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German Pages 319 Year 2013
Gelhard · Alkemeyer · Ricken Techniken der Subjektivierung
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Andreas Gelhard, Thomas Alkemeyer, Norbert Ricken (Hg.)
Techniken der Subjektivierung
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Publiziert mit Unterstützung des Forum interdisziplinäre Forschung der TU Darmstadt und des DFG-Graduiertenkollegs Selbst-Bildungen der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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Inhaltsverzeichnis VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ARBEIT AM BEGRIFF MARTIN SAAR Analytik der Subjektivierung. Umrisse eines Theorieprogramms . . . . . . . . . .
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NORBERT RICKEN Zur Logik der Subjektivierung. Überlegungen an den Rändern eines Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ULRICH BRÖCKLING Anruf und Adresse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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JAN MÜLLER ‚Anerkennen‘ und ‚Anrufen‘. Figuren der Subjektivierung. . . . . . . . . . . . . . .
61
JOSEF FRÜCHTL Spiele der Moderne. Ein philosophischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ROBERT SCHMIDT Zur Öffentlichkeit und Beobachtbarkeit von Praktiken der Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ANDREAS GELHARD Dispositive der Subjektivierung. Eine terminologische Notiz. . . . . . . . . . . . . 107 URTEILEN, PRÜFEN, ERZIEHEN RUBEN HACKLER Subjektivierung der Rechtsprechung? Vom forum internum zur (Sozial-)Psychologie des Richters im Straf- und Zivilrecht um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 FRIEDER VOGELMANN Verantwortung als Subjektivierung. Zur Genealogie einer Selbstverständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
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INHALTSVERZEICHNIS
KÄTE MEYER-DRAWE Von ‚Hänschen klein‘ zum ‚kleinen Hans‘. Prüfen als Subjektivationstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 ANDREAS KAMINSKI Wie subjektivieren Prüfungstechniken? Subjektivität und Möglichkeit bei William Stern und Martin Heidegger. . . . 173 SABINE REH Die Produktion von (Un-)Selbständigkeit in individualisierten Lernformen. Zur Analyse von schulischen Subjektivierungspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . 189 KÖRPER, DINGE, RÄUME NUMA MURARD Individuum, Subjekt und somebody. Subjektivierung als Körpererfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 THOMAS ALKEMEYER, MATTHIAS MICHAELER Subjektivierung als (Aus-)Bildung körperlich-mentaler Mitspielkompetenz. Eine praxeologische Perspektive auf Trainingstechniken im Sportspiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 KAI VAN EIKELS Sich entbehrlich machen: Subjektivität und Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . 229 STEFANIE DUTTWEILER Vom Treppensteigen, Lippennachziehen und anderen alltäglichen Praktiken der Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 CHRISTIANE THOMPSON, BRITTA HOFFARTH Was gehen uns die Dinge an? Ein Versuch über Materialität und Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 MARTIN KNÖLL Kontextbezogene digitale Spiele als Kommunikationsmittel in der Gesundheitsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 CLAUDIA GIROLA Zwischen erlittener und konstruierter Liminalität. Der Subjektivierungsprozess von obdachlosen Menschen in Frankreich. . . . . 285
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INHALTSVERZEICHNIS
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PETRA GEHRING Eine Topo-Technologie der Gefährlichkeit. Digitale Einsperrtechniken und sozialer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Zu den Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
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Vorwort Das Problem der Subjektivität ist für die Philosophie seit Descartes immer eine Provokation geblieben. Besonders deutlich zeigt sich das in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, wo der Anspruch, dieses Problem erstmals angemessen zu beantworten, und der Versuch, den Begriff des Subjekts endgültig loszuwerden, auf höchst unübersichtliche Weise ineinander gehen. Das vielleicht prägnanteste Beispiel bietet Heideggers Daseinsanalyse, die in ein und demselben Zug das Problem der Subjektivität zum Grundproblem des Philosophierens erklärt und den Begriff des Subjekts aufgibt. Folgt man Heidegger, so hat Descartes das denkende Ich als res cogitans mit der Solidität einer Sache ausgestattet, die als „Subjekt“ das Fundament für diverse philosophischer Grundlegungen von Kant bis Husserl lieferte.1 Heidegger reagiert auf diese unangemessene Versachlichung des Subjekts, indem er versucht, Subjektivität wieder in den Zusammenhang alltäglicher Lebens-, Handlungs- und Mitteilungsvollzüge zurückzuversetzen, und sie von jeder Konnotation der Innerlichkeit zu befreien. Er beansprucht damit, die Frage nach der „Subjektivität des Subjekts“ radikal neu zu stellen, lässt den Begriff des Subjekts in der gedruckten Fassung seiner Überlegungen aber fallen.2 Wenig später setzt in Frankreich eine ganze Welle mehr oder weniger polemischer Auseinandersetzungen mit den Grundlegungsunternehmen von Kant bis Husserl ein, die zunächst vor allem Hegel und Heidegger in Stellung bringen, um die klassischen Festkörpertheorien des Subjekts zu verabschieden.3 Diese Strömung argumentiert nicht nur nachdrücklich für die Unhintergehbarkeit der Relationen und Prozesse, in denen Subjektivität entsteht, sie öffnen das Feld auch so weit für historische, ethnologische, linguistische, psychologische und sozialwissenschaftliche Forschungen, dass man nicht länger von einer „philosophischen“ Debatte sprechen kann. Denker wie Merleau-Ponty und Lévi-Strauss, Althusser und Lacan, Bourdieu und Foucault bewegen sich mit großer Selbstverständlichkeit an den Rändern verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, ohne sich auf einzelne fachwissenschaftliche Fragestellungen festlegen zu lassen. Das philosophische Problem der Subjektivität ist nicht mehr, so könnte man die Grundhaltung dieser Autoren zusammenfassen, allein eine Domäne der Philosophie. 1 Descartes selber gebraucht den Ausdruck „subjectum“ noch nicht als Bezeichnung für das denkende Ich, sondern für die gedachten Sachen, das heißt in dem Sinne, wie wir heute von „Objekt“ sprechen: vgl. Meditationes de prima philosophia, übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers, Hamburg 2008, S. 73. 2 Die Philosophie des Subjekts wird in Sein und Zeit durch die Analytik des Daseins ersetzt. Dass dieses Programm dennoch als Radikalisierung der Frage nach der Subjektivität des Subjekts zu verstehen ist, erläutert Heidegger, kurz nach dem Erscheinen von Sein und Zeit, in seiner Freiburger Vorlesung des Wintersemesters 1928/29 (Einleitung in die Philosophie, Gesamtausgabe Bd. 27, Frankfurt am Main 1996). 3 Eugen Fink spricht in seinem Aufsatz „Bewußtseinsanalytik und Weltproblem“ mit milder Ironie von der „Festkörperphänomenologie“ seines Lehrers Husserl (in: Phänomenologie – lebendig oder tot?, herausgegeben von Eugen Fink, Karlsruhe 1969, S. 9-17).
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VORWORT
Was zunächst wie das ‚Verschwinden des Subjekts‘ (Foucault) aussieht und im philosophischen Diskurs der 1980er Jahre mit bisweilen überaus polemischer Aufmerksamkeit verfolgt wurde, erweist sich bei genauerer Betrachtung dann doch als eine Radikalisierung der Frage nach der Subjektivität des Subjekts: Es geht gerade nicht mehr um das souveräne Subjekt, das sich selbst als Bewusstsein und allem anderen als Bedingung der Möglichkeit einer jeden Erfahrung zu Grunde liegt, das klassische ‚sub-iectum‘ der Moderne; vielmehr zeigt sich in der ‚Wi(e)derkehr‘ des Subjekts eine zunehmend (in sich) gebrochene, vielfach bedingte und in sprachliche und leibliche, kulturelle und gesellschaftliche Kontexte eingebundene Subjektivität. Diesseits von Grundlegungsfragen ist längst deren Genese in den Blick geraten und unter dem Stichwort der ‚Subjektivierung‘ vielfach thematisch geworden. Kein Konzept hat die philosophische Kernfrage nach der Beschaffenheit des Subjekts so nachhaltig für die interdisziplinäre Forschung geöffnet wie das der Subjektivierung. Wer der Überzeugung ist, dass Subjekte nicht einfach „da“, sondern Produkt von Prozessen der Selbstbildung und Selbstformung sind, kann sich nicht mehr allein auf transzendentalphilosophische, sprachanalytische oder phänomenologische Argumente stützen, sondern muss die Techniken untersuchen, die an diesen Prozessen beteiligt sind. Dabei handelt es sich häufig um Techniken in einem weiten Sinn, der es gestattet, Intelligenz- und Kompetenztests, Feedback- und Kommunikationsverfahren, Methoden der Selbststeuerung, des Coachings und des Trainings als Techniken der Subjektivierung zu begreifen. All diese Techniken kommen nicht ohne materiellen Anordnungen, Hilfsmittel, Settings und Diskurse aus. Sie stützen sich auf Test- und Beobachtungsbögen, auf Kommunikations- und Lernprogramme, auf die unterschiedlichsten Formen von „Hardware“, seien es Sportgeräte oder Simulatoren. Insbesondere der letzte Punkt zeigt, wie eng inzwischen die Beziehungen zwischen Techniken der Subjektivierung und handfester Apparatetechnik sind. Dennoch gibt es einige klassische philosophische Unterscheidungen, an denen sich die Debatte über alle theoretischen Umbrüche hinweg orientiert. Dass ausgerechnet Foucaults Begriff der Subjektivierung zum gemeinsamen Titel der unterschiedlichsten Auseinandersetzungen mit dem Problem der Subjektivität werden konnte, liegt ganz sicher nicht an der begrifflichen Konsistenz seiner Analysen. Weit wichtiger war zweifellos, dass sich die Zweideutigkeit von Foucaults Begriff der Subjektivierung – die Spannung zwischen assujettissement und subjectivation – als Transformation der klassischen Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung lesen lässt.4 Es steht außer Frage, dass diese Unterscheidung ihren Einbau in Theorien der Subjektivierung nicht unbeschadet übersteht. Eine normative Theorie des freien Subjekts, die Autonomie gegen Heteronomie ausspielt, ist in dem von Foucault gesteckten Rahmen nicht mehr möglich. Dass die genealogi4 Exemplarisch für eine Analyse des disziplinierenden assujettissement ist Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1976; für eine Analyse antiker Praktiken der subjectivation ders., Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/82, Frankfurt am Main 2004.
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VORWORT
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sche Analyse von Praktiken der Subjektivierung sich dennoch mit den klassischen Anliegen der Herrschaftskritik verbinden lässt, zeigt sich zum Beispiel in Foucaults später Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft, deren Ziel ausdrücklich eine philosophische Kritik aller „Erscheinungen der Herrschaft“ ist.5 Entscheidend für das zweite Titelwort des Bandes – die Techniken – ist dabei, dass sich die diversen Prozeduren der Aufzeichnung, Archivierung, Übung, Prüfung, Disziplinierung und Kontrolle, die sich als Techniken, Technologien oder Dispositive der Subjektivierung beschreiben lassen, nicht allein der Seite der Selbst- oder der Fremdbestimmung, der Freiheit oder der Disziplinierung, der individuellen oder der gesellschaftlichen Produktion von Subjekten zuschlagen lassen. Aus Sicht einer Theorie der Subjektivierung kann nicht die Frage sein, ob Techniken zum Einsatz kommen, sondern ob sie Handlungsspielräume erweitern oder beseitigen, ob sie reversible Machtbeziehungen oder starre Herrschaftszustände stützen, ob sie die Möglichkeit einer anderen Praxis offen halten oder nicht. Daher auch der nahezu durchgehende Bezug aller Beiträge auf Konzepte, die Subjektivierung als ein Geschehen zwischen Selbst und Anderen lesbar machen: sei es Hegels Begriff der Anerkennung, Althussers Szene der Anrufung, der systemtheoretische Begriff der Adressierbarkeit oder das Konzept sozialer Praktiken. Der vorliegende Band enthält Beiträge zweier Tagungen, die sich dem Titelthema mit je unterschiedlicher Gewichtung von Seiten des Subjektivierungsbegriffs und von Seiten der konkreten Subjektivierungstechniken näherten. Der internationale Workshop „Wie Menschen zu Subjekten gemacht werden und sich selbst dazu machen“, der vom DFG-Graduiertenkolleg Selbst-Bildungen: Praktiken der Subjektivierung in interdisziplinärer und historischer Perspektive im Dezember 2011 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg durchgeführt wurde, fokussierte vor allem auf grundsätzliche Fragen der Theorie und Methodologie, während sich der Workshop „Techniken der Subjektivierung“, den das Forum interdisziplinäre Forschung der Technischen Universität Darmstadt in Kooperation mit dem Graduiertenkolleg Selbst-Bildungen im Februar 2012 in Darmstadt veranstaltete, den Schwerpunkt auf die konkreten Praktiken und Techniken der Subjektivierung legte. Es lag daher nahe, die Beiträge beider Veranstaltungen zu kombinieren, um einen möglichst umfassenden Überblick über das Problemfeld zu bieten. Die erste Sektion des Bandes ist der Arbeit am Begriff gewidmet. Sie versammelt grundlagentheoretische Beiträge, die das Theorieprogramm einer Analytik der Subjektivierung vorschlagen (Martin Saar), die Grenzen des Konzepts ausloten (Norbert Ricken) und die Konstellation von Anrufung, Anerkennung und Adressierung erkunden (Ulrich Bröckling und Jan Müller). Weiterführende methodologische Überlegungen zu diesem Feld finden sich in einer Reihe weiterer Beiträge der folgenden Sektionen. Insbesondere Louis Althussers Begriff der Anrufung wird dabei immer wieder in Anschlag gebracht. Bedenkt man, wie stark Judith Butlers Auseinandersetzung mit Althusser zur Verbreitung des Konzepts beigetragen hat, so 5 Michel Foucault, „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“, in: Schriften IV, Frankfurt am Main 2005, S. 875-902, hier: S. 902.
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VORWORT
kann Martin Saars Entscheidung, sein Theorieprogramm im Anschluss an Althusser, Foucault und Butler zu formulieren, als exemplarisch für eine breite Strömung in der Subjektivierungsforschung gelten. Alternative Vorschläge, den kollektiven Charakter von Subjektivierungsprozessen zu analysieren, bieten philosophische Theorien des Spiels (Josef Früchtl) und praxissoziologische Überlegungen zur Beobachtbarkeit von Subjektivierungspraktiken (Robert Schmidt). Wie sich die Beziehung von Subjektivierungstechnik und Selbsterfahrung mit Hilfe der späten Texte Foucaults denken lässt, zeigt ein abschließender Beitrag über Dispositive der Subjektivierung (Andreas Gelhard). Die Beziehungen der Beiträge des ersten Teils zu den beiden folgenden, stärker empirisch orientierten Sektionen sind vielfältig. Die Arbeit am Begriff wird in diesen beiden Teilen nicht nur vorausgesetzt, sondern auch fortgeführt, erweitert und in Frage gestellt. Dabei markieren die Schlagworte Urteilen, Prüfen, Erziehen ein Feld, das schon für die ersten einschlägigen Arbeiten Foucaults von besonderer Bedeutung war. Diese Arbeiten bieten nach wie vor eine tragfähige Ausgangsbasis für die Analyse pädagogischer Subjektivierungstechniken (Käte Meyer-Drawe). Foucaults Orientierung an der klinischen Psychologie und insbesondere der Psychoanalyse hat ihn allerdings davon abgehalten, sich eingehender mit der angewandten Psychologie auseinanderzusetzen, die um 1900 eine machtvolle Alternative etabliert (Andreas Kaminski). Auch die Juristen der Zeit um 1900 diskutierten die Neuerungen der angewandten Psychologie, zeigten aber wenig Neigung, die vorgeschlagenen Konzepte in die Praxis umzusetzen (Ruben Marc Hackler). Der für jede Analyse der Subjektivierung zentralen Frage nach dem Zusammenhang von Selbst- und Fremdbestimmung widmen sich ein – sehr grundsätzlich begriffsanalytischer – Beitrag zum Konzept der Verantwortung (Frieder Vogelmann) und ein – sehr praktikenorientierter – Beitrag zur schulischen Erziehung (Sabine Reh). Dieser Einsicht, dass Subjektivierung nicht einseitig als ein lineares Produktions- und Unterwerfungsgeschehen zu verstehen ist, sondern auch als ein Prozess begriffen werden muss, in dem man sich selbst zu einem – für andere er- und anerkennbaren sowie zu Selbstpositionierung und Reflexion fähigen – Subjekt macht, geht das dritte Kapitel unter der Überschrift Körper, Dinge Räume nach. Dabei werden in den dort versammelten Beiträgen die im klassischen Subjektdiskurs entstandenen und in den Konzepten der Subjektivierung immer auch latent wiederholten Einseitigkeiten der Vernunft- und Reflexionsdominanz zugunsten der Berücksichtigung körperlich-materieller und sozialer Dimensionen korrigiert (programmatisch: Numa Murard; Christiane Thompson und Britta Hoffarth). Dass sich tiefgehende theoretische Einsichten über die Struktur von Subjektivierungstechniken in thematischen Querschnittsstudien gewinnen lassen, zeigen die Beiträge über Trainingstechniken im Sport (Thomas Alkemeyer und Matthias Michaeler), gesellschaftliche Arbeitsteilung (Kai van Eikels) und die Funktionsweise von Ratgeberliteratur (Stefanie Duttweiler). Den Zusammenhang zwischen Subjektivierung und Raum erschließen die eher praxisorientierten Beiträge zu Urban Health Games (Martin Knöll) und Obdachlosigkeit in Frankreich (Claudia Girola); die Analyse digitaler Einsperrtechniken (Petra Gehring) öffnet das Problem des sozialen Raums erneut
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VORWORT
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auf die Frage nach der Macht und schließt den Band mit einer Analyse, die zahlreiche Beziehungen zu den konzeptionellen Überlegungen des ersten Teils aufweist. Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren, dass sie sich auf die Diskussion über Techniken der Subjektivierung eingelassen, die Anregungen des Gesprächs in ihre Arbeit aufgenommen und ihre Vorträge schließlich – trotz Zeitdruck und großer Arbeitsbelastung – zu sorgfältig formulierten Aufsätze ausgearbeitet haben. Ebenso herzlich danken wir Robert Mitschke (Oldenburg) und Stefan Gücklhorn (Darmstadt), die in geduldiger Arbeit die vorliegenden Beiträge in druckfertige Manuskripte verwandelt haben; ohne ihre uneigennützige Unterstützung wäre der Band nie verwirklicht worden. Gedankt sei schließlich denjenigen, die die zwei Tagungen in Oldenburg und Darmstadt organisatorisch auf die Beine gestellt und damit das Forum für den so anregenden Austausch eröffnet haben; stellvertretend seien genannt: Ines Splinter (Bremen), Milena Weber (Oldenburg), Heike Krebs und Mariam Serob-Sarkis (beide Darmstadt).
