristoteles. Anhand einer Relektüre der Klassiker arbeitet er heraus, dass Politik nicht mit bestimmten Institutionen wie Wahlen oder Volksvertretungen gegeben ist, sondern von einem Moment abhängt, das sich im Volk, dem dēmos, artikuliert – einer bestimmten Art von Anmaßung, einem Streit um das Gemeinsame. In diesem Zusammenhang taucht ein Motiv in den Gründungstexten der politischen Philosophie auf und schreibt sich von dort, laut Rancière, subkutan bis heute fort: das Bestreben, diesen Skandal der Politik, ihr heterogenes, die harmonische Ordnung störendes Moment, das letztlich in der Existenz des dēmos gründet, abzuschaffen oder zumindest einzuhegen. Worin besteht dieses mit dem dēmos aufkommende Ärgernis? Aristoteles berichtet von drei Titeln (axiai), die zur Teilhabe am Gemeinsamen berechtigten: der Reichtum der Wenigen (oligoi), die Tugend der Besten (aristoi) und die Freiheit des gemeinen Volkes (dēmos) (vgl. Rancière 1995: 25 f; Aristoteles 1994 (3. Buch): 126-174). Die Abschaffung der Schuldknechtschaft in Athen bildet den historischen Hintergrund dieser prekären Freiheit des Volkes. Sie ist eine leere oder uneigene Eigenschaft [propriété impropre], insofern sie nicht dem dēmos allein zukommt. Während die anderen Gruppen jedoch über weitere Eigenschaften verfügen, ist sie für den dēmos die einzige. Indem der dēmos sich diese gemeinsame Eigenschaft [qualité commune] als eigene Eigenschaft [qualité propre] aneignet, sich also kontrafaktisch mit dem Ganzen der Gemeinschaft identifiziert, stiftet er das, was die Gemeinschaft für Rancière zu einer politischen macht: den Streit darum, wer (dazu) zählt, wessen Stimme Gehör findet. Im Zuge dieses Streits wird demonstriert, dass das Ganze im Sinne der aktuell gültigen Zählung – also als Summe oder Verhältnis der anerkannten Teile – unvollständig ist, einen Fehler oder eine Verzählung [mécompte] aufweist. Das Problem ist weder mit einem arithmetischen Ausgleich noch durch eine geometrische Ordnung der Verhältnisse der polis – wie sie Aristoteles favorisiert – aufzulösen. Der Streit bringt ein Inkommensurables zum Vorschein, das beide Zählweisen übersteigt und überfordert (vgl. Rancière 1995: 35, 40).7 7 | Rancière bezieht sich hier auf die Unterscheidung von arithmetischer und geometrischer Zählweise bei Platon und Aristoteles. Während die Arithmetik den profanen Warenaustausch und gerichtlichen Ausgleich von Nutzen und Schaden regelt, ist die Geometrie maßgeblich für die gute, also verhältnismäßige Einrichtung des Gemeinwesens. Gerecht ist diese Einrichtung dann, wenn alle den Anteil am Gemeinsamen beisteuern und bekommen, der ihnen jeweils gebührt. Bei genauerer Betrachtung der Quellen (vgl. z.B.

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Das Unrecht [tort], gegen das sich der dēmos in dieser Weise zur Wehr setzt, liegt in der ständigen Drohung, die von der Tugendhaftigkeit und dem Reichtum der anderen ausgeht, je nach Ausgangslage, entweder seine prekäre politische Existenz wieder einzubüßen oder in der Anteillosigkeit zu verbleiben. Für die vom dēmos in Anspruch genommene leere Freiheit, dieses Nichts, das alles ist, prägt Rancière den Begriff Anteil der Anteillosen [part des sans-part]. Anteillos in diesem Sinne sind nicht nur die Armen der Antike, sondern ebenso der Dritte Stand der Französischen Revolution oder das moderne Proletariat. Sie alle sind in der Position, mit der gleichen Art von exzessivem Anspruch auf das Ganze eine Gleichheit für sich zu reklamieren, die sich letztlich nur auf die Grundlosigkeit der Ungleichheit beruft, auf die Haltlosigkeit jeglicher Begründung für die Herrschaft der Einen über die Anderen8. Diese unbedingte Gleichheit erhebt Rancière zum performativen Prinzip politischer Subjektivierung.9 Zusammengefasst und bezogen auf 1989 beschreibt Rancière seinen Zugang folgendermaßen: »Volk ist für mich der Name eines politischen Subjektes, d.h. einer zusätzlichen Bestimmung (supplément) gegenüber jeder Logik des Abzählens einer Bevölkerung […]. Ich verstehe es im Sinne des ›Wir sind das Volk‹ der Demonstranten in Leipzig, die offenkundig nicht das Volk waren, aber sein Aussagemoment (énonciation) zustande brachten, und seine staatliche Verkörperung unterbrachen. Volk in diesem Sinne ist für mich ein Oberbegriff für die Gesamtheit aller Subjektivierungsprozesse, die das Prinzip der Gleichheit wirken lassen, indem sie die Formen der Sichtbarkeit des Gemeinschaftlichen zum Gegenstand einer Streitsache machen sowie die Identitäten, Zugehörigkeiten, Aufteilungen etc., die sie definieren […]« (Rancière 2009a: 70)

Supplementär war das in diesem Akt der Selbstbezeichnung auftretende Kollektivsubjekt, insofern die Demonstrierenden keinerlei Eigenschaften aufwieAristoteles 1994: 1302a; Platon 1982: 558c) fällt auf, dass die Beurteilung etwas differenzierter ausfällt. Rancières Argument, dass der Skandal der Politik hier als Problem für die Ordnungsmacht benannt wird, tut seine zuspitzende Lesart jedoch keinen Abbruch. 8 | Diese Gleichheit von egal wem mit egal wem bestreitet gerade die Existenz einer solchen naturalisierenden Begründung: »la pure et simple égalité de n’importe qui avec n’importe qui : il n’y a aucun principe naturel de domination d’un homme sur un autre.« (Rancière 1995: 116 vgl. auch 25-30) 9 | Performativ, weil es sich um ein je situatives Behaupten und Überprüfen/Wahrmachen dieser Gleichheit handelt – Rancière spricht in diesem doppelten Sinn von »vérification de l’égalité« (ebd.: 55f., 63ff.). Judith Butler unterstreicht die körperliche Dimension dieser Performanz und weist zu Recht darauf hin, dass bei öffentlichen Versammlungen wie diesen, noch bevor ein Wort gesprochen ist, ein Wir aufgeführt [enacted] wird (vgl. 2015b: 156f., 163).

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sen, die sie in der bestehenden Ordnung der DDR auf relevante Weise zur Mitsprache, zur Teilnahme (und sei es indirekt, z.B. durch freie Wahlen) am Regieren qualifiziert hätten. Gleichzeitig war die Teilnahme am Protest, die Zugehörigkeit zum Wir des »Wir sind das Volk« an keine Bedingungen geknüpft: Man musste keiner gesellschaftlichen Gruppe angehören, sich mit keiner bestimmten Idee identifizieren, um einzustimmen, vielmehr handelte es sich zunächst um eine Des-Identifikation: Wir sind nicht das Volk, in dessen Name dieses Regime handelt. Die zunächst wenigen hundert Demonstrierenden schufen so eine Bühne, auf der es möglich wurde, die Legitimität der Einheitspartei infrage zu stellen. »Wir sind das Volk« destabilisiert die staatliche Souveränität, indem es an den derivativen Charakter aller Staatsgewalt erinnert.10 Bei PEGIDA finden sich nun auf den ersten Blick ähnliche Gesten: die Überzeugung, anteillos oder zumindest nicht in relevanter Weise am Regieren beteiligt zu sein; Delegitimierung der Regierenden durch Berufung auf die Volkssouveränität sowie der exzessive Anspruch, deren Subjekt – das Volk – zu sein. Doch lässt sich Rancières Kategorie der Anteillosen auf PEGIDA beziehen? Die Antwort fällt schwer, da stets spezifiziert werden muss, woran die Betreffenden keinen (nicht: zu wenig) Anteil haben. Verglichen mit den historischen Beispielen – 1989, Französische Revolution, Antike – wird zumindest deutlich, dass dafür weniger Bereiche infrage kommen. Dennoch lässt sich ihre Kritik am politischen Establishment und am Zustand der Demokratie übersetzen in eine Selbstbeschreibung als diejenigen, denen die Qualifikation zum Regieren und Mitreden abgesprochen wird, nur weil sie nicht zum elitären Kreis der Wenigen und Besten gehören. Die Behauptung des unrechtmäßigen Ausschlusses geht auch hier einher mit einer radikalen Infragestellung der Legitimität der herrschenden Ordnung. Der Anspruch, das Volk zu sein, ist hier jedoch nicht mit einer leeren Eigenschaft wie der universellen Freiheit oder Gleichheit begründet. Es wird zwar ein Streit um die Formen der Sichtbarkeit (Stichwort »Lügenpresse«) initiiert, bei dem es zentral um Identitäten und Zugehörigkeiten geht, diese sollen aber gerade nicht geöffnet und neu ausgehandelt, sondern konserviert oder restauriert werden – unter Berufung auf naturalisierte, nicht-leere Eigenschaften wie Herkunft, Religion, Kultur: eine völkische Volkssouveränität, eine geometri10 | Der Konflikt zwischen Rhetorik und politischer Wirklichkeit in der DDR, der 1989 auf die Straße getragen wurde, spiegelt sich interessanterweise neben der exzessiven staatlichen Bezugnahme auf das Volk auch in einer Verfassungsänderung von 1968 wieder. Der Satz »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« wurde ersetzt durch das an Produktivität geknüpfte »Alle politische Macht in der Deutschen Demokratischen Republik wird von den Werktätigen ausgeübt« (Art. 2) einerseits und das offen paternalistische »Alle Macht dient dem Wohle des Volkes« (Art. 4) andererseits. Das Widerstandsrecht – 1949 noch Teil der Verfassung – wurde 1968 ganz gestrichen.

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sche Ordnung der bedingten Gleichheit (nur für Gleiche), in der kein Raum ist für das unbedingte Prinzip der Gleichheit. Dieser Unterschied lässt sich genauer herausarbeiten mit Hilfe von Rancières Begriffspaar Polizei/Politik.

Polizei und Politik … Polizei bezeichnet, in Anlehnung an Foucault (vgl. Rancière 1995: 51; Foucault 1994), alles, was die bestehende Ordnung mit ihren oben zitierten »Identitäten, Zugehörigkeiten, Aufteilungen« stützt und schützt. Damit umfasst die polizeiliche Logik die meisten Praktiken, die im Alltagssprachgebrauch als Politik bezeichnet werden: »die Gesamtheit der Vorgänge, durch welche sich der Zusammenschluss und die Übereinkunft der Gemeinschaften [collectivités], die Organisation der Gewalten, die Verteilung der Plätze und Funktionen und die Systeme der Legitimierung dieser Verteilung vollziehen« (Rancière 2002: 39, Übersetzung geändert). Das Feld des Denk- und Machbaren wird, so Rancière, durch jene polizeilichen Logiken und Praktiken vorstrukturiert. Politik hingegen heißt bei ihm nur der Moment der Unterbrechung und Öffnung dieser Ordnung.11 Das qualifizierende Prinzip der Politik ist dabei die Gleichheit von egal wem mit egal wem – »l’égalité de n’importe qui avec n’importe qui« – und ihre performative Behauptung und Verwirklichung.12 Diesen Prozess bezeichnet Rancière zugleich als Emanzipation.13 Politik geschieht also gerade im Bestreiten identitärer Festlegung. Entsprechend ist eine politische Subjektivierung keine Identitätsbehauptung, sondern beginnt mit einer Des-Identifikation, dem Losreißen von einem in der polizeilichen Ordnung zugewiesenen oder als natürlich behaupteten Platz (vgl. Rancière 1995: 60). Die politisch-emanzipatorische Intervention der Subjektivierung kann zwar eine polizeiliche Ordnung aufbrechen, aber nicht verhindern, dass diese sich anschließend, wenn auch in veränderter Form, wieder verfestigt. Politik zwingt Polizei zu einer Reartikulation, die dann erneut kritisiert werden kann. Polizei kann jedoch nicht grundsätzlich abgeschafft werden. Die Subjekte der politischen Operation sind prekäre, unbeständige Grenzfiguren – und nur insofern sind sie politisch. Ihre umstrittenen, unmöglichen, paradoxen Namen können schnell wieder zur Benennung identitärer, naturalisierter Kollektive genutzt wer11 | Diese Unterscheidung ähnelt der Gegenüberstellung von Statik und Dynamik in der politischen Differenz (Politik/das Politische), ohne ganz in ihr aufzugehen. Für eine ausführliche Darstellung der Unterschiede vgl. Chambers (2011). 12 | S.o. Fußnoten 8 und 9. 13 | »[L]e processus de l’émancipation est la vérification de l’égalité de n’importe quel être parlant avec n’importe quel autre.« (Rancière 2004a: 115) Damit ist für Rancière jede Politik, die diesen Namen verdient emanzipatorisch und jede Emanzipation politisch.

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den oder sich zu solchen verfestigen. Als Beispiel kann hier der schnelle Wandel der Demo-Parolen 1989 von »Wir sind das Volk!« zu »Wir sind ein Volk!« dienen. Slavoj Žižek analysiert diese Wendung mit direktem Bezug auf Rancière: »[…] first they shouted ›We are the people!‹ [›Wir sind das Volk!‹], thereby performing the gesture of politicization at its purest […]; a couple of days later, however, the slogan changed into ›We are a/one people!‹ [›Wir sind ein Volk!‹], clearly signalling the closure of the momentary authentic political opening, the reappropriation of the democratic impetus by the thrust towards the reunification of Germany, which meant rejoining Western Germany’s liberal-capitalist police/political order.« (Žižek 2000: 189)

Die analytische Unterscheidung zwischen politischen Öffnungsmomenten und polizeilichen Schließungstendenzen lässt leicht vergessen, dass diese sich in der Praxis stets überlagern, und verführt zur Reduzierung auf ein Gut-Böse-Schema, wie es bei Žižek anklingt: die reine, authentische Politik gegen die staatlich-kapitalistische Polizei. Die Behauptung von Authentizität und Reinheit ist jedoch gerade eine polizeiliche Immunisierungsstrategie, die von Politik stets aufs Neue entlarvt und unterlaufen werden muss (vgl. Rancière 2009b; Chambers 2011).

… und deren Reformulierung als partage du sensible Deutlicher wird das Verhältnis von Politik und Polizei, wenn es zusammen gedacht wird mit dem abstrakteren Begriff partage du sensible. Dieses aisthetische (die sinnliche Wahrnehmung betreffende) Konzept ist in einem doppelten Sinn als geteiltes Sinnliches zu verstehen: Einerseits geht es um Gemeinschaft des Sinnlichen – eine Gruppe teilt eine bestimmte Wahrnehmungsweise oder Weltsicht.14 Der zweite Aspekt ist der von Teilung als Trennung – jedes dieser möglichen Wahrnehmungsmuster erfasst bestimmte Gegenstände, Subjekte und deren Ansprüche, andere schließt es aus (vgl. Rancière 1995: 48f.; 2004b: 240f.). In einem neueren Interview fasst Rancière dies folgendermaßen zusammen: »Die Politik ist also zunächst die Verhandlung über das, was sinnlich gegeben ist, über das, was sichtbar ist, über die Art, in der es sagbar ist und darüber, wer es sagen kann. Dies richtet eine Verteilung des Sichtbaren, Sagbaren und Machbaren ein, im doppelten Sinn des Wortes Verteilung: Was als gemeinschaftlich gegeben wird, aber auch, was auf die zwei Seiten einer Teilungslinie verwiesen wird, die das Sichtbare vom Unsichtbaren, das Hörbare vom Unhörbaren, das Mögliche vom Unmöglichen unterscheidet […]. Diese erste Ästhetik ist es, was ich Aufteilung des Sinnlichen genannt habe, das heißt die Verteilung der Formen, die die gemeinsame Erfahrung strukturieren.« (2008b: 38) 14 | Diese verbindende Bedeutungsebene geht in der geläufigen Übersetzung als Aufteilung des Sinnlichen verloren.

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Normalerweise ist etwas entweder verhandelbar oder sinnlich gegeben. Rancière geht es jedoch genau um den Moment, in dem die Gegebenheiten in Bewegung geraten und sich der ambivalente Status und die komplexe Zeitlichkeit der gemeinten Aufteilung zeigt, einer Aufteilung, die immer schon die Erfahrung einer je bestimmten Gemeinschaft strukturiert. Dadurch entstehen, mit Foucault gesprochen, Wahrheitseffekte – die aktuelle Ordnung kann als universell gültig und unveränderlich erscheinen. Die (je gültige) erste Ästhetik ist jedoch nur ein historisches Apriori,15 wie die politischen Störungen zeigen, aus denen sich bestenfalls immer neue Verhandlungen und Veränderungen ergeben. Polizei ist nun nicht die Aufteilung des Sinnlichen schlechthin, sondern eine bestimmte Art dieser Aufteilung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie eine Entsprechung von Orten, Funktionen und Seinsweisen behauptet:16 Die Arbeiter müssen nachts schlafen und ihre Arbeitskraft reproduzieren, sie haben keine Zeit, sich in konspirativ-literarischen Clubs künstlerisch zu betätigen (wie es Rancière in La nuit des prolétaires (1981) beschreibt). Die Straße ist in der polizeilichen Logik für den Verkehr da und nicht für politische Demonstrationen. Entsprechend ruft die Figur des Polizisten die Subjekte nicht mehr wie bei Rancières Lehrer Althusser mit »He, Sie da!« an,17 sondern agiert im Register des Sinnlichen: »Gehen Sie weiter! Hier gibt es nichts zu sehen« – eine Störung wird behoben, die klare Zuweisung von Funktionen und Orten wird wiederhergestellt. Die polizeiliche Aufteilung des Sinnlichen stellt sich dabei als allumfassend und alternativlos dar (mit Rancière: sie kennt weder Leere noch Supplement). Alles hat seinen Platz und seine Funktion; was nicht eingebunden werden kann, wird negiert. Um die Mechanismen der letztlich gewaltvollen polizeilichen Harmonisierung in den Blick zu bekommen, problematisiert Rancière den ihr zugrundeliegenden Konsens als »die Annullierung des Dissens, […] die Annullierung der überschüssigen Subjekte […], die Reduktion der Politik auf die Polizei« (Rancière 2008a: 45). Wenn eine Situation erfolgreich als Konsens etikettiert wird, kann jede weitere Kritik, jedes Zuwiderhandeln als unsachgemäße Störung ab-

15 | Im gleichen Interview erläutert Rancière, was seine Konzeption mit Foucaults Begriffen Episteme und historisches Apriori gemein hat, grenzt sich jedoch ab von dessen restriktiver Machtkonzeption (seiner »Intuition des Ausschlusses«) und einer einfachen zeitlichen Abfolge: »Eine Form der Aufteilung des Sinnlichen oder ein Regime der Kunst ist niemals mit einer Epoche zu identifizieren.« (2008b: 73) 16 | » […] une forme de partage du sensible, caractérisée par l’adéquation imaginaire des places, des fonctions et des manières d’être, par l’absence de vide et de supplément.« (Rancière 2000) 17 | Das »hé, vous, là-bas !« fungiert bei Althusser als individualisierend-unterwerfende Anrufung im Sinne des assujettissement (vgl. Althusser 1976: 113).

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getan oder im Extremfall als Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung, als terroristischer Akt mit allen nötigen Mitteln bekämpft werden. Politik kann also nur als transformative Bezugnahme auf Polizei geschehen, als »Intervention in das Sichtbare und das Sagbare« (ebd.: 32). Denn die »überschüssigen Subjekte« (die Anteillosen) können ihre Anteillosigkeit eben nicht innerhalb der bestehenden Ordnung skandalisieren, sondern müssen zunächst sich selbst als mögliche Gesprächspartner und ihre Sache als gemeinsame Sache ins Spiel bringen. Wenn Rancière Polizei als eine Art des geteilten Sinnlichen versteht, dann jedoch nicht in einem konkret historischen Sinne, sondern struktural und als Tendenz. Eine bestimmte Konfiguration des geteilten Sinnlichen kann mehr oder weniger polizeilich sein – aber nie total oder gar nicht. Politik hingegen lässt sich nicht symmetrisch als Eigenschaft des geteilten Sinnlichen verstehen, weil sie gerade dessen Unterbrechung, Veränderung, Verschiebung bezeichnet. Rancière (1995: 52) betont, dass es sich für ihn bei Polizei um einen nicht-pejorativen Ausdruck handelt, dass also nicht die gute Politik der bösen Polizei gegenübersteht18 – wie es bei Žižek anklang. Das heißt aber keineswegs, dass sich nicht eine bessere von einer schlechteren Polizei unterscheiden ließe. Das systematische Kriterium dafür ist ihr jedoch äußerlich, es liegt für Rancière in der Zugänglichkeit für politisch-gleichheitliche Ein-/Ausbrüche (effractions), die sie ›denaturalisieren‹ – also ihre Grundlosigkeit aufzeigen.19

Was kann all dies nun zum genaueren Verständnis der beiden Beispiele beitragen? Die Beschreibung der jeweils etablierten Ordnung als Polizei erlaubt zunächst zu sehen, was beide Bewegungen, als auf die Veränderung der Ordnung zielende, gemeinsam haben. Sie richten sich gegen einen als übermächtig empfundenen Konsens, der in Form eines quasi-hermetischen Sicht- und Sagbarkeitsregimes den eigenen Handlungsspielraum einschränkt. Sowohl das technokratische, überwachungsgestützte Regime der SED als auch das weitgehend als alternativlos präsentierte und akzeptierte Regierungshandeln Merkels lässt sich treffend als Polizei beschreiben – inklusive der gravierenden Unterschiede im Sinne einer schlechteren bzw. besseren Polizei. Die Reformulierung als geteiltes Sinnliches macht dabei verständlich, wie eine solche Ordnung sinnlich vermittelt ist – auf einer emergenten Zwischenebene, 18 | » […] the two terms are necessarily opposed, and this opposition can’t be reduced to the opposition between spontaneity and institution. It doesn’t mean that politics is good, as opposed to police being bad.« (Rancière 2011a: 249) 19 | Die bessere Polizei ist »celle que les effractions de la logique égalitaire sont venues le plus souvent écarter de sa logique ›naturelle‹« (Rancière 1995: 54).

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die im Zusammenspiel der verschiedenen Akteure Veränderungen unterworfen, aber weder direkt intentional noch nach Belieben formbar ist. Ein Protestereignis kann jedoch Alternativen erst denkbar und vernehmbar machen und Anschlussmöglichkeiten für weiteres Handeln eröffnen. Nun ist die (sowohl 1989 als auch bei PEGIDA zu konstatierende) Unterbrechung und Veränderung der polizeilichen Ordnung zwar ein notwendiges aber kein hinreichendes Kriterium für Politik und politische Subjekte in Rancières Sinne. Es bedarf zusätzlich eines prekären Moments der Öffnung, das sich gerade aller Bestimmung qua Identität oder Interesse entzieht und sich nur in der Abgrenzung zu so bestimmten Gruppen behaupten kann: »Ein politisches Subjekt ist keine Interessen- oder Ideengruppe. Es ist der Ausführende [opérateur] eines besonderen Dispositivs der Subjektivierung des Streits, durch den es Politik gibt. […] Die politische Differenz steht immerzu kurz vor dem Verschwinden: das Volk ist nahe daran, in der Bevölkerung oder der Rasse zu versinken, die Proletarier nahe daran, mit den Arbeitern in Verteidigung ihrer Interessen zu verschmelzen.« (Rancière 2008a 37)

Diese Differenzierungen stehen und fallen mit der Frage, um welche Art von Gleichheit hier gestritten wird. Das entscheidende Kriterium für Politik im strengen Sinne ist, dass es sich um eine unbedingte Gleichheit handelt. Der unbedingte Charakter dieser vom dēmos postulierten Gleichheit wird besonders deutlich in der Abgrenzung des dēmos vom ethnos.20

Der dēmos als fortwährende Unterscheidung vom ethnos Die beiden Bedeutungsebenen des Wortes Volk bestimmt Rancière folgendermaßen: »The ›people‹ is a name for two opposite things: demos or ethnos. The ethnos is the people identified with the living body of those who have the same origin, are born on the same soil or worship the same god. […] The demos is the people conceived as a supplement to the parts of the community – what I call the count of the uncounted. It is the inscription of the mere contingency of being born here or there, as opposed to any ›qualification‹ for ruling, and it makes its appearance through the process of verification of that equality, the construction of forms of dissensus.« (Rancière 2011b: 5)

20 | Zwei weitere klassische Möglichkeiten der begrifflichen Differenzierung wären plebs und populus. Für eine Analyse des plebs bei Foucault als Vorläufer des dēmos bei Rancière vgl. Muhle (2013), siehe auch Fußnote 5.

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Angewandt auf die beiden Ausgangsfälle zeigt sich so, dass mit dem Wort »Volk« 1989 und bei PEGIDA jeweils Unterschiedliches bezeichnet wird: 1989 destabilisierten diejenigen die staatliche Souveränität, die de facto nichts zur politischen Mitsprache qualifizierte, indem sie an den derivativen und kontingenten Charakter aller Staatsgewalt erinnerten. Wenn bei PEGIDA »Wir sind das Volk« erklingt, sollen zwar auch »die da oben« delegitimiert werden, es tritt jedoch eine zweite Abgrenzung hinzu: Naturalisierte Kategorien wie Blut, Boden, Religion (oder säkularisierte »abendländische« Werte) sowie volkswirtschaftliche Nützlichkeit werden zum Kriterium für Zugehörigkeit und Ausschluss erhoben. Für diesen exklusiven Gestus steht auch ein Transparent, das im März 2015 bei einer PEGIDA-Demonstration mitgeführt wurde.21 Dessen erste Zeile lautet: »Wir – nur wir sind das Volk – und geben nun den Takt an!«. Statt um eine unbedingte Gleichheit geht es um eine Gleichheit, die nur für die begrenzte Gruppe der Gleichen gilt, und um deren Streben nach Vorherrschaft. Damit fällt PEGIDA formal aus Rancières Bestimmung des dēmos (und der Politik) heraus und wird zum polizeilichen Akteur des ethnos.22 Die überlebensnotwendige Aufgabe des dēmos bestimmt Rancière nun als Kritik, die der stetigen Wiederholung bedarf: »Now it is clear that the difference [demos/ethnos, HG] is not given once and for all. The life of the demos is the ongoing process of its differentiation from the ethnos« (ebd.). Wird ethnos im weiteren Sinne als jegliche naturalisierte Rechtfertigung von Herrschaft verstanden, dann ist Politik, als selbstbildende Tätigkeit des dēmos, nicht zuletzt der fortwährende Kampf gegen jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (vgl. Heitmeyer 2015).

PEGIDA in Dresden im März 2015, Foto: dpa

21 | Vgl. www.rnz.de/cms_media/module_img/140/70307_1_gallerydetail_2015_​0​ 3_03_1.jpg (letzter Aufruf: 4.9.2017). 22 | Eine etwas formalere, in ähnliche Richtung zielende Unterscheidung wäre die zwischen historischem und hypothetischen Volk mit der dritten (Rancières dēmos wohl am nächsten kommenden) Alternative des Volks als Prozess (vgl. Espejo 2017).

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3. A usblick : U nendliche P olitik sticht P opulismus Das unmögliche Volk Die zentralen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden untersuchten Fälle von öffentlicher Selbstbezeichnung als Volk lassen sich in einem Begriff zusammenfassen: dem unmöglichen Volk. Unmöglich ist das Volk erstens aus Perspektive der bestehenden Ordnung, des je aktuellen geteilten Sinnlichen – es kommt nicht vor, ist nicht vorgesehen und also zunächst nicht wahrnehmbar. Es tritt, auch als spezifisches Kollektivsubjekt, erst im Zuge einer Veränderung des geteilten Sinnlichen auf. Insofern eine solche Veränderung nicht automatisch politisch/emanzipatorisch (im strengen Sinne Rancières) ist, trifft die Beschreibung sowohl auf die dēmos- als auch auf die ethnos-Variante des Volkes zu. Diese Nicht-Existenz ist jedoch nur selten eine totale – eine Gruppe ist oft bereits wahrnehmbar, hat schon Anteil, aber (noch) nicht in der relevanten Hinsicht (z.B. Sklaven als Menschen, Frauen als Wahlberechtigte, Geflüchtete als Bürger). Eine Ausdrucksform dessen sind abschätzige, minorisierende Bezugnahmen: Ob die Montagsdemonstrierenden als »gewissenlose Elemente« (Bohse/Henrich 1989: 63), PEGIDA als »Pack« (vgl. Paul 2015) oder Gegendemonstrierende als Chaoten, Störer, Linksextremisten bezeichnet werden, gemeint ist zunächst: die betreffende Gruppe verhalte sich und mache sich unmöglich und komme als (vernünftiger) Gesprächspartner nicht infrage – die zweite Bedeutungsebene. Während also die Ausgangssituation und die Abwehrreaktionen noch keinen Rückschluss auf den Charakter der jeweiligen Bewegung zulassen, zeigt sich anhand der dritten Bedeutung von unmöglich ein entscheidender Unterschied: Das Volk (im Sinne des dēmos) verwirklicht sich nie abschließend. Es verbleibt (solange es den Namen dēmos verdient) stets in einem Zwischenbereich der Rekonfiguration von Möglichkeiten, im Modus des Werdens. Der ethnos hingegen ist seiner Struktur nach abschließbar gedacht, strebt nach Stabilisierung und Naturalisierung. Diese Gegenüberstellung von dēmos und ethnos entspricht derjenigen von Politik und Polizei. Bezogen auf Prozesse der Subjektivierung ließe sich, über Rancière hinausgehend, neben der politischen von einer polizeilichen Subjektivierung sprechen – also von Formen der kollektiven Subjektbildung, die von Anfang an auf Schließung, Identität und Ausschluss aus sind. Bei der politischen Subjektivierung lassen sich diese Effekte zwar nicht gänzlich vermeiden, sie treten jedoch erst später, nach dem Moment der Öffnung und Verschiebung, ein und sind dann wiederum zu kritisieren und ihrerseits aus der Welt zu schaffen, was neue Schließungen nach sich ziehen wird etc. ad infinitum.

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Was tun gegen Rassismus? Der vorgestellte Begriffsapparat mag nun für eine normative Einordnung verschiedener Formen von kollektiver Subjektivierung und für abstrakte Zielsetzungen genügen, gibt aber zunächst wenig Mittel für den praktisch-politischen Umgang mit Bewegungen wie PEGIDA an die Hand. Ja, es geht um die unermüdliche Unterscheidung des dēmos vom ethnos – aber wie lässt sich diese Unterscheidung, diese Kritik bewerkstelligen, ohne dabei selbst in Widersprüche zu geraten, beispielsweise indem Herkunft, Fähigkeiten und soziale Stellung der Kritisierten naturalisiert werden? Hier können Rancières Bemerkungen zum »brutale[n] Einbrechen neuer Formen des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit in unseren konsensuellen Gesellschaften« (Rancière 2002: 127) Ansatzpunkte liefern: Gerade im Zusammenhang mit PEGIDA (als ostdeutsches Phänomen) werden immer wieder sozio-ökonomische Erklärungen des Rassismus23 bemüht – Konkurrenz um Arbeitsplätze, Sozialleistungen etc. Solche Erzählungen stellen rassistisch eingestellte Menschen als rückständige Neider dar, die den Anschluss an die fortschrittliche, multikulturelle Gesellschaft, von der alle profitieren, verpasst haben. Dabei hat der rassistische Diskurs längst die Sprache der Expertokratie und des Sachzwangs übernommen: »die Rassisten [sprechen] wie Gelehrte, […] sie erklären immer mehr, dass es wirtschaftliche Zwänge, Probleme der Vereinbarkeit oder der Unvereinbarkeit zwischen den Kulturen und Toleranzschwellen gibt, und dass man schließlich die Fremden verjagen muss, weil die Situation ansonsten Gefahr läuft, Rassismus hervorzurufen.« (Rancière 2011c: 35). Die Beschwörung einer soziologisch-objektiven Belastungsgrenze, auf deren Überschreitung Rassismus eine »natürliche« oder zumindest verständliche Reaktion sei, geht Hand in Hand mit der Beteuerung, die auf keiner PEGIDA-Veranstaltung fehlt, selbst weder Nazis noch fremdenfeindlich zu sein. In weiten Teilen der parlamentarischen Politik zeichnet sich eine ähnliche Doppelstrategie ab – den Sündenbock Fremdenfeind weiter rechts zu benennen, um im Kontrast das eigene (rassistische) Handeln als harte aber zur Wahrung des sozialen Friedens notwendige Sachpolitik zu legitimieren und gleichzeitig Sympathieverlusten am rechten Rand entgegenzuwirken: Die Worte der Abgrenzung und Verurteilung von PEGIDA werden immer deutlicher, gleichzeitig wurden 2015 die härtesten Asylrechtsverschärfungen seit 23 Jahren beschlossen, die viele Forderungen der »harten Rechtsextremisten« 23 | Rancière zählt hier Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gesondert auf, ohne sie systematisch zu differenzieren. Für eine ausführliche Darstellung der Unterschiede zwischen Ausländerfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und ein Plädoyer für die Verwendung des letzteren Begriffs vgl. Terkessidis (2004).

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(de Maizière über den PEGIDA-Organisationskreis) erfüllen. In diese Reihe schreibt sich auch die beharrliche Forderung nach einer Obergrenze für die Gewährung von (auch politischem) Asyl ein, die mit Sachzwangargumenten vermeint, Grundsätze des Völkerrechts beiseite wischen zu können. Eine der gängigsten Beschreibung dieser Phänomene ist die in Begriffen des (Rechts-)Populismus24 Eine Sammelbezeichnung des Zusammenhangs von direkter Adressierung des Volkes, Elitenkritik und identitär-rassistischer Rhetorik birgt jedoch für Rancière die Gefahr, gerade entdifferenzierend zu wirken: Die Masse des Volkes wird pauschal desavouiert als »[…] a pack possessed by a primary drive of rejection that is aimed simultaneously at the rulers whom it declares traitors, lacking an understanding of the complexity of political mechanisms, and at the foreigners whom it fears through an atavistic attachment to a way of life threatened by demographic, economic, and social change.« (Rancière 2016: 102f.)

Von einer solchen paternalistisch-minorisierenden Beschreibung – die manchen medialen und parlamentarischen Reaktion auf Phänomene wie PEGIDA recht nahe kommt – ist es nicht weit zur (klassisch platonischen) Gleichsetzung des demokratischen Volkes mit dem gefährlichen Pöbel und zu entsprechenden techno- oder aristokratischen Tendenzen.25 Statt sich ängstlich in Loyalität mit den über Gebühr kritisierten Regierenden oder dem Staat zu üben, gilt es mit Rancière den allzu »normalen« Staatsrassismus und die alltäglichen Diskriminierungen bezüglich Arbeit, Wohnen, Bildung – oder allgemeiner alle Zuschreibungen von Ungleichheit, Unfähigkeit, Unmündigkeit – zu benennen und zu bekämpfen, wo immer sie auftreten. Das heißt letztlich, politische Theoriebildung als wirklichkeitsmächtige Intervention (vgl. Rockhill 2016) ernst zu nehmen und entsprechend nicht von dummen und gefährlichen Massen auszugehen, sondern von der Gleichheit aller.

24 | Zum konkreten Fall Obergrenze vgl. Castellucci (2016); eine prägnante allgemeine Zusammenfassung mit Blick auf den demokratischen Umgang mit populistischen Tendenzen bietet Müller (2016). Er macht das antipluralistische »wir, nur wir« zu einem Bestimmungsmerkmal des Populismus (26, 44). 25 | Tatsächlich trifft Rancière mit dieser polemischen Abwehr eher »Popularisierungen« der genannten Populismustheorien als diese selbst, insofern wäre eine wechselseitige Komplementierung und Kritik durchaus denkbar und wünschenswert.

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Die Nation als Subjekt Wolfgang Fach

Thema mit V ariationen Kann man – mit Aussicht auf Erfolg – an Nationen appellieren, irgendetwas zu unternehmen? Etwa: »Deutschland erwache!«. Oder auch: »Durch Deutschland muss ein Ruck gehen!«. Dass jedenfalls transnationale Kollektivsubjekte nicht handlungs- und lebensfähig sind, hat sich immer wieder gezeigt. Weder sollte es dem Kommunistischen Manifest gelingen, »Proletarier aller Länder« hinter sich zu scharen, noch war die »Internationale« imstande, globalen Handlungsbedarf zu signalisieren. Geht es aber doch einmal über den Tellerrand hinaus, dann trifft man unweigerlich wieder auf Nationen, die als »Vereinte« darum bemüht sind, im weltweiten oder auch nur europäischen Maßstab koordinierte Problembewältigung zu treiben.1 Sicher, da oder dort agieren supranationale Akteure: UNO, EU, Gerichtshöfe, »Regime«. Doch wenn es wirklich zur Sache geht, normalisiert sich das Ganze und herauskommt, dass dem institutionellen Überbau entweder die Kollektiv- oder Subjekt-Qualität fehlt. Eine beschwerlich gewordene Union verlässt man eben (»Brexit«) bzw. tritt ihr nur unter Vorbehalten bei (Vetomacht), wohingegen die Weltöffentlichkeit zwar unkündbar ist, aber als bloßes »Publikum« (Gabriel Tarde) naturgemäß passiv bleibt. »Brot für die Welt« besorgt nicht sie selbst – Personen spenden, eine Kirche sorgt fürs Konto. Ähnlich steht es mit der »Weltsicherheit«, darum kümmert sich zwar ein »Rat«, doch faktisch sehen Nationen, einzeln oder im Verbund, nach dem Rechten: »Seit 1992 hat sich die Bundeswehr an zahlreichen Auslandseinsätzen auf der ganzen Welt beteiligt.« (Handelsblatt, 16.01.2013) Oder sollte man besser von Staaten sprechen?

1 | Dass hier nicht alleine die praktische Politik an Grenzen stößt, lässt sich den Versuchen ablesen, einen kosmopolitischen Akteur wenigstens begrifflich zu bestimmen (vgl. Beck/Latour 2014; Opitz 2016).

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Dass das keine (rein) theoretische Frage ist, hat sich gerade erst gezeigt. »Wir«, wurde uns da gesagt, würden es schon »schaffen«, für Flüchtlinge aus prekären Zonen ein neues Zuhause bereitzustellen. Der Staat, in Gestalt seiner zuständigen Behörden wurde hier zwar auch aktiv, doch hinter dem Versprechen war, weil ohne weitere Akteure gar nichts gegangen wäre, ein Appell an allerlei Helfer draußen im Lande versteckt: mitleidige Menschen, karitative Einrichtungen, organisierende Kammern, ausbildende Unternehmen etc. – allesamt Adressaten, die zum »Wir« gehören. Diese Botschaft ist durchaus gehört worden. Andererseits hat sich fast gleichzeitig, unter dem Motto »Wir schaffen es nicht«, eine massenhafte Protestbewegung entwickelt, so dass von einer Nation keine Rede sein konnte.

1. E ine »Z umutung « Das alles schien wieder einmal zu bestätigen, was man sowieso zu wissen glaubt: dass alleine der Staat eine Nation ansprechbar und handlungsfähig macht. Doch welchen Part übernimmt dann die »Nation«? Die Antwort darauf gibt womöglich eine von Livius überlieferte und häufig erinnerte Episode: der Exodus des römischen Plebs (494 AD), dem das Patrizier-Regiment allzu lästig geworden war. Schon damals ist man offenkundig davon überzeugt gewesen, was bis heute als Binsenweisheit gilt: Einige fühlen sich berufen zu regieren, doch »die Arbeit tun die anderen« (Helmut Schelsky). Den Sezessionisten wurde – am Ende erfolgreich – entgegenhalten, ihre Kritik sei kurzsichtig – auch der menschliche Magen werde scheinbar nur gemästet. Körpervergleiche sind später in Mode gekommen (Lüdemann 2004; Struve 1978), weil sie bestimmte Funktionen festschreiben und zugleich dafür herhalten können, Kompetenz samt Komfort an Klasse zu binden: Fuß-Volk (Bauernstand) kann beim besten Willen keine Kopf-Arbeit (Barone, Bischöfe) verrichten. Livius’ Erzählung blendet den ideologischen Kunstgriff allerdings aus: Ein Teil (Patrizier) imaginiert das Ganze (Rom) als »Körper«, so dass aus seiner privilegierten Position eine notwendige Funktion wird (»Magen«). Anders und moderner ausgedrückt: Man erfindet den Staat als Instrument der Nation – (nur) wer das glaubt, hat einen guten (enttäuschungsfesten, strapazierfähigen) Grund zum täglichen Gehorsam. Roms abtrünnige Plebejer dürften gewusst haben, was auf dem Spiel stand, denn es war keineswegs eine schöne Rede (des Konsuls Menenius Agrippa) allein, die sie zur Umkehr bewogen hat; Machtzugeständnisse haben das ihre getan. Max Weber spricht also nicht grundlos davon, dass die Rhetorik der »Nation« (bei ihm durchgängig in Anführungszeichen) eine Zumutung sei: es handle sich um etwas, das, »wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht

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nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann.« Dieser Begriff besage »im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: dass gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei« (Weber 1972: 528). Die Nation beschwörend mutet man Menschen zu, (speziell ökonomische) Konflikte zu begraben. Dass das keineswegs eine unschuldige »Anrufung« ist, daran hat auch Ferdinand Tönnies erinnert: »Nation«, postuliert er, sei »ein Gedanke, der obern führenden Schichten, von denen er dem ›Volk‹ erst aufoktroyiert wird« (Tönnies 2000: 375). Was ihnen diese Arbeit erleichtert, ist die Tatsache, dass ihr politisches Projekt mit dem staatlichen Blick korrespondiert: »Das Ideal zentralisierter Regierungen ist, ihre Beamte alle nach dem Muster von Offizieren, ihre Untertanen alle nach dem Muster von gemeinen Soldaten zu bilden. In dieser Richtung feiern sie die größten Triumphe, durch klugen Gebrauch, den sie vom Nationalgefühl machen« (ebd.: 407). Weber wie Tönnies verlagern die Zumutung ausschließlich in den Bereich der Nation – was es ihnen ermöglicht, den Staat als »reine« (ideologiefreie) Instanz hochzuhalten. Bei Weber erscheint er dann in Gestalt des preußischdeutschen Verwaltungsapparats und ist die »technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung«, markiert durch ihr maximale Berechenbarkeit (Weber 1972: 128). Dass diese Organisation außerstande ist, einen »zumutenden« Nationalismus zu verkörpern, liegt auf der Hand. Vor einem vergleichbaren Problem steht Tönnies. Egal, ob man den Staat als praktisches Instrument zum Schutz von »Freiheit und Eigentum« ansieht oder aber zur »absoluten Person« erklärt, »in Bezug auf welche die übrigen Personen alleine ihre Existenz haben« (Tönnies 1991: 128f.): beide Male verliert er seinen Bezug zur alltäglichen Erfahrung, die darin besteht, dass das »Betreiberkonsortium« danach trachtet, auf Kosten des kleinen Mannes »Triumphe« der Macht zu feiern. Andere Konstellationen sind denkbar und gedacht worden. Alles in allem umfasst das Spektrum, grob sortiert, vier Typen: Staat gegen Nation (Weber, Tönnies), Staat als verkörperte Nation (Kap. 2+3), Nation als verkörperter Staat (Kap. 4+5) und schließlich, am anderen Ende, die Nation ohne Staat (Kap. 6).

2. »The A rt of M an « Womöglich hat Tönnies eine Lösung im Auge gehabt, die ihm seine HobbesLektüre hätte nahelegen können (Hont 2015). Thomas Hobbes verwendet zwei politische Metaphern, um den Leviathan zu charakterisieren. Einerseits greift er auf den Organismus-Vergleich zurück – »the art of man« sei imstande, einen künstlichen Menschen herzustellen (Hobbes 1996: 9), mit dem Souverän als

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Seele, seinem Beraterstab als Gehirn, den Beamten als Gelenken usw. Andererseits habe der Mechanismus eines Automaten Pate gestanden (vgl. ebd.) – die Rede ist dann von Federn, Gestängen, Rädern. Für Hobbes sind beide Analogien gleichwertig. Erst Ferdinand Tönnies hat daraus zwei kontrastierende Idealtypen gemacht: »organische« Gemeinschaft vs. »mechanische« Gesellschaft. Jene entstehe in dreierlei Formen: durch Blut, Ort und Geist. Blutsbande schafften Verwandtschaften, die geteilte Lokalität stifte (vor allem ländliche) Nachbarschaften, und freundschaftlicher Geist wehe dort, wo »einmütige Arbeit und Denkungsart« herrscht (nach Tönnies ein speziell städtisches Phänomen). Andererseits hat man, wo Menschen, statt miteinander zu fühlen, untereinander tauschen, es mit einer gesellschaftlich organisierten Gruppe zu tun – deren Zusammenhalt dadurch gewährleistet wird, dass ihre Mitglieder durch komplementäre Interessen verbandelt sind: bestehend aus xbeliebigen Personen, die »etwas zu leisten und folglich etwas zu versprechen fähig sind.« Diese Gesamtheit, meint Tönnies, sei »ihrer Idee nach unbegrenzt«, Grenzen würden daher »fortwährend« durchbrochen (Tönnies 1991: 12f., 44f.). Tönnies’ Modifikation hat eine unbeabsichtigte, offenbar auch unbemerkte Konsequenz: sie lässt den (National-)Staat verschwinden. Organische Beziehungen reichen bis hin zu städtischen Freundschaften; mechanische, sprich: ökonomische Netzwerke überziehen den gesamten Erdball (oder reichen wenigstens, schon zu Hobbes Zeiten, bis nach Ostindien). Jene sperren sich gegen eine weitere Ausdehnung, diesen sind Schranken jeglicher Art zuwider. Von beiden Seiten her werden staatliche Interventionen daher prinzipiell als Störungen wahrgenommen; damit sie einen legitimen Platz erhalten, braucht es eine Begründung, die jenseits von Gefühls-Gemeinschaft und GeschäftsGesellschaft liegen muss. Hobbes sucht sie bei der Vernunft des Individuums – was seinen Kollektiv-Metaphern (Körper, Apparat) deswegen nicht entgegensteht, weil diese, im Unterschied zu Tönnies, ausschließlich auf den Staat gemünzt sind. Geklärt werden muss dann allerdings, ob bzw. wie auf dieser Basis ein nationales »Subjekt« in die Welt gesetzt werden kann. Diese Frage stellt sich umso mehr, als Hobbes von einer »kommunitären« Menschennatur nichts wissen will: Seine Personen sind keine Wesen, die a priori miteinander (Aristoteles) oder untereinander (Adam Smith) handeln wollen und damit ein natürliches (vorstaatliches) Fundament liefern, auf dem Gemeinschaftsappelle auf bauen könnten. Dass diese Ungastlichkeit kommuniziert werden kann, macht die Sache nicht einfacher: »the tongue of man is a trumpet of war« (ebd.: 168f.). Hobbes will nicht völlig ausschließen, dass auch ein ungeselliger Charakter, »krummes Holz« (Kant), den Wert der Geselligkeit ermessen kann, schätzen wird und daher zum Schluss kommt, sich mit anderen vertragen zu sollen: the benefit of concord leuchtet jedem klaren Verstand ein (Hobbes 1999: 105).

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Dennoch hat es dieses vorteilhafte Arrangement bislang niemals und nirgendwo gegeben. Warum? Weil jedermann von sich selbst weiß, dass er niemandem trauen kann. Read thy self! (Hobbes 1996: 10) – wer seine fünf Sinne bei einander hat, macht das sowieso. Wenn aber weder Vernunft noch Sympathie den Menschen davon abhalten, seinen Nachbarn, mit dem er eigentlich in Frieden leben wollen müsste, vorsätzlich zu schädigen, dann bleibt nur noch die Hoffnung darauf, »that those who have once consented for the common good, to peace and mutual help, may by fear be restrained, lest afterwards they again dissent, when their private interest shall appear discrepant from the common good« (Hobbes 1991: 167). Furcht muss es richten, soweit reicht die Vernunft. »That miserable condition« (Hobbes) nimmt sonst nie ein Ende. Das ist die Geburtsstunde des Leviathan und das Ende der »miserable condition« des staatenlosen Subjekts. Menschen (von Natur aus in Nationen sortiert) beschließen, »to confer all their power and strength upon one man, or upon one assembly of men, that may reduce all their wills, by plurality of voices, unto one will«. Dieser Akt »is more than consent, or concord; it is a real unity of them all in one and the same person, made by covenant of every man with every man«. Für Hobbes gibt es keinen Zweifel daran, »that union is necessary for the maintaining of concord« (Hobbes 1996: 120; 1999: 10).2 Was nichts anderes bedeutet als: Der Staat ist die – legitime – Gemeinschaft (union) der Gesellschaft (concord) und das einzige real existierende Kollektivsubjekt. »Anrufungen« sind, so gesehen, notwendig zirkulär – Selbstgespräche des Souveräns darüber, was getan werden müsste, um den Staat bei guter Gesundheit zu erhalten. Das Themenfeld umfasst zwar nur die eigene Befindlichkeit, doch Gesprächsstoff gibt es genug, er füllt zwei ganze Kapitel des Leviathan (18, 29). Gerade der »narzisstische« Souverän ist aber keineswegs blind gegenüber seiner Umwelt. Tatsächlich interessiert ihn nichts mehr, weil draußen im Lande sowohl die Gefahren drohen (Bigotterie vor allem), als auch jene Ressource vorkommt, deren er bedarf, um seinen Körper zu kultivieren: der »starke Staat« braucht eine »gesunde Wirtschaft« (Hobbes 1996: 128f.; Schmitt 1932). Doch geht diese Sorge nie so weit, dass sich daraus die Idee des umfassenden Nationalkörpers entwickeln würde. Muss es auch nicht. Denn anders als bei Weber oder Tönnies fallen beide Welten keineswegs auseinander – vernünftig gewordene Bürger unterstützen diese Trennung durch ihr »alltägliches Plebiszit« (Ernest Renan) respektive einen »stillschweigenden Konsens« (John Locke). Diesen empirischen Zustand will Hobbes’ juristische Metapher des Vertrags aller mit allen in einen kategorischen Imperativ verwandeln.

2 | Ganz ähnlich argumentiert Spinoza, der diesem Gebilde allerdings eine republikanische Zukunft verschreiben will (vgl. Malcolm 2002: 27ff.; Saar 2013: 333ff.).

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3. »O mnes e t S ingul atim « Man kann Hobbes’ Konstrukt auch auf den Kopf stellen, sprich: das subjektivierte Kollektiv nicht als Ergebnis eines gemeinsam unterzeichneten »Blankoschecks« (Herbert Krüger) interpretieren, sondern Techniken der herrschaftlichen »Menschenführung« zuschreiben, die »auf Individuen zielen und diese auf stetige und beständige Weise lenken sollen« (Foucault 1994: 67). So wie es ein Hirte mit seiner Herde anstellt, dessen Sorge jedem einzelnen Schaf und allen Schafen gleichermaßen gilt, omnes et singulatim (Foucault 1994, 2004: 173ff.). Die Herde ist ein willenloses Kollektiv, dessen Subjekt-Natur ausschließlich im Hirn des Hüters existiert. Ihre Individuen verkehren weder miteinander noch handeln sie gar zusammen. Selbst jener gesellschaftliche Augenblick bleibt aus, den Hobbes’ Wölfe erleben, wenn sie sich darauf verständigen, regiert werden zu wollen. Alexis de Tocqueville hat die totale Ver-Schafung als Kernelement des modernen Wohlfahrtsstaats bezeichnet: Am nicht mehr fernen Horizont erkennt er »eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen.« Darüber erhebt sich »eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild« (Tocqueville 1976: 814). Tocqueville vergisst nicht, darauf hinzuweisen, welche persönlichen Kosten und gesellschaftliche Folgen diese Rundum-Betreuung haben wird: »Nachdem der Souverän auf diese Weise den einen nach dem andern in seine mächtigen Hände genommen und nach seinem Gutdünken zurechtgeknetet hat, breitet er seine Arbeit über die Gesellschaft als Ganzes aus; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen«. Und schließlich »bringt er jedes Volk soweit herunter, dass es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist« (ebd.: 815). Unter dem Strich steht genau das gleiche Fazit wie bei Foucault (2004: 191): »Die pastorale Macht« ist »eine individualisierende Macht«, deren kollektivierender Effekt dem Einzelnen entgeht. Diese Subjektzentrierung soll Hüten und Herrschen, antikes Pastorat und moderne Politik miteinander verbinden: Erst hat sie sich in der »Vorstellung der Pastoralmacht verwurzelt, dann in der Staatsräson« (Foucault 1994: 93). Foucault zitiert freilich nicht Tocqueville als seinen Kronzeugen – er sieht den subjektzentrierten Kollektivgedanken am weitesten in der sogenannten Staatsrespektive »Policeywissenschaft« ausgearbeitet, dessen fortschrittlichster Vertreter Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717-1771) gewesen sei – insbesondere deswegen, weil dieser das Politikfeld »Bevölkerung«, die Menschenherde also,

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ins Zentrum seiner Überlegungen stellt (vgl. ebd.: 89ff.). Was Justi so begründet: »Nicht der große Umfang von Wäldern und Wüsteneien, die ein Staat zu seinen Besitzungen rechnen kann, sondern die Menge von Einwohnern machen die Macht und Stärke desselben aus.« Denn je »volkreicher ein Staat ist, desto blühender sind seine Nahrung und Gewerbe, desto leibhaftiger wird die Zirkulation des Geldes in ihm sein« etc.pp. (v. Justi 1761: 409). Verändert hat sich also doch etwas – diesen (neuen) »Pastor« interessiert vordringlich der Zustand seiner »Herde« (Bevölkerung), das Schicksal des einzelnen »Tieres« ist für ihn nur insoweit von Interesse, als es Folgen fürs Ganze hat: Man muss »Untertanen« in »nützliche und geschickte Mitglieder« verwandeln (v. Justi 1759: 219ff.). Geschickt in Arbeiten, die nützlich fürs Kollektiv sind – das ausschließlich im Kopf des Regenten existiert. Wie gesagt: Er ist das (Gesamt-) Subjekt. Was Justis Policey-Ideal auch von Foucaults Pastoral-Vision einen Schritt entfernt, ist dies: Menschen dürfen Marotten haben und werden nicht auf Marionetten reduziert. Die private Sphäre ist ein geschützter Raum der Dysfunktionalität, solange daraus keine öffentlichen Ärgernisse erwachsen: »Unterdessen, da eine genügsame Aufsicht in den Privat-Häusern schwerlich möglich ist, ohne der Freiheit der Untertanen dabei zu nahe zu treten, so muss man sich begnügen, wenn die groben Ausschweifungen, als die Schlägereien und das Schreien und Lärmen der Trunkenbolde, auf den Straßen vermieden werden.« (Ebd.: 216) Außerdem hätten impertinente Regenten sehr schnell lernen müssen, dass gegen »natürliche« Bedürfnisse letztlich kein (dazumal verfügbares) Kraut gewachsen war. Allerdings würde Mandevilles Gesetz, dass private vices in public benefits umschlagen würden, in diesem Falle nicht gelten. Denn auch friedfertige »Schwelgerei und Trunkenheit« machen Menschen »überlästig«, sprich: »zur Erfüllung ihrer bürgerlichen Pflichten unfähig« (v. Justi 1782: 15, 251). Nationale Bilanzen verbessern sich nur, wenn Verwaltungen ihre Schäflein ganzheitlich an die Kandare nehmen Was damals weder aktuell noch absehbar war: »Falscher« Konsum kann die gesellschaftlichen Kosten in astronomische Höhen treiben. Darüber klagt man erst in neuerer Zeit. Westliche Gesellschaften sind fat nations geworden und bezahlen dafür teuer: mit geschätzten zwei bis drei Prozent ihres Bruttosozialprodukts (was sich hierzulande auf rund 100 Milliarden Euro pro Jahr aufaddiert). Solche Folgen vor Augen messen inzwischen Experten allerorten die nationalen Fettspiegel und Regierungen suchen nach Wegen, der kollektiven Adipositas Besseres entgegenzusetzen als gutgemeinte Aufklärungskampagnen – deren struktureller Defekt darin liegt, dass sie ein Staats- als Herzleiden »verkaufen«, also bei »Gewohnheitstieren« individuelle Betroffenheit erzeugen müssen. Diese heikle Problemverschiebung zu unterlaufen, hat jene Menschenführungstechnik versprochen, deren sich vor allem England, in sei-

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nem Gefolge aber auch weitere Staaten teils mehr (USA), teils weniger (BRD) intensiv verschrieben haben: das sogenannte Nudging (Thaler/Sunstein 2009). Da (in liberalen Demokratien) privater Unverstand nicht durch öffentlichen Zwang kompensiert werden soll, »stupst« man sie unmerklich in Richtung Vernunft. Dafür sorgt eine intelligente choice architecture: Kantinen ersetzen Fritten durch Karotten, öffentliche Gebäude reduzieren das Liftangebot, »Genussesser« werden darüber informiert, wie gesund andere Menschen leben etc.pp. Kein Zwang findet statt, keine Verbote gelten, keine Warnungen werden ausgesprochen (nach dem Motto: »Fett tötet«). Stupser genügen, um viele auf die rechte Bahn zu bringen – das »Gewicht der Nation« (HBO) sinkt und damit auch ihr Gesundheitsbudget (Halpern 2015; LGA 2013). Falls »ein Volk abnimmt« (NDR), steckt natürlich nicht sein »Wille« dahinter, sondern das statistische Durchschnittsgewicht sinkt. Kein Kollektiv, kein Kollektivbewusstsein – an letzterem fehlt es schon deswegen, weil selbst der individuelle Fortschritt völlig unbewusst passieren muss, hätte doch die Reflexion (gesundes Essen) gegen den Reflex (gewohntes Essen) im Regelfall keine Chance (Kahnemann 2012). Oder genauer gesagt: Eine Herde existiert auch hier nur im Kopf des Hirten – so verborgen, dass die Schafe nicht einmal merken, dass sie welche sind.

4. »P ride of S uperiorit y« Foucaults Schafe sind nur dank des – ihnen vorgesetzten – Hirten eine Herde; »gestupste« Subjekte ahnen nicht einmal, dass sie – weil aufs Ganze gesehen eine fat nation – abnehmen sollen; und Hobbes’ Wölfe sind sich ausschließlich darin einig, dass sie Ruhe voreinander haben wollen. Zu einem Kollektivsubjekt »Nation« kommt man so jedenfalls nicht. Erste Ansätze dazu finden sich bei Adam Smith. Während sein Zeitgenosse v. Justi davon ausgeht, dass Menschen, wenn überhaupt, dann entweder saufend und lärmend oder aber in sinistrer Absicht (»Rottirung«) gemeinschaftlich agieren, hält er Menschen für soziale, ja mitfühlende Wesen. Seiner Meinung nach setzt sich jede Gesellschaft aus konzentrischen SympathieKreisen zusammen. Dessen innerster ist ganz Emotion, das tiefe Mitgefühl zwischen Anwesenden in der (heilen) Kernfamilie. Verwandte müssen mit mehr Distanz zurechtkommen, und nette Nachbarn sind nicht zuletzt deshalb gern gesehen, weil sie nützliche Dienste verrichten. Je weiter das Kontaktnetz reicht, desto stärker sinkt, bildlich gesprochen, die Körpertemperatur: Kollegen arbeiten in Ämtern zusammen, Partner machen miteinander Geschäfte, Kaufleute bieten ihre guten Dienste an, Kunden fragen sie nach (vgl. Smith 1985: 380, 128). Zur Erinnerung: Tönnies diagnostiziert ähnliche Abstufungen und erfreut sich am minimalen »Gefühl reiner Menschlichkeit« ohne natür-

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liche Schranke, aber mit einer nationalen Grenze politischen Ursprungs: eben jener Politisierung der unschuldigen Sentimentalität, die emotionale Regungen zu patriotischen Wallungen verdickt und dafür die Welt draußen in eine feindliche – un- oder untermenschliche – Zone verwandelt (Tönnies 2000: 375, 404ff.). Smith geht die Nationenfrage vollkommen anders an: Unsere Natur will unseren Nutzen – und da der nationale Staat das größte nützliche, weil »Wohlergehen« und »Sicherheit« fördernde, Kollektiv darstellt, »bewirkt« sie, »dass er uns teuer ist« (Smith 1985: 386). Das Natur-Argument läuft auf die Mitteilung hinaus, es sei nun einmal so, verlässlich, auch jenseits der Landesgrenzen. Sobald es ums Verhältnis zum »Ausland« geht, stellt diese Natur genau das mit uns an, was Tönnies den Politikern anlastet: Wir werden »nationalistisch«. Sprich: das (harmlose) Gefallen am eigenen Land – we are proud of its superiority (Smith 1809: 311) – schlägt nachgerade gesetzmäßig in (irrationale) Eifersucht um, aus dem Nachbarland wird eine »dangerous nation« (Robert Kagan). Ausgerechnet fortgeschrittene Nationen beäugen einander misstrauisch und vergessen dabei, dass sich Fortschritte irgendwo auch anderswo positiv auswirken. Neid schlägt schließlich in Feindschaft um, weshalb früher oder später Kriege ausbrechen (Smith 1985: 388f.). Indessen erhitzen militante »Höhepunkte der großen Politik« (Carl Schmitt) den kollektiven Körper nur moderat, das »Hurra« gilt nicht der Nation, sondern allein ihrem Agenten – und auch ihm nur im Erfolgsfall: »Der Held, der seinem Lande erfolgreich im auswärtige Kriege dient«, schreibt Smith (ebd.: 393), »erfüllt die Wünsche der ganzen Nation und wird aus diesem Grunde zum Gegenstande der allgemeinen Dankbarkeit und Bewunderung«. Notabene: Man feiert den Mann der Stunde, dem Sieger fliegen die Herzen zu, weil er fürs Gemeinwesen etwas Heroisches geleistet hat. Umgekehrt würde, falls das Unternehmen schlecht ausgeht, daraus kein Drama: Der Staat hätte »eine Bataille verloren«, dem Volk würde der Reinfall keine schlaflosen Nächte bereiten. Ruhe erscheint dann weniger als »erste Bürgerpflicht«, sondern natürliches Bürgerrecht. Patriotismus auf Distanz und unter Vorbehalt – mehr Nationalismus sieht Smiths Natur nicht vor.

5. »E in ganzes ge waltiges V olk« Von einer levée en masse (Forrest 2006) ist bei Smith noch nichts zu spüren – davor bewahrt ihn schon allein die Einsicht, dass ein Berufs- dem Volksheer gegenüber den großen Vorzug hat, wenn nötig gegen das eigene Volk in Stellung gebracht werden zu können, um sich den Ausbrüchen »öffentlicher Unzufriedenheit, des Aufstandes und der Ordnungslosigkeit« zu erwehren (Smith 1985: 392).

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Wenig später sah alles ganz anders aus: Zunächst verfiel Frankreich auf den Gedanken, die Massen in Kriege einzuspannen, kurze Zeit später ist ihm Preußen auf diesem Weg gefolgt, und seine militärischen Siege haben weitere Nationen davon überzeugt, dass mit dem Volk wenn nicht gleich Staat, so doch Krieg zu machen sei. »Ich danke«, konnte rückblickend Wilhelm II. seinen Untertanen 1918 mitteilen, »euch für alle Liebe und Treue, die ihr Mir in diesen Tagen erwiesen habt. Sie waren ernst, wie keine vorher! Kommt es zum Kampf, so hören alle Parteien auf! Auch Mich hat die eine oder die andere Partei wohl angegriffen. Das war in Friedenszeiten. Ich verzeihe es heute von ganzem Herzen! Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.«3 Vier Jahre vorher hieß es noch zackiger: »In dem bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche.«4 Die Teile vereinigen sich zum Ganzen, das mehr ist als ihre Summe, nämlich »ein ganzes gewaltiges Volk« (Hermann Bahr). Otto von Gierke berichtet, er habe in diesem Moment »den Volksgeist erschaut«, zahllose andere sind dieser Chimäre ebenfalls begegnet, besonders dort, wo sie, wie am 1. August 1914 in Berlin, leibliche Gestalt angenommen hat: »Die hochrufende Menge«, so wird berichtet, »erhitzte sich zu stürmischer Begeisterung, sie überflutete, als wollte sie ihrem Kaiser durch körperliche Nähe zeigen, wie sie sich mit ihm verbunden fühle, den Fahrdamm, Hüte und Taschentücher wurden geschwenkt. Es war ein warmer, strahlender Tag. In diese sonnige Luft mischte sich der schweißige Atem des Fiebers, drang schon ein Geruch von Blut.« Der Krieg als großer Schmelztiegel: Menge und Kaiser, Sonne und Sturm, Flut und Hitze, Fieber und Fahrdamm, Blut und Schweiß. Darin eingebettet die Emotionen der Anwesenden, ein Volk von »Brüdern«, die sich vorher, als Männer und Frauen, Junge und Alte, Arbeiter und Angestellte, Sozialdemokraten und Deutschnationale nichts zu sagen, ja nicht einmal gekannt hatten. Das alles scheint mehr gewesen zu sein als patriotisches Geschwätz – auch distanzierte Beobachter kommen zu dem Schluss, hier habe eine Transformation stattgefunden: »Wir können sagen«, beschreibt Emil Lederer die Erfahrungen des Kriegsausbruchs 1914, »dass sich am Tage der Mobilisierung die Gesellschaft, die bis dahin bestand, in eine Gemeinschaft umformte« (Lederer 1915: 349). Allerdings: Der Geist schien an seinen Körper gekettet. Der Kaiser war meist »abwesend«, kam nie nach Fürth oder Bremen, noch wurde er in Karlsruhe oder Duisburg gesichtet, das »Aufregende und Ansteckende gemeinsamer Begeisterungszüge« fiel daher weitgehend aus: »Flüchtige Explosionen des Jubels zucken auf, aber sie verlieren sich unter dem Ernst der Erwartung«. 3 | Aus: Kriegs-Rundschau, Bd. 1. Berlin 1915, S. 43. 4 | Dazu und zum gesamten August-Komplex siehe Verhey 2000: 106ff.

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Neben dem Raum schlug auch die Zeit zu Buche – »verrückte Augenblicke« (Zolberg 1972) lassen sich nicht verstetigen: »Was vorauszusehen war, ist eingetreten: der Hurraspiritus ist verflogen und das dumpfe Ahnen eines herannahenden, unabsehbaren, namenlosen Unheils lastet auf der großen Menge«. Jedoch sollte der Spiritus ungleich schnell verfliegen (spätestens aber an irgendeiner »Front«), weil Schicht und Status den Volkskörper fragmentiert haben. Offenbar waren Kauf- und Geschäftsleute sowie Akademiker und Studenten für Kriegsabenteuer eher empfänglich, während weder Arbeiter noch Bauern fürs Vaterland begeistert kämpfen oder gar großherzig sterben wollten (Verhey 2000: 167ff.). Wie kann man angesichts einer solchen Sachlage glauben, die locker gefügte Gesellschaft sei zu einer »zusammengeschweißten« Gemeinschaft mutiert? Lederers Antwort: Das sei mit Hilfe der totalen Mobilisierung passiert – »im Kriege« dehne und recke »sich das Heerwesen zum Volke aus«. Dabei erweise sich »das Heerwesen als eine soziale Form neben der Gesellschaft, unabhängig von ihr, und zwar als eine universale soziale Form. Und es ähnelt mit der Mobilmachung der sozialen Form der Gemeinschaft, weil sie unter der Bedrohung der Existenz aller, unter Wachrufung jeder gesellschaftlichen Kraft zur nationalen Verteidigung angeordnet wird, und in diesem Fall also die Verbindung des nach sozialen Gruppen gegliederten Volkes in ein einheitliches Heer im Bewusstsein aller Einzelnen nicht als Zwang des Staates, überhaupt nicht als Konsequenz staatlicher Aktion, sondern als übermächtiges Schicksal erscheint« (Lederer 1915: 350f.). In seinem glorreichen Endzustand zieht die Organisation »das Volk restlos in das Staatsorgan hinein« (ebd.: 363). In einem Satz: Nicht der nationale Appell, sondern die staatliche Organisation (totale Mobilmachung) hat (quasi-)gemeinschaftsbildend gewirkt. Die »Wachrufung« wird »angeordnet«.