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ARBEIT AM BEGRIFF
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MARTIN SAAR
Analytik der Subjektivierung Umrisse eines Theorieprogramms Einleitung: Die Frage nach der Subjektivierung Wonach fragt die Frage nach der Subjektivierung? Und was stellt sicher, dass es eine sinnvolle Frage ist, auf die es viele sinnvolle Antworten gibt? Wer nach der Subjektivierung fragt, nach dem Subjekt-werden von Subjekten, will nicht wissen, wer oder was das Subjekt ist, sondern, wie es geworden ist. Aber damit es sinnvolle Antworten auf diese Frage geben kann, muss man bestimmte Annahmen über das Subjekt (oder über Subjektivität) treffen, deren wichtigste die grundlegende Bestimmung ist, dass das Subjekt (oder seine Subjektivität) überhaupt geworden sein, d.h. gemacht, erzeugt und produziert werden kann. Diese Weise, über Subjekte in Hinsicht auf ihre Subjektivierung zu sprechen, enthält oder unterstellt also schon begriffliche oder philosophische Vorentscheidungen bezüglich des Subjektbegriffs oder der Idee von Subjektivität, nämlich nicht zuletzt diejenige, dass vom Subjekt nicht bloß in einer substanziellen, formalen oder transzendentalen Weise zu sprechen ist, in der es keine Rolle spielt, wie das Subjekt entstanden ist. Die Theorie der Subjektivierung ist also, mit anderen Worten, keine (klassische) Subjektphilosophie, sondern eine Perspektive, der es um das (konkrete) Werden und Gewordensein von (konkreten) Subjekten geht.1 Es ist möglich, diese Prozesse mit Hilfe einer Vielzahl theoretischer Mittel zu beschreiben und zu analysieren, weil das Werden von Subjekten in der Tat ein Schnittpunktthema zwischen Bewusstseinsphilosophie, Psychoanalyse und Phänomenologie, Sozialpsychologie, Sozialisationstheorie und historischer Anthropologie ist und es sich nicht von selbst versteht, dass der philosophische Zugriff hier Priorität hat. Ich möchte im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit in neun Thesen die basalen theoretischen Prämissen desjenigen philosophischen Theoriezusammenhangs aufführen und kurz erläutern, der am explizitesten als „Theorie der Subjektivierung“ artikuliert ist, nämlich derjenigen Entwürfe zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus von Louis Althusser zu Michel Foucault und Judith Butler, die 1 Für einführende Überblicke zum Subjektbegriff vgl. Hélène Védrine, Le sujet éclaté, Paris 2000, Andreas Reckwitz, Subjekt, Bielefeld 2008, Martin Saar, „Subjekt“, in: Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hg.), Politische Theorie: 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, 2. Aufl., Wiesbaden 2011, S. 356-371, ders., „Subjekt (Subjektivierung)“, in: Martin Hartmann/Claus Offe (Hg.), Lexikon der politischen Philosophie und Theorie, München 2011, S. 316-317, für die Differenz der Subjektivierungsthese zur klassischen Philosophie des Subjekts bes. Christoph Menke, „Subjekt, Subjektivität“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar 2003, Band 5, S. 734-787.
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MARTIN SAAR
zu recht – neben den klassischen Positionen von Hegel, Nietzsche und Freud – der einschlägige Bezugspunkt der meisten heutigen Diskussionen um Subjektivierung sind. Diese knappe Erinnerung an die Vorschläge oder Thesen dieser Theorien soll den Rahmen bestimmen, in dem eine bestimmte und zwar theoriepolitisch gesehen dominante Weise des Redens über Subjektivierung stattfindet. Sie ist knapp und thetisch und wird keine ausführlicheren Diskussionen der drei Positionen geben. Zeigen soll sich aber eine kohärente und entwickelte Perspektive auf Subjektivierungsprozesse, die weniger Substanzielles über Subjektivität aussagt als vielmehr das empirisch-historische Erforschen spezifischer Subjektwerdungen möglich macht und die erste Parameter einer Methodologie solcher Erforschungen vorschlägt; in diesem Sinn kann man sie, mit den Worten einer berühmten methodischen Unterscheidung Foucaults, eher als „Analytik“ statt als „Theorie“ verstehen.2 Denn mit ihrer Hilfe werden Subjektivität und Subjektivierung erforschbar, und dies wird sich nur im interdisziplinären und multidimensionalen Zusammenspiel verschiedener Zugänge einlösen lassen.
1. Althusser: Subjektproduktionen Louis Althussers spätstrukturalistische Theorie der Ideologie ist keine freistehende Theorie der Subjektivierung, dennoch sind in ihr schon fast alle zentralen Elemente einer solchen Konzeption enthalten, und zu Recht hat man sie als Urszene oder erste Artikulation der späteren poststrukturalistischen Subjektivierungstheorien lesen können. Sie hat auch viele andere Funktionen, die sich auf die innermarxistische Theoriebildung beziehen, etabliert aber drei zentrale und allgemeine Thesen über das Werden des Subjekts, die tatsächlich zur theoretischen Matrix vieler späterer Theorien geworden sind.3 Denn auch wenn Althusser im sehr spezifischen Kontext der Frage nach der Reproduktion von Herrschaftsstrukturen oder der „Unterwerfung unter die herrschende Ideologie“ über die Rolle des Subjekts 2 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1979, S. 102, und zu den werkgeschichtlichen Fragen Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997. Eine für mich vorbildliche Rekonstruktion der Methodologie der Subjektivierungsanalyse im Anschluss an Foucault gibt Ulrich Bröckling, „Genealogie der Subjektivierung – ein Forschungsprogramm“, in: ders., Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007, S. 19-45; denselben Darstellungsweg entlang der drei Theorien wählt Guillaume Le Blanc, „Etre assujetti: Althusser, Foucault, Butler“, in: Actuel Marx 36:2 2004, Dossier „Marx et Foucault“, S. 45-62. 3 Vgl. für diese theoriegeschichtlichen Bezüge Michèle Barrett, The Politics of Truth: From Marx to Foucault, Stanford 1991, zur Kontur von Althussers Ideologietheorie Thomas Lemke, „Reproduktion, Repression und Ritual. Louis Althusser und die ‚Ideologie der Ideologie‘“, in: Ästhetik und Kommunikation 31:109 2000, S. 105-110, Isolde Charim, Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologietheorie, Wien 2002, und Simon Burkhardt/Corina Färber, „Komplexität und Ambivalenz. Elemente der Kritik im Denken Louis Althussers“, unveröffentl. Ms., Frankfurt am Main 2011.
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nachdenkt, formuliert er doch implizit und gewissermaßen en passant drei Grundsätze der Erforschung von Subjektivierung.4 (1) Das Subjekt ist gemacht. Althusser setzt voraus, dass die Frage nach dem Subjekt keine nach den bloßen Bewusstseinsstrukturen oder den Rollen und Selbstverständnissen bleiben darf, sondern sich auf die konkreten Prozesse und Prozeduren richten muss, in denen bestimmte („bürgerliche“) Subjekte entstehen und dann eine funktionale Rolle in der Reproduktion von Macht- und Herrschaftsstrukturen übernehmen können. Dieses „Werden“ des Subjekts ist aber als ein Machen, ein Erzeugen oder Konstituieren zu verstehen, das von bestimmten Institutionen (oder „Apparaten“) von Erziehungseinrichtungen bis zu den Medien ausgeübt wird und in bestimmten Praktiken oder „Ritualen“5 seinen Ort hat. Das Subjekt ist also Erzeugnis, Produkt einer Praxis; das Werden des Subjekts, die Subjektivierung ist ein Machen des Subjekts und sollte als solche betrachtet, analysiert und kritisiert werden.6 (2) Das Subjekt ist ([von] der Macht) unterworfen. Althussers berühmtester Beitrag, seine Theorie der Anrufung (interpellation), enthält neben vielen hochkomplexen Elementen eine sehr grundlegende Lektion, nämlich die, dass die Urszene der Subjektivierung eine der Macht und radikalen Asymmetrie ist. Sowohl in seinem berühmten, zum Topos gewordenen Beispiel einer Anrufungsszene durch einen Polizisten als auch in der weiteren Erläuterung der Struktur von solchen Prozessen ist deutlich, dass Hierarchie und Machtgefälle eine strukturelle Voraussetzung dieser Akte sind, in denen Identitäten, Rollen und Verantwortlichkeiten zugeschrieben und wirksam werden.7 Die ideologische „Wiedererkennung“ oder Selbst-Anerkennung ist abhängig von dem Subjekt selbst vorgängigen, vorgeordneten Instanzen oder „einer höheren Autorität“, die in einer konkreten Situation repräsentiert werden, wie z.B. von der staatlichen Gewalt in Gestalt des Polizisten oder von Vorgesetzten oder vom „großen“ Subjekt im Rahmen eines religiösen Systems.8 Asymmetrie und Vorgängigkeit sind Voraussetzungen eben jener Kraft zur Subjektivierung, die sich als eine Szene der „Unterwerfung [assujettissement]“ unter eine Macht analysieren lässt.9 Damit wird sich also die Analyse von Subjek4 Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate (Notizen für eine Untersuchung)“, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1. Halbband, hg. von Frieder Otto Wolf, Hamburg 2010, S. 37-102, hier S. 43. 5 Vgl. ebd., 43, 82 ff. 6 Althusser markiert selbst den mehrdeutigen Status der Rede von der Konstitution: „Wir sagen: Die Kategorie des Subjekts ist konstitutiv für jede Ideologie. Aber gleichzeitig fügen wir sogleich hinzu, dass die Kategorie des Subjekts nur insofern konstitutiv für jede Ideologie ist, als jede Ideologie die (sie definierende) Funktion hat, konkrete Individuen zu Subjekten zu ‚konstituieren‘“ („Ideologie und ideologische Staatsapparate“, S. 85, Hervorh. im Orig.). Eine hervorragende Diskussion des subjektkonstitutiven Zusammenhangs von Anrufung und Anerkennung bei Althusser gibt Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Frankfurt am Main 2010, S. 78-90. 7 Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, S. 85, 88. 8 Ebd. S. 87, 98. 9 Ebd., S. 96 (frz. „Idéologie et appareils idéologiques d’état“, in: ders., Positions (1964-1975), Paris 1976, S. 67-125, hier S. 120). Diese Asymmetrie und Vorgängigkeit begründen auch die seltsa-
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tivierung notwendigerweise als Machtanalyse, als Unterwerfungsanalyse begreifen lassen. (3) Das Subjekt wird ‚frei‘ gemacht. Auch wenn für Althusser die Urszene der Subjektivierung eine Szene der Heteronomie (oder des Gemacht-werdens) ist, so ist es doch auch eine Leistung dessen, was er Ideologie nennt und als subjektivierende Instanz par excellence beschreibt, „freie Subjekte“ zu konstituieren. Er notiert die „Mehrdeutigkeit des Ausdrucks Subjekt“, in dem ja gleichermaßen Freiheit und Unterwerfung konnotiert sind, und genau diese Verkopplung hält Althusser, und darin bereitet er schon die Überlegungen von Foucault und Butler vor, für die eigentlich interessante Problematik des Subjekts, das sich als unterworfenes für „frei“ hält, ja sogar „frei“ ist zur Übernahme der ideologische Funktionen: „Das Individuum wird als (freies) Subjekt angerufen, damit es sich freiwillig den Anordnungen des SUBJEKTS unterwirft, damit es also (freiwillig) seine Unterwerfung akzeptiert und folglich die Gesten und Taten seiner Unterwerfung ‚vollzieht‘. Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung [que par et pour leur assujettissement]. Eben deswegen funktionieren sie ‚ganz von selber‘.“10 Der leicht denunziatorische Ton dieser Formulierung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die hier gemeinte „Freiheit“ zwar ideologisch, aber nichtsdestoweniger „real“ und wirksam ist. Es entsteht in der Subjektivierung von Individuen, wie Althusser sie versteht, nicht nur Zwang, sondern tatsächlich auch Handlungsfähigkeit (oder agency) für dieses Subjekt. Auch dieser Gedanke lässt sich leicht auch über den engeren Kontext der Althusserianischen Konzeption der Ideologie hinaus generalisieren: Subjektivierung ist eine Szene der Macht, aus der Freiheit und (in einem gewissen Sinn) freie Subjekte hervorgehen.
2. Foucault: Subjektgeschichten Es ist offensichtlich und wohlbekannt, dass die hier Althusser zugeschriebenen Thesen auch ihren Platz im Denken Michel Foucaults haben, das geradezu auf den Prämissen der Gewordenheit, Machtdurchwirktkeit und Konstituiertheit des Sub-
me Zeitlichkeit, die sich aus der Außenperspektive beschreiben lässt: Individuen sind „immer schon Subjekte“ (ebd., S. 90), da sie schon bestimmten Kategorisierungen, Zuschreibungen und sozialen Beziehungen ausgesetzt sind und erst in ihnen ihre Selbstverständnisse ausbilden. Diese Überlegungen sind auch im Zusammenhang der psychoanalytischen Motive zu sehen, auf die Althusser hier aufbaut; vgl. ebd., S. 91, und ausführlicher Louis Althusser, Freud und Lacan, Berlin 1976, und dazu Robert Pfaller, Althusser. Das Schweigen im Text. Epistemologie, Psychoanalyse und Nominalismus in Louis Althussers Theorie der Lektüre, München 1997, S. 74-157. 10 Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, S. 98 (frz. S. 121, Hervorh. im Orig.). Zum Doppelsinn des Worts „Subjekt“ vgl. Michel Foucault, „Subjekt und Macht“, ders., Schriften. Dits et Écrits, hg. von Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt am Main 2004, Bd. IV, Nr. 306, S. 269-294, hier S. 275, und Judith Butler, „Subjekt“ in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/ Beate Rössler (Hg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin/New York 2008, Bd. 2, S. 1301-1307, hier S. 1301.
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jekts aufbaut. Deshalb kann man sein gesamtes philosophisch-historisches Werk, seit den psychologiekritischen Anfängen und inklusive der vermeintlich den „Tod des Subjekts“ proklamierenden Schriften als das Projekt einer anti-subjektphilosophischen Revision des Subjektbegriffs lesen, weil dies, wie er selbst in einem späten Text festgestellt hat, das „umfassende Thema [s]einer Arbeit“ war.11 In seinem Werk finden sich in verschiedenen Anläufen und an verschiedenen Gegenständen entwickelte theoretische Instrumente dafür, historische Konstitutionsbedingungen, soziale Funktion, epistemischen Ort und erfahrungsmäßige Zugänglichkeit des Subjekts zu bestimmen.12 Diese im Vergleich mit Althussers Anstößen nun tatsächlich entfaltete Analytik der Subjektivierung folgt einigen relativ allgemeinen Grundsätzen, die sich in Analogie zu den schon genannten abstrakt formulieren lassen. (4) Das Subjekt ist historisches Produkt. Subjektivierung ist ein Prozess, dessen Form und Parameter geschichtlichem Wandel unterliegen. Diese radikale Historisierung von Subjektivität verschärft den Gemacht- und Gewordenheitsaspekt, der schon Althussers Perspektive ausgezeichnet hat, entscheidend. Während dieser noch gewissermaßen abstrakt ein „allgemeines“ nichtzeitliches Verhältnis von Ideologie und Subjektivität angenommen hat, pluralisiert Foucault noch die „Form“ des Subjekts.13 Diese Historisierung, die Foucault immer wieder auch auf eine Inspiration durch Nietzsche zurückführt, „zersetzt die Einheit des Subjekts“ und fragt damit nach den Anfängen, Ursprüngen, Herkünften spezifischer (und eben nicht universaler) Formen von Subjektivität.14 Methodisch bedeutet dies, dass die Analyse von Subjektivierung oder Subjektentstehung in erster Linie ein historisches Projekt, eine Aufgabe der (auf eine bestimmte Weise verstandenen) Geschichtsschreibung (oder Genealogie) ist und damit Subjektgeschichte, werden muss; und dies ist bekanntlich der Weg, den Foucault selbst in seinen eigenen Arbeiten eingeschlagen hat.15 (5) Das Subjekt ist Schnittpunkt einer Vielzahl von Bestimmungskräften. Subjektivierung ist ein mehrdimensionaler Prozess. Dass Subjekte als Produkte von Geschichte verstanden werden, entreißt der (klassischen) Philosophie die Deutungs11 Foucault, „Subjekt und Macht“, S. 270. 12 Vgl. ausführlicher dazu Martin Saar, „Genealogie und Subjektivität“, in: Axel Honneth/ders. (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt am Main 2003, S. 157-177, und ders., Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main/New York 2007, S. 159-163. 13 Vgl. Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, S. 72 f., Foucault, „Subjekt und Macht“, S. 280, und dazu Martin Saar, „Nachwort: Die Form des Lebens. Künste und Techniken des Selbst beim späten Foucault“, in: Michel Foucault, Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 321-343. 14 Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: ders., Schriften, Bd. II, Nr. 84, S. 166-191, hier S. 189. 15 Zum historischen Charakter von Foucaults Philosophieren vgl. Paul Veyne, Foucault. Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt am Main 1992, und Ian Hacking, „Historical Ontology“, in: ders., Historical Ontology, Cambridge 2002, S. 1-26, zur Bedeutung Nietzsches für Foucault exemplarisch Michael Mahon, Foucault’s Nietzschean Genealogy: Truth, Power, and the Subject, Albany 1992, und Saar, Genealogie als Kritik, S. 159-203.
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hoheit über Subjektivität. Foucault insistiert nun darauf, dass auch die traditionelle Geschichtswissenschaft noch längst nicht in der Lage zu ihrer Analyse ist; seine eigenen historischen Analysen über Wahnsinn, Delinquenz, das Sexualitätsdispositiv, Bevölkerungspolitik und Ethosformen haben diese Methoden experimentell und an spezifischen Gegenständen entwickelt. Ihre wichtigste Lektion liegt in der Einsicht in den Mehrebenencharakter von Subjektivität, die eben weder reines epistemisches Produkt von Wissensordnung, noch reines Erzeugnis von Machtregimes, noch bloßer Gegenstand ethischer Selbstkonstitution ist, sondern eine komplexe Einheit aus solchen ganz heterogenen Bestimmungskräften. Die Rede von drei „Gebiete[n]“ oder „Achsen“ genealogischer Analyse in einem späten Interview hat genau diese Funktion der methodologischen Präzisierung:16 Die historische Analyse spezifischer Subjektivierungen wird diese als Zusammenspiel von Formungsprozessen auf der Ebene von Wissens-, Macht- und Selbstführungsformen verstehen. Jedes konkrete Subjekt steht und entsteht in Ordnungen des Wissens, der Macht und der Selbstführung, die ihrerseits historisch spezifisch sind. Subjektivierung ist also nicht der eine große Vorgang (etwa der „Unterwerfung“ unter ein Gesetz, wie es Althusser im eindeutigen Anschluss an Lacan nahe legt), sondern ein mehrdimensionaler Prozess, in dem das Zum-Subjekt-werden für sich und für andere mit vielfachen Formen der Bezugnahme auf das Subjekt durch sich selbst und durch andere – und damit zugleich mit Formen der „Objektivierung“ – zusammenspielt.17 Damit sind die Genealogien der Subjektwerdung notwendigerweise Geschichte im Plural, sie müssen nämlich mindestens auf den drei Ebenen des Wissensordnungen, der Machtbeziehungen und der Selbstverhältnisse angesiedelt sein; sie sind also notwendig Subjektgeschichten im Plural. (6) Das Subjekt wird konstruiert und konstituiert sich (immer) zugleich (selbst). Subjektivierung ist gleichzeitig in den beiden Perspektiven und Wirkungsrichtungen des Außen und des Innen zu verstehen. Vor allem in seinen späten Vorlesungen, kleineren Schriften und letzten beiden Monographien, dem zweiten und dritten Band der Geschichte der Sexualität, legt Foucault besonderen Wert auf die dritte „Achse“ oder Ebene, die der Selbstbeziehung des Subjekts, der Selbstführung oder des „Ethos“, d.h. der Haltung, mit der sich das Subjekt zu sich selbst verhält. Auch wenn es zunächst so klingen könnte, als führe dies ältere klassische subjektphilosophische Topoi (wie Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein etc.) wieder ein, wird doch in den konkreten Analysen klar, dass es Foucault erneut um eine Alternative zur rein philosophischen Beschreibung des Subjekts geht, nämlich um die praktische, konstitutive Rolle, die das Subjekt bei der eigenen Subjektformung spielt.18 Diese 16 Michel Foucault, „Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit“ (Interview mit H.L. Dreyfus/P. Rabinow), in: ders., Schriften, Bd. IV, Nr. 344, S. 747-776, hier S. 759. 17 Vgl. Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82), hg. von Frédéric Gros, Frankfurt am Main 2004, S. 269, 592-594. 18 Vgl. bes. Foucault, „Zur Genealogie der Ethik“, S. 773-776, und Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 15-17, 32-34; dies betrifft auch die Rolle der Philosophie selbst, die hier nun im Anschluss an die historischen Arbeiten von Pierre Hadot selbst als praktisches Projekt interpretiert wird; vgl. hierzu Saar, „Nachwort“.
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vielfältigen und auch historiographisch noch nicht ausgeschöpften Analysen von antiker „Selbstsorge“ und „Selbstkultur“, von epistemischen und meditativen Praktiken, in denen sich das Erkenntnissubjekt zum Ort einer Erfahrung der Wahrheit macht, und der Haltungen und Beherrschungsleistung, mit denen sich das Subjekt im Verhältnis zu sich selbst zur Instanz einer Erfahrung macht, isolieren oder fokussieren diesen unverzichtbaren aktiven Part oder Eigenanteil des Subjekts an der eigenen Subjektwerdung.19 Die Lektion für Subjektivierungsanalysen ist anspruchsvoll: Sie dürfen nicht vom selbsttätigem, in einem gewissen Sinn „freien“ Moment in der Subjektivierung abstrahieren, in dem die Instanz oder Quelle der Subjektivierungskraft das Subjekt selbst ist, das sich auf sich selbst zurückwendet oder sich „faltet“, wie es Deleuze verbildlicht hat.20 Denn in Techniken oder Praktiken des Selbst und in Arbeit an sich selbst macht sich das Subjekt zum Gegenstand von (Selbst-)Formung. Foucaults eigene historische Arbeiten und seine methodologischen Reflexionen können also zur Formulierung einer allgemeinen Rahmentheorie historischer Subjektivität oder einer „Geschichte der ‚Subjektivität‘“ verwendet werden, die allerdings ihre systematischen Pointen erst in Analysen konkreter Subjekt- oder Subjektivierungsformen findet.21 Die Frage nach dem Subjekt ist nun endgültig eine historische geworden; möglich geworden ist dies durch eine pluralisierende, temporalisierende, praxisbezogene Dezentrierung des Subjektbegriffs.
3. Butler: Subjektkomplikationen Auch im Fall der Subjekttheorie von Judith Butler wäre es etwas künstlich, sie isoliert und in Abgrenzung zu den schon genannten Überlegungen zu beschreiben, denn alle von ihnen sind auch hier im Spiel, und viele Teile von Butlers Werk lassen sich als Weiterführungen und Reformulierungen v.a. Foucaultscher Motive verstehen.22 Dennoch lassen sich ihren Schriften auch einige neue, zusätzliche Vorschläge zum Verfahren einer Subjektivierungsanalyse entnehmen, die einige neue Akzentsetzungen und Hinsichten ergeben. 19 Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt am Main 1986, S. 10. 20 Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt am Main 1992, S. 139. 21 Michel Foucault, „Foucault“, in: ders., Schriften, Bd. IV, Nr. 345, S. 776-782, hier S. 779. 22 Vgl. bes. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 143-165, dies., Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001, S. 80 f., dies., „Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50:2 2002, S. 249-265, dies., „Noch einmal: Macht und Körper“, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt am Main 2003, S. 52-67; für ausführlichere Erläuterungen von Butlers Subjektivierungskonzeption vgl. Sabine Hark, Deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität, 2. Aufl., Opladen 1999, und Amy Allen, „Dependency, Subordination, and Recognition: Butler on Subjection“, in: dies., The Politics of Our Selves: Power, Autonomy, and Gender in Contemporary Critical Theory, New York 2008, S. 72-95.
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(7) Subjektivierung vollzieht sich im Medium des Sprache und der Körpers. Butlers von Foucault und Derrida gleichermaßen inspirierte Überlegungen zur Performativität von Identität und zur Materialisierung von Bedeutung im und am Körper sind Reformulierungen, vielleicht sogar Verschärfungen der praxis- und konstitutionstheoretischen Prämissen, die schon genannt wurden. Aber nicht zuletzt durch die zeitweise Konzentration auf den Fall geschlechtlicher/vergeschlechtlichender Normen und Identitätskonstruktionen, an dem Butler zunächst ihr Subjektverständnis ausgearbeitet hat, tritt klarer hervor, in welchem Ausmaß Subjektivierung einerseits das Erscheinen-Lassen und Zur-Realität-Bringen einer sprachlichen, „grammatischen“ Figur ist, nämlich die Konstitution eines Etwas, das „ich“ sagen kann, während es mit den anderen und in die Sprache verstrickt ist.23 Andererseits erscheint dieses Subjekt immer auch verkörpert, sichtbar, opak und verräumlicht. Subjektivierung als Prozess zeitigt also Effekte auf beiden Ebenen; Diskursivierung und Verkörperung des Subjektiven sind die zwei verknüpften Register, in denen das Subjekt als bestimmtes, benennbares und identifizierbares auftaucht. Folglich muss ihre Analyse immer auch Sprachkritik und immer auch die Untersuchung von Materialisierungsprozessen sein. (8) Subjektivierung hat eine psychische Dimension. Anders als und gegen Foucault, bei dem die psychologische Rede über das Subjekt selbst immer schon Teil des Problems, nicht der Lösung ist, meint Butler auf gewisse Anleihen bei psychoanalytischen Theorien nicht verzichten zu können, erläutert sie (zumindest in einem eher jüngeren Strang ihrer Schriften) Subjektivierung auch als das Etablieren der „Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Leben“ bzw. „Verinnerlichung“.24 Die Wirksamkeit subjektivierender Normen lässt sich auch als psychisches Geschehen, ja, geradezu als Psychisch-Werden der Macht oder das Wirken eines „Unbewussten der Macht selbst“ verstehen.25 Damit werden nun an Subjektivierungsanalysen in der Tat sehr hohe Anforderungen gestellt (und wieder etwas weiter von historischer Praxis entfernt), sollen doch nun auch psychische Ambivalenz, Objektbesetzungen, Affektdynamiken und das Imaginäre unverzichtbare Gegenstände der Analyse werden. Subjektivierungsgeschichte sind also auch Psycho-Historien.
23 Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 210 f., dies., „Subjekt“, S. 306 f. 24 Butler, Psyche der Macht, S. 24. Für eine unorthodoxe psychoanalytische Perspektive vgl. Marcia Cavell, Becoming a Subject, Oxford 2006. 25 Butler, Psyche der Macht, S. 100, vgl. S. 11, 25. Einschlägig für diese Argumente, die auch gegen Foucaults pauschale Psychoanalyse-Kritik in Der Wille zum Wissen gerichtet sind, sind neben Butlers Auseinandersetzung mit den Theorien des Begehrens im Anschluss an Hegel in Subjects of Desire: Hegelian Reflections in Twentieth Century France, 2. Aufl., New York 1999, ihre Texte über Freud in Psyche der Macht, S. 63-80, 81-100, 125-141. In eine ganz ähnliche Richtung gehen die von Butler vielfach verwendeten Überlegungen von Wendy Brown über „wounded attachments“ und ihre sich auf Nietzsche berufende Kritik an Foucaults Vernachlässigung des Willens und des Affektiven; vgl. Brown, „Wounded Attachments“, in: dies., States of Injury: Power and Freedom in Late Modernity, Princeton 1995, S. 52-76, dies. „Politics without Banisters: Genealogical Politics in Nietzsche and Foucault“, in: dies., Politics Out of History, Princeton 2001, S. 91-120, hier S. 99.
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(9) Subjektivierung scheitert (notwendig). Viel stärker als fast alle anderen Subjekttheorien stellen Butlers Texte zur Subjektivierung die Ambivalenz, Unabgeschlossenheit und Brüchigkeit eben der Praktiken heraus, die Subjekte hervorbringen und aus denen sie herausgehen. In Anlehnung an bestimmte Überlegungen Derridas zur konstitutiven Unterbestimmtheit von Bedeutungsproduktion insistiert Butler auf der Nicht-Identität noch der Wiederholungsrituale, durch die sich stabile Bedeutungen und Identitäten bilden. Die Idee, dass jede identifizierende Praxis auch ein Moment der Abweichung, Verschiebung und Subversion enthält, das die gebildeten Bedeutungen und Identitäten anfällig oder brüchig macht, ist einer der roten Fäden, die sich durch ihr gesamtes Werk ziehen, von der Kritik an allzu starren Geschlechterkonzeptionen bis zur Ethik der Verletzlichkeit in den jüngeren politischen Schriften. Für die Frage nach der Subjektivierung und ihrer Erforschung steckt hier die Aufforderung, sich auch auf die Suche nach den dekonstituierenden, entsubjektivierenden Momenten zu machen. Subjektivität selbst ist damit widersprüchlich, und Subjektivierung ist selbst noch in ihrer effektiven Form, die Subjekte hervorbringt, auch die Produktion von Ambivalenz oder Paradoxien: zwischen Autonomie und Heteronomie, Selbstständigkeit und Abhängigkeit, Selbsttransparenz und Verkennung.26 Dass der Akt der Subjektivierung in dieser Perspektive kein glattes, restfreies Funktionieren, sondern immer auch ein überschüssiges, transformatives Geschehen ist, ist die Voraussetzung für Widerständigkeit, Nicht-Funktionieren oder, mit einem Ausdruck Foucaults, „Gegen-Verhalten“. Ein solches kritisches, subversives Moment ist für Butler Teil jedes Subjektivierungsgeschehens, das somit selbst immer der Widerständigkeit oder dem „Aufstand auf der Ebene der Ontologie“ ausgesetzt ist.27 Butlers komplexe Theorie der Subjektivierung ergänzt und erweitert damit die hier etwas stilisiert als ein Forschungsprogramm präsentierte Programmatik einer Analytik der Subjektivierung um genauere Bestimmungen des Orts oder der Arenen der Subjektivierung und um eine Erhöhung des Komplexitätsgrads ihres Gegenstands. Die Subjektivierung, die nicht eine ist, kann auch nur um den Preis von Reduktionen einfacher beschrieben oder einfacher erklärt werden. SubjektBeschreibungen sind Komplexitätsbeschreibungen.
Schluss: Analyse und Kritik der Subjektivierung Dieser Vorschlag, wie man die Prämissen einer Analyse von Subjektivierung formulieren könnte, ist sicher nicht vollständig und erst recht nicht alternativlos; er unterschlägt zudem einige wichtige Differenzen zwischen den drei theoretischen 26 Butler, Psyche der Macht, S. 22. 27 Judith Butler, „Gewalt, Trauer, Politik“, in: dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt am Main 2005, S. 36-68, hier S. 50; vgl. dazu Sabine Hark, „Feministische Kritik – Ein ‚Aufstand auf der Ebene der Ontologie‘“, unveröffentl. Vortrag, Frankfurt am Main 2011.
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Positionen und sieht auch davon ab, dass die einzelnen Thesen ihre Platz jeweils im Rahmen von Theorien mit recht verschiedenen Erklärungsansprüchen haben. Sie können aber anzeigen, wie sich ein solches Theorie- und Forschungsprogramm allgemein und damit auch relativ abstrakt erläutern lässt. Damit soll nicht behauptet werden, dass nur nach der Formulierung solcher Grundsätze sinnvolle Einzelanalysen von Subjektivierungstechniken und -prozessen möglich sind; vielmehr soll gezeigt werden, dass solche Untersuchungen, wenn sie sich denn in der Nachfolge des hier skizzierten Theoriezusammenhangs situieren, diese oder ähnliche Unterstellungen bezüglich des Subjektbegriffs und seiner Überführung in einen Gegenstand empirischer Analysen enthalten, sie implizit immer schon machen. Eine theoretische Perspektive auf Subjektivierung, die sich der Vorschläge von Althusser, Foucault und Butler bedient, wird also starke Annahmen bezüglich dessen machen, was Subjektivität ist und wie sie entsteht, das heißt, sie wird Annahmen machen, die zu vielen traditionelleren Subjektphilosophien im Kontrast stehen. Denn sie wird das Werden von Subjekten als einen Konstitutionsprozess beschreiben, in dem Subjekte in und aus einer Praxis oder in und aus Praktiken entstehen. Sie wird diese Prozesse im Hinblick auf die in ihnen zur Geltung kommende Wirksamkeit von Macht und Asymmetrie untersuchen und damit die Subjektwerdung in einem eminenten Sinn als Akt der Unterwerfung, aus der das Subjekt hervorgeht, begreifen. Zugleich soll aber als Effekt dieser Prozesse die Entstehung einer Instanz verständlich werden, der nun tatsächlich Freiheit und Handlungsfähigkeit zukommt. Die Prozesse selber werden als historische und variable verstanden, damit ist die Form, die ein Subjekt annehmen kann, flüssig und die vermeintliche Universalität von Subjektivität keine gehaltvolle Unterstellung mehr. Sinnvoll untersucht werden kann sie damit nicht rein erkenntnistheoretisch, sondern nur entlang unterschiedlicher Linien von Kräften, in denen sie sich bildet, wobei Wissensordnungen, Machtbeziehungen und Selbstverhältnisse die allgemeinsten dieser Richtungen angeben. Das Subjekt wird es selbst im Schnittpunkt epistemischer, praktisch-sozialer und selbstbezogener Praktiken. Damit ist das Subjekt zugleich gemacht oder konstruiert wie es sich auch selbst konstituiert und formt. Dass sich diese Prozesse sowohl auf der Ebene der sprachlichen Bezugnahmen wie der materiellen, körperlichen Realität abspielen, ist anzunehmen, ebenso die Tatsache, dass sie sich auch in nur psychologisch beschreibbaren Strukturen niederschlagen, wieso Subjektwerdung auch die Ausbildung eine Art von Innerlichkeit, Affekts- und Begehrensstruktur enthalten wird, ohne dass sie darauf reduzierbar wäre. Schließlich gehört zu den Prozessen der Subjektivierung eine Unterbestimmtheit und Unvollständigkeit, die Momente von Unvollständigkeit und Widerständigkeit in jede noch so fertig konstituierte Subjektform einschreiben. Wenn es richtig ist, dass diese oder ähnliche Unterstellungen Subjektivierungsanalysen rahmen und anleiten, ist es nicht mehr schwierig, ihre ebenfalls oft auch eher implizit bleibende kritische Funktion zu verstehen. Denn die Pluralisierung und Entnaturalisierung in Bezug auf die vermeintlich eindeutige und universale Form des Subjekts, die mit einer solchen Perspektive einhergeht, hat diese Form aufgelöst zugunsten einer Vielfalt möglicher und wirklichen Formen von Subjek-
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tivität; diese sind gemacht geworden, in Machtprozessen und aus Freiheit der Subjekte heraus, sie können sich verändern und werden verändert, in neuen, anderen Praktiken und Beziehungen. Über Subjekte auf diese Weise theoretisch sprechen, hat zur Folge, dass einsehbar wird, wie sie geworden sind, was sie sind, und wieso sie dies nicht für immer bleiben müssen. Dies macht die Frage des Subjekts nicht nur auf der Ebene der Theorie, sondern auch der Praxis, zu einer Frage des möglichen und vorstellbaren Anders-sein und Anders-handelns.28 Für die Theorieprojekte von Althusser, Foucault und Butler waren im übrigen diese praktischen, transformativen Kontexte und die in ihnen geführten sozialen Kämpfe oft so selbstverständlich, dass dies nicht immer explizit ausgedeutet wurde; und es ist auch kein Zufall, dass dieses Theorieprogramm aus im allerweitesten Sinn kritischen Theorien heraus entstanden ist. Denn die Frage nach der Subjektivierung beleuchtet und erschließt genau den Schnittpunkt von Heteronomie und Autonomie oder von Herrschaft und Handlungsfähigkeit, den wir „Subjekt“ nennen und dem wir damit Freiheit zuschreiben. Eine Analytik der Subjektivierung leugnet diese Freiheit nicht und denunziert auch nicht den Wunsch der Subjekte selbst, auf eine andere Weise frei zu sein als es die epistemischen und sozialen Ordnungen und ethischen Selbstverständnisse der Gegenwart zulassen. Was sie dazu beiträgt, sind Beschreibungen, Erklärungen und Interpretationen, wie genau und um welchen Preis diese Freiheiten und Unfreiheiten zustande kamen, was sie ermöglicht hat und was sie selbst in Zukunft ermöglichen und verhindern. So wie das bloße Angeben allgemeiner begrifflicher Rahmen möglicher konkreter Analysen diese noch nicht vorwegnehmen, ist auch das theoretische und imaginative Eröffnen von Handlungsspielräumen selbst noch kein Handeln. Vielleicht kann das Explizit-Machen theoretischer Prämissen zumindest helfen, den Ort und den Status der Frage(n) nach der Subjektivierung zu reflektieren und zu klären. Aber diese vorläufige Arbeit am Begriff der Subjektivierung erspart nicht die konkrete historisch-kritische Arbeit am konkreten Objekt dieser Untersuchungen, nämlich den einzelnen, konkreten, singulären Subjekten, und erst recht nicht die Versuche, als konkretes, singuläres Subjekt, heute, anders zu leben und zu sein, als es unausweichlich zu sein scheint.