6. D as »R ohmaterial an V olkskörper « Mit Wecksignalen oder Anordnungen war 1918 kein Staat mehr zu machen – so wenig, dass nach dem katastrophalen Ende sogar der Volksaufstand zur Staatsaufgabe werden konnte. Für das letzte Gefecht wollte Walter Rathenau – darum bemüht, aus der Nation das Letzte herauszuholen – die levée en masse amtlich ausrufen lassen. Notwendig erschien ihm dafür aber eine existenzielle Zielansprache – mit professionellen Projekten wie Landgewinn oder Lufthoheit würde man zu dieser Zeit niemand hinter dem Ofen hervorlocken (Geyer 2001). Das Volk im Zustand des vorstaatlichen, politisch unbearbeiteten »Rohmaterials« (Thomas Mann) sterbe ausschließlich um seiner Rohheit, sprich: des »Lebensraums« willen. Was der kommende Triumph 1914 nur in Ansätzen

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vermocht hatte, nämlich eine nationale Gemeinschaft zu schmieden, sollte also die bevorstehende Niederlage vollenden (ebd.). Jenseits ihrer historischen Bedeutung(slosigkeit) ist diese Episode darum aufschlussreich, weil sie den Gedanken lanciert, es könne eine selbstbewusste, handlungsfähige Nation ohne Staat geben, eben das »Volk« (respektive die »Volksgemeinschaft«). Darin spiegelt sich keineswegs ein deutsches Sonderdenken – noch Hegel hat im naturbelassenen Volk nicht mehr sehen können als einen »atomistischen Haufen«, welcher nicht wisse, was er will (Hegel 1986: 439, 369). Der Prophet des außer- respektive vorstaatlichen Nationalismus war vielmehr Ernst Renan. Er sieht in der Nation das »moralische Bewusstsein« einer »großen Ansammlung von Menschen« (mit »gesundem Geist und heißem Herzen«) am Werk – welche so lange existiert, wie ihre Mitglieder bereit sind, zugunsten des Ganzen auf individuelle Vorteile zu verzichten. Aus dieser Warte betrachtet ist die Nation »ein alltägliches Plebiszit« und zugleich »das Ergebnis einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, Opfern und Aufopferungen« (Renan 1981: 149, 147). In gewisser Weise stellt diese Vorstellung das auf den Kopf, was uns Adam Smith anbietet: Für ihn erschlafft das Gemeinschaftsgefühl in dem Maße, wie es immer weitere Kreise erfasst und ist an den Grenzen der Nation kaum noch spürbar. Für Renan scheint keine Menge dichter »gestrickt« zu sein als eben die nationale. Was implizieren würde, dass gerade totale Niederlagen ultimative Tests für starke Gefühle darstellen. Rathenau jedenfalls war sich seiner Sache sicher: Das staatenlose Volk der Deutschen würde sich bewähren. Allerdings wollte sich kein anderer Politiker auf dieses befremdende Experiment einlassen. Was im Krieg recht ist, ist im Frieden billig. Dass sich die Gesellschaft bewegen würde, falls der Staat seine Tätigkeit einstellt, davon hat auch David Camerons Regierung geträumt. Und, frisch im Amt, beschlossen, jede politische Verantwortung für soziale Verwerfungen abzulehnen, radikal: »We’re not responsible for that anymore. You are« (so Francis Maude, Camerons ChefReformer; zit. in: Collins 2010). »You« – das waren die kleinen Leute mit den alltäglichen Nöten. Künftig sollten sie ihr Schicksal in eigene Hände nehmen. Wohl wissend, dass niemand sagen konnte, wo das einmal enden würde, hat man als neue Losung verkündet: »This process is all about learning. It’s about pushing power down and seeing what happens« (Cameron 2010).5 Alle Resultate sind, so gesehen, interessante Resultate, bieten sie doch Abwechslung und Lernstoff: »It’ll be fantastically different in different places« (wiederum Maude, 5 | Es ist diese Ergebnis-Gelassenheit, die den konservativen Liberalismus vom darwinistischen Original unterscheidet. Während Herbert Spencer davon überzeugt war, dass das Selbsthilfe-Prinzip, konsequent umgesetzt, nur mit sozialen Horrorszenarien zu haben sei, unterstellen seine Epigonen, alle Menschen würden lernen, kommod zu überleben.

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zit. in: Collins 2010). Da konnte schon die Frage aufkommen, ob diese Regierenden denn wissen, was sie nicht tun: »Is it too much to ask the government to actually do the governing?«6 Wenig später war das Manöver schon wieder Makulatur, mindestens insoweit, als es eigentlich auf fremdes Terrain führen und neue Fakten schaffen sollte. Nicht alleine dass, sondern auch wie das Volk auf den Staatsentzug reagieren würde, galt plötzlich als ausgemacht: »People have always cared passionately about improving the lives of themselves, their families, their communities« (Cameron 2010). Wenn die Leute aufgehört haben, dieses Mitgefühl zu praktizieren, dann nicht wegen Ermüdung oder Überforderung, sondern weil der Staat »aktiv« geworden ist und ihre zivilgesellschaftliche Ader ausgetrocknet hat: »As the state got bigger and more powerful, it took away from people more and more things that they should and could be doing for themselves, for their families and their neighbours.« (Ebd.). In dem Maße, wie sich die Politik zurückzieht, so das Kalkül, breitet sich soziales Engagement aus – wo der »große Staat« war, wird bald eine »große Gesellschaft« (Big Society) sein. Diesem Projekt kommt eine gesellschaftliche Gefühlsstruktur à la Smith durchaus entgegen: mit starken Sympathien vor Ort, deren Abnahme jenseits des Kirchturms nicht nur keinen Schaden anrichtet, sondern sogar den positiven Effekt hat, die Lust auf großflächige – organisierte – Verbrüderung mit politischer Hebelwirkung wirksam zu dämpfen.7 Ginge dieser Plan auf, entstände ein Gebilde, das man als »multiple Nation« bezeichnen könnte – mit einem Rest- oder Minimalstaat, dessen Aufgabe im Wesentlichen darin bestände, zwischen den vielen communities zu vermitteln. So oder so ähnlich hat Cameron seine Idee auch propagiert. Als dann 2011 die ›Big Society‹ Riots ausbrachen sind (Williams 2011), wurde zweierlei deutlich: Erstes funktioniert das Projekt erwartungsgemäß eher auf dem flachen Land (dazu: Putnam 1995); zweitens – und nicht eingeplant – hat sich herausgestellt, dass sein punktueller Erfolg in städtischen Zentren auf einer »falschen« Form der Vergemeinschaftung basiert. Londons Erfahrungen sprechen Bände – anarchische Zustände sind ausgerechnet dort vermieden worden, wo verdächtige muslim communities für Ruhe und Ordnung gesorgt haben: »The riots of 2011 never came there because faith groups patrolled the streets and elders kept the young in line.« (The Economist, 09.11.2013) Für Cameron waren die willigen Helfer selbstredend keine wirkliche Hilfe: »Under 6 | Das fragt sich ein Bürger, der offenbar nicht weiß, ob er oder Cameron den Verstand verloren hat; vgl. www.bbc.co.uk/blogs/legacy/haveyoursay/2010/07/how_should_ you_con–tribute_to_s.html (letzter Aufruf: 18.02.2017). 7 | Man denke an Margaret Thatchers verbissenen Krieg gegen die englischen Gewerkschaften – der Kontext, in dem auch ihre militante Botschaft »There is no such thing as society« gesehen werden muss.

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the doctrine of state multiculturalism, we have encouraged different cultures to live separate lives, apart from each other and apart from the mainstream. We’ve failed to provide a vision of society to which they feel they want to belong. We’ve even tolerated these segregated communities behaving in ways that run completely counter to our values.« (Cameron 2011) Es erschien daher an der Zeit, von Staats wegen ein Machtwort zu sprechen: »Be more British Cameron tells UK Muslims« (Daily Mail, 15.06.2014).

7. W elche »Z umutung «? Am Anfang stand Max Webers Bemerkung, die Nation sei eine verdeckte Zumutung. In seine »moderne« Welt aus Wirtschaft, Staat und Gesellschaft passt sie nicht hinein, sprich: Es gibt dort keinen funktionalen Bedarf, etwas »national« zu ordnen. Tönnies’ ergänzt: Auch als emotionale Größe ist diese Einheit nicht selbstverständlich, sondern wird herbeigeredet. Gefühlsmäßige »Kälteeinbrüche« an Landesgrenzen seien keine Naturphänomene. Genauer besehen füllt die »Nation« eine Lücke: Beginnend mit Hobbes (und Spinoza) unterstellt man, dass es besondere »Mengen« seien, die sich – so oder so – zur Lösung allgemeiner Probleme organisieren. Gesellschaftsverträge, obwohl als Fiktionen an keine Fessel gebunden, enden gewohnheitsmäßig an den bestehenden Landesgrenzen, auch wenn ihr Zweck, sichere Verhältnisse zu kreieren, idealerweise einen grenzenlosen Geltungsbereich erfordern würde. Schlimmer noch: Der innere Friede wird mit dem Verlust des äußeren erkauft – Leviathane sind nichts anderes als riesenhafte Wölfe (ohne Psyche, dafür mit einer Räson). Vernünftige Leute, darauf hat vor allem Kant hingewiesen, wollen daher den ewigen Frieden verbündeter Völker (Hoeres 2002). Aus dieser Perspektive sind Nationen zugemutete – strategisch »imaginierte« – Gemeinschaften, die Menschen in separate Kollektive gruppieren, deren besondere Charaktere (Geschichte, Mentalität, Kultur) nach staatlicher Umgrenzung verlangen. Attraktiv ist dieses Konstrukt für »Könige«, ob Kaiser oder Cameron, deren »Bataillen« sich mit dem Volk leichter gewinnen lassen als ohne.

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Die Nation als Subjekt

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Kollektive Subjektivierung sozialer Bewegungen

Subjektivierung und (Körper-)Politik Zur Bildung des kollektiven Subjekts Frauenbewegung Imke Schmincke

1. E inleitung : V on individuellen und kollek tiven S ubjek tivierungen In ihrem 1949 veröffentlichten Buch Das andere Geschlecht fragt Simone de Beauvoir: »Wie kann ein Mensch sich im Frau-Sein verwirklichen?« (de Beauvoir 1992: 26). Beauvoir argumentiert, dass Frauen so sehr als das Andere des Mannes und von dort aus als ›das‹ Geschlecht bestimmt sind, dass es ihnen unmöglich ist, Subjekt-Status zu erlangen. Sie schreibt: »[Die Frau] wird mit Bezug auf den Mann determiniert und differenziert, er aber nicht mit Bezug auf sie. Sie ist das Unwesentliche gegenüber dem Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.« (Ebd.: 12) Sie ist das, was er nicht ist, Geschlecht, Körper, Immanenz. Während Beauvoir die Relevanz von Geschlecht für die Vorstellung von Subjekt aus einer philosophischen Perspektive heraus beleuchtet, haben – nach ihr und nach der Frauenbewegung – andere, vor allem Wissenschaftshistorikerinnen1, geschlechtlich codierte Subjektivierungsprozesse historisch kontextualisiert. So rekonstruiert beispielsweise Claudia Honegger, dass die hierarchisch dichotome Geschlechterordnung als ein kulturelles Deutungsmuster der (westlichen) Moderne fungiert: »Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts tritt also der Mensch auf den Plan; kurz darauf folgt ihm das Weib und damit das vertrackte Problem mit dem Geschlecht.« (Honegger 1991: 6) Diese und weitere Analysen sind eng mit der Dezentrierung des Subjekts und der daran anschließenden Forschungsperspektive der Subjektivierung verbunden. Dieser geht es Michel Foucault zufolge darum, »eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer 1 | Entsprechend möglicher von den Herausgebern vorgeschlagener Variationen gendersensibler Sprache wird in diesem Text die Variante des generischen Femininums praktiziert. Sofern aus dem Kontext nicht anders ersichtlich, schließt die weibliche Form auch die männliche mit ein.

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Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden« (Foucault 1994: 243). Die in seinen Augen zentralen Verfahren oder »Objektivierungen« sind wissenschaftliche Untersuchungsverfahren, »Teilungspraktiken« (die das Subjekt von seinem Anderen trennten) und Selbsttechniken (ebd.). In ähnlicher Weise fasst Norbert Ricken Subjektivierung komprimiert als »den Prozess […], in dem Menschen bzw. Individuen sich in Wissens-, Macht- und Selbstpraktiken als ein Subjekt verstehen lernen, d.h. die Deutungsfigur des ›Subjekts‹ auf sich zu beziehen lernen, von anderen für sich selbst – in Handlungen und Selbstverständnissen – verantwortlich gemacht werden und schließlich sich selbst entlang dieser Vorgaben zu verstehen und zu gestalten« (Ricken 2013: 33). Mittlerweile existiert eine ganze Reihe verschiedener Ansätze, die die Frage der Subjektivierung als Forschungsperspektive (oder je nachdem als Heuristik oder Analytik) theoretisch wie empirisch bearbeiten.2 Die auch für den vorliegenden Beitrag wichtigsten forschungstheoretischen Prämissen dieser Forschungsperspektive3 sind: Erstens eine stärker genealogisch ausgerichtete Forschung, d.h. historisierende und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Subjektivitäten, die beleuchten, wann und in welcher Form Subjekte als Thema oder Problem auftauchen. Zweitens der Fokus auf Macht und die unterschiedlichen Instanzen, die an der Subjektkonstitution beteiligt sind: diskursive und nicht-diskursive Praktiken, Körper, Artefakte. Drittens die Einsicht in die grundsätzlich paradoxale Struktur des Subjekts, dessen Autonomie mit seiner Unterwerfung zusammenfällt. Oder wie es Ulrich Bröckling ausdrückt: »Dieses Subjekt zeichnet sich dadurch aus, dass es sich erkennt, sich formt und als eigenständiges Ich agiert; es bezieht seine Handlungsfähigkeit aber von ebenjenen Instanzen, gegen die es seine Autonomie behauptet. Seine Hervorbringung und seine Unterwerfung fallen zusammen.« (Bröckling 2007: 19) Das Subjekt ist somit sowohl Gegenstand machtvoller Unterwerfungen wie auch selbstbestimmter Weisen, sich zu sich und anderen ins Verhältnis zu setzen. Daher eröffnet sich viertens mit dieser Einsicht auch die Forschungsperspektive auf Selbsttechniken und Prozesse der Selbstbildung als Momente der Subjektivierung (vgl. Alkemeyer 2013). Während sich diese Prämissen bisher auf die Erforschung individueller Subjektivitäten oder Subjektformen bezogen, stellt sich im Rahmen dieses Bandes die Frage, in welcher Weise sie auch für die Untersuchung kollektiver Subjekte aufschlussreich sein könnten. Der vorliegende Beitrag untersucht, wie sich die Frauenbewegung als kollektive Akteurin subjektiviert hat und wendet sich damit oben angesprochenem ›unmöglichen‹ Subjekt zu, das in 2 | Vgl. dazu beispielsweise Alkemeyer/Budde/Freist (2013), Saar (2013) oder Reckwitz (2008). Beispiele für die Anwendung dieser Perspektive sind auch Bröckling (2007) oder jüngst für die Zeitgeschichte Eitler/Elberfeld (2015). 3 | Vgl. für eine systematische Aufbereitung der zentralen Merkmale auch Saar (2013).

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und mit der Frauenbewegung auf die politische Tagesordnung gesetzt wurde. Zu klären wäre daher analog zur Analytik des individuellen Subjekts, wann, auf welche Weise und in Reaktion auf welche Umbrüche oder Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge das kollektive Subjekt ›Frauenbewegung‹ aufgetaucht ist. Genauer wäre aus einer subjektivierungstheoretischen Perspektive danach zu fragen, wie das für diese Bewegung konstitutive kollektive Subjekt ›Frauen‹ (»Wir Frauen«) mobilisiert wurde, d.h. verfügbar und adressierbar gemacht werden konnte, mit welchen Strategien und Techniken es sich formte und geformt wurde. Schließlich bliebe zu untersuchen, in welcher Weise dieses Subjekt mit Machtformen verschränkt ist, wie sehr es Produkt der genannten Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Autonomisierung ist. Mit Bezug auf den hier gewählten Gegenstand ›Frauenbewegung‹ wird vor allem deutlich, so eine erste These, dass Prozesse der individuellen und kollektiven Subjektivierung eng miteinander verzahnt sind und es Aufgabe der Analyse ist, diese Verzahnungen genauer zu rekonstruieren. Zumindest geht dieser Beitrag davon aus, dass darin ein spezifischer Gewinn der subjektivierungstheoretischen Perspektive gegenüber der Bewegungsforschung liegen kann. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die erste Phase der neuen Frauenbewegung und damit die Zeit 1968-1975,4 die anhand exemplarischer Dokumente daraufhin untersucht werden soll, inwieweit sich die Bildung eines kollektiven Subjekts, für die Frauenbewegung vor allem das dafür relevante ›Wir Frauen‹, nachvollziehen lässt. Die hierfür notwendige genealogische Perspektive bezieht sich für die Fragestellung des Beitrags auf einen vergleichsweise kurzen Zeitraum und kann damit nicht den Anspruch erheben, eine Genealogie der feministisch gewendeten Kategorie ›Frauen‹ zu präsentieren. Für ein solches Unterfangen müsste ein deutlich längerer Zeitraum zugrunde gelegt werden. Die Auswahl der für die ersten beiden Phasen bedeutenden Dokumente ist dabei von der Beobachtung geleitet, dass für das Entstehen der neuen Frauenbewegung Körperpolitik und damit Kämpfe für sexuelle und körperliche Autonomie entscheidend waren (vgl. Lenz 2008: 99ff.). Dass diese auch entsprechend in Prozesse der Subjektivierung eingehen, ist die zweite These, von 4 | Ilse Lenz teilt die Neue Frauenbewegung in vier Phasen auf: 1. Die Phase der Bewusstwerdung und Artikulation (1968-1975), 2. die Phase der Pluralisierung und Konsolidierung (1976-1980), 3. die Phase der Professionalisierung und institutionellen Integration (1980-1989) und 4. die Phase der Internationalisierung, Vereinigung und Neuorientierung (1989-2000) (vgl. Lenz 2008: 26). Auch wenn diese Phaseneinteilung etwas schematisch ist und der Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit von Ereignissen und Entwicklungen nicht gerecht wird, so ist sie für meine Fragestellung insofern eine sinnvolle Orientierung, als der Fokus auf der Anfangsphase bzw. auf dem Übergang von der ersten zur zweiten Phase liegen soll und den in diesem Zeitraum veröffentlichten und diskutierten Dokumenten.

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der der Beitrag seinen Ausgang nimmt. In der Rekonstruktion der Subjektivierung dieser kollektiven Akteurin zum kollektiven Subjekt werden also zwei Besonderheiten deutlich: Zum einen zeigt sich hier auf sehr spezifische Weise die Verschränkung von individueller und kollektiver Subjektivierung in einem ›Wir Frauen‹, zum anderen die Bedeutung des Körpers und seiner Politisierung für den Prozess der Subjektivierung. Das empirische Material meiner Analyse sind Dokumente aus der frühen Phase der Frauenbewegung. Die Auswahl aus einer großen Menge an Texten erfolgte entlang wissenschaftlicher Arbeiten zur Frauenbewegung (vgl. z.B. Schulz 2002; Gerhard 2008; Lenz 2008) und eigener Vorarbeiten (vgl. Schmincke 2015). Es ging darum, exemplarische Texte zur Relevanz der Körperpolitik zu bestimmen – hier habe ich mich vor allem an der Quellensammlung von Lenz (2008) orientiert – und verschiedene Textsorten abzudecken. Neben den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Frauenbewegung sind dies vor allem Texte von Aktivistinnen; Chroniken (Historisierungen von Aktivistinnen), Manifeste (politische Analysen), literarische Ego-Dokumente, Zeitschriften/Bewegungsöffentlichkeit, Anleitungen/Handbücher, Selbst-Aussagen (Interviews etc.). Für die vorliegende Analyse habe ich daher Ausschnitte aus einer sehr frühen Textsammlung (das Frauenjahrbuch 1 von 1975), Texte zu den Themen Selbsterfahrung und Körper (Handbücher) sowie für die Thematisierung von Sexualität die beiden weit verbreiteten und populären 1975 erschienenen Bücher von Verena Stefan (Häutungen) als literarisches Ego-Dokument und Alice Schwarzer (Der kleine Unterschied) als Manifest ausgewählt.

2. S oziale B e wegungen und kollek tive I dentitäten Nach Roland Roth und Dieter Rucht kann man dann von einer sozialen Bewegung sprechen, »wenn ein Netzwerk von Gruppen und Organisationen, gestützt auf eine kollektive Identität, eine gewisse Kontinuität des Protestgeschehens sichert, das mit dem Anspruch auf Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels verknüpft ist, also mehr darstellt als bloßes Neinsagen« (Roth/Rucht 2008: 12). Auch wenn das Konzept der Subjektivierung bisher in der Bewegungsforschung keine Rolle spielt, rückt der Fokus auf das Merkmal kollektive Identität als Voraussetzung und Effekt kollektiven Handelns doch ähnliche Fragen in den Blick. Der Fokus auf kollektive Identität entwickelte sich innerhalb der Bewegungsforschung erst in den 1980ern aus der Kritik an der Hegemonie strukturalistischer und rationalistischer Ansätze – ähnlich wie Theorien der Ressourcenmobilisierung und der politischen Gelegenheitsstrukturen (vgl. Daphie 2011). Mit dem an Erving Goffman angelehnten Framing-Konzept wurde nun

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die Relevanz gemeinsamer Deutungsrahmen und damit die Konstruktion sozialer Problembearbeitung für das Entstehen von kollektivem Handeln und kollektiven Identitäten erforscht. Frames bezeichnen die Möglichkeit, subjektive Erfahrungen kollektiv zu rahmen und ein Wir-Gefühl zu erzeugen (vgl. Rucht 1994: 345). Die Hinwendung zu Fragen der kollektiven Identität hat aber auch damit zu tun, dass diese für die neuen sozialen Bewegungen selbst eine immer stärkere Bedeutung erhielten. Kathrin Fahlenbrach (2002: 20) zufolge hat sich das Selbstverständnis der sozialen Bewegungen ab den 1960er Jahren von sozialen und politischen hin zu stärker identitätspolitischen Protestmotiven entwickelt. Die Hinwendung zur Subjektivität wird gemeinhin als zentrales Kennzeichen der daher auch als neue soziale Bewegung bezeichneten politischen Strömungen genannt.5 Hierauf bezieht sich auch Foucault in dem bereits zitierten Aufsatz, wenn er schreibt, dass sich die aktuellen Kämpfe (Frauenbewegung, Anti-Psychiatrie-Bewegung etc.) gegen »Formen der Subjektivierung, gegen die Unterwerfung durch Subjektivität« richteten (Foucault 1994: 247). Sie würden gegen eine Form der Macht kämpfen, die Menschen zu Subjekten macht, sie individualisiert und zugleich unterwirft. Nach Foucault sind diese Kämpfe und Widerstände untrennbar mit der Macht verbunden, es gibt also kein Jenseits dieser Macht, keine von dieser ›befreite‹ Subjektivität. Der Fokus der Bewegungsforschung auf kollektive Identitäten lässt sich, so möchte ich im Folgenden argumentieren, sinnvoll mit der Perspektive auf Subjektivierung erweitern. Die Bewegungsforschung interessiert sich zwar für das Entstehen kollektiver Identitäten, sie geht aber letztlich von einem eher engen und statischen Verständnis personaler Identität aus. Für die Frage nach der Subjektivierung sozialer Bewegung als kollektive Akteurin wäre also relevant, die Effekte, Funktionen und Genealogien kollektiver Identitäten zu rekonstruieren. Es würde darum gehen, wann eine jeweilige Bewegung als kollektives Subjekt (und nicht nur als Ansammlung verschiedener Subjekte) auftaucht bzw. wahrnehmbar und diskursiviert wird. Außerdem wäre zu fragen, mit Hilfe welcher Techniken und Strategien sich die Bewegung als Subjekt formt, auf welche Weisen es mit Machtprozessen verschränkt ist und, nicht zuletzt, inwiefern das kollektive Subjekt Handlungsfähigkeit ermöglicht und gleichzeitig einschränkt – und dies mit Blick auf die Folgen für die individuellen Subjekte. Mit einer Subjektivierungsperspektive ließe sich genauer untersuchen, wie sich kollektive und individuelle Subjektivierung miteinander verzahnen und hervorbringen, ohne die eine auf die andere zu reduzieren.

5 | So erkennt Joachim Raschke in seinem Standardwerk als gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen bewegungspolitischen Themen »die Kategorie der Lebensweise, welche die wert- und identitätsbezogene Lebensgestaltung im soziokulturellen Bereich in den Mittelpunkt des Interesses rückt« (Raschke 1987: 74).

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Die kollektive Identität, mit Hilfe derer sich die Frauenbewegung als kollektive Akteurin subjektiviert hat, ist die Kategorie ›Frauen‹ oder das emphatische ›Wir Frauen‹. Wie dieses in verschiedenen Texten, Argumentationsfiguren, Techniken und Praktiken aufgerufen und produziert wurde, soll im folgenden Abschnitt in einer Analyse exemplarischer Texte konkret nachvollzogen werden.

3. ›W ir F r auen ‹ – Z ur S ubjek tivierung des kollek tiven S ubjek ts F r auenbe wegung Das Entstehen einer sozialen Bewegung ist das Ergebnis teilweise kontingenter und sich gegenseitig katalysierender Entwicklungen. Erst das Ineinander verschiedener Faktoren bewirkte, wie Ute Gerhard (2008: 189) es formuliert, »Frauen aus durchaus disparaten Lebenslagen wie Klasse, Bildungsstand, Alter oder nationaler bzw. ethnischer Herkunft etc. als ›Frauen‹ und Angehörige eines Geschlechts zu mobilisieren«. Für die zweite Frauenbewegung in den USA und Westeuropa bildeten die neuen sozialen Protest-Bewegungen (Bürgerrechtsbewegung, Studentenbewegung etc.) einen wichtigen Kontext, innerhalb dessen sich aber auch Widersprüche auftaten, die schließlich zur Bildung einer autonomen Frauenbewegung führten.6 Für die Entstehung der zweiten oder neuen Frauenbewegung in Westdeutschland werden in der Historiographie zwei Gründungsereignisse genannt: Zum einen die sogenannte »Tomatenwurf-Rede« von Helke Sander auf dem Delegiertenkongress des SDS 1968 und die Kampagne für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und damit die Abschaffung des Paragraphen 218, die in der von Alice Schwarzer 1971 initiierten Selbstbezichtigungsanzeige im Stern ihren medialen Auftakt nahm und sich in diversen Demonstrationen, Frauengruppen und Kongressen fortsetzte. Erst jetzt wurden die Themen Sexualität und Gesundheit zum zentralen und erfolgreichen Mobilisierungsmoment. Diese beiden Gründungsmythen bringen die für diesen Beitrag als spezifisch bestimmten Merkmale der Bewegung auf den Punkt: die Forderung nach Autonomie einerseits, die Politisierung von Körper und Sexualität andererseits. Ich möchte im Folgenden in einer Analyse exemplarischer Dokumente aus der frühen Phase der neuen Frauenbewegung zeigen, wie sich mit Bezug auf diese Forderungen bzw. Ziele das kollektive Subjekt ›Frauen‹ formierte. Als grundlegende Einsicht wird in fast allen Texten ›die Unterdrückung‹ von Frauen geschildert. Diese Einsicht führte jedoch noch nicht zwangsläufig 6 | Vgl. beispielhaft für eine Vielzahl an wissenschaftlichen Darstellungen (neben einer Vielzahl an Berichten von Aktivistinnen) zur Entstehung der neuen Frauenbewegung Schulz (2002); Lenz (2008); Gerhard (2008, 2009).

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zu einer persönlichen Betroffenheit und Identifikation mit dem ›Wir Frauen‹. Erst die Aktivitäten im Rahmen der Kampagne gegen den Paragraphen 218 sowie die Arbeit in Selbsterfahrungsgruppen hätten es ermöglicht, die Brücke zu schlagen zwischen persönlicher Betroffenheit und politischem Kampf, wie eine Aktivistin aus dem Frankfurter Weiberrat schildert: »Als wir langsam lernten, uns selbstbewußt dazu zu stellen, daß der Schwerpunkt unserer Arbeit im Kampf gegen die Frauenunterdrückung liegen sollte, fingen wir an, uns dafür zu interessieren, in Selbsterfahrungsgesprächen mehr über unsere Unterdrückung als Frau zu erfahren.« (Frankfurter Frauen 1975: 42) Die Einrichtung eines Frauenzentrums hätte den diversen frauenpolitischen Aktivitäten schließlich zum Durchbruch verholfen. Frauen hatten sich hier zwar im Weiberrat schon autonom organisiert, sie blieben aber in ihren Ansprüchen linken, marxistisch orientierten Gruppen verhaftet, die das einzig legitime emanzipatorische Ziel in der Kapitalismusanalyse sahen. Ganz ähnlich schildert Michaela Wunderle für den gleichen Zeitraum die Entwicklung der Frauenbewegung in Italien, in der es eine marxistisch orientierte Strömung gab, und eine andere Strömung, die feministischen Themen eine stärker eigenständig politisierende Stellung einräumte. Wunderle schreibt dazu im Vorwort zu einer Anthologie von Texten aus der italienischen Bewegung: »An die Stelle der ›Frauenfrage‹ der traditionellen Arbeiterbewegung, die die Frau auf ihre Rolle als Lohnarbeiterin oder Ehefrau eines Proletariers verwies, treten heute die vielfältigen Erfahrungen und Anstrengungen der Frauen, sich als neues politisches Subjekt ›Frau‹ zu setzen. Die Veröffentlichung dieser Erfahrungen ist die Politik der feministischen Bewegung. Die Subjektivität ist politisch: Das bezeichnet das Besondere der neuen Frauenbewegung, und genau darin liegt ihre Sprengkraft.« (Wunderle 1977: 12; Herv. i.O.)

An diesem Zitat wird deutlich, worum es den Frauengruppen ging: sich selbst als politisches Subjekt zu setzen, indem sie ihre persönlichen Erfahrungen zum Ausgangspunkt ihrer politischen Auseinandersetzung nahmen. Die Slogans ›Das Private ist politisch‹ und ›Frauen gemeinsam sind stark‹ 7 formulierten die Leitmotive der Bewegung. Die individuellen persönlichen Erfahrungen fanden einen Widerhall im Kollektiv, das Persönliche verband sich mit dem Kollektiven und wurde auf diese Weise zum politischen Faktum. ›Frauen‹ waren diejenigen, die ähnliche Erfahrungen teilten. Auf dieser Erkenntnis fußten auch die Selbsterfahrungsgruppen, die zu einem wichtigen Organisationsmodell für die verschiedenen Frauengruppen werden sollten. Die Idee der Selbst7 | So beispielsweise auch der Titel einer erstmals 1972 erschienenen Anthologie von Texten aus der US-amerikanischen Frauenbewegung (Becker et al. 1977) sowie der Untertitel der ab 1973 erscheinenden Frauenzeitung.

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erfahrungsgruppen, auch CR-Gruppe (Consciousness Raising) oder Kleine Gruppe genannt, war um 1968 in Frauengruppen in den USA entstanden und wurde für die beginnende Frauenbewegung Westdeutschlands zu einem wichtigen Prinzip der Gruppenbildung und Vergemeinschaftung. In einem wegweisenden Text argumentiert Angelika Wagner, dass »jede Frauenbewegung, die auf eine Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse abzielt, zunächst eine Bewußtseinsveränderung« (Wagner 1973: 143) voraussetze. Über diese Einsicht werde Solidarität und Handlungsfähigkeit hergestellt. Die Regeln für den Weg zur Bewusstseinsveränderung hatte Pamela Allen in ihrem Text Der Freiraum von 1970 formuliert. Der kollektive Selbsterfahrungsprozess müsse aus vier Stufen bestehen: Sich Darstellen, Erfahrungen Teilen, Analysieren, Abstrahieren. Er versteht sich jedoch keinesfalls als Therapie, so Allen, »weil wir versuchen, die gesellschaftlichen Ursachen der Erfahrungen, die wir machen, und mögliche Programme für die Abschaffung der ihnen zugrundeliegenden Bedingungen zu erarbeiten. Aber es gibt in der Tat die therapeutische Erfahrung, daß die einzelne Frau momentan entlastet wird von aller Verantwortlichkeit für ihre Situation, und das ist notwendig, damit Frauen selbständig handeln können« (Allen 1977: 68).

Die kollektive Thematisierung körperlicher und sexueller Erfahrungen (der Unfreiheit) stiftete das kollektive Subjekt des ›Wir Frauen‹. Der Kampf gegen den Paragraphen 218 war der Auftakt dafür, Fragen rund um Körper und Sexualität zu politisieren und körperliche und sexuelle Selbstbestimmung zu einer zentralen Forderung zu erheben. In einem Flugblatt zum 8. März 1973 wurde im Anschluss an die Forderung nach einer ersatzlosen Streichung des Paragraphen 218 argumentiert: »Die Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper erfordert nicht nur gesetzliche Regelungen, sondern ein verändertes Verhältnis zum eigenen Körper« (Frankfurter Frauen 1975: 52). Kritisiert wurde die Macht der männlichen Ärzteschaft, die Frauen letztlich in Unmündigkeit halte. Immer mehr Frauengruppen wandten sich dem Thema Gesundheit zu und organisierten hierzu Wissen, Aufklärung, Beratung und Austausch. In Praktiken sollte es genau darum gehen: ein verändertes Verhältnis zum eigenen Körper auszubilden. Der Körper wurde zum Gegenüber, zum Objekt der positiven Identifikation genauso wie zum Gegenstand der Aneignung, zum Wissens- und Sorge-Objekt. Viele Selbsterfahrungsgruppen führten auch körperliche Selbstuntersuchungen durch. D.h. sie versuchten nicht nur kollektiv ihr Bewusstsein, sondern auch ganz praktisch ihr Verhältnis zum eigenen Körper zu verändern (vgl. Lenz 2008: 99ff.). Das Ziel der autonomen Gruppen und Zentren zu den Themen Gesundheit, Körper und Sexualität war jetzt vor allem die Produktion von Selbsthilfe. Hierfür wurden verschiedene Handbücher richtungweisend (z.B. Our Bodies, Ourselves; Hexengeflüster). Die-

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se handelten genauso von praktischem Wissen über den Zyklus und Verhütung wie davon, Teil einer Gemeinschaft von ›Frauen‹ zu werden und darüber – zumindest in den Selbstbeschreibungen – das eigene Selbst zu verändern. So werden die Autorinnen von Our Bodies, ourselves in der deutschen Ausgabe damit zitiert, dass es ihnen in der gemeinsamen Arbeit an dem Handbuch immer mehr auch darum gegangen sei, sich von stereotypen Weiblichkeitsvorstellungen zu befreien und ein neues, freieres Selbst zu finden. Die Handbücher sind fast durchgängig in der ›Wir‹-Perspektive geschrieben, welche sowohl das weibliche Autorinnen-Kollektiv umfasst als auch die Frau/Frauen im Allgemeinen. Das erste Kapitel Was wir über unseren Körper wissen sollten beginnt beispielsweise mit der Behauptung »Oft sind unsere Gefühle zu unserem Körper negativ eingestellt.« (The Boston Women’s Health Book Collective 1986: 45) Und nach der Beschreibung der negativen Gefühle zum Körper heißt es: »Durch die Erfahrungen in der Frauenbewegung hat sich unsere Einstellung zu unserem Körper verändert.« (Ebd.: 46) Um das Finden eines neuen und vor allem autonomen Selbst ging es auch in der autobiographischen Erzählung Häutungen von Verena Stefan, die 1975 im Verlag Frauenoffensive erschien und hohe Auflagen erzielte. Sie beschreibt in einer Collage aus Gedanken, Gedichten, aufgezeichneten Gesprächen und Träumen den Weg der Protagonistin aus einer Beziehung zu einem Mann und dem linksalternativen Milieu hin zu einem stärker selbstbestimmten Leben, das sie vor allem mit anderen Frauen teilt. Die neue Autonomie wird als Befreiung und Suche beschrieben, was sich nicht zuletzt in der Art des Schreibens selbst niederschlägt. Stefan gibt den größtenteils stark subjektiven Schilderungen bereits einen Deutungsrahmen vor, wenn sie im Text ihre persönlichen Erfahrungen als paradigmatisch für die Situation von Frauen deutet. Sexismus sei die allgemeinste und ursprünglichste Form der Herrschaft: »Sexismus geht tiefer als rassismus als klassenkampf [sic!].« (Stefan 1979: 34) Ziel sei die Autonomie der Frauen, die Befreiung von der Abhängigkeit durch die Männer, die sich nicht zuletzt im Bereich der Sexualität manifestiere (Koitus und Orgasmus erscheinen als Gradmesser und normative Vorgabe praktizierter Sexualität). Geleistet werde dieses durch Frauenzusammenhänge und nicht zuletzt die Frauenbewegung, als deren aktiver Teil sich die Protagonistin beschreibt. Stefan konstruiert ein kollektives Subjekt ›Wir Frauen‹, welches sie vor allem als radikal anders begreift hinsichtlich körperlicher und sexueller Bedürfnisse und der Versprachlichung dieser anderen Erfahrungen. Die Fokussierung auf Sexualität und die damit verbundenen negativen Erfahrungen sind ebenfalls zentraler Gegenstand des im selben Jahr publizierten Buches Der kleine Unterschied von Alice Schwarzer, in welchem sie begründet, dass und wie sehr Sexualität »zugleich als Spiegel und Instrument der Unterdrückung der Frauen in allen Lebensbereichen« (Schwarzer 1977: 10) wirke. Die radikale Kritik gängiger sexueller Normen (Heterosexualität) und Prakti-

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ken (Koitus) sei die notwendige Voraussetzung der »Befreiung« der Frauen – wie auch der Untertitel des Buches nahelegt: »Frauen über sich – Beginn einer Befreiung«. Zunächst dokumentiert das Buch aber die Unfreiheit. In 14 biographischen Gesprächsprotokollen berichten Frauen von ihren Erfahrungen, an denen deutlich wird, dass weibliche Sozialisation sich vor allem über negative Erfahrungen mit Sexualität vollzieht: in der Kindheit der Zwang zur Unterwerfung unter weibliche Normen; der Wunsch nach Anerkennung über eine Beziehung zu einem Mann; erster Geschlechtsverkehr als Pflichtübung; die Erfahrung der sexuellen Praxis mit dem Ehemann (Koitus) als unbefriedigend und diesbezügliche Schuldgefühle; Gefühle von Abhängigkeit und Isolation. Es ist aber letztlich die Autorin, die in der Anordnung der Protokolle die weibliche Erfahrung als Einheit konstruiert. Zwar geht es in den Aufzeichnungen um individuelle Biographien, gleichwohl wird in der Inszenierung deutlich: Das, was Erfahrung von Weiblichkeit ausmacht, hat viel mit sexueller Unfreiheit und/oder Gewalt zu tun, mit heterosexuellen Sexualitätspraktiken und der Dominanz der Männer – nicht zuletzt begründet sich das kollektive ›Wir‹ über den Opferstatus. Am Schluss hält Schwarzer ihre beiden zentralen Thesen fest: Sexualität sei Spiegel und Instrument des Geschlechterverhältnisses als Machtverhältnis. Insofern müssten sich (auch) auf diesem Terrain die Frauen gegen die herrschenden Normen (die Heterosexualität) wenden, um eine eigenständige, nicht Mann-fixierte Entwicklung realisieren zu können (vgl. ebd.: 210). Ziel der verschiedenen Aktionen und Analysen ›der‹ Frauenbewegung war es, in der emphatischen Herstellung eines ›Wir Frauen‹ Autonomie für die Einzelnen zu erreichen.8 Die Autonomie der Einzelnen konnte sich aufgrund der Verstrickung der Prozesse der Subjektwerdung in die hierarchischen Geschlechterverhältnisse nur in der Kollektivierung ›als Frauen‹ gelingen. Es ging gewissermaßen um eine ›nachholende Subjektwerdung‹, d.h. darum, das scheinbar mit sich identische autonome Subjekt zu werden, das Männer immer schon sein konnten. Erwerbssubjekt werden, Rechtssubjekt werden, politisches Subjekt werden – all dieses musste kollektiv erkämpft werden. Wie deutlich wurde, spielte der Bezug auf Körper und Sexualität dabei eine wichtige Rolle. Es ging um eine Selbstermächtigung qua Thematisierung und Distanzierung von persönlichen Leiderfahrungen einerseits, Objektivierung des eigenen Körpers andererseits. Die Vergegenständlichung von Erfahrung und Körper ermöglichte die Einsetzung eines autonomen Subjekts, das durch diese 8 | Auch Gerhard betont, dass das zentrale Merkmal der westdeutschen Frauenbewegung die Insistenz auf Autonomie sei. Diese bedeutete einerseits Unabhängigkeit von Männern und staatlicher Unterstützung, aber auch Selbstbestimmung über den eigenen Körper (vgl. Gerhard 2008: 201).

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Vergegenständlichung handlungsfähig wurde: das individuelle Schicksal als Kollektivschicksal deuten zu können und Kontrolle über den eigenen Körper zu gewinnen. Gleichzeitig ging es nicht nur darum, ein anderes Verhältnis zu den eigenen Gefühlen, Erfahrungen und dem eigenen Körper zu entwickeln, sondern damit auch darum, sich der Normierung von Weiblichkeit über den männlichen Blick zu verweigern. Sich nicht mehr als die Andere, sondern als Subjekt der eigenen Sexualität, des eigenen Lebens zu begreifen und als solches zu handeln. Dieser Prozess benötigte die Kollektivität als ›Frauen‹, um die Partikularität der eigenen Lebensweise überschreiten zu können. Dass in diesen Kämpfen der Politisierung der Körper eine so prominente Rolle zukam, lässt sich darüber erklären, dass sich über die gesellschaftliche Zuweisung ›der‹ Frauen auf das Geschlechtliche, Körperliche tatsächlich eher eine gemeinsame Erfahrung produktiv machen und so eine kollektive Identität bilden ließ als über andere Themen, an denen sich die Unterschiedlichkeit der Individuen und Gruppen nicht so einfach überbrücken ließen – wie sich zumindest retrospektiv konstatieren lässt. Die Reduktion auf das Körperliche musste zurückgewiesen werden, der Körper wurde zum Gegenstand politischer Kämpfe und neuer Aneignungsweisen.9 Die immense Bedeutung der körperlichen Erfahrung für die Herstellung eines ›Wir Frauen‹ kommt in folgendem Zitat von Wunderle pointiert zum Ausdruck: »Die oftmals traumatisierenden Erfahrungen der Abtreibung, der Sexualität und der Mutterschaft drücken ein Problem aus, das allen Frauen gemeinsam ist: die Entfremdung vom eigenen Körper, das Unvermögen, frei über ihn verfügen zu können, und seiner ›Natur‹, seinen Krankheiten ausgeliefert zu sein.« (Wunderle 1977: 30)

Die Subjektivierung des kollektiven Wirs und zugleich die des Individuums erfolgte, wie auch in den anderen Texten und Praktiken der Frauenbewegung gezeigt, primär über die Entdeckung individueller Erfahrung als Quelle für das kollektive Subjekt und diese überindividuelle Erfahrung war vor allem eine negative und körperliche. Es bedeutete, zugleich von vielen anderen individuellen Erfahrungen zu abstrahieren, um dieser negativen Erfahrung einen solcherart exzeptionellen Status zukommen zu lassen, dass sie im Stande war, das Kollektivsubjekt ›Frauen‹ zu begründen. Die weiblichen Körper wurden zugleich zu Medien der Selbstbestimmung wie zu Differenzmarkern; Frauen entwarfen sich als politische Subjekte und unterwarfen sich dabei einer normativen Vorstellung von ›Frauen‹; die Frauenbewegung entwickelte sich zu einem handlungsmächtigen Subjekt und blieb Regimen der Macht verhaftet, die Ordnung 9 | Dass das Verhältnis zum Körper als Wissens- und Sorgeobjekt auch eine Unterwerfung bedeutet und einem verdinglichenden Verständnis von Körper und Erfahrung den Weg bereitet, kritisiert Duden (2010) an der Körperpolitik der Frauenbewegung.

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und Ausschluss organisieren. Möglich waren diese Prozesse erst über die Bildung eines kollektiven Subjekts, das den Rahmen für die individuelle Subjektivierung (als ›Frau‹) ermöglichte. Eine stärkere Fokussierung auf Prozesse der Subjektivierung als Analyse-Perspektive lässt also auch erkennen, dass und wie sich die individuelle Subjektwerdung (durch ein spezifisches Verhältnis zum Körper etc.) mit der Subjektivierung des Kollektivs verschränken musste. Denn die für die Bewegung so zentrale kollektive Identität ›Wir Frauen‹ musste selbst zuallererst in Prozessen der Subjektivierung hergestellt werden, um dann die Kategorie ›Frau‹ als Folie für die individuelle Subjektivierung bereitzustellen. Die Perspektive auf Subjektivierung macht zweierlei deutlich: Zum einen zeigt sich, wie stark Autonomie mit Körperverhältnissen verknüpft ist. Es ging darum, sich autonom zu machen von gesellschaftlichen Instanzen, die wie im Fall des Abtreibungsparagraphen weit in körperliche Vorgänge von Frauen eingriffen. Dabei wurde der Körper dann selbst zum Gegenstand des Wissens und der Sorge. Zum anderen wird deutlich, dass der Rekurs auf eine kollektive negative körperliche Erfahrung als Gründungsmoment eines kollektiven Subjekts auch eine sehr normative Komponente hat (»allen Frauen gemeinsam« wie es im obigen Zitat heißt). Als das ›alle‹ Frauen vereinende Merkmal postuliert Wunderle die Entfremdung vom eigenen Körper und damit gleichzeitig einen normativen Vergemeinschaftungsmodus. In dieser Politisierung von Körper und Erfahrung blieben Frauen zunächst den gesellschaftlichen Zuschreibungen an Weiblichkeit verhaftet bzw. reproduzierten diese, um sie anders zu deuten. In einigen feministischen Zusammenhängen wurde die Essentialisierung von Weiblichkeit zur (identitäts-)politischen Strategie par excellence und die Verknüpfung von Weiblichkeit und Körperlichkeit zum positiven Gruppenmerkmal.10 Neben der Option der Befreiung (sei es bezogen auf Körper und Sexualität oder allgemeiner auf normative Anforderungen an Weiblichkeit) bedeutete diese Ausrichtung auf ein kollektives Wir daher auch zugleich eine Zurichtung und Unterwerfung der Einzelnen. Mit der Subjektivierungsperspektive lässt sich auf diese Weise verdeutlichen, dass und wie die (neue?) Subjektivität

10 | Diese Hinwendung zur ›neuen Subjektivität‹ blieb jedoch nicht ohne Kritik aus den ›eigenen Reihen‹. Nicht nur hatten einige Feministinnen bereits die Stoßrichtung von Stefans Roman stark kritisiert, auch Schwarzer kritisiert die sog. neue Weiblichkeit: »Diese Strömung beschäftigte sich zunehmend ausschließlich mit sich selbst, meist in der Form der feministischen Variante der ›neuen Innerlichkeit‹, der heute so genannten ›neuen Weiblichkeit‹. Kernstück dieser neuen, alten Weiblichkeit ist die Annahme vom natürlichen ›Anderssein‹ der Frau, von der ›Frau als Naturwesen‹. Für viele begann dies in der zunächst unverfänglichen Beschäftigung mit dem eigenen Körper und den Gefühlen, für sehr viele blieb es dann leider auch dabei[…]« (Schwarzer 1983: 84)

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immer in Machtdynamiken eingebunden ist, mit welchen Ausschlüssen und imaginären Setzungen sie verbunden bleibt. Auf genau den Effekt der Unterwerfung der auf Befreiung zielenden Techniken und Debatten der Frauenbewegung hat Andrea Bührmann bereits in ihrer Studie zur neuen Frauenbewegung hingewiesen (vgl. Bührmann 1995). Sie zeigt in ihrer Analyse der zentralen Texte zu Sexualität (u.a. Schwarzer), dass diese der Repressionsthese verhaftet bleiben. In den Selbsterfahrungsgruppen finde eine subjektivierende Unterwerfung statt, indem hier ›wahre‹ Diskurse über Sexualität produziert würden. Und die Debatten um LesbischSein und Mütterlichkeit hätten neue Authentizitätsnormen hervorgebracht. In ihrem Fazit hält Bührmann daher fest: »Die Diskussionen, Projekte und Kampagnen der Sexualitätsdebatte der Neuen Frauenbewegung, in denen die Befreiung der Frau angestrebt wird, können somit im Horizont der FOUCAULT’schen Macht- und Diskursanalyse als Stützpunkt zur Verfestigung der Normalisierungsmacht betrachtet werden, nicht aber als ein ›Gegen‹ oder ›Außerhalb‹ des funktionierenden Macht-Wissen-Komplexes.« (Bührmann 1995: 212)

So nachvollziehbar Bührmanns Argumentation im Einzelnen ist, so sehr produziert ihr Fokus auf Macht – und weniger stark auf Subjektivierung – ein doch recht einseitiges Urteil über die Frauenbewegung. Die Subjektivierung der Einzelnen über das Kollektiv wäre hingegen als paradoxale Grundstruktur zu verstehen, in welcher sich Macht und Subjekt im Sinne einer konstitutiv bedingten Handlungsmacht gegenseitig voraussetzen und ermöglichen.

4. F a zit : P olitik-G eschichte versus S ubjek tivierungs -G eschichte ? In den folgenden Schlussüberlegungen soll herausgestellt werden, welchen Gewinn eine Perspektive auf Subjektivierung für die wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte der Frauenbewegung abwerfen könnte. Zusammengefasst ermöglicht diese Perspektive folgende Widerspruchskonstellationen (oder -variationen) zusammen zu denken als zugleich und einander bedingend: Autonomie und Körper; Befreiung und Unterwerfung; Macht und Subjekt. Der Körper musste objektiviert und angeeignet werden; er sollte befreit werden (von Zwängen und Normen) und wurde gleichzeitig zum Gegenstand des autonomen Selbst. Die Transformation der Körperverhältnisse fand als kollektiver Erkenntnisprozess (Selbsterfahrung etc.) und in kollektiven Praxen statt. Sexualität galt einerseits als Ort der Unterwerfung und wurde andererseits mit den Erfahrungen des Kollektivsubjekts Frauen zu einer Praxis, mit der das Individuum befreit und ermächtigt wird. Kollektivität war die notwen-

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dige Voraussetzung der Transformation und Subjektivierung der Einzelnen und zugleich eine machtvolle und normative Instanz, die die Einzelnen vereinheitlichte, unterwarf und sie letztlich an Macht-Wissens-Komplexe band. Die Perspektive auf Subjektivierung nötigt dazu, ›Frauen‹ als ein in Diskursen, Techniken und machtvollen Teilungspraktiken gewordenes kollektives Subjekt zu rekonstruieren und damit das Entstehen und teilweise Scheitern der Frauenbewegung besser zu verstehen. Die starke Bezugnahme auf Körper und Sexualität in der kollektiven Subjektivierung führte zu unterschiedlichen – theoretischen, aber auch politischen – Problemen: 1. Der Körper wurde entweder zum Gegenstand der Unterwerfung oder aber zu einem der Identifikation und der Betonung der Andersheit. Hieraus entstanden später die Kontroversen um Gleichheit versus Differenz, d.h. um die Frage, ob Frauen eine nachholende Subjektivierung als Gleiche gelingen kann oder ob die Subjektivierung (und auch Kritik gängiger männlich geprägter Subjektivierungsregime) nur über eine Affirmation des Weiblichen, der weiblichen Logik, Ökonomie, Sprache, kurz: der Differenz realisiert werden könne. 2. Innerhalb der Frauenbewegung wurde relativ schnell deutlich, dass die kollektive Identität als ›Frauen‹ Ausschlüsse produzierte und die partikulare Lebensrealität vieler Frauen ignorierte bzw. universalisierte. Zu nennen sind hier die Kritik schwarzer Frauen, die Kontroversen um lesbische Frauen, um Mütter, der problematische Umgang mit Frauen mit Behinderung etc. Aus beidem resultierte nicht zuletzt eine Kritik der Identitätspolitik der Frauenbewegung und eine radikale Kritik an dem von ihr eingesetzten und aktivierten kollektiven Subjekt des ›Wir Frauen‹. Die prominenteste Kritikerin, Judith Butler, begreift die Problematik als politische wie auch theoretisch-programmatische. Sie beschreibt das paradoxale Unterfangen der weiblichen Subjektwerdung im Rahmen eines Regimes, welches genau auf dem Ausschluss bestimmter Positionen beruht, wie folgt: »Die feministische Kritik muß auch begreifen, wie die Kategorie ›Frau(en)‹, das Subjekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll.« (Butler 1991: 17) Ziel müsse daher eine feministische Genealogie der Kategorie ›Frau(en)‹ sein. »Möglicherweise zeigt sich bei diesem Versuch, die ›Frauen‹ als Subjekt des Feminismus zu hinterfragen«, so Butler weiter, »daß die unproblematische Beschwörung dieser Kategorie die Möglichkeit einer feministischen Repräsentationspolitik geradezu verhindert« (ebd.: 21f.). Tatsächlich wurden die Einheitsfiktion und die impliziten Ausschlüsse, die das kollektive Subjekt der Frauen nach sich zog, auch innerhalb der Frauenbewegung schon früh thematisiert und problematisiert. So kritisierte beispielsweise Donna Haraway schon Anfang der 1980er die sozialistische und die radikale Strömung innerhalb der US-amerikanischen Frauenbewegung für ihre, auf unterschiedliche Weise totalisierenden, Setzungen und Nivellierung von Differenzen. Die radikale Strömung begründe das Subjekt Frauen negativ

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über den Opferstatus, über eine, wie sie schreibt, »autoritäre Theorie der Erfahrung« (Haraway 1995: 46). Innerhalb der deutschsprachigen Frauenbewegung kritisierte Gerburg Treusch-Dieter (1988) schon früh die Verwicklungen der Frauenbewegung mit der Macht und wies mit Foucault auf das Imaginäre der Vorstellung eines Außerhalb der Macht hin. Vielleicht liegt der Vorteil der hier vorgestellten Forschungsperspektive genau darin, diese Spannungsmomente als Kennzeichen von Subjektivierung zu beschreiben: die Dynamik zwischen Vereinheitlichung und Differenz, Unterwerfung und Widerstand, aber eben auch Kollektivität und Individualität.

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Politik und Krankheit Kollektive Subjektivierung durch Patientenbewegungen und -organisationen Helene Gerhards

1. E inleitung Sozialwissenschaftliche Untersuchungen, die sich explizit mit der Figur des Patienten1 aus einer poststrukturalistischen, subjektivierungssensiblen Perspektive beschäftigen, sind erstaunlich rar.2 Das überrascht, widmete sich doch der Pate dieser Forschungsrichtung, Michel Foucault, in seinen unterschiedlichen Schriften immer wieder der komplexen Fragestellung, wie Medizin und im weiteren Sinne therapeutische Interventionen auf Körper und Verhalten wirken und auf welche Weise medizinische und biopolitische Rationalitäten als Schlüssel zu einer Ontologie der Gegenwart verstanden werden können – damit stünde ein reicher Fundus an Anschlussstellen bereit.3 Der politische Aktivismus von Patientenorganisationen als Hinweis auf ihre kollektive Handlungsfähigkeit sowie ihre Konstruktionsarbeit an Gruppenidentitäten, die diese Handlungsfähigkeit ermöglicht, sind durchaus zum Gegenstand sozialwis1 | In der Regel verwende ich den Begriff Patient oder Patienten, Arzt, Patientenorganisationen usw. Um mich nicht auf das Argument, alle Geschlechter seien mitgemeint, zurückzuziehen, werde ich an einigen Stellen alternativ die Begriffe Patientin oder Patientinnen, Ärztinnen usw. wählen, welche in der Regel die gleichen Subjekte und Gruppen zu repräsentieren beanspruchen. 2 | Als einschlägigste Veröffentlichungen, die sich allgemeiner und zugleich facettenreich dem Patienten und seiner Subjektbildung sowie -position widmen, sind Jones/ Porter (1994) und Petersen/Bunton (1997) zu nennen. Zudem legt der Medizinsoziologe David Armstrong vielen seiner Schriften einen patientenzentrierten, von Foucault inspirierten Zugang zugrunde, vgl. z.B. Armstrong (2003). 3 | Einige wichtige Schriften Foucaults zu Psychoanalyse, Medizin und Biopolitik sind Foucault 1969, 1973, 1990.

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senschaftlicher, im weitesten Sinne konstruktivistischer Forschung geworden (vgl. Rabeharisoa 2006; Epstein 2008; Reynolds Whyte 2009). Eine übergreifende oder intensivere subjektivierungstheoretische Auseinandersetzung mit dem Patienten als Verkörperung einer spezifischen Subjektgeschichte oder mit Formen kollektiver Subjektivierung durch politische Selbstorganisation in Patientenbewegungen und Patientenorganisationen allerdings fehlt bislang. Dieser Beitrag soll klären, wieso Patientenorganisationen und -bewegungen als kollektive Subjekte verstanden werden können und welche Bedeutung ihrer spezifischen Politik im Rahmen des medizinischen und gesellschaftlichen Umgangs mit Patienten zukommt. Dazu werden drei Achsen der Subjektivierung – Wissen, Macht und Repräsentation – für eine Analytik kollektiver Subjekte fruchtbar gemacht. Insbesondere soll Repräsentation als explizite Praktik kollektiver Subjektivierung gelesen werden, denn ihr fällt eine besondere Rolle bei der Konstitution und Artikulation politischer Subjekte zu. Zunächst wird in theoretisch-methodischen Vorüberlegungen das Verhältnis der genealogischen Subjektivierungsforschung (vgl. Rose 1996; Bröckling 2012) zu üblichen organisationssoziologischen Ansätzen geklärt. Es sollen hier theoretische Grundlagen einer Konstitution von Kollektivsubjekten aufgezeigt werden, an die der explorative Teil mit den Beispielen eines Patientenkollektivs und einer Patientenorganisation anschließen wird. Im Sinne einer Geschichte kollektiver Patientensubjekte werden dabei die historischen Kontextbedingungen umrissen, innerhalb derer sich die spezifischen Konstitutionsweisen und Organisationsformen bewegen. Die entlang der Analyseachsen von Wissensformen, Machtverhältnissen und Repräsentation orientierte Untersuchung wird aufzeigen, wie sich Patientenbewegungen und -organisationen in problematisierender Auseinandersetzung mit medizinisch-politischen Diskursen auf unterschiedliche Weisen als politische Akteure ins Spiel bringen.

2. Theore tisch - me thodische V orüberlegungen Das Anliegen, Patientenbewegungen und Patientenorganisationen als politische Kollektivakteure zu beschreiben, wirft zunächst folgende Frage auf: Warum den Umweg über Michel Foucaults Werkzeugkiste nehmen, in der die Probleme der Organisation und der sozialen Bewegung weder als Gerätschaften noch als Werkstoffe zu liegen scheinen, wenn doch die Politische Soziologie und die Bewegungsforschung einen reichen Fundus an Ansätzen bieten, Patientenorganisationen eben zuerst als spezifische (Selbst-)Organisationen (vgl. z.B. Forster et al. 2009) und Patientenbewegungen als soziale Bewegungen zu untersuchen (vgl. Epstein 2008: 501)? Ohne die Heterogenität organisationssoziologischer Forschung unzulässig auf unbedingte Prämissen und zwingende Herangehensweisen festzule-

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gen, lassen sich doch gemeinhin ›klassische‹ zentrale Annahmen über ihren Untersuchungsgegenstand anführen: Organisationen verfügen über eine formale Qualität sozialer Strukturbildung; sie sind keine sozialen Zufallsprodukte, sondern operieren trotz ihres inneren oder von ihr verursachten Chaos’ (vgl. Thiétart/Forgues 1995) im Rahmen einer formal erkennbaren (bürokratischen oder akteursbezogenen) Rationalität; sie regeln Aspekte von Inklusion und Exklusion mithilfe eines Zugehörigkeits- oder Mitgliedschaftskonzepts; sie sehen sich den Schwierigkeiten der Koordination gesellschaftlicher Wechselwirkungen, des Ressourceneinsatzes und der Arbeitsteilung gegenüber; sie entwickeln Ziele, Interaktions- und Handlungsroutinen (vgl. Gertenbach 2013: 152f.; Preisendörfer 2005). Soziale Bewegungen, wie die klassische Bewegungsforschung sie konzeptualisiert, sind weniger formalisiert; sie sind soziale Gebilde aus miteinander vernetzen Personen, Gruppen und Organisationen, die mittels gemeinsamer Aktionen soziale bzw. politische Verhältnisse zu verändern suchen (vgl. Rucht/Neidhardt 2007: 634). Soziale Bewegungen schließen außerdem durch ihren Netzwerkcharakter häufig Organisationen ein – eine Person kann zugleich Mitglied etwa eines Vereins für Umweltschutz sein und sich als Aktivistin an einem Protestmarsch gegen das Abholzen der Regenwälder beteiligen. Dies gibt einen Hinweis darauf, dass selbst Organisations- und Bewegungsforschung ihre Gegenstände als variabel und eng miteinander verzahnt ansehen. Diese Erkenntnis hat auch Eingang in empirische sozialwissenschaftliche Untersuchungen gefunden, die sich mit kollektiven Gebilden im Bereich der Gesundheitspolitik beschäftigen: Hier werden beispielsweise health social movements (vgl. Brown/Zavestoski 2004) und patient organization movements (vgl. Landzelius 2006) explizit nicht trennscharf behandelt, da sie wesentlich durch vernetzte Strukturen sowie sich wechselseitig beeinflussende Mobilisierungsdynamiken charakterisiert sind. Sowohl gesundheitspolitische Bewegungen und kleinere Aktionsgruppen als auch Patientenorganisationen, die häufig mehr oder weniger formalisiert und professionalisiert sind, können demnach als politische Kollektive klassifiziert werden, sofern sie einen politischen claim formulieren (vgl. Lindekilde 2013) – also öffentlich auf ein durch die Medizin verursachtes Problem hinweisen und Rechte, Beteiligung oder Ressourcen einfordern, um dieses Problem auf politische Weise lösen zu können. Während also den konzeptualisierenden Annahmen der soziologischen Organisations- und Bewegungsforschung und Fallstudien, die sich mit Patientenorganisationen sowie bewegungen beschäftigen, nicht in theoretisch-methodologischer Hinsicht gefolgt werden muss, können ihre empirischen Beobachtungen zunächst einmal legitimieren, diese politisch wirkenden Gebilde gemeinsam in den Blick zu nehmen. Was nun fügt eine Analyse von Patientenorganisationen und -bewegungen hinzu, die nach der Subjektivierung dieser sozialen Gebilde fragt, oder

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präziser formuliert: die Patientenorganisationen und bewegungen als problematisierende, kollektive Subjekte versteht? Der entscheidende Vorteil der hier vorgeschlagenen Vorgehensweise liegt in einer Perspektivenverschiebung: Erstens stehen nicht so sehr das decision-making, der Handlungsvollzug des kollektiven Akteurs oder dessen Mitgliedschaftsregeln im Vordergrund, sondern die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung, Erfahrung und Praxis in und von Organisationen und Bewegungen (vgl. Gertenbach 2013: 153). Lenkt man die Aufmerksamkeit auf diese Bedingungen, so liegt der Schwerpunkt nicht auf der Frage, warum nun diese oder jene Patientenorganisation so oder anders funktioniert oder wer genau an ihnen teilhat. Stattdessen ist von Interesse, auf welche Weise gesellschaftliche Umgangsformen mit Krankheit, Gesundheit und Behinderung problematisiert werden.4 Organisationen und Bewegungen können dann als wesentliche Momente der Modellierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse begriffen werden, wenn sie durch Problematisierung in gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnisse eingreifen und sich damit an der Bearbeitung und Konstruktion von Realität beteiligen (vgl. Gertenbach 2013: 161; Bührmann 2013: 52). Über diese Problematisierungsfunktion hinaus kann zweitens analysiert werden, welche Wissens-, Macht- und Subjektivierungsverhältnisse es für die Konstituierung der Bewegungen und Organisationen braucht(e) (vgl. Saar 2013: 22). Die Fokussierung auf diese Analysekategorien lässt sich mit dem Hinweis Foucaults auf seine Untersuchungsachsen Wahrheit, Macht und Moral begründen (vgl. Foucault 2005a: 759). Da Foucault diese Untersuchungsachsen vor allem an der Beschreibung der Konstituierung von Einzelsubjekten rekonstruiert, muss zunächst deren Übertragung auf und Anpassung an Kollektivsubjekte im medizinisch-politischen Raum plausibel gemacht werden: Der Frage nach der Konstruktion von Wahrheit folgend, untersucht dieser Beitrag, wie neue Wissensformen im medizinischen, aber auch im politischen Diskurs etabliert und gesellschaftlich sagbar werden. In einer machtanalytischen Perspektive soll herausgearbeitet werden, welche Machtformen die Bewegungen und Organisationen im Hinblick auf welche politischen claims praktizieren. Darüber hinaus soll in den Blick kommen, welche Konstitu4 | Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass Foucault den Begriff der Problematisierung unterschiedlich konnotiert und nutzt. So stellt sich einerseits ›Problematisierung‹ als die Formulierung eines gesellschaftlichen Problems dar, dem mit Regierung begegnet werden muss, also Regierung überhaupt erst ermöglicht. Andererseits beschreibt ›Problematisierung‹ eine Form der Analyse und Kritik des Regierungshandelns (vgl. Dzudzek 2016: 40ff.). Ich verwende den Begriff der Problematisierung hier in Anschluss an die zweite Bedeutungsweise – ›problematisieren‹ können meinem Verständnis nach nicht nur Philosophinnen, sondern eben auch kollektive Subjekte, indem sie auf gesellschaftliche Missstände hinweisen oder Forderungen an die Politik stellen.

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tionsleistungen in Anschlag gebracht werden, mit deren Hilfe sich Subjekte zu sich selbst ins Verhältnis setzen.5 In theoretischer Analogie zur Achse der Subjektivierung und Konstituierung von Selbstverhältnissen durch Moral bei Einzelsubjekten (vgl. Foucault 1989) wird demnach für die politischen Kollektivsubjekte gefragt werden: Wie erschaffen Patientenorganisationen und -bewegungen sich selbst als kollektive Subjekte, durch welche Konstruktionsprozesse und Einheitsfiktionen wird es überhaupt möglich, sinnvoll auf sie als politische Akteure Bezug zu nehmen vgl. Saar 2013: 22? Ich möchte vorschlagen, den Akt der Konstitution und Erhaltung des Kollektivsubjekts als einen Vorgang der Repräsentation zu verstehen. Repräsentation ist in Äquivalenz zum subjektivierenden Ethos des Individuums diejenige kollektive Subjektivierungspraktik, die aus einer Ansammlung einzelner Subjekte ein politisches Kollektivsubjekt macht (vgl. Hark 1999: 51ff.) und somit die individuellen Subjektivierungsprozesse gleichzeitig einbindet und übersteigt. Es genügt nicht, Repräsentation nur als Subjektivierung individueller Subjekte in Kollektiven (»sich als Teil eines Ganzen fühlen«) zu deuten, sondern Repräsentation selbst ist der Modus der Subjektivierung eines Kollektivs. Sie ist der Moment, in dem ein Kollektivsubjekt auf die gesellschaftliche Bühne tritt – auf diese Aspekte der politischen Repräsentation hat auch Judith Butler (1990, 1995) hingewiesen. Konkreter wird mit der Subjektivierungspraktik der politischen Repräsentation nicht auf das Alltagsverständnis parlamentarisch-elektoraler Repräsentationssysteme verwiesen, sondern mit ihr ist die Konstruktion und die Darstellung eines politischen Subjekts durch Praktiken einer gemeinsamen Selbstbeschreibung und Anspruchsformulierung gemeint – diese sind gleichzeitig Grundlage und Mittel der Repräsentation. Forderungen, die aus dieser Selbstbeschreibung und Anspruchshaltung resultieren, können dann im öffentlichen Diskurs vertreten werden. Im Sinne Hanna F. Pitkins vollzieht die Subjektivierungspraktik der Repräsentation ein »making present again« (Pitkin 1967: 8; vgl. auch Saward 2006). Repräsentation lässt sich demnach als eine kollektive Darstellungspraxis begreifen, die es ermöglicht, als politisches Kollektivsubjekt auch außerhalb politischer Institutionen identifiziert zu werden und als (politisch) agentiviertes Subjekt in Erscheinung zu treten. Da die Subjektivierung von Patientenorganisationen und -bewegungen im Zusammenhang mit spezifischen Problemkonstellationen und Problematisierungen steht, bietet sich eine genealogische Forschungsperspektive an, die veränderte Problematisierungen zu begreifen vermag. Eine Genealogie ist eine 5 | »Vor allem in seinen späten Vorlesungen, kleineren Schriften und letzten beiden Monographien, dem zweiten und dritten Band der Geschichte der Sexualität, legt Foucault besonderen Wert auf die dritte ›Achse‹ oder Ebene, die der Selbstbeziehung des Subjekts, der Selbstführung oder des ›Ethos‹, d.h. der Haltung, mit der sich das Subjekt zu sich selbst verhält.« (Saar 2013: 22)

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spezifische Form der Geschichtsschreibung mit einem spezifischen Gegenstandsbereich, die ›unsere Geschichte‹ mit ihren Diskontinuitäten und Funktionsverschiebungen erzählt (vgl. Saar 2003: 165). Eine Genealogie der Patientenorganisationen und -bewegungen sucht entsprechend die Metamorphosen ihres Gegenstands nicht nur anhand ihrer Formen darzustellen, sondern sie auch nach ihren jeweils historisch situierten Kämpfen zu befragen (vgl. Foucault 2002: 166ff.).

3. W iderständige I rre , politisierende W aisen : Z wei E pisoden kollek tiver S ubjek tivierung Eine Genealogie spezifischer Patientenorganisationen und -bewegungen zielt auf die Analyse der Verschiebung von Machtverhältnissen und der Umorganisation von Diskurs- und Wissensstrukturen und Repräsentationspraktiken. Sie soll anhand eines historischen und eines aktuellen Fallbeispiels aufzeigen, dass die Kollektivsubjekte unterschiedlichen Herausforderungen begegnen und ihre Strategien an unterschiedlichen Kontextbedingungen ausrichten, unter denen Patienten in medizinischen und soziopolitischen Feld buchstäblich zu leiden haben.