28 Vgl. Foucault, „Subjekt und Macht“, S. 280, Bröckling, „Genealogie der Subjektivierung“, S. 44 f.
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Zur Logik der Subjektivierung Überlegungen an den Rändern eines Konzepts Dass Menschen nicht einfach Subjekte sind oder sich dazu nicht bloß entfalten, ist eine – zumindest (sozial-)wissenschaftlich – weithin geteilte Überzeugung; die Frage jedoch, wie denn Menschen zu Subjekten werden und sich selbst – auch als ein Selbst – erlernen, ist noch längst nicht beantwortet und auch zwischen den verschiedenen Theorieperspektiven durchaus umstritten. Als ein Minimalkonsens im weiten Feld der Entwicklungs- und Sozialisations- sowie auch Bildungstheorien lässt sich allenfalls ausmachen, dass der Prozess der Epigenesis des Selbst als ein Prozess begriffen werden muss, der gerade nicht linear und kausal – und das heißt: weder als Produktionsprozess von außen noch als Entfaltungsprozess von innen – verfasst ist, sondern relational, d.h. als eine ‚Wechselwirkung‘ (Humboldt) zwischen dem entstehenden Selbst und vielfachen naturalen, kulturalen und sozialen sowie auch materialen Kontexten bzw. Akteuren verstanden werden muss; zudem dürfte weithin unbestritten sein, dass dieser Prozess auch eine wirkliche ‚Neubildung‘ (Blumenbach) markiert, der – bei aller Sozialität, Konventionalität und Normalität – auch immer ein Moment der ‚Singularität‘ eignet. Doch bereits die Frage, wie denn ein Prozess gedacht werden kann, in dem weder bloß vorausgesetzt werden darf und kann, was durch diesen Prozess allererst hervorgebracht wird, noch das, was hervorgebracht wird, als Folge von Ursachen und Wirkungen erscheinen kann, stellt vor erhebliche systematische Schwierigkeiten, sowohl Anfang und (Bedingungs-) Gefüge als auch Modus und Struktur dieses Werdens genauer zu bestimmen. Die vielfachen Metaphern der ‚Prägung‘ oder ‚Aus-‘ und ‚Entfaltung‘ einerseits sowie der ‚Nachahmung‘ und ‚Verinnerlichung‘ bzw. der ‚Aneignung‘ und ‚Verkörperung‘ andererseits belegen jedenfalls die weithin verbreitete Neigung, (gemeinhin zwar anerkannte) Relationalität bloß als ein Geschehen zwischen zwei – als ebenso gegeben wie getrennt verstandenen – Polen zu konzipieren. Kaum verwunderlich ist daher, dass Theorien der Subjektivierung seit einigen Jahren zunehmend mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird,1 versprechen diese doch einen Ausweg aus bisher eher festgefahrenen Theoriedebatten; insbesondere ihr durchgängiger Anschluss an Praxistheorien und der damit verbundene figurative Denkstil eröffnen einen Horizont, bisherige Problemstellungen auch kategorial und insofern theoriearchitektonisch verändert aufzunehmen. Ob aber 1 Vgl. exemplarisch Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver (Hg.), Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012; Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013.
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in und mit dieser Perspektive ein wirklicher Neuan- und -einsatz gelingt, hängt auch davon ab, ob es möglich ist, den Prozess der Subjektivierung einerseits genauer zu beschreiben und andererseits an bisherige entwicklungs- und sozialisationstheoretische Arbeiten so anzuschließen, dass deren Einsichten – systematisch reformuliert – aufgenommen werden können. Das aber setzt voraus, sich einerseits des Charakters – d.h. des Status, der Logik sowie der kategorialen Architektonik – subjektivationstheoretischer Theoriemodelle zu vergewissern und andererseits die Differenzen zwischen den verschiedenen Traditionen genauer zu bestimmen. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, die Ränder und Grenzen des Konzepts der Subjektivierung auszuloten und dadurch einige systematische Momente für eine eben solche Perspektive zu erarbeiten. Dabei wird aber – mehr oder weniger stillschweigend – vorausgesetzt, was als (wenn auch multipler) Kern des Subjektivierungsdenkens – anderswo2 – auszumachen wäre. Im Folgenden geht es mir – und zwar im Vorfeld der Analyse von spezifischen Techniken der Subjektivierung – daher darum, nach einer kurzen Rekapitulation der Entstehungsbedingungen und (auch begrifflichen) Grundlinien gegenwärtigen subjektivationstheoretischen Denkens (I.) sowie einer damit verbundenen Kennzeichnung des (relationalen) Denkstils (II.) dreierlei Fragekontexte aufzurufen: Wie verhalten sich die Konzepte der Subjektivierung zu denen der Entwicklung und Sozialisation (III.)? Wie weit reichen bzw. wie radikal müssen Kulturalität und Historizität des Konzepts gedacht werden (IV.)? Und schließlich (V.): Worauf bezieht sich Subjektivierung? Und wie lässt sich die Differenz, auf die sie sich bezieht, genauer bestimmen? Ein solcher Grenzgang ist daher weder frei von Ab- und Umwegen noch kommt er zu endgültigen Befunden, gilt es doch nicht nur das Konzept der Subjektivierung nach vorne zu verteidigen, sondern auch in der Sache – als ein noch nicht vollständig ausgearbeitetes, aber ausgesprochen anregendes und vielversprechendes Konzept – zu problematisieren.
I. Blickt man auf die Diskurskarriere des Konzepts der Subjektivierung, dann erstaunt doch zunächst die Konjunktur des Begriffs: noch vor gut 20 Jahren weitgehend ungebräuchlich3 und als Neologismus bis heute in manchen Diskursfeldern eher irritierend4 erfährt der Begriff der Subjektivierung gegenwärtig eine zunehmende Bedeutungsschärfung; während gelegentlich mit Subjektivierung ein Prozess der Anpassung von etwas (z.B. Arbeit) an bzw. der Rückführung auf eine vorgegebe2 Vgl. exemplarisch ebd.; Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver (Hg.), Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012. 3 Vgl. exemplarisch Bernhard Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main 1987, S. 115 und Käte Meyer-Drawe, Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. (2. Auflage 2001), München 1990, S. 150 ff. 4 Vgl. symptomatisch dafür den völlig inakzeptablen Artikel ‚Subjektivierung‘ in Wikipedia (http:// http://de.wikipedia.org/wiki/Subjektivierung; letzter Zugriff am 4.1.2013).
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ne Subjektivität bezeichnet wird5 und Subjektivierung sich insofern gerade nicht auf einen Prozess der Entstehung und der Konstitution eines Subjekts bezieht, wird mit Subjektivierung gegenwärtig im sozialwissenschaftlichen und -philosophischen Diskurs jener Prozess markiert, in dem Menschen ebenso zu Subjekten gemacht werden wie sich selbst dazu machen.6 Das Hauptaugenmerk liegt dabei darauf, dass weder ‚Subjektsein‘ noch ‚Subjektivität‘ fertig gegeben sind, sondern selbst in einem – wie auch immer dann genauer zu beschreibenden – Prozess allererst entstehen, so dass mit ‚Subjektivierung‘ – analog zur Begriffslogik der ‚Objektivierung‘, die den Prozess der Bildung bzw. Entstehung von Objektivität bzw. Objekten bezeichnet – inzwischen weitgehend durchgängig die (Epi-)Genesis des Subjekts selbst markiert wird. Implizit enthalten ist darin die Annahme, dass diese Genese sich als und in Praktiken vollzieht, so dass Handlungen und Strukturen nicht mehr als bloß oppositional einander gegenüberstehende Momente begriffen werden können .7 Zurück geht dieser – auf das Subjekt selbst bezogene – Begriffsgebrauch auf Überlegungen Michel Foucaults (und deren deutsche Übersetzung), der in seinen genealogischen Arbeiten mit ‚assujettissement‘ – im Deutschen zunächst nur gelegentlich mit ‚Subjektivierung‘ übersetzt8 – „die Subjektivierung der Menschen, das heißt ihre Konstituierung als Untertanen/Subjekte“9 bezeichnet hatte und die5 So gebraucht z.B. Hans-Georg Gadamer in seiner Schrift ‚Wahrheit und Methode‘ (1960) erstaunlich früh den Begriff der „Subjektivierung der Ästhetik“ (Hans-Georg Gadamer, „Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“, in: Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, 1999, S. 48) und bezeichnet mit ihm (durchaus in kritischer Absicht) die – insbesondere durch die Philosophie Kants vorgenommene – Einklammerung des ‚Ding an sich‘ und dessen Umformung zu einer ‚Erfahrung für sich‘ (hier im Bereich des Ästhetischen); wenn auch in gänzlich anderem Kontext wird in systematisch ähnlicher Perspektive auch im arbeitsund wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs unter dem Stichwort der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ (Manfred Moldaschl, G. Günter Voß (Hg.), Subjektivierung von Arbeit, 2. Aufl., München u.a. 2003.) die Frage problematisiert, wie Arbeitsverhältnisse an – als (vor)gegeben gedachte – Subjekte angepasst und mit deren – vermeintlich naturwüchsigen – Bedürfnissen abgestimmt werden können (vgl. exemplarisch Martin Baethge, „Arbeit, Vergesellschaftung, Identität. Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit“, in: Soziale Welt, Jg. 42 (1991), H. 1, S. 6–19 wie auch Frank Kleemann, Ingo Matuschek, G. Günter Voß, Subjektivierung von Arbeit, Berlin 1999). In beiden Fällen meint ‚Subjektivierung‘ daher die Abstimmung und Anpassung von etwas an – als (vor)gegeben gedachte – menschliche Subjekte. 6 Vgl. Alkemeyer et al., Selbst-Bildungen, S. 16 u.ö.. 7 Vgl. ausführlicher zur Praxeologik der Subjektivierung Thomas Alkemeyer, „Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik“, in: Alkemeyer et al., Selbst-Bildungen, S. 29–64. 8 Vgl. exemplarisch die unterschiedliche Übersetzung in ‚Überwachen und Strafen‘ (1976): während „l’effet d’un assujettissment“ (Michel Foucault, Surveiller et punir, Naissance de la prison, Paris 1975, S. 38) zunächst mit „das Resultat einer Unterwerfung“ (Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976, S. 42) übersetzt wird, wird „instrument d’assujettissment“ (frz., S. 261) an anderer Stelle mit „Subjektivierungs-/Unterwerfungsinstrument“ (dt., S. 287) übersetzt. Auch in ‚Sexualität und Wahrheit 1‘ (1977) wird „assujettissement“ sowohl mit „Unterwerfung“ (S. 32; frz. 30) als auch mit „Subjektivierung“ (S.78; frz. S. 82) übersetzt (vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1977, S. 78 u.ö.). 9 Ebd.
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se Produktion des „Disziplinarindividuum[s]“10 und „Formierung eines Gehorsamsubjekt[s]“11 in den Kontext unterschiedlichster Technologien und Verfahren – der Disziplinierung als einer Individualisierung, Trennung und Neuzusammensetzung12 bzw. des Geständnisses13 – gestellt hatte. In seinen späteren Arbeiten tritt nun neben ‚assujettissement‘14, das im Deutschen nun durchgängig mit „Unterwerfung“.15 übersetzt wird, der Begriff der „subjectivation“16, der im Deutschen nun konsequent mit „Subjektivierung“17 übersetzt wird; mit ihm bezeichnet Foucault jenen Prozess der „Konstitution seiner selber als Subjekt“18, z.B. als Subjekte der eigenen Sexualität19, so dass mit ‚Subjektivierung‘ bzw. „Subjektivierungsweisen“20 und „Subjektivierungsformen“21 nun sowohl „Unterwerfungsweisen“ unter eine Regel22 als auch Praktiken, „wie man sich führen und halten, wie man sich selber konstituieren soll als Moralsubjekt“23, markiert werden – ohne dass diese zwei Aspekte ein und derselben Praktiken aber voneinander getrennt und als unterschiedliche Verfahren einander gegenübergestellt werden könnten. Es ist diese Doppelung nun, die Foucaults späte Selbstkennzeichnung seiner Arbeiten als einer Analyse der „different modes by which, in our culture, human beings are made subjects“ 24, verständlich macht und die Praktiken, „that transform human beings into subjects“25, hinsichtlich ihrer unterschiedlichen „Modi der Subjektivierung“26 unterscheiden lässt: „the objectivizing of the productive subject“ durch die verschiedenen Wissenschaften, die „dividing practices“ (ebd.) der Disziplinarinstitutionen und -regime und schließlich „the way a human being turns him or herself into a subject“27. Was zunächst als Kennzeichnung unterschiedlicher Praktiken verstanden werden könnte und auch in der Rezeption der Arbeiten 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Foucault, Überwachen und Strafen, S. 291. Ebd., S. 167. Vgl. ebd. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Vgl. exemplarisch Michel Foucault, Histoire de la sexualité. Tome 2: L’usage des plaisiers, Paris 1984, S. 38, 72, 123 und 124 u.ö. Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt am Main 1986, S. 38, 71, 121, 122 u.ö. Vgl. Foucault, Histoire de la sexualité, S. 40, 41, 42 und 44 u.ö. Vgl. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste, S. 40, 41, 42 und 44. Ebd., S. 13. Ebd., S. 10. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Ebd., S. 38. Ebd., S. 37. Michel Foucault, „The Subject and Power“, in: Michel Foucault, Essential Works of Foucault 1954-1984. Volume 3: Power, ed. by James Faubion, New York 2000, S. 326. Ebd. Michel Foucault, „Autobiographie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 42 (1994), H. 4, S. 699. Foucault, „The Subject and Power“, S. 326-327; vgl. dazu im Deutschen Michel Foucault, „Das Subjekt und die Macht“, in: Dreyfus, Hubert L. / Rabinow, Paul (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994, S. 243 f.
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Foucaults zur Konstruktion verschiedener Phasen mit unterschiedlichen Themen und jeweiligen kategorialen Bearbeitungsmustern geführt hat28, muss aber als ein Zusammenhang verschiedener Aspekte begriffen werden, der an Praktiken nun unterschiedliche Momente bzw. Dimensionen – die des Wissens (als Weltbezug), der Macht (als Anderenbezug) und des Selbstbezugs – kenntlich zu machen erlaubt. ‚Subjektivierung‘ sucht daher den Prozess zu benennen und zu beschreiben, in dem Menschen bzw. Individuen sich in Wissens-, Macht- und Selbstpraktiken als ein Subjekt zu verstehen lernen, d.h. die Deutungsfigur des ‚Subjekts‘ auf sich zu beziehen lernen, von anderen für sich selbst – in Handlungen und Selbstverständnissen – verantwortlich gemacht werden und schließlich sich selbst entlang dieser Vorgaben zu verstehen und zu gestalten.29 Dass nun im Anschluss an die Foucaultschen Begriffe der ‚Subjektivierung‘ bzw. ‚Subjektivation‘30 seit einigen Jahren sich zunehmend ein neuer Diskurs entfaltet hat, hängt aber auch mit bisherigen Diskurs- und Problemkonstellationen zusammen. Pointiert formuliert: der Begriff bzw. das Konzept der Subjektivierung eignet sich in besonderer Weise, einerseits aus festgefahrenen Debatten des als ‚modern‘ vs. ‚postmodern‘ etikettierten ‚Streits ums Subjekt‘ auszusteigen, und andererseits aber auch in sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen (bis dahin in bestimmten Feldern überaus problematische) subjekttheoretische Überlegungen verfolgen zu können31 – und das schlicht deshalb, weil der immer wieder geführte Streit zwischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven, ob der Mensch ein ‚Subjekt‘ sei oder nicht, nun überzeugend historisiert und kulturalisiert werden kann, so dass ‚Subjektbegriffe‘ gerade nicht mehr mit Verweis auf das Ende des Abendlandes verteidigt oder als bloß ideengeschichtliche „Höhenkammzitate“32 gebrandmarkt werden müssen, sondern als historisch und kulturell bedingte (Selbst-)Auslegungsformen und -figuren aufgenommen und nun explizit analytisch bearbeitet werden können. Dass Menschen sich als Subjekte verstehen ist dann nicht mehr eine (immer bestreitbare) (quasi-)anthropologische Setzung, sondern eine analytische Perspektive auf spezifische kulturelle Praktiken, die nun allerdings voraussetzt, dass Menschen notwendigerweise ihr Leben nicht nur einfach leben, sondern auch – qua Selbst- und Weltdeutung – führen. Mit ‚Subjektivierung‘ geraten nun genau diese – kulturell und gesellschaftlich bedingten und sich verändernden – Selbst-
28 Vgl. exemplarisch Hinrich Fink-Eitel, Foucault zur Einführung, Hamburg 1989. 29 Nur ergänzend sei vermerkt, dass die – insbesondere späteren – Arbeiten Judith Butlers genau an diese Logik anknüpfen und danach (sowohl paradigmatisch als auch konkret biographisch) fragen, wie denn jeweilige Selbstverständnisse mit Anderenbezügen zusammengedacht werden können bzw. aus diesen sich formieren; vgl. dazu insbesondere Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main 2001. 30 Vgl. zur Differenz der Begriffe auch Norbert Ricken, „Anerkennung als Adressierung. Über die Bedeutung von Anerkennung für Subjektivationsprozesse“, in: Alkemeyer et al. Selbst-Bildungen. S. 65–95. 31 Vgl. ausführlicher ebd., S. 69-75. 32 Rolf Reichardt, „Einleitung“, in: Rolf Reichardt, Eberhard Schmitt (Hg.), Handbuch politischsozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820. München Heft 1/2, S. 64.
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deutungsmuster und ‚Menschenfassungen‘33 in den Blick; und zwar genau in dem (historischen) Moment, in dem die Selbstdeutung des Menschen ‚als Subjekt‘ in vielfältiger Hinsicht offensichtlich problematisch geworden ist und mit Distanz als zeitlich bedingte, insofern auch änderbare Matrix gelesen wird. Empirisch unbelegt und verkürzt gesagt könnte es gegenwärtig darum gehen, dass die neuzeitlich-modern etablierte Figur des Subjekts mit ihren sie auszeichnenden Bestimmungsmomenten des Selbstbewusstseins, der Selbstbestimmung und der Würde qua Selbstzweck, wie sie in den Orientierungen an Autonomie und Identität auch praktisch wirksam geworden ist, zunehmend durch andere Formationsmuster und Subjektivationsweisen ersetzt bzw. in andere Formen überführt wird, in denen statt ‚Eigensinn‘ nun Logiken der Funktionalität und Konnektivität – u.U. bündelbar in der Orientierung, ‚Jemand‘ (und nicht ‚Niemand‘ oder ‚Irgendeiner‘, d.h. für andere) zu sein, statt ‚Selbst‘ zu sein – dominieren.