3.1 Widerständiges Patientenkollektiv SPK: Der Kampf gegen gewaltvolle Objektivierung in Asylen und für eine antikapitalistische Gesellschaftsordnung Die ›Geburt‹ der Patientenbewegungen und -organisationen kann als Reaktion auf eine als gewaltvoll empfundene medizinische Praxis der Objektivierung ausgemacht werden (vgl. Foucault 1969, 1973, 2003a). Die klassische Konstellation zwischen Patientin und Arzt gestaltet sich in der medizinischen Praxis zumeist als ein Verhältnis, in welchem dem Arzt die Deutungshoheit in medizinischen Fragen zugewiesen und der Patient als Objekt im Diagnoseprozess dem medizinischen Normierungsdiskurs unterworfen ist. In den 1960er– 1970er Jahren erfährt diese klassische Konstellation des Arzt-Patienten-Verhältnisses eine tektonische Verschiebung, indem die Pathologisierung des Verhaltens und die Gewalt der Einschließung in Psychiatrien öffentlich thematisiert werden. In organisierten Formen der Medizinkritik werden Forderungen nach Demedizinisierung (vgl. Foucault 2003b; Conrad 1992) artikuliert – die Betroffenen und ihre Fürsprecher kämpfen nicht nur für eine selbstbestimmtere und humanere Medizin, sondern problematisieren auch die therapeutische und medizinische Deutungsmacht (vgl. Wehling et al. 2007; Goffman 1972; Szazs 1976; Verdiglione 1976). Die Ordnung der Krankheit und die Macht der Institution Psychiatrie sind gebunden an die fachliche Beurteilung durch die

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Ärztin als Expertin und darüber hinaus an die Kontrolle durch das medizinische Fachpersonal: Regt sich politischer Widerstand gegen jenes Machtverhältnis, findet dies vor allem im Machtmodus der Verweigerung des geltenden medizinischen Diskurses und seiner materiellen Gewalt in den Asylen statt. Die Patientinnen wollen keine Patientinnen mehr sein, sie wollen zumindest nicht dermaßen behandelt (medikamentiert, kontrolliert, stationiert) werden. Foucault fasst diesen kollektiven Widerstand der Patienten gegen die disziplinierende Behandlung in den hospitalistischen Einrichtungen folgendermaßen zusammen: »Das Ziel dieser Kämpfe sind die Auswirkungen der Macht als solche. So wirft man dem Ärztestand nicht in erster Linie vor, aus dem Arztberuf ein Geschäft zu machen, sondern eine nicht kontrollierte Macht über den Körper, über die Gesundheit, über Leben und Tod der Menschen auszuüben« (Foucault 2005b: 244). Die Literatur über die Antipsychiatriebewegung identifiziert jedoch nicht nur die unmenschliche Behandlung, Isolation und Verdinglichung in den psychiatrischen Institutionen als wesentlich für die Auflehnung gegen machtvolle paternalistische Normen und ihre verwaltende Objektivierung. Genauso wichtig neben der mobilisierenden Machtpraxis des kollektiven Widerstands scheint ihr zudem die Herstellung einer neuen Wahrheit zu sein, die als eine radikale philosophische sowie gesellschaftstheoretische Kritik die Funktion einer politischen, befähigenden (Re-)Subjektivierung der Patienten übernimmt: »The anti-psychiatric movement grew in the realm of politics, particularly the politics of the left, which was considered at one time the main source of progressive ideas and possibly the only instrument against capitalist oppression. It gained its initial respect and glamour from its association with the prevailing existential philosophy at that time. Despite these connections, the roots of the anti-psychiatric movement are undoubtly to be found in the psychoanalytic tradition.« (Nasser 1995: 743) 6

Die Psychiatrie ist somit der Ort der ersten politischen Patientenbewegung – organisiert in Deutschland beispielsweise in Form der Sozialistischen Patientenkollektive. In der Agitationsschrift SPK – Aus der Krankheit eine Waffe machen aus dem Jahre 1972, der ein Vorwort von Jean-Paul Sartre vorangestellt ist, werden die politisch motivierte Kritik, die den medizinisch-psychiatrischen Diskurs aufzubrechen versucht, und der Anspruch der politischen kollektiven Selbstrepräsentation überaus deutlich (vgl. zur Übersicht Brückner 1973):

6 | Die Ablehnung der professionellen Medizin erfolgt nicht nur durch die Psychoanalyse und existenzialistische Kritik, sondern fußt auch auf Grundsätzen der sozialistischen Entfremdungskritik, welche die Medizin als mit dem Staatsapparat verwoben ansieht (vgl. Foucault/Groupe Information Santé 1976).

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Erfahrungswissen, welches in die Konstruktion einer neuen Krankheitstheorie einging, versteht psychiatrische Krankheiten als inneres Gefängnis, verursacht durch Fremdbestimmung. Krankheit kann dieser Theorie zufolge nicht politiklos gedacht werden, sie ist Protest und gleichzeitige Hemmung des Protests (vgl. Pross 2016: 189). Dieses in der Gruppe zirkulierende Wissen, das der hierarchischen psychiatrischen Therapiepraxis entgegensteht, führt die Patienten zu der Erkenntnis, dass »Krankheit nicht einfach Schicksal ist, nicht nur PASSIV Erduldetes, Erlittenes, sondern auch Aktivität, Widerstand bewirken kann, dass man vom Objekt zum Subjekt werden kann« (Äußerungen eines ehemaligen SPK-Mitglieds zit.n. Pross 2016: 189; Herv. i.O.). Die Neukonzeptualisierung von Krankheit auf der Achse des Wissens eröffnet also den politischen Umgang mit ihr; er lässt Krankheit und Therapie als politisch induzierte Machtverhältnisse interpretieren, die nun umgekehrt werden müssten. Die Achse der Macht zeichnet sich als Terrain ab, auf dem der revolutionäre Kampf gegen die krankmachende Gesellschaft ausgetragen wird. Insbesondere Machtstrategien und -demonstrationen wie Hungerstreik, Agitation und Universitätsrektoratsbesetzungen (vgl. o.A. 1972: 70) erregen dabei öffentliches Aufsehen. Die Subjektivierungspraktik der Repräsentation steht mit dem Machtkampf des Patientenkollektivs in engem Zusammenhang: Der Anspruch, für alle Betroffenen zu sprechen, verläuft über einen Weckruf an andere Patienten und konstituiert im Feld der psychiatrischen Antimedizin nicht nur ein Kollektiv, sondern auch eine neue revolutionäre Klasse. Das SPK begründet damit eine eigene öffentlich-politische Positionierung und legt Wert auf die politische Selbstrepräsentation als Betroffene, die unter kapitalistischen Bedingungen die einzige Möglichkeit sei, eine Kritik der Medizin im Kontext einer kranken Gesellschaft zu formulieren – das Gebot des Widerstands sollen alle von der Psychiatrie geknechteten Betroffenen erkennen und sich der Bewegung anschließen. Repräsentation wird als kritische Praxis verstanden, die sich in einer theoretisch angeleiteten aufklärerischen Selbst- und Gruppenpolitisierung vollzieht und der Schaffung einer politischen Identität dient: »Die Bearbeitung der Einzel- und Kollektivbedürfnisse ist nur im Zusammenhang zwischen Einzelagitation, Gruppenagitation und wissenschaftlichen Arbeitskreisen (gemeinsame Erarbeitung der Theorie) möglich. […] SPK Produkte sind: Emanzipation – Kooperation – Solidarität – Politische Identität.« (SPKUH 1972: 17f.)

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Repräsentation mit Mitteln der Selbstaufklärung und als Aufhebung des Einzelnen in einem politischen Kollektiv stellt sich demnach als diejenige Praktik dar, welche die politische Identität aller psychiatrisch Behandelten herstellen und einen wirksamen, emanzipativen Widerstand gegen die medizinische Objektivierungsmacht leisten kann. Das SPK macht sich zur Keimzelle einer Patientenbewegung, die »die Aufhebung aller Kollektive in der Allgemeinheit der Sozialistischen Revolution« (SPKUH 1972: 17f.) bezweckt. Das Patientenkollektiv steht also in dem größeren Zusammenhang einer politischen Bewegung, die einen radikalen politischen claim gegen Stigmatisierung und Medizinisierung im Kapitalismus erhebt. Dabei ist nicht nur die Subjektivierung der Betroffenen im Kollektiv z.B. durch Laientherapie von Interesse,7 vielmehr ist die kollektive Subjektivierung auch als Ausgangspunkt und Resonanzraum eines gesellschaftskritischen Projekts zu begreifen. Die Konstitution des SPK, ihre Positionierung und Selbstbezugnahme, ist gleichzeitig Ort und Ausdruck dieser Problematisierung.

3.2 ACHSE e.V. und das Problem des Noch-nicht-Patient-Seins Eine Genealogie versucht, Erscheinungen von ihrer Entstehung her zu begreifen, wobei die Entstehung immer ein Ort der Konfrontation ist (vgl. Foucault 2002: 176). Während der Kampfplatz der widerständigen Patientenkollektive im letzten Abschnitt beleuchtet worden ist, steht nun die Frage im Raum, in welchen Arenen sich neue medizinökonomische und politische Auseinandersetzungen abspielen. Weshalb sich die Erscheinungsformen, Anliegen, Strategien und Ziele von Patientenorganisationen verändern mussten, lässt sich nur klären, wenn die neuen Bedingungen anschaulich gemacht werden, die für bestimmte erkrankte Menschen zu einem Problem geworden sind. Um diese Bedingungen nachvollziehbar zu machen, muss an einem Topos angesetzt werden, der mittlerweile durch gouvernementalitätstheoretische Studien im gesundheitlichen Raum (vgl. bspw. Greco 2009; Heyes 2006; Devisch/Vanheule 2015; Coveney 1998) gut beleuchtet wurde: Prinzipiell ermutigt die Regierung der Gesundheit individuelle Subjekte, Bedürfnisse nach Erhaltung der Fitness zu entwickeln, Erwartungen an ihre Körper zu stellen, Entscheidungen zur Lebensführung und Wahl des Gesundheitsproduktes treffen – es geht darum, dem Patient-Werden vorzubeugen. Jede findet auf dem Markt der Gesundheit ein Angebot, mit dem sie in sich selbst investieren kann und das die Hoffnung auf vorbeugende Wirkung und 7 | Es soll hier nicht um eine Idealisierung der Aktivitäten des SPK gehen, daher sei verwiesen auf die Chronik Christian Pross’ (2016), der sich ausführlich mit den sektenartigen Selbsttherapieversuchen in der politischen Radikalisierungsgeschichte des SPK auseinandergesetzt hat.

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steigende Lebensqualität erfüllen soll. Damit wird die Verantwortung für das gesundheitliche Wohlergehen individualisiert: Das Angebot des Gesundheitsmarkes richtet sich an die ›normalen‹ bzw. zu normalisierenden Gesundheitskonsumenten, deren gesunde Lebensführung durch weiche Risikofaktoren (zuckerhaltig essen, rauchen, keinen Sport treiben etc.) beeinträchtigt werden könnte – also an potentielle oder akute Patienten (natürlich müssen Menschen weiterhin auch einfach ›verarztet werden‹). Tatsächliches, dauerhaftes PatientSein ist in der gouvernementalen Logik vor allem eine stets gegenwärtige, drohende Kulisse. Die Gouvernementalisierung der Gesundheitsökonomie und vorsorgenden Medizin arbeitet am Einzelnen und damit an einer ganzen Gesellschaft, allerdings wird die mit ihr einhergehende Responsibilisierung eher selten auf gesellschaftspolitischer Ebene problematisiert: Diejenige, die sich verantwortungsvoll um ihren Körper kümmert, um fit und vital zu bleiben oder zu werden, wird keinen Anlass sehen, sich politisch für den Erhalt ihrer Gesundheit einzusetzen; gegen die gouvernementale Regierung der Gesundheit und vorsorgende Medizin lässt sich nur schwerlich ein organisierter claim formulieren, da sie meistens nicht als politische, kritikwürdige Angelegenheit wahrgenommen wird. Neben die nicht als politisches Kollektivsubjekt verfassten einzelnen ›normalen‹ Gesundheitskonsumenten, von denen in der Regel keine organisierte Problematisierung der gesundheitlichen Regierung und Emanzipation vom Gesundheitsmarkt ausgeht, tritt jedoch ein neues Subjekt: Der bereits erkrankte Noch-nicht-Patient. Menschen dieses Subjekttyps irritieren, können sie doch nur bedingt Vorsorge betreiben, weil sie bereits medizinische Versorgung benötigen, sie jedoch nicht erhalten. Sie kämpfen nicht gegen die objektivierende oder gouvernementale Vereinnahmung durch medizinische oder gesundheitsökonomische Diskurse und Praktiken, sondern leiden daran, durch jene nicht beachtet zu werden. Sie sind Waisen der Medizin (vgl. Wästfelt/ Fadeel/Henter 2006), da ihnen entweder keine eindeutige Diagnose gestellt oder ihre Krankheit nicht oder nur unter erheblichen Aufwand behandelt werden kann – sie sind zwar krank, aber eben noch keine behandelten Patienten. Während die kollektiven Patientensubjekte der Antimedizin und Antipsychiatriebewegung Widerstand gegen den hegemonialen Diskurs des »Du musst behandelt werden!« leisten, indem sie ihn kritisch umzudeuten und zurückzuweisen versuchen, problematisieren diese von Krankheit betroffenen Subjekte ihre Vernachlässigung und fehlende oder unzureichende Therapie. Sie bemühen sich um eindeutige Identifikation und Repräsentation als Patienten, die ihnen im gouvernementalen Gesundheitsmarkt aufgrund fehlenden targetings (vgl. Henderson 2015) zunächst einmal verwehrt bleibt. Wie dabei Strategien kollektiver Subjektivierung zur Sichtbarmachung eingesetzt werden, soll das Beispiel der Patientenorganisation ACHSE e.V. zeigen, welche die Interessen

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und Bedürfnisse der an seltenen Krankheiten Leidenden in Deutschland repräsentiert. ACHSE e.V., gegründet im Jahre 2004, ist eine Patientenorganisation, die mehr als 110 Selbsthilfeforen im Indikationsgebiet seltener Krankheiten,8 die zumeist genetischen bedingt sind, in Deutschland miteinander vernetzt – ACHSE ist damit Sprachrohr, Multiplikator und Vermittler für Menschen mit seltenen Erkrankungen (vgl. Ewert 2015: 193). Mit einer seltenen Erkrankung leben heißt, lange in Unklarheit über die zutreffende Diagnose zu bleiben und wenige Informationen über die Krankheit zu erhalten: »Die Diagnose, von einer Seltenen [sic!] Erkrankung betroffen zu sein, verunsichert viele Menschen und stellt sie vor eine große Herausforderung. Gerade Eltern betroffener Kinder brauchen nach der Diagnose oft große Unterstützung, denn die meisten Krankheiten genetischen Ursprungs sind unheilbar« (ACHSE e.V. 2010: 30). 9

ACHSE soll Betroffenen ein Forum geben, diese medizinischen und sozialen Problemstellungen, auf die der vorsorgende Gesundheitsmarkt nicht eingestellt ist, als politische Probleme zu artikulieren, denn »Seltene [sic!] Erkrankungen stellen eine gesellschaftliche Herausforderung dar.« (ACHSE e.V. 2010: 22). Koordination zwischen den unterschiedlichen Selbsthilfegruppen10 und strukturelle Begleitung der Selbsthilfe sind eng mit Lobbyarbeit verzahnt und formieren sich somit als explizit politische Aufgaben. Diese lauten: »Betroffene und Angehörige unterstützen – Ärzte und Therapeuten vernetzen – Zur Forschung anregen – Die Öffentlichkeit sensibilisieren – Politische Interessen vertreten – Informations- und Wissensmanagement verbessern – Selbsthilfe stärken« (ACHSE e.V. 2010: 29; vgl. Reimann/Bend/Dembski 2007).

8 | Die Definition der Europäischen Union für eine seltene Krankheit ist ihre Prävalenz von nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen, etwa 29 Millionen Menschen in der EU (6-8 % der Bevölkerung) sind an einer der geschätzten 5.000 bis 8.000 seltenen Krankheit betroffen. Internationale Referenz für die Klassifizierung von Krankheiten ist die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) koordinierte Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD), allerdings sind im ICD-10 nur etwa 500 seltene Krankheiten berücksichtigt und 240 mit einer eignen Kodierung versehen. Diese Definitionen und Daten werden auch von ACHSE e.V. offiziell verwendet (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2008; ACHSE e.V. 2014). 9 | Vgl. die Erfahrungsberichte in ACHSE e.V. (2010), Joachim/Acorn (2003) und den hervorragenden Forschungsüberblick bei Holtzclaw Williams (2011: 116). 10 | Teilnehmende Vereine sind beispielsweise die Deutsche Huntingtonhilfe e.V., die Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e.V., Mukoviszidose e.V. sowie die Selbsthilfegruppe für PXE-Erkrankte Deutschlands e.V.

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Mit der Koordination von Selbsthilfe schließt ACHSE an gouvernementale Prinzipien der Selbstsorge an: Der Verein adressiert das Problem, dass die Betroffenen nicht wie andere gesundheitsbewusste oder kranke Subjekte gänzlich eigenständig dem responsibilisierenden Gesundheitsimperativ folgen können, da ihnen der Zugang zu den nötigen, unter Umständen besonders knappen Ressourcen fehlt. In dem Verfahren der Beratung und Vernetzung der Mitglieder der teilnehmenden Vereine lässt sich eine koordinierte Form der Selbstsorge ›unter erschwerten Bedingungen‹ erkennen. Durch das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe wird die Eigeninitiative der Subjekte angeleitet, in ihre eigene Zukunft zu investieren und den Weg zur passenden Therapie zu finden.11 Dass ACHSE auf die Kanalisierung der selbstsorgerischen Tätigkeit setzt, wird nicht nur durch die professionalisierte Beratung deutlich: Das Paradigma der peerto-peer-Beratung wird in einem Projekt konkretisiert, das die Erstellung eines Selbstmanagement-Manuals für Patienten und Angehörige und einem Beratungsleitfaden für die Peer-Berater (also ebenfalls Erkrankte) zum Ziel hat (vgl. ACHSE e.V. o.J. c.). Die Möglichkeit zur individuellen Selbstsorge, eine fundamental gouvernementale Praktik, wird folglich bei ACHSE durch kollektiv vernetzte selbstsorgerische Tätigkeit mit Mitteln der Dissemination von Wissen über kranke Körper und Lebensumstände etabliert. Neben der Bereitstellung der selbstsorgerischen Infrastruktur formiert und repräsentiert ACHSE e.V. ein kollektives Subjekt kranker Noch-nicht-Patienten, da jenes ohne kollektivpolitische Interessenartikulation an die Grenzen der organisierten Selbstsorge stoßen würde. Die konkreten Strategien der kollektiven Subjektivierung lassen sich auf den Achsen des Wissens, der Macht und Repräsentation konkreter bestimmen. Die Patientenorganisation verbreitet nicht nur Information, sondern interveniert in das Wissensregime des medizinischen Diskurses, indem sie Forschung an orphan diseases gezielt vorantreibt und Experten, vor allem Ärztinnen und Ärzte, miteinander in Kontakt bringt. Wie essentiell die Markierung eines betroffenen Kollektivs für die Produktion von Wissen ist, zeigt das Ziel von ACHSE, Betroffene für die Teilnahme an klinischen Studien zu rekrutieren und diese als medizinische Fallgruppe erkennbar zu machen (vgl. Griggs 2009: 22; Polich 2012; Callon/Rabeharisoa 2003). In der Wissenschaftsforschung werden außerdem seit längerem die Potentiale von Patientenorganisationen diskutiert und Modellstudien evaluiert, welche die Beteiligung von Patienten und ihren Angehörigen am Forschungsprozess selbst ermöglichen 11 | Die Betroffenen- und Angehörigenberatung ACHSEs lässt sich treffend als strategischer Brückenkopf zwischen der Vernetzung des Wissens und dem Gebot der Selbstsorge verstehen: »Sie haben Fragen wie: Wo finde ich verlässliche Informationen zu meiner Erkrankung? Mit wem kann ich mich über meine Erkrankung austauschen? An wen kann ich mich bei Problemen mit einer Kostenübernahme wenden?« (ACHSE e.V. o.J. b).

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sollen – Motive sind zum einen die Demokratisierung von Wissenserzeugung (vgl. Rose 2012), zum anderen wird in der medizinischen Forschung die Protoprofessionalisierung der Patienten wahrgenommen, die durch die intensive Beschäftigung mit der jeweiligen Krankheit zu Experten ihrer Selbst und anderer Betroffener werden (vgl. Caron-Flinterman/Broerse/Bunders 2007; Elberse/Caron-Flinterman 2011; kritischer dazu Badcott 2005). Diese Verschiebung von epistemologischen Regelsätzen und Etablierung eines Wissenssubjekts der Noch-nicht-Patienten kann nicht allein durch die einzelnen Betroffenen erreicht werden: »Die eigens erlebte schwierige Lebenssituation von Menschen mit Seltenen [sic!] Erkrankungen und der herrschende Mangel an Anlaufstellen, Spezialisten, Informationen, Therapiemöglichkeiten führt bei nicht wenigen dazu, Experten in eigener Sache zu werden – werden zu müssen. […] [D]ie Zielsetzung reift heran, systemisch etwas verändern zu wollen. Dann ist der Weg nicht mehr weit, eine Selbsthilfegruppe oder organisation zu gründen […]. Not macht erfinderisch.« (ACHSE e.V. 2010: 21)

Nur unter Beteiligung von Patientenorganisationen und den durch sie vertretenen Patienten erscheint es möglich, Stagnation in Forschung und Therapie zu problematisieren, indem Spezialisten darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich eine intensivere Beschäftigung mit den ›Seltenen‹ lohnen könnte: »Der einzelne Verband mit den wenig Betroffenen, (.) hat letzten Endes keine Lobby, also wir sind zu wenige als dass wir in der Forschung zum Beispiel Interesse erwecken könnten. Und ACHSE als Dachverband, sind wir auf einmal viel.« (Weibliches ACHSE-Mitglied mit erkranktem Kind, ACHSE e.V. 2015)

Die Patientenorganisation versteht sich weiterhin als Interessenverband, der für eine politische und soziale Sichtbarkeit der etwa vier Millionen an seltenen Krankheiten Erkrankten eintritt und damit Machtbeziehungen als Artikulationsgelegenheiten im öffentlichen Raum restrukturiert.12 Die politische Arbeit von ACHSE und ihre internationale Vernetzung ist dabei ein wesentliches Betätigungsfeld, da sie sich »als nationale Allianz im Europäischen Zusammenschluss von EURORDIS (European Organisation for Rare Diseases) zusammen mit anderen europäischen Allianzen z.B. dafür ein[setzen, H.G], 12 | Laclau/Mouffe (1991) haben in ihrer postmarxistischen Theorie des Politischen aufgezeigt, wie Organisationen heterogene Akteure, die auf Veränderungen im Politischen hinarbeiten, hinter sich versammeln und somit als gegenhegemoniales ›Sprachrohr‹ für jene fungieren. Durch diese strategische Kollektivierung besetzt die Organisation eine neue Diskursposition beispielsweise im Streit um Verteilungsgerechtigkeit – dies erhöht ihre Artikulations- und Machtchancen im politischen Raum.

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dass Seltene [sic!] Erkrankungen angemessen kodiert und klassifiziert werden« (ACHSE e.V. o.J. a).13 Machtbeziehungen werden von der Organisation verändert, indem sie Partner in einem politischen Netzwerk wird und sich dort als Stellvertretungsorgan positioniert (vgl. NAMSE 2013).14 Dies lässt sich beispielsweise an der ständigen Patientenvertretung ACHSEs im Unterausschuss für Arzneimittel im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ablesen: Hier ergibt sich die Möglichkeit, zumindest beratend auf Fragen wie die Nutzenbewertung von orphan drugs für eine Übernahme von Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung Einfluss zu nehmen. Die neue Wissenserzeugung und -verbreitung sowie die Beeinflussung medizinisch-politischer Machtstrukturen gelingen somit durch die Subjektivierung als Kollektivsubjekt im Modus der Repräsentation. Die Konstitution von ACHSE als Kollektivsubjekt wird durch politische Vertretung und Einwirkung auf medizinische Forschung ermöglicht. Dies wird bereits an dem Leitspruch ACHSEs deutlich: »Den Seltenen eine Stimme geben«. Diese Strategie der Repräsentation, die als performative Selbstbe-stimmung beschrieben werden kann, macht die einzelnen Betroffenen zu einem sich artikulierenden Kollektiv. Die Schirmherrin der Organisation, Luise Köhler, greift in ihrer Beschreibung des Anliegens der Organisation auf eine Erzählung zurück, welche die Repräsentation und Sichtbarmachung erst ermöglicht: »Das sind gar nicht so wenige [Betroffene]. Und das heißt, die einzelne Krankheit ist natürlich selten vertreten, aber das Phänomen eine seltene Krankheit zu haben, und damit ähnliche Probleme zu haben, die [sic!] ist gar nicht so selten« (ACHSE e.V. 2015).15 In Anschluss an die von Michel Foucault beeinflussten Sozialwissenschaftler Paul Rabinow (1992) und Nikolas Rose/Carlos Novas (2007) lässt sich jene kollektivierende Funktion von Organisationen im Gesundheitsbereich theoretisieren: Im Rahmen der Konzepte Biosozialität und biologische Bürgerschaft werden Krankheitsdiagnosen und die durch sie geprägten Lebensumstände als neue Identitätsfolien verstanden (vgl. auch Lemke 2013 und 2014; 13 | EURORDIS hatte einen wesentlichen Anteil an der Inkraftsetzung einer europäischen Verordnung zur Schaffung von Anreizen für die Entwicklung und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln, die für die Vorbeugung, Diagnose oder Behandlung von seltenen Erkrankungen bestimmt sind (vgl. EG Nr. 141/2000). 14 | Gründungsinstitutionen des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) sind das Bundesministerium für Gesundheit, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und ACHSE. 15 | Diese resignifizierende Erzählung der kollektiven Subjektivierung lässt sich auch im internationalen Kontext wiederfinden. Das Motto der US-amerikanischen National Organization for Rare Disorders (NORD) lautet »Alone we are rare, together we are strong« (NORD o.J.).

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Heath/Rapp/Taussig 2007). Diese Identitätskonstruktion ergibt sich nicht allein aus dem biomedizinischen Faktum der seltenen Erkrankung, sondern ist bedingt durch den sozialen Mechanismus des gegenseitigen Erfahrungsaustauschs und dem Gefühl, in einem sozialpolitischen Projekt engagiert zu sein. Diese Vernetzung der Einzelnen kann als basale, bereits politische Repräsentationspraktik verstanden werden, da sie die Bezugnahme auf das kollektive Subjekt ermöglicht: »[S]olidarity among the group members frequently is built on the common social experience of having been neglected by the mainstream of medical research as well as on the joint efforts to change this situation rather than on shared biological traits […]. This might be one of the main reasons why umbrella organizations such as the German ACHSE (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) covering a broad range of heterogeneous rare diseases appear to be quite successful in promoting among its member organizations a shared social and political identity of ›being rare‹.« (Wehling 2011: 79; Herv. i.O.)

Durch die gegenseitige Vernetzung wird nicht nur den Einzelnen geholfen, die hoffen, behandelbare Patienten zu werden, sondern sie ermöglicht auch die Herstellung eines Referenten, auf dessen claims die Politik reagieren kann. Durch diese Form der identifizierenden Repräsentation, dass Viele als selten gelten, soll die notwendige Inklusion in den medizinischen Diskurs- und Praxisbereich erreicht werden. Dies geht nicht in Opposition zum herrschenden medizinischen Diskurs, sondern muss als politischer Akteur in Koalition mit der Politik durchgesetzt werden. Ohne kollektive Subjektivierung durch Repräsentation blieben die Noch-nicht-Patienten tragische Waisen.

4. F a zit : A chsen der S ubjek tivierung und R epr äsentation Eine Untersuchung zur Entstehung und Wirkung kollektiver Subjekte im Schnittpunkt zwischen Medizin und Politik erweist sich auf der Phänomenebene als unübersichtlich, da sich die Anliegen, Strategien und Ziele je nach sachlichem und historischem Kontext stark unterscheiden. Eine Genealogie, welche die Entstehung von Patientenbewegungen und -organisationen als spezifische Formierungsgeschichten kollektiver Subjekte liest, kann aufzeigen, dass sie immer durch ein bestimmtes Gegenverhalten bestimmt sind, das die hegemoniale Ordnung des Krankheits- und Gesundheitsdiskurses aufzubrechen versucht: Während sich widerständige Patientenkollektive dem objektivierenden Krankheitsdiskurs zu entziehen versuchen, kritisieren neuere Patientenorganisationen implizit eine Gesundheitspolitik, die darauf angelegt ist, medizinische Versorgung allein durch eigenverantwortliches Handeln und Vorsorge zu gestalten – weil eben nicht allen Menschen damit geholfen

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ist. Der Anlass für die kollektive Subjektivierung ist jeweils einer spezifischen politischen Problematisierung zuzurechnen, die einen identifizierenden Zusammenschluss erfordert und auf deren Grundlage die politischen Ansprüche erhoben und bearbeitet werden. Die Konstitution von Patientenbewegungen und -organisationen läuft über die Produktion alternativer medizinischer Wissens- und Erfahrungsbestände und den Einsatz von Macht mit Mitteln des Widerstands oder der Vernetzungsarbeit. Repräsentation, so hat sich gezeigt, kommt in der Geschichte der kollektiven Patientensubjekte eine besonders wichtige Rolle zu: Sie erfüllt eine kritische Funktion, Patientinnen überhaupt als politische Kollektive wahrnehmbar zu machen und vermag die Umgestaltung diskursiver und praktischer Regeln im medizinisch-politischem Nexus anzustoßen. Kollektive Subjektivierung ist ohne repräsentierende Identifizierung nicht denkbar. Dabei ist die Berufung auf eine gemeinsame Identität, entweder als Angehörige einer größeren politischen Revolution oder als die sich Selbst-bestimmenden im Dienste des Überleben-Wollens, ein politischer Akt, der private Leiderfahrungen in den Mittelpunkt politischer Kämpfe rückt.

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Organisationen als Kollektivssubjekte

Die Subjektwerdungen der juristischen Person Subjektivierungstheoretische Überlegungen zur rechtlichen Personalisierung von Kollektiven Doris Schweitzer

Die juristische Person gehört anerkanntermaßen zu den Idealtypen der rechtlichen Personalisierung von Kollektiven.1 Gerade die Gleichstellung der korporativen Akteure mit den natürlichen Personen, d.h. ihre Anrufung als handlungsfähige Einheit, der subjektive Rechte und Pflichten zukommen, trug nach James S. Coleman (1986: 18ff.; 1979) wesentlich zum Aufstieg der formalen Organisationen als neue und vor allem gesellschaftsprägende korporative Akteure bei. Die heutige Gesellschaft sei eine durchorganisierte »Organisationsgesellschaft«, gekennzeichnet durch zunehmend asymmetrische Verhältnisse zwischen individuellen und kollektiven Akteuren (Coleman 1986: 33).2 1 | Trotz rechtstechnischer Ausdrücke wie »kollektives Arbeitsrecht« oder »Kollektivklage« etc. handelt es sich beim Ausdruck »Kollektivität« nicht um einen originären Rechtsbegriff (vgl. Teubner 1987). Das Recht kennt vielmehr sehr unterschiedliche Arten und Formen der Adressierung und damit der Konstituierung von Kollektivitäten – etwa Kollektivitätszuschreibungen wie im Antidiskriminierungsrecht oder kollektiven Handlungsformen wie im Versammlungsrecht. V.a. existieren eine Reihe von institutionalisierten Kollektivitätsformen wie Verein, Stiftung, GbR, OHG, KG, Genossenschaft, Partei, Verband usw., wobei jedoch nur ein Teil davon juristische Personen im (privat-) rechtstechnischen Sinne sind. Allerdings kann die juristische Person aufgrund ihrer positivrechtlichen Regelung als Idealtypus der Personifizierung von Kollektiven angesehen werden, werden doch andere rechtlich relevante Vereinigungen in Anlehnung wie Abgrenzung zu ihr bestimmt (zum rechtstechnischen und funktionslogischen Abgrenzungsproblem zur Gesamthand respektive Personengesellschaft als Auffangkategorie vgl. Raiser 1999). 2 | Nach Coleman, im Bereich der Organisationssoziologie einer der einflussreichsten Vertreter der Rational-Choice-Theorie, sind diese Verhältnisse nicht nur deshalb als asymmetrisch zu qualifizieren, da zwei verschiedene Akteurstypen aufeinandertref-

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Was könnte eine subjektivierungstheoretische Analyse der juristischen Person jenseits solcher Annahmen aufschließen? Worin liegt ihr Erkenntnisgewinn und wo ihre Grenze? Auf diese Fragen geben die folgenden Überlegungen einige thesenhafte Antworten. Zunächst zeigt sich – so die erste These –, dass die juristische Person in ihrer positivrechtlichen Ausformung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) der grundsätzlichen Anlage der Subjektivierungstheorie widerspricht (1). Daher muss man den Fokus verschieben und – so die zweite These –, Problematisierungsweisen der juristischen Person in den Blick nehmen (2). Diesem Gedanken folgend lassen sich – so die dritte These – zwei produktive Einsatzorte der Subjektivierungstheorie gegenüber der Organisationssoziologie markieren: der Kampf um die Anerkennung als Rechtssubjekt mit seinen Rückwirkungen auf die rechtliche Subjektivierungsweise sowie die Praktiken der Selbst- und Fremdanrufung der juristischen Person, in denen man Mechanismen wie z.B. eine zunehmende »Subjektwerdung durch Distanzierung« identifizieren kann (3).

1. D ie juristische P erson als P roblem der S ubjek tivierungstheorie Was ist eine juristische Person? Im rechtstechnischen Sinne ist sie ein Unterfall der Person – sie existiert im BGB, dem zentralen Ort ihrer positivrechtlichen Regelung (vgl. Damm 2002: 843), gleichberechtigt neben dem Menschen als natürliche Person (vgl. §§ 1ff.).3 Nach »herrschender Meinung« ist eine juristische Person eine zweckgebundene Organisation (eine Zusammenfassung von Personen oder Vermögen), der die Rechtsordnung Rechtsfähigkeit verlie-

fen. Vielmehr existiere regelmäßig ein ausgeprägtes Machtgefälle, da die korporativen Akteure sehr viel ressourcenstärker sind als die individuellen Akteure und deshalb die Austauschbeziehung einseitig zu ihren Gunsten ausgestalten können. In der Organisationsgesellschaft verlieren die Individuen immer mehr sozialen Einfluss an Organisationen und werden zudem abhängiger von diesen. Sie finden sich, mit Weber gesprochen, im »stahlharten Gehäuse der Hörigkeit« der Organisationen wieder – und sind dadurch neuen Risiken ausgesetzt (vgl. Coleman 1986: 113ff.; Schimank 2007). 3 | Die Regelungen im BGB zur Person beziehen sich jedoch in den §§ 1-13 nur rudimentär auf den Menschen sowie, seit der Schuldrechtsreform, auch auf den Verbraucher als natürliche Personen, im Übrigen überwiegend auf die juristische Person (§§ 21-89 BGB; der Unternehmer in § 14 BGB kann beides sein). Ein »allgemeines Personenrecht«, wie es als Grundlage des personenzentrierten modernen Rechts diskutiert wird, umfasst beide Personenarten (vgl. Damm 2002).

Die Subjektwerdungen der juristischen Person

hen hat (vgl. Anders 2012: 228f.; m.w.N.).4 Sie ist Trägerin von Rechten und Pflichten und führt unabhängig vom wechselnden Bestand ihrer Mitglieder eine selbständige rechtliche Existenz.5 Dementsprechend ist das Vermögen nicht den Mitgliedern oder Gesellschaftern, sondern der juristischen Person selbst zugeordnet. Für etwaige Schulden haftet nur die juristische Person, nicht ihre Mitglieder. Handlungsfähig ist die juristische Person in der Form, dass ihr die Handlungen ihrer Organe (z.B. Vorstand) zugerechnet werden. An diese Bestimmung schließt die Deliktsfähigkeit der juristischen Person an (vgl. § 31 BGB), d.h. sie kann für solche Handlungen zum zivilrechtlichen Schadensersatz verpflichtet werden. Allerdings wird im deutschen Recht – im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen – die Straf barkeit juristischer Personen im Sinne des Kriminalstrafrechts (noch) verneint (vgl. Böse 2014).6 Diese Bestimmungen zur Rechts-, Handlungs- und Deliktsfähigkeit der rechtlich selbständigen juristischen Person zeigen, dass sie – wie nicht zuletzt Coleman betont hatte – analog der natürlichen Person konstruiert ist. Und doch ist das subjektivierungstheoretische Problem bei der juristischen Person anders gelagert. Die Subjektivierungstheorie läuft gewissermaßen ins Leere, weil sie im Falle des Konzepts der juristischen Person zu keinem Erkenntnisgewinn führt. Die methodologischen Koordinaten dieser Forschungsperspektive wie Anrufung, Performanz und Iteration, Konstruktion und Kontingenz, paradoxale Zeitstruktur und Assemblage-Gedanke, die in Absetzung zu apriorischen Subjektvorstellungen entwickelt wurden, sind zu großen Teilen Gegenstand expliziter rechtlicher Regelungen – und daher nichts, was man erst mittels der Subjektivierungstheorie herausarbeiten könnte. Dafür finden sich sowohl rechtstheoretische, -dogmatische und justizielle Ansätze sowie positivrechtliche Festschreibungen. Das zeigt sich schon in dem bis heute ungeklärten Streit in der Rechtstheorie um das »Wesen der juristischen Person«. Vor der Positivierung des Zivilrechts standen sich im 19. Jahrhundert vor allem die herrschende roma4 | Die folgenden Bestimmungsversuche stehen unter dem Vorbehalt des juristischen Diskurses, für den charakteristisch ist, dass letztlich alles umstritten ist. Zu jeder Definition gibt es eine Menge anderer Ansätze, die als differente »Meinungen« nicht ausgeschlossen werden, sondern weiterhin nebeneinanderstehen. Diese verschiedenen Positionen werden (zumeist) in »herrschende Meinung« und »Mindermeinungen« eingeteilt, was jedoch jederzeit ein Re-Arrangement in der Hierarchie zulässt. Der juristische Diskurs entfaltet sich dementsprechend entlang anderer Mechanismen als ein Wahrheitsdiskurs (vgl. Schweitzer 2015). 5 | Das führt zu dem Folgeproblem, wie der Fall rechtlich zu behandeln ist, wenn etwa ein Verein oder eine Gesellschaft mitglieder- respektive gesellschafterlos werden. 6 | Straffähigkeit geht von Vorsatz und Schuld aus, deren Vorliegen die herrschende Meinung in der hiesigen Dogmatik für juristische Personen verneint (Laue 2010: 339f.).

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nistische Doktrin der »Fiktionstheorie« und die der germanistischen Genossenschaftstheorie entstammende »Theorie der realen Verbandspersönlichkeit« gegenüber, verbunden mit den Namen Friedrich Carl von Savigny und Otto von Gierke. Nach Savigny muss »der ursprüngliche Begriff der Person oder des Rechtssubjects zusammen fallen mit dem Begriff des Menschen« (Savigny 1840: 2). Daher komme die Rechtsfähigkeit auch nur den einzelnen Individuen zu. Bei den juristischen Personen könne es sich folglich nur um »künstliche, durch bloße Fiction angenommene Subjecte« handeln: »Ein solches Subject nennen wir eine juristische Person, d.h. eine Person welche blos zu juristischen Zwecken angenommen wird. In ihr finden wir einen Träger von Rechtsverhältnissen noch neben dem einzelnen Menschen« (ebd.: 236). Eine Fiktion muss konstruiert werden – nach Savigny ist hierfür die staatliche Anerkennung als juristische Person notwendig. Gierke gilt mit seiner Theorie der realen Verbandspersönlichkeit als einer der schärfsten Kritiker der romanistischen Fiktionstheorie. Ihm geht es explizit um die Frage, »welche Wirklichkeit diesem Rechtsphaenomen zu Grunde liegt« (Gierke 1902: 5). Für Gierke sind die menschlichen Verbandseinheiten in jedweder Form, also auch Kirche, Staat, Gemeinde, Verein bis hin zur Ehe, reale »lebendige Wesen« – und das Recht gibt dieser Wirklichkeit einen adäquaten Ausdruck: »Die organische Theorie betrachtet den Staat und die anderen Verbände als soziale Organismen. Sie behauptet also das Dasein von Gesammtorganismen, deren Theile die Menschen sind, über den Einzelorganismen« (ebd.: 13). Verbände sind für Gierke also realexistierende soziale Körper, die durch ihre Organe selbständig handeln (vgl. ebd.: 26f.). Da es sich also nicht um eine Konstruktion handele, bedürfe es auch keines staatlichen Aktes der Anerkennung, um sie zu gründen. Mit der Positivierung des Zivilrechts durch das BGB, das im Jahr 1900 in Kraft trat, und dem Erstarken des Rechtspositivismus geraten neue Bestimmungsversuche in den Vordergrund. Für Hans Kelsen entspricht weder die natürliche noch die juristische Person einer Realität. Die Begriffe »Rechtssubjekt«, »subjektives Recht« und »juristische Person« stellen seiner Auffassung nach mehr oder weniger entbehrliche Bezeichnungen von Komplexen innerhalb des Normengefüges Recht dar. Es handele sich in diesen Fällen um eine »von der Rechtswissenschaft geschaffene Konstruktion, ein[en] Hilfsbegriff in der Darstellung rechtlich relevanter Tatbestände« (Kelsen 2008: 178), der durch die Personifikation in verhältnismäßig einfacher Weise gewisse komplizierte Sachverhalte beschreibt.7 Die Vereinfachung besteht in der – letztlich 7 | Daher gilt für Kelsen: »In diesem Sinne ist die sogenannte physische Person eine juristische Person.« (Kelsen 2008: 178) Sowohl für die natürliche, d.h. bei Kelsen: physische, Person als auch für die juristische Person gilt: »Die physische oder juristische Person […] ist diese Rechtspflichten und subjektiven Rechte, ist ein Komplex von

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kontingenten – Konstruktion einer Einheit, der Rechte, Pflichten und Handlungen zugeschrieben werden können. Diese drei Auffassungen markieren die Eckpunkte einer juristischen Debatte: Die Diskussion um das »Wesen der juristischen Person« bewegt sich zwischen den Polen Fiktion, Repräsentation der Realität und Konstruktion.8 Auf rechtstheoretischer Ebene bildet die Problematisierung des konstruktivistischen und kontingenten Charakters einer solchen Person den Ausgangspunkt jeglicher Bestimmungsversuche – selbst wenn man sich mit Gierke dagegen entscheiden würde (was jedoch in dieser strengen Form im rechtswissenschaftlichen Diskurs nicht mehr geschieht). Dass die juristische Person als (Rechts-)Subjekt erst im Rahmen seiner Anrufung performativ hervorgebracht wird, zeigt aber auch jenseits der Rechtstheorie die Notwendigkeit eines behördlichen Aktes der Anerkennung wie etwa der Registereintragung, um die personenkonstitutive Rechtsfähigkeit zu erlangen (z.B. § 21 BGB).9 Rechtssubjektivität wird zugewiesen, indem ein Zusammenschluss als juristische Person angerufen wird. Dieser heteronome Akt führt zur rechtlichen Autonomie, wobei er nur angesichts von privatautonomen Zusammenschlüssen zur Existenz gelangen kann. Die Probleme einer solchen performativen Hervorbringung der juristischen Person, die nicht auf ein apriorisches Subjekt verweisen kann und daher eine paradoxale Zeitstruktur aufweist (vgl. Bröckling 2007: 27), werden im juristischen Kontext anhand der Phänomene der Vorgründungs- und Vorgesellschaften diskutiert. Denn deren Problematik basiert auf der Differenz zwischen einem wie immer rechtlich zu qualifizierenden »schon Existieren« und dem »noch nicht Existieren« der juristischen Person (vgl. Kießling 1999).10 Auch der Assemblage-Gedanke, d.h. die Grundannahme, dass man das Subjekt nicht als homogene Einheit, sondern als einen je historisch-spezifiRechtspflichten und subjektiven Rechten, deren Einheit im Begriff der Person figürlich zum Ausdruck kommt. Die Person ist nur die Personifikation dieser Einheit« (ebd.: 177; Herv. i.O.). 8 | Gierke konnte sich mit seiner Theorie der »realen Verbandspersönlichkeit« nicht durchsetzen, weder auf rechtstheoretischer noch auf gesetzgeberischer Ebene. Das ändert jedoch nichts daran, dass er bis heute einen zentralen Bezugspunkt in der Debatte um die juristische Person darstellt, bringt er doch mit aller Macht das Problem des Realitätsbezugs der rechtlichen Regelungen ins Spiel. 9 | Auch im Fall der natürlichen Person wird im rechtswissenschaftlichen Diskurs die Position vertreten, dass sie für die Erlangung der Rechtsfähigkeit ebenfalls eines Aktes der Zuerkennung bedarf (Lehmann 2007: 227ff.; m.w.N.). 10 | Als Vorgründungsgesellschaft wird die Personenvereinigung vor Unterzeichnung des Gesellschaftsvertrags bezeichnet, als Vorgesellschaft diejenige nach Unterzeichnung, aber vor Eintragung ins Register.

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schen Kreuzungspunkt, eine Verknüpfung bzw. ein Gefüge heterogener Elemente begreifen muss (vgl. Serres 1998: 418; Deleuze/Guattari 1992: 18, 59ff.), hat eine rechtliche Entsprechung: Gerade die Tatsache, dass bei der juristischen Person nicht nur ihr Außenverhältnis zu Dritten rechtlich geregelt ist, sondern ebenso das Innenverhältnis in den Beziehungen der Gesellschafter und Gesellschafterinnen oder der Mitglieder untereinander, zeigt, dass die juristische Person gerade nicht als ein homogenes Ganzes aufgefasst werden kann.11 Auch ihre temporäre Formation ohne dauerhafte feste Gestalt, die ReArrangements der Assemblagen ermöglicht, ist positivrechtlich ausgestaltet: Das Umwandlungsgesetz (UmwG) regelt seit 1995 nun zentral die Möglichkeiten der Unternehmensumstrukturierung wie Verschmelzung, Spaltung, Vermögensübertragung oder auch grundsätzlichen Formwandel (vgl. Raiser 1994). Die Freiheit in der Wahl der rechtlichen Struktur beschränkt sich also nicht nur auf die Phase der Gründung einer juristischen Person, sondern besteht ebenso danach. Kontingenz gehört zum Merkmal einer solchen Person (vgl. Haar 2006) – selbst wenn diese durch die rechtliche Einhegung, z.B. Typenbildung, begrenzt ist. Schließlich findet man den Iterationsgedanken, die Notwendigkeit des doing der juristischen Person, im Recht wieder. Zahlreiche Rechtsvorschriften beziehen sich auf die immer wieder vorzunehmenden Handlungen, in denen die juristische Person angerufen werden muss (z.B. Mitgliederversammlung, Rechenschaftsbericht etc.). Wenn die Unhintergehbarkeit des doing ebenso unhintergehbar die Möglichkeit eines undoing birgt, dann liegt dies jedem rechtlichen Konflikt über die juristische Person zugrunde. Zum Streitfall werden gerade diejenigen Konstellationen, die den vorgegebenen oder angenommenen Regelungen der recht- und ordnungsmäßigen Betätigung nicht entsprechen. Dieser Blick auf die juristische Person durch die Brille der Subjektivierungstheorie zeigt zweierlei: Erstens kann man durch »einfache« Übertragung der subjektivierungstheoretischen Koordinaten auf die juristische Person nicht unbedingt mehr erkennen, als bereits das Recht anbietet. Auch wenn Anrufung, Assemblage- und Iterationsgedanken etc. im Rahmen der Subjektivierungstheorie andere Herleitungen und (insbesondere machtkritische) Konnotationen besitzen, erweist sich die allzu große strukturelle Nähe der juristischen Person zu diesen Grundkoordinaten des Subjekts der Subjektivierungstheorie als Problem. Denn das bedeutet zweitens, dass die oben erwähnte Absetzung der Subjektivierungstheorie vom philosophischen Verständnis des autonomen Subjekts für das Konzept der juristischen Person keine Rolle spielt. Wenn sich aber die juristische Person dieser Konfrontation widersetzt, dann ist der »kritische Mehrwert« einer solchen Analyse in Frage zu stellen. 11 | Die juristische Person erscheint dementsprechend im juristischen Diskurs auch als »organisierte Rechtsperson« (vgl. John 1977).

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2. P roblematisierungsweisen der juristischen P erson Daher muss der Fokus verschoben werden. Ein Mehrwert zeigt sich erst dann, wenn man die Subjektivierung der juristischen Person entlang ihrer grundsätzlichen Problematisierungen (Foucault 2005) auf ihr Wechselspiel und Spannungsverhältnis mit dem individuellen Subjekt hin befragt.12 Die juristischen Debatten über die Frage nach dem »Wesen der juristischen Person« seit Beginn des 19. Jahrhunderts eint eine spezifische Problematisierungsweise: Egal ob man sie als »Fiktion« (Savigny), als Abbildung einer »realen Verbandspersönlichkeit« (Gierke), als »juristische Hilfskonstruktion« (Kelsen), soziologisch informiert als »Realfiktion« (Teubner 1987) oder, wie heutzutage in Rechtsprechung und Literatur herrschend, als »zweckgebundene Organisation« fasst, es geht immer um die Frage des zulässigen Akteurs im Recht. Jeder Blick in die Rechtsgeschichte offenbart den historisch-kontingenten Charakter der Akteurskategorie Person (vgl. Pottage/Mundy 2004): Nicht alle Zusammenschlüsse oder Einheiten erhalten den Status einer natürlichen oder juristischen Person. Was als Person anerkannt wird, ist historisch variabel (so zählten etwa einst Tiere, Dinge und Götter zu rechtlichen Akteuren). Insbesondere handelt es sich aber um eine umkämpfte Kategorie, wird darüber doch der rechtliche Einschluss und zugleich der Ausschluss über die (z.T. hierarchisierte) Zuweisung von rechtlich geschützten, klagbaren Positionen verhandelt (vgl. Arndt/Gruber 2017; mit Blick auf die juristische Person Türk et al. 2006: 141ff.). Diesen Punkt kann man auch im 19. Jahrhundert in der Debatte um das »Wesen der juristischen Person« erkennen: Wie der Rechtshistoriker Jan Schröder nachzeichnet, ging es Savigny und der Mehrzahl seiner Gefolgsleute nicht primär um ein dogmatisches Problem, sondern um die Abwehr der freien Assoziationsbildung als Bedrohung der ständischen Ordnung. Die erforderliche Kontrolle über Verbände wird über das Erfordernis der staatlichen Anerkennung in der Fiktionstheorie gewährleistet (Schröder 1982-1983: 423ff.). Die Debatten um ihr »Wesen« machen aber noch eine weitere Problematisierungsweise der juristischen Person deutlich. Sie entspinnt sich anhand der Tatsache, dass es zwei Akteure im Recht gibt, zwei mögliche Rechtssubjekte bzw. »Adressen« (Fuchs 1997): die natürliche und die juristische Person. Dies wurde mit der Positivierung des Zivilrechts im BGB rechtlich festgeschrieben. 12 | Anders als in den systemtheoretischen Ansätzen – vor allem in den Arbeiten von Gunter Teubner zur juristischen Person und zu Korporationen (vgl. Teubner 1987, 1991, 2010) – geht es also weniger um die Funktionsweise der juristischen (bzw. auch natürlichen) Person im Recht, als vielmehr um die Frage nach der Semantik der Person. Insofern könnte man auch sagen: Es geht nicht primär um eine rechtssoziologische Analyse, sondern um eine soziologische Analyse der Subjektivierungsweisen im und durch das Recht.

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Das Rechtssubjekt ist immer schon verdoppelt und die Subjekttypen sind nach ihrer Anlage nicht aufeinander rückführbar. Denn die Anerkennung als juristische Person bedeutet die rechtliche Verselbstständigung gegenüber den Menschen als natürliche Personen. Angesichts dieser Verdopplung rechtlicher Akteure zeigt sich: Im Streit um das »Wesen der juristischen Person« geht es um das spezifische Verhältnis der beiden Subjekttypen zueinander. Denn keine der juristischen Begründungstheorien kommt ohne eine Rückbindung der juristischen Person an den Subjekttypus der natürlichen Person aus. Savigny leitet die juristische Person von der natürlichen Person ab, und zwar über die Fiktion als eine juristische Technik, mittels derer die auf den Menschen bezogenen Rechtsnormen über ihren ursprünglichen Zweck hinaus ausgedehnt werden.13 Gierke wiederum fragt nur nach dem »Wesen der menschlichen Verbände« (Gierke 1902). Und bei Kelsen, für den sowohl die natürliche als auch die juristische Person reine Konstruktionen sind, erfolgt eine Rückbindung an den Menschen über den Normbegriff, da rechtliche Normen sich für ihn auf die Steuerung des menschlichen Verhaltens richten (vgl. Kelsen 2008: 177f.). In dieser Rückbindung des Rechtssubjekts an den Menschen wird der Anthropozentrismus der Rechtsordnung gesehen, der auch daran zu erkennen ist, dass die juristische Person in Analogie zur natürlichen Person konstruiert wird (s.o.).14 Und wenn nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz (GG) die Geltung der Grundrechte für (inländische) juristische Personen festgelegt wird,15 »soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind«, so wird diese »Wesensbestimmung« anhand des Kriteriums des personales Substrats, und d.h. des Bezugs zu menschlichen Subjekten festgestellt.16 13 | Diese Fiktion unterliegt einer doppelten Begrenzung: Erstens gibt es für Savigny juristische Personen nur im Privatrecht. Und zweitens sind diese aufgrund ihres »Wesens« auf Vermögensverhältnisse zu beschränken. Eine Reihe von Rechten, die dem Menschen zukommen, steht der juristischen Person also gar nicht zu (vgl. Savigny 1840: 239). Die juristische Person ist sozusagen ein minderbemitteltes Subjekt. 14 | In diesem Anthropozentrismus scheint zugleich der Grund dafür zu liegen, dass sich die Kritik der subjektiven Rechte ausschließlich auf die Rechte individueller Menschen konzentriert, vgl. jüngst Menke 2015; kritisch hierzu aus systemtheoretischer Sicht mit dem Blick auf die juristische Person Teubner 1987. 15 | Dabei wird der Begriff der »juristischen Person« in Art. 19 Abs. 2 GG weiter gefasst als im BGB und meint hier nicht nur vollrechtsfähige, sondern auch teilrechtsfähige Personenvereinigungen. 16 | Ein personales Substrat, das eine Einbeziehung der juristischen Person in den Schutzbereich des Grundrechtes rechtfertigt, ist erkennbar, wenn die »Bildung und Betätigung« der juristischen Person »Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der ›Durchgriff‹ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll oder erforderlich erscheinen läßt« (BVerfG 1967:

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Angesichts einer solchen Diskurslage, welche die beiden Subjekttypen im Recht in ein Wechselverhältnis stellt, kann das Problem der juristischen Person nicht unabhängig von dem des menschlichen Subjekts behandelt werden. Anders formuliert: Was immer man in den Untersuchungen über die juristische Person zu Tage fördert, hat Rückwirkungen auf das generelle Subjektverständnis im und durch das Recht – und damit auch auf die rechtliche Subjektivierungsweise individueller menschlicher Subjekte. Und das liegt nicht daran, dass dabei das Verhältnis von Individuum und Kollektiv verhandelt würde, sondern an der Rückbindung der juristischen Person als nichtindividual-menschlichen Akteur an die Subjektkategorie mittels der Zuschreibung von subjektiven Rechten.17

3. D ie juristische P erson – subjek tivierungstheore tisch gelesen In dieser Diskurslage, die das Problem des Subjekts in den Vordergrund rückt, ist das Potential einer subjektivierungsanalytischen Perspektive auf die juristische Person zu suchen. Entlang der beiden Problematisierungsweisen der juristischen Person, die sich mit dem Kampf um Anerkennung als Rechtssubjekt wie mit der Rückwirkung dieser Anerkennung auf die rechtliche Subjektivierungsweise auseinandersetzen, lassen sich zwei Felder markieren, in denen die Subjektivierungstheorie durch ihre Perspektivverschiebungen einen Mehrwert gegenüber organisationssoziologischen Ansätzen liefern kann.

3.1 Umkämpfte Rechtssubjektivität Im ersten Feld fällt der analytische Blick auf das Problem der Rechtssubjektivität. Denn wer oder was als ein solches Rechtssubjekt anerkannt wird, werden soll und kann, ist gegenwärtig im Wandel begriffen. So wird auf justizieller wie gesetzgeberischer Ebene mittlerweile auch Primaten oder Flüssen Rechtssubjektivität zugesprochen (vgl. Werning 2014; Shuttleworth 2012). In den 600). Weite Teile der Literatur stellen demgegenüber auf eine grundrechtstypische Gefährdungslage ab, was vom BVerfG aufgegriffen, aber ebenfalls nach dem Kriterium des personalen Substrats beurteilt wurde (vgl. Pieroth et al. 2015: 46). In den Bestimmungsversuchen steht in jeder Version die Orientierung an der menschlichen, d.h. natürlichen Person im Vordergrund. 17 | Um ein kurzes Beispiel zur Verdeutlichung zu geben: Wenn es mittlerweile möglich ist, eine Einmann-GmbH zu gründen, ist es damit dem individuellen Subjekt wie anderen möglich, das individuelle Selbst sowohl als natürliche als auch als juristische Person anzurufen.

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Rechtswissenschaften wird angesichts neuer technischer, wissenschaftlicher und ökologischer Phänomene und Problemlagen diskutiert, inwiefern und anhand welcher Kriterien man generell anderen Entitäten als Menschen subjektive Rechte zuerkennen könne (vgl. etwa Stone 1974; Teubner 2006; Matthias 2008; Karavas 2017).18 Aber auch auf der Ebene der juristischen Person, d.h. der rechtlich geregelten Kollektive, sind Transformationen auszumachen: Seit den 1970er Jahren mehren sich angesichts der Problematik des Schutzes von Minderheiten die Kämpfe um rechtliche Anerkennung als (menschliche) Kollektive, die u.a. zu einer zunehmenden Anerkennung kollektiver Menschenrechte (als sogenannte Menschenrechte der dritten Generation) geführt haben (vgl. Pritchard 2001: 221f.) und etwa in der UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker (UNDRIP, A/RES/61/295) aus dem Jahr 2007 ihren Ausdruck fanden (vgl. Bennani 2015).19 Dementsprechend bezieht sich der Kampf nun auch konkret auf die Rechte, die aus dieser Anerkennung erwachsen. Die Ambivalenz solcher neuer, mit Rechten ausgestatteten Rechtskategorien wie etwa der der »indigenen Völker« (siehe bereits die Indigenous and Tribal Peoples Convention, 1989 [No. 169]) besteht darin, dass sie einerseits Widerstand gegen den Druck zur Assimilation ermöglichen, andererseits aber die Subjekte in Gruppierungslogiken zwingen, die aus der westlich-kolonialen Differenz von indigen/nicht-indigen entstanden sind (Swazo 2005: 572; Belina/Miggelbrink 2012: 193). Kollektive Subjektivierung kann hier sowohl als Zurichtung als auch als Widerstand gegen Zurichtungsanstrengungen individueller wie kollektiver Subjekte gelesen werden. Der Blick wird damit nicht wie in der Or18 | Gerade hier zeigen sich auch die oben angesprochenen Rückwirkungen der juristischen Person auf das Subjektverständnis im Recht, werden doch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion in Deutschland vor allem zwei ihrer Elemente angeführt, um die dogmatische Möglichkeit einer solchen Entgrenzung der Rechtssubjektivität zu begründen: Zum einen wird darauf verwiesen, dass im Fall der im BGB als juristische Person geregelten Stiftung der Rechtsträger des subjektiven Rechts gerade nicht ein menschlicher Zusammenschluss, sondern die Vermögensmasse ist. Die Zuteilung an nicht-menschliche Akteure oder Akteursgesamtheiten sei also nicht neu. Zudem erweise sich das erforderliche personale Substrat als möglicher dogmatischer Anknüpfungspunkt einer erweiterten Verleihung von Rechtssubjektivität, da es bei diesem Kriterium nicht um die Frage gehe, wer oder was ein subjektives Recht innehabe, sondern wem es zugutekomme (vgl. Kersten 2015). Die juristische Person kann in dieser Hinsicht als Referenzpunkt einer Transformation der subjektiven Rechte angesehen werden. 19 | In historischer Perspektive spielt auch im Bereich des Minderheitenschutzes der rechtstechnische Begriff der juristischen Person eine Rolle: Ende des Ersten Weltkriegs fordern die Austromarxisten Karl Renner und Otto Bauer zu diesem Zweck die Anerkennung der nationalen Minderheiten als Personalverbände respektive Körperschaften (vgl. hierzu Sandner 2002).

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ganisationssoziologie primär auf die interne Struktur und die Strukturdynamik des Kollektivakteurs gerichtet, um dann das Individuum dem Kollektiv gegenüberzustellen (vgl. Preisendörfer 2016: 1ff., 177ff.; m.w.N.).20 Aus subjektivierungsanalytischer Sicht würde der Fokus vielmehr auf der Verschränkung individueller wie kollektiver Subjektivierungsbemühungen liegen. Gefragt würde nach den Praktiken der Mobilisierung kollektiver Subjekte, den Techniken und Verfahren der entsprechenden rechtlichen bzw. rechtlich relevanten Fremd- und Selbstanrufungen, den Ambivalenzen und Paradoxien dieser Subjektivierung sowie nach den nicht nur repressiven, sondern auch produktiven Effekten solcher juristischer Personifizierungen. Gefragt würde aber insbesondere auch nach den Rückwirkungen der Kämpfe um Anerkennung als juristische Person auf die Kategorie des Rechtssubjekts, d.h. nach dem Subjekt im Recht und des Rechts und damit nach der spezifisch rechtlichen Subjektivierungsweise. Man kann für diese Perspektive auch ein kurzes Beispiel anführen: Dass dem neuseeländischen WhanganuiRiver eine eigene Rechtssubjektivität zugesprochen wurde, ist Resultat der Kämpfe um Kollektivrechte der am Fluss ansiedelnden Whanganui Iwi. Das Problem der Rechtsträgerschaft entzündete sich an dem Umstand, dass die Iwi das Verhältnis zum Flussgebiet nicht in der Terminologie des westlichen Eigentums fassen: Das durch den Fluss markierte Territorium ist nicht Eigentum der Iwi, vielmehr ›gehören‹ sie dem Fluss, was bedeutet, dass sie Pflichten und Verantwortung gegenüber dem Whanganui-River haben. Entsprechende kollektive Schutzrechte der Iwi können nicht über ihr Eigentum geklärt werden (Tobin 2016: 139). Aus diesem Grund wurde dem Whanganui-River eine Rechtssubjektivität als »Te Awa Tupua«, d.h. als ein »integrated living whole from the mountains to the sea […] which is intrinsically connected to the Iwi« (ebd.), verliehen und die Iwi wurden – im Verbund mit staatlichen Behörden – als Wahrer der Rechte des Flusses bestimmt. Die Schwierigkeiten, sich mit ihrem Anliegen in den westlichen Kategorien der subjektiven Rechte zu verorten, führten also zu der Anerkennung eines neuen Rechtssubjekts. Der Kampf um Anerkennung als rechtliches bzw. rechtlich geschütztes Kollektivsubjekt zeitigt hier Rückwirkungen auf das Subjekt der subjektiven Rechte. Und genau das vermag eine subjektivierungsanalytische Perspektive auf die Kämpfe um Anerkennung als juristische Person herauszuarbeiten.

20 | Allerdings kann auf dieser Ebene eine an Foucault orientierte Gouvernementalitätsperspektive – wie Lars Gertenbach zeigt – einen organisationalen Formwandel hin zu Mechanismen indirekter Steuerung und »weicher Führung« in den Blick nehmen (Gertenbach 2013: 163; s.a. McKinlay/Starkey 1998).

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3.2 Subjektwerdung durch Distanzierung Der zweite Einsatzort der Subjektivierungstheorie liegt in der Analyse der Praktiken und Techniken der Selbstanrufung der juristischen Person und der kollektiven Selbstsorge, mit denen sich Gruppen oder Organisationen auf sich selbst beziehen. Denn in diesem Bereich legen gegenwärtige Entwicklungen die Vermutung nahe, dass über die Problematisierung des Verhältnisses von juristischer und natürlicher Person ein Wandel im Rechtssubjekt zu erkennen ist, der seinen Grund gerade in den Mechanismen der Subjektivierung hat. Auch für diese Annahme ein Beispiel: Die Theorien der juristischen Person gehen idealtypisch davon aus, dass sich natürliche Personen zu einer juristischen Person zusammenschließen. Aufgrund der Verdopplung des Rechtssubjekts müssen aber die gründenden Personen rechtstechnisch gesehen keine natürlichen Personen sein. Gesellschafter einer juristischen Person können auch andere juristische Personen oder Personengesellschaften sein. Das ist ein gängiges Phänomen nicht nur im Bereich transnationaler Unternehmen (vgl. Türk et al. 2006: 261f.),21 aber gerade in den komplexen und dezentralen Konzernstrukturen »globaler Unternehmensnetzwerke« wird man nicht auf natürliche Personen treffen. Die juristischen Personen (und Personenvereinigungen) rufen sich vielmehr gegenseitig in ihren Eigenschaften als juristische Personen an, um neue juristische abgesicherte Kollektivpositionen zu gründen. Denn sie können Handlungsmöglichkeiten einsetzen, z.B. Fusion oder Verschmelzung, Umwandlung oder Auslagerung, die natürliche Personen nicht haben. Zudem wird der Aktionsradius ausgeweitet: In der Bildung von transnationalen Konzernen entledigen sich die juristischen Personen in bestimmten Bereichen der nationalstaatlichen Bindung (bzw. wird diese zu einer Frage der Wahl etwa des Unternehmenssitzes).22 Schließlich beruft man sich auf die Entkopplung von der individuellen Handlungsverantwortlichkeit, die in den Haftungsbeschränkungen verankert ist und, wie die Debatten um die Straffähigkeit der juristischen Person zeigen, zu Schwierigkeiten in der Re-Personalisierung einer solchen Verantwortlichkeit führt.23 Das alles zu21 | Dies spiegelt sich in der Ausdifferenzierung des Konzernrechts als spezielle Rechtsmaterie wider (statt vieler s. Kuhlmann/Ahnis 2010). 22 | Folge ist eine zunehmende Autonomisierung der Unternehmen, die in rechtlicher Hinsicht insbesondere durch eine auf den Weltmarkt gerichteten »neo-liberalen Konstitutionalisierungswelle« auf supra-, inter- und transnationaler Ebene begünstigt wurde (vgl. Teubner 2010: S. 1454). 23 | Auf der Ebene der Haftungsbeschränkungen betrifft das den Durchgriff sowohl auf natürliche Personen als auch auf andere Unternehmen im Konzernverbund. Zur kollisionsrechtlichen Problematik der Haftungszurechnung im Internationalen Privatrecht vgl. etwa Schohe 1988.

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sammengenommen ergibt eine Logik der flexiblen Kombinatorik (vgl. Teubner 1991), die sich jenseits der natürlichen Personen bewegt. Dies machen sich juristische Personen in ihrer Selbstanrufung als juristische Person zunutze. Neue Kollektivpositionen werden zunehmend nicht von natürlichen Personen abgeleitet, worin man Praktiken der Verselbstständigung und Distanzierung gegenüber den menschlichen Individualakteuren erkennen kann. Gleichzeitig geraten transnationale Konzerne zunehmend in Kritik – sie werden als die für Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen und gesellschaftliche Spaltung verantwortlichen Akteure adressiert (vgl. Kaleck/Saage-Maaß 2016; zur organisationskritischen Bewegung in den USA s. Matys 2012). Eine effektive nationalstaatliche bzw. überstaatliche Regulierung dieser Kollektivpositionen scheiterte nicht zuletzt am massiven Widerstand der transnationalen Unternehmen (vgl. Teubner 2010: 1449). Allerdings reagierten und reagieren die Unternehmen auf diese Adressierung als verantwortlicher Akteur mit spezifisch rechtlichen Mitteln: Sie erlassen sogenannte Corporate Codes of Conduct (CCC; vgl. zum folgenden Teubner 2005, 2010).24 Das sind »freiwillige« Verhaltenscodices für transnationale Unternehmen, welche eine Selbstregulierung des eigenen Verhaltens insbesondere im Bereich des Umweltschutzes sowie der Arbeits- und Produktionsbedingungen darstellen. Diskutiert wird angesichts dieses Phänomens die rechtswissenschaftlich und rechtssoziologisch relevante Frage, ob die CCCs als »soft-law«, d.h. als Regelungen ohne staatliche Durchsetzungsinstanz, als Recht, Nicht-Recht oder Quasi-Recht zu qualifizieren sind (vgl. Herberg 2001, 2005), ob es sich bei ihnen um ein Managementinstrument (Matje 1996) oder nur um Greenwashing-Strategien und rein symbolische Rechtssetzungen der Unternehmen handelt (vgl. Greer/Bruno 1996; Doane 2005). Ebenso steht zur Debatte, ob die CCCs letztlich folgenlos bleiben oder doch Verbesserungen bewirken (vgl. Dilling et al. 2008). Jenseits dieser Fragen richtet eine subjektivierungstheoretische Analyse den Blick auf die Art und Weise der Selbstanrufung der juristischen Person in und durch die CCCs. In dieser Perspektive könnte man dann eine gegenläufige Tendenz zu der oben beschriebenen fortschreitenden Distanzierung der juristischen Person vom menschlichen Subjekt erkennen: Die BASF z.B. beschreibt sich selbst als ein Konzern, der wirtschaftlichen Erfolg »mit gesellschaftlicher 24 | Gleichzeitig etablierte die Staatenwelt eine Reihe solcher Codes (z.B. der UN Draft Code on Transnational Corporations, die UN Draft Norms on Business and Human Rights, die OECD Guidelines for Multinational Enterprises und die ILO Tripartite Declaration of Principles Concerning Multinational Enterprises and Social Policy), die eine – in der Regel rechtlich nicht durchsetzbare – Verhaltensempfehlung formulieren (vgl. Teubner 2010: 1450). Da hier die Mechanismen der Selbstanrufung der juristischen Person im Vordergrund stehen, werde ich mich auf die »privaten« CCCs konzentrieren.

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Verantwortung und dem Schutz der Umwelt« verbindet (BASF 2016a: 3). Das Unternehmen fühlt sich dabei nicht nur den rechtlichen Vorschriften, sondern auch der Einhaltung »ethischer Grundsätze strengstens verpflichtet« (ebd.). Es ruft sich explizit als einheitliches Subjekt, als »ein Unternehmen« (ebd.; Herv. i.O.) an, das zentralen Werten wie »Kreativ – Offen – Verantwortungsvoll – Unternehmerisch« verpflichtet ist und dessen »Integrität« und »Reputation« zur Debatte steht (ebd.: 3, 5). Es ist die BASF selbst, die sich »für die Abschaffung jeglicher Form von Kinder- und Zwangsarbeit, das Prinzip der Nichtdiskriminierung, die Anerkennung der Vereinigungsfreiheit« etc. einsetzt (ebd.: 8). Das Unternehmen übernimmt »wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Verantwortung« (ebd.: 9) im Rahmen der Nachhaltigkeit und »engagiert sich intensiv für die Bekämpfung von Korruption jedweder Art« (ebd.: 12). All diese Beispiele aus der öffentlich abgegebenen Selbstverpflichtungserklärung der BASF zeigen, dass sich das Unternehmen selbst als ein verantwortliches Subjekt in der gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklung anruft. Diese Selbstadressierung wird durch die gewählte Form der Verhaltensregulierung noch bestärkt: Sie erfolgt durch öffentlich kundgegebene Verrechtlichung – allerdings nicht durch externe, sondern durch interne Regelsetzung. BASF ist die Instanz, die »eine[n] globalen Verhaltenskodex« (ebd.: 3; Herv. i.O.) für ihre Mitarbeiter verfasst – sie hat den Status, auf diese Art und Weise verbindlich zu sprechen. Das Unternehmen und nicht der Staat oder die Staatengemeinschaft tritt dem Einzelnen gegenüber, um solche Normen festzuschreiben. In dieser Form wird ein Konzern auch wieder seitens des Rechts adressierbar – wenn CCCs selbst zum Gegenstand rechtlicher Regulierung oder eines Rechtsstreits werden bzw. darin rechtliche Effekte zeitigen (vgl. Sobczak 2006). Vor allem aber zeigen die zitierten Passagen, dass sich BASF als ein moralisches Subjekt anruft. Die BASF verkörpert Werte und ethische Grundsätze, besitzt eine eigene Integrität und handelt verantwortlich, indem sie »sich selbst« verpflichtet. Das »Selbst« des Unternehmens steht im Vordergrund. Hier kann man Formen einer »Pragmatik des Selbst« sowie Dynamiken einer Subjektivierung erkennen, die sich anhand moralischer Kriterien des Individuums konstituiert und entfaltet. Wenn die BASF etwa betont, dass ihre zentralen Werte immer eine »Herausforderung« bleiben, die man »ständig fördern und weiterentwickeln« müsse (BASF 2016a: 3), wenn sie sich den moralischen Vorgaben der nachhaltigen Zukunftssicherung durch spezifische Praktiken und Verfahren der Selbstkontrolle unterwirft (vgl. BASF 2016b), zeigt sich dann auch der Sog der Subjektivierung, der aus der Verbindung eines »immer schon« mit einem »noch nicht« resultiert. Die Distanzierung der juristischen Person von menschlichen Subjekten mündet hier in eine zunehmende Subjektwerdung der kollektiven Akteu-

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re – jenseits des Individualsubjekts, aber nun mit der von diesem vertrauten moralischen Aufladung. Man könnte auch sagen: »Subjektwerdung durch Distanzierung«. Gerade solche Mechanismen und Dynamiken kann eine subjektivierungstheoretische Analyse gegenüber den Ansätzen der Systemtheorie in der Rechtssoziologie, der Organisations- und Gruppensoziologie, der Sozialpsychologie oder der Managementtheorie erkennbar machen. Die hier nur stichwortartig angeführten Beispiele verdeutlichen, dass der besondere Einsatz der Subjektivierungstheorie für die Analyse der juristischen Person in ihrem Fokus auf die Subjektproblematik liegt. Das gilt allerdings nur, wenn man nicht auf die Personifizierung eines Kollektivs abstellt, sondern wenn man die spezifischen Problematisierungsweisen der juristischen Person in den Blick nimmt: den Kampf um Anerkennung als Rechtssubjekt sowie die Rückwirkung dieser Anerkennung auf die rechtliche Subjektivierungsweise, anhand derer man in der Folge spezifische Mechanismen der Subjektivierung juristischer Personen erkennen kann.

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We Are Family? Anrufungen organisationaler Gemeinschaft zwischen Unterwerfung und Emanzipation Ronald Hartz

1. E inleitung In der kritischen Management- und Organisationsforschung nimmt die Auseinandersetzung mit dem Werk Michel Foucaults einen prominenten Platz ein. Die von Foucault aufgeworfene Frage nach dem »Subjekt« wurde dabei im Sinne eines wechselseitigen Prozesses der Subjektivierung und Organisierung und insbesondere eines »manufacturing of subjectivity« thematisiert. Trotz des grundlegenden Rekurses auf ein Verständnis von Subjektivierung, welches zugleich die Unterordnung unter Machtmechanismen als auch das Werden als Subjekt (und damit eine grundsätzliche Handlungsfähigkeit) umfasst (Butler 2001), dominiert eine eher an Althusser (2010) gemahnende Sichtweise, welche Subjektivierung aus der Perspektive der Anrufung durch Organisationen diskutiert und das solchermaßen subjektivierte Individuum als in letzter Instanz durch die Organisation ›fabriziertes‹ und ›unterworfenes‹ Subjekt thematisiert. Auf der Rückseite dieses Befundes werden dem Subjekt dann wiederum begrenzte Widerstandsmöglichkeiten zugesprochen. Der folgende Beitrag nimmt zum einen diese Linie der Foucault-Rezeption anhand der näheren Betrachtung ausgewählter managerialer Vergemeinschaftungskonzepte auf. Organisationen und die in Ihnen tätigen Individuen werden in diesen Konzepten und den damit verbundenen Praktiken als (Schicksals-) Gemeinschaft, Familie oder Clan angerufen und sollen, als Kollektivsubjekt Organisation, durch eine subjektivierende Unterordnung hervorgebracht werden. Zum anderen wird unter Bezug auf Foucault und der auf Organisationen übertragenen Idee der strategischen Polyvalenz die Möglichkeit einer anderen, heterodoxen Anrufung und Formierung von Organisation als Kollektivsubjekt umrissen, welche das Verhältnis von Subjektivierung, Autonomie und Vergemeinschaftung in einem emanzipatorischen Sinn in den Blick nimmt.

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Diese zweifache Perspektive bedingt zunächst einen im folgenden Abschnitt erfolgenden knappen Einblick in die organisationstheoretische Foucault-Rezeption. Dabei von einem ›Foucault-Effekt‹ zu sprechen, heißt eine Form der Neuvermessung des Gegenstandsbereiches »Organisation« vorzunehmen, insofern moderne Organisationen erstens einer historischen Problematisierung unterworfen und zweitens als historisch-wandelbare Regime von Praktiken konzeptualisiert werden. Die starke Fokussierung der Foucault-Rezeption auf Fragen der Disziplin und Kontrolle und einer in der (politischen) Konsequenz »anästhesierenden« Machtanalyse ließ diese historische Kontingenz moderner Organisationen und damit auch die zumindest potentielle Vielgestaltigkeit ihrer Anrufung als Kollektivsubjekt in den Hintergrund treten. In Abgrenzung hierzu soll mit der Idee der »strategischen Polyvalenz« die Vorstellung einer grundsätzlichen Offenheit und Pluralität der Formen und Prozesse des Organisierens ein stärkeres Gewicht erhalten. Die Idee der »strategischen Polyvalenz« eröffnet dann in ihrer spezifischen Anwendung auf den Zusammenhang von Vergemeinschaftung, kollektiver Subjektivierung und Organisation einen theoriepolitischen und auch einen empirisch zu erschließenden Raum, welcher sich zwischen Vergemeinschaftung als Form der Unterwerfung – im Verständnis von Organisation als Regierungsdispositiv der Moderne und Anrufungsinstanz im Althusserschen Sinn – und andererseits von Gemeinschaft als möglicher Form der Emanzipation durch Organisation aufspannt. Vergemeinschaftung als Unterwerfung wird hieran anschließend in exemplarischer Weise anhand betriebswirtschaftlicher und managerialer Vergemeinschaftungskonzepte (»Betriebsgemeinschaft«, »Unternehmenskultur«) diskutiert. Im letzten Abschnitt wird in kontrastierender Hinsicht die Idee der Vergemeinschaftung als emanzipatorisches Projekt wieder aufgegriffen und mit dem aktuellen Interesse an dem Aufweis und der Analyse alternativen Formen des Organisierens verknüpft.

2. ›F oucault-E ffek t‹ und › str ategische P oly valenz‹ Michel Foucault zählt inzwischen zu den modernen Klassikern der kritischen Management- und Organisationsforschung.1 Die Aufsätze und Arbeiten, welche sich seit Beginn der verstärkten Rezeption Ende der 1980er Jahre auf Foucault beziehen, sind kaum mehr zu überblicken, geschweige denn in eine einfache Geschichte der Foucault-Rezeption in der Organisationsforschung einzuordnen (vgl. u.a. McKinlay/Starkey 1998; Jones 2009; Weiskopf/Willmott 2014; Mennicken/Miller 2016; Weiskopf 2003; Hartz/Rätzer 2013b). Postulie1 | Vgl. für die folgenden Überlegungen auch Hartz/Rätzer (2013a) sowie ausführlicher Hartz (2017a).

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ren aber lässt sich ein ›Foucault-Effekt‹ (vgl. Burchell/Gordon/Miller 1991), welcher den Gegenstandsbereich ›Organisation‹ in den Kontext einer »Geschichte der Gegenwart« stellt und damit diesen, zumindest dem Anspruch nach, neu und radikal in seinen gegenwärtigen Formen in Frage stellt. In der historischen Befragung und Problematisierung der vermeintlichen Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit dessen, was landläufig und vielgestaltig als Organisation – seien dies Unternehmen, Schulen, Krankenhäuser, Verwaltungen, Universitäten, Parteien oder Gewerkschaften – verstanden wird, erweist sich Foucault als ein wichtiger Impulsgeber für die kritische Management- und Organisationsforschung und für das Projekt einer »kritischen Ontologie der modernen Organisationen« (Hartz/Rätzer 2013a: 11, Herv. i.O.).2 Foucault hat dabei weder eine Organisationstheorie vorgelegt noch zentral den Begriff der Organisation in den Blick genommen. Mit Foucault lässt sich Organisation eher als Name für auf Dauer gestellte spezifische »Regime von Praktiken« fassen, welche »ihre eigenen Regelmäßigkeiten aufweisen, ihre Logik, ihre Strategie, ihre Evidenz, ihre Begründung [raison]« (Foucault 2005a: 28). Diese »Regime von Praktiken« sind wiederum als Elemente historisch spezifischer Dispositive, hier verstanden als spezifische, mehr oder weniger rigide Verschränkungen von Wissens-, Macht- und Subjektivierungslinien (Deleuze 1991), rekonstruierbar (Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2016; Hartz 2017a; Diaz-Bone/ Hartz 2017). Damit rücken die Genese und Entwicklung moderner Organisationen als Ausdruck und Ergebnis einer wechselvollen Problematisierung des Sozialen in den Blickpunkt – sei es die Problematisierung des Wahnsinns, der Disziplinlosigkeit, der Bevölkerung, der Sexualität oder des ökonomischen Subjekts. Krankenhäuser, psychiatrische Anstalten, Gefängnisse, Kasernen, Fabriken, Manufakturen oder Schulen sind als konkrete Organisationsformen Materialisierungen dieser Problematisierungen und somit Ausdruck der Bemühungen um eine »Regierung des Sozialen«. Mit Foucault wird der Blick zugleich auf die organisationsspezifische »politische Anatomie des Details« gelenkt (Foucault 1976: 178). Diese an Foucault orientierten »Spieleröffnungen« (Foucault 2005a: 26) für eine kritische Organisationsforschung lassen sich hinsichtlich der Frage der Subjektivierung weiter präzisieren. Das Interesse für Formen der Subjektivierung wurde insbesondere im Kontext einer breiten Rezeption von Überwachen und Strafen (Foucault 1976) verfolgt. Mit dem Fokus auf die Mechanismen der Disziplin konnten Anschlüsse an Fragen der Kontrolle und Unterwerfung von Individuen in Organisationen hergestellt werden, welche nun im Sinne eines 2 | Foucault ist nicht die einzige Referenz für diese Destabilisierung des Gegenstandes Organisation. Diese ist vielmehr kennzeichnend für die Aufnahme und Rezeption postmoderner und poststrukturalistischer Autoren im Kontext der Organisationsforschung (Chia 2003; Jones 2009).

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»manufacturing of subjectivity« (Knights/Willmott 1989) und der Produktion einer »self-disciplining subjectivity« (ebd.: 550) diskutiert wurden. Der leitende Gedanke war hierbei die Überwindung des Dualismus von Strukturen und Handeln, welcher in Form der zunächst konzeptionellen Gegenüberstellung und dann anschließend notwendig werdenden Vermittlung von (organisationalen) Strukturen und individuellem Handeln auch prominent in der Organisationsforschung sichtbar war. Mit Foucault ließ sich nun von der wechselseitigen Erzeugung von Individuum bzw. Subjekt und Organisation sprechen (Neuberger 1997), in welcher der Prozess der Subjektivierung im Foucaultschen Doppelsinn als gleichzeitige Unterordnung und Werden des Subjekts als konstitutiv für die Aufrechterhaltung von Organisationen erscheint: »Rejecting the essentialist view of human nature, subjectivity is understood as the product of disciplinary mechanisms, techniques of surveillance and power-knowledge strategies: human freedom is constituted through their mediation of subjectivity« (Knights/Willmott 1989: 554). Im Verhaftetsein an die Organisation, welche Anerkennung und (existentielle) Sicherheit ›geben‹ und ›entziehen‹ kann, wirkt das Individuum dabei an seiner eigenen Unterordnung mit. Obwohl gegen dualistische und deterministische Vorstellungen organisationaler Kontrolle gerichtet, erschien der spezifische Rekurs auf insbesondere Überwachen und Strafen eher als foucaultianisch inspirierte dystopische Vorstellung von Organisationen als »stahlhartem Gehäuse« der Hörigkeit, der »guten Abrichtung« und der Produktion »gelehriger Körper« (Thomas 2009: 171f.). Damit nähert sich das Verhältnis von Organisation und Subjektivierung einem Verständnis von organisationaler Anrufung als Erzwingungsmechanismus an, wie es in dieser Form von Althusser (2010) in Ideologie und ideologische Staatsapparate prominent eingeführt wurde. Judith Butler (2001: 104f.) weist darauf hin, dass es gerade die von Althusser ins Feld geführten ›Beispiele‹ der Religion/göttlichen Stimme und der Stimme der Staatsmacht/des Gesetzes in Gestalt des Polizisten sind, welche diesen zwingenden Effekt hervorrufen. In analoger Weise erscheint in dieser Art der Foucault-Rezeption die Anrufung durch die Organisation als zwingende Stimme eines Gesetzes (des Marktes, der Ökonomie, der Globalisierung etc.), welchem das Individuum sich zu unterwerfen hat und in der Unterwerfung eine Existenz erhält und Anerkennung erfährt. Obwohl die Auseinandersetzung mit organisationalen Machtverhältnissen und die Verschränkung von Subjektivierung und Organisierung im angedeuteten Sinn für eine kritische Management- und Organisationsforschung wichtig ist, wurde die frühe Foucault-Rezeption und der »anästhesierende Effekt« (Foucault 2005a: 38) einer derartigen Machtanalyse insbesondere hinsichtlich der Ausblendung von Widerstands- und Handlungsmöglichkeiten problematisiert. Die erfolgende Thematisierung von Widerstand und Formen der Zurückweisung von Subjektpositionen verblieb jedoch oftmals im konzeptionellen Rahmen rigider organisationaler Anrufungen (Thomas 2009).

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Insgesamt spiegelt die Rezeption Foucaults in der kritischen Organisationsforschung das auch im Foucaultschen Werk sichtbare Spannungsverhältnis zwischen einer ›anästhesierenden‹ Machtanalyse sowie einem theoretisch-politischen Projekt der ›Entunterwerfung‹ und der Zurückweisung des Gedankens »universeller Notwendigkeiten« wieder. Foucault hält zwar emphatisch fest, »wie willkürlich Institutionen sind, welche Freiheit wir immer noch haben und wie viel Wandel immer noch möglich ist« (Foucault 2005b: 961), gleichwohl erscheint diese Aussage vor dem Hintergrund der Befunde zu den Kontroll- und Disziplinarmechanismen in Organisationen und den, im Sinne Judith Butlers, »Identitätsverlockungen«, welche Organisationen bereitstellen, eher wie eine schwache messianische Hoffnung. Dieses Spannungsverhältnis soll nun spezifisch aufgegriffen werden, indem die wechselseitige Verschränkung von Subjektivierung und Organisierung im Hinblick auf explizite Bemühungen, Organisationen als Kollektivsubjekte, als Formen der Vergemeinschaftung hervorzubringen, näher ausgeleuchtet werden soll. Ein Spannungsverhältnis, welches sich, in anderer Formulierung, zwischen einer Konzeptualisierung von Organisation als »spezifische Regierungsform der Moderne« (Bruch/Türk 2005: 120) und als der Name eines historisch-kontingenten »Regimes von Praktiken« festmachen lässt. Hierfür soll die aus dem Kontext der Analyse von Dispositiven gewonnene Idee der strategischen Polyvalenz eingeführt werden, welche helfen soll, Organisationen als Kollektivsubjekte sowohl unter der Perspektive ihrer Herrschaftsförmigkeit, als auch der Perspektive einer möglichen Emanzipation von überkommenen Vorstellungen des Organisierens betrachten zu können. Die von Foucault (2005c: 393) im Zusammenhang der Ausführungen zum Dispositivbegriff diskutierten Merkmale der »funktionalen Überdeterminierung« und der »ständigen strategischen Auffüllung« von Dispositiven soll hier als Idee der ›strategischen Polyvalenz‹ aufgegriffen werden. Im Anschluss an Klaus Türk und Michael Bruch lässt sich zunächst festhalten, dass hegemoniale Formen des Organisierens existieren, diese ein wesentlicher Bestandteil der modernen Gouvernementalität sind und »andere Formen der Formierung von Kooperation […] ausgeschlossen, entmutigt, delegitimiert werden« (Bruch/ Türk 2005: 90f.). Umso wichtiger erscheint es, dass eine kritische Organisationsforschung in Form einer »welterschließenden Kritik« (Hartz 2017b) sich auf die Suche nach jenen ›anderen Räumen‹ (Foucault 2005d, 2013) der Formierung von Kooperation und der Praktiken des Organisierens begibt und in den wissenschaftlichen Diskurs einspeist. Die Idee der »strategischen Polyvalenz« kann hierbei als ein möglicher Ausgangspunkt dienen. Prototypisch wird die Perspektive der Polyvalenz in den Äußerungen Foucaults zu dem vom Fabrikanten und utopischen Sozialisten Godin Mitte des 19. Jahrhundert initiierten Gebäudekomplex Familistére im französischen Guise sichtbar, welcher Arbeitsstätten, Wohnhäuser und soziale und kulturelle Einrichtungen um-

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fasste. Im Kontext dieser Frühform der genossenschaftlichen Bewegung befasst sich Foucault mit der Architektur der Wohnhäuser der Familistére. Diese war, so Foucault, »ausdrücklich auf Freiheit ausgerichtet. […] Für eine Gruppe von Arbeitern war sie ein recht bedeutendes Zeichen und Instrument ihrer Autonomie. Und dennoch konnte niemand den Bau betreten oder verlassen, ohne von allen anderen gesehen zu werden – ein Aspekt dieser Architektur, der hochgradig repressiv sein konnte. […] Angesichts der panoptischen Eigenschaften hätte Guise ebenso gut als Gefängnis dienen können« (Foucault 2005e: 331f.). Dass es nicht als Gefängnis diente, so lässt sich weiter folgern, liegt an der spezifischen Anrufung (›Zeichen der Autonomie‹) durch die Arbeiter, welche im Verhältnis zu den Beschreibungen in Überwachen und Strafen und der hieran anschließenden Foucault-Rezeption geradezu als Umkehrung der Macht- und Anrufungsverhältnisse lesbar ist. Guise als Subjektivierung eines genossenschaftlichen Kollektivs erscheint nicht als Ausdruck von Organisationen als »Regierungsform der Moderne«, sondern als alternatives »Regime von Praktiken« (›auf Freiheit gerichtet‹, ›Instrument der Autonomie‹). Nun wäre es naiv, Organisationen als rein technische Arrangements zu begreifen, bei dem allein die Struktur, die Funktion oder der intendierte Zweck darüber entscheiden, ob es der Repression oder der Emanzipation dient (vgl. Foucault 2005e: 330). Jedes Dispositiv, jedes »Regime von Praktiken« reizt bestimmte Prozesse der Subjektivierung an oder restringiert diese (Agamben 2008: 37). Auch lässt erst die Kontextualisierung konkreter organisationaler Arrangements und Dispositive (vgl. Diaz-Bone/Hartz 2017: 7f.), welche diese etwa in umfassendere genealogische Perspektiven einbettet, deutlich werden, warum Anrufungen von Organisationen als ›Zeichen von Autonomie‹ eher randständig und ein im Zweifel zu bekämpfendes Phänomen waren. Ein Fall wie das Familistére von Guise erscheint dann auch zunächst als ein marginales Phänomen in der Genealogie der modernen Organisation und man muss sich aktiv auf die Suche nach diesen anderen Entwürfen und Formen des Organisierens begeben. Die Idee und die Praktiken des Panoptismus (Foucault 1976), der Disziplin und der Führung gehören hingegen zu den basalen Erfahrungen von Organisation und Formen der Subjektivierung in der Moderne. Gleichwohl eröffnet die Idee der ›strategischen Polyvalenz‹ die Möglichkeit, Differenzen und Widerständigkeiten gegenüber den tradierten Formen und Vorstellungen von Organisation in den Blick zu bekommen. Dieser Idee folgend schließt sich eine zweifache Spurensuche nach der Verfasstheit von Organisationen als Kollektivsubjekte bzw. nach den Formen der Vergemeinschaftung in Organisationen an, welche sich mit Konzeptualisierungen von Gemeinschaft in der Betriebswirtschaftslehre und Managementforschung und hieran anschließend mit der programmatischen Perspektive einer Verschränkung von Gemeinschaft und Solidarität im Hinblick auf alternative Arbeits- und Organisationsformen befasst. Im Sinne der unterschiedlichen ›stra-

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tegischen Auffüllung‹ des Organisationsdispositivs kann dabei unterschieden werden zwischen Vergemeinschaftungsformen der Unterwerfung und Versuchen, Vergemeinschaftung als emanzipatorisches Moment zu verstehen. Damit wird, wenn auch kursorisch und vorläufig, ein mögliches Kontinuum von Organisationen als Kollektivsubjekt und Vergemeinschaftungsform aufgespannt, welches – ganz im Sinne Foucaults – zu weiterer empirischer Forschung und analytischer Ausdifferenzierung einlädt.

3. V on der »B e triebsgemeinschaft« zur »U nternehmenskultur « –V ergemeinschaftung als U nterwerfung »Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckens-Meldung der Welt ist.« (Deleuze 1993: 260)

Für Klaus Türk erweist sich die moderne Organisation als ein historisch-wandelbares Arrangement der sozialen Teilmuster »Ordnung«, »Gebilde« und »Vergemeinschaftung« (Türk 1995; Türk/Lemke/Bruch 2006: 19-37). Die Ordnungsdimension verweist auf eine »Rationalitäts-, Disziplinierungs- und Normalisierungssemantik bzw. -praxis, die mit dem Begriff der Organisation von Anfang an verbunden ist« (Türk 1995: 45). Das Gebildekonstrukt, hier ist wesentlich die Konstruktion von Organisationen als Rechtssubjekte bzw. juristische Person gemeint, erschafft zusammen mit der Ordnungsdimension die Fiktion einer selbständigen produktiven Einheit, der entsprechend produktive Erträge zurechenbar sind. Während für Türk die Dimension der Ordnung die funktionale und die Dimension des Gebildes die institutionelle Schließung der Organisation konturieren, wird mit Vergemeinschaftung die Dimension der »Sozialität, Kohäsion, Reziprozität und Gruppenbildung« hervorgehoben, welche – im Anschluss an Max Weber – wesentlich als ein Mechanismus der sozialen Schließung zwischen einem »Wir« und den »Anderen« verstanden wird (ebd.: 67): »Die Kategorie der Vergemeinschaftung hat in unserem Kontext keinerlei positive Konnotation; sie wird vielmehr als terminus technicus für gruppenhafte Schließungsprozesse verwendet« (ebd.: 68; Herv. i.O.). Die Anrufung von Unternehmen als ein kollektives »Wir«, als Gemeinschaft, besitzt in der Managementliteratur eine lange Tradition (Barley/Kunda 1992; Krell 1994). Dass Unternehmen in der Deleuzschen Skizze über die Kontrollgesellschaft nun propagieren, eine »Seele« zu haben, ist insofern kein neues Phänomen. In historischer Perspektive wird immer wieder eine Abgrenzung von Vorstellungen von Organisationen als Maschine als auch von Organisationen als konflikthafter politischer Arena, in welcher unterschiedliche Interessengrup-

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pen agieren, vorgenommen. Im Sinne des Gemeinschaftsbegriffs Webers geht es um die Erzeugung »subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten« (Weber 1922: 21). Der Betrieb als Ganzes und die in ihm tätigen Subjekte werden als Familie angerufen; Treue, Fürsorge, Vertrauen sollen als Grundwerte fungieren (Krell 1994: 30). Als manageriale Gemeinschaftskonzepte handelt es sich dabei um eine Gemeinschaftsbildung »von oben« bzw. durch das Management. Im Sinne Scherers (1986: 205, zit.n. Krell 1994: 29) wird dabei Gemeinschaft »gegen real existierende gesellschaftliche Differenzierungen und soziale Interessenkonflikte […] abstrakt über harmonisierende Weltbilder und Ideologien konstruiert«. Wie Organisationen nun als ein derartiges Kollektivsubjekt angerufen wurden und welches »Regime von Praktiken« hierbei zur Entfaltung kommt, lässt sich kursorisch anhand einer Reihe von betriebswirtschaftlichen und managerialen Vergemeinschaftungskonzepten betrachten. Die folgenden Ausführungen folgen hierbei insbesondere der instruktiven und materialreichen Studie von Krell (1994), die sich in ihrer Rekonstruktion von ›vergemeinschaftenden Personalpolitiken‹ mit den Konzepten der »Betriebsgemeinschaft«, »Werksgemeinschaft«, »betrieblichen Partnerschaft«, der japanischen »Betriebsgemeinschaft« sowie der »Unternehmenskultur« auseinandergesetzt hat. Konzeptübergreifend ließen sich dabei vier Prinzipien oder Strategien der Vergemeinschaftung feststellen: 1. Dauerbeschäftigung Gemeinschaftsverhältnisse sind dauerhafte Verhältnisse. Insofern bedarf es, bezogen auf Unternehmen, hinsichtlich der gewünschten Konformität bzw. Bindung an das Unternehmendauerhafter Beschäftigungsverhältnisse. Relativ geschlossene betriebsinterne Arbeitsmärkte bilden eine Art materiellen Kern der Betriebsgemeinschaft.3 2. Grenzziehungen Im Anschluss an Weber erweist sich die »›Schließung‹ der Gemeinschaft« (Weber 1922: 182) als zweites Prinzip. Krell (1994: 34) spricht diesbezüglich von einer Dialektik von Vergemeinschaftung und Segmentierung, insofern die Vergemeinschaftung des ›drinnen‹ durch die Ab- bzw. Ausgrenzung des ›draußen‹ erfolgt. Kollektive Identität, ein ›Wir-Gefühl‹, entsteht in diesem Kontext durch »strong boundaries« (Kanter 1972: 169). 3. Homogenisierung Drittes und eigenständiges Prinzip ist die Homogenisierung der Gemeinschaft, welche die Entstehung einer kollektiven Identität 3 | Dieses Prinzip der von Krell untersuchten Konzepte wirkt aus heutiger Sicht eher antiquiert, verweist aber – etwa im Hinblick auf Leiharbeit, Werkverträge, prekäre Befristungsverhältnisse – auf ein durchaus noch wirksames Instrument der internen organisationalen Aufspaltung in unterschiedliche kollektive Subjekte, welche dann als »Stamm-« oder »Kernbelegschaften« in Abgrenzung zu »Randbelegschaften« konstruiert werden.

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erleichtert. Homogenisierung kann in Bezug auf nationale oder regionale Herkunft, Religionszugehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht und weiteres mehr erfolgen bzw. angestrebt werden. Krell (1994: 37) verweist exemplarisch auf die Kategorie Geschlecht, welche ausgehend vom Mythos der »Frontgemeinschaft« und den »soldatischen Männerbünden« des Ersten Weltkrieges seinen Eingang in die sogenannten »Werksgemeinschaften« und das 1925 gegründete Dinta (Deutsches Institut für technische Arbeitsschulung) fand, dessen Leiter Arnhold die »Erziehung zur soldatischen Haltung innerhalb der Arbeit« propagierte. 4. Emotionenorientierte Führung Das vierte Prinzip besitzt in den Konzepten der Vergemeinschaftung sowohl Bezüge zur charismatischen Führung (setzen auf ›charismatische‹ Persönlichkeiten und Vermittlung von Visionen) und symbolischen Führung (Herstellung einer ›Deutungsgemeinschaft‹) als auch zur Vorstellung des Führer-Geführten-Verhältnisses als einer Vater-Kind-Beziehung (Führung als ›Sorgen‹ und Schaffen von ›Geborgenheit‹). Primär sollen die Emotionen der Beschäftigten angesprochen werden: Führen und geführt werden heißt hier »Ergreifen und ergriffen werden« (Krell 1994: 39). Die von Krell diskutierten Vergemeinschaftungskonzepte erweisen sich in genealogischer Hinsicht als spezifische Problematisierungen des Sozialen und der ökonomischen und organisationalen Verhältnisse, insofern deren Ausgangspunkt Diagnosen einer ›Entvergemeinschaftung‹ und des Zerfalls gesellschaftlichen und organisationalen Zusammenhalts aufgrund des ›Kampfes‹ zwischen Kapital und Arbeit waren, oder, so im Kontext des Unternehmenskulturansatzes im Anschluss an Peters und Waterman (1982), die Konkurrenz durch japanische Unternehmen und die Angst vor dem ökonomischen Abstieg Amerikas das entsprechende Szenario bildete. Darüber hinaus ist auffällig, dass die Anrufung von Organisationen und ihrer Mitglieder als Gemeinschaft immer wieder in Krisen- und Umbruchzeiten und in Zeiten von erfolgten Rationalisierungsschüben erfolgt (Barley/Kunda 1992: 389-391; Krell 1994: 31). Die Vergemeinschaftungskonzepte zeigen sich dabei hinsichtlich ihrer konkreten Praktiken als nicht einfach negativ oder repressiv. Vergemeinschaftung wird nach innen durch zahlreiche Praktiken der Fürsorge (bspw. Kindertagesstätten, Freizeitangebote, Festivitäten), Formen der Partizipation (Mitbestimmung am Arbeitsplatz oder in Teamkontexten) sowie materielle Anreize flankiert, die vielfach attraktiv für die Beschäftigten waren und somit eine entsprechende Identifikation mit den Unternehmen beförderten. Gleichwohl erweisen sich die humanitären und partizipativen Diskurse und Praktiken der Vergemeinschaftungskonzepte letztlich als Mittel der Unterordnung und Eingliederung des Einzelnen in die (Betriebs-)Gemeinschaft und die »(Re-)Vergemeinschaftung als Medium sozialer Kontrolle« (Krell 1994: 60). Das »Pendant zur ›Rundumbetreuung‹ ist die ›Rundumnutzung‹. Es wird erwartet – und soll

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mittels der […] Medien sozialer Kontrolle sichergestellt werden – dass die Vergemeinschafteten ganz für die Firma da sind: arbeitslebenslänglich, arbeitsfreudig, mit vollem Einsatz und unter Aufopferung ihrer Freizeit und ihres Privatlebens« (Krell 1994: 283). Der Betrieb als Gemeinschaft erfordert den »ganzen« Menschen. Anhand der Konzepte der »Betriebsgemeinschaft« und der »Unternehmenskultur« kann diese machtkritische Perspektive einer Vergemeinschaftung als Unterwerfung weiter vertieft werden.

Die »Betriebsgemeinschaft« Der Betriebswirt Heinrich Nicklisch (1876-1946) zählt zu den Gründerfiguren der deutschsprachigen Betriebswirtschaft. Im historischen Kontext des Faches werden die Arbeiten Nicklischs als ethisch-normative Betriebswirtschaftslehre gerahmt, insofern, zumindest auf den ersten Blick, »[d]em Menschen und seiner Stellung in der Gemeinschaft« eine zentrale Rolle im Werk Nicklischs zukomme (vgl. Large 2012: 61). Dieser »Mensch« wird nun als Teil der Gemeinschaft verstanden, von der jener jedoch erst seine Existenz erhält: »Der Einzelne empfängt sein Leben vom Ganzen und schuldet es ihm. Er ist Glied des Ganzen.« (Nicklisch 1915: 102, zit.n. Large 2012: 61) Weiter heißt es in »Der Weg aufwärts! Organisation« aus dem Jahr 1922: »[In] der Gemeinschaft findet der Mensch die Läuterung seines Wesens und seine Steigerung, Erhöhung« (Nicklisch 1922: 68, zit. ebd.). Dieser Gemeinschaftsgedanke findet seinen Niederschlag im Konzept der »Betriebsgemeinschaft«: »Das Wort Betriebsgemeinschaft bedeutet, daß Menschen, einheitlich verbunden, das Leben des Betriebes leisten und daß der Mensch auf diese Weise aus dem Betriebsmechanismus einen Organismus macht. Die Menschen stehen mit ihren Rechten und Pflichten in ihm, und das Wohlergehen des Betriebes und ihr eigenes hängt davon ab, daß diese erfüllt werden.« (Nicklisch 1932: 296, zit.n. ebd.: 62; vgl. auch Krell 1994: 57f.) Die Idee der »Betriebsgemeinschaft« lässt sich in genealogischer Hinsicht als Ausdruck und Programm einer (auch gesellschaftlichen) Problematisierung der »Entgemeinschaftung« des sozialen und betrieblichen Zusammenhanges begreifen, was auch mit einer Ablehnung des ›amerikanischen‹ Taylorsystems im Zusammenhang steht. So diagnostiziert Kolbinger (vgl. ebd.: 60) eine Entgemeinschaftung im Geist durch die Trennung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Interessengruppen, eine leistungsbezogene (Ausschluss von schöpferischer Arbeit i.S. des Taylorismus) und eine ertragsmäßige Entgemeinschaftung (keine Bindung des Lohnes an den betrieblichen Ertrag) (Kolbinger 1958: 9ff.). Ziel ist die »Wiedergewinnung einer betrieblichen gemeinsamen Sinnmitte« (ebd.: 16). Wird die Stellung des »Menschen« (auch im Verhältnis zum »Kapital«) als zentral für die ›Lebensfähigkeit‹ des Unternehmens angesehen, so gilt das pri-

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märe Interesse nicht dem »Menschen« an sich, sondern in letzter Instanz dem Erhalt der »Betriebsgemeinschaft«. Insofern richten sich die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Entwicklung einer »Betriebsgemeinschaft« auf der Ebene der konkreten Praktiken auf die fortgesetzte »Eingliederung« des Einzelnen in den Organismus »Betrieb« im Sinne einer zunehmenden »Vergemeinschaftung«. Gestaltungsempfehlungen in personalpolitischer Hinsicht (vgl. Krell 1994: 61ff.) sind dann Formen der immateriellen Beteiligung (Mitbestimmung am Arbeitsplatz um das Selbst- und Pflichtbewusstsein zu stärken), die Erziehung zum »Pflichtgefühl« gegenüber der Gemeinschaft sowie die Führung der Gemeinschaft durch »Führernaturen«. Weiter propagiert wird eine Arbeitsgestaltung, die sich von den tayloristischen Vorstellungen der Arbeitszerlegung und der Trennung von Hand- und Kopfarbeit verabschieden soll, Leistungsentlohnung und ein umfängliches Arsenal betriebliche Sozialleistungen4. Schließlich zielen die Praktiken auch auf die Anerkennung des Führerprinzips und der Notwendigkeit der Hierarchie, kurzum die Herrschaftssicherung, insofern es Aufgabe des Personalwesens sei, »auf das ›Gefühl‹ für Rangordnung in der Belegschaft hinzuarbeiten, dieses zu stärken und damit einen der wesentlichen Gesichtspunkte menschlicher Gemeinschaften lebendig zu machen« (Kolbinger 1972: 62).

»Wir, die Firma« – das Konzept der »Unternehmenskultur« »[…] what our framework has done is to remind the world of professional managers that ›soft is hard.‹« (Peters/Waterman 1982: 11)

Der Aufstieg des Ansatzes der »Unternehmenskultur« und der Perspektive eines »Kultur-Managements« begann in den 1980er unter anderem mit der Veröffentlichung von In Search for Excellence von Tom Peters und Robert H. Waterman (1982) (vgl. Barley/Kunda 1992: 381ff.). Der Erfolg amerikanischer ›Spitzenunternehmen‹ wurde damit erklärt, dass diese eine »umfassende, beflügelnde, gemeinsam getragene Firmenkultur [besitzen], ein geschlossenes Ganzes, innerhalb dessen Mitarbeiter nach den richtigen Wegen suchen« 4 | Hierunter fallen Werksorchester, Sportvereine, Erholungsheime, Betriebskindergärten, Werksfeste, Werkszeitschriften und weiteres mehr. Im Geist der Zeit, wenn auch gar nicht so unmodern, formuliert hierzu Fischer: »Werkssportvereine, Wettspiele usw. lassen den Menschen mit seiner Arbeitsaufgabe auch außerhalb seines ursprünglichen Aufgabenkreises zusammenwachsen. Die Anlage eigener Sportplätze durch den Betrieb, einheitliche Sportbekleidung sind wirksame psychologische Mittel, diesen Zusammenhang auch äußerlich zu bekunden« (Fischer 1949: 33, zit.n. Krell 1994: 71, Fn. 33).

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(Peters/Waterman 1984: 77).5 Der im Zitat bereits deutlich anklingende Vergemeinschaftungsimperativ erweist sich für die Idee eines »Kultur-Managements« als zentral. Für Peters und Waterman sehen sich »[v]iele der besten Unternehmen […] tatsächlich als Großfamilien« (ebd.: 300). Ouchi und Price sprechen mit Blick auf die untersuchten ›Spitzenunternehmen‹ von einer ClanKultur, die neben der Integration durch Märkte und Bürokratie ein drittes, auf Homogenisierung setzendes Prinzip der erfolgreichen Aufrechterhaltung von Organisationen darstelle: »A clan is a culturally homogenous organization, one in which most members share a common set of values or objectives plus beliefs about how to coordinate effort in order to reach common objectives. The clan functions by socializing each member completely so that each merges individual goals with the organization one: thus providing them with the motivation to serve the organization« (Ouchi/Price 1978: 36). Was zeichnet nun ein diesen Homogenisierungs- und Vergemeinschaftungssinn verfolgendes Kultur-Management aus bzw. welches »Regime der Praktiken« lässt sich identifizieren (vgl. Krell 1994: 252ff.)? Zunächst ist eine kulturorientierte oder auch ganzheitliche Personalauswahl zu treffen, denn »hiring someone is like marriage« (Pascale 1985: 29, zit.n. Krell 1994: 252). Gefordert ist ein entsprechender ›fit‹ des Anwärters, welcher nicht nur die fachliche, sondern auch und insbesondere die Persönlichkeit und das Verhalten in den Blick nimmt. Die Eingliederung ist als Enkulturation zu fassen, die sowohl Seminare über die Unternehmenskultur und konkrete Handreichungen bzgl. Aussehen, Kleidung, Make-Up etc. als auch Initiationsriten im Sinne von ›Schinder-Riten‹ (›hazing rituals‹, so das Fegen der Böden durch neu eingestellte Ingenieure bei General Electric) umfasst. Gemeinsame Sprachregelungen sind ebenso von Bedeutung: Statt von »Personal« ist die Rede von »Mitgliedern der Mannschaft« (McDonalds) oder »Mitgliedern des Ensembles« (Disney) (vgl. Peters/Waterman 1982: 278). In der Personalentwicklung geht es im Bereich der Weiterbildung um die Vermittlung von Werten und Einstellungen, bei Outdoor-Aktivitäten werden Team- und Gemeinschaftsgeist beschworen. Schließlich finden sich – analog zum Konzept der »Betriebsgemeinschaft« – zahlreiche weitere kulturelle und soziale Praktiken und Angebote, welche Identifikation und Vergemeinschaftung fördern und befördern sollen. Das angebotene (und im Zweifel anzunehmende) Spektrum umfasst Betriebssportvereine, Reiseclubs, Firmenchöre, Tennisplätze, Kindertagesstätten, gemeinsames Frühstück, vielfältige Feiern als »Technologie der Begeisterung« (Peters/Austin 1986: 312) und vieles mehr. Schließlich findet sich 5 | Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Studie von Peters und Waterman kann hier nicht erfolgen. Vergleiche jedoch Barley/Kunda (1992) für eine historische Einordnung, Willmott (1993) für eine konzise kontroll- und machttheoretische Lesart sowie Schmidt-Wellenburg (2017) für den Aufstieg Tom Peters als ›Management-Guru‹.

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auch im Konzept der Unternehmenskultur der starke Führer wieder, dessen Hauptaufgabe in der Vermittlung von energetisierenden Visionen und kommunikativer Sinnstiftung liegt. Bei all den Anrufungen des »Menschen« und der Betonung von Verantwortung, Kreativität und Autonomie, die auch die Unternehmenskultur-Debatte prägen, gilt ebenfalls in letzter Instanz, dass Verantwortung heißt, sich in den Dienst der Gemeinschaft und des unternehmerischen Erfolges zu stellen. Dies heißt im Sinne sozialer Schließung: »[Y]ou either buy into their norms or you get out« (Peters/Waterman 1982: 77). Zusammenfassend verschränkt sich in der akademischen Literatur zur Betriebsgemeinschaft und der Beratungsliteratur zur Unternehmenskultur die Anrufung von Unternehmen und Organisationen als Schicksalsgemeinschaft, Organismus, Familie oder Clan mit der gleichzeitigen Anrufung der adressierten Beschäftigten, diese Gemeinschaft aktiv mit hervorzubringen. Vor dem Hintergrund der angesprochenen zeitdiagnostischen Problematisierungen der Entvergemeinschaftung oder des Konkurrenzdrucks ist dabei bedeutsam, dass diese Gemeinschaft noch nicht vorhanden ist, sie bedarf vielmehr des aktiven Bemühens jedes Einzelnen. Die Realisation der Gemeinschaft in der Zukunft erweist sich als der Weg, die Probleme der Gegenwart zu bewältigen oder an die (offenbar besseren) Zeiten vor der Zerrüttung oder Entvergemeinschaftung wieder anzuschließen. Im Konzept der Betriebsgemeinschaft werden darüber hinaus quasi-religiöse Konnotationen sichtbar, wenn von der ›Schuld‹ des Einzelnen gegenüber den Unternehmen die Rede ist, welches dem Einzelnen erst zu seiner Existenz verhilft. Im Kultur-Ansatz soll der Einzelne dem Unternehmen ›dienen‹, im auch hier vorhandenen totalisierenden Anspruch geht es, bei Strafe des Ausscheidens, um die vollständige Sozialisation in die Unternehmenskultur. Die Rigidität der Verschränkung von subjektiver und kollektiver Anrufung, welche nur die Optionen des Anpassens, Mitmachens oder des Ausscheidens zu kennen scheint und den Einzelnen als ›schuldhaft‹ und ›dienend‹ anruft, gemahnt wiederum an die Perspektive Althussers. Betriebsgemeinschaft und Kultur-Ansatz erweisen sich als säkularisierte Formen der Anrufung durch die Gesetze des Marktes und/oder der Familie, welche sowohl auf Organisationen als auch Individuen abzielt.

4. V ergemeinschaftung als emanzipatorisches P rojek t Im vorigen Abschnitt erfolgte eine kursorische und selektive Spurensuche zur Vergemeinschaftungsdimension und zu Vergemeinschaftungskonzepten von Organisationen im kritischen Verständnis von Organisationen als Disziplinarraum und Regierungsform der Moderne. Die Idee der ›strategischen Polyvalenz‹ und der von Foucault angeführte Fall der Familistére verwiesen

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jedoch darauf, dass Organisation auch anders praktiziert und die Frage der Vergemeinschaftung auch anders gedacht werden kann. Wenn man sich von deterministischen Organisationsvorstellungen löst, die jede Form organisationsförmiger Vergemeinschaftung notwendig in einen herrschaftsförmigen Zusammenhang einmünden lässt, mithin die Perspektive und immer auch vorstellbare Möglichkeit eines »nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992: 12) einnimmt, eröffnet sich ein noch zu vermessender Raum alternativer Organisationsverhältnisse, welcher zugleich andere Formen der Anrufung von Organisationen sichtbar werden lassen kann. Theoriepolitisch kann eine solche Perspektive wiederum an die programmatischen Ausführungen Foucaults zur Verhältnisbestimmung von Macht und Widerstand anschließen, wie sie – als Scharnier zwischen Machtanalytik und der Geschichte der Selbstpraktiken – in Subjekt und Macht (Foucault 2005f) formuliert wurden. So bestehe »[d]as Hauptziel […] heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein könnten, wenn wir uns dem doppelten politischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt« (Foucault 2005f: 280). Die gleichzeitige Individualisierung und Totalisierung lässt sich auch für die betrachteten Vergemeinschaftungskonzepte festhalten. Die Anrufung von Organisationen als Gemeinschaft individualisiert zugleich die Subjekte, welche entsprechende Integrations- und Anpassungsleistungen zu vollbringen haben, um zu einem nützlichen Glied der Gemeinschaft zu werden. Dies korrespondiert mit den Widerständen und Kämpfen die Foucault im Blick hat. Diese richten sich unter anderem »gegen alles, was das Individuum zu isolieren und von den anderen abzuschneiden vermag, was die Gemeinschaft spaltet, was den einzelnen zwingt, sich in sich selbst zurückzuziehen, und was ihn an seine eigene Identität bindet.« (Ebd.: 274) Dabei bezieht Foucault auch ausdrücklich kollektive Subjekte in diese Perspektive des Widerstandes mit ein (vgl. ebd.: 287). Hieran anknüpfend soll abschließend auf die grundsätzliche Perspektive der Analyse alternativer Arbeits- und Organisationsformen eingegangen werden, in denen – so die These – die Idee der Vergemeinschaftung zugleich ein emanzipatorisches Moment enthalten kann, welches in programmatischer Hinsicht sowohl der Isolierung als auch der Negation von Individualität entgegensteht. Diese abschließenden Überlegungen sind keine substantielle Auseinandersetzung mit alternativen Organisationskonzepten, sondern skizzieren die grundlegende Orientierung noch zu leistender weiterer Forschung in Form einer welterschließenden Kritik im Kontext kritischer Management- und Organisationsforschung. In den letzten Jahren lässt sich in diesen Zusammenhang zunächst eine Reihe von Bemühungen beobachten, die Pluralität von Arbeits- und Organisationsformen stärker in den akademischen Diskurs einzuspeisen (vgl. Par-

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ker/Fournier/Reedy 2007; Parker et al. 2014a, 2014b; Gibson-Graham 2008; Atzeni 2012; Adler 2016). Das Motiv von Parker und Kollegen, ein Dictionary of Alternatives vorzulegen, entspringt dem Eindruck, dass »[o]ne of the most common pieces of common sense nowadays is that there is no real alternative to market managerialism« (Parker/Fournier/Reedy 2007: ix). Das Routledge Companion to Alternative Organization (Parker et al. 2014a) setzt sich zum Ziel »to move beyond complaining about the present and into exploring this diversity of organizational possibilities« (ebd.: Vorwort). Entlang der Gegenstandsbereiche Arbeit (hier finden sich bspw. Beiträge über mitarbeitergeführte Unternehmen, Kommunen, Familienarbeit), Austausch und Konsum (bspw. Fair Trade, lokale Währungen, Gabentausch, Ehrenamt, solidarische Landwirtschaft) sowie Ressourcen (bspw. Commoning, Ökobilanzen, Open Source) wird eine Vielfalt alternativer Praktiken des Organisierens im Kontext der Ökonomie und darüber hinaus diskutiert. Auch die Arbeiten von GibsonGraham (2006a, 2006b, 2008) zielen mit der Einführung der Perspektive der »diverse economies« auf eine Sichtbarmachung und Systematisierung alternativer Formen von Ökonomie und Organisationen. Gibson-Graham verstehen ihre Arbeit als ein »performative ontological project« (Gibson-Graham 2008: 1), welches den monologischen und hegemonialen Erzählungen über den Markt, den Kapitalismus oder den damit verknüpften Anrufungen von Organisationen und Individuen zunächst den Aufweis der Pluralität von im herrschenden Diskurs meist ›unsichtbaren‹ oder marginalisierten ökonomischen Aktivitäten entgegensetzt. Gibson-Graham unterscheiden im Sinne ihrer Kartierung alternativer ökonomischer Formen drei Praxisfelder: Transaktionen, Arbeit, Unternehmensformen und weisen auf die dort vorhandene Diversität jenseits der dominanten Vorstellungen von Markt, Lohnarbeit und kapitalistischer Unternehmung hin. Hierunter fallen unterschiedliche Formen alternativ-marktlicher (bspw. Schwarzmärkte, informelle Märkte, Tauschhandel) und nicht-marktlicher Transaktionen (bspw. in Privathaushalten, beim Gabentausch, bei staatlicher Verteilungspolitik) sowie vielfältige Formen von Arbeit (bspw. Kooperativen, Haushaltsarbeit, Ehrenamt) und von Unternehmen (bspw. staatliche Unternehmen, Non-Profit Organisationen, kommunale Unternehmen). Diese wichtige Arbeit einer Kartierung pluralen und alternativen ökonomischen und organisationalen Agierens lässt sich im Sinne dieses Beitrags hinsichtlich des konkreten Organisationsbezuges und weiter der Modi organisationaler Vergemeinschaftung präzisieren. Hierfür ist der Versuch von Parker und Kolleginnen (2014b) instruktiv, Prinzipien alternativen Organisierens näher zu bestimmen und damit für den hier verfolgten Zusammenhang die Möglichkeit einer Unterscheidung von Vergemeinschaftung als Herrschaftsmodus und Vergemeinschaftung als emanzipatorisches Projekt vorzunehmen. Als basale Prinzipien und Orientierungen zur substantiellen Bestim-

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mung alternativer Organisationsformen schlagen Parker und Kolleginnen die Werte der individuellen Autonomie, der Solidarität und Nachhaltigkeit vor. Als Orientierungen oder Leitplanken weisen diese Prinzipien darauf hin, dass die Bewertung von Organisationen hinsichtlich ihres alternativen Charakters nicht a priori vorgenommen werden kann, insofern (wiederum im Sinne ›strategischer Polyvalenz‹) organisationale Diskurse, Praktiken oder Formen nicht an sich auf Freiheit oder Repression verweisen: »[I]t simply isn’t possible to say that there are some arrangements that are unambigiously good, and others that are unambigiously bad« (Parker et al. 2014b: 31). Wenn nun Vergemeinschaftung als emanzipatorisches Projekt gedacht werden soll, ist insbesondere das auf den ersten Blick spannungsreiche Verhältnis von individueller Autonomie und Solidarität bedeutsam. Die Kernfragen lauten hier: »How can we be both true to ourselves, and at the same time orient ourselves to the collective? How can we value freedom, but then give it up to the group?« (Ebd.: 37) Für Ideen von Kollektivität und Vergemeinschaftung jenseits der diskutierten Konzepte von Vergemeinschaftung als Herrschaftsmodus ist dabei konstitutiv, dass Autonomie und Solidarität in wechselseitiger Hervorbringung gedacht werden sollten. So können sich soziale Bewegungen, selbstverwaltete Betriebe, Kooperativen oder Genossenschaften als Formen der Vergemeinschaftung erweisen, die zugleich (und durch die Form der Vergemeinschaftung) Ansprüche individueller Autonomie artikulieren und verwirklichen helfen. Die falsche Entgegensetzung von abstrakt gedachter Individualität und Gemeinschaft ist im Sinne eines »different together« (Parker et al. 2014b: 38) entsprechend in Frage zu stellen. Dies ist kein neuer und aus sozialphilosophischer Sicht oder der Perspektive kritischer Theorie überraschender Gedanke, eröffnet aber eine Möglichkeit zur differenzierten Bewertung von Formen organisationaler Vergemeinschaftung. Die weiter oben diskutierten betriebswirtschaftlichen und managerialen Vergemeinschaftungskonzepte erweisen sich dann in letzter Instanz als Gemeinschaften ohne Autonomie, deren Solidarität mit den Mitgliedern letztlich von deren Bereitschaft zur Identifikation mit der Organisation abhängt, von denen diese wiederum Anerkennung erfahren. In all ihrer Pluralität, ihrer Unterschiedlichkeit der Befunde, ihren Aufweisen des Scheiterns oder der Marginalität, im Nachweis des Funktionierens oder der inhärenten Spannungen und Paradoxien verweisen die etwa bei Parker und Kolleginnen sowie die bei Gibson-Graham versammelten Fälle und Studien zu alternativen Formen des Organisierens auf die Nicht-Determiniertheit der Gestaltung und Entwicklung moderner Organisationen. Insofern zeigen sich die dabei vollzogenen Formen der Vergemeinschaftung weder notwendig als Praktiken der Unterwerfung noch des Verlustes von Autonomie. Mit einem Wort Adornos verweist diese Perspektive auf kollektive Subjekte und Vergemeinschaftung darauf, dass die Zwecke von Organisationen »menschliche Zwecke und grundsätzlich von Menschen zu verändern [sind], so schwer nachvollziehbar

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den meisten heute auch die Möglichkeit sein mag« (Adorno 1953: 446). Dies führt dann zurück zur Frage der Anrufung von Kollektiven als Medium der Emanzipation. Die Idee der ›strategischen Polyvalenz‹ als auch das Zitat Adornos verweisen im Grundsatz darauf, dass organisationale Alternativen denkbar sind. Die genealogische Perspektive auf Organisationen als »Regierungsform der Moderne« verweist hingegen auf die Marginalität und die Entmutigung alternativer Praktiken. Der Aufweis alternativer Formen von Kollektivität ist deshalb umso notwendiger, da er Wahlmöglichkeiten für Individuen aufzeigt. Wahlmöglichkeiten, die dessen soziale Existenz betreffen. Denn wenn manageriale Anrufungen der Betriebsgemeinschaft und der Unternehmenskultur funktionieren, scheint dies in letzter Instanz an die damit verknüpfte Gewährung von Anerkennung und sozialer Existenz geknüpft zu sein: »Wo gesellschaftliche Kategorien eine anerkennungsfähige und dauerhafte soziale Existenz gewährleisten, werden diese Kategorien, selbst wenn sie im Dienst der Unterwerfung stehen, oft vorgezogen, wenn die Alternative darin besteht, überhaupt keine soziale Existenz zu haben« (Butler 2001: 24). Wie aus der »Unterwerfung des Begehrens ein Begehren der Unterwerfung« (ebd.: 23) werden kann, lässt sich dann an den diskutierten managerialen Konzepten besichtigen. Gibson-Graham sprechen im Anschluss an Butlers »leidenschaftliche Verhaftungen« (Butler 2001: 11) von einer durch die Subjekte erfolgenden »libidinalen Investition« (Gibson-Graham 2006a: XV), welche den Kapitalismus kennzeichnet: »In the face of a new discourse of the diverse economy, participants in our projects can easily recognize the activities and enterprises it names, but they cannot readily identify with the alternative subject positions it avails. Most of them get up in the morning wanting a job – and if not wanting one, feeling they need one – rather than an alternative economy« (ebd.). Eine Identifikation mit alternativen Praktiken des Organisierens, die Idee einer anderen, emanzipatorischen Anrufung von Organisation fällt schwer, wenn die gesellschaftlichen Imaginationen über Organisationen und Ökonomie und die damit verschränkten Anrufungen des Subjekts Alternativen nicht vorsehen oder deren Existenzberechtigung grundsätzlich in Zweifel ziehen. Der Aufweis real vorhandener und möglicher Alternativen in Verbindung mit dem Projekt einer kritischen Ontologie der modernen Organisationen stellt einen Widerstandspunkt dar, die tradierten Anrufungen von und durch Organisationen ihrer historischen Kontingenz zu überführen und deren ›auch anders möglich sein‹ festzuhalten.

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Organisationswerdung durch Diversität – zur Subjektivierung von Organisationen am Beispiel der Hochschule Verena Eickhoff

E inleitung Diversität, die personale und soziale Vielfalt der Mitglieder einer Gruppe, wird immer häufiger als Chance für Unternehmen, Volkswirtschaften und auch für Hochschulen bezeichnet. In den letzten Jahren hat das Thema in Hochschulen regelrecht Konjunktur: Es werden Stabsstellen und Leitungspositionen für Diversity (Management) auf höchster Ebene geschaffen, Beauftragte benannt, Programme und Projekte gestartet, Strategien erarbeitet. In NRW wurde Diversity Management sogar im Hochschulgesetz verankert. Besonders im Fokus stehen mittlerweile die Heterogenität der Studierenden und der Bereich Studium und Lehre. Diversität gilt als Potenzial und Ressource, die zu entfalten und zu nutzen seien, Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten der Gruppenmitglieder sollen zelebriert werden. Der vorliegende Beitrag greift den Slogan von Diversität als Chance mit Blick auf Hochschulen in Deutschland auf, wendet ihn jedoch in eine andere Richtung: Die Chance von Diversität liegt hier nicht in der Summe der Differenzen (und Gemeinsamkeiten) der Hochschulmitglieder, sondern erstens in der Möglichkeit der Hochschule, durch die Auseinandersetzung mit Diversität den Wandel von der Institution zur Organisation zu vollziehen oder – in den Worten der Hochschulforschung – organizational actorhood (Krücken/Blümel/ Kloke 2009) zu demonstrieren. In der Beschäftigung mit der Diversität ihrer Mitglieder reflektiert und vermisst die Hochschule sich selbst. Sie vergleicht sich mit anderen Hochschulen, tauscht sich mit diesen aus und implementiert zahlreiche Instrumente für einen besseren Umgang mit Diversität. Diese lassen sich, so die These, als Techniken der kollektiven Subjektivierung analysieren, mittels derer die Hochschule an ihrem Verhältnis zu sich und anderen arbeitet und die zu ihrer Organisationswerdung beitragen. Zweitens

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Verena Eickhoff

verweist die Benennung als Chance auf eine Besonderheit, die das Thema Diversität von anderen aktuellen Themen der Hochschulpolitik wie Exzellenz der Forschung unterscheidet. Die Ausrichtung auf Exzellenz und das Leitbild der unternehmerischen Hochschule stehen in der Kritik, Ziele wie Bildungsgerechtigkeit oder Chancengleichheit zu vernachlässigen und Ungleichheit noch zu erhöhen. Die Diskussion um Diversität dagegen verbindet Argumente der Chancengleichheit mit solchen der ökonomischen Nutzung von Diversität. Dadurch wird es möglich, die Kritik an der Unternehmerisierung der Hochschule aufzunehmen und zugleich affirmativ an die entsprechenden Transformationsprozesse anzuschließen sowie Maßnahmen zu etablieren, die zur Organisationswerdung der Hochschule beitragen. Die Auseinandersetzung mit Diversität findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem deutsche Hochschulen bereits seit über zwei Jahrzehnten gehäuften Krisendiagnosen und umfassenden, noch immer anhaltenden Transformationsprozessen unterliegen. Als Schlüssel für eine erfolgreiche Reform der Hochschulen wird die Governance-Ebene und – damit verbunden – die Organisations- bzw. Akteurswerdung1 der Hochschule betrachtet; denn als Hindernis dafür, neue Anforderungen in Forschung und Lehre umzusetzen und proklamierte Defizite zu beheben, gilt die unzureichende Fähigkeit der Hochschule zur organisationalen Selbsttransformation (vgl. Schimank 2014; Krücken/Meier 2006; Pellert 1999; Enders 2008). Die Hochschule soll von einer unvollständigen und besonderen Organisation mit nur eingeschränkter Handlungsfähigkeit zu einer Standardorganisation werden, wobei sich letztere aus Sicht der Organisationsforschung durch ihren Status als Akteurin, durch die Fähigkeit, sich selbst zu gestalten und zielorientiert zu handeln, auszeichnet (vgl. Brunsson/Sahlin-Andersson 2000; Musselin 2007). Zahlreiche Reformmaßnahmen wie die Einführung von Ziel- und Leistungsvereinbarungen oder Globalhaushalten zielen darauf, die kollektive Handlungsfähigkeit und Handlungsrationalität der Hochschule zu verbessern (Nickel 2007: 101-102) und sie dazu zu befähigen, sich selbst zu führen. Dies jedoch nicht nach eigenem Gutdünken, sondern gemäß spezifischen Rationalitäten und Zielen, welche die Hochschulpolitik und weitere gesellschaftspolitische Akteurinnen2 vorgeben. Diese Entwicklungen bilden den Rahmen, innerhalb dessen Hochschulen das Thema Diversität für sich entdeckt haben und innerhalb dessen sich Diversität als »doppelte Chance« begreifen lässt. Die an die Hochschulen gerichteten Anrufungen, mit Diversität umzugehen, und die Art, wie Hochschu1 | In der Hochschulforschung ist der aus der Philosophie stammende Begriff des Subjekts nicht gebräuchlich, stattdessen ist hier der soziologische Begriff der Akteurin gängig. 2 | Auf Wunsch der Herausgeber wird in diesem Artikel statt geschlechtergerechter Sprache das generische Femininum gebraucht.

Organisationswerdung durch Diversität

len selber das Thema Diversität diskursiv aufgreifen und durch verschiedene Praktiken bearbeiten, tragen dazu bei, die Hochschule als eine Organisation zu subjektivieren; zugleich sind sie anschlussfähig an die Subjektivierung als unternehmerische Hochschule. Diesen beiden Thesen werde ich im Folgenden anhand von empirischem Material aus dem Diversity-Diskurs und aus der Forschungsperspektive der Subjektivierung nachgehen. Die Subjektivierungsforschung richtet ihren Blick bisher allerdings vornehmlich auf personale Subjekte (vgl. z.B. Alkemeyer/Budde/Freist 2013), zur Subjektivierung von Organisationen liegen keine Arbeiten vor. Zudem werden Organisationen auch in den poststrukturalistischen Referenztheorien der Subjektivierungsforschung kaum beachtet. Um die Hochschule in ihrer Spezifik als Organisation sowie ihre Rahmenbedingungen erfassen zu können, werde ich im zweiten Abschnitt zunächst die poststrukturalistisch fundierte Subjektivierungsperspektive mit jener der Organisations- und Hochschulforschung zusammenzuführen. Dies erfolgt unter Rückgriff auf den in der Organisationsforschung stark rezipierten soziologischen Neo-Institutionalismus.3 In Folge beschreibe ich die Hochschulreform als spezifisches Subjektivierungssetting und stelle im Anschluss Merkmale der Hochschule als Akteurin vor, die im empirischen Teil als Beobachtungsschema für die Frage nach der Organisationswerdung der Hochschule im Umgang mit Diversität benutzt werden. Mittels der Forschungsperspektive der Subjektivierung richte ich im dritten Abschnitt den Blick anhand von einer ministeriellen Rede, von Hochschulleitbildern sowie eines Diversity-Audit-Programms darauf, mit welchen Anrufungen und Rationalitäten die Hochschule in Bezug auf Diversität konfrontiert ist, welche Instrumente zu einem adäquaten Umgang mit Vielfalt beitragen sollen, inwiefern sich im Diversity-Diskurs Akteurskonstruktionen der Hochschule und Techniken ihrer Subjektivierung finden lassen und ob Diversität sich als »doppelte Chance« für Hochschulen beschreiben lässt.

S ubjek tivierung als F orschungsperspek tive im O rganisationskonte x t Für Theorien und empirische Arbeiten zur Subjektivierung stellen poststrukturalistische Arbeiten den zentralen Bezugspunkt dar. Als zentrale Referenzen eignen sich insbesondere Judith Butler, Michel Foucault und Louis Althusser 3 | Andere Zweige der Organisationsforschung folgen oftmals noch dem RationalChoice-Paradigma, welches grundlegend inkompatibel mit der Perspektive der Subjektivierung ist. Ich beziehe mich in diesem Text nur auf Arbeiten des Neo-Institutionalismus in seiner soziologischen Variante. Für einen Überblick über die verschiedenen Strömungen siehe DiMaggio/Powell 1991.

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(vgl. Saar 2013). Im Hinblick auf den Neo-Institutionalismus (NI) konzentriere ich mich auf die unter dem Label World polity versammelten Arbeiten aus dem Umfeld von John Meyer, da diese Variante meines Erachtens die größte Kompatibilität zur Subjektivierungsforschung aufweist und zudem den primären Bezugspunkt für die Studien der Hochschulforschung bildet, die in diesem Beitrag rezipiert werden. Trotz aller Unterschiede zwischen beiden Theoriezweigen4 bezüglich ihres Entstehungs- und Rezeptionskontextes, Erkenntnisinteresses, der Explikation der Theoriebezüge und ihrer empirischen Ausrichtung bestehen aus erkenntnistheoretischer Sicht keine grundlegenden Einwände gegen die Kombination beider, da sie sich in zentralen Grundannahmen ähneln: Sie gehen von der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit einschließlich der von Subjekten bzw. Akteurinnen sowie von Rationalitäten aus und betrachten erstere als historisch und kulturell spezifische Konstrukte (exemplarisch Weedon 1990; Meyer/Jepperson 2000). Damit widersprechen sie einer Vorstellung vom autonomen, mit universeller Vernunft und freiem Willen ausgestatteten Subjekt (Subjektivierungstheorien) bzw. von einer durch eine ahistorische Zweck-Rationalität geprägten Akteurin (NI). Beide Theorievarianten interessieren sich für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die Art des Wissens und die institutionellen Gefüge, welche als Grundlage der Konstitution von Subjekten bzw. organisationalen Akteurinnen betrachtet werden (ebd.; Saar 2013: 19f.). Für den NI sind der Begriff der institutionellen Umwelt bzw. des organisationalen Feldes sowie die darin dominanten Mythen zentral (Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983), für Arbeiten von bzw. im Anschluss an Foucault bilden Dispositive und Diskurse den zentralen Bezugspunkt (z.B. Gelhard 2013). Beide gehen von einer Pluralität von Diskursen bzw. Mythen aus.5 Für die Subjektivierungsperspektive ist kennzeichnend, dass sie Subjektwerdung als performativen Prozess denkt, der nie vollständig gelingt, dadurch nie abgeschlossen ist und daher erfordert, Subjekte immer wieder aufs Neue zu konstituieren (vgl. Saar 2013). Innerhalb von Macht-Wissen-Komplexen sei4 | Eine grundlegende Diskussion der Kompatibilität und Ergänzungspotenziale beider Theorien steht bisher noch aus und kann hier aus Kapazitätsgründen nicht geleistet werden. Mein vergleichender Blick beschränkt sich auf Schnittmengen und Ergänzungspotenziale. 5 | Allerdings neigt der NI dazu, eine (relativ friktionsarme) Geschichte der globalen Homogenisierung zu erzählen, während der Blick mit Foucault und Butler stärker auf Brüche, Machtverhältnisse und Machttypen sowie auf die Frage fällt, was zu sagen überhaupt möglich ist und was ausgeschlossen bzw. jenseits der Intelligibilität bleibt. Fragen des Ausschlusses interessieren den NI nicht, sein Fokus liegt auf dem Gewinn von Legitimität, der oftmals – so eine zentrale These – durch Prozesse der Isomorphie (DiMaggio/Powell 1983) erwirkt wird.