II. Lässt sich Subjektivierung als Analyse der Praktiken verstehen, in denen Menschen, Individuen oder Akteure (vgl. dazu weiter unten auch Abschnitt V.) durch den Umgang mit anderem und anderen lernen, sich im Horizont von bzw. in Auseinandersetzung mit spezifischen naturalen, materialen und sozialen sowie symbolischen Ordnungen als ein ‚Subjekt‘ zu begreifen und zu gestalten, dann ist damit zugleich auch die Frage aufgerufen, wie denn dieser Prozess der ‚Subjektivierung‘ gedacht werden könne und welcher Denkstil bzw. welche Theoriearchitektur dafür erforderlich ist. Denn bereits die Foucaultsche Formulierung, ‚how human beings are made subjects‘34, konfrontiert mit der Widersprüchlichkeit, dass man – gemäß der Logik des traditionellen Subjektkonzepts – zu etwas gemacht wird bzw. werden soll, zu dem man gerade nicht gemacht werden kann, wenn man tatsächlich ein ‚Subjekt‘ – also etwas, was sich selbst zugrunde liegt – sein will. Die Erweiterung der Subjektbedeutung des ‚Zugrundliegenden‘ durch den Verweis auf den Doppelsinn des lateinischen ‚subiectum‘ – nämlich sowohl ‚unterworfen‘ als auch ‚zugrundeliegend‘ zu sein35 – markiert nicht nur die in der Bedeutung des Subjekts eingeschlossene Paradoxalität, sondern legt auch einen Bruch mit klassischen Denkstilen der Linearität und Kausalität nahe, ohne diesen jedoch – allenfalls mit den Stichworten der Differenz und Relationalität – weiter zu bestimmen. Als Kennzeichnungen einer relationalen Perspektive seien daher – u.a. auch im Anschluss an Überlegungen Mustafa Emirbayers36 – sechs Bestimmungsmomen-
33 Walter Seitter, Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, München 1985. 34 Vgl. Foucault, „The Subject and Power“, S. 326. 35 Vgl. Käte Meyer-Drawe, Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich, (2. Auflage 2001), München 1990, S. 16 f., 150 ff. 36 Vgl. Mustafa Emirbayer, „Manifesto for a Relational Sociology“, in: The American Journal of Sociology, Jg. 103 (1997), H. 2, S. 281–317.
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te eines solchen Denkens benannt; dabei meint Relationalität nicht einfach ein Beziehungsgeflecht, also eine (oder mehrere) Relationen, sondern die Betonung der Verflochtenheit überhaupt, so dass ‚etwas‘ nie bloß als ‚etwas an sich‘, sondern immer als ein ‚etwas bezogen auf‘ bzw. ‚in Abhängigkeit von‘ – und das heißt dann auch: nur unscharf gedacht – werden kann. Relationalität denken wollen heißt zunächst (1) in Differenzen, d.h. ohne Letztgrundlagen und Fundierungen, aus denen heraus dieses oder jenes ableitbar wäre, und (2) in Figurationen, d.h. in Zusammenhängen und wechselseitigen Bedingtheitsverhältnissen, zu denken. Für das Denken von ‚Subjektivierung‘ folgt daraus zunächst die Abwehr zweier Missverständnisse, wird doch mit Subjektivierung weder ein lineares Entfaltungsgeschehen – Menschen sind von Anfang an Subjekte und entfalten diese konstitutive Verfasstheit nun sukzessive (z.B. als Ausfaltung von vorherigen Einfaltungen) – noch ein Produktionsgeschehen – Menschen werden als Subjekte hergestellt und determiniert – bezeichnet; vielmehr wird betont, dass die menschliche Epigenesis sowohl als ein relationaler Prozess begriffen werden muss, in dem Selbst- und Anderenbezug (wie auch Welt- und Naturbezug) als ineinander verschränkte Differenzen zu denken sind, als auch als ein figuratives Geschehen anzusehen ist, dass sich nicht zu einer dieser beiden Seiten auflösen und in lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zerlegen lässt, sondern als ein ‚figurativer Zusammenhang‘, eine Figuration ohne Anfang und Ende, Ursache und Wirkung zu fassen ist. An diese erste Doppelkennzeichnung lassen sich drei weitere Bestimmungen anschließen, die (3) die Prozessualität, (4) Praktizität und (5) Kontingenz von Subjektivierung betonen: mit Subjektivierung ist also (3) nicht ein Subjekt (oder etwas anderes, dem Subjektsein vorgängiges) gemeint, was dann formiert bzw. subjektiviert – d.h. in Bewegung versetzt – würde, sondern eine Bewegung, ein Wandel oder ein Prozess von Anfang an (so wie auch der Wind nicht erst Wind ist und dann bläst, worauf Norbert Elias aufmerksam gemacht hat37); damit geht (4) einher, dass ‚Subjekte‘ nicht bereits da sind oder anonym erscheinen und sich entwickeln, sondern in irgendeiner Art und Weise gemacht werden, d.h. als Tätigkeit verstanden werden müssen – eine Tätigkeit aber, die zugleich gerade nicht (zumindest nicht bloß) handlungstheoretisch rekonstruierbar ist, da das, was dann handelt(e), allererst in den sog. ‚Handlungen‘ entsteht; Praxistheorien, wie sie insbes. von Andreas Reckwitz im Anschluss an die Arbeiten von Theodore Schatzki skizziert worden sind,38 bieten insofern einen zunächst passend erscheinenen Rahmen. Dass dabei Subjektivierung schließlich (5) als kontingent verstanden werden muss, d.h. als sowohl historisch und kulturell bedingt und insofern auch anders möglich, wird zwar durchgängig betont, findet aber in den Begrifflichkeiten bisweilen zu wenig seinen angemessenen Ausdruck. Eine letzte Markierung sei ergänzt: Relationalität zu denken meint schließlich auch, dass Relationalität nicht ihrerseits unrelational – sozusagen von außen und unbeteiligt – beschrieben werden kann, sondern (6) selbst nur aus einer bedingten 37 Vgl. Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Weinheim/München 1986, S. 119 38 Vgl. Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32 (2003), H. 4, S. 282–301.
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Beobachtungsperspektive heraus, d.h. als Relativität, beobachtet und beschrieben werden kann. Auch wenn dies mehr als selbstverständlich ist, so ist doch zu betonen, dass auch ‚Subjektivierung‘ selbst nur eine Beobachtungsperspektive ist, aus der man manche Aspekte des sozialen Geschehens sieht – und andere eben nicht. Auf die damit verbundene und nicht auflösbare ‚Unschärfe‘ (Heisenberg) und ‚Unbestimmtheit‘39 kann daher nicht oft genug hingewiesen werden.
III. Der Verweis und Rückgriff auf benachbarte Diskurse zur Epigenesis des Subjekts ist naheliegend und kann zur Klärung der spezifischen Logik des Subjektivierungsdenkens beitragen. Die Konzepte der ‚Entwicklung‘ und ‚Sozialisation‘ eignen sich dazu in besonderer Weise. Der – insbesondere in den psychologischen Wissenschaften beheimatete – Begriff der ‚Entwicklung‘ lässt sich für einen ersten Einstieg nutzen: In seiner traditionellen Begriffsfassung wurde eine Veränderungsreihe dann als Entwicklung bezeichnet, wenn diese Veränderungen auf einen als höherwertig betrachteten Endzustand sich richteten, in ihrer (Schritt-)Abfolge ebenso irreversibel wie aufeinander aufbauend waren und in ihrer Logik eine qualitative, d.h. strukturelle sowie nachhaltige Transformation markierten;40 solchermaßen gegen Wachstum oder Reifung bzw. bloß ‚passagere Veränderung‘ gerichtet, zielte Entwicklung daher auf die Bestimmung eines universalen, gerade nicht bloß kultur- oder zeitbedingten bzw. gar momenthaften Veränderungsgeschehens. Dieses Modell des Wandels ist hinsichtlich seiner Implikationen vielfach problematisiert und zugunsten einer deutlich bescheideneren ‚Arbeitsfassung‘ reformuliert worden,41 die durch zwei Kernannahmen geprägt ist: Als Entwicklung gelten zum einen Veränderungen, die sich nachhaltig und kontinuierlich vollziehen und sinnvollerweise auf die Zeitdimension Lebensalter bezogen werden können, wobei das Alter lediglich der beschreibenden Aufzeichnung, nicht der Erklärung der Veränderungen dient;42 zum anderen vollziehen Entwicklungen sich weder ausschließlich endo- noch exogen (und insofern nicht linear), sondern in Interaktion mit unterschiedlichen Kontexten, so dass sie nicht nur einem historischen und kulturellen Wandel unterliegen, sondern auch erst aus dem Zusammenspiel der sich wechselseitig verändernden Faktoren resultieren und zu einem Bündel bzw. System von Einflussverflechtungen verdichten. Dass sich daraus nun interindividuelle Differenzen innerhalb der Entwicklung und differentielle Spielräume ergeben, ist die eine Seite der Folgen 39 Vgl. Gerhard Gamm, Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt am Main 2000. 40 Vgl. Hans-Dieter Schmidt, Allgemeine Entwicklungspsychologie, Berlin 1970. 41 Vgl. exemplarisch Leo Montada, „Fragen, Konzepte, Perspektiven“, in: Rolf Oerter, Leo Montada (Hg.), Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. 4. korrigierte Auflage, Weinheim/Basel 1998, S. 1–83. 42 Vgl. ebd., S. 23.
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eines ‚erweiterten Entwicklungsbegriffs‘43; die andere stößt – weil Bedingung und Folge sich nicht mehr einfach unterscheiden bzw. gar trennen lassen – direkt auf das Problem der Relationalität,44 so dass eine entwicklungslogische Modellierung in „antezedierende und abhängige Ereignisse“ das Problem relationaler Interaktion „nicht angemessen abbildet“45. Folgt man aber nun dieser Logik der Interaktion, derzufolge Y sich gerade nicht nur durch Einwirkung von X verändert, sondern als Y seinerseits auch X bedingt, so dass Y(X) und X(Y) sich wechselseitig konstituieren und miteinander agieren, dann gelangt man in gewisser Hinsicht an das systematische Ende des Entwicklungsparadigmas – und das in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird die (entwicklungs-)psychologisch notwendige Unterscheidung sowohl von Vorher und Später als auch von Innen und Außen hinfällig, weil nun im ‚Innen‘ des einen das ‚Außen‘ des anderen – z.B. in Form von Erwartungserwartungen46 – anwesend ist, so dass sich das wechselseitig Situierte in das Situative47 verschiebt und zur Analyse der „Situationen und ihrer Menschen“48 drängt; zum anderen aber spielen nun historisch und kulturell bedingte gesellschaftliche Strukturen wie aber auch soziale Normen, Regeln, Konventionen und Haltungen eine Rolle, die sich aber nur mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Analysen erfassen lassen (und insofern zu weitreichenden methodologischen Verschiebungen im Entwicklungsparadigma geführt haben49). Kaum verwunderlich ist daher, dass sich das Entwicklungskonzept – bei aller Fokussierung und Begrenzung auf sog. ‚innere‘ bzw. ‚psychische Strukturen‘50 – nun nahezu zwingend dem Sozialisationsdenken öffnet und öffnen muss.51 Genau diese Wechselwirkung zwischen individuellen und sozialen Strukturen ist Ausgangspunkt aller sozialisationstheoretischer Konzepte, die nicht zufällig insbesondere an die Arbeiten des Symbolischen Interaktionismus und dessen relati43 Vgl. Leo Montada, Ulman Lindenberger, Wolfgang Schneider, „Fragen, Konzepte, Perspektiven“, in: Wolfgang Schneider, Ulman Lindenberger (Hg.): Entwicklungspsychologie. 7. vollst. überarbeitete Auflage. Weinheim/Basel 2012, S. 31 f. 44 Vgl. ausführlicher Montada, „Fragen, Konzepte, Perspektiven“, S. 11 ff. 45 Ebd, S. 9. 46 Vgl. Erving Goffman, „Interaktionsordnung“, in: Erving Goffman, Interaktion und Geschlecht, hg. von Hubert A. Knoblauch, mit einem Nachwort von Helga Kotthoff, Frankfurt am Main/ New York 1994, S. 57 u.ö. 47 Ebd., S. 56. 48 Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt am Main 1986, S. 9. 49 Vgl. Montada et al., „Fragen, Konzepte, Perspektiven“, S. 32. 50 Vgl. René A. Spitz, Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr, 12. Auflage (Erstauflage 1967), unter Mitarbeit von W. Godfrey Cobliner, Stuttgart 2005, S. 25 wie auch ausführlicher René Spitz, Eine genetische Feldtheorie der Ichbildung, Frankfurt am Main 1972, S. 12-15. 51 Vgl. Montada, „Fragen, Konzepte, Perspektiven“, S. 58ff, wie auch Matthias Grundmann, „Sozialisation und Entwicklung“, in: Jochen Kade, Werner Helsper, Christian Lüders, Birte Egloff, Frank-Olaf Radtke, Werner Thole (Hg.), Pädagogisches Wissen. Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen, Stuttgart 2011, S. 28–35 und Carlos Kölbl, „Wie entwickelt sich das Gesellschaftsverständnis? Ein Versuch zur Kartierung des Forschungsfeldes und Überlegungen zu pädagogischen Anschlüssen“, in: Journal für Psychologie, Jg. 20 (2012), H. 2, S. 1–29.
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onaler Fassung von Interaktion angeschlossen haben.52 Im Kern geht es darum, die Genese individueller Handlungsfähigkeit und Identität einerseits sowie sozialer Handlungsstrukturen bzw. von „Sozialität und Gemeinschaftlichkeit im Zusammenleben“53 andererseits im Zuge von und als Folge von Vergesellschaftungsprozessen qua sozialer Interaktion zu begreifen.54 Überwogen im sozialisationstheoretischen Diskurs zunächst – durchaus in umgekehrter Analogie zum Entwicklungsbegriff – Vorstellungen einer gesellschaftlich erforderlichen ‚Sozialmachung der Individuen‘ – bei Durkheim hieß dies: „socialisation méthodique“55 –, so wurde diese zunehmend – zum Beispiel im Modell des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“56 – in relationale Annahmen der wechselseitigen Auseinandersetzung mit und Veränderung von physischen und psychischen, naturalen und sozialen Lebensbedingungen verwandelt.57 Doch auch wenn – oft mit dem Zusatz ‚sozialisatorisch‘ versehene – ‚Interaktion‘ als Bindeglied zwischen Gesellschaftsstrukturen und Selbstfigurationen begriffen wird, so bleibt doch weitgehend unklar, wie sich soziale Verhältnisse und Selbstverhältnisse genau – oft: in einer bloßen Analogsetzung – zu einander verhalten und in einem Sozialisationsgeschehen dann wechselseitig beeinflussen; Dieter Geulens 2004 vorgetragene, durchaus schonungslose Analyse der vielfach „ungelöste[n] Probleme im sozialisationstheoretischen Diskurs“58 legt diese Deutung nahe und markiert zugleich den systematischen Ort der Schwierigkeiten: „Das zentrale Problem, fast schon synonym mit dem Sozialisationsbegriff selbst, ist dabei sicherlich die Schnittstelle zwischen dem handelnden Subjekt und seiner Umwelt sowie die daraus resultierenden subjektiven Prozesse und Strukturen“59. Was zunächst angesichts der nicht ganz kurzen Geschichte der Sozialisationsforschung durchaus verwundern lässt, ist letztlich aber nichts anderes als das – auch in anderen Diskursen nicht gelöste – Problem, dass zwischen Bedingung und Folge, zwischen Ursache und Wirkung nicht hinreichend unterschieden werden kann und etwas Drittes kaum denkbar erscheint. Als Frage formuliert: Wie soll sich denn konsistent denken lassen, dass ein durch die ‚Verinnerlichung sozialer Normen‘ heteronom gesteuertes Subjekt zugleich als ein autonomes Subjekt soll angesehen werden können?60 Vertraut man der Einschätzung Judith Butlers, 52 Vgl. exemplarisch Lothar Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart 1969 wie auch Alfred Schäfer, Vermittlung und Alterität. Zur Problematik von Sozialisationstheorien, Opladen 2000. 53 Grundmann, „Sozialisation und Entwicklung“, S. 30 54 Ebd., S. 28 55 Émile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903, Frankfurt am Main 1984, S. 45. 56 Klaus Hurrelmann, „Das Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung“, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, Jg. 3 (1983), S. 91–103. 57 Vgl. zum sozialisationstheoretischen Minimalkonsens Dieter Geulen, „Ungelöste Probleme im sozialisationstheoretischen Diskurs“, in: Dieter Geulen, Hermann Veith (Hg.), Sozialisationstheorie interdisziplinär, Stuttgart 2004, S. 4 f. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 19, ähnlich auch S. 6 u.ö. 60 Vgl. ebd., S. 8.
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ist genau das vielleicht der Grund, warum sozialisationstheoretisch oft bereits vorausgesetzt werden muss, was als Resultat sozialisatorischer Prozesse dann erst ausgegeben werden darf.61 Aus dieser Erkundung lassen sich nun mit Blick auf das Konzept der Subjektivierung einige Folgerungen ziehen: Klammert man mal – vermutlich disziplinär kaum stillzustellende – wechselseitige Überbietungsgesten aus62 und akzeptiert die für die Erforschung und Modellierung der menschlichen Epigenesis offensichtlich erforderliche Pluralität komplementärer psychologischer, sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektiven, dann zeigt sich zunächst ein gemeinsamer Problembefund: Trotz vielfältiger und nicht nur im Detail fundamental unterschiedlicher methodologischer Ansätze stehen alle Konzepte vor der Frage, wie die denn vielfach beschriebene ‚Wechselwirkung‘ – sei es nun zwischen (sich wechselseitig konstituierenden) Akteuren, sei es zwischen Akteuren und unterschiedlichen Kontexten bzw. Feldern – so gedacht werden kann, dass nicht immer wieder doch Linearität und Kausalität beansprucht werden und auch werden müssen. Auf der theoriearchitektonischen Ebene könnten Subjektivierungskonzepte durch ihren praxistheoretischen Einsatz einen alternativen Weg anbieten, insofern sie sowohl Rekursivität (als gleichzeitige bzw. vorgreifende Rückbezüglichkeit) als auch Figurativität zu denken erlauben63, so dass als ein Zusammenhang begriffen werden kann (und muss), was in anderen Ansätzen allzu leicht in Einzelfaktoren zerlegt wird (z.B. Handlung vs. Struktur). Entscheidend scheint mir aber doch eine weitere, für die Subjektivierungsforschung konstitutive und insofern ebenfalls kennzeichnende Weichenstellung zu sein: die Kulturalisierung und Historisierung des Subjektgedankens selbst. Menschen sind nicht – weder von Natur noch aus und durch Kultur – Subjekte, sondern erlernen und verstehen sich als Subjekte; sie beziehen sich aber auf sich selbst nur in dem Maße, wie sich andere auf sie beziehen, so dass sie sich nicht von und aus sich selbst, sondern von anderen erlernen.64 Es ist diese doppelte Differenz – zwischen Mensch bzw. Akteur und Subjekt einerseits und in Inter-Subjektivität (Meyer-Drawe) andererseits –, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – z.B. von Heteronomie und Autonomie, aber auch von Selbst- und Anderenbezug – zu denken verlangt.
IV. So naheliegend es ist, den Subjektgedanken selbst historisch und kulturell zu rahmen und insofern in seinem Geltungsanspruch auch einzuklammern, so problematisch ist dies doch auch: Nicht nur, weil man darauf erst stößt, wenn man kulturelle
61 Vgl. Judith Butler, „Ein Interview“, in: Hannelore Bublitz, Judith Butler zur Einführung, Hamburg 2002, S. 126 f. 62 Vgl. z.B. Montada, „Fragen, Konzepte, Perspektiven“, S. 58 wie kritisch dazu Geulen, „Ungelöste Probleme im sozialisationstheoretischen Diskurs“, S. 10 ff. 63 Vgl. Alkemeyer, „Subjektivierung in sozialen Praktiken“. 64 Vgl. ausführlicher Ricken, „Anerkennung als Adressierung“.
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und historische Alternativen der ‚Selbst‘-Bildung in Betracht zieht,65 sondern vielmehr, weil der ‚cultural turn‘66 im Subjektdenken selbst vor erhebliche begriffliche und methodologische Schwierigkeiten stellt.67 Unstrittig erscheint zunächst, dass ‚das Subjekt‘ – und seine vielfachen Begriffsableger wie insbesondere Subjektivität und Intersubjektivität – eine Erfindung der Neuzeit ist und wohl deren dominanteste Selbstauslegungsfigur darstellt, die sich sowohl historisch als auch mit Blick auf gegenwärtige Selbstverständigungen abgrenzen lässt und abgegrenzt werden muss.68 Menschen haben sich nicht immer und überall als ‚Subjekte‘ ihrer selbst verstanden, so dass es zwar berechtigt sein kann, nach der Vorgeschichte dieser Selbstdeutung zu fragen, diese jedoch als – dann auch zukünftig nicht mehr überbietbares – Selbstdeutungsmuster zu begreifen, auf das die Geschichte der menschlichen Selbstdeutungen zugelaufen sei, ist offensichtlich unangemessen. Es ist insofern auf der Oberfläche zunächst ausgesprochen triftig, verschiedene Formationen und damit verbundene Formatierungsprozesse zu unterscheiden und gerade nicht – bloß exemplarisch – antike Figuren der ‚Selbstsorge‘ oder die der christlichen ‚imitatio‘ mit eben dieser modernen Figur des ‚Subjekts‘ und seiner ,Bildung‘ umstandslos zusammenfallen zu lassen. Gerade dies macht den Reiz subjektivierungstheoretischer und -historischer Arbeiten aus69 – und markiert zugleich auch deren Problem: Denn wie soll bezeichnet werden, was es allererst zu untersuchen gilt, wenn bereits der Titel – ‚Subjektivierungs‘-Forschung – enthält, was nur für ein spezifisches Paradigma menschlicher Selbstdeutungen gilt? Was begrifflich unter Umständen noch leicht korrigierbar wäre, indem der Begriff der ‚Subjektivierung‘ durch die Frage nach den jeweiligen ‚Selbst‘-Bildungen – immerhin ist der Begriff des ‚Selbst‘ historisch und kulturell erheblich weiter verbreitet und findet sich auch (z.B.) in den griechisch-
65 Vgl. z.B. Kimura Bin, Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen japanischer Subjektivität, Darmstadt 1995. 66 Vgl. zuerst Paul Rabinow, William M. Sullivan (Hg.), Interpretive Social Science. A Reader, Berkeley 1979. 67 Mit dieser Weichenstellung nehme ich eine Umakzentuierung vor, die wenigstens angemerkt sein soll: Subjektivierungsforschung ist immer doppelt angelegt – einerseits als Auseinandersetzung mit diskursiv verfassten differenten ‚Modellen‘ bzw. ‚Repräsentationen‘ von ‚Selbst‘-Bildungen (vgl. exemplarisch Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006), andererseits als Rekonstruktion individueller oder kollektiver Prozesse der Subjektivierung in und qua Praktiken. Im Folgenden werde ich mich ausschließlich mit Fragen des ersteren beschäftigen, die als Rahmungen der zweiteren Prozesse fungieren. 68 Vgl. exemplarisch Käte Meyer-Drawe, „Subjektivität. Individuelle und kollektive Formen kultureller Selbstverhältnisse und Selbstdeutungen“, in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart/Weimar 2004, S. 304–315. 69 Vgl. z.B. Rudolf Holbach, „»Ich wundere mich, daß eine so unscheinbare Handlung eine so große, heilsame Wirkung in der Seele zeigt«. Mönchische Praktiken und Selbst-Bildungen bei Caesarius von Heisterbach“, in: Alkemeyer et al., Selbst-Bildungen, S. 221–245 und Dagmar Freist, „»Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen«. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik“, in: ebd. S. 147–170.
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antiken Kulturen wieder70 – ersetzt würde, ist aber hermeneutisch so einfach nicht, war es doch auch und gerade der neuzeitlich-moderne ‚Subjekt‘-Begriff, der für die Thematisierung und Problematisierung der Bedeutung des ‚Selbst‘ – d.h. der jeweiligen Selbstverhältnisse als Momenten unterschiedlicher anderer Gottes-, Weltund Anderenverhältnisse – sensibilisierte.71
70 Vgl. Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/1982), Frankfurt am Main 2004. 71 Doch auch wenn die ‚Entdeckung‘ des Selbstbezugs bzw. der permanenten Selbstbezüglichkeit eine zentrale und überaus dominante Einsicht im neuzeitlich-modernen Subjektdenken darstellt (vgl. exemplarisch Alkemeyer et al., „Einführung“, S. 20), so ist sie doch – weder in der Sache noch in der Formulierung – deswegen schon allein eine originär neuzeitlich-moderne ‚Erfindung‘. Dass das ‚Selbst‘ auch unabhängig vom ‚Subjektdenken‘ ein durchgängiges Thema menschlicher Selbstverständigungen darstellt, ist nur zu offensichtlich; allerdings zeigt sich dieses Selbst als in die anderen Bezüge eingebaut, so dass Welt-, Anderen- und Selbstbezüge – zumeist im Bezug zum ganz Anderen: Gott – jeweilig miteinander verwickelt sind und als Momente ineinander implizit enthalten sind. Insofern präsentiert (bzw. figuriert) das Subjektdenken eine spezifische Form dieser Selbstbezüglichkeit, insofern es die Beziehungen zu Welt, Anderen und insbesondere Gott nun verändert aufnimmt und in der Beziehung zu sich selbst gründet bzw. fundiert; neu und originell ist insofern nicht das Thema des ‚Selbst‘ selbst, sondern dessen Fundierung in sich selbst (vgl. hier die Hinweise in Alkemeyer, ebd., S. 20; Anm). Wird das (neuzeitlich-moderne) Selbst aber als in sich und auf sich selbst gründend gedacht (und insofern nicht auf etwas anderem bzw. Anderem seiner selbst gründend gedacht), dann ist es auch möglich, das Selbst durch die drei klassischen Subjektbestimmungen (vgl. Norbert Ricken, Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs, Würzburg 1999) – als (theoretisch justiertes) Selbstbewusstsein (das alle anderen Akte muss begleiten können), als (praktisch gedachte) Selbstbestimmung und als (ethisch bzw. moralisch) konzipierter Selbstzweck, der den Menschen in seiner Würde auszeichnet und von allen anderen Kreaturen, die nun gerade nicht Zweck an sich selbst sind (vgl. auch Friedhelm Guttandin Art. „Subjekt“, in: Roland Asanger, Gerd Wenninger (Hg.), Handwörterbuch der Psychologie, 1988, S. 493–500) – zu kennzeichnen, wie dies in der aufklärerisch-neuzeitlichen Subjektphilosophie geschehen ist. In dieser Logik baut sich dann das ‚Subjekt‘ aus der Einsicht in und der Gestaltung von ‚Subjektivität‘ – die voneinander doch zu unterscheiden wären: Subjektivität wäre dann dadurch zu fassen, dass Beziehungen zu anderem und anderen in bzw. von Beziehungen zu sich selbst, dem sog. Selbstverhältnis, begleitet sind – auf, so dass mit ‚Subjekt‘ die weit stärkere Bedeutung markiert wäre, sich als sich selbst zugrundeliegend zu begreifen. Diese Kennzeichnung gilt dabei sowohl als Beschreibung einer immer schon realisierten Struktur (Faktizität) als auch als Kern eines Programms (Programmatik): ein ‚Subjekt‘ zu sein hieße dann, das, was an sich ist, für sich zu übernehmen, sprich: zu wollen oder nicht zu wollen und insofern anzunehmen oder abzuweisen; der Gedanke der Emanzipation (als Ausgang aus Unmündigkeit) ist daher die notwendige Rückseite der Selbstbestimmung. Anders formuliert: ich bin dann – auch programmatisch – ‚Subjekt‘ meiner selbst (sprich: auch meiner Verhältnisse), wenn das, was ist, durch ein ‚ich will‘ begleitet werden kann: „Wo ‚Es‘ war, soll ‚Ich‘ werden“ (Siegmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Studienausgabe Bd. 1, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1974, S. 516). Dass dieses Moment, dann alles – vom Wohnen über den Besitz bis zum Denken – als ‚Repräsentation‘ des Eigenen zu verstehen, auf sich zu beziehen und insofern auch zu gestalten, durch ein zweites Moment ‚reguliert‘ wird, sei wenigstens angemerkt: das ‚ich‘ ist dann ‚Ich‘ wenn es als ‚verallgemeinerbares Ich‘ bzw. ‚verallgemeinertes Ich‘ sich zeigt (vgl. Norbert Ricken, Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung, Wiesbaden 2006). Daraus ergibt sich aber auch umgekehrt: wenn das ‚Selbst‘ als nicht in und auf sich selbst gründend gedacht wird, sondern z.B. als ‚Geschöpf Gottes‘ und ‚imago dei‘ auf etwas Anderem seiner selbst gegründet ist, dann ist auch das Paradigma des Subjekts (und Subjektdenkens) bereits verlassen (oder nicht erreicht).
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In diesem Dilemma lässt sich sicherlich verschiedentlich – von der reflektierten Begriffsausweitung bzw. -unterscheidung zwischen ‚Subjektivierung‘ und ‚dem Subjekt‘ bis zur puristischen Trennung und Entgegensetzung – behelfen, bedeutsam dabei scheint mir vor allem, dass die unterschiedlichen Paradigmen menschlicher Selbstdeutungen weder als verschiedene Kleider eines an sich gleich bleibenden Kerns noch als fundamental verschiedene und voneinander getrennte Formen gelesen werden. Es ist daher wohl eine der Aufgaben einer sich historisch und kulturell reflektierenden Subjektivierungsforschung, die jeweiligen Logiken der ‚Selbst‘-Bildungen – nur exemplarisch: der griechisch-römischen ‚Selbstsorge‘, die gerade nicht die ‚gute‘ Gestaltung des Selbst im Horizont des Subjekts, sondern die Balancierung des eigenen ‚Selbst‘ im Horizont des Kosmos bzw. der Idee des Guten meinte und auf das ‚Vernehmen des Logos‘ zielte; der christlichen ‚imitatio‘, die – auf der Basis des Gedankens der ‚creatura‘ und der ‚imago dei‘ – Selbst-Verwirklichung als Selbstüberwindung, Selbstaufhebung und Selbstentsagung verstand, um so der Erlösung des Selbst in und durch Gott fähig zu werden bzw. sich dieser zu öffnen; und schließlich der neuzeitlich-modernen ‚Bildung‘, sich selbst als Subjekt (entlang der drei Bestimmungsmomente des Selbstbewusstseins, der Selbstbestimmung und des Selbstzwecks) als Zugrundeliegendes und insofern auch Grundlage des eigenen Selbsts zu begreifen und als Selbst nun auch zu entfalten und zu verwirklichen72 – nicht nur präzise voneinander zu unterscheiden, sondern auch nicht mit- bzw. ineinander zu verwischen – z.B. durch Fragen, die in einem Paradigma sinnvoll, im anderen aber eher befremdlich bzw. äußerlich bleiben. Subjektivierung historisch und kulturell denken heißt, sie nicht als Subjektwerdung bzw. Formung zum Subjekt (bzw. zur Form des Subjekts) denken; das neuzeitlich-moderne Verständnis des Sich-selbst-Zugrundeliegens ist daher eine historisch-kulturelle Form, keine universale; ob es dann aber (begrifflich) sinnvoll ist, die Frage nach den differenten Formen der ‚Selbst‘-Bildungen als „Frage nach den kulturellen Kriterienkatalogen der Subjekthaftigkeit“73 zu stellen und dann ungebrochen und zeitübergeifend von „Subjektkulturen“, „Subjektformen“ und „Subjektrepräsentationen“ sowie von „Subjektpositionen“74 zu sprechen, soll hier dahingestellt bleiben, kann aber mindestens mit Blick auf vormoderne und außereuropäische Analysen auch bezweifelt werden. Mit Blick auf die historisch-kulturelle Pluralität menschlicher Selbstverständnisse lässt sich ein, wenn nicht sogar der Kern von Subjektivierungsprozessen darin ausmachen, dass Menschen in jeweiligen kulturell und historisch bedingten Mustern sich auf sich beziehen und darin sich als Selbst erlernen. Dabei ist dieser Selbstbezug kein exklusiver, d.h. von anderen Bezügen getrennt, sondern ein strukturelles Moment der Welt- und Anderenbezüge; mehr noch: nur weil wir uns zu uns in den Kategorien der anderen, also in Kategorien, die gerade nicht die unsrigen (allein) sind, verhalten und zu verhalten lernen, sind die Anderen konsti72 Vgl. ausführlicher: Ricken, Die Ordnung der Bildung. 73 Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 11. 74 Vgl. ebd., S. 26 ff. u.ö.
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tutive Voraussetzung des eigenen Selbst. Zugleich hängen diese Selbstbezüge auch an Weltbezügen: Wer Natur als Übermacht und unbeherrschbare Gewalt erlebt, wird sich selbst kaum als sich selbst (und dem anderen) Zugrundeliegendes verstehen können. Insofern gilt es, den vielfältigen (wechselseitigen) Bezügen dieser drei grundsätzlichen Dimensionen der Subjektivierung – Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisse75 – jeweilig genau nachzugehen.
V. Mit der Historisierung und Kulturalisierung von ‚Selbst‘-Bildungen taucht allerdings ein zweites Problem auf, das die denkbare Radikalität der differenten soziokulturellen Formationen berührt; als Frage formuliert: Wie lässt sich fassen, worauf sich die Formung bzw. ‚Selbst‘-Bildung bezieht, was ihr vorhergeht und vermutlich nicht bloß logisch vorausliegt? Auch hier überlagern sich ein begriffliches und ein inhaltliches Problem: Bereits begrifflich wird schnell deutlich, dass es keinen Terminus zur Bezeichnung dessen gibt, was der Subjektivierung vorausliegt, der nicht selbst bereits eine spezifische Interpretation wäre – und insofern bereits selbst Ausdruck einer Formierung ist: weder ‚Akteur‘ noch ‚Individuum‘, allemale nicht ‚Subjekt‘ sind bloß neutrale Bezeichnungen, sondern verdanken sich selbst bestimmten Paradigmen der menschlichen Selbstauslegung; aber auch der Begriff ‚Mensch‘ – bei Foucault heißt es: ‚human beings‘76 – ist, weil als Selbstkennzeichnung und insofern Abgrenzung gegenüber anderen Lebewesen benutzt, nicht frei von Interpretamenten des ‚Menschlichen‘77. Dieser begriffliche Befund kann zunächst als Indikator dafür gelesen werden, dass die behauptete Differenz – zwischen ‚Mensch‘ und ‚Subjekt‘ bzw. ‚Selbst‘ sozusagen – ebenso wenig auflösbar wie hintergehbar ist, so dass Subjektivierung – vielleicht analog zur Figur George Herbert Meads, in der das ‚Ich‘ sich auf ‚Mich‘ bezieht, ohne jemals sich als ‚Ich‘ ansichtig werden zu können78 – selbst auf einer Differenz aufruht, die nicht weiter bearbeitbar ist und – erstens – insofern als vernachlässigbar
75 Die Unterstellung dieser drei Achsen – als Dimensionen der Subjektivierung bzw. ‚Selbst‘-Bildung – entspricht m.E auch den drei von Foucault für seine Arbeiten herausgestellten Achsen der ‚Wissensformationen‘ und ‚Wahrheitsspiele‘, ‚Machtpraktiken‘ und ‚Selbsttechnologien‘, die gerade nicht voneinander – schon gar nicht substantiell – getrennt werden können; vgl. Foucault, „Autobiographie“, S. 699–702. In der Lesart von Deleuze erscheint ‚Subjektvierung‘ dabei als Kennzeichnung der dritten Achse (vgl. Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt am Main 1987); Foucault legt aber m.E. darauf Wert, dass auch Formen der Objektivierung – z.B. Wissenspraktiken – einen Modus der ‚Subjektivierung‘ darstellen. 76 Vgl. Foucault, „The Subject and Power“, S. 326. 77 Vgl. ausführlicher Norbert Ricken, „Menschen: Zur Struktur anthropologischer Reflexionen als einer unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension“, in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, S. 152–172. 78 Vgl. George Herbert Mead, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist (1934), Chicago/London 1962.