Organisationswerdung durch Diversität

en potenzielle Subjekte je spezifischen Anrufungen unterworfen, welche überhaupt erst sozial intelligible Subjektpositionen erschaffen und durch welche – in Kombination mit der auf sie antwortenden Umwendung des werdenden Subjekts – eine spezifische, stets bedingte Handlungsfähigkeit und Subjektivität konstituiert werden (vgl. Butler 1997). Subjektivierung wird als Doppelbewegung von Unterwerfung und Subjektwerdung gedacht, als ein zwar nicht determinierter, jedoch stark regulierter, durch potenziell variable Techniken der Subjektivierung forcierter Konstitutionsprozess, in dem das werdende Subjekt sowohl ein Verhältnis zur Welt als auch zu seinem Selbst auf baut und in dem es in spezifische, durch die Anrufungen und Subjektivierungstechniken vermittelte Denkweisen und Handlungsrationalitäten hinein subjektiviert wird. Je nach Art der Wissensordnungen und Subjektivierungstechniken kann Macht auf unterschiedliche Weise wirksam werden, sie wird grundlegend als produktive – und nicht primär als negative, verunmöglichende – Kraft gedacht, Subjektivierung kann damit ein Vehikel des Machtvollzugs, eine spezifische Art des Regierens im Sinne eines Führens der Führungen sein (Foucault 1987). Der Subjektivierungsprozess verbleibt mit Butler nicht auf einer rein diskursiven Ebene, sondern umfasst eine körperliche Dimension (vgl. Saar 2013: 24). Im Fall der Organisation lässt sich diese in der Formalstruktur verorten. Im Zentrum der World-polity-Arbeiten steht die globale Ausbreitung Westlicher Rationalitätsmythen. Diese führe dazu, dass primär drei Typen von Akteurinnen dominieren und sich ausbreiten: Individuen, Nationalstaaten und Organisationen (Meyer/Jepperson 2000: 101). Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Typus der Organisation, dessen Zahl in den vergangenen Jahrzehnten weltweit angewachsen sei (Drori/Meyer/Hwang 2006). Die Konstitution von Organisationen als Akteurin wird nicht so ausführlich theoretisiert wie in den Arbeiten zur Subjektivierung, doch finden sich einige Analogien. Statt von Anrufungen spricht der NI von durch Mythen transportierten Erwartungen der Organisationsumwelt darüber, welche Formalstruktur eine rationale Organisation aufzuweisen und welchen Aufgaben diese über ihre je spezifischen Zwecke (z.B. im Falle einer Autofabrik die Produktion und der gewinnbringende Verkauf von Autos) hinaus nachzukommen habe. Eine den NI kennzeichnende These ist, dass die Erfüllung dieser Erwartungen Legitimität erzeugt und dass letztere zentral für das Überleben von Organisationen ist (Meyer/Rowan 1977).6 Eine Organisation entspreche diesen Mythen, indem sie diese in ihrer Formalstruktur abbildet, das heißt, indem sie diese auf eine spezifische, als rational geltende Weise gestaltet und nach Außen präsentiert. Auf diese Weise 6 | Demgegenüber sei eine auf den Produktionsprozess bezogene effiziente Struktur zweitrangig – eine These, welche die in der Organisationsforschung der 1970er Jahre dominante Vorstellung von Organisationen als Inbegriff einer Zweck-Mittel-Rationalität vehement in Frage stellte.

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materialisieren sich die Umwelterwartungen in der Organisation. Mit Foucault betrachtet handelt es sich um eine produktive, nicht repressive, Machtform. Potenziell steht jeder Organisation frei, wie sie ihre Formalstruktur gestaltet, doch um von anderen als Organisation und damit als intelligible Akteurin im organisationalen Feld anerkannt zu werden, gilt es bestimmten, diskursiv ausgehandelten Normen zu folgen. Der Status als Organisation hängt von der Anerkennung durch andere ab und ist dadurch stets prekär, die normkonforme Formalstruktur muss immer wieder nach Außen zelebriert werden. Auf diese Weise wird die Norm zugleich bestätigt und fortgeschrieben. Der NI denkt Handlungsfähigkeit – im Vergleich zur Subjektivierungsforschung – stärker determiniert als scripted agency. Die Formalstruktur konfiguriert die Handlungsfähigkeit der Organisation, sie beeinflusst, auf welche Weise sie mit anderen Akteurinnen interagieren kann und welche Art von Wissen sie über sich selbst auf baut. Die Formalstruktur sollte allerdings keineswegs statisch als enges Korsett gedacht werden. Sie umfasst sowohl Strukturen im engeren Sinne, wie z.B. Machthierarchien, als auch Praktiken in Gestalt formalisierter Routinen. Zumindest dann, wenn diese Praktiken (zum Teil) Techniken des Selbst entsprechen – also Momente der Selbstreflexion und Selbstmodifikation enthalten, welche die Handlungsfähigkeit rekonfigurieren – ist die organisationale Handlungsfähigkeit komplexer zu verstehen als ein Set von Verhaltensprogrammierungen. Als ein Kennzeichen moderner Akteurinnen betrachten Meyer und Kolleginnen die Fähigkeit, im Einsatz für andere zu handeln (Meyer/Jepperson 2000: 107f.; Meyer 2010). Durch die globale Ausbreitung Westlicher Rationalitätsmythen und deren Werten sowie durch veränderte transnationale Beziehungen würden Organisationen weltweit mit einer immer größeren Anzahl an Erwartungen konfrontiert; sie werden, so die These, zu corporate citizens, die keineswegs nur für ihre eigenen Interessen, sondern immer stärker für die Interessen anderer zu agieren haben (Meyer/Bromley 2014: 378f.). Diese anderen können ebenso Personen wie Entitäten ohne eigene Handlungsfähigkeit sein, beispielsweise das Ökosystem, die Menschenrechte oder gesellschaftliche Werte wie Bildungsgerechtigkeit. Gerade das Handeln für global anerkannte Prinzipien verspreche ein hohes Maß an Legitimität (Meyer 2010: 9f.) und fördert dadurch die Anerkennung als organisationale Akteurin. Bei vielen der Anforderungen, mit denen Organisationen heute konfrontiert sind und die weit über die einer effizienten Produktion hinausgehen, sei das Verhältnis von Zweck und Mitteln allerdings unklar (z.B. der Zusammenhang zwischen der Qualifikation einer Lehrkraft und dem Lernerfolg ihrer Studierenden); gerade deshalb sei die Antwort auf solche Erwartungen die Ausbildung solcher Formalstrukturen, die in der Umwelt als adäquat gelten – diese schaffen Legiti-

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mität unabhängig davon, ob sie tatsächlich die gewünschte Wirkung erzielen (Meyer/Bromley 2014: 377f., 380; Meyer/Rowan 1977).7 Diese Überlegungen sind für den Umgang mit Diversität relevant, denn zum einen stellt dieser nur eine von vielen an Hochschulen gerichteten Erwartungen dar, zum anderen besteht bisher kein Konsens darüber, welchen Einfluss Diversität auf eine erfolgreiche Organisationsmitgliedschaft hat und welche Diversity-Maßnahmen letztere begünstigen. Die Handlungsfähigkeit der Hochschule wird daher in hohem Maße von außen beeinflusst. Sie unterliegt mythen- und skriptförmigen Ordnungen des Wissens und Sets an Praktiken, die sich in ihre Formalstruktur einschreiben und damit die Art ihres Managements, aber auch ihren Umgang mit Phänomenen wie Diversität, konfigurieren.

Die Hochschulreform als Subjektivierungssetting Frank Meier (2009) hat in einer empirischen Studie gezeigt, auf welche Weise Hochschulen in der Hochschulpolitik diskursiv als Akteurinnen konstruiert werden. Aus neo-institutionalistischer Sicht kann diese Konstruktion als ein Mythos verstanden werden, durch den bestimmte, als rational und legitim geltende Vorstellungen und Erwartungen artikuliert werden, wie eine Hochschule auszusehen und zu agieren hat. Ihre Zelebration erhöht die Legitimität und damit die Überlebensfähigkeit der Hochschule. Die Problematisierung ihres Akteursstatus setzt die Hochschule dagegen unter Legitimationsdruck. Vor diesem Hintergrund kann gefragt werden, auf welche Weise das Thema Diversität der Hochschule die Chance bietet, solche Erwartungen der Umwelt zu erfüllen, die über jene, sich mit Diversität zu beschäftigen, hinausgehen, etwa indem ihr Diversity-Aktivitäten ermöglichen, sich als Akteurin und Organisation zu inszenieren. Aus einer poststrukturalistisch fundierten Perspektive entspricht die diskursive Konstruktion der Hochschule als Akteurin einer Anrufung, ein organisationales Subjekt zu sein bzw. zu werden. Die rezente Reform der Hochschule lässt sich folglich als Prozess der Subjektivierung des Kollektivsubjekts Hochschule betrachten. Das Postulat Sei Subjekt! Sei Organisation! wird präzisiert durch die Anrufung bestimmter Eigenschaften und Handlungen. Denn es reicht nicht, irgendein Subjekt bzw. irgendeine Organisation zu werden. 7 | Als Antwort auf verschiedene Erwartungen und Rationalitäten können diese Strukturen in sich widersprüchlich sein, so dass die verschiedenen Strukturelemente oft nur lose miteinander gekoppelt seien, um so Konflikte zu minimieren; eine gemeinsame Klammer oder der Anschein von Kohärenz werde nicht durch funktionale Abstimmung, sondern durch Mythen wie z.B. jene der Professionalisierung oder des Accounting erzeugt (Meyer/Bromley 2014: 381).

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Angeleitet wird die Hochschulreform maßgeblich vom Leitbild der unternehmerischen Universität und dem New Public Management als adäquatem Verwaltungsleitbild (vgl. Schimank 2005; Nickel 2007). Diese fungieren zugleich als Postulat wie auch als Umsetzungsmöglichkeit neuer Anforderungen an Hochschulen wie Profilbildung, Zieldefinition und Strategieentwicklung, Elaboration neuer Strukturen, Aufwertung der Leitungsebene, Accountability oder Leistungs- und Wettbewerbsorientierung (vgl. Krücken/Blümel/ Kloke 2009; Krücken/Meier 2006). Zu den expliziten Reformzielen gehören die Identitätsbildung vor allem via Profilbildung und die Neugestaltung der Außen- und Innenbeziehungen (vgl. Meier 2009). Als Reforminstrumente dienen u.a. Ziel- und Leistungsvereinbarungen, Kosten- und Leistungsrechnung, outputorientierte Finanzierung mit Globalbudgets, Wettbewerbe um Fördermittel, Leitbilder, Maßnahmen des Qualitätsmanagements und der Evaluation (vgl. Nickel 2007; Bogumil et al. 2011). Aus foucaultscher Perspektive lassen sich diese als spezifische Subjektivierungstechniken lesen, durch welche die Hochschule angehalten wird, sich selbst, ihre Identität, Ziele und Handlungen zu reflektieren und zu modifizieren, kurzum, am Verhältnis zu sich und anderen zu arbeiten. Während das normative Leitbild der unternehmerischen Hochschule auf einer primär diskursiven Ebene über appellative Anrufungen und aus der Umwelt der Hochschule heraus operiert, setzen die am New Public Management orientierten Governance-Reformen auf Ebene der formalen Praktiken und Strukturen sowie der Außenbeziehungen an. Die Reforminstrumente modifizieren Verfahren und Hierarchien, ordnen Zuständigkeiten neu, produzieren neue Indikatoren und damit eine Vielzahl an Kennzahlen, sie führen Berichtspflichten ein und fordern immer wieder zum wettbewerblichen Vergleich auf. Sie verankern spezifische Techniken der Subjektivierung in der Formalstruktur, die Rationalitätskriterien wie Quantifizierbarkeit und Effizienz folgen, sie verändern Mitgliedsrollen und koppeln diese an bestimmte Handlungs- und Denkweisen. Damit tragen sie sowohl zu einer spezifischen Subjektivierung der Organisation als auch ihrer Mitglieder als Kollektivsubjekt bei, die Verankerung dieser Techniken in der Formalstruktur soll sicherstellen, dass die von ihnen implizierten Denk- und Handlungsweisen auch über den Wechsel von Personal hinaus Bestand haben. Dieser Absicherungsmechanismus bildet eine Spezifik der Subjektivierung von Organisationen.

Akteursmerkmale der Hochschule Um zu untersuchen, inwiefern Diversität der Hochschule eine Chance bietet, ihre Organisationswerdung voranzutreiben, eignen sich die von Meier herausgearbeiteten Merkmale der Hochschule als Akteurin als Beobachtungsschema. Meier beschreibt die Organisationswerdung der Hochschule als ihre Ak-

Organisationswerdung durch Diversität

teurwerdung. Mit den World-polity-Arbeiten als Hauptbezugspunkt 8 definiert er Akteurinnen als 1) Adressen, denen (Nicht-)Handlungen und deren Folgen zugerechnet werden, und als Einheiten, 2) an die aus der Umwelt Sets von Erwartungen gerichtet werden, in welchen institutionalisierte Konzepte verantwortlicher Handlungsträgerschaft zum Tragen kommen, und die 3) diese Konzepte in sich abbilden können (Meier 2009: 77-81). Entscheidend ist nach dieser Definition nicht die Frage der Autorschaft einer Handlung noch die Handlung selbst, sondern die Frage, wem sie zugeschrieben wird. Die institutionalisierten Konzepte verantwortlicher Handlungsträgerschaft können als spezifische Anrufungen verstanden werden, mit denen sich eine Organisation zu »identifizieren« hat und denen sie Folge leistet, indem sie ihre Formalstruktur modifiziert. Bei der Spezifikation seines Konzepts von actorhood schließt Meier an Brunsson/Sahlin-Andersson (2000) an, nach denen vollständige Organisationen jene sind, denen Akteursmerkmale zugeschrieben werden. Diese Merkmale greift Meier auf und modifiziert sie derart, dass er zu den folgenden, in drei Kategorien unterteilten Akteurskennzeichen kommt: a) Identität: Einheit, Autonomie, kategoriale Zuordnung und Besonderheit; b) Kompetenzen: Handlungsfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Selbstkontrolle, Kognitionsfähigkeit; c) Orientierung: Handlungsorientierung, Absichten (Meier 2009:  85). Sie sind das Kondensat der diskursiven Konstruktion einer organisationalen Akteurin und lassen sich als ein Set von Anrufungen verstehen, dem das (stets im Werden befindliche) organisationale Subjekt ausgesetzt ist und das als Maßstab fungiert, anhand dessen der Subjektstatus zuerkannt und verweigert wird. So wie in Meiers eigener Arbeit werden diese Merkmale im nun folgenden empirischen Teil als Beobachtungsschema genutzt.

D iversität als » doppelte C hance «? Wie fügen sich die Aktivitäten unter dem Schlagwort Diversität in die subjektivierenden und auf die Transformation der Formalstruktur zielenden Techniken der Hochschulreform und ihre Anrufung zur Organisationswerdung ein? Welche Rationalitäten verbinden sich im Reden über Diversität und welche Chancen bietet die Beschäftigung mit ihr den Hochschulen? Diversity Management gehört zwar nicht zum Standardkanon der Neuausrichtung

8 | Zusätzlich zum NI bezieht er sich auf Elemente von Colemans Theorie korporativer Akteure, Luhmanns Systemtheorie und Foucaults Arbeiten zur Gouvernementalität (vgl. Meier 2009: 23-76).

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der Hochschulen, wird jedoch von den gleichen Akteurinnen9 gefördert, die auch die Governance-Reform und Organisationswerdung vorantreiben. Kennzeichnend für die hochschulpolitische Diskussion von Vielfalt und Diversity Management ist, dass diese mit einem Appell, aktiv zu werden, verbunden ist. Der Diagnose der Diversität der Hochschulmitglieder folgen in der Regel Anrufungen, mit dieser in bestimmter Weise umzugehen. Doch welche Instrumente gelten als hierfür geeignet und wie hat ein adäquater Umgang mit Vielfalt auszusehen? Schon früh entstand ein Förderprogramm, das Hochschulen zu einem systematischen Umgang mit Diversität anleiten soll und das dazu passende Instrumente bereitstellt: Im Rahmen des vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gestarteten und durch die CHE Consult GmbH unterstützten Projekts Ungleich Besser! wurde ein Diversity Audit entwickelt und an acht Hochschulen durchgeführt. 2012 wurde dieses Audit in Nordrhein-Westfalen vom Wissenschaftsministerium aufgegriffen und in Kooperation mit dem Stifterverband ebenfalls an acht Hochschulen durchgeführt. Seit 2013 bietet der Stifterverband es allen Hochschulen unter dem Namen Vielfalt gestalten an.10 Das Audit lässt sich als Programmatik für den richtigen Umgang mit Diversität betrachten: Es nimmt bestimmte Konnotationen von Diversität vor und gibt den Hochschulen ein Set von Instrumenten und Kommunikationsformaten an die Hand. Vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Hochschulreformbemühungen und der Ausführungen zu Subjektivierung stellt sich die Frage, ob das Audit zugleich als eine Programmatik zur Subjektivierung der Hochschule als organisationale Akteurin fungiert. Aus der Forschungsperspektive der Subjektivierung werde ich zum einen die zentrale Publikation des Audits untersuchen, zum anderen die Begrüßungsrede, welche die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin Svenja Schulze anlässlich der Auftaktveranstaltung für das Diversity Audit in Nordrhein-Westfalen im Dezember 2012 gehalten hat. Ergänzend werfe ich einen Blick auf Leitbilder von Hochschulen. Auf diese Weise werden sowohl die Anrufungen und Rationalitäten, die aus der Umwelt an Hochschulen herangetragen werden, deren eigene Thematisierungsweisen von Diversität als auch Anleitungen und Instrumente für den Umgang mit Diversität berücksichtigt. So wird es möglich, die Seite der Anrufungen und Umwendungen sowie potenzielle Techniken der Subjektivierung zu untersuchen. Als erstes betrachte ich, welche Rationalitäten sich im Reden über Diversität finden und verbinden, als zweites gehe ich der Frage nach, auf welche Weise und mithilfe welcher 9 | Hierzu gehören etwa der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft oder CHE Consult. 10 | https://www.stifterverband.org/diversity-audit (19.12.2016)

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Praktiken das Audit Hochschulen zum Umgang mit Diversität anleitet und im dritten Schritt prüfe ich, ob der Hochschule durch das Audit und seine Praktiken die von Meier herausgearbeiteten Akteursmerkmale zugeschrieben werden und die Auseinandersetzung mit Diversität somit die Organisationswerdung der Hochschule unterstützt. Im Vorfeld erläutere ich kurz den Begriff Diversity.

Diversity und Diversity Management – eine Begriffsklärung Eine allseits anerkannte Definition von Diversity existiert nicht, als kennzeichnend gilt jedoch die Berücksichtigung sowohl von Differenzen als auch von Gemeinsamkeiten sowie von mehreren Diversity-Dimensionen (und nicht nur einer) sowie ein ressourcenorientierter Blick, der Diversity zum einen als Normalität, zum anderen als Potenzial und Chance begreift und das Thema damit positiv zu besetzen sucht; eine Defizitperspektive, die sowohl der Konnotation von Differenz als Abweichung und Problem als auch der Antidiskriminierungsperspektive zugrunde liegt, soll vermieden werden (vgl. Hofmann 2012; Eickhoff/Schmitt 2016: 200f.). Die Zahl der berücksichtigten DiversityDimensionen schwankt. Als Hauptkategorien werden meist soziale Kategorien wie Geschlecht oder Ethnie genannt, daneben finden sich jedoch auch personale (z.B. Kompetenzen) und organisationsspezifische Merkmale wie Organisationseinheit oder Mitgliedsrolle (vgl. Gardenswartz/Rowe 2003:  33). Die Offenheit des Diversity-Begriffs ermöglicht zum einen vielfältige Aneignungsweisen und erfordert zum anderen ein stetiges Ergründen dessen, was Diversität ist und bedeutet; sie evoziert so ein beständiges Reden über Diversität. Beim Diversity Management handelt es sich ursprünglich um ein Konzept des Personalmanagements in Unternehmen. Es existieren verschiedene Paradigmen, die vom Ausgleich von Nachteilen und Chancengleichheit über Diversität als Zutrittsmöglichkeit zu neuen Märkten und Kundinnengruppen, Wettbewerbsvorteil und Konformität mit (Antidiskriminierungs-)Gesetzen hin zu Diversität als Kreativitäts-, Innovations- und Lernpotenzial und Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung reichen.11

Diversität als Chance I: Verbindung heterogener Rationalitäten Die Hochschulreformen der vergangenen Dekaden mit ihrem Leitbild der unternehmerischen Universität und den Strategien des New Public Management stoßen keineswegs nur auf Wohlwollen: Richard Weiskopf (2005) kritisiert eine Gouvernementalisierung der Universität und ebenso wie andere (etwa Frost 2006; Münch 2009, 2011) diagnostiziert er ihre Ökonomisierung. 11 | Für eine ausführliche Darstellung siehe etwa Schulz 2009.

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Neben dem neoliberalen Leitbild des Unternehmerischen zieht insbesondere die Exzellenzorientierung den Unmut der Kritikerinnen auf sich, allen voran der Wettbewerb der Exzellenzinitiative. Gegenüber der Ökonomisierung und Exzellenzorientierung der Hochschule, so die Kritik, geraten Ziele wie Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit oder auch demokratische Selbstbestimmung und -verwaltung, die der Hochschule als gesellschaftspolitische Aufgabe gleichwohl zugeschrieben werden, in den Hintergrund. Häufig erscheinen diese konkurrierenden Ausrichtungen als ein Widerspruch. Auf welche Weise ermöglicht die Auseinandersetzung mit Diversität, diese zwei verschiedenen Logiken miteinander zu vereinbaren? Diese Frage beantworte ich anhand der ministeriellen Rede und der Hochschulleitbilder. Ministerin Schulze stellt in ihrer Rede Monokulturen als überholt und wenig begehrenswert dar, um danach Diversität als aktuelles und lohnendes Thema zu etablieren: Ziel der Landesregierung sei es, »alle Talente zu nutzen, mehr Bildungschancen zu bieten und dabei alle Potenziale auszuschöpfen«, dann werde Vielfalt zu einem Gewinn für alle: für Einzelne, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft (Schulze 2012:  2). Vielfalt wird als positiv und nützlich gesetzt, sie wird als ökonomischer Vorteil beschrieben und zugleich mit dem Ziel der Chancengleichheit verbunden. Die Verben nutzen und vor allem ausschöpfen mit seiner Nähe zu Wertschöpfung indizieren eine Verwertungsperspektive. Die Nutzenperspektive wird untermauert, indem Schulze Diversität als »Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit unseres Bildungssystems« (ebd.: 3) bezeichnet, deren Potenzial als »unermessliches Potenzial an Kreativität und Innovation« (ebd.:  5) spezifiziert und von einer »Vielfalts-Rendite« (ebd.: 3) spricht. Der der Ökonomie entlehnte Begriff der Rendite lässt die Anstrengungen als Investitionen erscheinen, die nicht um ihrer selbst willen unternommen werden, sondern weil sie Mehrwert schaffen, hier in Form von Innovationen und Erfolgen. Die Ministerin verknüpft Aktivitäten zugunsten von Bildungschancen/Chancengleichheit mit einem ökonomischen Mehrwert und verbindet so den Diskursstrang der Bildungsgerechtigkeit mit dem des ökonomischen Nutzens und der Effizienz. Der Einsatz für Chancengleichheit verspricht demnach nicht nur moralischen Gewinn, sondern zahlt sich auch ökonomisch aus. Im Sinne des NI verschafft der richtige Umgang mit Diversität Hochschulen in doppelter Weise Legitimität. Er ermöglicht ihr, sich nicht nur für die eigenen Interessen einzusetzen, sondern auch die anderer und für gesellschaftlich anerkannte Werte wie Bildungsgerechtigkeit. In den Hochschulleitbildern finden sich ebenfalls Begriffe aus beiden Diskurssträngen. Hier reicht die Thematisierung von Diversität von Wertschöpfung durch eine Wertschätzungskultur gegenüber Diversität über die Setzung von Vielfalt als Basis wissenschaftlicher Exzellenz, bis hin zu Bekenntnissen zu Bildungsgerechtigkeit, gleichberechtigter und gleichgewichtiger Teilhabe aller Hoch-

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schulangehörigen durch ein Diversity-Konzept und Antidiskriminierungsarbeit als wichtigem Bestandteil des Hochschulalltags.12 Diese Beispiele zeigen, dass die Beschäftigung mit Diversität die Chance bietet, Argumente der Anti-Diskriminierung, Fairness und Gerechtigkeit mit solchen der ökonomischen Nutzung von Diversität als Ressource und Wettbewerbsvorteil zu verbinden und den vermeintlichen Widerspruch zwischen beiden Diskurssträngen aufzulösen. Dadurch, dass sich die Diversity-Aktivitäten aktuell auf den Bereich Studium und Lehre konzentrieren,13 setzen die Hochschulen zudem dem Vorwurf etwas entgegen, diesen Bereich zugunsten der Exzellenzorientierung in der Forschung zu vernachlässigen. Das empirische Material verdeutlicht zum einen, dass Hochschulen mittels des Themas Diversität zum Handeln aufgefordert und als Subjekte angerufen werden, und zum anderen, dass sie diese Anrufungen in ihren Leitbildern aufnehmen und Diversität selbst als etwas begreifen, das bearbeitet werden muss, das von der Hochschule also erfordert, zum Subjekt des Umgangs mit Diversität zu werden.

Anleitung zum richtigen Umgang mit Diversität Indem Hochschulen in der Rede von Ministerin Schulze sowohl explizit als Nutznießerinnen benannt und die anwesenden Hochschulvertreterinnen durch den Gebrauch von Pronomina wie wir und uns direkt adressiert werden, wird Vielfalt sowohl zu einem Versprechen als auch einer Verpflichtung für die Hochschulen. Dass Diversität in Folge nicht nur als Potenzial, sondern zugleich als Herausforderung konnotiert wird, erhöht den Handlungsdruck: Diversität müsse wahrgenommen, anerkannt und schließlich genutzt werden und den Herausforderungen »mit einer umfassenden Strategie, mit einem systematischen und strukturierten Vorgehen« (ebd.: 5) begegnet werden. Damit, wie ein solches Vorgehen auszuschauen hat, beschäftigt sich das Diversity Audit Vielfalt gestalten. Dieses verbleibt nicht auf der Ebene von Anrufungen, sondern gibt der Hochschule zahlreiche Instrumente und Kommunikationsanreize an die Hand. Ziel des Audits ist ein Strukturen und Abläufe umfassender, von Visionen und Profilbildung geleiteter Veränderungsprozess, durch den sich die Hochschule zur lernenden Organisation entwickelt (vgl. Ridder/Jorzik 2012:  12, 16, 18). Das heißt, sie soll nicht nur einmal implementierten Routinen folgen, sondern ihr eigenes Handeln ebenso wie die (sich verändernden) Umwelt- und 12 | Quelle: Korpus der Leitbilder (N=131) deutscher, staatlicher Fachhochschulen und Universitäten, das ich im Rahmen meiner Doktorarbeit 2013 zusammengestellt habe. 13 | Siehe hierzu die zahlreichen Projekte, die über den Qualitätspakt Lehre finanziert werden: www.qualitaetspakt-lehre.de (01.03.2017).

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Rahmenbedingungen reflektieren, um ihr Handeln orientiert an einem übergeordneten Leitbild zu optimieren und an neue Gegebenheiten anzupassen. Das Audit gliedert sich in verschiedene Schritte (Ridder 2012: 24ff.): Die Bewerbung zur Teilnahme beginnt mit einer Planungsphase, in deren Rahmen eine Steuerungs- und Lenkungsgruppe gebildet und die Bewerbungsunterlagen erstellt werden. In einem Diversity-Check werden diese geprüft und bei positiver Begutachtung beginnt der 24-monatige interne Auditierungsprozess, der unterteilt ist in die Phasen der Initiierung, der Implementierung und der Zertifizierung. Während dieser Zeit müssen die Teilnehmenden gemeinsam an fünf Diversity-Foren teilnehmen. Der Prozess endet mit der Vergabe des Zertifikats, das ermöglicht, sich mit anderen Zertifikatshochschulen in einem Diversity-Club auszutauschen. Je nach Phase kommen verschiedene Instrumente zum Einsatz: Reports, Workshops, Beratungen, Begutachtungen, Foren und Gruppendiskussionen, durch die zahlreiche Anlässe des Redens, Reflektierens, Vermessens, Analysierens und Bewertens geschaffen werden und welche die Hochschule auf spezifische Weise subjektivieren. Eingebunden in diese Aktivitäten ist nicht nur die einzelne Hochschule, sondern sind auch sogenannte Peers, die das Audit entweder gerade selbst durchlaufen oder schon erfolgreich abgeschlossen haben, außerdem externe Expertinnen, Moderatorinnen, Auditorinnen und der Stifterverband. Die Hochschule wird so immer wieder den Erwartungen ihrer Umwelt und der Herausforderung, durch diese Legitimität zugesprochen zu bekommen, ausgesetzt. Die meisten Kommunikationsformate sind so angelegt, dass sie die Hochschule zur Selbstreflexion und Selbstpräsentation anregen. Der Charakter der Kommunikation reicht von kollegial (Peers) bis kontrollierend-prüfend (Stifterverband). Die Hochschule ist mit den Aufgaben konfrontiert, sich selbst zu vermessen und ihre Ausgangslage zu beschreiben, sich diversitätsbezogene Ziele zu setzen, eine Strategie für deren Erreichen zu entwickeln und in konkrete Maßnahmen zu übersetzen. Der Erfolg der Implementierung wird durch eine Zwischenevaluation erhoben und in einem abschließenden Selbstreport dokumentiert. Ziele, Strategie und Maßnahmen sollen dabei zweierlei berücksichtigen: Zum einen sollen sie sich am individuellen Profil orientieren (ebd.: 20), was zunächst einmal voraussetzt, dass die Hochschule sich bereits mit ihrem Profil beschäftigt hat. Unterstützt wird die Selbstreflexion durch die Auswertung vorhandener und zu erhebender Daten (etwa zu den Diversitätsmerkmalen oder der Zufriedenheit der Mitglieder) sowie eine auf den Diversity-Prozess bezogene Analyse der Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken (SWOT-Analyse) (ebd.: 26). Letztere verlangt, sich mit anderen Hochschulen zu vergleichen und sich gegenüber diesen zu positionieren. Zum anderen sollen die Kriterien und Indikatoren, mittels derer »Ausgangslage, Ziele, Methoden, Prozesse, Maßnahmen und Instrumente« beschrieben werden, auf das übergeordnete Ziel

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eines nicht nur strukturell-instrumentellen, sondern auch kulturellen Veränderungsprozesses ausgerichtet sein (ebd.:  20f.). Dies erfordert wiederum, die bisherige Organisationskultur zu reflektieren bzw. sich dieser überhaupt bewusst zu werden. In ihren Planungen und Aktivitäten soll die Hochschule verschiedene Handlungsfelder berücksichtigen, wobei als Schwerpunkte die Felder Strategie und Struktur sowie Studium und Lehre vorgegeben sind. Als Beispiele für konkrete Ansatzpunkte und Instrumente werden unter anderem Zielvereinbarungen, Personalauswahlverfahren, Hochschul- und Fachdidaktik, Zulassungsverfahren, Organisations- und Gremienkommunikation oder Diversity-Monitoring genannt (ebd.: 22f.). In vielen Fällen sollen also Prozesse analysiert und verändert werden. Eine wichtige Funktion kommt den Workshops zu. Hier finden Teile der Selbstanalyse und der strategischen und operativen Planung statt, außerdem werden mithilfe von Peers und externen Beraterinnen Zwischenstand und Endergebnis evaluiert und bewertet. Das Element des Peer-Reviews ebenso wie der Austausch mit anderen Auditteilnehmenden in den Foren soll Feedback ermöglichen und so die Reflexion und Gestaltung des Verhältnisses zu anderen fördern. Zugleich werden so Anlässe geschaffen, durch die der Status als legitime organisationale Akteurin bestätigt oder verweigert werden kann. Die zahlreichen Elemente der Selbstreflexion und -modifikation forcieren die Arbeit am Verhältnis zum Selbst. Die Hochschule wird angehalten, sich als Subjekt wahrzunehmen, zu gestalten und zu präsentieren. Anders als bei der Subjektivierung eines Individuums lässt sich bei einer Organisation die Ebene des Selbstverhältnisses noch einmal untergliedern in das Selbstverhältnis der Organisation als Einheit oder kollektive Akteurin und das Selbstverhältnis, das zwischen der Organisation und ihren Mitgliedern besteht.14 Letzterem kommt im Fall von Diversität eine besondere Bedeutung zu, soll doch gerade das Verhältnis der Organisation zur Diversität ihrer Mitglieder konfiguriert werden. Zum einen unterstützt das Audit eine auf Partizipation ausgelegte Organisationskultur (zumindest was Diversity-Belange betrifft), zum anderen forciert es eine bestimmte Haltung gegenüber Vielfalt. Grundlage für diese bildet ein sogenannter Code of Conduct, auf den sich die Hochschule verpflichten muss und dessen Einhaltung im Zuge der Zertifizierung überprüft wird (ebd.: 28). In der Publikation zum Audit bleibt der Code of Conduct allerdings recht vage und besteht mehrheitlich aus Schlagwörtern aus dem Diskursstrang der Chancengleichheit.

14 | Dieses Verhältnis lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten: aus der der Organisation und der der Mitglieder. Hier beschränke ich mich auf die der Organisation.

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Diversität als Chance II: Akteurswerdung durch Diversität Im Auditierungsprozess werden zahlreiche Instrumente angewandt oder implementiert, die als Techniken der Subjektivierung fungieren. Sie fordern eine Reflexion, Modifikation und Präsentation des Selbst und forcieren so die Modifikation der Formalstruktur und eine Arbeit am Verhältnis zum Selbst. Sie schaffen diverse Anlässe der vergleichenden Selbstreflexion und der Kommunikation, in denen sich gegenüber anderen Akteurinnen positioniert und um Zuspruch von Legitimität geworben werden muss, so dass eine Arbeit am Verhältnis zu anderen erfolgt. Das Audit und die durch dieses erfolgende Subjektivierung folgen bestimmten Rationalitäten. Einigen Instrumenten ist schon in ihrer Anlage eine eigene Rationalität inhärent, so forcieren etwa SWOT-Analysen durch den Blick auf Chancen und Risiken den Vergleich und Wettbewerb mit potenziellen »Konkurrentinnen«. Bei anderen Instrumenten wird eine spezifische Art der Subjektivierung durch die Prämissen forciert, auf die sich die Hochschule zu verpflichten hat und durch welche bestimmte Redeweisen als richtig und angemessen erscheinen und Legitimität versprechen. Das Diversity Audit lässt sich als ein Subjektivierungsprogramm und als ein Regieren durch Subjektivierung beschreiben. Entspricht das Subjekt bzw. die Akteurin, die durch das Audit konstituiert wird, den Merkmalen einer organisationalen Akteurin, wie Meier sie beschreibt? Dies werde ich nun im letzten Schritt prüfen. Die Hochschule wird dazu aufgefordert, sich als Einheit zu betrachten, die einerseits der Kategorie der Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen zugeordnet wird (Zugehörigkeit) und die sich andererseits durch ihre individuelle Profilbildung von anderen Hochschulen unterscheidet (Besonderheit). Dabei wird unterstellt, dass die Hochschule ihr Profil selbst gestalten und die Schwerpunkte ihrer Diversity-Aktivitäten wählen kann, ohne dabei (vollkommen) von anderen gesteuert zu werden (Autonomie). Diese vier Merkmale, die Meier (2009: 85) unter der Überschrift Identität zusammenfasst, werden alle erfüllt. Auch die unter Kompetenzen summierten Merkmale werden aufgerufen: Das Audit als Organisationsentwicklungsprozess baut darauf, dass die Hochschule über Handlungskapazitäten verfügt und auf sich und ihre Umwelt einwirken kann, sie wird als handlungs- und entscheidungsfähig angerufen und konstruiert. Um ihre Entscheidungsfähigkeit im Rahmen des Audits zu stärken, sind eine Steuerungs- und Lenkungsgruppe zu bilden. Diese sollen Entscheidungsprozesse befördern und deren Verbindlichkeit durch die Einbindung der Hochschulleitung erhöhen. Der Einbezug und die Stärkung der hochschulischen Hierarchie als Steuerungsinstanz verweisen auf die Vorstellung von Selbstkontrolle. Die Anlage des Audits als Entwicklungs- und Lernprozess mit dem Ziel der Hochschule als lernender Organisation konstruiert diese eindeutig als kognitionsfähig, womit Meier (2009: 92) etwa Aktivitäten wie Zukünfte antizi-

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pieren und Handlungsfolgen abschätzen (etwa in der SWOT-Analyse) oder Informationen sammeln und Wissen akkumulieren (etwa in den Selbstreporten oder der Evaluation) erfasst. Schließlich werden auch die beiden dem Punkt Orientierung zugeordneten Merkmale aufgerufen. Der Hochschule werden eine Handlungsorientierung und Absichten zugeschrieben. Ihr werden eigene Interessen unterstellt, sie wird dazu aufgefordert, sich selbst Ziele zu setzen, ihr Handeln auf deren Erreichen auszurichten und damit einer situationsübergreifenden Handlungslogik zu folgen. Alle zehn Eigenschaften, die Meier als Akteursmerkmale definiert, werden der Hochschule im Kontext des Audits zugeschrieben bzw. von dieser gefordert. Das Diversity Audit ermöglicht der Hochschule folglich nicht nur, an ihrem Umgang mit Diversität zu arbeiten, sondern das Audit initiiert auch einen Subjektivierungsprozess, der es der Hochschule ermöglicht, zur organisationalen Akteurin zu werden und diese Akteurswerdung nach außen zu demonstrieren. So sichert sie sich in doppelter Weise Legitimität. Schon allein durch ihre Teilnahme am Audit – unabhängig von den tatsächlichen Aktivitäten, die sie in diesem Rahmen unternehmen wird – leistet sie den Anforderungen Folge, Akteurin zu werden und mit Diversität umzugehen. Im Zuge des Umgangs mit Diversität wird durch Projekte wie das Diversity Audit zum einen ein Wissen über die fraglos vorausgesetzte Diversität der Hochschulmitglieder produziert, zum anderen ein Wissen, das die Hochschule als Organisation – ihre Strukturen und Prozesse wie auch ihr Profil – vermisst und sie in dieser Vermessung als eben solche überhaupt erst konstruiert. Die Art des Wissens, das geschaffen wird, und die Weise, in der es sich zu bestimmten Rationalitäten verknüpft, sind dabei durch die Instrumente, Anrufungen sowie die Ordnungen der Diskurse vorkonfiguriert, die diese Wissensproduktion forciert. Durch eine Vielzahl an Reflexions- und Kommunikationsanlässen wird dieses Wissen immer wieder aktualisiert und ergänzt, es bietet der Hochschule die Grundlage dafür, sich selbst und das eigene Handeln zu bewerten und zu modifizieren sowie durch andere bewertet zu werden. Der »richtige« Umgang mit Diversität wird der Hochschule nicht durch detaillierte Verordnungen vorgeschrieben, diesen Umgang soll sie für sich selbst ergründen. Dieser Entwicklungs- und Lernprozess bietet ihr die Chance der Subjekt- bzw. Akteurwerdung und die Möglichkeit, sich selbst zu führen. Die Interventionen lassen sich mit Foucault (1987, 2004) als indirekte Einflussnahme, als Führen der Führungen, also als gouvernementale Form des Regierens, als ein Regieren durch spezifische Formen der Subjektivierung betrachten, oder mit Gilles Deleuze als »Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen« (1993: 255). Zwar ist dies keine Besonderheit des Umgangs mit Diversität, sondern lässt sich auf viele Aspekte der Hochschulreform übertragen. Hervorzuheben ist allerdings, dass Diversität und die Subjektivierung via Diversität erlauben, zwei oft als gegensätzlich konstruierte Logiken zu verbinden: die der

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Ökonomisierung und die der Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Dadurch, dass keine klaren Vorstellungen und Regeln für den »richtigen« Umgang mit Diversität bestehen, sondern jede Hochschule sich diesen im Detail mithilfe bestimmter Techniken selbst zu ergründen hat, wird ein ständiges Reden und Reflektieren über Diversität evoziert und die Subjektivierung durch Diversität fortlaufend forciert.

S chluss Die Ausweitung der Forschungsperspektive der Subjektivierung von Personen auf Organisationen hat sich in der empirischen Analyse als ertragreich erwiesen. Möglich wurde dieser Transfer durch eine Ergänzung der poststrukturalistischen Subjektivierungsperspektive um organisationstheoretische Arbeiten, mittels derer Spezifika von Organisationen erfasst und ein Anschluss an Diskussionen der Organisations- und Hochschulforschung möglich wurde. Durch die Subjektivierungsperspektive geraten zum einen diskursive Akteurskonstruktionen der Hochschule in den Blick, welche durch Anrufungen der Umwelt entstehen. Zum anderen werden Instrumente und Praktiken erfasst, die sich als Techniken der Subjektivierung fassen lassen, da sie das Verhältnis der Hochschule zu sich und anderen gestalten und die Rationalitäten der Umwelt dauerhaft in der Organisation verankern. Ein Einsatz der Subjektivierungsperspektive in der Organisationsforschung ist damit auch dann möglich, wenn die Organisation selbst – und nicht lediglich ihre (personalen) Mitglieder – Gegenstand des Erkenntnisinteresses sind. Aus Sicht der Subjektivierungsforschung ist es nur konsequent, den Blick von Personen auf nicht-personale Subjekte auszuweiten. Indem Organisationen in die Subjektivierungsforschung einbezogen werden, kann zugleich die Analyse der Subjektivierung von Personen erweitert werden, da es nun möglich wird, die Bezugnahme verschiedener Subjektformen aufeinander zu berücksichtigen und Organisationen nicht nur als statische Rahmenbedingung, sondern quasi als »aktive Mitspielerin« personaler Subjektivierung einzubeziehen. Mithilfe der Subjektivierungsperspektive wird deutlich, dass Diversität der Hochschule eine doppelte Chance bietet und ihr erlaubt, unterschiedlichen Umwelterwartungen gerecht zu werden. Der Blick auf die im Kontext von Diversität artikulierten Anrufungen verdeutlicht, dass es sich bei Diversität um ein Reformthema handelt, das sich von anderen dadurch unterscheidet, dass es die Logik der Ökonomisierung und die der Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit zu kombinieren erlaubt. Des Weiteren geraten durch die Frage nach den Techniken der Subjektivierung jene Instrumente und ihre Rationalitäten in den Fokus, die der Hochschule für ihren Umgang mit Diversität an die Hand gegeben werden. Diese Instrumente schaffen zahlreiche Kommunikationsanläs-

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se, die eine Arbeit am Verhältnis zu sich und anderen evozieren, und treiben die Organisations- und Subjektwerdung der Hochschule voran. Genau diese Transformation und die Arbeit am Selbst sind kompatibel mit den umfassenden, am Leitbild der unternehmerischen Universität orientierten Reformvorhaben der vergangenen Dekaden, welche die Organisationswerdung der Hochschule als zentrales Reformziel sowie als Voraussetzung für eine veränderte Governance und ihre unternehmerische Ausrichtung betrachten. Diversität erweist sich damit als bestens integrierbar in Formen gouvernementalen Regierens.

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Die Produktion der Schule Hervorbringungen von Kollektivität im Kontext institutioneller Zielvereinbarungen im Schulsystem Melanie Schmidt/Daniel Diegmann

1. E inleitung »Vereinbaren statt anordnen« – mit dieser Chiffre umschreibt Agnieszka Dzierzbicka (2006) derzeitig wahrnehmbare Veränderungen im Erziehungsund Bildungswesen, die sie als Konjunktur kontraktualistischen Denkens auslegt. Kontrakte setzen mit ihren Strategien der Selbst- und Fremdsteuerung auf Teilhabe, Produktivität, Freiheit und Vernunft der Gesteuerten. Es mag kaum verwundern, dass eine solche Fassung von Kontraktualität für pädagogische Kontexte besonders anschlussfähig ist und pädagogische Verhältnisse zunehmend als Vertragsverhältnisse reformuliert werden: Jeder schließt mit jedem Verträge, Schulleitungen mit der Schulaufsicht, Lehrkräfte mit Schulleitungen, Schülerinnen mit Lehrkräften (vgl. Bröckling 2004: 133). Im folgenden Beitrag wird danach gefragt, wie solche Kontrakte – hier: zwischen Schule und Schulaufsicht – als Steuerungsinstrumente praktiziert werden, wie sich in ihnen zwei Vertragspartnerinnen harmonisieren, wie sich schulische Identität zur Schau stellt und als Einheit formiert. Dabei gehen wir davon aus, dass auf der Ebene der Gestaltung und Formulierung von Zielvereinbarungen ›die‹ Schule in performativen Praktiken als Kollektivsubjekt hervorgebracht wird. Diese These verfolgen wir entlang empirischen Materials, konkret: anhand institutioneller Zielvereinbarungen, die von sächsischen Schulen und der Schulaufsicht gemeinsam erstellt und zwischen diesen geschlossen wurden. Die Performativität von Kollektiv-Subjektivität lässt sich auf gouvernementalitätstheoretische Annahmen neuzeitlichen Regierens beziehen, (vgl. Dean 2010) die wir im Folgenden knapp darlegen. Dabei wird auf das Konzept von Subjektivierung als einer praktisch vorzunehmenden Aufgabe eingegangen, die sich im Rahmen von Anrufung und Einnahme einer Subjektposition voll-

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zieht. Wir gehen hierbei davon aus, dass auch nichtpersonale bzw. mehrpersonale Einheiten im Sinne einer sozialen Adresse fungieren und demnach in den Vorgang der Subjektivierung eingespannt werden können. Anschließend erläutern wir die Spezifika von Zielvereinbarungen als einer gouvernementalen Praktik des Regierens, bevor wir unseren analytischen Zugang schärfen und die Ergebnisse einer empirischen Studie zur Untersuchung von Zielvereinbarungsdokumenten darlegen.

2. S ubjek tivierung und K ollek tivierung Um Zielvereinbarungen nachfolgend als Praktiken zu fassen, mit denen Kollektivität evoziert wird, soll zunächst ein Verständnis des Zusammenhangs von Subjektivität, Kollektivität und Sozialität referiert werden, dass diesen als abhängig von stetig vorgenommen Wiederholungen auffasst. Eine solche Fokussierung auf Wiederholungen, im Sinne von Praktiken, in denen soziale Wirklichkeit konstituiert wird, bezieht sich auf die kontingenztheoretische Einsicht, dass weder ein eindeutig vorliegendes ›Soziales‹, noch das ›Subjekt‹ einen Haltepunkt für die Inblicknahme moderner Gesellschaften bietet (Makropoulos 1997). Eine solche Perspektive erlaubt es, Subjektivität und Sozialität als nie vollständig abgeschlossene Effekte von Diskursen und Prozessen der Subjektivierung in den Blick zu nehmen (Foucault 1994). Als Subjektivierung wird ein komplexes Zusammenspiel der Unterwerfung und Freisetzung von Subjekten verstanden, dass in Form sprachlich strukturierter Anrufungsund Umwendungsakte prozessiert (Butler 2006). Im Rahmen von Subjektivierungsprozessen werden zugleich soziale Räume re-produziert, innerhalb derer die Anrufungen und Umwendungen ›sinnvoll‹ werden: Es handelt sich bei Subjektivierungen demnach um performative Akte der Selbst-Erzeugung, die stets einem historischen und sozialen Apriori unterliegen (Bröckling/Krasmann 2010: 30), welches der Subjektivierung jedoch nicht vorausgeht. Mit Subjektivierung unter den Bedingungen von Kontingenz ist eine praktisch zu leistende Aufgabe benannt (vgl. Bröckling 2000), die unabschließbar ist und nicht in einem Subjekt mündet, demnach wiederholt vorgenommen werden muss. Subjekt und Subjektivierung sind gleichursprünglich, einander Bedingung und Effekt. Dabei umfasst sich zu subjektivieren auch die Erfordernis, sich zu positionieren: »Zu einem Subjekt (gemacht) zu werden, bedeutet stets, bestimmte Subjektpositionen zu aktualisieren und andere zu verwerfen« (Bröckling/Krasmann 2010: 29). Dass Subjektivierung nicht als Wahl zwischen Alternativen, entweder ein Subjekt zu werden oder es sein zu lassen, zu verstehen ist, unterstreicht Butler (2001) in einer machttheoretischen Ausformulierung des Subjektivierungsgeschehens, das sich auf eine Komplizenschaft zwischen Subjekt und Macht, auf

Die Produktion der Schule

die (An-)Erkennbarkeit von Subjekten im sozialen Raum bezieht: Die Einnahme einer Subjektposition verspricht eine soziale Existenz, weshalb sie einen Begehrens-Wert darstellt. Somit werden Normen, die den Subjektivierungsvorgang durchdringen, auch dann noch anerkannt und re-produziert, wenn sich Subjekt(ivierend)e in diesen nicht einrichten können. Aus dieser machttheoretischen Perspektive auf Subjektivierung heraus lässt sich auch ein analytischer Zugang zu größeren sozialen Organisationseinheiten, zu Kollektiven, gewinnen. Diese sind nicht per se in der Welt als eine mehr oder weniger enge Beschränkung subjektiver Handlungsfreiheit. Sie sind vielmehr eingelassen in soziale Praktiken, zugleich deren Effekt und Ausgangspunkt. Es erscheint demnach produktiv, solche verdichteten sozialen Organisationsformen als Adressen (vgl. Bröckling 2007) zu behandeln, als uneindeutige Rufe, die mit einer Reihe heterogener Normen aufgeladen sind und in Subjektivierungsprozessen wiederholt eingesetzt werden. An eine solche Perspektive knüpfen die nachfolgenden Überlegungen zu den Spezifika von Zielvereinbarungen, zu deren Einführung auf schulinstitutioneller Ebene und zur Etablierung eines schulischen Kollektivsubjekts an.

3. Z ielvereinbarungen und G ouvernementalität Die Einführung von Zielvereinbarungen an Schulen steht gegenwärtig in einem Kontext umfangreicher Rationalisierungsbestrebungen gesellschaftlicher Teilsysteme und deren zunehmender Outputorientierung: Formen des Kontraktmanagements etablieren sich nicht nur im Bildungssystem, sondern auch in Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung, Gesundheitssystem, Militär etc., die auf Effizienz hin verpflichtet werden sollen. Diese Regulierungsformen fungieren als Mittel von Menschenführung, als gouvernementale Regierungsstrategie (vgl. Bröckling 2000), und verbinden dabei politische und pädagogische Steuerungsbemühungen. Aus Perspektive der Gouvernementalitätsstudien (vgl. Peters et al. 2009) lassen sich schulische Zielvereinbarungen, d.h. partnerschaftlich ausgelegte Verträge zwischen Verhandlungsparteien ›auf Augenhöhe‹ (vgl. Dietrich/Lambrecht 2012), als Machttechniken und Regierungsweisen beobachten, in denen die Lenkung von größeren Einheiten, wie Organisationen, mit der Lenkung von Individuen verknüpft ist (Foucault 2004). Eine gouvernementale Form der Machtausübung operiert nicht im Sinne einer disziplinierenden Einschränkung, sondern setzt an der Freiheit von Subjekten an, um diese indirekt zu steuern. Freiheit wird folglich als Bedingung von Machtausübung verstanden, während zugleich bestimmte Formen von Freiheit erst innerhalb von Macht- und Regierungsverhältnissen evoziert werden (Bröckling/Krasmann 2010). Freiheit und Macht sind folglich keine Gegensätze, sondern sich wechselseitig konstituierende Konzepte.

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Die Zielvereinbarung, eine aus dem Feld der marktwirtschaftlichen Unternehmensführung auf Schule und schulische Steuerung adaptierte Regulierungsstrategie, kann als Regierung verstanden werden, weil in ihr Freiheit nicht nur produktiv ist, sondern auch produziert wird: Zielvereinbarungen basieren auf dem Grundgedanken, dass sich die Vereinbarungsparteien sowohl für das Erstellen als auch für das Umsetzen der Inhalte der Zielvereinbarung verantwortlich zeichnen. In Zielvereinbarungen überlagern sich dabei auf (Kollektiv)‌Subjekte gerichtete, gouvernementale Regierungspraktiken der Selbstprüfung, Selbstartikulation, Selbstoptimierung und Selbstregulierung (vgl. Pongratz 2009: 28ff.). Mit der Vorstellung der Stiftung sozialer Bindungen durch Verträge geht dementsprechend eine implizite Anthropologie einher. Der Mensch wird als homo contractualis, d.h. als rational kalkulierendes, auf Eigeninteresse bedachtes und damit erst soziales Wesen entworfen. Der »Humankapitalist in eigener Sache« (Bröckling 2004: 136), auf den die Regierungsbemühungen zielen und deren Effekt er ist, demonstriert seine Mündigkeit, indem er als verlässlicher Vertragspartner auftritt, der seine Interessen mit denjenigen der Anderen abzuwägen, klare Ziele zu formulieren und (Selbst-)Verpflichtungen einzugehen weiß (Bröckling 2007: 127ff.). In dieser Perspektive fallen Selbst- und Fremdführung zusammen, kennzeichnen das Vertrags-Subjekt bzw. das Vertrags-Kollektiv doch nicht nur die Autonomie, Verträge weitgehend auszuhandeln und gestalten zu können, sondern auch der Zwang, diese eingehen zu müssen.

4. I nstitutionelle Z ielvereinbarungen an S chulen z wischen I ndividualität und K ollek tivität Institutionelle schulische Zielvereinbarungen setzen auf überindividueller Ebene der Organisationen und Institutionen an, verbinden Schule und Schulaufsicht. Es handelt sich um verbriefte Verträge und Vereinbarungen, die sich materiell dokumentieren und die dadurch ein spezifisches Gewicht erhalten. Dieses besteht im Versprechen auf Effektivität durch Kollektivität: Das Kollektiv soll mobilisiert werden, da nur in Form gemeinsamer Kräfte und Ideenbündelung die nachhaltige Verbesserung von Schulqualität forciert werden könne.1

1 | Zielvereinbarungen unterscheiden sich von anderen auf Schulentwicklung zielenden Steuerungsinstrumenten, etwa Schulprogrammen, schulischen Leitbildern oder Leitmotiven (Logos, Claims etc.), die zwar ebenfalls auf die Etablierung eines Kollektivs hin ausgelegt sind, aber i.d.R. ohne die sichtbare Beteiligung schulexterner Institutionen auskommen müssen. In Folge dessen weisen sie auch nicht die spezifischen formalen Vertragsgestalt(ung)en auf. Zielvereinbarungen stehen mit den genannten Instrumenten aber in einem Verweisungs- und Verstärkungszusammenhang.

Die Produktion der Schule

Insofern die Schulaufsicht, als ein schulexternes Kontrollorgan, in diesen Prozessen als gleichberechtigte Vereinbarungspartei figuriert wird, scheinen in Zielvereinbarungen Formen schulischer Selbstbestimmung und administrativer Regulierung versöhnlich zusammenzufinden. Zielvereinbarungen gelten dann als »Scharniere« zwischen schulexternen bildungspolitischen Vorgaben und der Umsetzung von Maßnahmen in der schulischen Praxis (Keune 2014: 129). Sie sollen (chrono-)logisch an Schulinspektionsverfahren anschließen und die eigenverantwortliche, evidenzbasierte Weiterarbeit an der Optimierung der eigenen Qualität durch die Schule forcieren bzw. sicherstellen. Damit werden in Zielvereinbarungen Differenzen, die sich aus den verschiedenen Logiken der Institutionen Schule und Schulaufsicht ergeben, nivelliert. Die Relevanz einer Verständigung auf kollektiv bedeutsame Ziele als Motor von Qualitätsentwicklung wurde nicht zuletzt im wissenschaftlichen Feld lanciert: Die Übernahme organisationssoziologischer Konzepte in die erziehungswissenschaftliche Diskussion seit den 1980er Jahren lenkte den Blick auf die Schule als einer kollektiven Einheit von Verschiedenem (Fend 1986) und vor allem auf die Organisationsziele, denen zugeschrieben wurde Einheit erst stiften zu können. Der wissenschaftliche Blick richtete sich auf das ›Innen‹ der Schule: So könne organisationales Lernen nicht als Lernen Einzelner oder als lediglich akkumuliertes Lernen seiner einzelnen Teile verstanden werden. Mit dem Verständnis von Schule als Organisation ist vielmehr die Anforderung an die Mitglieder verbunden, etwas Neues, ein Kollektiv, eine ›richtige‹ Organisation zu werden, gemeinsamen Zielen zu folgen und dafür gemeinsame Anstrengungen zu erbringen (vgl. u.a. Philipp/Rolff 2006). Mit der Übernahme von Konzepten der Organisationssoziologie wurde auch der Gedanke einer durch die Schule selbst zu vollbringenden Organisationsentwicklung übernommen (vgl. u.a. Tacke 2005). So suggerieren beispielsweise praxisinstruktive Texte zur Schulentwicklung im Team (vgl. u.a. Mays 2016), wie mit der Referenz auf Kollektivität Organisationsentwicklung zur umstandslos zu realisierenden Angelegenheit für die Schule wird. Die Forderung nach Kollektivierung ist dabei konfundiert mit einer nachhaltigen Individualisierung des Schulischen. Das Kollektiv wird zum neuen Individuum, das sich von allen anderen Individuen-Kollektiven unterscheiden, an sich arbeiten und eigenständig seine Entwicklung steuern soll. Im Ansinnen individuelle und kollektive Momente miteinander produktiv zu vermitteln, verstärkt die Zielvereinbarung, als Instrument schulischer Selbststeuerung, folglich Individualisierungsregime. Dem entspricht, dass ›die‹ Schule im Duktus einer sogenannten Neuen Steuerung von Schulen häufig unter Rückgriff auf psychologisches und pädagogisches Vokabular kategorisiert wird, beispielsweise als defizitäre, mit Potentialen versehene, entwicklungskompetente, autonome, lernende Einheit (vgl. u.a. Senge 2006).

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5. A naly tischer Z ugang Im Kontext institutioneller Zielvereinbarungen können schulische Akteure ihr Handeln als Handeln ihrer Schule verstehen und ausweisen. Zielvereinbarungen lassen sich somit auch als Praxis auffassen, mit deren Hilfe die für schulische Selbststeuerung relevante Anstrengung, ein Schulkollektiv zu bilden, unternommen wird. Damit ist ein Verständnis von Kontraktivität und schulischen Vertragsschlüssen formuliert, das diese als performatives Subjektivierungsgeschehen analysieren lässt. Die Inblicknahme von institutionellen Zielvereinbarungen als subjektivierende Praktiken, die jene Tatbestände erst performativ erzeugen, die sie benennen, legitimiert sich in zweifacher Hinsicht: Zum einen lassen sich poststrukturalistische Argumentationslinien anführen, die auf die generelle performative Qualität jeden Sprechens hinweisen, in welchem sich die Gegenstände des Sprechens als Teil einer anzuerkennenden Wirklichkeit bilden und etablieren (vgl. Butler 2006). Was als Kollektiv, als »Schule«, zu verstehen ist, wird demnach (auch) anhand von verschriftlichten Verträgen stets aufs Neue umgrenzt, bleibt aber stets auch vage. Zum anderen liegt die Besonderheit der Zielvereinbarungen darin, dass sie als Ansprachen an sich selbst gelten können, in denen imperativisch benannt ist, was bzw. wer man erst werden soll. Sie beinhalten stets in die Zukunft weisende prospektive Beschreibungen und imaginieren ein künftiges Selbst, das als Folie für die Selbst-Bildungen der Gegenwart firmiert. Zielvereinbarungen sind Selbstverpflichtungen, die auf ein abstrakt gehaltenes Gemeinwohl der ›guten‹ oder ›optimalen‹ Schule gerichtet sind, von dem sie ihre autoritative Kraft beziehen. Die in den Dokumenten enthaltenden Beschreibungen des Schulischen wirken demnach präskriptiv, weil sie nahelegen, wie man sich selbst zu verstehen habe. Den Praktiken der Kollektivierung in Zielvereinbarungen widmen wir uns im analytischen Vorgehen einerseits entlang der Frage, wie die ausgewiesenen Autorinnen (Schulleitung, Referentin der Schulaufsicht) in den Dokumenten zu einer gemeinsamen Sprache finden und in welchen Praktiken des schriftlichen Verfassens sich ein (Schreibenden-)Kollektiv etabliert und zu erkennen gibt. Diese erscheinen uns bedeutsam, da hier u.a. administrative und schulische Akteure, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, als Gleiche in Erscheinung treten (müssen), um dem Zielvereinbarungstext Kohärenz zu verleihen. Im Fokus stehen damit die Praktiken der Autorisierung bzw. der Etablierung der Autorinnen als ein Autorinnenkollektiv – nicht aber die Autorinnen-Subjekte selbst und deren mögliche Sinndeutungen. Andererseits verfolgen wir die Frage, wie anhand der inhaltlich-formalen Gestaltung der Zielvereinbarungsdokumente in den Texten Kollektivität (hier: der Schule) evoziert wird, wie sie sich im Schreiben der Zielvereinbarungstexte

Die Produktion der Schule

vergegenständlicht und Schule als Kollektivsubjekt zum vertraglich verbürgten Gegenstand werden kann.2 Unser Forschungsinteresse richtet sich mithin auf die Funktionalität der Texte für die Hervorbringungen des Kollektivs Schule und des Autorinnenkollektivs. Ziel der folgenden Analyse ist es, zu beschreiben, welche Anstrengungen im Rahmen von Zielvereinbarungen vollzogen werden, ein Kollektiv zu werden. Dazu befragen wir schulische Zielvereinbarungen nach den Ausdrucksgestalten und Formierungen von Kollektivität: Anhand welcher Begrifflichkeiten, Formatierungen, Verknüpfungen, Gestaltungselemente etc. kommt Kollektivität zustande bzw. wird sie praktiziert und inszeniert? Dabei fokussieren wir – entlang der o.g. Fragestellungen – vornehmlich auf die Analyse iterierender Elemente, die in ähnlicher Form in (nahezu) allen Dokumenten auftauchen. Die Analyseergebnisse vermögen nichts darüber auszusagen, inwiefern die Zielvereinbarungen, etwa im Sinne von schulinternen Nutzungen zur Schulentwicklung, ›tatsächlich‹ praktisch geltend gemacht werden.

6. A nalyse institutioneller Z ielvereinbarungen 3 6.1 Das Werden des Kollektivs: Zeiträume, Zeitpunkte und Orte Alle im Rahmen unserer Untersuchung analysierten Zielvereinbarungen sind sowohl mit Datums-, als auch Ortsangaben versehen. Diese umklammern den Text und treten stets am Dokumentenanfang oder -ende, zudem auch oft im Text selbst auf (Abb. 1 und 2). Angaben von Zeit und Ort sind Zitationen der Form eines Vertragstextes, wie es etwa auch bei Kaufverträgen geläufig ist. Sie weisen den Text als einen Vereinbarungstext aus, entziehen ihn einer Unbestimmtheit, benennen seinen Ursprung und stecken dessen Gültigkeitsdauer ab.

2 | Das analytische Vorgehen ist inspiriert von diskursanalytischen, rhetoriktheoretisch gerahmten Untersuchungen, wie sie bspw. von Jergus (2011), Jergus, Koch und Thompson (2013) oder Krüger (2013) vorgelegt wurden. 3 | Die nachfolgende Analyse stützt sich auf 20 institutionelle Zielvereinbarungen, die uns im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Rezeption und Nutzung von Ergebnissen der externen Schulevaluation (RuN-Studie) von den teilnehmenden Schulen ausgehändigt wurden (Drinck et al. 2013). Die abgebildeten Auszüge aus den Zielvereinbarungen wurden zum Zwecke der Anonymisierung als Grafiken neu erstellt. Struktur und inhaltstragende Elemente der Zielvereinbarungen wurden übernommen.

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Abb. 1: Dokumentenkopf einer Zielvereinbarung

Abb. 2: Dokumentenfuß einer Zielvereinbarung Solche Verraumzeitlichungen beziehen sich sowohl auf den Moment der Niederschrift des Dokuments – durch Angabe von Zeit und Ort wird diese Momenthaftigkeit verstetigt und in eine Dauerhaftigkeit überführt –, als auch auf die Inhalte der Vereinbarungen, die Festlegung von zeitlichen Ausdehnungen, Perioden sowie Lokalitäten, in und an denen sich Veränderungen vollziehen sollen. Die Produktion von Schule als Kollektiv und ihre Raum-Zeit bzw. ihr Zeit-Raum scheinen in besonderer Weise konfundiert zu sein. Bedeutsam ist dabei das Spannungsfeld zwischen ereignishafter Momenthaftigkeit und fortdauernder Zeitlichkeit: Während der Vertragsschluss selbst nur einem einzigen Zeitpunkt zugeordnet werden kann, dem Ereignis der Unterzeichnung, wird mit der Vertraglichkeit zugleich eine in die Zukunft reichende Zeitspanne instituiert, die den Moment übersteigt und die Legitimität des Vertrags ob seiner künftigen Relevanz verbürgt. Erst diese Relevanzsetzung für die Zukunft normiert das künftige Handeln. Ein Handeln, das sich als Vertragshandeln inszeniert, verpflichtet sich gegenüber dem in der Vergangenheit Anerkannten. Verträge stehen zwischen Vergangenem und Zukünftigem. Während beim Lesen des Vertrags – und selbst im Moment des Unterzeichnens – das Geschriebene bereits vergangen ist, enthält der Vertrag zugleich eine auf einen künftigen Zeitpunkt verweisende Ansprache, dass noch etwas zu tun sei, man sich noch nicht am Ziel befinde, sondern, um dieses zu erreichen, Kräfte und Akteure zu mobilisieren habe. Der Zukunftsentwurf wird so zum Ausdruck einer, zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehenden, Unzulänglichkeit und der Möglichkeit zur Überwindung des defizitären Seins in einer absehbaren Zukunft. Die stete Künftigkeit legt allen Unterzeichnenden zudem nahe, sich immer wieder hinsichtlich der Vertragsgegenstände selbst zu reflektieren, Ist- und Soll-Zustand abzugleichen, sodass sich die Zielvereinbarung auch auf bereits existierende Subjekte bezieht und auf diese reagiert. Der Vertrag wird so mit jedem Lesen neu autorisiert. Dies bedeutet, dass die Schule als stets in Veränderung begriffen und im Werden konturiert ist. Verliert die Zielvereinbarung ihre Gültigkeit, weil ihre Zeit abgelaufen ist, stellt sich die Frage, wie die Schule als Kollektiv weiter-

Die Produktion der Schule

existiert und nicht mit dem Vertrag gleichsam ein Ende findet. Häufig halten genau jene Verstetigung von Vertragsschließungen und der Übergang in einen neuen Vertragszyklus – eingebettet in die vorgestellte Verstetigung von Qualitätskreisläufen – die Imagination eines Fortbestehens und die Mobilisierungskraft aufrecht. In diesem Sinne ist das schulische »Wir« nicht nur damit konfrontiert, immer aufs Neue Selbstentwürfe zu generieren, sondern auch damit, mit deren Realisation niemals fertig zu werden, das avisierte Schulkollektiv nie vollständig und abschließend sein zu können. Die Freisetzung und Mobilisierung von Ressourcen, ein Kollektiv zu werden, wird so zur dauerhaften, zur ›lebenslangen‹ Aufgabe (vgl. auch Bröckling/Peter 2014: 139). Das stete Neuansetzen in immer wiederkehrenden Kontrakt- und Innovationszyklen impliziert zudem die Möglichkeit, sich flexibel an sich verändernde Rahmenbedingungen anpassen zu können und die Notwendigkeit, sich in diese ›hinein zu entwerfen‹, fernab immerwährender, standardisierter, allen Schulen in gleicher Weise vorgezeichneter Bahnen. Auffällig ist, dass als Ort ausschließlich der Ort, an welchem die jeweilige Schule situiert ist, benannt wird. Damit bildet sich eine spezifische Referentialität von ›Schule‹, gleichermaßen als Gegenstand und als Ort, an dem sich sowohl das Vertrags- als auch das Optimierungsgeschehen abspielt. Die Organisation Schule ist an einen festen, bestimmten Punkt im Raum gebunden und kann durch Verweis auf diese Örtlichkeit Zugehörigkeit erzeugen. Indem die Vereinbarungen als am Ort der Schule abgeschlossen inszeniert werden, wird eine Vervielfältigung der (nicht) aufgerufenen Schul-Orte imaginiert. Der Schule wird ein singulärer Platz zugewiesen, der von keiner anderen Schule eingenommen werden kann. Damit erfüllt die Verortung eine identifikatorische und individualisierende Funktion: die Schulen können ausfindig gemacht und mit dem Vertragsgeschehen assoziiert werden. Darüber hinaus wird die Benennung des Ortes zum kleinsten gemeinsamen Nenner des im Schreiben des Vertrags entstehenden Autorinnenkollektivs, denn dieses muss zumindest im Moment des Unterschreibens, seiner Ratifizierung, an eben diesem einen Ort als anwesend gedacht sein. Dass in den Zielvereinbarungen der Ort der Schule ausgewiesen wird und nicht der Ort der Schulaufsicht, ist nicht zufällig und verweist neben den identifikatorischen und responsibilisierenden Funktionen des Vertrags – Welcher Institution wird der Vertragsgegenstand und werden dessen Verpflichtungen zugeschrieben? – auf die bemerkenswerte Abwesenheit der Schulaufsicht, die sich im eigentlichen Vereinbarungstext fortsetzt. Dies lässt sich vor dem theoretischen Hintergrund gouvernementaler Regierungsstrategien deuten: Der Vertrag benötigt zwar per definitionem zwei Vertragspartner ›auf Augenhöhe‹ und wird mit dem Einbezug der Schulbehörde auch erst politisch autorisiert. Gleichzeitig setzt der Vertrag jedoch die Fähigkeit zur Selbststeuerung des Schulkollektivs und die Absenz der Schulaufsicht als regulierender Kraft als

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gegeben voraus. Die Schulaufsicht muss sich ins Spiel bringen und gleichsam aus dem Spiel nehmen, um die Selbstregulierungskräfte der Schule zu initiieren. Diese einseitige Ausrichtung markiert eine spezifische Charakteristik des Vereinbarungsprozesses und der Vereinbarungsdokumente, die auch andere Formen pädagogischer Vereinbarungskultur kennzeichnet (vgl. Pongratz 2013: 83): Die Vereinbarungen zielen darauf, dass Schulen – der Programmatik nach – auch wollen und selbst vollziehen, was sie sollen. In diesen Fassungen von Örtlichkeit geht die Schule über ihre räumliche Begrenzung als Gebäude hinaus. Sie wird vielmehr als mit verschiedenen Funktionen aufgefüllter und aufzufüllender imaginierter Raum relevant, der als Identifikationspunkt für die Einheit der Institution bürgt, die beiden Vertragspartnerinnen zusammenführt, als Autorenkollektiv symbolisch zusammenkommen lässt und zeitlich Auseinanderstrebendes zentriert. Fragmentiertes wird um ein zeit-räumliches Zentrum gruppiert.

6.2 Individuum-Kollektiv-Relationen Formen der Kollektivierung stehen immer auch in einem Austausch mit und im Spannungsverhältnis zu Formen der Individualisierung (s. Abschnitt 3). Im Vertrag kommt beides zum Ausdruck und verweist das eine auf das andere. Dies betrifft unter anderem die bereits genannte Vorstellung gemeinsamer Autorenschaft. Die Vereinbarung wird als etwas eingeführt, das nicht einer singulären Person, sondern einem Autorenkollektiv entspringt und diesem zugeschrieben werden muss. Der Vorstellung einer Vereinbarung liegt die Idee der Kollaboration zu Grunde, dass Verschiedenes im Handeln zu Einem wird. Verschiedenheit muss deshalb weitestgehend unkenntlich gemacht werden. So werden in den Texten die unterschiedlichen Herkünfte ihrer Bestandteile nie ausgewiesen, wird nie genannt, auf wen welches Textfragment zurückgeht. Personalisierungen in Form von Namen tauchen in der eigentlichen Zielformulierung kaum auf. Diese finden sich lediglich an Anfang und Ende der Dokumente und rahmen diese (Abb. 1 und 2). Auch eine gemeinsame Sprache, das Verständigtsein auf einen gemeinsamen sprachlichen Duktus und Code, kennzeichnen die Zielvereinbarungen als Produkt kollektiver Autorschaft. Nicht selten werden Akronyme (s. »SR« und »FB« in Abb. 4; weitere Bsp. in anderen Dokumenten sind »SCHILF«, »LP«, »GSO«, »SG« etc.) aneinandergereiht, deren Bedeutung von lesenden Dritten nicht ohne weiteres erschlossen werden kann und deren Funktion über die ökonomische Verkürzung hinausgeht. Gerade diese indexikalen Codes erschaffen die Vorstellung der gemeinsamen Autorschaft eines individuellen Textes und eines gemeinsamen Verständnisses auf der Basis geteilten Wissens.

Die Produktion der Schule

Abb. 3: Auszug aus der Zielvereinbarung einer Grundschule Vergemeinschaftungen werden auch durch den Rückgriff auf Kollektivformeln wie »wir« und »unsere Schule« vorgenommen. In den Dokumenten wird wiederkehrend ein kollektives Schulisches angerufen – bzw. ruft es sich selbst an. Dieses ist der Hauptadressat, auf den sich die zukünftigen Anstrengungen richten sollen. Es ist zugleich auch dessen Absender, der sich selbst auf die Zielerreichung hin verpflichtet (Abb. 3). Damit verschiebt sich die Verantwortlichkeit, eine »gute Schule« und »guten Unterricht« zu realisieren, auf die Seite der Schule. Schulentwicklung wird zur eigenverantwortlich zu bewältigenden Aufgabe, die nicht von externen, übergeordneten Stellen erwirkt und gesteuert werden muss, auch deshalb, weil Kontrollmechanismen und Formen der Rechenschaftslegung internalisiert werden – beispielsweise mittels interner Evaluationsverfahren als Formen kollektiver ›Gewissensprüfung‹. Externe Kontrolle kann sich in Folge dessen, wie in externen Evaluationsformaten ersichtlich (vgl. u.a. Sächsisches Bildungsinstitut 2010), darauf beschränken, die Selbstkontrolle der kontrollierten Schule zu überprüfen. In diesen auf- und angerufenen Kollektiven werden unterschiedliche, potentiell divergierende Kräfte harmonisiert, gebündelt und gleichgerichtet. Vor allem im Rahmen der Operationalisierung und Benennung von umzusetzenden Maßnahmen und Verantwortlichkeiten, die bestimmten innerschulischen Gruppen (bspw. »Projektteam«) oder Funktionsträgern (bspw. »Peer Leader«) zugewiesen werden, erscheint das Kollektive als organisch zusammengesetzter Körper, dessen Vielheit durch die gemeinsame Zielrichtung zusammengehalten wird. Unterschiedliche Kräfte werden gebündelt und zu einem Ganzen zusammengeführt (Abb. 4). Dabei agieren die einzelnen Elemente des Kollektivs weitgehend autonom, übernehmen ihrerseits Verantwortung für die Zielerreichung, zeigen Engagement in ihren Arbeitsbereichen und sind angehalten, diese zu optimieren. Damit verändert sich gleichzeitig eine

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›Schulkultur‹, die nun nicht mehr durch Fremdsteuerung, Ausrichtung und Regulierung durch obrigkeitliche Anweisung (der Schulleitung, der Schulbehörde) gekennzeichnet ist, sondern die auf die Selbststeuerungspotentiale der einzelnen Teile des Kollektivs abzielt. Führen bedeutet in einer solchen Schule nicht zu kommandieren, sondern zu mobilisieren (Bröckling 2000: 140).

Abb. 4: Auszug aus der Zielvereinbarung eines Gymnasiums Dabei bleibt jedoch unklar, wer dieses kollektive »Wir« genau ist, wen es einund wen es ausschließt. Konkrete und möglichst umfassende Benennungen der Teile des Kollektivs und die Bezeichnung seiner Grenzen werden nicht vorgenommen. Möglicherweise ist es genau diese Unbestimmtheit, die das Kollektive in Zielvereinbarungen attraktiv macht und die deshalb immer wieder aufgerufen wird. Sie ermöglicht es, Ein- und Ausgrenzungen – und damit Ver- und Entpflichtungen – situativ vorzunehmen. Dabei ist sie im weitesten Sinne totalitär, weil sie potentiell alle, die mit der Schule in irgendeiner Form assoziiert werden können, in die Pflicht nehmen kann – Lehrkräfte, Eltern, Sozialarbeiter, Schulträger, Mitglieder von Fördervereinen etc. Damit haben die Kollektivierungen auch eine umfassende Disziplinierungs- und Mobilisierungsfunktion, da sich niemand selbst ohne weiteres der gemeinsamen Ziele entledigen kann. Die Inszenierung des Kollektiven in den Zielvereinbarungen – sei sie bezogen auf das schulische Kollektiv oder auf das Autorenkollektiv – tilgt zudem die Prozesshaftigkeit und die potentielle Konflikthaftigkeit des Aushandlungsprozesses, die der Zielvereinbarung vorausgegangen sein können. Zielvereinbarungen bilden diese Prozesse nicht ab, sondern imaginieren einen befriedeten Zustand, in dem Interessengegensätze und Bedeutungskämpfe – beispielsweise um das Verständnis von Schulentwicklung oder guter Schule

Die Produktion der Schule

–überdeckt werden. Disparitäten, die nicht nur aufgrund des Einbezugs unterschiedlicher Akteure vorkommen können, sondern sich auch aufgrund der Veränderung von Kontextbedingungen oder aufgrund der Veränderung von Selbst- und Fremdbezügen im Laufe der Zeit ergeben, werden dethematisiert. Auf inhaltlicher Ebene spiegelt sich zudem das Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und Individuum wider. Dies wird etwa deutlich, wenn sich in nahezu allen untersuchten Zielvereinbarungen auf »Binnendifferenzierung« resp. »Leistungsdifferenzierung« bezogen und die Forderung erhoben wird, alle Schüler nach ihren individuellen Fähigkeiten zu fördern und zu fordern. Damit wird die Schülerinnen-Individualisierung zur kollektiven Aufgabe der gesamten Schule und jeder einzelnen Lehrkraft, die gemeinsam zu bewältigen sei. Gleichzeitig wird daran die Doppelstruktur aus Kollektivität und Individualität des Schulischen deutlich: »Die« Schüler werden als Kollektivsubjekt Adressat pädagogischer Bemühungen, bilden eine Einheit, die es in gemeinsamer Anstrengung zu bearbeiten gilt, wobei der einzelne Schüler aus dem Kollektiv gleichsam herausseziert und fokussiert wird, um eine solitäre pädagogische Maßnahme zu initiieren, damit jeder Einzelne zu einem Optimum geführt wird (Abb. 3). Ähnliches trifft auf das Kollektiv der »Lehrer« zu, die in Form von externen und internen Fortbildungen an der Weiterentwicklung ihres Selbst und des Kollektivs arbeiten sollen. Dabei stehen diese Individualisierungsbestrebungen in eben jenem weiteren Diskussionskontext, in dem das Individuelle – die individuelle Schule, der individuelle Schüler, die individuelle Lehrkraft – Ausgangspunkt und Ziel schulischer sowie politischer Steuerung wird (vgl. Budde 2012). Individualität und Heterogenität werden dadurch zur normativen Richtschnur des Kollektiven – und zur Voraussetzung für die Behauptung in einem vorgestellten Wettbewerb auf ökonomisierten Bildungsmärkten (Bröckling/Peter 2014: 140).

6.3 Die Einheit der Vielheit Zielvereinbarungen stehen zudem im Spannungsfeld zwischen der Forderung nach Vielheit einerseits und der Einhegung von Diversität andererseits. Dies betrifft gleichermaßen die aufgerufenen Subjekte wie auch die benannten Ziele selbst. An Zielvereinbarungen wird die Norm herangetragen, in mehr als eine Richtung zu wirken, mehr als ein einzelner Vorsatz zu sein, der das Handeln anleiten soll – denn es ließ sich kein Dokument finden, in welchem lediglich ein einzelnes Ziel benannt wurde. Gleichzeitig darf die Pluralisierung der Ziele nicht so weit gehen, dass die Zerstreuung einer völligen Defragmentierung gleichkommt. Zielvereinbarungen müssen sich deshalb trotz des Hangs zur Dezentrierung immer wieder eines Zentrums versichern und eine geschlossene Ordnung bilden. Formal geschieht dies mit Hilfe von Einheitsstiftern, die im Text Zusammenhänge herstellen und fragmentierte Bestandteile aneinander ketten.

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Um dies zu erreichen, werden beispielsweise Numerale, Ordinalia und Aufzählungszeichen eingesetzt, welche die unterschiedlichen Ziele in eine (zum Teil priorisierte) Ordnung bringen (Abb. 1 und 5). Auch wenn zwischen den einzelnen Zielen keine inhaltlichen Kongruenzen bestehen, Zusammenhänge uneindeutig bleiben, Ordinalia zum Teil fehler- resp. lückenhaft eingesetzt werden (Abb. 5) und sich die Ziele teilweise widersprüchlich zueinander verhalten, wird über solche Formalitäten die Einheit des Vereinbarten unterstellt. Auch Tabellenformate nehmen eine ähnliche Funktion ein. Sie fügen Uneinheitliches in einen gemeinsamen Rahmen und passen das Uneinheitliche ein. Beschriftete Spalten- und Zeilenköpfe benennen Kategorien, unter die sich divergente Inhalte subsummieren.

Abb. 5: Tabellenkopf aus einer Zielvereinbarung Die divergenten Ziele, so kann man schlussfolgern, erhalten zudem eine auf die Schule bezogene gemeinsame Identität, weil sie sich eben auf genau die Schule beziehen, die im Text genannt wird. Also führen nicht nur die Ziele zu einer schulisch-organisationalen Einheit (in der alle gleiche Ziele verfolgen), sondern die verschiedenen Ziele werden umgekehrt auch durch die Schule erst zur Einheit gebracht. Vielheit, Einheit und Schulkollektiv sind miteinander konfundiert.

6.4 Standardisierung und Individualisierung Alle analysierten Dokumente kennzeichnet eine weitestgehend standardisierte Formatierung. Dies betrifft zum einen den Aufbau des Dokuments, der sich zumeist aus drei Fragmenten zusammensetzt: a.) der Betitelung mit der Nennung der beteiligten Institutionen (Abb. 1), b.) der inhaltlichen Zielbestimmung, die tabellenförmig in Spalten und Zeilen zergliedert ist (Abb. 5), und c.) den Unterschriften der die Institutionen Repräsentierenden (Abb. 2). Zum anderen tilgt auch der Zielvereinbarungstext aufgrund des Umstands, dass er maschinenbzw. computergeschrieben in Standardschriftarten gesetzt ist, Möglichkeiten der individuellen Einschreibung und vereinheitlicht das Erscheinungsbild der Dokumente. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Markierung von Individualität gänzlich unmöglich wäre – es ergibt sich vielmehr ein spannungsreiches Wechselspiel zwischen Standardisierung und Individualisierung. Mit der formalen Vereinheitlichung der Dokumente werden zunächst unterschiedliche Schulen einander angeglichen, darüber inter-kollektiv zu-

Die Produktion der Schule

sammengeführt und vergleichbar gemacht. Aus einer Menge individueller Kollektive wird eine bestimmbare Menge sich gleichender Vielheiten im Kollektiv der Schulen. Anhand der Formal-Zitationen des Vertragsformats und seiner überindividuellen Formatierung wird denn auch der Inhalt der Vereinbarungen für die Autorinnen bedeutsam sowie für die mit der Schule assoziierten Personen verpflichtend. Die weitgehende Standardisierung begründet darüber hinaus eine Vorstellung, nach der auch zukünftige Rezeptionsprozesse der Zielvereinbarungen reguliert und vorab kalkuliert ablaufen. Sie evoziert eine interindividuelle Verständlichkeit ihrer Inhalte, die selbst bei personalen Veränderungen nicht ihre Gültigkeit einbüßen, sondern jederzeit de- und rekodiert werden können, obgleich sie mitunter eben gerade jene indexikalischen Formulierungen enthalten, die den Kreis der Rezipierenden auch beschränken und Standardisierung damit unterlaufen. Zu indexikalischen Formen gehören neben den bereits benannten Akronymen auch individuelle Handschriften und Signaturen, deren Lesbarkeit sich über die Zeit erschwert, deren Entschlüsselung somit scheitern kann. Einige Zielvereinbarungen werden in ihrer Standardisiertheit um weitere individualisierende Elemente, wie beispielsweise Schulstempel, ergänzt. An diesen können sich aber auch die an die Zielvereinbarungen herangetragenen Erwartungen, i.S. eines sachlich-seriösen Vertragsdokuments, brechen. Einerseits sind Stempel, ähnlich einer (elektronischen) Signatur, Ausweis von Autorität, markieren das Dokument als eines, das beachtet, für echt befunden und ernst genommen werden möchte. Sie markieren auch die Finalisierung des Vertragsschlusses. Andererseits gelangt die individuelle Gestaltung mancherorts an einen Punkt, an dem der Ernsthaftigkeitsanspruch verletzt und ästhetische Motive die eigentliche (vertragstechnische) Funktion überlagern, Individualisierung zum Selbstzweck wird und sich lediglich auf sich selbst bezogen wird (z.B. wenn der Stempel aus einem comichaft gezeichneten Maskottchen der Schule besteht). Solche Formen des Individuellen können jedoch ebenso Kollektivität stiften wie versachlichte Stempeldesigns, indem sie u.a. kindhafte Darstellungen als mögliche Identifikationsangebote für Schülerinnen zur Verfügung stellen und jene damit in das im Zielvereinbarungsdokument hervorgebrachte Schulkollektiv integrieren. Standardisierung und Individualisierung der Vertragstexte geraten in diesen Fällen in ein Spannungsfeld, das in seiner Unaufgelöstheit und Offenheit eine spezifische Funktion abbildet: Zielvereinbarungen eröffnen einen Raum für individuelle schulische Selbstentwürfe und führen zugleich Vertraglichkeit als überindividuelle Norm ein. Ausdruck von Vertraglichkeit sind auch handschriftliche Signaturen, die das Geschriebene autorisieren, eine Echtheit des Dokuments ausweisen und gleichzeitig auf die aufgeführten kollektiven Ziele hin verpflichten. An dieser Stelle verknüpfen sich einmal mehr Individualität und Kollektivität, indem die individuelle Verantwortlichkeit und die Pflicht zur Zielerreichung verbunden

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werden mit institutionellen, kollektiven Vorhaben. Kollektivität bleibt auf die personale Autorisierung angewiesen, auch weil die moralische Pflicht, das gegebene Wort zu halten – versteht man die Zielvereinbarung als ein institutionalisiertes Versprechen, das etwas in Aussicht stellt und für dessen Erreichen in der Zukunft bürgt – ein subjektives Versprechen ist, d.h. mit Subjektivitäten und deren Einstellungen, Eigenheiten, Interessen, Leidenschaften und Wertsetzungen rechnen muss. Im schulischen Raum wird das Kollektive notwendig an die gegebenen Subjekte geknüpft, hier in der Figur des verantwortlichen Schulmanagers, der letztinstanzlich entscheidet, mobilisiert, motiviert, zur Rechenschaft zieht und der am Ende Rechenschaft ablegen muss.

6.5 Dysfunktionalitäten und Brüche So sehr im Zielvereinbarungsdokument Divergenzen und Differenzen invisibilisiert werden, so wenig kann das Dokument die Uneinheitlichkeit und die Brüche verbergen, aus denen es hervorging. Vielmehr ist festzuhalten: Je mehr die Zielvereinbarung Kollektivität zu evozieren sucht, desto stärker wird sie von der Unmöglichkeit eingeholt, diese vollumfänglich erwirken zu können. Das wurde bereits deutlich bei der Schwierigkeit, die Grenzen des schulischen »Wir« abschließend zu bestimmen (s. Kapitel 6.2) oder zwischen Anforderungen nach Vereinheitlichung und Individualisierung endgültig zu vermitteln (s. Kapitel 6.4). In diesem Sinne kann auch nach Diskontinuitäten oder Dysfunktionalitäten der Zielvereinbarungen gesucht werden, auf die sie im Sinne einer Problemlösung reagieren (vgl. Bröckling/Krasmann 2010). Eine solche Problemlösung findet sich beispielsweise im Hinblick auf die Anforderung des Vertragsformats, möglichst regulierend auf den Begriff zu bringen, welche schulischen Aktivitäten und Maßnahmen zu welchen Zeiten von welchen zuständigen Personen vorzunehmen sind, damit das formulierte Ziel erreicht wird. Demgegenüber sind die angeführten Begriffe und Zielformulierungen häufig in einer Weise offengehalten, die diesen regulierenden Anspruch unterläuft.

Abb. 6: Auszug aus der Zielvereinbarung eines Gymnasiums

Die Produktion der Schule

So ist in einer Zielvereinbarung (Abb. 6) die Rede davon, dass »individuelle Förderung durch Binnendifferenzierung« ein Arbeitsschwerpunkt der Schule sein soll. Als »abgeleitetes Ziel« tritt dann ein »kompetenzorientiertes Unterrichtskonzept« in Erscheinung, an dem gearbeitet und das fortlaufend umgesetzt werden soll. Nicht nur bleibt opak, was unter beiden Bezeichnungen zu verstehen sei, sondern auch in welcher Verbindung beide zueinander stehen: Kompetenzorientierter Unterricht muss nicht notwendig zu Binnendifferenzierung führen und umgekehrt. Die Uneindeutigkeit beider Begriffe mag dazu führen, dass letztlich jede Handlung beispielsweise als Teil der Arbeit am kompetenzorientierten Unterricht gedeutet werden kann. Damit erscheint die Zielvereinbarung zwar einerseits immer schon als erfüllt; jedes Handeln wäre ein Handeln im Sinne des Kollektiven. Andererseits aber bleibt – nicht nur für die an die Zielvereinbarung gebundenen Lesenden – die Frage offen, wie binnendifferenziert bzw. kompetenzorientiert unterrichtet werden soll. Die Konkretisierungsebene der »Indikatoren« verspricht zwar eine nähere Bestimmung der vorgenannten Bezeichnungen, doch auch hier verschiebt sich mit weiteren Begrifflichkeiten, die an »Binnendifferenzierung« und »Kompetenzorientierung« geknüpft werden, deren Sinn.

7. S chlussbemerkungen Wie im Rahmen der Analyse aufgezeigt, können an institutionellen Zielvereinbarungen im Bildungssystem Praktiken der Kollektivierung nachverfolgt werden. Dabei gewinnt »die Schule« als Kollektivsubjekt an Bedeutung. Sie wird im Kontext der Zielvereinbarungen sowohl als handelnde Vertragspartnerin ins Spiel gebracht, als auch als Gegenstand, auf den sich zu planende Maßnahmen richten und der optimiert werden soll. Die untersuchten Zielvereinbarungen können deshalb auch als eine Verpflichtung zur Kollektivität verstanden werden. Dabei bleiben die Grenzen des Kollektivs jedoch stets vage und unbestimmt. Was genau durch das Kollektiv umgrenzt wird, steht immer auch zur Disposition. Ein- und Ausschlüsse werden offengehalten. Kollektivierungsweisen, mit denen eine Vielheit von Elementen zu einem Kollektiv gemacht wird, werden stets durchkreuzt von Individualisierungsweisen, vom Verweis auf Individualitäten. Kollektivierungen stellen sich darüber hinaus in einen Zusammenhang verstärkter Individualisierung. Dies betrifft sowohl das Gesamtkollektiv aller Schulen, das auf ihre Einzelschulen verweist, als auch das schulische Kollektiv, das, als organische Einheit imaginiert, durch eine Vielheit unterschiedlicher innerer Kräfte gedacht wird. Jene prinzipiell als defragmentarisch zu charakterisierende Vielheit wird jedoch durch die vertraglichen Regelungen wieder eingeholt, die das Kollektiv als individuelles Kollektiv

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zur Einheitlichkeit zwingen. Als solches kann es – so die Zuschreibung – die Schule effizienter, rationaler, erfolgreicher machen. Die Fiktion der Einheit des Kollektivs wird dabei insofern gewährleistet, dass Konflikthaftigkeit – sei diese zwischen den Vertragspartnern oder zwischen Akteuren innerhalb Schule verortet – wie auch Disparitäten im Vertragsdokument überformt und somit entdramatisiert werden. Die Vereinbarungen inszenieren sich als diejenigen, die den befriedeten Zustand der Vertragsschließenden auf Dauer stellen: Sie suggerieren eine bleibende Bedeutung und ein gemeinsames Verständnis ihrer Inhalte, das Zeiten überdauert und unabhängig von den jeweiligen Kontexten, in denen sie aufgerufen werden, besteht.

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Mikrokollektive in Kunst und Sport

Der kollektive Künstler Séverine Marguin/Cornelia Schendzielorz

Der individuelle Künstler steht im Zentrum der modernen bildenden Kunst und prägt die Struktur des Feldes, die sich seit dem 18. Jahrhundert im Zuge der Sakralisierung der Individualität der Künstlerfigur ausbildete. Die Kunstsoziologin Nathalie Heinich (2005: 22) zeigt anhand von Balzacs Novelle Das unbekannte Meisterwerk, wie die dort dargestellte Künstlerfigur »ein Vorbild für tausende von Künstlern für mehrere Generationen geworden ist und das generelle Verständnis der Normalität in der Kunst weiterhin prägt«.1 Das Narrativ der modernen Künstlerfigur beruht demnach auf einem »Berufungsregime«: »Als gelinderte Form von mystischem Besitz macht diese typisch romantische Begeisterung [für das künstlerische Schaffen] die künstlerische Arbeit zu einer Angelegenheit, die rein individuell (das ist die Kunst in Person), blitzschnell (das ist die Konvulsion des Genies im Gegensatz zur langsamen Reifung der Technik), elektiv (nur diejenigen, die mit Begabung geboren wurden, haben ein Anrecht darauf) und quasi-pathologisch ist, singularisiert bis zum Wahnsinn« (ebd.: 17).

In ähnlicher Weise sprechen die Kunsthistoriker Kris und Kurz für die Moderne von einer »steigenden Subjektivierung des Kunstschaffens« (Kris/Kurz 1995: 158), die dazu führt, dass »das Kunstwerk immer mehr als ›seelische‹ Leistung des Künstlers angesehen wird« (ebd.; Herv. i.O.). Diese Sakralisierung von Individualität ging im 18. und 19. Jahrhundert mit der Etablierung des sogenannten »Händler-Kritiker-Modells« einher, welches den Übergang ›von der Leinwand hin zur Karriere‹ markiert (vgl. White/White 1993). Im Zuge der Autonomisierung des Kunstfeldes (vgl. Bourdieu 1992) erodierte das Monopol der Akademie2, damals die zentrale Anerkennungsinstanz. 1 | Französischsprachige Literatur, für die bisher keine deutsche Übersetzung vorliegt, wurde von den Autorinnen übersetzt. 2 | Die Akademie bezeichnet in der französischsprachigen Literatur die Pariser Académie des Beaux-Arts, eine französische Gelehrtengesellschaft für Literatur und Schöne

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Neue miteinander konkurrierende Akteure betraten die Bühne, unter denen insbesondere Kunsthändler und -kritiker an Einfluss gewannen. Deren wirtschaftliche Interessen führten dazu, dass im Händler-Kritiker-System die künstlerische Autorschaft ausschließlich einem Individuum zugeschrieben wurde. Im Gegensatz zum einmaligen Verkauf eines Bildes oder anderer Kunstwerke bietet die exklusive Betreuung der gesamten Karriere einer Künstlerin den Galeristen viel mehr Vermarktungsmöglichkeiten. Beworben wird nicht das Kunstwerk, sondern die Person. Der Künstler wird zum ökonomischen Objekt, dessen Einzigartigkeit Galeristen zu monopolisieren versuchen (vgl. White/White 1993: 179ff.). Diese Logik hat sich in den letzten Jahrzehnten durch die Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Kunstbetriebs (vgl. Graw 2008) zugespitzt: Es geht längst nicht mehr um eine Kultur des Ichs (vgl. Bourdieu 1992), sondern um einen Kult des Ichs, in dem die Künstlerfigur programmatisch als Star inszeniert wird (vgl. De Bruyne/Gielen 2011; Quemin 2013). Trotz der Dominanz eines solchen Individualitätsgesetzes haben bildende Künstlerinnen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart Gruppen gebildet, wie Séverine Marguin (2016) gezeigt hat. Anhand der Wechselwirkungen von Individualitäten und Kollektiven unterscheidet sie drei Formen von Gruppen: Seit dem 18. Jahrhundert finden sich Gruppen in Form von Brüderschaften und Künstlerkolonien, die sich um eine zentrale Figur bilden, deren Individualität exponiert wird. Sie sind damit letztlich hierarchisch strukturiert. Dieser erste konzentrische Modus erstreckt sich bis in die künstlerische Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ab den 1960er und 1970er Jahren erproben Künstlergruppen und Künstlerkommunen radikalere Formen der Kollektivierung, indem sie sich gegen den individualistischen Geniekult für eine kollektive Autorschaft einsetzen (vgl. Stimson/Sholette 2007). Dieser zweite symbiotische Modus kennzeichnet auch die im vorliegenden Beitrag analysierten Formen der Gruppe. Seit den 1980er Jahren finden sich dann vermehrt Gruppen, die punktuell kollaborieren und sich zwar kollektiver Praktiken bedienen, letztlich jedoch im Modus einer horizontalen Vernetzung agieren. Diese zeitliche Differenzierung in drei Phasen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die verschiedenen Kollektivierungstypen und -praktiken überlappen und teilweise koexistieren. Zusammenschlüsse wie die Kolonie oder die Bewegung sind im zeitgenössischen Kunstfeld veraltet, andere Formate wie die Künstlergruppe oder Künstlergemeinschaft entwickeln sich parallel zu den netzartigen Kollaborationen weiter. Im Zentrum dieses Beitrags steht die zweite Form von Künstlergruppen, die wie ZERO, GRAV, General Idea oder Support Surface (vgl. Mader 2012), ihre Arbeiten unter einer gemeinsamen Signatur ausstellen und damit die IndiviKünste, die von der Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein die zentrale, Renommee verbürgende, Instanz für Bildende Kunst in Frankreich war.

Der kollektive Künstler

dualitätsgesetzes besonders stark in Frage stellen. Im Vergleich zu den avantgardistischen Künstlergruppen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktizieren sie eine radikalisierte, konsequentere Form der Kollektivierung. Die Mitglieder lassen ihre individuellen Identitäten in der Gruppe aufgehen und bilden eine »kollektive Singularität«, die in der gemeinsamen Autorschaft zum Ausdruck kommt, unter der die Gruppe als eigenständige Einheit mit einer kollektiven Handlungsmacht auftritt. Folglich sind auch nicht die einzelnen Mitglieder, sondern die Gruppe der Anerkennungsträger, dessen Name die Reputation erlangt. Aus diesem Grund bezeichnen wir sie als »kollektive Künstler«. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst werden solche kollektiven Künstler allerdings im privaten wie im öffentlichen Sektor stark marginalisiert.3 Auf dem primären und sekundären Kunstmarkt sind sie kaum vertreten. Die größten Galerien des globalen Kunstfeldes nehmen kollektive Künstler nur in Ausnahmefällen unter Vertrag: Auf der Art Basel – eine der bedeutendsten internationalen Kunstmessen – machten sie 2014 nur 2,3 % der vertretenen Künstlerinnen aus.4 In der Tat bergen Künstlergruppen ökonomische Unsicherheiten, da aus Sicht der Galeristen das Risiko, in deren Karriere zu investieren, aufgrund einer möglichen Aufspaltung oder Auflösung der Gruppe zu hoch ist (vgl. Marguin 2016: 134). Seitens der Institutionen und der Kulturpolitik sind sie ebenfalls benachteiligt, da das Individualitätsgesetz sich auch in der Haltung der öffentlichen Hand zeigt. So genießen Künstler in Frankreich einen privilegierten sozialen Status, insofern sie vom Staat durch Krankenversicherungs- bzw. Steuerbegünstigungen als Individuen finanziell entlastet werden. Darüber hinaus fördert die öffentliche Hand zeitgenössische Kunst auch durch kulturpolitische Maßnahmen wie Stipendien, bezahlte Residenzen und Preise, die vor allem für Einzelkünstlerinnen ausgeschrieben werden. Mitglieder von kollektiven Künstlern müssen ihre gemeinsame Autorschaft häufig aufgeben, um Förderungen in Anspruch nehmen zu können, was zu ihrer weiteren Marginalisierung beiträgt. In diesem Kontext von Marginalisierung, Skepsis und Ablehnung, der die kollektiven Künstler ausgesetzt sind, drängt sich die Frage auf, wie diese entstehen und eine dauerhafte Konsistenz als kollektives Subjekt gewinnen können. 3 | Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse entstanden im Rahmen der Dissertation von Séverine Marguin (Marguin 2016). 4 | Noch randständiger sind sie im sekundären Kunstmarkt bei den Kunstauktionshäusern: Im Kunstauktions-Ranking Artprice beläuft sich der Anteil kollektiver Künstler unter den ersten 500 gerankten Künstlern auf gerade mal 0,6 %. Auch bei den öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Kunstinstitutionen sind sie eine Rarität: Beim Ranking Kunstkompass sind 4 % der ersten 100 Künstler, beim Ranking Artfacts lediglich 2,7 % der ersten 1000 gerankten Künstler Kollektive.

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Im Folgenden analysieren wir anhand der Arbeitsprozesse der beiden kollektiven Künstler Death Art und Netart, wie Künstlergruppen zu kollektiven Subjekten (gemacht) werden. Dabei untersuchen wir, wie sie an der Grenze und im Widerstand zur individuellen Künstlerperson ihre Form finden und arbeiten die Kohäsionsfaktoren heraus, von denen ihr Fortbestehen abhängt und die zugleich immer auch Sollbruchstellen des kollektiven Künstlersubjektes sind.

1. S ubjek tivierungstheore tische V erortung Wir begreifen kollektive Künstler als eine Subjektivierungsform mit spezifischen »Welt-, Anderen- und Selbstverhältnissen« (Ricken 2013a: 43, 47). Das Augenmerk richtet sich somit auf den diskontinuierlichen und notwendig unabgeschlossenen Prozess, in dem das künstlerische Kollektivsubjekt erzeugt wird, sowie auf die Selbstpraktiken, mithilfe derer es sich erhält. Der Beitrag erörtert auf der Basis einer empirischen qualitativen Untersuchung von Künstlerkollektiven in Paris und Berlin5, wie sich das kollektive Künstlersubjekt im Arbeitsprozess konstituiert. Bei der Analyse der Selbstführung der kollektiven Künstlersubjekte orientieren wir uns an den von Foucault für den »Gebrauch der Lüste« herausgearbeiteten vier Dimensionen der Selbstpraktiken: »ethische Substanz, Unterwerfungstypen, Formen der Selbstausarbeitung und der moralischen Teleologie« (Foucault 1989: 44-45). Zunächst skizzieren wir die »ethische Substanz« des kollektiven Künstlers und verorten sie im sozialen Raum, um vermittels der Positionierung im vorstrukturierten Feld der Kunst in einem zweiten Schritt den Unterwerfungstypus zu erschließen. Anschließend rekonstruieren wir die Instrumente der Hervorbringung kollektiver Künstlersubjekte, von denen ihre Ausgestaltung, d.h. die »Formen der Selbstausarbeitung« (ebd.) und ihre Beständigkeit abhängen. Diese erfolgt in der Handlungspraxis des kollektiven Künstlers ausgehend von Fragen der Teilhabe, Teilnahme und des gegenseitigen Vertrauens auf der Suche nach angemessenen Kommunikationsweisen. Da jene Formen der Selbstausarbeitung nach dem Wie aufgeschlüsselt und 5 | Das Datenmaterial hat Séverine Marguin im Rahmen ihrer Dissertation in ethnographischen Feldforschungen in zehn Künstlerkollektiven und mittels 48 biographischer Interviews mit Kollektivmitgliedern in Paris und Berlin erhoben. Die Interviews wurden, orientiert an den Codierverfahren der Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin 1996) thematisch strukturiert und anschließend in Fallanalysen ausgewertet (vgl. Demazière/ Dubar 1997). Bei den für diesen Beitrag ausgewählten Fallbeispielen handelt es sich um Künstlerkollektive aus Paris, weshalb die Details der vorgenommenen Situierung sich auf das Feld der bildenden Kunst in Frankreich beziehen.

Der kollektive Künstler

in Kategorien der Funktion begriffen werden, ist die Herausbildung eines kollektiven Künstlersubjekts auch durch die Funktionalität sozio-psycho-emotionaler Verhaltensmodi bedingt, die wir als Kollektiv-Selbsttechnologien fassen (vgl. Gehring 2004: 123-124). Die Teleologie dieser Selbstpraktiken bezieht sich auf das Ziel, eine eigensinnige kollektive künstlerische Instanz zu sein. Entlang dieser Heuristik arbeiten wir an den beiden Fallbeispielen in drei Schritten zentrale Dimensionen der Subjektivierung kollektiver Künstlersubjekte heraus: Erstens zeichnen wir die erstmalige Manifestation des kollektiven Künstlersubjekts im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstformung nach; zweitens erschließen wir den Konsolidierungsprozess des kollektiven Künstlersubjekts vermittels der auf das Kollektiv bezogenen Selbst-Technologien, welche entlang von Regeln wie Verzicht auf Arbeitsteilung, Einstimmigkeit, gemeinsame Sprache und Integrität etabliert werden; drittens erörtern wir anhand verschiedener Personifizierungsformen die Teleologie des kollektiven Künstlersubjekts. Abschließend fassen wir die Ergebnisse zusammen und diskutieren das analytische Potential einer subjektivierungstheoretischen Analyse des kollektiven Künstlers.

2. D ie M anifestation des kollek tiven K ünstlersubjek ts im S pannungsfeld von F remd - und S elbstformung Als Schlüsselmomente für die Emergenz des kollektiven Künstlers können zwei Varianten unterschieden werden. Emergenz durch Fremdbestimmung (Death Art) und durch Selbstbestimmung (Netart). Das Kollektiv Death Art existierte von 2002 bis 2009. Gegründet wurde es von fünf Männern in Paris, die sich an der Kunsthochschule kennengelernt hatten und gemeinsam vor allem Installationen schufen. Die Mitgliederzahl verringerte sich allmählich, bis das Kollektiv nur noch aus drei, dann aus zwei Mitgliedern bestand und sich kurz darauf auflöste.6 Die Mitglieder verfolgten parallel zu ihrer kollektiven Tätigkeit Solo-Karrieren. In ihren Erzählungen legen sie Wert darauf, dass das Kollektiv sich prozesshaft herausgebildet hat und nicht einem Entscheidungsakt entsprang.7 Nach punktuellen Kollaborationen im Rahmen von Studienprojekten, arbeiteten alle fünf späteren Death 6 | In der Studie wurden die drei Mitglieder interviewt, die am längsten Teil des Kollektivs waren: Gilles, Cyril und Guillaume zum Zeitpunkt der Untersuchung alle im Alter von Mitte bis Ende dreißig. 7 | Diese Konstituierung steht im Gegensatz zur in der Fachliteratur lange einzig etablierten Darstellung, der zufolge Künstlergruppen sich in einer gemeinsamen Entscheidung gründen (vgl. Thurn 1991).

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Art-Mitglieder bei einer Serie von vier Videos zusammen. Die Aufnahmen entstanden in einer explorativen, technisch wenig versierten, improvisierten gemeinsamen Arbeit, die schließlich im Audimax auf großer Leinwand vorgeführt wurde, wobei man ihnen »das kleine Etwas« zurückspiegelte: »Ich glaube wir hatten vier Episoden gemacht, dann haben wir sie im großen Vorlesungssaal gezeigt, wo es eine große Leinwand mit allem was dazugehört gab. Und sieh da, die Leute merken, dass es ein kleines Etwas gibt. Also das hat uns Freude bereitet, wir waren schon glücklich.«

Im Entstehungsprozess und bei der Präsentation der Videoaufnahmen agierten sie praktisch kollektiv, bezeichneten sich aber noch nicht als Kollektiv. Erst durch die Aufsehen erregende Rezeption dieser Arbeit, die im Rahmen der Hochschule als künstlerisches Gruppenprodukt Resonanz erzeugte, nahmen sie sich als kollektiver Künstler wahr. Die Anrufung von außen ermöglichte die Aneignung einer kollektiven Identität. Bei der Gründung waren somit die externe Validierung und Anerkennung ausschlaggebend, so dass hier das Moment der Fremdkonstitution dominiert. Netart besteht seit 2001 bis heute aus drei Mitgliedern: den Zwillingsbrüdern Fabien und Christian sowie Sophie, die zu Beginn der kollektiven Tätigkeit mit einem der Zwillinge liiert war.8 Die Mitglieder lernten sich ebenfalls im Kontext der Hochschule kennen. Ihre künstlerischen Produktionen sind konzeptuell, partizipativ sowie installativ und teilweise im öffentlichen Raum angesiedelt. Die Mitglieder verfolgen keine Solo-Karrieren, sondern beschränken ihre jeweilige künstlerische Praxis auf die Gruppe. Die drei absolvierten ihr Studium parallel, ohne gemeinsam künstlerisch tätig zu sein. Durch die intensiven persönlichen Beziehungen (insbesondere des Paares und der Zwillinge) und das gemeinsame Wohnen, waren sie sehr eng miteinander verbunden. Im Rückblick auf diese Zeit bezeichnen sie sich als ein »Familienkollektiv«: »Das ist ein bisschen ein Familiending. Das ist ein Familien-Kollektiv. Das hat sich so gefunden. Sophie und Christian waren zusammen. Hmm, also und letztlich ich weiß nicht dazu sind wir ja Zwillinge mit Christian, weißt du, diese Triangulation machte so das und ich verstand mich super gut mit Sophie. Alle verbesserten sich gegenseitig, das war toll.« (Fabien, Netart)

Aus dieser symbiotischen Lebensführung heraus entschieden sie sich nach ihrem Abschluss als Künstlergruppe für ein Postdiplom zu bewerben.

8 | Es wurden alle drei Mitglieder von Netart interviewt, die zum Zeitpunkt der Untersuchung alle Mitte dreißig waren.

Der kollektive Künstler »Wir haben entschieden, ein Postdiplom zusammen zu machen und dabei die kollektive Schrift zu probieren. Aber zu der Zeit wohnten wir wirklich zusammen, in derselben Wohnung. […] Wir wussten vollkommen, wo jeder individuell [auf künstlerischer Ebene] war. Und wir waren voneinander betroffen, wirklich sehr betroffen davon, was die Anderen machten. Aber wir wussten gar nicht, was die Fusion der drei ergeben könnte. […] Wir heißen Netart, weil wir noch kein kollektives Projekt hatten, wir hatten nur den Willen eine Gruppe zu sein, und dann musste es schnell gehen mit der Einschreibung des Projekts. […] Wir machten das Bewerbungsgespräch, wir waren voller Pläne und Ideen, aber wir hatten keinerlei konkrete Vorstellung von deren Realisation, die den Eindruck hätte erwecken können, das irgendwas aus dieser Gruppe kommen könnte und sie haben uns trotzdem genommen.« (Sophie, Netart)

Netart entstand aus der bewussten Entscheidung, »die kollektive Schrift zu probieren«. In der gemeinsamen Bewerbung definierten sie sich als Kollektiv, obwohl es noch kein konkretes künstlerisches Projekt gab, dafür aber »den Willen, eine Gruppe zu sein«. Im Vergleich zu Death Art dominiert hier bei der Gründung der Aspekt der Selbstformung, weil die Gruppe sich bewusst als Kollektiv erfindet. Auch diese Entscheidung ist natürlich nicht autonom, sie konnte nur durchgehalten werden, weil sie im Postdiplom-Studiengang an der Kunsthochschule als Kollektiv aufgenommen wurden. Die Hochschule, die auch anders hätte entscheiden können, übernahm das Selbstverständnis von Netart. In diesem Sinne liegt das Initialmoment der Gründung in der Idee, welche die drei von sich entwickelten, in ihrem Kollektiv-Selbst, das sie gewissermaßen als ihre ethisch-künstlerische Substanz bestimmten. Dessen Realisierung hing davon ab, dass es ihnen gelang, dieses Kollektiv-Selbst auch in den etablierten Strukturen des Kunstfeldes zu verankern.

3. K ollek tiv -S elbst-Technologien : F ak toren der K onsolidierung Folgt man René Passeron, so gilt für die kollektive künstlerische Produktion eine spezifische Poiesis, die er als »transindividuelles Schaffen« bezeichnet. In der gemeinsamen, miteinander verwobenen Aktivität ereignet sich dabei eine egalitäre und vom verbal-mimisch-gestischen Austausch geprägte Zusammenarbeit, die impliziten Regeln folgt, »wobei das Spiel zum Produzent eines gemeinsam signierten Objekts wird« (Passeron 1981: 22). In den detaillierten Schilderungen ihrer Arbeit durch die Kollektiv-Mitglieder wird greif bar, worin diese impliziten Regeln bestehen, die das transindividuelle Schaffen ermöglichen. Es kristallisieren sich vor allem vier Merkmale der kollektiven Tätigkeit heraus: erstens die Abwesenheit von Arbeitsteilung, zweitens das Kriterium der Einstimmigkeit, drittens die Versprachlichung des künstlerischen Akts

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und viertens die Integrität des kollektiven Projekts gegenüber dem individuellen Projekt. Der kollektive Produktionsprozess richtet sich erstens gegen die Arbeitsteilung des künstlerischen Schöpfungsprozesses. Er erfordert dass alle Beteiligten in allen Phasen des Produktionsprozesses involviert sind. Die Mitglieder der kollektiven Künstlersubjekte thematisieren die gemeinsame Entwicklung von Ideen: »Bei uns ist wirklich jede Idee gemeinsam entstanden. Natürlich kommt es mal vor, dass eine Idee von einer Person ausgesprochen wird. Aber sie wird immer wieder modifiziert von den anderen und oft wird auch eine Idee nur ausgesprochen, weil sie im gemeinsamen Ideenprozess entstanden ist und in gemeinsamen Gesprächen. Ich spreche eine Idee aus. Ich hätte sie aber niemals ausgesprochen, wenn wir nicht in diesem Moment gewesen wären und wenn die anderen nicht dazu beigetragen hätten. Und dann verändert sich [die Idee] auch fast immer und meistens im Idealfall zum Guten. Manchmal ist es schwierig, so dass ich denke, oh Gott, gerade wurde eine Idee zerstört. Ich habe die eigentlich gesehen und fand sie gut. Und die anderen sagen: ›nein, aber so und so muss es sein!‹ […] Das ist auch andererseits immer eine Art von Qualitätskontrolle.« (Sophie, Netart)

Der Verzicht auf Arbeitsteilung verhindert, dass eine Idee oder eine gestalterische Geste einzelnen Mitgliedern des Kollektivs zugeschrieben bzw. von Einzelnen reklamiert werden kann. Auf diese Weise soll auch die Spaltung zwischen Idee, Einfall und Umsetzung zugunsten eines den Entstehungsprozess einschließenden Begriffs des Kunstwerks überwunden werden. Das Kunstwerk ist das Produkt des Zusammenwirkens sämtlicher Mitglieder und gehört somit allen gleichermaßen. Dieses Verständnis ist entscheidend für die Akzeptanz der kollektiven Autorschaft. In dieser Hinsicht ist die Verweigerung von Arbeitsteilung eng mit der zweiten Regel verbunden, dass jede künstlerische Entscheidung einstimmig gefällt werden muss. »Wir haben nie richtig abgestimmt oder die Hand erhoben, aber gleichzeitig, damit ein Ding stimmt, muss man die anderen überzeugen. Und wenn wir ein Ding machen, gibt es immer einen der sagt ›Ach nein, hier ist es Mist und hier ist es auch Mist‹ und dann, ›vergiss es, es ist vorbei.‹« (Guillaume, Death Art) »Wir haben jeder ein Veto. Mit dem man auch sagen kann. im Prinzip, wenn zwei gleicher Meinung sind, dann wird es gemacht – außer wenn die dritte Person sagt: ›auf gar keinen Fall, das geht gar nicht‹. Dann kann mal eine sich gegen zwei stellen. Und dann vertrauen wir auch darauf.« (Sophie, Netart)

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Bei allen untersuchten kollektiven Künstlersubjekten haben die einzelnen Mitglieder ein Vetorecht. Als ein Kunstwerk von Death Art trotz Uneinigkeit gezeigt wurde, deuteten die Mitglieder des Kollektivs das als Scheitern und sprachen dem Werk seinen Status als Kunstwerk ab: »Die Ausstellung verlief nicht so gut, weil wir [Titel des Kunstwerks] wieder zeigten, in einem Umfeld wo der Raum viel zu groß war. Ich war dagegen aber wir haben es trotzdem gezeigt. Ich hätte mein Maul aufmachen sollen, eigentlich. Die Jungs hörten mir nicht zu. Guillaume schimpfte auf mich: ›ne, ne, du bist verrückt, es ist ok‹. Aber ich hatte Recht. Wir haben ein ganz kleines Kunstwerk von der unendlichen Weite des Umfeldes erdrücken lassen. Eine Tatsache, die für mich das Kunstwerk zerstörte. Und auch noch in Weiß, obwohl wir es rosa wollten. Das ist für mich Scheitern. Und übrigens haben wir es nie wieder gezeigt.« (Gilles, Death Art)

In ihren Erzählungen betonen die Mitglieder drittens die dialogische und rhetorische Dimension des kollektiven künstlerischen Akts. Im Unterschied zu dem inneren Monolog des Einzelkünstlers, soll in der Gruppe alles laut ausgesprochen werden. Einige Mitglieder vergleichen den Schaffensprozess mit einer »Wortschlacht«, wo jeder den Anderen von seiner Idee zu überzeugen versucht: »Ich denke überhaupt nicht, dass Kollektive etwas sind, was die künstlerische Arbeit effektiv macht. Da sind oft Filter, die die Bewegung unterbrechen, da wo es eine Inspiration und dann die Befreiung der Geste hätte geben können. Das ist immer eine Einschränkung. Und gleichzeitig gibt es einen Moment wo man überzeugen muss also wo man stets in der Situation ist, die Anderen zu überzeugen. In dem Sinne sind wir mehr Redner als Produzenten und das ist auch manchmal ganz schön schmerzhaft.« (Sophie, Netart)

Die Versprachlichung erfordert gemeinsame Kommunikationsformen, die allen Gruppenmitgliedern ermöglichen, zum Zuge zu kommen. Die Befragten thematisieren die unterschiedlichen Redeanteile: »Wir haben angefangen, unser Dialogsystem zwischen uns zu finden. Alles geht übers Schwatzen, so entknoten sich die Sachen. Und klar in einer Gruppe, hast du immer den Einen, der sehr zurückhaltend ist, still und verklemmt […]. Die Macht der Rede teilte sich vor allem zwischen Guillaume, Gilles und mir.« (Cyril, Death Art) »Wenn jemand eine Idee hatte, rotierte es zwischen uns dreien […]. Sophie spricht mehr als wir also faktisch hat sie einen umfangreicheren Redeanteil als wir, aber sonst, auf der technischen Ebene oder so, rotiert es eigentlich […]. Es stimmt, dass Sophie mehr ein Verhältnis zu Wörtern hat und wir haben eher ein Verhältnis zum Bild.« (Fabien, Netart)

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Des Weiteren betonen die Mitglieder von Death Art und Netart die Bedeutung von Streitkultur und kollektiver Begeisterung. Beide verweisen auf die Intensität des Austauschs: »Wir haben manchmal so eine Streitkultur, wo wir uns so richtig anschreien, wo teilweise die Leute denken, oh Gott sie reden nie wieder miteinander oder so. Aber das ist am nächsten Tag wieder ok. […] Komplett ehrlich zu sein, was einen annervt. Und ich glaube irgendwie, dass ohne dieses Gewitter diese Art von Zusammenarbeit keine fünf Minuten halten würde. Weil in dem Moment, wo man Sachen runter schluckt, ist es vorbei. Deswegen war das für mich immer das Gegenteil. Ich dachte immer, nee, das ist ein Dienst, den man sich erweist, dass man sich diese Härte erlaubt irgendwie zumutet in dem Sinn, dass man die anderen für stark genug hält, um das auszuhalten oder so.« (Gilles, Death Art)

Im Unterschied zur schonungslosen Aufrichtigkeit, manifestiert sich die kollektive Begeisterung in der Freude am allozentrischen Teilen: »Man muss schon Lust haben nicht Sachen durchzudrücken, sondern Sachen zu teilen. Die Frage des Teilens ist sehr wichtig. Wenn du keine Lust aufs Teilen hast, kannst du nicht mehr in einem Kollektiv arbeiten. Es funktioniert nicht mehr, weißt du. Also ja, diese Fragen des begeisterten Teilens, diese Großzügigkeit.« (Fabien, Netart)

Über solche Formen des mündlichen Austauschs hinaus nutzen einige kollektive Künstler schriftliche Kommunikationsformen, beispielsweise EMail, wenn sie nicht in derselben Stadt sind. Die Notwendigkeit, ihre individuelle und kollektive Intention zu verschriftlichen, beschreiben sie zwar als mühsam, aber ebenso als fruchtbar, da im Zuge des Schreibens die anfänglichen Ideen reifen können, was in der mündlichen Auseinandersetzung nicht immer möglich ist. Die Manifestation des kollektiven Künstlers erfolgt also im Zuge einer unablässigen Verbalisierung der Praktiken, durch gemeinsames Abwägen, Überlegen, Experimentieren und Herstellen. Die Interviews bezeugen, dass die Subjektivierung des Kollektivs nicht mit der Auflösung der Individualitäten, im Sinne einer Kollektivierung der Subjekte einhergeht. Im Gegenteil, die Präsenz differenter Einzelner im Kollektiv ist die Voraussetzung, um jene Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozesse führen zu können, in denen Selbst- und Fremdformung wechselseitig aufeinander einwirken bzw. zusammenwirken, so dass es »rotieren« kann. Gleichwohl bleiben die kollektiven Künstlersubjekte geprägt von den spannungsvollen Verquickungen und Verhandlungen potentiell immer auch eigensinniger Subjektivitäten, die zugleich die Produktivität und Fragilität des Kollektivs ausmachen. Die Kohäsion des kollektiven Künstlers hängt viertens davon ab, in welcher Weise das Kollektivsubjekt auf die einzelnen Mitglieder

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und wie diese aufeinander einwirken. Alle kollektiven Künstlersubjekte sind irgendwie und irgendwann mit den Ambitionen einzelner Mitglieder konfrontiert, zumindest auch als individuelle Künstlerinnen tätig zu sein. Das kollektive Schaffen generiert immer auch Frustrationen, weil viele Ideen von den anderen verworfen werden. Mehrere Mitglieder erwähnen Notizbücher oder Karteikästchen, in denen sie solche individuellen Ideen festhalten: »Und es gibt auch ein paar Ideen. Wir arbeiten mit vielen Karteikästchen, wo wir Ideen reinschreiben, und ich habe einen Karteikasten für mich, [mit] Ideen, die ich ausgesprochen habe, die [aber] kein Gehör bei den anderen gefunden haben, wo ich aber daran glaube, wo ich denke, das müsste ich allein machen. [Aber] dazu fehlt mir die Kraft, um [sie] umzusetzen, auch gerade weil Netart einen ganz guten Flow hat. Und da denke ich, wir müssen unsere Energie bündeln. Man kann nicht auf so vielen Hochzeiten tanzen.« (Sophie, Netart)

Solche individualistischen Bestrebungen können das Kollektiv gefährden, wenn die Abgrenzung individueller Arbeiten von der kollektiven Signatur unklar ist und in Frage steht, wer ein Kunstwerk für sich reklamieren kann. Den neuralgischen Punkt markiert die Befürchtung einer zweipoligen Dysbalance: dass die Individuen im Kollektiv verschwinden oder dass Einzelne so dominant agieren könnten, dass sie sich die kollektive Signatur aneignen bzw. von außen als Führungsfigur angerufen werden. So klagte Guillaume von Death Art darüber, dass die Arbeit in der Gruppe alle seine künstlerischen Kräfte absorbiere. »Die Praxis mit Death Art hat angefangen immer mehr Platz einzunehmen […]. Ich begann Haufen von Notizbüchern zu haben mit Dingen, bei den ich mir sagte, ok das mache ich nächsten Monat. Und wenn ich aber wieder mein Notizbuch aufmachte, merkte ich, es ist schon drei Monate her und immer noch nicht gemacht. Zu einem gewissen Zeitpunkt habe ich gespürt […] ich werde es einfach nicht machen.« (Guillaume, Death Art)

Seine individuellen künstlerischen Ambitionen verkümmerten als nicht realisierte Ideen in Notizbüchern. Er schien zerrissen zwischen seinem Engagement für das kollektive Künstlersubjekt und der Verwirklichung seiner Projekte als Individual-Künstler. Guillaumes innere Spannungen blieben auch den anderen Mitgliedern von Death Art nicht verborgen: »Guillaume wurde immer verdächtigt, sich den Löwenanteil in der Gruppe zu sichern. Er war sehr aktiv in der sozialen und öffentlichen Darstellung [von Death Art] und er hatte die unerfreuliche Tendenz zu sagen: ›Death Art, das bin ich‹ und ich denke, das war eigentlich unbewusst. Er hatte so ein großes Bedürfnis nach Anerkennung, dass wenn wir eine geplante Ausstellung hatten, er sich nicht verkneifen konnte, vor einer dritten

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Séverine Marguin/Cornelia Schendzielorz Person zu sagen, obwohl ich auch da war: ›ja ich habe eine Ausstellung in Belfast nächsten Monat‹. Danach gehen die Leute und ich sage ihm: ›DU hast eine Ausstellung? nein nein, WIR haben eine Ausstellung, WIR.‹ Er konnte sich nicht verkneifen, zu sagen, ›das bin ich, das bin ich, das bin ich.‹ (Cyril, Death Art)

Cyril warf ihm vor, das Kollektiv aufgrund seines hohen Geltungsbedürfnisses zu dominieren. Diese Spannungen mündeten schließlich in einen offenen Konflikt, als Guillaumes Ambitionen gewissermaßen von außen stimuliert wurden. Er wurde von einem befreundeten Galeristen gefragt, ob er bereit sei, eine Ausstellung zu kuratieren. Das Angebot war ursprünglich an die Gruppe gerichtet, wurde aber Guillaume allein unterbreitet. In dieser Situation bot sich ihm die Gelegenheit, seine bisher zurückgehaltenen individuellen künstlerischen Ambitionen zu realisieren. In der Darstellung der anderen Mitglieder von Death Art hatte Guillaume das an die Gruppe gerichtete Angebot als Einzelkünstler allein für sich beansprucht, indem er es – sie alle bevormundend – im Namen der Gruppe abgelehnt habe. »Der Galerist hatte Death Art eine Kuration angeboten. Und er hat es Guillaume gesagt, als wir nicht da waren. Guillaume sagt: ›nein nein nein, das ist für mich, das ist für mich, die Anderen, das interessiert sie nicht, aber ich, ich will es gerne machen‹. Und er hat uns nie davon erzählt.« (Cyril, Death Art)

In Guillaumes Darstellung spielte hingegen die Fremdwahrnehmung des Galeristen eine entscheidende Rolle, die das Verhältnis seiner individuellen künstlerischen Tätigkeit zum kollektiven Künstlersubjekt Death Art betraf. In seinen Augen musste er sich stets rechtfertigen. »Ich habe angefangen, mit einem Galerist zu arbeiten […] Also ich, ich habe zwei, drei Sachen dort gemacht und dann haben wir auch mit Death Art Sachen dort gemacht. Und er, er hat nie verstehen wollen, dass Death Art keine Erweiterung meiner Arbeit war, dass es was Anderes war. Klar, es war genauso wichtig, die Arbeit die ich mit Death Art machte wie die Arbeit, die ich allein machte.« (Guillaume, Death Art)

Indem der Galerist die Arbeiten der Gruppe Guillaumes individuellen Bestrebungen zuordnete, lud er ihn gewissermaßen ein, Death Art für sich zu vereinnahmen. Dass der Galerist davon überzeugt war, die Arbeiten der Gruppe seien allein aus Guillaumes Ideen entstanden, zeigt seine Unfähigkeit oder seinen Unwillen, die Gemeinschaftsarbeit als ein Kunstwerk mit kollektiver Autorschaft zu denken. In diesem Fall verführte die Fremdanrufung zu einem Individualismus, der im Selbstverhältnis von Guillaume bereits raumgreifend verhandelt wurde. Nach diesem Vorfall fühlten sich die andern Mitglieder von Guillaume verraten. Gilles formulierte, dass »irgendwas zu dem Zeitpunkt un-

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widerruflich zerbrochen ist« (Gilles, Death Art). Die Integrität des Kollektivs, das Vertrauen ineinander als Mitglieder dieses Kollektivs war zerstört. In Konsequenz dieser »Integritätskrise« löste sich die Gruppe einige Monate später auf. Bis zu welchem Punkt die Kohärenz des kollektiven Künstlers standhält und die Spannung zwischen eigensinnigen Individuen und Kollektivsubjekt aushält, wann er zersplittert und wie im Zerfall Momente der Fremd- und der Kollektiv-Selbstkonstitution ineinandergreifen, kann nur im Einzelfall nachgezeichnet werden. Auch Netart kennt solche Krisen, obwohl die Beteiligten keine parallelen Individual-Karrieren verfolgen. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass weder Death Art noch Netart sich explizit in eine Tradition kollektiver Narrative stellt, sondern beide kollektive Produktionsformen experimentell nach dem Prinzip des trial and error austesten. Die Teilhabe an einem kollektiven Künstlersubjekt bedeutet zwar nicht zwingend die Einstellung der Praxis als Einzelkünstlerin. In der Gesamtstudie der zehn Fälle zeigte sich jedoch, dass beide Praxen sich nur artikulieren können, wenn die Integrität der kollektiven Praxis gewährleistet ist und sich auch gegen individualisierend aufspaltende Fremdanrufungen behaupten kann.

4. Teleologie : P ersonifizierung und » é tat de gr âce « Anhand der Teleologie des Kollektivs rekonstruieren wir, wie sich auf Grundlage der gemeinsamen Produktion mit dem gemeinsamen Kunstwerk das Überindividuelle, die Einheit des »kollektiven Künstlers« als Subjekt herausbildet. Als transindividuell handelnder Akteur wird das kollektive Künstlersubjekt in der Personifizierung und im »état de grâce«, dem Moment der Vollendung des künstlerischen Handlungsvollzugs, im Kunstwerk greif bar. Wie dargelegt, ist der tätige Schaffensprozess nicht zu trennen von der unablässigen Versprachlichung der Praktiken beim gemeinsamen Abwägen, Überlegen, Experimentieren und Herstellen. In diesem Explizieren des künstlerischen Handelns manifestiert sich eine Verkörperung und Objektivierung des Kollektivs. Die unterschiedlichen Gestalten der Künstlerkollektive schlagen sich u.a. in den Personifizierungsformen nieder. Diese lassen sich anhand der Personalpronomina analysieren, mit denen das Kollektivsubjekt bezeichnet wird. In der Benennung als »wir/man« (frz. »on«) oder als »es« scheint im Schaffensprozess eine Entität auf, die als kollektiver Akteur über eigene Handlungsmacht verfügt. Diese Anrufung des kollektiven Subjektes spiegelt in ihrer Einstimmigkeit abermals die Affirmation der kollektiven Autorschaft wider. Anhand der beiden Fallbeispiele lassen sich zwei Formen der Personifizierung unterscheiden: Die Mitglieder von Death Art sprechen vom kollektiven Künstler als einem Monster, einer Hydra, die sich dauernd regeneriert.

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Séverine Marguin/Cornelia Schendzielorz »Also wir waren uns schon bewusst, dass wir etwas bisschen Monströses machten und das, das reizte uns wirklich. Auf diese Weise waren wir eine Art Hydra.« (Gilles, Death Art)

Hier wird sichtbar, wie das Kollektiv als ein Kollektivkörper (vgl. Sasse/Wenner 2002: 4) Gestalt annimmt. Im Französischen benutzen sie, wenn sie über sich sprechen, das Personalpronomen »on«, in dem in der gesprochenen Sprache die deutsche erste Person Plural »wir« mit der verallgemeinerten dritten Person Singular »man« verschmelzen. Die Personifizierung des Kollektivs ist somit inkludierend und als verallgemeinertes »man« mit einer transindividuellen Objektivität ausgestattet. Im Unterschied zum inkludierenden kollektiven Künstler sprechen die Mitglieder von Netart in der dritten Person Singular vom Kollektiv. »Es gibt etwas wie ein Herz und daran sind wir [on] alle mit einem elastischen Band, das uns am Rücken hält, gebunden und so [aus dieser Position] guckt man sich anderswo um. […] [Das Kollektiv] existiert, es ist da. Und es hat eine Geschichte und es ist ein bisschen verbeult, aber man kann fortfahren damit zu arbeiten.« (Sophie, Netart)

Das Kollektiv lebt, es hat ein Herz. Es kann kaputt gehen und muss dann gegebenenfalls repariert werden. Es wird mit seiner Geschichte, seinen Dellen und Beulen als eine eigenständige »vierte Instanz« beschrieben, die gewissermaßen selbständig existiert. Als Herz verbindet es zugleich die drei Mitglieder von Netart, jedoch ohne sie zu umfassen und in deren Streifzügen »anderswo« zu begrenzen. In beiden Formen der Personifizierung manifestiert sich eine eigene kollektive, transindividuelle Entität, die Ausdruck einer radikalisierten Kollektivierungsform ist, die sie mit Künstlergruppen der 1960er und 1970er Jahre verbinden. Die jeweilige Form jener personifizierten kollektiven Entität wird zudem in spezifischen Momenten des Schöpfungsprozesses greif bar, den die Künstler mit einem metaphysischen Vokabular als »(Zu-)Stand der Gnade« – »état de grâce« bezeichnen. Ein Mitglied von Death Art beschreibt es so: »Ich vertraue tatsächlich sehr auf den Zustand der Gnade. Was ich bei Death Art sehr mochte, war, dass es uns ohne danach zu suchen gelang eine Dynamik zu kreieren und wir dann so ein bisschen in einem Zustand der Gnade waren, einfach so, voilà und alles war dynamisch in einer Weise, einerseits kreativ und zugleich gelang es uns lauter Verbindungen zwischen und um uns herum zu finden. Und das war wirklich schön.« (Gilles, Death Art)

Mitglieder von Netart berichten dass »es magisch« war, dass »wir [on] etwas [fühlten], das war die Glückseligkeit« (Sophie bzw. Fabien, Netart). Demnach wird das kollektive Wesen in beglückenden Augenblicken der Erfüllung spür-

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bar. Den Schilderungen der Mitglieder zufolge ereignen sich diese Erfüllungserfahrungen in Momenten, in denen ein Kunstwerk vollendet wird. Der französische Arbeits- und Kunstsoziologe Pierre-Michel Menger (vgl. Menger 2009: 453ff.) hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Moment der Fertigstellung eines Kunstwerks von der fundamentalen Unsicherheit geprägt ist, ob das Erreichte tatsächlich »fertig« im Sinne von vollendet ist. Jene Glückseligkeit im Moment der Erfüllung und Harmonie des »état de grâce« gilt bei den Künstlerkollektiven als Signal dafür, dass das Werk vollendet ist. Die synchron empfundene Harmonie angesichts des kollektiven Geschöpfs ist somit unersetzlich für den gemeinsamen Schaffensprozess, da einzig diese Erfahrung des Kollektivsubjekts ermöglicht, die Ungewissheit hinsichtlich der Vollendung aufzulösen. In diesem Moment wird der kollektive Künstler als eine Einheit greif bar, welche die Einzelnen transzendiert, ohne sie dabei zu beschneiden. Für diesen Augenblick scheinen Selbst- und Fremdführung inspirierend in eins zu fallen.

5. A usblick Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei der Emergenz des Kollektivsubjekts sowohl Fremd- also auch Selbstbestimmung dominieren können. Die vier Kollektiv-Selbst-Technologien – erstens Verzicht auf Arbeitsteilung, zweites Einstimmigkeit, drittens Versprachlichung der Aushandlungsprozesse des künstlerischen Akts und viertens Integrität des kollektiven Künstlers gegenüber individuellen Ambitionen – sind Voraussetzung für das Entstehen und das Überleben kollektiver Künstler. Sie sind konstitutive Bestandteile des Gegen-Narrativs zum dominanten Ideal des Individual-Künstlers, dessen Wirkungsmacht sich in der beständigen Gefahr manifestiert, dass jenes in unablässigen Aushandlungsprozessen begriffene Machtgeflecht von Einzelnen dominiert wird und die Künstlergruppe implodieren oder zerfallen lässt wie im Fall von Death Art. Diese Technologien ermöglichen, dass der kollektive Künstler im Zuge unterschiedlicher Personifizierungen und den Erfüllungsmomenten des »état de grâce« auf der vierten Dimension der Selbstpraktiken als Zielpunkt eine kollektive Subjektivierung erreicht. Als Kollektivsubjekt kann er dann eine Instanz bilden, über die vermittelt die Einzelnen sich auch als kollektives Subjekt voneinander erlernen (vgl. Ricken 2013b: 77, 83, 97)9. In solchen Erfüllungsmomenten stellt sich dann zudem die Frage, ob sich in jener Subjektivierung des Kollektivs zu-

9 | Sabine Reh und Norbert Ricken konzipieren Subjektivierung als intersubjektiven Prozess, der ein »Sich-von-Anderen-Erlernen« impliziert (vgl. Reh/Ricken 2012: 40): »Menschen erlernen sich selbst, indem sie mit anderen, von anderen und durch andere lernen (bisweilen sogar auch für andere lernen)« (ebd.).