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erscheint. Der Nachteil dieser Strategie aber wäre, dass die darin wirksame radikale Historisierung und Entsubstantialisierung letztlich doch nur den modernen Subjektbegriff als eine folgenreiche Selbstüberschätzung wieder inthronisierte: dass nämlich Menschen, was auch immer sie seien, sich selbst zu dem machen können, was sie wollen – bzw. umgekehrt: zu dem gemacht werden können; problematisch ist also, dass hier die ‚Was‘-Frage nach dem Menschen umstandslos und restlos in die ‚Wer‘-Frage und ‚Wie‘-Frage aufgelöst wird. So wenig auch – zweitens – eine substantiale Logik überzeugend ist, derzufolge die historischen ‚Selbst‘-Bildungen nichts anderes wären als bloß unterschiedliche Modulationen eines sich durchhaltenden Kerns, so wenig scheint mir auch – drittens – das radikal-konstruktivistische Gegenstück der ‚freien Kreation‘ plausibel. Einen möglichen Ausweg bietet eine vierte Strategie, nämlich in einer Art (quasi-)transzendentaler Logik einen Begriff einzuführen, der den jeweiligen Paradigmen (wenigstens analytisch) vorausgeht – wie z.B. dies von Christoph Menke mit dem Begriff der ‚Kraft‘ versucht worden ist, der dem ‚Subjekt‘ logisch vorausliegt, so dass die Form des ‚Subjekts‘ als spezifische Zurichtung bzw. Auslegung des Menschen als Kraft verstanden werden kann: „Die Ästhetik der Kraft begründet eine Anthropologie der Differenz: zwischen Kraft und Vermögen, zwischen Mensch und Subjekt“79. Kraft aber, so könnte man einwenden, ist nicht nur selbst Moment einer explizit neuzeitlichen Anthropologie – z.B. im Begriff der Bildung bei Humboldt80 –, sondern auch, weil bloße Potentialität, erstaunlich unbestimmt. Ein Umweg sei daher eingeschlagen. Entlang der bei Gesa Lindemann formulierten Frage,81 ab wann eigentlich nur noch die menschliche Person als legitimer Akteur zugelassen worden ist, ließe sich ja auch fragen, ob sich eigentlich alles – also neben menschlichen Wesen auch Dinge und andere Lebewesen – ‚subjektivieren‘ ließe. Die naheliegende Antwort – vermutlich ‚nein‘ – verweist darauf, dass bestimmte Voraussetzungen gegegeben sein müssen. Man kann selbstverständlich Dingen – und allemal tierischen Lebewesen – so etwas wie einen Akteurstatus zuschreiben; man tut dies bei Dingen oder Tieren wohl eher spekulativ und projektiv – auch wenn ich es für überhaupt nicht abwegig halte, Tieren eine Art (auch freien) Willen zumindest beobachtungstheoretisch zu unterstellen.82 Man unterstellt aber weder Tieren noch Dingen das, was wir üblicherweise als Kennzeichen des Subjektbegriffs verstehen: sich seiner selbst bewusst zu werden und sich aus dieser (notwendig zu re-präsentierenden) Reflexivität zu bestimmen und verantwortlich 79 Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main 2008, S. 10. 80 Vgl. Wilhelm von Humboldt, „Theorie der Bildung – ein Fragment“ (1793), in: Wilhelm von Humboldt (Hg.), Werke, Band 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Stuttgart: 1966, S. 234–240 sowie Clemens Menze, Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen, Ratingen 1965, S. 96-105. 81 Vgl. Gesa Lindemann, „Subjektivierung in Relationen. Ein Versuch über die relationalistische Explikation von Sinn“, in: Alkemeyer et al., Selbst-Bildungen, S. 97–118. 82 Vgl. Dominik Perler, Markus Wild (Hg.), Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, Frankfurt am Main 2005.
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machen zu lassen (sprich: sich selbst zugrunde zu liegen, bzw. genauer: sich selbst als sich selbst zugrunde liegend zu verstehen). Entscheidend scheint mir daran für den Gedanken der Subjektivierung zu sein, dass meine Zuschreibung des Subjektstatus auf ein anderes Wesen oder gar eine Entität sowohl dem Gegenstand als auch vielleicht dem Tier – da bin ich aber schon weniger sicher – insofern äußerlich bleibt, als dass diese Unterstellung gerade nicht wiederum das jeweilige Selbstverständnis in konstitutiver Weise figurierte und bestimmte. Das ist aber bei menschlichen Lebewesen in der Tat – ob grundsätzlich oder bloß graduell, kann jetzt dahin gestellt bleiben83 – anders und auch in unterschiedlichen Konzepten (z.B. dem der ,Bildsamkeit‘)84 immer wieder ausgearbeitet worden. Anders formuliert: Es scheinen spezifische Dispositionen erfüllt bzw. gegeben sein zu müssen, damit Subjektivierungspraktiken überhaupt stattfinden und erfolgreich sein können. Diese lassen sich in einem – sicherlich auch eher spekulativen – Zugriff als eine dispositionell zu verstehende strukturelle Relationalität fassen, die aus mindestens zwei Relationen besteht: Zum einen, dass diese Wesen selbst eine – wie Helmuth Plessner sagen würde – ‚zentrische‘ Relation sind und zwischen sich und anderen (was ja bei Wahrnehmung und Aufmerksamkeit bereits der Fall ist) unterscheiden können; und zum anderen, dass diese Wesen sich auf sich selbst beziehen, und zwar auf sich als einer Relation auf anderes, was Plessners Konzept der ‚Exzentrizität‘ entspräche85. Diese dispositionelle Struktur doppelter Relationalität ist nicht selten in ähnlicher Weise gedacht worden: Auch Søren Kierkegaards Fassung des Selbst als „eines Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält“86, markiert ein eben solches Verhältnisverhältnis.87 In interaktionstheoretischer Sprache würde das bedeuten, dass man nicht nur Erwartungen bezüglich anderer hegt und dass man sich darin zugleich darüber im klaren ist, dass auch die anderen Erwartungen gegenüber einem selbst hegen, sondern dass deren Erwartungen ihrerseits die eigenen zumindest mitsituieren.88 Doppelte Relationalität aber macht – als dann 83 Vgl. dazu ausführlicher die Arbeiten Tomasellos, jüngst Michael Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt am Main 2009. 84 Vgl. Norbert Ricken, „Bildsamkeit und Sozialität. Überlegungen zur Neufassung eines Topos pädagogischer Anthropologie“, in: Norbert Ricken, Nicole Balzer (Hg.), Judith Butler: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden 2012, S. 329–352. 85 Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Frankfurt am Main 1981. 86 Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, 3. Auflage 2010, München 2005, S. 31. 87 Diese doppelte Relationalität ist auch Kern einer anerkennungstheoretisch gedachten ‚Identität‘, wird doch erst so verständlich, warum Fremdverständnisse das eigene Selbstverständnis bedingen können; vgl. ausführlicher Ricken, „Anerkennung als Adressierung“. 88 Vgl. zum Topos der ,doppelten Kontingenz‘ und seiner Theorieherkunft ausführlicher Gesa Lindemann, „Doppelte Kontingenz und reflexive Anthropologie“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 28 (1999), H. 3, S. 165–181. Es sind insbesondere Goffmans Beschreibungen situativer Interaktionen, in denen genau diese Erwartungserwartungen relevant werden – wie z.B. bereits beim Ausweichen auf dem Bürgersteig etc. –, sie enthalten auch den Hinweis, dass man in den Interaktionsritualen neben der Aufführung der Praktik selbst als einer spezifischen Praktik zugleich auch sich selbst als ein spezifischer Jemand (in entsprechenden Imagetechniken) mit zur Aufführung bringt, d.h. auch markiert, als wer man selbst von anderen verstanden werden möchte und als
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immer wieder neu auszugestaltende Struktur verstanden – zweierlei verständlich: Zum einen die erstaunliche ‚Plastizität‘ des menschlichen Selbst; und zum anderen die damit einhergehende ‚Unschärfe‘. Beides ist daher Moment menschlicher ‚Unbestimmtheit‘. Folgt man dieser Weichenstellung, dass Subjektivierung auf eine sozusagen entgegenkommende Struktur angewiesen ist, die in den unterschiedlichen historischkulturellen Formierungen als Struktur jeweilig in einer spezifischen Weise figuriert und akzentuiert wird, dann lassen sich die differenten Paradigmen menschlicher Selbstverständigung weder als bloß sich ändernde Kleider eines immer gleichen Kerns noch als gänzlich voneinander unabhängige und einander fremde Kreationen (oder Produktionen) verstehen. So unterschiedlich die jeweiligen Figurationen auch ausfallen und aussehen mögen, immer muss in diesen spezifischen Akzentuierungen umgegangen werden mit einer (durch die doppelte Relationalität bedingten) dreifachen – ich würde sagen: anthropologischen – Struktur, in der die Momente des Gegebenen, des Aufgegebenen und des Entzogenen paradox ineinander verwoben sind.89 Vereinfacht gesagt: Menschen sind sich in ihrer Gegebenheit immer auch aufgegeben, weil sie ihr Leben nicht einfach leben, sondern führen (müssen), also nicht einfach sind und sein können, was sie sind; diese Aufgegebenheit ist aber in doppelter Hinsicht ‚gebrochen‘: Einerseits, weil Menschen sich aufgrund ihrer Aufgegebenheit ihrer jeweiligen Gegebenheit nicht umstandslos versichern können; und andererseits, weil sie sich selbst aufgrund ihrer konstitutiven Bezogenheit auf Andere und Anderes nicht ungebrochen und vollständig vor sich selbst bringen können. Es ist diese (ebenso grundsätzlich und nicht bloß nachträglich zu veranschlagende) Entzogenheit, die die einfache anthropologische Formel des ‚Gegebenen‘ und ‚Aufgegebenen‘90 zu einem immer nicht gänzlich handhabbaren Knoten und einer paradoxen Konstellation von ‚Gegebenem‘, ‚Aufgegebenem‘ und ‚Entzogenem‘ schürzt.91 Entlang dieser drei Modalitäten ließen sich nun die diffewen man insofern den und die anderen versteht – was dann nichts anderes heißt, als dass man sich selbst – und zwar als ein spezifisches Selbst – von anderen her ‚erlernt‘, ohne dass man dabei die Fremdverständnisse der anderen von einem selbst bloß höflich übernimmt oder das eigene Selbst allein aus sich selbst heraus geradezu schöpferisch hervorbringt. Führt man nun in diese Situation doppelter Kontingenz noch die Figur des Dritten ein, wie dies Gesa Lindemann verschiedentlich und überaus überzeugend vorgeschlagen hat (vgl. Gesa Lindemann, „Die Emergenzfunktion und die konstitutive Funktion des Dritten. Perspektiven einer kritisch-systematischen Theorieentwicklung“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35 (2006), H. 2, S. 82–101), dann kann man einerseits den Aufbau sozialer Ordnungen triadisch nachzeichnen und andererseits plausibel machen, wie diese Ordnungen jeweilig relevant werden für das menschliche Selbstverständnis aufgrund der doppelt relationalen Struktur des Selbstbewußtseins. 89 Vgl. ausführlicher Norbert Ricken, „Menschen: Zur Struktur anthropologischer Reflexionen als einer unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension“, in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart/Weimar 2004, S. 152–172 wie auch Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007, S. 34 ff. 90 Vgl. Jürgen Habermas, „Philosophische Anthropologie“ (ein Lexikonartikel), in: Habermas, Jürgen (Hg.), Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt am Main 1973, S. 105 91 Vgl. dazu die Formulierung bei Jürgen Habermas: „Eigentümlichkeit: daß der Mensch von Haus nicht einfach ist, was er ist. […] Immer schießt in sein Gebaren etwas von dem ein, was der
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ZUR LOGIK DER SUBJEKTIVIERUNG
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renten Paradigmen unterscheiden – und zwar als unterschiedliche Ausgestaltungen und Gewichtungen derselben. Während im christlich-religiösen Denken (z.B. des europäischen Mittelalters) die Dimension der ‚Aufgegebenheit‘ über die scharfe Fassung und Kombination von ‚Gegebenheit‘ mit bzw. von ‚Entzogenheit‘ formiert wird und stillgestellt werden soll (so dass daraus gelöste ‚Selbstbestimmung‘ als anderer Name für ‚Aufgegebenheit‘ auch ausgesprochen kritisch werden konnte), findet sich im europäisch-modernen Subjektdenken eine überaus starke Gewichtung und Inanspruchnahme der ‚Aufgegebenheit‘, so dass auch das ‚Entzogene‘ noch als (unendlich weiter denkbare) ‚Aufgabe‘ ausgegeben werden kann (und erst die Einsicht in die ‚Müdigkeit‘ des Selbst92 macht ‚Entzogenheit‘, wie ich meine, zu einer durchaus kritischen Potenz). Anders formuliert: Einerseits ist es entscheidend, allen drei Dimensionen zu ihrem jeweiligen Recht zu verschaffen; andererseits ist genau dieses unmöglich. Festzuhalten bliebe schließlich die skizzierte Dreidimensionalität: Einerseits als Dreifalt der Dimensionen von Welt-, Anderen- und Selbstverhältnissen (vgl. IV.); und andererseits die eben skizzierte Dreifalt unterschiedlicher Modalitäten (vgl. V.). Mir scheint in beidem ein Gewinn für subjektivierungstheoretische Analysen zu liegen, die – so mein Eindruck – immer wieder auch dazu neigen, das Problem gleichzeitiger Bezogenheit und Entzogenheit zu übergehen und so in den subjekttheoretischen Dualismus von ‚sich machen‘ und ‚gemacht werden‘ zurückzufallen. Dabei kann – und muss – die Frage nach dem (naturalen oder kulturalen) Status der beanspruchten ‚doppelten Relationalität‘ unbeantwortet bleiben, ist doch ‚Kultur‘ nichts anderes als die Ausgestaltung eben dieser (Disposition zur) Selbstbezüglichkeit. Entscheidend ist vielmehr, dass die jeweilig kulturell inszenierten ‚Figuren des Selbst‘ tatsächlich unterschiedlich sind.
Mensch nicht von Natur aus schon ist, wozu er sich selber vielmehr erst macht. […] Das, was am Menschen den Menschen ausmacht, Humanität, hat diesen doppelten Charakter: dem Menschen selbst in die Hand gegeben, zugleich gegeben und aufgegeben zu sein“ (Habermas, „Philosophische Anthropologie“, S. 105). 92 Vgl. auch Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main/New York 2004.
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Anruf und Adresse* I. Der folgende Beitrag stellt zwei Theoriefiguren vor, die für die Analyse von Subjektivierungsprozessen fruchtbar zu machen (und bereits auch vielfältig fruchtbar gemacht worden sind): Louis Althussers Konzept der Anrufung oder Interpellation, das neben anderen Judith Butler aufgenommen und weitergeführt hat,1 und das systemtheoretische Konzept der Adressierung, das insbesondere Peter Fuchs, Michael Hutter und Gunther Teubner ausgearbeitet haben.2 Beide treffen sich in der Distanz zu all jenen Modellen, die ein hypertrophes Subjekt als Ursprung, personalen Kern, Eigentümer und Souverän seiner selbst begreifen. Von Subjektivierung als Anrufung und der Person als kommunikativer Adresse zu sprechen, impliziert immer schon eine Dezentrierung des Subjekts. Geben Theorien der Subjektivierung generell Antwort auf die Frage, wie Menschen zu Subjekten gemacht werden und sich selbst zu Subjekten machen, so setzen die Theoriefiguren der Anrufung und Adressierung bei dem Wörtchen „und“ an und liefern Modelle, wie Formierung und Selbstformierung, gesellschaftliche Fabrikation und Selbstkonstitution des Subjekts miteinander verschränkt sind. Die Untersuchung von Techniken bzw. Technologien der Subjektivierung – der zweite Begriff betont stärker, dass die entsprechenden Praktiken sich auf systematische Wissensproduktion stützen und unterschiedliche Verfahren kombinieren – bezieht daher gleichermaßen Sozial- wie Selbsttechnologien ein und konzentriert sich insbesondere auf die Kopplungen zwischen beiden. Die hier vorgelegte Skizze folgt dem Forschungsprogramm einer Problematisierung der „Menschenregierungskünste“3. Problematisierungen arbeiten, so Michel Foucault, „die Bedingungen heraus, unter denen mögliche Antworten gegeben werden können; sie definier[en] die Elemente, die das konstituieren werden, wor* Der Beitrag greift Überlegungen auf, die der Verfasser an anderer Stelle ausführlicher ausgearbeitet hat: „Der Mensch ist das Maß aller Schneider. Anthropologie als Effekt“, in: Mittelweg 36, 22 (2013), H. 1 (Feb/Mär), S. 68-88. 1 Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Berlin 1977, S. 108-153; Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001, S. 101-123; dies., „Noch einmal: Körper und Macht“, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt am Main 2003, S. 52-67. 2 Peter Fuchs, „Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie“, in: Soziale Systeme, 3 (1997), S. 57-79; Michael Hutter/Gunther Teubner, „Der Gesellschaft fette Beute. Homo juridicus und homo oeconomicus als kommunikationserhaltende Fiktionen“, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch – das Medium der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1994, S. 110-145. 3 Michel Foucault, „Was ist Kritik?“, in: Michel Foucault. Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, ausgew. v. Ulrich Bröckling, Berlin 2010, S. 239 f.
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auf die verschiedenen Lösungen sich zu antworten bemühen“4 – kurzum: sie analysieren die Künste des Regierens und Sich-selbst-Regierens als strategische Antworten auf historisch disparate Probleme der Menschenführung. Damit stellen sie die Frage nach der Subjektivierung in einen anthropologischen Zusammenhang, unterlaufen jedoch zugleich die Grundfrage der Anthropologie nach „dem Menschen“: Wie der Fokus sich vom Subjekt auf die Rationalitäten und Praktiken der Subjektivierung verschiebt, so zielt Anthropologie in dieser Perspektive nicht auf prima philosophia, prima sociologia, prima historia oder prima educatio, sondern auf die Untersuchung der disparaten Wissensregime, Selbst- und Sozialtechnologien, mit denen „der Mensch“ epistemisch hervorgebracht und die Menschen praktisch geformt werden und selbst sich formen. Anders gesagt, die Problematisierung der Menschenregierungskünste fragt danach, auf welche Weise wir zu dem gemacht werden und uns selbst zu dem machen, was uns als anthropologische Eigenschaft zugemutet und zugetraut wird. Menschenbilder und Subjektvorstellungen erscheinen hier als Projektionen in pragmatischer Absicht. Sie stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Erzeugung: Anthropologien weisen Subjektpositionen zu, Subjektivierungsregime generieren Menschenbilder. „Der Mensch“ bzw. „das Subjekt“ figurieren nicht länger als Ausgangspunkt und Essential, sondern als Fluchtpunkt und Effekt ebenso unhintergehbarer wie unabschließbarer Definitions- und (Selbst-) Modellierungsanstrengungen. Frei nach Bert Brechts Keunergeschichte, der seinen Herrn K. auf die Frage, „Was tun sie, wenn sie einen Menschen lieben?“, antworten lässt: „Ich mache einen Entwurf von ihm und sorge, dass er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein […] Der Mensch.“5 Die unterschiedlichen Anthropologien und Subjekttheorien liefern nicht minder disparate Bauanleitungen für professionelle Anthropotechniker und Heimwerker des eigenen Selbst. Vom Menschen sprechen diese Blaupausen nur im Gerundivum, d.h. sie kennen ihn ausschließlich als wissenschaftlich auszuforschendes, pädagogisch zu förderndes, medizinisch zu therapierendes, rechtlich zu sanktionierendes, ästhetisch zu inszenierendes, politisch zu verwaltendes, ökonomisch produktiv zu machendes usw. Wesen. Die Problematisierung der Menschenregierungskünste verschiebt das Augenmerk von den Menschenauffassungen zu den „Menschenfassungen“6, zu den vielfältigen Versuchen, die Menschen durch Wissensordnungen, Zurichtungspraktiken und Subjektivierungsverfahren zu erfassen und in Fasson zu bringen. Und weil es dabei keinen Nullpunkt gibt, an dem die formenden Interventionen auf eine noch unberührte menschliche Natur träfen, erweisen sich die Anthropologien als Effekte von Effekten, die wiederum Effekte zeitigen. Anthropologische Bestimmungen als Widerhall von Subjektivierungsregimen und Subjektivierungsregime als Umsetzung anthropologischer Bestimmungen 4 Michel Foucault, „Polemik, Politik, Problematisierungen“, in: Michel Foucault. Dits et Ecrits. Schriften, Bd. IV, hg. v. Daniel Defert, François Ewald u. Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2005, S. 733. 5 Bertolt Brecht, „Geschichten vom Herrn Keuner“, in: ders., Kalendergeschichten, Hamburg 1953, S. 106. 6 Walter Seitter, Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, Berlin 1985.