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weilen ein Momentum ereignet, in dem das Spannungsverhältnis von Fremdund Selbstführung für einen Augenblick versöhnt wird. Somit erweist sich besonders die subjektivierungstheoretische Analyse der Kollektiv-Selbst-Technologien als ergiebig. Das Vokabular und der Fokus auf Selbstpraktiken ermöglichen die Spannungen und Divergenzen im Konstitutionsprozess des kollektiven Künstlersubjekts auf der Basis empirischer Daten in differenzierter Weise als Teil eines Gegen-Narrativs zu erforschen, ohne sie vorschnell gemäß bestehender Narrative zu klassifizieren. Dieser Ansatz eröffnet zudem eine Perspektive auf kollektive Subjekte, in der die Beschaffenheit des Kollektivs auf eine heuristische Art und Weise gedacht werden kann, ohne einer Ontologisierung Vorschub zu leisten. Der Fokus auf die Kollektiv-SelbstTechnologien vermeidet, dass die individuellen Mitglieder im Kollektivsubjekt verschwinden oder das Kollektivsubjekt auf die Summe seiner einzelnen Teile reduziert wird. Mit dem Begriffspaar von Fremd- und Selbstführung birgt das subjektivierungstheoretische Vokabular jedoch auch Irritationspotential, da auf dieser abstrakten terminologischen Ebene mehrdeutig bleibt, wer als fremdsteuernde und wer als selbststeuernde Größe zu begreifen ist. Einerseits erscheinen strukturelle Akteure, wie Hochschulen als fremdführende Instanzen, andererseits kann auf einer Meso-Ebene das Kollektivsubjekt eine Fremdsteuerung auf seine Mitglieder ausüben. Hier wären zur eindeutigen Bezeichnung weiter differenzierende begriffliche Unterscheidungen angebracht. Eine Ergänzungsmöglichkeit der dargelegten Analyse sehen wir in der lediglich angedeuteten Positionierung der kollektiven Künstler im sozialen Raum. Sie zeigt, dass die kollektiven Künstler in einem Dispositiv agieren, dessen diskursive und institutionelle Voreinstellungen die Subjektivierung von Individual-Künstlerinnen vorbahnen und begünstigen. Eine gründliche Dispositivanalyse könnte erörtern, in welcher Weise das Bestehen der marginalisierten Kollektiv-Künstler-Subjektivität mit einer beharrlichen Subversion der auch institutionell weitgehend etablierten individualisierenden Fremdkonstitution zusammenhängt. Auf dieser Basis wäre die kontrastierende Analyse der Verankerung der Subjektivierungsprozesse von Einzel- und kollektiven Künstlern insbesondere aufgrund von Foucaults methodologischen Entscheidungen, nicht normativ, nicht universalistisch und genealogisch zu verfahren (vgl. Foucault 2009: 19; Foucault 2004: 14-16) vielversprechend.

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Jazz Kollektive Subjektivierung durch Improvisation Christian Müller

1. E inleitung Die folgenden Überlegungen stützen sich auf eine empirische Untersuchung, die sich mit der Interaktionsdynamik improvisierender Jazzbands befasst hat (Müller 2017). Ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Untersuchung war, dass das Spiel einer Jazzband zu einem erheblichen Teil aus parallel ablaufenden Handlungen besteht, deren Koordination im Moment der Ausführung selbst erfolgen muss. Die dafür notwendigen Synchronisationsprozesse erfordern eine hohe Sensibilität für feinste Nuancen im Spiel der anderen Musiker (siehe dazu z.B. Doffman 2009). Die hermeneutische Analyse der für die Studie durchgeführten Gruppen- und Einzelinterviews hatte zum Ziel, genauer herauszuarbeiten, wie diese wechselseitige Bezugnahme stattfindet, welche Haltung dabei eingenommen wird und wie die Mitspielerinnen und deren Spiel während der Interaktion wahrgenommen werden. Schließlich ergab sich daraus auch die Frage, wer oder was während der Jazzimprovisation eigentlich handelt. Im Hinblick auf diese Aspekte wurde das erhobene Interviewmaterial ausgewertet. Dabei stand zunächst eine Sensibilität für sprachliche Phänomene im Vordergrund, bei denen es wiederum um die Rekonstruktion dahinterliegender Muster und Konzepte ging.1 Die Tatsache, dass man einer Praxisform wie Musik mit reinen Sprachanalysen nur sehr eingeschränkt gerecht werden kann, machte es allerdings notwendig, den konjunktiven Erfahrungsraum2 der 1 | Das erhobene Material wurde mit einem mikrosprachlichen und rekonstruktiven Fokus ausgewertet und analysiert. Zur dabei verwendeten Methode der integrativen Hermeneutik siehe Kruse (2014). 2 | Verstanden als ,Raum‹ einer gemeinsamen Handlungspraxis, in dem wechselseitiges Verstehen und Interagieren über ein geteiltes intuitives und vorkommunikatives Vollzugswissen stattfindet.

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Musikerinnen mithilfe von theoretischen Perspektiven auch über den reinen Sprachraum hinaus zu erschließen. Ihre Beschreibungen wurden also nicht lediglich sprachanalytisch ,ernst genommen‹. Vielmehr sollten sie auch Anhaltspunkte dafür bieten, weitere relevante Erfahrungsebenen der Jazzimprovisation rekonstruieren zu können. Dafür wurden die sprachlichen Beschreibungen mit jeweils kompatiblem Theorievokabular in Verbindung gebracht, um weiterführende Thesen generieren zu können. Ein leitendes Prinzip war es, dabei möglichst induktiv vorzugehen. Statt vorab festzulegen, welche theoretischen Perspektiven an das Material anzulegen sind, oder Thesen aufzustellen, die es zu überprüfen galt, sollte der Anstoß für deren Anwendung also aus dem Material selbst bzw. aus den rekonstruierten Konzepten und Mustern kommen. Damit sollte gewährleistet werden, die Kluft zwischen dem Erfahrungsraum der Musiker und der Versprachlichung ihres Erlebens zumindest zu verringern, um so letztlich thesenhafte, dichte Beschreibungen zu generieren.3 Diese sind allerdings eher als punktuelle Probebohrungen zu verstehen, denn als systematische Anwendungen theoretischer Werkzeuge. Die auf diese Weise durchgeführte Analysearbeit auch an dieser Stelle abzubilden, würde sowohl den Rahmen eines Artikelformates sprengen als auch am relevanten Erkenntnisinteresse vorbeigehen. Die zitierten Interviewpassagen werden im Vergleich dazu vor allem eine illustrative Funktion haben. Es handelt sich dabei also um eine dem eigentlichen Forschungsprozess entgegengesetzte Darstellungsweise. Die im Folgenden aufgerufenen Theoriekonzepte waren in Verschränkung mit den Materialanalysen wichtige Komponenten der erwähnten dichten Beschreibungen, damit also Bestandteil der gewonnenen Ergebnisse. Obwohl ein subjektivierungstheoretischer Zugang keinen primären Fokus der Arbeit darstellte, war unverkennbar, dass sich anhand der Praxisform Jazz verschiedene Prozesse individueller und kollektiver Subjektivierung beschreiben lassen. Das Interviewmaterial enthält zahlreiche Passagen, die subjektivierungsanalytische Fragen geradezu aufdrängen.4 So finden sich Beschreibungen körperlicher Routinen, angefangen von der regelmäßigen Praxis des Übens der einzelnen Musikerinnen bis zu den Koordinationsbewegungen einer Band im Zusammenspiel. Verschiedene metaphorische dichte Schilderungen der Wahrnehmung der erzeugten Klangwelten lassen sich als anvisierte Ideale eines affektiv-emotionalen Erlebens deuten. Weiterhin finden 3 | Dies ist zudem eine Orientierung am Prinzip der iterativen Forschungslogik der Grounded Theory, die über den fortlaufenden Wechsel zwischen empirischer Analyse und theoretischer Erschließung nach und nach zu einer immer exakter werdenden Beschreibung des untersuchten Phänomens gelangt (siehe dazu z.B. Strübing 2004). Letztlich handelt es sich dabei um ein abduktives Vorgehen. 4 | Angelehnt an die Vorschläge von Reckwitz. (vgl. z.B. 2008: 9-21, 135-147). Insgesamt werde ich mich vor allem auf subjektivierungstheoretische Grundlagen berufen.

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sich explizite und implizite Vorstellungen und Fluchtpunkte davon, was eine Jazzband ausmacht und welches konstitutive Außen im Gegensatz dazu als Abgrenzung zu anderen Genres konstruiert wird. Insgesamt lässt sich ein detailliertes Bild von genrespezifischen Selbstbildern auf individueller und gruppenspezifischer Ebene zeichnen. Die hier relevanten Analysen konzentrieren sich vor allem auf das für Subjektivierungsdynamiken grundlegende Doppelverhältnis von Handlungsfähigkeit und Unterordnung: die Entstehung einer Akteurschaft, die sich einerseits darüber auszeichnet, nur sehr eingeschränkten konkreten Handlungsabsichten zu folgen, andererseits gerade dadurch eine umso stärkere Wirkmächtigkeit und Evidenz entfaltet. Um diesen Zusammenhängen einen Rahmen zu geben, schlage ich vor, die Musik, welche die Musiker machen, als einen eigenständigen Wirklichkeitszusammenhang zu verstehen. Dies liegt einerseits auf der Hand, da die Wirkung der Musik nur solange besteht, wie sie gespielt wird, und mit ihrem Verklingen auch wieder vergeht. Zudem lassen sich so Beschreibungskonzepte in den Interviewausschnitten aufgreifen, in denen es um eine eigenständige Wirklichkeit geht, die aus der Situation des Zusammenspiels emergiert. Das heißt, es handelt sich bei der Subjektivierungsdynamik der Praxisform Jazz vor allem um einen situativen, zeitlich begrenzten Interaktionszusammenhang, wodurch auch die Prozesshaftigkeit und Notwendigkeit des permanenten ,doing‹ besonders gut sichtbar werden. Ich werde die damit im Zusammenhang stehenden Prozesse in drei Schritten beschreiben. Zunächst in der Verfasstheit der einzelnen Musikerinnen in der Auseinandersetzung mit dem Instrument. Anschließend in der Interaktion der Musikerinnen im improvisierenden Zusammenspiel. Zuletzt schließlich in der Weise, wie die Musiker den Effekt ihrer Handlungen als plötzliche Emergenz eines vergemeinschaftenden ›Metasubjekts‹ erleben.

2. D ie M usikerinnen und ihr I nstrument Für das Verständnis des später zu behandelnden Gesamtzusammenhangs ist im ersten Schritt zunächst der Status der Musiker als Einzelakteure zu klären. Auf dieser Ebene finden sich bereits einige subjektivierungstheoretische Aspekte, die für das Verständnis der Interaktionsdynamik, in der die einzelnen Musikerinnen anschließend agieren, von entscheidender Bedeutung sind. Da ein einzelnes Subjekt zur Erzeugung von Musik auf ein Musikinstrument angewiesen ist,5 dreht sich die Frage nach der Verfasstheit der Musiker vor allem um die Integration dieses Instruments in den individuellen Subjektivierungszusammenhang. Eine solche Integration lässt sich als eigenständige 5 | Von Gesang abgesehen, der nicht Gegenstand der zugrundeliegenden Studie war.

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Form eines Habitus verstehen, der sich in der Sozialisation der Musikerinnen ausbildet. In dieser findet die Verkörperung von musiktheoretischem Wissen statt, was nicht zuletzt auch bedeutet, die Ausführung instrumentspezifischer Spielbewegungen zu internalisieren.6 Lässt man sich auf Bruno Latours Vorschlag einer Symmetrie aus Akteuren und Aktanten (oder auch Quasi-Subjekten) ein und wendet diesen subjektanalytisch, dann lässt sich die bereits genannte Dynamik aus Autonomie und Unterwerfung in Bezug auf das Instrument nach zwei Seiten hin erschließen. Offenbar gibt es einen spezifischen Zustand oder Modus, in dem die Interaktion mit dem Instrument als sinnhaft und funktional empfunden wird. Die Musikerinnen versuchen in diesen Zustand zu gelangen, um überhaupt zu handlungsfähigen, hier also spielend handelnden, Akteuren werden zu können.7 Dafür ist es einerseits notwendig, sich das Instrument anzueignen bzw. sich dieses zu unterwerfen. Neben der Subjektperspektive bietet sich hier auch das Konzept einer Identität an, die in der Interaktion mit dem Instrument situativ ausgehandelt wird.8 Diese Aushandlung wird in den Interviews vor allem als häufig sehr mühsames Ringen mit dem Instrument thematisiert. B: ja (3) na klar man wird=s nich mehr los [A: ja ja] ne also aber liebe und hass [A: ja ja] […] man kann es mal verfluchen also (3) bei bläsern gibt=s äh gibt=s das immer ne dass man also am liebsten das horn irgendwann (2) [B: ja] kannstes nich mehr sehen und willst es an=an [B: ja] die wand schmeißen ne weil=s ((Räuspert sich)) (2) es nervt dich nur aber du kannst auch nich äh=äh los (BB, 737-748) A: also ich glaube das is=n äh das is so ähnlich wie in ner EHE (1) man hasst [B: ja] es manche tage man liebt es manche tage und man kann auch mit ihm sprechen (2) und (2) muss jeden tag was mit ihm zu tun haben (2) man weiß nich WIE:: und manchmal is es langweilig und dann geht=s zwei drei stunden lang gut (2) es ist ein gespaltenes verhältnis (BB, 699-704)

6 | Nielsen (2015) sieht in der Übepraxis des Jazzmusikers eine Analogie zur Benutzung von Notizbüchern (Hypomnema) in der Kultur der Antike, die für Foucault wiederum mit Bezug auf Seneca eine zentrale Technologie der Selbstformung bildet. 7 | Für Gadamer liegt darin eine Charakteristik jeder Form des Spiels: »Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird.« (Gadamer 1990: 112; Herv. i.O.) 8 | Identität ist dabei zu verstehen als Position innerhalb eines sozialen Gefüges sowie als Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit und zu außerkörperlichen Materialitäten und Artefakten. In dieser Hinsicht schließlich um das Spektrum dabei möglicher situativer Zustände und Verfasstheiten von interagierenden Akteuren und Aktanten in einer gegebenen Handlungssituation.

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Was hier problematisiert wird, ist die Tatsache, dass die Verbindung der beiden Komponenten Instrument und Musikerin in ein handlungsfähiges Kollektiv alles andere als eine jederzeit gegebene Selbstverständlichkeit ist. Das Instrument als zunächst unbelebtes Objekt will immer wieder von neuem in den Körper integriert werden, sei dieser auch noch so stark durch jahrelange Übepraxis und Spielroutine habitualisiert. Mit subjektivierungstheoretischem Blick wird klar, dass die Musiker somit auf die Durchführung – also das ,doing‹ – ihrer eigenen Subjektivierung angewiesen sind. Die Herstellung der Verbindung aus Musikerin und Instrument ist ein eigenständiger Handlungsablauf, genauer gesagt ein Aushandlungsprozess, da er auch bei aller Gewöhnung an ein spezifisches Instrument immer kontingenzbehaftet bleibt. A: […] dass die dinger auch en eigenleben entwickeln (2) [I: mhm] die trommeln (2) ja ich hab auch vibraphon gespielt (2) und dann geht das auf ein mal irgendwann mal von alleine (3) also das äh (2) da- (2) dann weiß man […] dann fängt das ding alleine an zu spielen wenn=s gute laune hat […] es passiert (2) und es ist vollkommen mühelos (2) es geht [I: okay] das ding spricht (3) das ist das das ist die verbindung die man merkt (BB, 724-736)

Am Gegenpol von Kontingenz und Widerstand findet sich schließlich der angestrebte Zustand aus einer Balance zwischen der Eigenstrukturiertheit des Instruments und einer mühelosen Beherrschung durch die Musiker. Sobald sich ein solches Gleichgewicht eingestellt hat, wird es vor allem so wahrgenommen, als spiele das Instrument eigenständig. Selbstverständlich tun dies weiterhin die Musikerinnen selbst. Allerdings ist damit ein Prozess in Gang gesetzt, in dem sie sich in der Beherrschung des Objekts zugleich auch an die Idiosynkrasien, die Funktionslogik und die Klangcharakteristik des Instruments angepasst haben, also in den körperlichen Bewegungen wiederum auch dessen Eigenlogik unterworfen sind. Ein Teil der wahrgenommenen Agency9 geht an das Instrument über. Erst in diesem temporären Subjektivierungsprozess kommen die Musiker als handlungsfähige Subjekte zu sich selbst. Ein habituell strukturierter und damit schon subjektivierter Körper bedient dabei ein Instrument mit einem ebenfalls spezifischen materiellen Dispositiv-Charakter.10 Letztlich ist analytisch beiden Seiten sowohl aktiver Einfluss auf die Cha9 | Verstanden als subjektiv wahrgenommene Handlungsmächtigkeit. (Siehe dazu z.B. Bethmann et al. 2008) 10 | Der Dispositivbegriff soll hier so verstanden werden, wie er von Braudy oder noch prominenter von Agamben im Anschluss an Foucault weiterentwickelt wurde: »Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen […] auch der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie,

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rakteristik der Handlung zuzuschreiben, als auch passive Subordination unter die Gegenständlichkeit und Eigengesetzlichkeit des Gegenübers. Aus der beschriebenen Interaktionsdynamik emergiert eine eigenständige Subjektform (oder auch ein Hybridsubjekt) mit spezifischer Lebendigkeit und Agency. Es entsteht zeitgleich mit seiner eigenen Möglichkeitsbedingung bzw. ist ohne diese nicht zu denken. Man könnte auch sagen, dass sich darin eine temporäre Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in einem Handlungsprozess zeigt.

3. Z usammenspiel als B and Die auf diese Weise in ihrer Verfasstheit beschreibbaren einzelnen Musiker stehen nun im nächsten Schritt vor der Aufgabe, ihre Spielhandlungen mit denen anderer Musikerinnen zu koordinieren, um gemeinsam als Jazzband agieren zu können. Entscheidend ist dafür vor allem eine spezifische Haltung. A: also ich versuche den (1) also den ort zu finden normalerweise kommt es von alleine wenn ich mit anderen leuten spiele (2) dass ich a- mich auf DIE: mich auf sie irgendwie einrichte und höre ZU und dann komm ich ein bisschen raus von mir (2) und (1) […] ich bin nich so fixiert auf (2) ich hör nich so: so: so sehr auf MICH die ganze zeit (1) und (.) was ICH mache […] da wo ich nicht so GENAU zuhöre nicht GENAU (.) mich darauf fokussiere sondern auf markus ich höre gerade markus zu (.) dann passieren sachen fast von alleine (1) also ob ich nicht ganz da wäre (2) also die hände gehen von alleine die ohren gehen von alleine und ich gehe MIT was da auch immer passiert (1) und manchmal MERK ich das und dann denk ich OH JA DAS MUSS ich geNAU MAchen dann ist es wieder schlecht (1) [I: mhm] ich muss irgendwie da bleiben (1) wo es: (1) schwammig ist wo es nicht ganz bewusst ist wo die sachen MICH sogar selbst überraschen (M, 438-459) A: how do you choose what to play when you improvise
C: m- (1) ehm: I don’t know I just (.) try to keep my ears open and react to what (.) other people are playing (1) eh cause I think that’s where the magic happens (M, 176-179)

Ein besonderes Problem der gemeinsamen Handlung der Jazzimprovisation besteht darin, permanent parallel handeln zu müssen. Zwar gibt es auch serielle Reaktionen aufeinander, aber auch diese finden vor dem Hintergrund eines durchgängigen Miteinanderhandelns statt.11 Die Musiker spielen entsprechend, indem sie das eigene verkörperte habituelle Wissen impulsiv als die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schifffahrt, die Computer, die Mobiltelefone.« (Agamben 2008: 26) 11 | Improvisierte Musik wird einer Definition Müllers zufolge zeitgleich erfunden und ausgeführt. (vgl. Müller 1994: 82, zitiert bei Figueroa-Dreher 2008: 395)

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Reaktion agieren lassen. In ähnlicher Weise wie im Hinblick auf das Instrument entsteht auch hier die Position eines handelnden Subjekts erst im Durchgang durch die Handlungen der anderen Bandmitglieder. Statt eine eigene Ordnung oder eine eigene Taktik des Handelns zu entwickeln, ordnen sie sich dem unter, was die anderen spielen, indem sie – sozusagen in Echtzeit – einen körperlich vollzogenen Deutungsprozess vollziehen, der durch die Integration der Instrumente in dieser Körperlichkeit als improvisierte Musik hörbar ist. Auch hier werden die Musikerinnen erst in der Eingebundenheit in den sozialen Interaktionszusammenhang als Akteure wirkmächtig und handlungsfähig. In Ermangelung einer zentralistischen Handlungskoordination besteht nun ein Schlüsselaspekt der affektiv-emotionalen Sinnhaftigkeit einer Bandkonstellation daraus, welche Handlungen die Band quasi selbsttätig und zur Überraschung der Musiker selbst ausführt. B: […] wenn das ne gute konstellation is dann (2) kommen -(1) bestimmte dinge passieren dann zuSAMMen irgendwie (2) das is vielleicht auch so ne art magie die man dann auch schwer erklären kann (1) die halt einfach so passiert (.) mit manchen passiert es und mit manchen eben nich und das hat gar nix damit zu tun (1) wie toll jemand auf seinem instrument is wie manchen (3) also es gibt musiker die ganz TOLL sind und trotzdem nich zusammen (2) das selbe FÜHlen in dem augenblick (2) (NK, 203-211) A: […] so zwischen UNS das manchmal [I: ja] [B: ja] [C: ja]passiert dass man im gleichen moment genau das gleiche spielt manchmal sind wir dann selber ganz (1) verwirrt und gucken uns an und denken so ach KRASS [C: ((Kurzes Lachen))] (2) wow (1) und das is halt (1) nur mit bestimmten leuten so oder nur wenn man gut eingespielt is oder öfter zusammen spielt oder irgendwie so (NK, 163-170)

In Anlehnung an Bourdieu zeigt sich in den beschriebenen Ereignissen der Habitus einer Konstellation von Musikerinnen. Wenn der Habitus eines Individuums zwar seinen Sitz im Körper hat, sich aber in konkreter Form nur in (milieu)spezifischen Handlungen zeigt, dann ist für das Subjekt der Band ähnliches anzunehmen. Es gibt zwar das inkorporierte Wissen und die Handlungsschemata des Habitus in den Körpern der Musiker, aber sichtbar und in diesem Fall vor allem hörbar werden diese lediglich in den Spielhandlungen der Band. Erst dort zeigen sie sich auch als auditiv-sinnhafter Zusammenhang, denn das Überwältigungspotenzial speist sich für die Musikerinnen nicht zuletzt daraus, dass in den Momenten der Synchronisation etwas entsteht, das nicht als Missklang oder Chaos empfunden wird, sondern als genau das, worauf es die Musiker mit ihrem Tun abgesehen haben, auf das ,Passieren‹ von Jazz. Somit gilt auch hier, dass die Band in diesen Interaktionsdynamiken erst eine zeitlich begrenzt erlebbare Wirklichkeitsform erhält. Die Band ist als solche erst im bzw. unter den Bedingungen des Verzichts auf Handlungsautono-

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mie der einzelnen Musikerinnen, zugleich existieren auch sie erst im Kontext der Band. In dieser Hinsicht lässt sich die Band während des Spiels in Anlehnung an Karin Knorr-Cetina auch als »Heimat des Experten-Selbst« (vgl. Knorr Cetina 1998: 95) der Musiker bezeichnen. A: des KANN sehr verwirrend sein für mich also da: ä: hab ich manchmal richtig lust zu und dann denk ich hoppla (2) ich bin ja völlig verloren mit diesen tönen (2) aber dann kommt irgendwann (.) es gegenteil so=n gefühl von heimat (.) weil es sind ja MEIne töne (J, 263-267) A: […] du bist ja unmittelbar ja also du bist ja du lebst des ja du bist ja da wie=n tier (1) wie=n hund ne […] du denkst nett drüber nach du du wedelst mit=m schwanz weil du dich freust aber weiß gar gar nett (2) ((Lachen)) ja (2) und das ist das angenehme ma ist viel viel näher bei sich selbst (S, 808-815)

Das zuvor beschriebene zugleich reaktive, aber auch aktive Agieren im Spiel der anderen Musikerinnen verhält sich kohärent zum Bild des Hundes, der vor Freude mit dem Schwanz wedelt, ohne zu wissen warum. Mit Plessner könnte man sagen, die Musiker versuchen in einen Zustand der zentrischen Positionalität zu gelangen, der sich von der für den Menschen spezifischen exzentrischen Positionalität unterscheidet, da eine reflektierende oder evaluierende Bezugnahme auf diesen Zusammenhang während des Spiels zu vermeiden ist.12 Hier zeigt sich erneut der Aspekt einer Unterordnung des individuellen Agens, aus der eine umso wirkmächtigere und affektiv sinnhafte, situative Subjektposition hervorgeht. Wie bereits gezeigt, durchläuft das Selbst der Musikerinnen bereits eine »Schleife durch das Objekt« (ebd.: 104) des Instruments. Sie durchqueren in ihrem Handlungsfluss jedoch ebenso auch das Verhalten der anderen Bandmitglieder. Dies gilt wechselseitig für alle Beteiligten, was die Eigenart der Subjektivierungsdynamik in besonderer Weise verdeutlicht: die Handlungsträgerschaft und Position der Spieler ist definiert über die eigenen Aktionen, deren Ermöglichungsbedingung jedoch zu jedem Zeitpunkt vordefiniert ist vom Aktionsraum der Handlungen der anderen Akteure und Aktanten. Jede Aktion ist zugleich eine Reaktion. Sowohl der Aktionsraum als auch die Aktionen befinden sich zudem während des Spiels in einem Zustand der permanenten Durchführung und unterliegen damit einer kontingenten Offenheit. Wie später noch zu zeigen sein wird, liegt darin das Potential für Überraschung und letztlich auch für die ,ihr eigenes Entstehen erlebende Gemeinschaft‹ der improvisierenden Jazzband. Insgesamt handelt 12 | »Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.« (Plessner 1975: 288)

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es sich um einen zirkulären Zusammenhang, der keinen konkreten Ausgangspunkt hat, sondern dessen Dynamik sich viel mehr selbsttätig einstellen muss. Darin liegt auch die Definiton dessen, was als Groove bezeichnet, bzw. was von den Musikerinnen als affektiv-sinnhafte Form des Zusammenspiels empfunden wird.

4. D ie B and als P lur alsubjek t Die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns bei lediglich rudimentär vorhandenen konkreten Handlungsabsichten während der gemeinsamen Improvisation eröffnet eine Verbindung zur Debatte über Kollektive Intentionalität.13 Diese dreht sich – stark verkürzt – um die Frage, was paralleles individuelles Handeln von gemeinsamem Handeln unterscheidet (vgl. Schmid/Schweikard 2009b: 11). Konsens scheint darüber zu bestehen, dass für gemeinsames Handeln die leitenden Intentionen14 der beteiligten Akteure entscheidend sind (vgl. ebd.: 13). Gilbert konstatiert, dass diese zur Ausführung einer solchen Handlung ihren Willen in einen »Willenspool« (Gilbert 2009: 165) geben und dadurch ein »Pluralsubjekt« (ebd.: 164) bilden. Der Begriff des Pluralsubjekts scheint mir zur Beschreibung des gemeinsamen Handelns der Jazzmusikerinnen gut geeignet. Dies aber vor allem, weil sich in der Abgrenzung von der Vorstellung eines gemeinsamen Pools, in dem die Musiker ihren Willen sammeln, gut aufzeigen lässt, was die Eigenheit der Emergenz des Subjekts im temporären Wirklichkeitszusammenhang der Jazzimprovisation ausmacht. Dafür möchte ich mich im Folgenden auf Beschreibungen der Musikerinnen konzentrieren, die sich um die plötzliche Entstehung von überindividuellen Phänomenen drehen, welche die Musiker als Band verbinden und die zugleich als eigenständig handelnde Entitäten wahrgenommen werden. A: […] tatsächlich auch das gefühl dass man:: (2) dass (1) WIR dann:: (1) diese diese gruppe (2) äh:: (3) tatsächlich (1) ähm::: (1) nur bis zu einem bestimmten:: bis zu einem bestimmten prozentsatz äh: (1) da so weit die fäden in der hand haben dass man sagen kann (1) die machen: die musik is jetzt wirklich des äh: (2) ähm: (1) die summe der der einzelnen äh: (3) der einzelnen: (2) musiker oder quellen ode:r (2) da is no irgendwie da noch MEHR also auch noch mehr wo man:: (1) was einen überraschen kann und was halt äh:: tatsächlich nich (3) absehba::r (2) reproduziert werden kann weil=s einfach:: (1) wo sich alle:: alle gemeinsam wundern: (2) äh:: (2) was da:: was da halt noch äh: (1) wie soll 13 | Ein einschlägiger Sammelband dazu liegt von Schmid/Schweikard (2009a) vor. Auf diesen werde ich mich im Folgenden vor allem beziehen. 14 | Der Begriff der Intentionalität ist hier in einem phänomenologischen Sinne zu verstehen, statt im Sinne einer gemeinsamen Intention.

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Christian Müller ich sagen (2) was da noch passiert (5) abseits dem: (1) jeweiligen zutun halt dass da einfach da is:: e: is einfach MEHR noch (O, 11-25)

Metaphorisch fallen hier vor allem der Vergleich mit einer puppenspielerartigen Instanz auf, die anstelle der Musikerinnen »die Fäden in der Hand hat«, und der an Durkheim (vgl. Durkheim 1976: 187) erinnernde Hinweis auf den eigenständigen Charakter einer Gesamtheit, der sich nicht aus der bloßen Addition der Einzelteile ergibt. Es finden sich verschiedene weitere Konzepte, die auf einen Bereich verweisen, der über die Einflussnahme der Musiker hinausreicht. Verbindend ist wiederum die gemeinsame Verwunderung über das, was in diesem Bereich jenseits der einzelnen Handlungen der Musiker entsteht. Im Kontext der bisherigen Überlegungen lässt sich eine aufsteigende Verschachtelung in der Frage danach feststellen, wer oder was auf den jeweiligen Ebenen handelt. Ging im ersten Schritt zunächst die Wirkmächtigkeit auf das gespielte Instrument über, so war es anschließend der Impuls-Reaktionszusammenhang der Musikerinnen,15 der – wenn auch diffus – als Ausgangspunkt der Handlungen der Band auszumachen war. In den nun fokussierten Passagen löst sich schließlich der Agens des »Entscheidenden« oder »Tatsächlichen« in eine überindividuelle Wirksphäre auf. Der Blick auf emergente Kontexte, welche die Subjektform der Band entstehen lassen, erweitert sich damit um eine zusätzliche Schicht. Das Konzept des Wirklichkeitszusammenhangs wird so noch deutlicher, da er auf eine eigenständige Sphäre verweist, die gerade durch ihre Omnipräsenz von umfassender Wirkung ist. A: […] die antriebskraft sind ja nich die technischen mittel sondern das is ja was anderes das is das ja (2) was die amerikanischen (1) kollegen the SPIrit nennen (2) also das is ja=n (2) na ja wenn man gläubig is sagt man der geist oder gott oder (2) oder the spirit also der geist der zwischen den menschen oder zwischen den koLLEGEN (3) WIRKT (2) und da wi- es wi- is=n metaPHYsisches proBLEM da kann man (1) manche nennen das cheMIE und (2) das is ratioNAL (1) nich zu: (2) nicht=nicht zu erklären auch wenn du n15 | Um beurteilen zu können, ob und in welcher Weise die Musiker aufeinander im Sinne von z.B. call and response-Schemata reagieren, wären Transkriptionen der gespielten Musik notwendig. Den Aussagen zufolge handelt es sich dabei jedoch nur um eine von verschiedenen Möglichkeiten des Zusammenspiels. Häufig kommt es auch zu Synchronisationsprozessen, durch die zu einem gegebenen Zeitpunkt überraschend das gleiche oder etwas zueinander Passendes gespielt wird. Bewusst ausgeführte Handlungen mit Orientierung an einem sinnhaften Ergebnis sind offenbar eher selten oder werden als »fürchterlich deprimierende Improvisationsspiele, wo man versucht mit bestimmten Regelauflagen irgendwie halt Sinn zu erschaffen« (WQ, 1081-1083), bezeichnet. Im Vordergrund steht also eher eine mit wenigen sinnhaften Absichten ausgestattete Haltung.

Jazz selbst wenn du noten aufschreiben würdest ist die interpretation ja (1) immer noch von was abhängig (BB, 109-119)

Ergänzend zu einer Verortung jenseits der Spielhandlungen kommt nun ein Bereich zwischen den Musikerinnen als Entstehungsort der spezifischen Wirkung einer Bandkonstellation hinzu. Die Diffusität dessen, was dort geschieht, findet sich in Form einer aufgerufenen Spiritualität, die zwar in die Nähe religiöser Zusammenhänge gerückt, jedoch sogleich mit der umgangssprachlichen »Chemie« auch wieder geerdet wird. Metaphysische Spekulationen sollen nicht zum Gegenstand dieser Betrachtungen werden, umso mehr bietet sich jedoch weiterhin die Perspektive der kollektiven Intentionalität an, deren Wahrnehmungseffekte sich in den hier zitierten Passagen finden. A: […] es is MEHR des erleben von eintauchen und dann is es wie wenn man schwimmt im wasser dann is man verbunden mit dem element und (1) dann: (1) bin ich auch überRASCHT von jedem (1) von jeder sekunde die entsteht von jedem: ähm also auch wenn das gleiche stück is aber es is jedes mal klingt des anders [mhm] und wir klingen anders zusammen (1) und die dynamik is ne andere und du merkst genau wenn der sound stimmt und die leute aufeinander eingetuned sind dann (1) gibt des einfach (.) was geniales und des geniale kann man gar nich WOLLEN (.) sondern des ENTSTEHT plötzlich (2) und selbst wenn du des simpelste stück spielst wir ham heut abend auch=n ganz simples stück gespielt (2) und (2) PLÖTZlich war mal so: en mittelteil wo du gedacht hast okay jetzt sin alle (1) im groove drin das sin (2) es läuft (1) und das is das is wahnsinnig (J, 29-43)

Auch das Medium des Wassers liegt mehr in einem Zwischenbereich als lediglich hierarchisch oberhalb des Einzelnen. Es hat weiterhin seinen Ursprung in den Spielaktionen der Musiker, ohne dass es einen kalkulierbaren linearen Zusammenhang zwischen Aktion und Effekt geben würde. Auffällig ist wiederum der Hinweis auf die Vergeblichkeit individueller Absichten, die bereits weiter oben eine wichtige Rolle gespielt hat. Der Zusammenhang zwischen Handlungsfähigkeit und Subordination ist in den letzten Zitaten weiterhin wirksam. Die Schlussfolgerung, hier entstehe ein Pluralsubjekt, das dadurch charakterisiert ist, dass ein Kollektiv aus Individuen in einer benennbaren Absicht eine gemeinsame Handlung beschließt, und damit den erwähnten Willenspool bildet, scheint mir jedoch nicht angemessen. Nach dem oben beschriebenen Parallelhandeln einer Gruppe von Musikerinnen, die mit einem spezifischen Habitus ausgestattet sind, lässt sich in den letzten Zitaten lediglich etwas ausmachen, dass man als das Prozessieren des Sozialen selbst bezeichnen könnte. Die etablierte Verbindung zwischen den beteiligten Akteure und Aktanten zieht eine Eigendynamik nach sich, die in der Wahrnehmung der Akteure als individuell nicht beeinflussbar er-

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scheint. Zuvor zeigte sich die Kompatibilität noch in benennbaren einzelnen Spielhandlungen oder in passenden Antworten aufeinander. Nun scheint die Band vollends ›vom Spiel gespielt‹ (Gadamer) zu werden. Zwar besteht selbstverständlich der gemeinsame Wille der Musikerinnen, miteinander Jazz zu spielen. Ebenso entscheidet man sich auch gemeinsam dafür, auf Grundlage einer bestimmten Akkordabfolge miteinander zu improvisieren. Alles Weitere liegt jedoch offenbar abseits bewusster Entscheidbarkeit oder eines gemeinsamen Willens. Vielmehr besteht Jazzimprovisation grundlegend darin, gemeinsam unter Verzicht auf Absichten zu handeln, also vorab nicht zu wissen, was man genau miteinander tun wird. Auch im Kontext der Debatte zur kollektiven Intentionalität finden sich kritische Auseinandersetzungen mit der oben skizzierten analytischen Engführung auf den Willen einzelner Akteure. Dabei wird etwa eine »antisoziale« (Stoutland 2009: 266) »Angst vor dem Gruppengeist« (Schmid 2009: 391) konstatiert und die Frage aufgeworfen, wieso überhaupt Argumente dafür herbeigeführt werden müssen, dass es soziale Tatsachen gibt (vgl. Baier 2009: 253). Am Beispiel eines Streichquartetts weist Stoutland darauf hin, dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass es dabei nicht lediglich um die Handlungen einzelner Individuen geht, sondern um: »[…]  eine Einzelhandlung, die durch die Gruppe und nur durch die Gruppe vollzogen wird. Was die Gruppe selbst betrifft, gibt es numerisch einen Akt, den allein sie ausführt, nämlich jene verbundenen Klänge zu erzeugen, welche das Quartett bilden.« (Stoutland 2009: 275). Eine solche Einzelhandlung ist eine soziale Tatsache, deren spezifische Eigenheit meines Erachtens einen wichtigen Teil der Frage ausmacht, was individuelles von kollektivem Handeln unterscheidet. Somit findet sich in den Beschreibungen der Musikerinnen das Charakteristische der Einzelhandlung des Pluralsubjekts Jazzband. Die beteiligten Akteure erleben sich zugleich als handelnde einzelne Subjekte als auch als Objekte der Spielhandlungen des Pluralsubjekts. Die Tatsache, dass sie diesem Erleben nicht zuletzt einen hohen sinnhaften Wert zuschreiben, eröffnet eine weitere Analyseebene. Auf allen relevanten Ebenen sind die Musiker als zentrisch positioniert (Plessner) beschreibbar, erleben diese Zentrizität aber zugleich selbst. Somit haben sie, weiterhin Plessner folgend, jeweils auch eine exzentrische Position inne, wie sie für den Menschen charakteristisch ist. Allerdings findet dieser Selbstbezug nicht rational-reflexiv statt, also als ein Wissen um diese Position, sondern als ein auditiv, affektiv und emotional erlebter Modus der Reflexion. Vor allem in der Interaktion zwischen den Musikerinnen wurde deutlich, dass eine permanente Balance zwischen eigenen Handlungsimpulsen und dem Handeln im Spiel der anderen notwendig ist. Auch dabei handelt es sich also um einen impulsiven statt reflexiven Selbst- und Fremdbezug. Ebenso lässt sich die Band in ihrer Form als Pluralsubjekt als selbstreflexiv verstehen, jedoch weniger im Sinne einer rationalen Reflexion oder gar einer daraus ableitbaren autonomen

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Handlungsfähigkeit. Vielmehr erlebt sich das Pluralsubjekt der Band während des Spiels in Echtzeit im dynamischen Prozess des eigenen Werdens.

5. S chlussbe tr achtung Der dargelegte Vorschlag hat versucht, Subjektivierungstheorien auf die Dynamik der situativen Vergemeinschaftung einer improvisierenden Jazzband zu beziehen. Trotz dieser Fokussierung auf eine Gruppe war es zunächst wichtig, die beteiligten einzelnen Subjekte zu untersuchen. Einige strukturelle Aspekte wurden dabei jeweils ,nach oben‹ weitergegeben. Bereits die Integration der Musikinstrumente in die Einzelhandlungen führt dazu, dass der Ort der Handlungskoordination nicht zuletzt außerhalb der handelnden Personen zu finden ist. Insofern ist bereits die Subjektform der Musiker das Produkt einer situativen Interaktion, nicht zuletzt auch mit nicht-menschlichen Aktanten.16 Die interne Funktionsweise des Pluralsubjekts der Band beruht auf einer weiteren Externalisierung, bei der die Musikerinnen in wechselseitiger Zurücknahme eigener Handlungsmotive sich in ihrem Spiel impulsiv vom Spiel der anderen anregen lassen. Entsprechend werden auch die Gesamthandlungen der Band von den beteiligten Personen als von Wirkmächten strukturiert empfunden, die jenseits der eigenen Einflussnahme liegen. Gedeutet wird dies als Verweis auf die Kompatibilität einer spezifischen Gruppenkonstellation, die ihr eigenes Entstehen selbst als eine Art überraschendes Ereignis erlebt. Für den Blick auf die Gesamtkonstellation der Band habe ich den Begriff des Pluralsubjekts verwendet, das, so Gilbert (2009: 165), dadurch charakterisiert ist, dass die beteiligten Personen die Motive ihres Handelns in einem Willenspool bündeln. Die Beschäftigung mit der Dynamik improvisierender Jazzbands hat gezeigt, dass dies zwar zunächst dafür angenommen werden kann, überhaupt miteinander Musik zu machen. Die spezifische Qualität dessen, worauf es die Musiker mit der Bündelung ihres Willens, miteinander Jazz zu spielen, abgesehen haben, scheint sich im konkreten Zusammenspiel jedoch vor allem dann einzustellen, wenn auf ein individuelles Wollen verzichtet wird. Erst dann passiert »die Magie«, geschehen »Dinge ganz von alleine«, wirkt »der Geist« zwischen den Musikerinnen und stellt sich das Gefühl ein, »die Fäden nicht mehr vollständig in der Hand zu haben«. Zwischen einem dezidierten Wollen und einem solchen Geschehen scheint jedoch kein linearer Zusammenhang zu bestehen. Gerade in dieser Hinsicht macht die Analyse der Jazzbands als Subjekt durchaus Sinn und scheint es auch angebracht, die Silbe sub- in der Definition des Pluralsubjekts ernst zu nehmen. Denn die einzel16 | Hier wäre etwa auch noch der Aspekt des Raumes zu nennen. Ausführlicher dazu siehe Müller (2017).

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nen Subjekte müssen ihren Willen, statt ihn zu bündeln, gerade der Pluralität unterordnen, damit die Subjektivierungsdynamik der Gruppe selbst stattfinden kann. Diese wiederum ist – wie mehrfach gezeigt – zugleich in umgekehrter Perspektive den Kontingenzen der improvisierten Interaktionen selbst unterworfen.

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Subjektivierung eines Volleyballteams als spielfähiger Kollektivkörper Matthias Michaeler 1

Die meisten Mannschaftssportarten sind so konzipiert, dass sich zwei Mannschaften gegenüberstehen und um den Sieg spielen. Sieg und Niederlage werden dabei den Mannschaften als Einheiten und weniger den Spielern als Individuen zugeschrieben, auch weil der sportliche Erfolg in den antagonistisch aufgebauten Arrangements der Spiele entscheidend davon abhängt, inwieweit es den Spielern gelingt, sich im Spielvollzug als Team2 zu koordinieren und als Einheit zu agieren. Entsprechend sollen die Spielerinnen im Training lernen, sich in den Spielen gekonnt »selbst zu organisieren«, wie der Trainer der von mir beforschten Frauenvolleyballmannschaft erklärt. Insofern die Arrangements von Mannschaftssportarten darauf angelegt sind, die Verantwortung für den gekonnten Spielvollzug den Teams als Handlungssubjekten zuzuschreiben, untersuche ich in diesem Aufsatz das spezifische Problem der Selbstorganisation von Teams aus einer subjekttheoretischen Perspektive. Dabei verstehe ich Subjektivierung praxeologisch als einen relationalen Prozess wechselseitiger »Befähigung« in der dreifachen Bedeutung von ›in die Lage versetzen‹, ›in die Lage versetzt werden‹ und ›in der Lage sein‹ (Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 34), in dem etwas zuvor noch Unbestimmtes durch wiederholte anerkennende Adressierungen und Re-Adressierungen (vgl. Ricken 2013) als ein auf bestimmte Weise handlungsfähiges Subjekt konstituiert wird und sich konstituiert. Statt also von präpraktisch existierenden Sub1 | Ich bedanke mich bei den Herausgebern sowie bei Nikolaus Buschmann und Kristina Brümmer für ihre hartnäckigen Nachfragen und Kommentare: Sie haben mich befähigt, meine Gedanken zu entwickeln und zu schärfen. 2 | Während ich mit ›Mannschaft‹ die Summe der Spieler i.S. einer einfachen Gruppe bezeichne, verwende ich den Begriff des ›Teams‹ in der Tradition Kurt Lewins, um die spezifische Kooperation und Organisiertheit der Gruppe zu betonen, in der die Mitglieder in ihrer Orientierung an gemeinsamen Zielen und Problemen ein identitätsstiftendes Moment finden.

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jekten auszugehen, lässt sich mit dem Konzept der Subjektivierung jene Art und Weise beschreiben, mit der sich im Vollzug einer Praktik zuvor noch unspezifische Teilnehmer wechselseitig so ins Spiel bringen, dass sie nicht nur als »Partizipanden« (Hirschauer 2004) daran beteiligt werden, sondern auch befähigt werden, sich selbst als besondere Akteure im Spiel zu halten. Entsprechend braucht es für eine solche subjektivierende Adressierung Kandidaten, die dafür disponiert sind, sich als subjekthafte Handlungsträger anerkennen zu lassen und ein entsprechendes Selbstverhältnis oder Selbstverständnis auszuprägen: Erst die Befähigung dieser Kandidaten, sich nicht nur reflexiv auf diesen praktischen Vollzug zu beziehen, sondern ihre eigene Einheit innerhalb der sie bedingenden Praktik zu reflektieren, ermöglicht es ihnen, sich in Bezug auf die ›normativen Erwartungen‹ (vgl. Rouse 2007) an eine kompetente Teilnahme zu positionieren und so Handlungsspielraum im Sinne einer konstitutiv bedingten Autonomie oder Freiheit (vgl. Schürmann 2014: 219f.) zu erlangen. Im Folgenden zeige ich am Beispiel der U20-Volleyballnationalmannschaft der Frauen, die zu Ausbildungszwecken mit einer Sondergenehmigung in der Ersten Bundesliga spielt, empirisch auf, wie sich ihr Training als systematischer Prozess der gleichzeitigen Ausformung und Subjektivierung eines spielfähigen kollektiven »Vollzugskörpers« (Alkemeyer/Michaeler 2013a) entfaltet. Mit dem Konzept des Vollzugskörpers wende ich mich aus einer praxeologischen Perspektive ausdrücklich gegen die Vorstellung eines aufgrund seiner materiellen Einheit präpraktisch gegebenen und verstehbaren Körpers. Vielmehr betont dieses Konzept, dass sich eine solche Körper-Einheit erst im performativen Vollzug einer spezifischen Praktik materialisiert und als kompetenter Handlungsträger anerkennbar macht (vgl. Butler 1997: 32), sofern es gelingt, vorab nur diffus vorhandene Potentiale oder »Dispositionen« (Ryle 1969: 37f.) situationsadäquat zu mobilisieren und durch vollzugsleibliche3 Selbstorganisation in eine praktikenspezifische (intelligible) Form zu bringen (Alkemeyer/Michaeler 2013a: 216ff.).

3 | Im Unterscheid zum ›Leib‹ der Phänomenologie bezeichnet ›Vollzugsleib‹ eine analytische Beobachtungskategorie und kein präpraktisch gegebenes Fundament menschlicher Existenz, das sich ontologisch vom (Vollzugs-)Körper unterscheiden ließe. Es handelt sich damit um jene erlernte »reflexive Modalität des Vollzugskörpers«, mit der sich dieser »qua kinästhetischem Spürsinn, Bewegungssinn etc.« (Alkemeyer/Michaeler 2013a: 232; Herv. i.O.) auf die sich in der Praxis ergebenden Situationen und Herausforderungen einstellt und seine (anerkennbare) körperliche Ordnung aufrechterhält. Gerade weil ein Vollzugskörper seine Grenzen im Modus seiner Vollzugsleiblichkeit in Bezug auf spezifische praktische Aufgaben realisiert, endet er nicht notwendig »an der Hautoberfläche (inkl. Haare)«, wie es Robert Gugutzer (2015: 79, Fn. 17) aus phänomenologischer Sicht postuliert.

Subjektivierung eines Volleyballteams als spielfähiger Kollektivkörper

Volleyball bietet sich für die Untersuchung der Subjektivierung von Teams besonders an, weil der Zusammenschluss der Spieler zu einem kollektiven Akteur hier besonders wichtig ist: Mit der Regel, dass der Ball weder den Boden berühren noch gefangen werden darf, sondern nach höchstens drei Berührungen durch sich abwechselnde Spieler zum Gegner weitergespielt werden muss, werden einzelne Spieler daran gehindert, den Ball festzuhalten und in Ruhe zu überlegen, wie sie ihn weiterspielen könnten, um ihre Mitspieler gezielt ins Spiel zu bringen oder ihre Gegner unter Druck zu setzen. Zudem betont die Rückschlagstruktur dieses Spiels die Einheit des Teams als kollektiver Handlungsträger: Die Mannschaften sind durch das Netz so voneinander getrennt, dass die gegnerischen Spieler nicht, wie im Fußball oder Handball, in die Interaktionsketten des Teams eingreifen können; jeder Spielzug bleibt als Gesamthandlung ersichtlich und löst sich nicht in inter-subjektive Zweikämpfe auf. Das in allen Mannschaftssportarten gültige Teamprinzip, wonach eine Ball- und Spielkontrolle nur als eine sequentialisierte Mannschaftsleistung zu realisieren ist, in der sich die Spieler wechselseitig befähigen, ihren Beitrag zum koordinierten Spielvollzug zu leisten, kann daher im Volleyball in einer radikalisierten Ausformung analysiert werden: Jede Ballberührung erzeugt einen kontingenten und zugleich unwiderruflichen Möglichkeitsraum für das Weiterspielen und lässt eine neue Situation entstehen, in der alle Spieler unter Bedingungen höchster Dringlichkeit koordiniert (re-)agieren müssen. Die Spielleistung eines Volleyballteams lässt sich mithin noch weniger als in anderen Mannschaftsspielen auf einzelne, sich durch bewusste Entscheidungen koordinierende Spieler zurechnen. Das Training der Mannschaft habe ich über eine Spielsaison praxeografisch (Mol 2002) mit einer besonderen Aufmerksamkeit für die Praxis des Organisierens von Zusammenspiel beobachtet. Im Unterschied zur klassischen Ethnografie, die weitgehend überdauernde Eigenschaften und Strukturen von Gruppen, Institutionen oder Organisationen unterstellt, fokussiert eine Praxeografie darauf, wie und mit welchem praktischen Wissen solche sozialen Phänomene immer wieder hervorgebracht werden, um die strukturellen und organisationalen Prinzipien dieser Hervorbringungen herauszuarbeiten. Aus einer subjektivierungstheoretischen Perspektive bietet es sich dabei an, das Training analytisch als ein »Dispositiv« (Foucault 1978: 120ff.) in den Blick zu nehmen, in dem ein heterogenes Ensemble von Diskursen, Praktiken, Artefakten, sozio-materiellen Arrangements und spezifischen, diese tragenden Wissensordnungen wirksam wird. Das Training kommt so nicht als eine monodirektionale Vermittlung von Wissen und Können in den Blick, das im Trainer als Macht- und Wissenszentrum seinen Ausgangspunkt hat, sondern als ein zwischen den verschiedenen Elementen des Dispositivs netzwerkartig sich entfaltender Wirkungszusammenhang, der strategisch auf die Lösung des

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Problems der Herstellung kollektiver Spielfähigkeit ausgerichtet ist und die Subjektivierung bestimmter, dafür notwendiger Handlungsträger befördert. Eine praxeografische Untersuchung von Training als subjektivierendes Dispositiv rekonstruiert dessen Vollzug in Raum und Zeit. Dafür operationalisiere ich die Dispositivanalyse über eine »trans-sequentielle Analyse« (Scheffer 2013). Mit diesem Vorgehen kann das Training als ein komplexer Herstellungs- und Ausbildungsprozess beschrieben werden, in dem Wissen und Macht in den konkreten sozio-materiellen Arrangements der verschiedenen, transsequentiell und transsituativ aufeinander verweisenden und sich ergänzenden Übungsepisoden wirksam wird. Der Ausbildungsprozess wird hierzu anhand der jeweils unterschiedlichen Bearbeitungsgegenstände nachvollzogen, die in diesen einzelnen Episoden ausgeformt und für weitere Fertigungsschritte ›qualifiziert‹ werden (ebd.: 97ff.). Die zu bearbeitenden Gegenstände werden mithin als »formative Objekte« in den Blick genommen, die gleichzeitig »Gegenstand von Veränderungen« und »Integrationsmittel« des sie hervorbringenden Zusammenhangs sind, d.h. ihrerseits formierend auf den Prozess zurückwirken (ebd.: 90). Indem die Untersuchung von den konkreten Bearbeitungsschritten ausgeht, in denen immer wieder an unterschiedlichen spielrelevanten Problemen gearbeitet wird, kann im Detail gezeigt werden, wie die auf diese Problembearbeitung ausgerichteten sozio-materiellen Arrangements jeweilige Formen von Adressierungen nahelegen, mit denen sich die verschiedenen Akteure wechselseitig zur Teilnahme befähigen. So kann die Ausbildung kollektiver Spielfähigkeit im Training als ein komplexer Subjektivierungsprozess rekonstruiert werden, in dem die Subjektivierung des Teams als ein für den Spielvollzug verantwortlicher Vollzugskörper systematisch mit der Subjektivierung der Teammitglieder innerhalb des Kollektivs verwoben ist.

1. M obilisierung von D ispositionen im Tr aining Im Verlauf der Beobachtung des Trainings wurde schnell deutlich, dass auch die Ausbildung sogenannter individueller (spieltechnischer) Fertigkeiten nur in Form einer wechselseitigen Befähigung zum Mitspielen bewerkstelligt wird. So werden die explizit darauf ausgerichteten Übungen z.B. von Angriffsschlägen oder Ballannahmen grundsätzlich unter Beteiligung mehrerer Spielerinnen als volleyballtypische Spielsequenzen im Spielfeld durchgeführt. Auf diese Weise werden individuelle Fertigkeiten von vorneherein als spezifische Mitspielkompetenzen – in der doppelten Bedeutung von Kompetenz als Know how und Zuständigkeit – sichtbar gemacht und bearbeitet, über die vor allem die Einbindung der Spielerinnen in die Praxis des Zusammenspielens befördert werden soll.

Subjektivierung eines Volleyballteams als spielfähiger Kollektivkörper

Allerdings werden dem Beobachter einzelne Übungen nicht schon als isolierte Episoden, sondern erst in ihrer systematischen Einbindung in den übergreifenden Trainingsprozess verständlich. Erst wenn man die Einzelepisoden – im Unterschied zu einem explizit situativen Zugang, wie er z.B. von der Ethnomethodologie vorgeschlagen wird – im Zusammenhang des gesamten Trainingsprozesses sieht, lässt sich erkennen, dass in ihnen Teilmomente von Spielzügen (z.B. Angriffsvarianten oder Abwehrriegel) bearbeitet werden, die das Grundthema einer Trainingseinheit vorgeben. Welcher Spielzug jeweils erarbeitet wird, hängt seinerseits davon ab, in welcher Phase sich der Trainingsprozess gerade befindet. So kann das Einstudieren oder Auffrischen eines bestimmten Spielzugs entweder bereits seit längerem im Trainingsplan vorgesehen sein oder sich aktuell aufdrängen, weil sein Vollzug in vorangehenden Trainingseinheiten oder Spielen nicht geklappt hat bzw. der Trainer ihn für den Erfolg im anstehenden Spiel als wichtig erachtet. Oft wird ein solcher Bezug auf einen bestimmten Spielzug bereits bei Trainingsbeginn besprochen oder beim, normalerweise standardisierten, Aufwärmen und ›Einspielen zu zweit‹4 explizit gemacht. Der Trainer gibt dann spezielle Übungen vor, die auf jene Körperteile und Bewegungen zielen, die aus seiner Sicht für den geplanten Spielzug von besonderer Bedeutung sind. Das formative Objekt solcher Übungen sind verkörperte Dispositionen der Spielerinnen, die mobilisiert und strukturiert werden sollen. Die Notwendigkeit, sie immer wieder neu zu bearbeiten, deutet darauf hin, dass das für bestimmte Bewegungsabläufe notwendige habitualisierte Körperwissen laufend von der Gefahr seiner Auflösung bedroht ist (vgl. Scheffer 2013: 97). Erst sobald die Spielerinnen-Körper auf diese Weise für die nachfolgenden Übungen qualifiziert sind, teilt der Trainer die Spielerinnen – meist aufgrund ihrer Spielpositionen und Zuständigkeiten5 – in getrennte Übungsgruppen ein. Diese stellt er je nach Trainingsziel unterschiedlich zusammen und verteilt sie auf die beiden Spielfelder in der Halle. Jede Gruppe übt dann unter der Leitung des Trainers 4 | Dieses ›Einspielen zu zweit‹, bei dem sich jeweils zwei Spielerinnen den Ball in den volleyballspezifischen Grundtechniken ›Pritschen‹, ›Baggern‹ und ›Schlagen‹ zuspielen, bezeichnet der Trainer gerne als »mit dem Ball sprechen«. Damit betont er, dass es hierbei vor allem auch darum geht, einen Bezug zum Spielgerät herzustellen. Indem sich die Zuspielerinnen dabei immer zusammen am Netz einspielen, wo ihr eigentlicher Arbeitsbereich im Spiel ist, können sie gleichzeitig auch einen Bezug zu diesem, für ihre Aufgabe besonders wichtigen Artefakt aufbauen und gleichzeitig die Qualität ihres Spiels kontrollieren. 5 | Im professionellen Volleyball sind die Spieler auf bestimmte Spielpositionen (Zuspieler, Mittelblocker, Außenangreifer, Libero und Diagonalspieler) spezialisiert, die sich gleichzeitig aus ihrer Position im Spielfeld und ihren damit verbundenen Aufgaben oder ihrer Funktion im Spielaufbau ergeben.

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oder des meist ebenfalls anwesenden Ko-Trainers unterschiedliche für den geplanten Spielzug relevante Grundsequenzen ein. In der nun vorgestellten Trainingseinheit soll das Blockverhalten der Mannschaft verbessert werden. Nach dem Einspielen behält der Trainer alle Spielerinnen bei sich und schickt nur die Libera, die im Spiel nicht blocken darf, und eine weitere Spielerin, die aufgrund einer Daumenverletzung nicht blocken kann, mit dem Ko-Trainer auf das andere Spielfeld. Diese kleine Gruppe trainiert die Ballannahme in der Verteidigung eines Angriffs. Die geübte Sequenz (Abb. 1) ist in ihrer Komplexität auf ein Minimum reduziert.

Abb. 1 (links) und Abb. 2 (rechts): Annahmeübungen

Der Ko-Trainer schlägt den Ball von der Angriffsposition 4 (am Netz links) auf der Verteidigungsseite stehend diagonal zu einer der beiden Spielerinnen. Diese nimmt den Ball an und spielt ihn in Richtung der Zuspielposition in der Mitte des Netzes weiter. Dort fängt ihn die zweite Spielerin und legt ihn in einen Ballkorb, der neben ihr steht. Mit seinem Fokus auf die Bearbeitung der Ballannahme wird in diesem Setting nur die annehmende Spielerin als Übende adressiert. Die zweite Spielerin markiert hingegen mit ihren über den Kopf gehaltenen Händen den Zielpunkt für die Annahmespielerin: Diese soll den Ball dorthin spielen, von wo aus er am besten für einen Angriff weitergespielt werden kann.6 Die Ballannahme wird somit als Element einer längeren Spielsequenz zwischen gegnerischem und eigenem Angriff sichtbar gemacht. Erst vor diesem Hintergrund kann die Qualität der Ballannahme überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Dabei wendet sich der Ko-Trainer in seinen Interventionen und Erklärungen an beide Spielerinnen. So werden anhand der sich situativ ergebenden Beispiele (Selbst-)Beobachtungskriterien und Erwartungen explizit (vgl. Alkemeyer/Michaeler 2013b: 217f.), an denen sich die Spielerinnen in ähnlichen Spielsituationen orientieren sollen. Zentral für die 6 | Solche Zielpunkte werden in den verschiedenen Arrangements immer wieder auf unterschiedliche Weise durch Gegenstände oder eigens dafür abgestellte Spielerinnen markiert.

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Übung ist ein hoher Rhythmus der Angriffsschläge. So verzichtet der Ko-Trainer darauf, sich auf einen Tisch zu stellen, von dem aus er seine Angriffe realitätsnah über das Netz schlagen könnte, um sich ohne Zeitverlust mit Bällen aus einem neben ihm stehenden Ballkorb versorgen zu können. Nachdem die beiden Spielerinnen einige Male ihre Positionen getauscht haben, wird die Übung variiert und dynamisiert, indem der Ball nach seiner Annahme nicht mehr direkt auf die Zuspielposition am Netz, sondern weiter nach hinten ins Feld gespielt wird (Abb. 2). Hier soll ihn die zweite Spielerin, deren Ausführung nun in den Fokus der Bearbeitung rückt, aus ihrer Verteidigungsposition im Hinterfeld erlaufen und dem Ko-Trainer zuspielen. Er hat für diese Übung seine Position im Feld verändert: Den ersten Angriffs-Ball schlägt er nun von der Angriffsposition 2 (Netz rechts) und markiert durch diesen Standort gleichzeitig die Position für einen hypothetischen Gegenangriff. Mit dieser Variation wird nicht mehr ein Segment eines gewünschten Spielzugs, sondern die Reaktion auf eine verunglückte Ballannahme geübt, die es im Spiel notwendig macht, dass eine andere Spielerin die Rolle der Zuspielerin übernimmt, falls diese den Ball nicht erreichen kann. Gleichzeitig übt der andere, größere Teil der Mannschaft unter Anleitung des Trainers im anderen Spielfeld das Blockverhalten. Begonnen wird auch hier mit einer Grundübung, in der sich jeweils zwei Spielerinnen in längeren Serien abwechselnd den Ball in die zum Block ausgestreckten Hände schlagen. Die Übung wird dann am Netz wiederholt, das für diesen Anlass niedriger gehängt wurde, so dass die Spielerinnen über das Netz greifen können, ohne zu springen. Bearbeitet wird nicht mehr nur die Hand- und Armhaltung in Bezug auf den Ball, sondern auch deren Verhältnis zum Netz. Diese Übung wird schließlich ebenfalls dynamisiert, indem eine dritte Spielerin den Ball von der Seite für den Angriffsschlag zuwirft. Auf diese Weise kommt zusätzliche Kontingenz ins Spiel, weil sich der Punkt, an dem der Ball geschlagen werden kann, im Verhältnis zum Netz laufend verschiebt. Außerdem startet die Blockerin ihre Übung nicht mehr am zuvor festgelegten Absprungpunkt an der Seitenlinie, sondern mittiger unter dem Netz, d.h. an einem Ort, an dem sie auch im wirklichen Spiel stünde, weil hier unklar ist, von wo aus der Gegner angreifen wird. Die Blockerin soll lernen, sich spieladäquat noch im Vollzug des Blocks am gegnerischen Zuspiel zu orientieren, um den richtigen Zeit- und Absprungpunkt zu finden: Eingefordert wird eine Aufmerksamkeit für die Kontingenz der Spielsituation, die intelligentes Handeln von reinen Gewohnheiten oder Automatismen unterscheidet (vgl. Ryle 1969: 50).

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2. K ollek tivierung von H andlungsfähigkeit Erst nach diesen, hauptsächlich einzelne Spielerinnen oder sogar einzelne Teile ihres Körpers adressierenden Grundübungen wird das Netz wieder auf die regelgemäße Höhe eingestellt. Die Spielerinnen sortieren sich nun im Sinne ihrer Spielpositionen an der Drei-Meter-Linie: die Zuspielerinnen und die Diagonalspielerin rechts vor dem Netz, die Mittelblockerinnen in der Mitte und die Außenangreiferinnen links. Geübt wird die gemeinsame Bewegung von jeweils zwei Spielerinnen in den Seiten-Block (Abb. 3), abwechselnd für den rechten (eine Mittelblockerin und eine Zu- bzw. Diagonalspielerin) und den linken Block (eine Mittelblockerin und eine Außenangreiferin). Die beiden Blockerinnen begeben sich zunächst in ihre Ausgangspositionen am Netz und verschieben sich dann gemeinsam an den jeweiligen Spielfeldrand, um dort zusammen hochzuspringen und einen Block zu formieren. Geübt wird ohne Ball, so dass sich die beiden Spielerinnen darauf konzentrieren können, sich im Sprung zu synchronisieren und eine Handlungseinheit zu bilden.

Abb. 3: Blocken zu zweit In den beiden Übungsgruppen werden so nach und nach die Voraussetzungen dafür geschaffen, im nächsten Qualifizierungsschritt den Vollzug des Blocks als eine integrierte Teamhandlung einzuüben. Zu diesem Zweck wird auf einer Spielfeldseite eine komplette Wettkampfmannschaft mit allen sechs Positionsspielerinnen zusammengestellt. Auch die Libera, die bis jetzt mit dem Ko-Trainier im zweiten Feld Ballannahmen geübt hat, stößt zur Mannschaft hinzu und nimmt ihre Position im Hinterfeld ein. Auf der anderen Feldseite positionieren sich die restlichen Spielerinnen in einer Reihe am linken Feldrand und machen sich bereit, nacheinander Angriffe aus der Position 4 (links am Netz)7 zu schlagen. Der Trainer wirft den Ball aus dem Hinterfeld, wo im Spiel die Ballannahmen erfolgen könnten, auf die Zuspielerin am Netz, die ihn 7 | Von dieser Position hatte zuvor auch der Ko-Trainer für die erste Übung in der kleinen Gruppe seine Angriffe für die Ballannahme geschlagen.

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dann für die Angriffe ›auflegt‹. Formatives Objekt dieser Übungskonstellation ist die koordinierte Verteidigung dieser Angriffe durch die sechs Spielerinnen auf der anderen Seite des Netzes, wobei die zwei Spielerinnen am Netz vor der Angriffsposition versuchen sollen, die Angriffsschläge zu blocken. In diesem spielähnlichen Setting wird der Angriff als eine Sequenz von (hypothetischer) Annahme, Zuspiel und Angriffsschlag ausgespielt. Dabei wird die Kontingenz der Angriffsschläge so weit erhöht, dass ein erfolgreiches Blocken des Angriffsschlags kaum mehr sicher erwartet werden kann. Der Fokus der Bearbeitung verschiebt sich entsprechend von der technischen Ausführung des Blockens hin zu dessen Integration in das koordinierte Abwehrverhalten des verteidigenden Teams. Dieses arbeitet in der skizzierten Übung (Abb. 4) daran, sich als kollektiver Handlungsträger eines ›Abwehrriegels‹ zu formieren, der in der Lage ist, den Block so zu stellen und das Feld dahinter so abzusichern, dass der Ball angenommen und direkt zu einem Gegenangriff verarbeitet werden kann. Das Einüben einer flexiblen Handlungs- und Selbstorganisation des Teams wird zudem dadurch unterstützt, dass auch die Spielerinnen auf der Angriffsseite nach Möglichkeit versuchen, den zurückkommenden Ball zu einem erneuten Gegenangriff zu verarbeiten. Außerdem wird die Übung mit unterschiedlichen ›Rotationen‹8 sowie fortlaufend aus den Reihen der Angreiferinnen neu eingewechselten Spielerinnen wiederholt.

Abb. 4: Abwehrriegel mit Seitenblock Mit Hilfe der trans-sequentiellen Analyse lässt sich zeigen, wie der Trainingsprozess »Zug um Zug und Schritt für Schritt« (Scheffer 2008: 368; kursiv i.O.) eine formierende Wirkung entfaltet. An der systematischen Zergliederung und dem anschließenden Zusammensetzen von Grundsequenzen der zu erarbeitenden Spielzüge in den aufeinander auf bauenden Übungsepisoden wird deutlich, dass das Training durch ein analytisch-synthetisches Trainings8 | Eine ›Rotation‹ meint im Volleyball die jeweilige Grundaufstellung der Mannschaft, die sich im Laufe eines Spiels bei jedem Ballgewinn um eine Position im Uhrzeigersinn verschiebt.

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wissen getragen wird. Dieses Wissen wird in verschiedenen, ineinander verschränkten Techniken9 des Zergliederns und Zusammensetzens, des Intensivierens, Beschleunigens und des Variierens sowie des Beobachtens, Reflektierens und Vermittelns bzw. Intervenierens wirksam und materialisiert sich in den jeweiligen sozio-materiellen Arrangements der Übungen. Durch die Regulierung der Komplexität und Kontingenz der einzelnen Übungen werden jeweils ganz bestimmte formative Objekte sichtbar gemacht, so dass sie in ihren Details so lange bearbeitet werden können, bis sie ›sitzen‹ und für weitere Bearbeitungsschritte in anschließenden Übungen zur Verfügung stehen. In den nachfolgenden Übungen werden wiederum neue formative Objekte in den Fokus der Bearbeitung gerückt, so dass die zuvor qualifizierten Objekte als nun ›vorausgesetzte‹ Grundelemente implizit werden (vgl. Polanyi 1985: 25ff.). Vermittelt über die Bearbeitung der verschiedenen formativen Objekte werden spezifische (individuelle wie kollektive) Vollzugskörper dadurch als verantwortliche Handlungsträger adressiert, dass jene innerhalb der sozio-materiellen Übungsarrangements und den diese tragenden Wissensordnungen mit je spezifischen normativen Erwartungen und Anforderungen konfrontiert werden, auf die sie sich einstellen müssen, um als (in-)kompetente Teilnehmer anerkannt werden zu können. So konstituieren sich über die Mobilisierung von diffus vorhandenen Dispositionen und die Bearbeitung von Körpertechniken beim Aufwärmen und Einspielen individuelle Vollzugskörper (Alkemeyer/Michaeler 2013a). Durch die zunehmende Fokussierung auf das Zusammenspiel in Spielsequenzen als neue formative Objekte werden diese individuellen Vollzugskörper sodann immer enger miteinander verkoppelt; sie adressieren sich im Übungsvollzug wechselseitig als funktionale Ausführungsorgane überindividueller Spielsequenzen und erkennen die von ihnen gebildeten und sie einbindenden Körperfigurationen als die eigentlichen kollektiven Vollzugskörper der jeweiligen Übungen an. Durch Automatisierung verlieren die erarbeiten Spielsequenzen wiederum ihren Status als explizite Handlungsziele einer spezifischen Körperfiguration und gehen stattdessen als operationale Verfahren (vgl. Leontjew 1982: 105ff.)10 in komplexere Spielzüge wie den Block ein, die 9 | Als Techniken begreife ich hier ein Arsenal weitgehend feststehender Verfahrensweisen, über die bestimmte Zwecke im Kontext einer Praktik verfolgt werden. Als je spezifische »Praxis/Diskurs-Formationen« (Reckwitz 2008: 201ff.) unterscheiden sie sich im Grad, in dem sie das in ihnen performierte Wissen explizit zum Thema machen oder eher implizit im materiellen Vollzug zur Geltung bringen. 10 | Während Handlungen für Leontjew ihren intentionalen Aspekt in dem tragen, was in ihnen als Aufgabe oder Ziel innerhalb einer diese motivierenden Tätigkeit erreicht werden soll, bezeichnet er die verschiedenen zielführenden Ausführungsweisen von Handlungen als Operationen. Am Beispiel des Gangschaltens beim Autofahren macht er deutlich, dass Operationen aus der Umwandlung von Handlungen, die »eine eigene

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ihrerseits als einheitliche Handlungen vom Team als einem neuen kollektiven Vollzugskörper verantwortet werden.

3. A usbildung eines kollek tiven S pielsinns im Tr ainingsspiel Letztlich ist das gesamte Training darauf ausgelegt, die Spielerinnen in jeder Trainingseinheit zu befähigen, einen neuen Spielzug als Team auszuführen. Im Laufe des Ausbildungsprozesses soll dessen Handlungsrepertoire kontinuierlich so erweitert und stabilisiert werden, dass es immer besser und flexibler als einheitlicher Vollzugskörper agieren kann. Damit das Team konsistent als ein solches handlungsfähiges Kollektivsubjekt anerkennbar ist, reicht es allerdings nicht aus, dass es ein bestimmtes Repertoire isolierter Spielzüge verfahrensmäßig durchführen kann. Vielmehr muss es in die Lage versetzt werden, im Spiel als Einheit zu agieren und sich entsprechend flexibel und kreativ auf die sich jeweils ergebende Spielsituationen einzustellen. Um dies zu erreichen, werden die einzelnen Trainingseinheiten meist mit einem Trainingsspiel zwischen zwei kompletten Teams abgeschlossen, in dem die zuvor eingeübten Spielzüge in das bereits vorhandene kollektive Handlungsrepertoire integriert werden. In diesem Setting steht nicht mehr die Umsetzung und Automatisierung der einzelnen Spielzüge im Vordergrund. Stattdessen wird das kollektive Handlungsvermögen dadurch flexibilisiert, dass die Kontingenz und Handlungsunsicherheit des Volleyballspiels (vgl. Alkemeyer 2009: 185ff.) in einer kontrollierbaren Form re-inszeniert wird. Dies soll es erlauben, die von beiden Teams gefundenen Lösungen für sich mehr oder weniger zufällig ergebende Spielsituationen durch Wiederholungen praktisch zu reflektieren (vgl. Bourdieu 2001: 209) und durch gezielte Interventionen zu bearbeiten. Bei bearbeitungsbedürftigen Fehlern11, gleich welcher der beiden Mannschaften, werden Spielsituationen im Detail nachgestellt und verschiedene bewußte ›Orientierungsgrundlage‹« haben, hervorgehen, indem sie durch »Technisierung« in eine andere Handlung (z.B. der »Geschwindigkeitsänderung des Wagens«) einbezogen werden (Leontjew 1982: 106). 11 | Meist handelt es sich hierbei um Fehler, die sich aus Abstimmungsproblemen zwischen den Spielerinnen ergeben, wobei in den Wiederholungen immer wieder auch auf jene Details in der Ausführung eingegangen wird, die schon in den einzelnen Übungsepisoden im Verlauf der Trainingseinheit im Fokus gestanden haben. Es zeigt sich, dass gerade die Ausformung von verkörperten (dispositionalen) Kompetenzen keine »Linearität und Positivität« kennt, sondern immer wieder aufgefrischt und nachqualifiziert werden muss (Scheffer 2013: 97).

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Lösungsmöglichkeiten durch Zeigen, Erklärungen und Hinweise auf die sich bietenden Möglichkeiten thematisiert und ausprobiert. Auch wenn diese Fehler zum Teil individuell zugeschrieben werden, werden sie in den korrigierenden Wiederholungen als Unterbrechungen eines Spielzugs behandelt, an dem alle oder zumindest mehrere Spielerinnen beteiligt sind. So wirft der Trainer den Ball für die Wiederholung nicht zu der Spielerin, die den Fehler begangen hat, sondern dorthin, wo seiner Meinung nach das Scheitern der Spielsequenz seinen Anfang genommen hat – meist zur entsprechenden Annahme- oder Zuspielerin. Dafür sucht er sich gezielt eine Position mitten im Feld, aus der er den Ball so einwerfen kann, dass dieser möglichst genauso wie vor dem Fehler ins Spiel kommt. Zudem lässt er vorab alle für die jeweilige Spielsituation relevanten Spielerinnen beider Mannschaften – auch solche, die potentiell ins Spiel gebracht werden könnten und die Spielsituation deshalb mitbestimmen – an die Positionen zurückkehren, an denen sie in dem Moment waren, an dem er den Ablauf erneut beginnen lässt. Die Sequenzen werden dann so lange wiederholt, bis das verantwortliche Team eine passende Lösung gefunden hat und es ihm gelingt, den Ball erfolgreich weiterzuspielen. Auf diese Weise werden die in den vorangegangenen Übungsepisoden erreichten Qualifizierungen in Bezug auf ihre Nachhaltigkeit verifiziert und gleichzeitig weiter spezifiziert (vgl. Scheffer 2013: 97). Die Spielerinnen lernen sich besser aufeinander einzustellen, indem ihre Potentiale und Kompetenzen für bestimmte Spielvarianten für alle sichtbar gemacht werden.12 Vor allem werden in den praktischen Bearbeitungen und begleitenden Erläuterungen, die stets alle Spielerinnen beider Teams adressieren, gewünschte Verfahrensweisen und normative Erwartungen für die Spielgestaltung explizit, an denen sich die einzelnen Spielerinnen auszurichten haben, um in ihrem Tun füreinander intelligibel und somit anschlussfähig zu bleiben. So wird ein spezifisches Spielverständnis des gesamten Teams ausgestaltet, das von den Spielerinnen im Zuge der sich fortlaufend wiederholenden Übungen in Form aufeinander abgestimmter »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata« habitualisiert werden kann (Bourdieu 1987: 101). Dieser Übergang von einem expliziten »knowing that« (Ryle 1969: 30ff.) zu einem gemeinsam verkörperten »Sinn für das Spiel« (Bourdieu 1987: 122ff.) wird über die einzelnen Übungen hinaus in den Trainingsspielen durch eine künstliche Beschleunigung der Vollzüge noch zusätzlich befördert: Indem der Trainer meist ohne Aufschlag spielen lässt und bei normalen Ballverlusten einfach einen neuen Ball ins Spiel dorthin einwirft, wo dieser verloren gegangen ist, möchte er – wie er sagt – ver-

12 | Für das Coaching ergibt sich daraus unter anderem die Möglichkeit, die Spielerinnen im wirklichen Spiel gezielt nach den taktischen Erfordernissen einzusetzen und auszuwechseln.

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meiden, dass die Spielerinnen in den durch Aufschläge entstehenden Pausen nachzudenken beginnen und aus dem Spielrhythmus kommen.13 Dieses totale – körperliche, kognitive und affektive – »Engagement« (Goffman 2009: 52ff.) der Spielerinnen in das Zusammenspiel, das Bourdieu (1998: 140ff.) mit den Begriffen der »Illusio« und »Libido« beschreibt, soll eine Unterbrechung des Spielflusses verhindern, die die Gefahr birgt, dass sich die Spielerinnen auf ihre persönlichen Perspektiven auf das Spiel zurückziehen und sich als individualisierte Handlungssubjekte mehr oder weniger bewusst koordinieren müssen (vgl. Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 33ff.). Dafür fehlt im Spielvollzug die Zeit. So kritisiert der Trainer die Spielerinnen immer wieder dafür, dass sie bei nicht eindeutig zuordenbaren Bällen häufig einfach stehen bleiben und sich fragend anschauen, wer denn nun für den Ball zuständig sei, statt ihn einfach im Sinne des Teams anzunehmen und weiterzuspielen: Anstatt ihre Aufmerksamkeit der wechselseitigen Abstimmung zu widmen, sollen die Spielerinnen durch ein möglichst totales Engagement in die Lage versetzt werden, sich aufgrund ihrer jeweiligen organisationalen Spielpositionen und Aufgaben innerhalb des Teams (vgl. Fn. 5) im Medium eines eintrainierten zwischen-leiblichen Verstehens (vgl. Gugutzer 2006) in Form eines vorreflexiven Gespürs füreinander augenblicklich zu koordinieren und in eine Ordnung zu bringen, mit der das Team situationsangemessen als ein intern differenzierter, aber integrierter Vollzugskörper zu (re-)agieren vermag.14 Auch die im Spiel oft von mehreren Spielerinnen gleichzeitig kommunizierten Zeichen, Angriffskodes, Hinweise und Warnungen sind Momente der Initiierung und Stabilisierung eines kollektiven Wahrnehmungs- und Denkprozesses, der das Zusammenspiel begleitet und trägt. Sofern die individuellen Handlungsvollzüge wie selbstverständlich ineinandergreifen, konstituiert sich das Team im Spielvollzug als ein kollektiver Vollzugskörper, »dessen Glieder […] in ›organischer Solidarität‹ absorbiert sind« (Hirschauer 2004: 88).

13 | Umgekehrt werden in den Spielen Auszeiten und Spielerwechsel taktisch eingesetzt, um den Spielfluss des Gegners zu unterbrechen. 14 | So beschreibt Hirschauer (2004: 87) die Zusammenarbeit in einem Operationsteam folgendermaßen: »Das dichtgedrängte Stehen schafft auch eine affektive Einheit. Anspannung und Entspannung wirken sofort ›ansteckend‹ und ein plötzlich ausbrechender Ärger verbreitet sich schnell über alle Organe«, wobei er mit Organen die an der Operation beteiligten Personen meint.

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4. P erformative S elbstkonstitution des K ollek tivs als Te am Durch die verschiedenen Adressierungstechniken in den Übungen werden Spielerinnen und Trainer systematisch so innerhalb des Teams subjektiviert, dass sie sich im Spielvollzug wechselseitig vor allem als dessen Mitglieder wahrnehmen und wechselseitig zum Mitspielen befähigen – und damit gleichzeitig das Team als eigentliches Handlungssubjekt anerkennen. Sie lernen, sich dem Handeln des kollektiven Vollzugskörpers in ihrem vollzugsleiblichen Selbstbezug funktional ›unterzuordnen‹ (vgl. Hirschauer 2004: 87) und konstituieren sich so als dessen Vollzugsorgane: In einer gedoppelten »empraktischen Reflexivität« (Caysa 2003: 163)15 orientieren sie ihr Spielverhalten vermittelt über die Perspektive des Teams an den Notwendigkeiten und Möglichkeiten des gemeinsamen Spiels und machen ihr Handeln somit füreinander als »Beiträge« (Michaeler 2016: 392) zum kollektiven Handlungsvollzug intelligibel. Indem die Spielerinnen das im Training performierte Wissen in Form eines kollektiven Spielsinns ›einkörpern‹, wird ein selbstverständliches Zusammenspiel im Team möglich. In diesem Zusammenspiel konstituieren und begreifen sich die Spielerinnen als kollektiver Vollzugskörper, der seine Einheit im Modus vollzugsleiblicher Selbstorganisation herstellt und aufrechterhält. Befördert wird ein Selbstverhältnis als Team, das dieses befähigt, sich im Spielvollzug »reflexiv-reflektiert[]« (ebd.) auf seine eigene Ordnung im Verhältnis zu den jeweiligen Spielsituationen zu beziehen. Damit ist es nicht nur in der Lage, verschiedene eingeübte Spielzüge automatisch umzusetzen, sondern sich auch in den kaum berechenbaren Spielverläufen intelligent auf die Kontingenz des Spielgeschehens einzustellen und entsprechend flexibel und kreativ zu handeln: Es macht sich als ein kollektives Handlungssubjekt (an-)erkennbar, das über die Summe der individuellen Handlungen seiner Mitglieder hinausweist. Allerdings ist die Subjekthaftigkeit eines solchen kollektiven Vollzugskörper keine fortdauernde Eigenschaft des Teams. Sie bleibt an die konkreten anerkennenden Adressierungen zwischen den an der jeweiligen Praktik beteiligten Teilnehmer gebunden, die nach einer kontinuierlichen responsiven »Selbst-Bildung« (vgl. Alkemeyer/Budde/Freist 2013: 20ff.) verlangt, über die sich das Team als subjekthafter Vollzugskörper (re-)produziert und performiert. Während in den verschiedenen sozio-materiellen Arrangements im Training vermittelt über das jeweilige formative Objekt jeweils unterschiedliche (individuelle und kollektive) Vollzugskörper subjektiviert werden, wird in den Spielen jener kollektive Vollzugskörper, der von den sechs Spielerinnen im 15 | Caysa beschreibt mit ›empraktischer Reflexivität‹ einen nicht-theoretischen, vorbewussten Selbstbezug, der sich vermittelt durch habitualisierte Körpertechniken im Vollzug einer Praxis einstellt.

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Feld gebildet wird, von den Aktionen des Gegners angerufen und dazu herausgefordert, subjekthaft zu (re-)agieren und sich entsprechend vollzugsleiblich als organische Einheit auf das Spiel einzustellen.16 Diese Einheit des Teams wird zusätzlich zum kollektiven Spielvollzug in einer Art mitlaufenden Selbstvergewisserung und -bestätigung sowohl im Training als auch in den Spielen immer wieder performativ über verschiedene Rituale vollzogen, in denen sich die Spielerinnen auf ihr gemeinsames Ziel und ihr gemeinsames Sein einschwören. So wird Verantwortlichkeit für den Spielvollzug systematisch dadurch kollektiviert, dass sich die sechs Spielerinnen im Feld, nach jedem Punktgewinn oder -verlust in einem Kreis zusammenfinden und vor den Aufschlägen abklatschen. Gleichzeitig synchronisieren sie sich durch solche ritualisierte Berührungen körperlich-leiblich und mobilisieren so das im Training erarbeitete geteilte Körperwissen für den nächsten Ballwechsel (vgl. Meyer/v. Wedelstaedt 2015: 105f.). Aber auch die Ersatzspielerinnen bleiben in die vollzugsleibliche Selbstorganisation dieses Vollzugskörpers engagiert, indem sie sich zusammen mit den Trainern und Betreuern am Anfang und am Ende der Spiele sowie in den Auszeiten an der ritualisierten Kreisbildung (vgl. ebd.: 106) beteiligen. Auf diese Weise können auch sie die Anweisungen des Trainers verfolgen und bleiben auf einem ähnlichen Wissensstand wie die Spielerinnen auf dem Feld. Das Engagement der Reservespielerinnen zeigt sich dabei vor allem an der Intensität, mit der sie das Spiel körperlich-mental mitvollziehen, sich durch Anfeuerung17 und hinweisende Zwischenrufe an der vollzugsleiblichen Selbstorganisation des spielenden Vollzugskörpers beteiligen und auf diese Weise für ihre Einwechslung bereithalten.18 Ebenso ist der Trainer – neben seiner 16 | Oft konzentrieren sich die Angriffe des Gegners allerdings auf eine besondere Spielerin, die als Schwachstelle des Teams (an-)erkannt worden ist. Um diese Subjektivierung der isolierten Spielerin aufzufangen, muss das Team versuchen, diese Spielerin z.B. durch eine besondere Deckung wieder als Mitglied in seinen Handlungsvollzug zu integrieren, um seine kollektive Spielfähigkeit aufrecht zu erhalten. 17 | Auf die Bedeutung der Atmosphäre für das leibliche Verstehen der aktuellen Situation (Gugutzer 2006: 4542f.) und für die Hervorbringung eines »Kollektivleibs« (Gugutzer 2015: 92) hat Robert Gugutzer aus einer neophänomenologisch-soziologischen Perspektive hingewiesen. Insofern die Anfeuerungen der Reservespieler und der Trainer – sowie gegebenenfalls auch des (Heim-)Publikums – eine solche atmosphärische Wirkung für die Selbstkonstitution und das Selbstverhältnis des spielenden Teams haben, begreife ich sie als Beitrag zur vollzugsleiblichen Selbstorganisation des Teams als kollektiver Vollzugskörper. 18 | Diese vollzugsleibliche Einbindung der Reservespielerinnen (sowie des Trainers und der Betreuer) in den spielenden Vollzugskörper wird auch dadurch aufrechterhalten, dass ausgewechselte Spielerinnen sich mit ihnen abklatschen.

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Funktion als Coach – in die vollzugsleibliche Selbstorganisation des Teams involviert, indem er das Spiel körperlich-mimetisch mitverfolgt (ebd.: 112f.) und durch Zwischenrufe begleitet, die das Team als kollektives Handlungssubjekt adressieren. Auf diese Weise wird im gemeinsamen Spielvollzug und in den verschiedenen Ritualen die Vorstellung einer Einheit des Teams evoziert und bekräftigt, die in der vollzugsleiblichen Selbstorganisation des Teams in Form einer mitlaufenden (empraktischen) Reflexion auf dessen Einheit (vgl. Michaeler 2016) das Tun der Mitglieder orientiert: Innerhalb des reflexiven Spielvollzugs, in dem sich die Spielerinnen wechselseitig zum Mitspielen befähigen, wird die ›Einheitsfiktion‹ zu einem Referenzrahmen, an dem sich die Erwartbarkeit und Bedeutung einzelner Beiträge bemessen lässt. In diesem Sinne verweisen diese Beträge laufend auf die Einheit des Teams und performieren es als das eigentliche Handlungssubjekt. Dabei wird die Austauschbarkeit der Spielerinnen dadurch befördert, dass auch die Reservespielerinnen als Teil dieser Einheit adressiert und verstanden werden.

5. S chluss Aus einer praxistheoretischen Perspektive zeigt sich das Training nur bedingt als eine unterwerfende Dressur, in der bis ins kleinste Detail vom Trainer vorgegebene Bewegungen und Abläufe von den Spielerinnen individuell eingeübt und automatisiert werden. Wenn man das Training als ein transsequentiell sich entfaltendes Dispositiv untersucht, wird verständlich, wie es in der Verflechtung wissensgeleiteter Techniken und in den verschiedenen sozio-materiellen Arrangements der aufeinander verweisenden Übungen subjektivierend wirkt, indem es bestimmte, darin sich gegenseitig adressierende Entitäten befähigt, ein Selbstverhältnis auszubilden, das es ihnen ermöglicht, sich kompetent auf die jeweiligen Praktiken einzustellen und somit subjekthaft zu handeln. Auf diese Weise werden nicht nur individuelle Spieler ins Team subjektiviert, sondern dieses wird auch selbst als ein kollektiver, sich selbst bildender und organisierender Handlungsträger konstituiert: Vermittelt über die jeweils zu erarbeitenden formativen Objekte werden zunehmend Kollektive für den Vollzug einer bestimmten Spielsequenz verantwortlich gemacht, die sich so als deren Handlungssubjekte konstituieren, während andere Handlungsträger aus der Perspektive der Selbstorganisation dieser Kollektivsubjekte nur noch als deren spezifisch disponierte Vollzugsorgane anerkannt werden. Dabei verweisen das fortlaufende Wiederholen von Bearbeitungsschritten sowie das kontinuierliche Changieren der in den sozio-materiellen Arrangements erfolgenden Adressierungen zwischen einzelnen Spielerinnen, Mannschaftsteilen und Team darauf, dass es sich bei diesem Subjektivie-

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rungsprozess um einen fortlaufenden organisationalen Versuch handelt, für den Vollzug von Praktiken notwendige, zuverlässig in die Verantwortung zu nehmende Zurechnungseinheiten zu etablieren (vgl. Nassehi 2012). Deren Anerkennbarkeit bleibt insofern fragil, als sich die subjektivierenden Adressierungen nur innerhalb einer konkreten Praktik in Form einer wechselseitigen Befähigung vollziehen: Sie bleibt darauf angewiesen, dass die in der Praktik auf verschiedene Art und Weise responsibilisierten (individuellen wie kollektiven) Vollzugskörper auch dafür disponiert sind, sich durch komplexe Prozesse der responsiven Selbstbildung als entsprechende Teilnehmersubjekte ins Spiel bringen zu lassen und im Spiel zu halten. Insofern eine solche Subjektivierung aber auch dazu befähigt, ein Selbstverhältnis in Bezug auf den praktischen Vollzug auszubilden, handelt es sich dabei eben nicht nur um eine Unterwerfung, sondern auch um eine Ermächtigung, die es den dabei emergierenden Handlungsträgern ermöglicht, sich den normativen Erwartungen und Anforderungen der Praktik auf eine bestimmte Art und Weise zu entziehen und Spielräume in der Selbstpositionierung bedingt zu nutzen. So bleibt die Subjektivierung des Teams fortlaufend dadurch bedroht, dass sich die im Teamzusammenhang als dessen Vollzugsorgane subjektivierten Spielerinnen aus ihrem totalen Engagement auf individuelle Perspektiven auf das Spiel zurückziehen können und aufgrund der dadurch entstehenden Konflikte nicht mehr in der Lage sind, als Mitglieder der integrierten Einheit zu agieren, so dass das Spiel in Einzelaktionen zerfällt. Damit wird gerade an der Subjektivierung von Kollektiven, deren Selbstorganisation leichter zu beobachten ist als die von Individuen,19 deutlich, dass die Einheit von Subjekten nie endgültig hergestellt werden kann, sondern immer an die Art und Weise der wechselseitigen Befähigung zur Subjektivität gebunden bleibt. Prekär bleibt eine solche Subjektivierung allerdings auch wegen ihres performativen Charakters, der Subjekthaftigkeit an die jeweils vollzogene Praktik bindet, in der sie in Erscheinung treten kann. Entsprechend sind es nicht immer dieselben ›Subjekte‹, die in den unterschiedlichen sozio-materiellen Arrangements der Übungen und Spiele als dieses oder jenes Subjekt aufgerufen werden. Es bedarf einer zusätzlichen Leistung, um wiederholt und in anderen Zusammenhängen als ›dasselbe‹ Subjekt anerkannt werden zu können. So werden im Training durch die kontinuierlichen Adressierungen der verschiedenen Vollzugskörper als bestimmte individuelle oder kollektive Subjekte zusammen mit der Ausbildung von Kompetenzen immer auch bestimmte, fortlaufend zitierbare Einheitsfiktionen ausgeformt, die in Form 19 | Auch in der vollzugsleiblichen Selbstorganisation von Individuen oder individuellen Vollzugskörpern können die unterschiedlichen Dispositionen in Konflikt mit den praktischen Anforderungen und Erwartungen geraten, so dass sie nur mehr schwer als einheitliche Handlungssubjekte anerkannt werden können.

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eines habitualisierten Wissens als (erwartbare) Referenzen für die subjektivierende Adressierung und Selbstbildung der Spielerinnen und des Teams in ähnlichen Kontexten verfügbar gehalten werden. Zum einen gewöhnen sich die Spielerinnen auf diese Weise daran, sich in ihren Beiträgen zum kollektiven Handlungsvollzug an dieser Einheitsvorstellung zu orientieren und sich so immer wieder als Mitglieder jenes Teams zu adressieren, in dem sie sich schon zuvor oft engagiert hatten. Zum anderen stabilisiert sich auch die reflexive Selbstorganisation des Teams als einheitliches Handlungssubjekt über Raum und Zeit dadurch, dass es in seiner vollzugsleiblichen Selbstkonstitution empraktisch auf jene Einheit reflektiert, die es selbst schon in anderen Situationen vollzogen hat.20 Mit der Betonung der Performativität und Praxisgebundenheit von Subjektivität wirft ein subjektivierungstheoretischer Zugang ein besonderes Licht auf kollektive Handlungsträgerschaft und ihre (Selbst-)Organisation. Indem sie Subjektivität nicht als Eigenschaft von Individuen ontologisiert, sondern als Resultat der wechselseitigen Befähigung von bestimmten Vollzugskörpern zur subjekthaften Teilnahme an Praktiken über anerkennende Adressierungen in den Blick nimmt, macht sie auf die Bedingtheit von Intentionalität und der sich dadurch ergebenden Handlungsfähigkeit aufmerksam (vgl. Schürmann 2014). Demnach macht es für die Art und Weise, wie ein Kollektiv handelt und sich organisiert, einen Unterschied, ob es im Wechselspiel der Mitglieder auf individuelle Interessen und Erwartungen sich koordinierender Einzelsubjekte zurückgeführt wird, oder ob sich das Handeln der Mitglieder an den Intentionen und Zielen des sich damit konstituierenden Kollektivsubjekts ausrichtet. Für die Organisation einer solchen kollektiven Handlungsfähigkeit bedarf es einer Verschiebung des körperlich-mentalen Engagements der Mitglieder, die sich nicht dadurch erreichen lässt, dass man im Training entweder Kompetenzen der Individuen oder organisationale Strukturen bzw. verfahrensmäßige Abläufe des Teams ausbildet. Vielmehr muss das Team selbst zu seiner vollzugsleiblichen Selbstorganisation und situationsadäquaten »Strukturierung im Vollzug« (Volbers 2014: 32) befähigt werden, über die es sich als subjekthafter Vollzugskörper innerhalb einer bestimmten Praktik konstituieren kann.

20 | So kann eine Mannschaft außerhalb des Trainings und der Spiele nur innerhalb von anderen Praktiken wie z.B. in gemeinsamen Feierlichkeiten oder besonderen Teambuilding-Maßnahmen als Einheit subjektiviert werden, die allerdings auf einen anderen Teamkörper referieren. Presseberichte adressieren Teams hingegen nicht als Vollzugskörper, sondern vor allem als Namen oder Zeichen im Pressediskurs. Allerdings können auch diese Einheitsfiktionen als Referenzen in das Selbstverständnis des Teams im Training und in den Spielen zurückwirken.

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Kommentar

»Jenseits der Person« – oder doch bloß »diesseits«? Ein Kommentar zum Problem der ›kollektiven Subjektivierung‹ Nikolaus Buschmann/Norbert Ricken Angesichts der Unmöglichkeit, die in diesem Band versammelten Beiträge insgesamt zu kommentieren, ist der folgende Kommentar weder als Zusammenfassung der Überlegungen noch gar als Kritik derselben angelegt; vielmehr geht es uns um die Artikulation von Fragen, die sich uns bei der Auseinandersetzung mit der Thematik einer ›Subjektivierung von Kollektiven‹ gestellt haben. Dass wir dabei zu keiner abschließenden Antwort, vielleicht sogar nicht einmal einer zwischen uns beiden Kommentatoren einheitlichen Perspektive kommen (können), mag nicht sonderlich überraschen und kann als Merkmal von Kommentaren verbucht werden. Es ist aber auch Ausdruck dafür, dass die Fragestellungen –  und erst recht dann die verschiedenen Antwortfassungen – experimentell angelegt sind und nicht einfach auf einen schon eingewöhnten Kanon von theoretischen Selbstverständlichkeiten zurückgreifen können. Ganz im Gegenteil: Die hier unternommenen Versuche haben den Status probierender Gedankenfassungen, die zwar z.T. spielerisch, aber durchgängig ernst eine Frage aufzunehmen versuchen, deren Denk- und Bearbeitbarkeit nicht nur herausfordern, sondern auch eine Problembearbeitung einfordern. Wir haben unsere Anmerkungen in drei Schritte gegliedert und möchten nach einer ersten Erkundung der Frage, worauf mit dem Konzept der »Subjektivierung von Kollektiven« geantwortet wird bzw. geantwortet werden soll (I.), zunächst die verschiedenen Antwortfassungen in systematischer Absicht skizzieren (II.), bevor wir abschließend die Frage danach stellen wollen, was man mithilfe dieser ›Optik‹ besser sieht und was man vielleicht aus den Augen verliert (III.).

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I. Das in dem vorliegenden Band annoncierte Interesse für die Subjektivierung von Kollektiven reagiert auf eine Leerstelle bisheriger Subjektivierungsforschung. Während in der Phänomenologie des alltäglichen Handelns (Stahl 2013) und in der Arena politischer Identitätskämpfe (Gephart/Saurwein 1999), aber auch im Rechtssystem sowie in diversen geschichtswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und philosophischen Zugängen von ›korporativen Akteuren‹ (Teubner 1987), ›Pluralsubjekten‹ (Gilbert 2009) oder einer ›WirIntentionalität‹ (Schmid 2005) die Rede ist, haben Ansätze, die in der Tradition Althussers, Foucaults und Butlers stehen, bisher in erster Linie die Subjektwerdung menschlicher Individuen zum Thema gemacht. Gleichwohl ist die hier gestellte Frage nach ›kollektiver Subjektivierung‹ bzw. der ›Subjektivierung von Kollektiven‹ nicht bloß ein theoriearchitektonisch bedingtes Unternehmen, um gar der Vollständigkeit halber aufzunehmen, was anderswo vielleicht anders oder sogar besser bereits gedacht wird. Vielmehr ist mit ihr eine drängende Frage, ja Problematik verbunden: Sie lenkt den Blick auf die machtvollen Prozesse, aus denen kollektive Zustände hervorgehen, und damit auf die immer auch politischen Möglichkeitsbedingungen, unter denen sich komplexe Anordnungen heterogener Elemente im Zeichen einer Einheitsfiktion zu einem Ganzen verbinden oder – umgekehrt – eine solche Verbindung gelöst wird. Das Anliegen dieser Forschungstradition besteht bekanntlich nicht in einer Ontologie des Subjekts, sondern in einer Analytik der Subjektivierung, die auf die performative Hervorbringung von Subjekten in der sozialen Praxis blickt. Subjektivierung ist dabei als ein relationaler Begriff konzipiert, der zwei Seiten eines Formationsprozesses bezeichnet: die soziale Zurichtung und die Selbstbildung bedingt handlungsfähiger Subjekte. Kollektive kamen und kommen in dieser Forschungstradition vor allem als Instanzen der Subjektivierung in den Blick, nicht als deren Träger bzw. Ziele. So ist es durchaus auch bisher nicht unüblich, beispielsweise nach der Subjektivierung ›in‹ Kollektiven zu fragen und in der Analyse dann jene Prozesse herauszuarbeiten, mit bzw. in denen Individuen zu ›passenden‹ Mitgliedern eines Kollektivs gemacht werden bzw. sich zu ›sich passend machenden‹ Subjekten machen. Vor diesem Hintergrund erscheint es daher zunächst naheliegend, danach zu fragen, inwiefern sich ein Instrumentarium, das auf die Untersuchung individueller Subjektivierung zugeschnitten ist, dazu eignet, auch jenen Prozessen ›jenseits der Person‹ nachzugehen, in denen ›Kollektive‹ entstehen und Akteursstatus beanspruchen –  seien es kleinere Entitäten wie Volleyballteams, Musikerensembles und Bürgerwehren oder große Kollektive wie soziale Bewegungen, Staaten und Nationen.

»Jenseits der Person« – oder doch bloß »diesseits«?

Damit verschiebt sich der Fokus von der ›Subjektivierung in Kollektiven‹ auf die ›Subjektivierung von Kollektiven‹, denen Handlungsfähigkeit, ein Selbstverhältnis und Eigensinn zugeschrieben werden kann. Zugleich ist die Frage nach der Verschränkung dieser beiden Ebenen aufgeworfen, wie hinzuzufügen ist, da Kollektivierungsprozesse nicht nur die betreffende Organisation, Bewegung oder Gemeinschaft verändern, sondern auch diejenigen, die diesen Kollektiven angehören (oder von ihnen ausgeschlossen werden) und sie in den Interaktionen der Praxis hervorbringen. Anders als handlungstheoretische Zugänge, die kollektive Zustände zuvörderst als Aggregationen individueller Intentionen begreifen, die dem Handeln der Akteure als limitierende oder ermöglichende Bedingungen gegenübertreten, erscheint kollektive Subjektivierung in dieser Perspektive als ein soziales Phänomen sui generis, welches die Prozesse und Figurationen, in die es eingebettet ist, zugleich formt und dabei eine eigene Wirklichkeit schafft, der spezifische Erfahrungsqualitäten und Bindekräfte anhaften. Die Subjekthaftigkeit von Kollektiven ist also nicht nur als Produkt des Zusammenwirkens verschiedener Akteure zu betrachten, sondern auch als ein konstitutiver Faktor dieses Zusammenwirkens. Sie zeitigt spezifische Mobilisierungs- und Kohäsionseffekte und wirkt so auf die interne Ordnungsbildung ein. Das betreffende Kollektiv tritt als eine handlungsfähige und identitätsstiftende, seine Mitglieder affizierende und normativ bindende, zugleich aber auch als eine unvermeidlich heterogene, politisch umkämpfte und fragile Entität in Erscheinung. Konzipiert man kollektive Subjektivierung in diesem Sinne als eine relationale und prozessuale Denkfigur, stellt die Analyse – so die griffige Formulierung der Herausgeber – vom ›Modus des Seins‹ auf den ›Modus des Werdens‹ um. Sie richtet ihren Fokus damit auf die unabschließbaren Bewegungen kollektiver Selbsttransformation. Die Subjekthaftigkeit von Kollektiven zeigt sich in dieser Perspektive gleichsam als ein dynamisches Beziehungsgeflecht verschiedenartiger Elemente, das in ständiger Wiederholung und Variation hervorgebracht und verändert wird, ohne eine endgültige Gestalt anzunehmen. Autonomie und Heteronomie sind dabei unhintergehbar aufeinander bezogen – nicht als einander ausschließende Gegensätze, sondern als ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis: Die Befähigung zu kollektiver Selbstformung hängt konstitutiv von der machtvollen Adressierung und Anerkennung als Kollektivsubjekt ab, da sie sich immer nur im Hinblick auf die normativen Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis ausbildet. In genau diesem Interesse für die relationale und prozessuale Hervorbringung von Kollektivität erkennen die Herausgeber das Neubeschreibungspotenzial, das die Perspektive der Subjektivierung gegenüber ähnlichen Ansätzen der Organisations-, Netzwerks- und Bewegungsforschung auszeichnet: Sie beansprucht erstens das iterative Werden (und Vergehen) kollektiver Akteure in den Mittelpunkt zu stellen, statt diese prä-praktisch vorauszusetzen. Zweitens

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interessiert sie sich für die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Freiheit in der Entstehung kollektiver Handlungsfähigkeit. Damit bringt sie drittens die politische Dimension solcher Prozesse auch dahingehend in den Blick, als dass sie die Mobilisierung von Einheitsvorstellungen und Autonomiefiktionen als machtvolle Faktoren sozialer Ordnungsbildung einerseits ernst nimmt, den damit verbundenen Geltungsanspruch andererseits aber auch genealogischer Kritik unterzieht. Durch die praxistheoretische Rahmung dieses Forschungsansatzes richtet sich das Interesse viertens auf die sozio-materiellen Ermöglichungsbedingungen kollektiver Subjektivierung in historisch situierten Diskurs-Praxis-Formationen. Damit geraten nicht nur die diskursiven Strategien der Adressierung und Anrufung in den Blick, sondern auch die konkreten Praktiken, Technologien und räumlichen Arrangements, in denen sich Kollektivsubjekte als ein Zusammenwirken von Menschen und Dingen bilden.

II. Bei der Musterung der unterschiedlichen Skizzen und Analysen zum Problem kollektiver Subjektivierung haben sich uns drei Fragedimensionen erschlossen: a. ›Gibt es‹ Kollektive? Und was heißt dann eigentlich ›es gibt‹? Die teilweise in diesem Band vertretenen Kandidaten, die möglicherweise als ›Kollektive‹ gelten können, reichen von kollektiven Vollzügen bzw. Vollzugskörpern (wie z.B. spielenden Sportteams, musizierenden Jazzbands und Orchestern, aber auch tanzenden (Paar- oder Team-)Formationen und vielleicht sogar lernenden Schulklassen) über Netzwerke, Verbindungen und Bewegungen (wie z.B. Frauenbewegung, Patientenbewegung, ›Krüppel‹-Bewegung, aber auch Bürgerwehren) bis hin zu großformatigen ›Entitäten‹ wie Organisationen und Institutionen, Parteien und Konzernen einerseits und juristischen Personen (wie Staaten, aber auch Marken) andererseits. Was für die ›konkreten‹ (im Sinne von ko-präsenten) Formationen einleuchtet, ist dabei für die ›abstrakteren‹ Formationen teilweise nur noch schwer nachzuvollziehen: dass nämlich diesen ›Entitäten‹ das Moment der Kollektivität sehr unterschiedlich zuzukommen scheint. Wenig aussichtsreich mutet es hingegen an, auch Kategorien – wie z.B. Generationen, Nationen oder Städte als Markierung derjenigen, die in einer gemeinsamen Zeit, einem Sprach- bzw. Wohnraum geboren sind – von vornherein als Kollektive zu verstehen. Vielmehr müsste danach gefragt werden, wie und unter welchen Umständen bestimmte Einheitsfiktionen als »fungierende Ontologien« (Fuchs 2004: 15) wirksam werden. Damit verschiebt sich die Frage nach dem ontologischen Status bestimmter Entitäten auf diejenige

»Jenseits der Person« – oder doch bloß »diesseits«?

nach den Effekten kollektiven Zusammenwirkens. Zum Ausdruck gebracht werden soll mit der Einstufung als Kollektiv – so ist immer wieder in den Beiträgen  zu lesen – jedoch eine Wirklichkeitsdimension (dieser Entitäten), die sich nicht individualtheoretisch erläutern lässt; gerade weil »soziale Wirklichkeitszusammenhänge« (Müller in diesem Band), Zusammengehörigkeiten und Zusammenhangsformationen nicht bzw. nur unzureichend additiv – d.h. aus der Kombination von Individuen als den (unteilbaren) Bausteinen des Sozialen – verstanden werden können, leuchtet es zunächst ein, von ›Kollektiven‹ als einer nicht weiter auf etwas anderes zurückführbaren ›Entität‹ zu sprechen. Bereits ein Spaziergang ›zu zweit‹ ist mehr und anderes als das gleichzeitige Spazierengehen von Einzelnen (bei gleichzeitigem Wissen um das Spazierengehen der jeweilig anderen) (Gilbert 2009). Was mit Blick auf die Unzulänglichkeit individualtheoretischer Perspektiven unmittelbar plausibel erscheint, muss aber – so ein möglicher Einwand –  mit Blick auf den Status als ›Kollektiv‹ noch nicht zwingend überzeugen. Die Gefahr jedenfalls, dass überkommene Entgegensetzungen – Individuen hier und Kollektive dort – reaktiviert werden, ist nicht von der Hand zu weisen; zu prüfen wäre zudem, was gegenüber anderen Beschreibungsformen – wie z.B. die der ›Figuration‹ bei Norbert Elias (vgl. Elias 1992) – gewonnen wäre. Das lenkt zur zweiten Frage, die das Problem der Kollektivität nochmal zuspitzt: b. Was meint ein kollektives ›Subjekt‹ – oder: Wieso sollen Kollektive (auch noch) Subjekte sein? Zunächst scheint durchaus plausibel, dass – wenn es denn Kollektive ›gibt‹ – diesen nicht nur ein besonderer Wirklichkeitsstatus zukommt, sondern diese auch identifizierbar, d.h. eigenmächtig bzw. selbsttätig in Erscheinung treten. In vielen der Beiträge tauchen daher diese Momente der Handlungsfähigkeit eines Kollektivs auf, sei es in der Gestalt eines Handlungs- oder eines Befähigungszusammenhangs – wie dies z.B. am Volleyballteam, aber auch an den musizierenden Kollektiven plastisch dargestellt werden konnte, denn offensichtlich ist, dass das jeweilig in den Blick genommene Geschehen – sei es das Spiel oder das Konzert – nicht von den jeweilig Einzelnen her erklärt werden kann. Dabei ist diese ›Handlungsfähigkeit‹ von Kollektiven, die sich von denen der Individuen qualitativ unterscheidet, nur die eine Seite, die um Formen der Zuschreibung, der Aufladung bzw. gar Anrufung der jeweiligen Kollektive als ›Subjekte‹ auf der anderen Seite ergänzt werden (können und müssen). Ob aber Kollektive analog zu ›Subjekten‹, die in manchen Begriffsfassungen gerade dadurch ausgezeichnet scheinen (vgl. Menke 2010), sich auch auf sich selbst beziehen (können), also (wenigstens in Ansätzen) selbstreflexiv verfasst sind oder gar sich um sich selbst sorgen können, kann nicht abstrakt entschieden und muss hier deshalb offengelassen werden. Naheliegend jedenfalls wäre es, den vielfältigen Verführungen der Personalisierung von

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etwas – z.B. der ›Liebe‹, die dann ›sucht‹, ›treibt‹ und ›nicht rastet‹ – mit Vorsicht zu begegnen, um nicht einer neuen Mythologisierung Vorschub zu leisten. Denn verloren ginge die auch für Subjektivierungsprozesse ›in‹ Kollektiven hoch bedeutsame Analyseperspektive, wie Akteure sich zu Repräsentanten eines Kollektivs ›autorisieren (lassen)‹ und dann ›im Namen von‹ diesen sprechen. Das aber heißt, den Subjektstatus von Kollektiven jeweils genauer zu markieren und nicht per se zu vergeben bzw. zu beanspruchen. Hier böte sich an, an die Bedeutung von ›Subjekt‹ als einem ›Zugrundeliegenden‹ anzuschließen und daran die Frage nach dem ›kollektiven Subjekt‹ zu entscheiden. c. Was meint dann die ›Subjektivierung‹ dieser ›Kollektivsubjekte‹? Wenn man einerseits differenzierend, andererseits aber auch nur zögerlich von ›Kollektivsubjekten‹ zu sprechen geneigt ist, dann ist es durchaus naheliegend und aussichtsreich, auch die Prozesse ihrer ›Subjektivierung‹ in den Blick zu nehmen. In den Blick kämen dann sicherlich vielfältige Prozesse: Konstruktionen eines ›Wir‹, die sich durch und in Aus- und Abgrenzungen, aber auch Eingrenzungen und inneren Differenzierungen vollziehen; Prozesse der Herstellung, des Erlernens und Übens sozialer Handlungsfähigkeit (wir erinnern an die Sport- und Musikbeispiele); aber auch Prozesse der Selbstverständigung, der Entwicklung eines gemeinsamen Selbstverständnisses –  und zwar sowohl in Form einer gemeinsamen Identität als auch einer gemeinsamen Normativität. Doch auch hier gilt, Vorsicht walten zu lassen: Denn was auf der einen Seite einleuchtet, ja mehr noch: vielversprechend erscheint, ist auf der anderen Seite insbesondere mit Blick auf Identitäts- und Normativitätsfragen wieder zurückgebunden an und gebrochen durch die jeweiligen individuellen Selbstverständnisse. Das aber macht darauf aufmerksam, dass Kollektive vielleicht zwar ›agieren‹ können (und insofern diese Handlungsbefähigung in Subjektivierungsprozessen auch erst entwickeln müssen), nicht aber ›als solche‹ sich artikulieren können. Umso mehr ist es geboten, die Verschränkung der verschiedenen Subjektivierungsdimensionen zu unterscheiden bzw. zu berücksichtigen, lassen sich doch Subjektivierungsprozesse von Individuen ›in‹ Kollektiven und ›durch‹ Kollektive nicht trennen von den Subjektivierungsprozessen ›von‹ Kollektiven und ›als‹ Kollektive. Ob allerdings die Begrifflichkeit der ›Subjektivierung‹ dazu taugt, diese Phänomene präzise in den Blick zu nehmen, und die – seit Foucault – eingewöhnte Perspektive, von der ›Subjektivierung‹ von Individuen zu Subjekten und als Subjekte zu sprechen (vgl. Saar 2007: 263), nicht doch auch diese veränderte Blickrichtung letztlich verstellt und verstellen muss, muss hier offenbleiben – und kann vermutlich nur ausprobiert werden. Allemal wird dabei aber erschwert, was im ›Jargon‹ der Subjektivierung ohnehin nicht leicht ist: präzise zu benennen, was mit ›Subjekt‹ jeweilig genau gemeint ist. Die angedeutete Alter-

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native jedenfalls, stattdessen von ›Kollektivierung‹ und ›Kollektivierungsprozessen‹ zu sprechen, folgt anderen Implikationen und führt daher auch in eine andere Richtung. Die skizzierten Fragestellungen sind gewonnen aus der Lektüre der Beiträge, führen aber – durchaus im Sinne eines ›re-entry‹ – zurück in die verschiedenen Beiträge. Viel gewonnen wäre ja schon, wenn sie Anlass zur (Selbst-)Prüfung der jeweiligen Sprechweisen gäben. Zugleich aber führen sie auch über die Beiträge hinaus, indem sie zweierlei Perspektiven – ob nur für uns, oder auch für andere – ›neu‹ aufmachen. Wir skizzieren sie hier als weiterführende Fragen: Was ist eigentlich das Medium, in dem sich diese Kollektivität vollzieht (z.B. die Körpergrenzen überschreitende Bewegung im Tanz, der das einzelne Instrument übersteigende Klang im Musizieren etc.), und welche Bedeutung hat es? Und ist nicht Subjektivierung von Kollektiven und als Kollektive gebunden an diese bzw. eine Medialität? Und zweitens: Bedarf es einer Instanz, eines Gegenüber des Kollektivs, an dem es sich als Kollektiv bilden kann (z.B. in Form einer Trainerin, eines Dirigenten, einer Lehrerin etc.), das zugleich nicht Teil des Kollektivs ist?

III. Fragt man nun nach dem, was durch die Perspektive auf Kollektive und deren Subjektivierung gewonnen ist, also besser bzw. angemessener in den Blick genommen werden kann, und was nicht, was also aus dem Blick gerät, übersehen oder gar auf falsche Gleise gelenkt wird, dann lässt sich die Frage nach anders- bzw. gar höherstufigen sozialen Wirklichkeitszusammenhängen nicht vermeiden. Zunächst scheint es dabei, dass die Bezeichnung umso passender ist, je ›konkreter‹ diese Kollektive auch verfasst sind, d.h. als eigener Wirklichkeitszusammenhang, etwa als Handlungszusammenhang, erkennbar sind. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass ›abstrakte‹ Entitäten zwar als Figurationen ›jenseits der Person‹, nicht aber schon deshalb als ›Kollektive‹ oder gar ›kollektive Subjekte‹ einleuchten, weil ihnen dieser Status in der sozialen Praxis zugeschrieben wird. Als Beleg dafür mag eine Beobachtung aus der Gruppenforschung (vgl. Wagner 2000) dienen: Gruppen –  so die Beobachtung – konstituieren sich nicht bzw. nicht in erster Linie als Gemeinschaften auf der Basis von gemeinsamen Interessen, d.h. als ein aus Individuen aufgebauter und intentional angestrebter Zusammenhang, der jederzeit wieder in die Einzelinteressen rückführbar ist, sondern aufgrund von Zugehörigkeitsmustern, seien es jeweilige Wünsche, Zuschreibungen oder auch Zurechnungen, die dann auf gemeinsame Überzeugungen hinauslaufen bzw. sich an denen festmachen. Die

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grundlegende (Gruppen-)Dynamik lässt sich dabei als eine Minimierung der Differenzen nach innen und eine Maximierung der Differenzen nach außen beschreiben. Entscheidend für diese Perspektive ist, dass soziale Zugehörigkeiten nicht als ›äußere‹ Momente, sondern als Kennzeichen der relationalen Verfasstheit der Individuen verstanden werden. Verständlich gemacht werden kann damit, wie diese Momente als konstitutive Bestandteile jeweilig individueller Selbstverständnisse fungieren können und die ›Person‹ damit erst zu einer ›Person‹ machen, was sich auch pointiert als ›diesseits der Person‹ – und nicht nur als ›jenseits der Person‹ – lesen ließe. Was aber nicht beschrieben werden kann, so unser Eindruck, ist die Frage, wie sich Handlungsfähigkeit, -dynamik und -trägerschaft der Gruppe als Gruppe denn genauer fassen lassen; hier bahnt sich eine gewinnbringende Perspektive an. Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, drei Denkbahnen einer solchen ›kollektiven Subjektivierung‹ zu unterscheiden: a. Versteht man ›Kollektive‹ und ›kollektive Subjektivierung‹ als Abgrenzungsstrategie gegenüber – in der Tat zunehmenden – individualtheoretischen Konzepten, dann kann damit sinnvoll auf einen sozialen Wirklichkeitszusammenhang aufmerksam gemacht werden, der sich nicht auf die darin einbeschlossenen Individuen zurückführen lässt. Diese (negative) Abgrenzung ist in sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen umso dringlicher, je mehr sich individualtheoretische Perspektiven durchsetzen (wie dies z.B. in den Erziehungswissenschaften im Kontext psychologischer Perspektiven geschieht; vgl. Bellmann 2016). Damit ist aber die Frage, was denn mit ›Kollektiven‹ mehr als dieses ›nicht das‹ bezeichnet wird, noch nicht hinreichend beantwortet. b. Eine Möglichkeit, sich diesen anders- bzw. höherstufigen sozialen Wirklichkeitszusammenhängen anzunähern, wäre, Prozesse der ›kollektiven Subjektivierung‹ hin auf ihre Formen, Mechanismen zu befragen –  und das hieße, sie als soziale Konstruktionen zu begreifen (und z.T. auch ideologiekritisch zu lesen). Zu bearbeiten wären dann erstens Fragen der Kollektivierung, d.h. der Herausbildung, Etablierung und (inneren) Festigung von Gruppen, Gemeinschaften etc. als Gruppen, Gemeinschaften etc. Gleichermaßen kämen dann zweitens Fragen in den Blick, die sich um das Problem der Agentivierung, d.h. der Aufladung von Gruppen zu Akteuren, drehen und auch das Problem einschließen, wer als Repräsentant eines solchermaßen gebildeten Kollektivs auftreten und in dessen Namen sprechen kann und wie dieser Autorisierungsprozess sich vollzieht. Schließlich erscheint es uns drittens aussichtsreich, auch Rückwirkungsprozesse auf die Mitglieder von Kollektiven zu untersuchen und z.B. nach Kohäsionspraktiken bzw. -effekten und unterschiedlichen Formen der Konnektivität zu fragen. Hier zeigt sich, dass die Frage nach der Subjektivierung von Kol-

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lektiven und diejenige nach der Subjektivierung in Kollektiven aufeinander verweisen, da kollektive Wirklichkeitszusammenhänge etwas mit denjenigen und diese zu jemandem machen, die als Bestandteile dieser Wirklichkeitszusammenhänge zugleich zu deren Entstehung beigetragen haben. c. So überzeugend diese sozialkonstruktivistische Perspektive aber auch ist, und so wichtig es ist, die genannten Aspekte nicht außer Acht zu lassen, so metaphorisch scheint die Rede von ›Kollektivsubjekten‹ zu sein, wollte man nicht einem ontologischen Kollektivismus folgen, der diese Rede immer schon beim Wort nimmt. Denn letztlich bleibt das sich auf andere beziehende, sich mit anderen verbündende etc. Individuum der kategoriale Bezugspunkt dieser Überlegungen. Im Sinne eines methodologischen Kollektivismus ginge es also vielmehr darum, kollektive Phänomene weder nur als Summe individueller Beiträge aufzufassen noch sie zu Kollektivindividualitäten zu hypostasieren. d. Vermutlich lässt sich daher die ontologische Frage, d.h. die nach der Verfasstheit und Beschaffenheit von ›Kollektiven‹, auch mit Blick auf diese nicht vermeiden –  und vermutlich ebenso wenig schlicht beantworten. Auch wenn sich manches sperrt, ›Kollektive‹ als substanzielle Entitäten zu verstehen, wie dies z.B. in manchen Beiträgen zum Problem der »Wir-Intentionalität« (vgl. Schmid/Schweikard 2009) getan wird, so rücken doch mit dieser Denkbewegung bislang eher ungelöste Fragen in den Vordergrund, wie etwa die nach der Beschaffenheit von sozialen ›Klangkörpern‹, ›Tanz-‹, ›Spiel-‹ oder ›Bewegungskörpern‹. Eng verbunden ist damit vor allem dann auch die Frage nach dem Medium, in dem sich diese ›Kollektivierung‹ vollzieht; als Frage formuliert: Müssen wir nicht, um die beschriebenen sozialen Körper angemessen(er) verstehen zu können, das jeweilige Medium, in dem diese sich ›bilden‹, als ›Wirklichkeit sui generis‹ ansetzen, d.h. verstehen, welche kollektivierende Bedeutung ›Tanzen‹, ›Musizieren‹ oder ›Spielen‹, ja sogar wohl auch ›Denken‹ u.a. haben und haben können? Damit rücken schließlich Fragen in das Blickfeld, die wir als Fragen nach der Qualität des jeweiligen ›Miteinanders‹ – z.B. in Form von Abstimmungen, des Übens etc., aber auch des ›Flow‹ – aufgreifen wollen. Man mag sich zu diesen Denkbahnen nun unterschiedlich verhalten, sie bestreiten oder emphatisch verteidigen – unabweisbar und unbestreitbar aber ist, dass mit ihnen einerseits Fragehorizonte auftauchen, die in eingewöhnten sozialwissenschaftlichen Perspektiven allenfalls gestreift, wenn nicht gar außer Acht gelassen werden. Sie sind aber andererseits auch mit einer Denkdynamik verbunden, die in die beschriebene Richtung drängt – und der man sich nur schwerlich entziehen kann.

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L iter atur Bellmann, Johannes (2016): Der Aufstieg der Bildungswissenschaften und das sozialtheoretische Defizit der Erziehungswissenschaft, in: Norbert Ricken/ Rita Casale/Christiane Thompson (Hg.): Die Sozialität der Individualisierung, Paderborn: Schöningh, S. 51-70. Elias, Norbert (1992): Art. Figuration, in: Bernhard Schäfers (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen: Leske & Budrich, S. 88-91. Fuchs, Peter (2004): Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Untersuchungen, Weilerswist: Velbrück. Gephart, Werner/Saurwein, Karl-Heinz (Hg.)(1999): Gebrochene Identitäten. Zur Kontroverse um kollektive Identitäten in Deutschland, Israel, Südafrika, Europa und im Identitätskampf der Kulturen, Opladen: Leske & Budrich. Gilbert, Margarat (2009): Zusammen spazieren gehen. Ein paradigmatisches soziales Phänomen, in: Hans B. Schmid/David P. Schweikard (Hg.): Kollektive Intentionalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 154-175. Menke, Christoph (2005): Subjektivität, in: Karlheinz Barck/Martin Fontius/ Dieter Schlendstedt/Burkhardt Steinwachs/Friedrich Wolfzettel (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 734-786. Saar, Martin (2007): Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a.M./New York: Campus. Schmid, Hans B./Schweikard, David P. (Hg.)(2009): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schmid, Hans Bernhard (2005): Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, Freiburg i.Br./ München: Alber. Stahl, Titus (2013): Immanente Kritik. Elemente einer Theorie sozialer Praktiken, Frankfurt a.M/New York: Campus. Teubner, Gunther (1987): Unternehmenskorporatismus. New Industrial Policy und das »Wesen« der Juristischen Person, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 2 (70), S. 61-85. Wagner, Ulrich (2000): Gruppenprozesse. Kurseinheit 2: Intergruppenprozesse. Unter Mitarbeit von Jost Stellmacher, Hagen: Fernuniversität Hagen.

Autoren und Autorinnen

Alkemeyer, Thomas, Prof. Dr., ist Professor für Soziologie und Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Forschungsinteressen sind soziologische Praxistheorien, die Soziologie des Körpers und des Sports, die Subjektivierungsforschung und die Genealogie der Gegenwart. Er veröffentlichte zuletzt u.a.: Learning in and across Practices. Enablement as Subjectivation. In: Shove, Elizabeth/ Hui, Allison/Schatzki, Theodore (Hrsg.): The Nexus of Practices: Connections, constellations, practitioners. London: Routledge, 2017, S. 8-23 (mit Nikolaus Buschmann). Kontakt: [email protected] Bröckling, Ulrich Prof. Dr., ist Professor für Kultursoziologie an der AlbertLudwig-Universität Freiburg. Seine Forschungsinteressen sind die Soziologie der Selbst- und Sozialtechnologien, Studies of Governmentality und soziologische Zeitdiagnosen. Er veröffentlichte zuletzt: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Berlin: Suhrkamp, 2017. Kontakt: [email protected] Buschmann, Nikolaus, Dr., forscht am Wissenschaftlichen Zentrum »Genealogie der Gegenwart« der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg zu Gegenwartsdiagnosen in der Moderne, Geschichte der Nachhaltigkeit, historische Subjektivierungsforschung und Praxistheorie. Jüngste Publikation: Learning in and across Practices. Enablement as Subjectivation. In: Elizabeth Shove/ Allison Hui/Theodore Schatzki (Hg.): The Nexus of Practices: Connections, constellations, practitioners. London: Routledge, 2017, S. 8-23 (mit Thomas Alkemeyer). Kontakt: [email protected] Diegmann, Daniel, M.A., Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Universität Leipzig, Forschungsinteressen: diskursanalytisch informierte Schulforschung, Alteritätsforschung, Bildungsungleichheiten. Letzte Publikation: Schmidt,

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Melanie; Diegmann, Daniel: Geschlecht zur Sprache bringen. Performative Hervorbringungen von Geschlecht im Kontext schulischer Geschlechtertrennung, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, Jg. 7(2), Opladen: Verlag Barbara Budrich, 2015, S. 97-112. Kontakt: [email protected] Eickhoff, Verena, M.A., arbeitet als Referentin für diversitätsorientierte Lehre an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Universität zu Köln gilt ihr Forschungsinteresse den Bereichen Diversity und Organisation Studies, Hochschulforschung sowie Diskursanalyse. Letzte Publikation: Eickhoff, Verena/Schmitt, Lars: Herausforderungen hochschulischer Diversity-Politik. Für einen reflexiven, differenz- und ungleichheitssensiblen Umgang mit einem deutungsoffenen Phänomen. In: Fereidooni, Karim/Zeoli, Antonietta P. (Hg.): Managing Diversity: Die diversitätsbewusste Ausrichtung des Bildungs- und Kulturwesens, der Wirtschaft und Verwaltung. Wiesbaden: Springer VS, 2016, S. 199-228. Kontakt: [email protected] Fach, Wolfgang, Prof. Dr., geb. 1944, war bis 2011 Professor für Politische Theorie/Ideengeschichte an der der Universität Leipzig und dort als Prorektor auch ausgiebig mit »Bologna« befasst. Letzte Buchveröffentlichung: Regieren: Die Geschichte einer Zumutung. Bielefeld: transcript, 2016. Kontakt: [email protected] Gerhards, Helene, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Zu ihren Forschungsinteressen zählen konstruktivistische Theoriebildungen, Biopolitik und Regulierung der Biotechnologien, STS, Geschichte der Medizin sowie feministische politische Theorien. Letzte Publikation: Gerhards, Helene*/Jongsma, Karin*/ Schicktanz, Silke: The Relevance of Different Trust Models for Representation in Patient Organizations: Conceptual Considerations. In: BMC Health Services Research 2017, 17:474, S. 1-12. Kontakt: [email protected] Glück, Hannes, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Graduiertenkolleg Selbst-Bildungen und promoviert zum Begriff der Emanzipation bei Jacques Rancière. Er forscht zu zeitgenössischer politischer Theorie sowie zum Zusammenhang von Subjektivierung, Ästhetik und politischem Wandel.  Kontakt: [email protected] Hartz, Ronald, Dr. rer. pol., ist Privatdozent an der Technischen Universität Chemnitz und ab März 2018 an der University of Leicester tätig. Aktuelle

Autoren und Autorinnen

Forschungsinteressen: Kritische Management- und Organisationsforschung, Diskursanalyse- und Dispositivanalyse, alternative Arbeits- und Organisationsformen. Letzte Publikationen: Von anderen Organisationen – Ein Essay über Perspektiven kritischer Organisationsforschung. In: Managementforschung 27(1), 2017, S. 167-191. Diaz-Bone, Rainer/Hartz, Ronald (Hrsg.): Dispositiv und Ökonomie: Diskurs- und dispositivanalytische Perspektiven auf Organisationen und Märkte. Wiesbaden: Springer VS, 2017. Kontakt: [email protected] Heidenreich, Felix, Dr., wiss. Koordinator am  Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT)  der Universität Stuttgart; im akademischen Jahr 2017/2018 Alfred Grosser Gastprofessur am IEP in Paris, studierte Politikwissenschaften und Philosophie in Heidelberg, Paris und Berlin. Forschungsgebiete: Politische Theorie, Kulturphilosophie, Wirtschaftsethik und Kulturpolitik. Veröffentlichungen u.a: (als Hrsg.) Technologien der Macht – Zu Michel Foucaults Staatsverständnis, Baden-Baden: Nomos 2010; Grund, Gründe, Begründen: Metaphrologische und systematische Perspektiven auf die Politik des (Be-)Gründens, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie Vol. 10 (2016)/1, S. 145-166. (zusammen mit Gary S. Schaal): Einführung in die Politischen Theorien der Moderne, 3. Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2017.  Kontakt: [email protected] Marguin, Séverine, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Exzellenzcluster »Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor«? der HU Berlin und forscht an der Universität der Künste im Projekt? Autonomie und Funktionalisierung? Ihre Schwerpunkte sind Kunst-, Arbeits- und Wissenschaftssoziologie, Praxistheorie, Raumforschung sowie qualitative und experimentelle Methoden. Letzte Publikation: Collective artists: an actor on the margins of the global field of contemporary art, in: Andrea Glaser et al. (Eds): The Palgrave Handbook of the Sociology of Art and Markets, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2018. Kontakt: [email protected] Martinsen, Franziska, PD Dr., ist Privatdozentin an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Politischen Theorie und Ideengeschichte, Internationale Politische Theorie, Demokratietheorien, Theorien der Menschenrechte, Gender Theorie. Letzte Publikation: Staatsverständnisse in Frankreich, hrsg. zus. mit N. Campagna, BadenBaden: Nomos, 2018 (i.E.). Kontakt: [email protected]

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Flügel-Martinsen, Oliver, Prof. Dr., lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Bielefeld. Forschungsinteressen: Theorien des Politischen, Demokratie-, Gesellschafts- und Subjekttheorie, postmarxistische kritische Theorien, Dt. Idealismus und 19. Jh., Frz. Philosophie. Letzte Publikation: Befragungen des Politischen. Subjektkonstitution – Gesellschaftsordnung – radikale Demokratie, Wiesbaden: Springer VS, 2017. Kontakt: oliver.fluegel-martinsen@uni-bielefeld Michaeler, Matthias, Dipl.-Soz., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Soziologie und Sportsoziologie des Instituts für Sportwissenschaft an der Universität Oldenburg. Forschungsinteresse: Praxistheorien mit Fokus auf das Thema der Zusammenarbeit in und der Selbstorganisation von Praktiken am Beispiel des Volleyballs. Letzten Publikationen: Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann, Matthias Michaeler: Critique in Praxis. Arguments for a Subjectivation Theoretical Expansion on Practice Theory. In: Michael Jonas, Beate Litting (Hg.), Praxeological Political Analysis, London: Routledge, 2017. Matthias Michaeler: Selbstorganisation. Zur reflexiv-reflektierten Selbststeuerung von Praktiken. In: Jürgen Raab, Reiner Keller (Hg.), Wissensforschung – Forschungswissen. Beiträge und Debatten zum 1. Sektionskongress der Wissenssoziologie, Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 2016. Kontakt: [email protected] Müller, Christian, M.A., hat von 2004 bis 2011 in Freiburg, Basel und Barcelona Soziologie, Psychologie und Medienwissenschaft studiert. Sein Dissertationsprojekt entstand im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Freunde, Gönner, Getreue« der Universität Freiburg und unter der Betreuung von Professor Ulrich Bröckling. Es ist Anfang des Jahres unter dem Titel »Doing Jazz – Zur Konstitution einer kulturellen Praxis« im Velbrück-Verlag erschienen. Letzte Publikation: Mit manchen passiert es und mit manchen eben nicht – Jazzimprovisation und affektive Vergemeinschaftung. In: Müller, C./Edinger, S./Alvarado-Leyton, C. (Hrsg.): Freundschaft und Patronage. Eine Bilanz nach neun Jahren Erforschung sozialer Nahbeziehungen in historischer, anthropologischer und kulturvergleichender Perspektive. Göttingen: V&R unipress, 2017. Kontakt: [email protected] Peter, Tobias, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftlichen Zentrum Genealogie der Gegenwart der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Wissenschaftssoziologie, Soziologie der Inklusion und Exklusion, Theorie und Empirie individueller und kollektiver Subjektivierung. Zuletzt veröffentlicht: Universities and the Production of Elites. London: Palgrave Macmillan, 2017 (zus. mit Bloch, R., Mitterle,

Autoren und Autorinnen

A., Paradeise, C. [Eds.]); Akademische Entrepreneure. Der homo academicus zwischen Passion, Reputation und Projekt, in: Berliner Debatte Initial 28. Kontakt: [email protected] Ricken, Norbert, Prof. Dr., Professor für ›Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft‹ an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Philosophie der Erziehung. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Erziehungswissenschaft. Pädagogische Anthropologie und Subjektivationsforschung. Letzte Publikation: Ricken, Norbert/Rose, Nadine/Kuhlmann, Nele/Otzen, Anne: Die Sprachlichkeit der Anerkennung. Eine theoretische und methodologische Perspektive auf die Erforschung von ›Anerkennung‹. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 93(2), 2017, S. 193-235. Kontakt: [email protected] Schendzielorz, Cornelia, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie des Wertens und Bewertens, Praxistheorie, Wissenschaftssoziologie, Bildungs- Arbeitssoziologie und qualitative Methoden. Letzte Publikation: Berufliche Soft Skill Trainings: Aushandlungsraum einer sozial akzeptablen Subjektivität. Weinheim: Beltz Juventa, 2017. Kontakt: [email protected] Schmidt, Melanie, M.A., Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Universität Leipzig, Forschungsinteressen: Subjektivierungs- und anerkennungstheoretische pädagogische Forschung, Schulentwicklungsforschung, Schulsystemsteuerung, pädagogische Erkenntnispolitiken. Letzte Publikation: Schmidt, Melanie; Diegmann, Daniel: Geschlecht zur Sprache bringen. Performative Hervorbringungen von Geschlecht im Kontext schulischer Geschlechtertrennung, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 7(2), Opladen: Verlag Barbara Budrich, 2015, S. 97-112. Kontakt: [email protected] Schmincke, Imke, Dr., akademische Rätin am Institut für Soziologie der LMUMünchen, Forschungsinteressen: Feministische Theorie und andere kritische Gesellschaftstheorien, Körpersoziologie, Forschungen zur Sexualpolitik und zur Neuen Frauenbewegung. Letzte Publikation: Soziale Bewegungen. In: Gugutzer, Robert/Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hg.): Handbuch Körpersoziologie. Bd. 2: Forschungsfelder und Methodische Zugänge. Wiesbaden: VS Verlag, 2017, S. 245-257. Kontakt: [email protected]

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Schweitzer, Doris, Dr. phil., Ass. jur. Post-doc am EXC 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration«, Universität Konstanz Forschungsprojekt: »Die Gesellschaft im Recht. Juridische Soziologien im 19. Jahrhundert«. Forschungsschwerpunkte: Epistemologie und Genealogie soziologischer Gesellschaftsanalysen, Rechtssoziologie, Poststrukturalismus/Strukturalismus. Letzte Veröffentlichung: Die digitale Person: Die Anrufung des Subjekts im »Recht auf Vergessenwerden«. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 42 (3), 2017, S. 237–257. Kontakt: [email protected]

Soziologie Heidrun Friese

Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden Zur politischen Imagination des Fremden August 2017, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3263-7 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3263-1 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3263-7

Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.)

Die Welt reparieren Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis 2016, 352 S., kart., zahlr. farb. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3377-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3377-5

Carlo Bordoni

Interregnum Beyond Liquid Modernity 2016, 136 p., pb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3515-7 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Sybille Bauriedl (Hg.)

Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3238-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3238-9

Silke van Dyk

Soziologie des Alters 2015, 192 S., kart. 13,99 € (DE), 978-3-8376-1632-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1632-7

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics November 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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