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zu beschreiben, bedeutet indes nicht, die einen in den anderen aufgehen zu lassen. Unterschiedlich bleiben insbesondere die gegenläufigen Verallgemeinerungsansprüche: Anthropologisierende Diskurse universalisieren, Theorien der Subjektivierung zielen auf das Besondere (nicht auf das Singuläre!). Die einen sagen „der Mensch“ und meinen alle, die anderen sprechen vom Subjekt und meinen jeden einzelnen. Die Problematisierung von Menschenregierungskünsten weiß nicht, was der Mensch oder das Subjekt tatsächlich sind (oder was sie idealerweise sein sollten), aber umso mehr interessiert sie sich für die Strategien und Taktiken, mit denen genau das definiert und praktisch umgesetzt wird, und sie interessiert sich für intendierten und nichtintendierten Folgen, die dabei zu gewärtigen sind. Gekennzeichnet ist die Problematisierung von Menschenregierungskünsten durch denselben dreifachen Negativismus, den Foucault als einen durchgängigen Grundzug seiner eigenen Arbeiten beschrieben hat:7 In Bezug auf die Reichweite von Anthropologien argumentiert sie erstens historisierend; statt nach den Konstanten sucht sie nach Bruchlinien und Entwicklungspfaden menschlicher Selbstdeutungen und Lebensformen. In ihrer Skepsis gegenüber Universalien ist sie zweitens nominalistisch; sie verzichtet darauf, die Stellung des Menschen in der Welt zu bestimmen, und unterläuft die Frage nach seinem „Wesen“, indem sie die Wahrheitsregime und Wissenspolitiken herauspräpariert, auf welche die disparaten Wesensbestimmungen rekurrieren. Im Hinblick auf normative Setzungen schließlich ist sie drittens nihilistisch; über die moralische Natur des Menschen weiß sie nichts, und von der Orientierung an gleich welchen Humanismen rät sie dringend ab. Umso mehr aber interessiert sie sich für die Herausforderungen, auf welche die Rechtfertigungsordnungen antworten, für die Begründungsfiguren, über die sie sich autorisieren, und für die Unterwerfungs- und Ermächtigungseffekte, die sie zeitigen. Gleichwohl erschöpft sich die Problematisierung von Menschenregierungskünsten nicht im Gestus der Dekonstruktion und belässt es nicht dabei, die Vielfalt und Offenheit anthropologischer Bestimmungen und Subjektpositionen aufzuweisen. Der ungedeckte Essentialismus der Wesensbestimmer liegt ihr so fern wie ein wohlfeiles Anything goes. Indem sie auf Annahmen über die menschliche Natur verzichtet (bzw. sich auf das Minimalanthropologem menschlicher Formbarkeit beschränkt), zugleich aber zeigt, mithilfe welcher Praktiken des Wahrsprechens, der Selbst- und Fremdführung Menschen zu Subjekten gemacht werden und auf welche „dringenden Anforderungen“8 die Regime ihrer Zurichtung und Selbstzurichtung antworten, geraten die gesellschaftlichen Bedingungen, die Materialität und irreversiblen Resultate von Anthropotechniken und Subjektivierungsprogrammen in den Blick. Die Menschenbilder und Menschenfassungen mögen kontingent sein, aber sie sind keineswegs für jeden und jederzeit austauschbar – und sie 7 Vgl. Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesungen am Collège de France 1982/83, Frankfurt am Main 2009, S. 19. 8 Ders., „Das Spiel des Michel Foucault“, in: Michel Foucault. Dits et Ecrits. Schriften, Bd. III, hg. v. Daniel Defert, François Ewald u. Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2003, S. 393.
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haben unter Umständen gravierende Konsequenzen. So sind der Homo oeconomicus und seine zeitgenössischen Derivate zweifellos Konstrukte der Wirtschaftswissenschaften, aber was diese als Verhaltensannahme unterstellen, markiert zugleich einen höchst wirksamen Imperativ: Wir sind nicht nur rationale Akteure bzw. es macht nicht nur Sinn anzunehmen, wir seien es, weil diese Annahme realistische Verhaltensprognosen erlaubt, sondern wir sollen auch rationale Akteure werden, eine Norm, die sich mit der Unerbittlichkeit eines Sachzwangs Geltung verschafft. Dem Gebot, seine Kosten zu senken und seinen Nutzen zu maximieren, entzieht man sich in einer kapitalistischen Gesellschaft nur um den Preis des Untergangs. Die Rede von Anthropotechniken bezieht sich sowohl auf Konzepte des kollektiven Social engineering wie auf Programme individueller Selbstoptimierung. Die „Übungen“ gehören hierher, deren Hohes Lied Peter Sloterdijk in seinen letzten Büchern singt, dem allerdings nichts ferner liegt als jener Negativismus, mit dem Foucault die Mikropraktiken neuzeitlicher Disziplinarmacht wie die antiken Technologien des Selbst seziert hat. Sloterdijk feiert vielmehr die Exerzitien des Selbstund Fremdtunings und dient sich als spiritueller Fitnesstrainer für den allfälligen Survival of the fittest an, in dem, so sein Mantra, nur zarathustrische Virtuosen eine Chance haben werden.9 Zum anthropotechnischen Werkzeug kann das gesamte Spektrum menschlicher Wissens- und Praxisformen werden. Die Menschenregierungskünste stützen sich auf wissenschaftliche Methoden, organisationale Arrangements und rechtliche Regulierungen, auf religiöse Rituale, politische Ideologien oder künstlerische Praktiken, sie nutzen Körper- und Psychotechniken, mediale Hard- und Software, architektonische Ensembles wie überhaupt Artefakte jeder Art. Umgekehrt stecken in all diesen Praktiken, Institutionen, Deutungsmustern und Objekten jeweils spezifische Anthropologien. So bilden statistische Verfahren der Datenerhebung und -auswertung die epistemische Voraussetzung für die soziologische Realfiktion des homme moyen, des Durchschnittsmenschen,10 dessen Eigenschaften unter den Glocken der Gaußschen Normalverteilungskurven verborgen sind. Ohne die elektronischen Kommunikations- und Aufzeichnungssysteme wiederum, die uns umgeben und an die wir angeschlossen sind, gäbe es wohl kaum jene verbreitete Alltagsanthropologie, die uns das menschliche Gehirn, wenn nicht den Menschen insgesamt als informationsverarbeitendes System vorstellen lässt. Und versteht man Menschenbilder ganz wörtlich als Visualisierungen, dann sind sie heute ohnehin ein Photoshop-Effekt. Die Programme der Menschenregierung funktionieren dabei nicht nach einem trivialen Input-Output-Schema, sondern generieren Kraftfelder, die bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher machen (sollen) als andere. Die intendierten Veränderungen können über modifizierte Anreizstrukturen erreicht werden, wel9 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main 2009; ders., Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung, Berlin 2010. 10 Das Konzept des homme moyen geht zurück auf den belgischen Statistiker Adolphe Quételet; vgl. ders., Zur Naturgeschichte der Gesellschaft, Hamburg 1856. Zu den Effekten der statistischen Konstruktion von Normalfeldern vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus, Opladen 1997.
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che die Kosten für unerwünschte Handlungsmuster in die Höhe treiben und die für erwünschte senken. Andere Strategien operieren mit kybernetischen Feedbackschleifen, die fortwährend Ist- und Sollwerte abgleichen, um im Falle von Abweichungen einen ebenso kontinuierlichen Selbstanpassungsprozess in Gang zu setzen. Wieder andere setzen die Wunschmaschinen in Gang und mobilisieren und modellieren Leidenschaften und Ängste. Aber auch biopolitische Kontrollregime und die disziplinierenden Prozeduren des Überwachens und Strafens bilden höchst wirksame Regierungs- bzw. Subjektivierungstechnologien. Da es um Lernvorgänge geht und nicht um Reiz-Reaktions-Automatismen, sind Mitwirkung und Eigeninitiative der Adressaten unverzichtbar. Ohne ein Mindestmaß an Bereitschaft der Regierten, sich regieren zu lassen, und vor allem ohne ihre Bereitschaft, sich selbst zu regieren, müssten alle Menschenregierungskünste verpuffen. Lernen ist ein interaktiver Vorgang und keine Einwegkommunikation, und stets sind neben kognitiven Schemata und körperlichen Praktiken auch affektive Energien im Spiel. Dass die Programme die Freiheit ihrer Adressaten – im Sinne der Freiheit zu lernen oder nicht zu lernen, dieses oder etwas anderes zu lernen – voraussetzen müssen, macht sie anfällig für deren Eigensinn. Subjektivierende Effekte zeitigen nicht nur die Programme der Menschenführung, sondern auch die vielfältigen Anstrengungen, sie umzudeuten, zurückzuweisen oder ihrem Kraftfeld zu entkommen. Problematisierung der Menschenregierungskünste bedeutet nicht zuletzt Problematisierung der vielzitierten kritischen „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“11. – Auch „der Mensch in der Revolte“12 ist anthropologisches Programm und Subjektposition. Umgelenkt, unterbrochen, gebremst oder in anderer Weise modifiziert werden die Kraftfelder der Menschenregierungskünste nicht nur durch die Trägheit, den Unwillen oder die Unerreichbarkeit derjenigen, auf die sie sich richten, sondern auch durch die Tatsache, dass stets eine Vielzahl von Kraftfeldern koexistieren, sich überlagern und konfligieren, sodass ihre Adressaten gleichzeitig gegenstrebigen Kräften ausgesetzt sind. Entsprechend widersprüchlich sind die resultierenden Subjektpositionen, sie markieren nichts anderes als den aktuellen Frontverlauf hegemonialer Kämpfe. Um es mit Paolo Virno dramatisch auszudrücken: „Das Subjekt ist ein Schlachtfeld“13, die Problematisierung der Menschenregierungskünste folglich Kriegswissenschaft.14
11 Foucault, „Was ist Kritik?“, S. 240. 12 Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1953. 13 Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, Berlin 2005, S. 80. 14 Vgl. Seitter, Menschenfassungen, S. 148.
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II. Instruktiv für den Versuch, Anthropologie nicht als Ausgangspunkt, sondern als Effekt zu denken, sind Althussers Konzept der Anrufung und das systemtheoretische Konzept der Adressierung, weil sie rekonstruieren, wie Subjektpositionen und mit diesen auch Menschenbilder und Menschenfassungen einerseits kommunikativ erzeugt und zugewiesen, andererseits angeeignet und in diesem Sinne „subjektiviert“ werden. Althusser hat die Anrufung szenisch zu einem „kleinen theoretischen Schauspiel“ verdichtet: „Es gibt Individuen, die spazieren gehen. Irgendwo (gewöhnlich hinter ihrem Rücken) ist der Anruf zu hören: ‚He, Sie da!‘ Ein Individuum (in 90% der Fälle ist es der Gemeinte) wendet sich um in dem Glauben, der Ahnung, dem Wissen, es sei gemeint und erkennt damit an, daß es ‚gerade es ist‘, an den sich der Anruf richtet.“15 Zu dem, der man ist, so lässt sich die Szene deuten, wird man erstens dadurch, dass man die Stimme eines anderen hört, und zweitens dadurch, dass man sich und nur sich von ihr angesprochen weiß. Die Macht dieser Stimme wird dadurch bestätigt bzw. überhaupt erst eingesetzt, dass der Angerufene sich auf ihren Ruf hin umdreht. Würde das „He, Sie da!“ folgenlos verhallen, gäbe es weder die Autorität noch ein Subjekt, das sich – gehorsam oder widerspenstig – auf sie bezieht. Der Vorgang der Anrufung folgt dem Modell der sprachlichen Signifikation, zielt aber darüber hinaus auch auf die nichtsprachliche Zuweisung von Bedeutung. Judith Butler hat darauf aufmerksam gemacht, dass es sich dabei nicht um einen einmaligen Akt, sondern um einen iterativen Prozess handelt. Die zugewiesenen Bedeutungen sind deshalb niemals stabil, sie werden fortwährend angereichert, unterbrochen, verschoben, übersetzt, und diese performativen Variationen eröffnen Spielräume für die Destabilisierung der Autoritäten. Die Macht der Bezeichnung liegt darin, dass sie das hervorbringt, was sie als gegeben unterstellt. Das gilt für individuelle Selbstdeutungen, und Althussers Anrufungsszene ist in diesem Sinne denn auch vor allem als Theorie der Subjektivierung gelesen worden, es gilt aber nicht minder für die gesellschaftliche Fabrikation von Menschenbildern und -fassungen, die ja wiederum von den Angerufenen angenommen, d.h. subjektiviert werden (müssen). Die Frage nach dem Menschen wird damit zur Frage danach, welche Eigenschaften durch welche Instanzen aufgerufen werden und welche davon bei welchen Adressaten welche Resonanzen auslösen. Wir folgen jenen Anthropotechniken und jenen Anthropotechnikern, deren – wissenschaftliche, moralische, politische, ökonomische, religiöse usw. – Autorität wir anerkennen (wollen und/oder müssen), und in dem Maße, in dem wir uns in ihren Bestimmungen als uns selbst erkennen, machen wir uns zu den Menschen, als die sie uns beschreiben. Wir werden als Freie angerufen, um uns als Freie zu unterwerfen. Subjektivierung als Effekt heißt nicht zuletzt Subjektivierung als Machteffekt. Butler macht deutlich, dass diese freiwillige Anerkennung der Autoritäten (das Umwenden in Althussers Szene) keineswegs als souveräner Akt, aber auch nicht 15 Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, S. 143.
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als blanke Kapitulation zu verstehen ist: „Die Unterwerfung, die Tatsache, daß die menschliche Leidenschaft der Selbsterhaltung uns anfällig und verletzlich gegenüber denen macht, die uns unser Brot versprechen, bringt auch die Möglichkeit der Revolte mit sich. Ohne Appetit wären wir frei von Zwang; weil wir aber von Anfang an dem ausgeliefert sind, was außer uns ist und uns den Bedingungen unterwirft, die unserer Existenz Form geben, sind wir in dieser Hinsicht unwiderruflich möglicher Ausbeutung ausgesetzt.“16 Anders ausgedrückt: Nur weil wir formungsbedürftig sind, sind wir auch formbar; nur weil wir formbar sind, können wir uns dagegen wehren, in bestimmter Weise geformt zu werden. Am Anfang steht, so Butler, eine Konstellation absoluten Ausgesetztseins. Was später „Ich“ heißen wird, ist in seiner Verletzbarkeit angewiesen auf die Unterwerfung unter die „Welt der anderen“, und es muss diese Unterwerfung noch aktiv bejahen, weil die einzige Alternative dazu die Preisgabe der eigenen Existenz wäre. Subjektivierung vollzieht sich in der Folge als eine stets prekäre Identifizierung mit jenen Instanzen, auf welche die Einzelnen angewiesen und denen sie in leidenschaftlicher Verhaftung verbunden sind. An dieser Stelle wird deutlich, dass Butlers Weiterführung der Anrufungsszene nicht frei ist von anthropologischen Setzungen: Ihr Ausgangspunkt, die initiale Ohnmachtserfahrung des Neugeborenen, psychoanalytisch gewendet: das Theorem vom Menschen als Mängelwesen. In ähnlicher Weise wie die Figur der Anrufung verbindet auch das systemtheoretische Konzept der Adressierung Prozesse der Zuschreibung und solche der auf diese reagierenden Selbstkonstitution. Und wie bei der Anrufung geht es ums Ganze: „Die soziale Adresse ist eine Frage des Überlebens“, schreibt Peter Fuchs, nichts ginge für ein Individuum auf dieser Welt, „wenn es nicht die Form der Adressabilität annehmen könnte, wenn es nicht als Abstoßungspunkt für Adressenbildung in Frage käme“.17 Es wäre abgehängt von jeder Kommunikation, auf die es existenziell angewiesen ist. Die Systemtheorie verabschiedet bekanntlich den Begriff der Handlung als soziologische Basiskategorie und ersetzt ihn durch den der Kommunikation bzw. genauer: sie reformuliert den Handlungsbegriff kommunikationstheoretisch. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus handelnden Subjekten, sondern sie prozessieren Kommunikation. Kommunikation wird aber beobachtet als Kette von Mitteilungshandlungen, die wiederum auf „Mitteilungspunkte“ zugerechnet werden müssen. „Irgendjemand, irgendetwas muß ein Verhalten vorgeführt haben, an das angeschlossen werden kann, weil es als Mitteilungsverhalten zu deuten gewesen ist“.18 Anders ausgedrückt: Kommunikation benötigt und produziert Akteursfiktionen, und es ist diese „kommunikative Verfertigung von Akteuren“ als Zurechnungspunkte, auf die das Konzept der Adressierung bzw. Adressabilität abhebt. Akteur ist, auf wen Handeln, insbesondere Mitteilungshandeln zugerechnet werden kann. Kommunikative Prozesse disponieren darüber, wer oder was als soziale Adresse in Frage kommt und wer oder was nicht. Und weil 16 Butler, „Noch einmal: Körper und Macht“, S. 67. 17 Fuchs, „Adressabilität“, S. 61 f. 18 Ebd., S. 59.
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Adressabilität zumindest in der Moderne für jene „Punkte“ reserviert ist, denen ein Bewusstsein und deshalb auch der Status einer menschlichen Person zugesprochen werden, operiert die Konstruktion sozialer Adressen unweigerlich mit anthropologischen Unterstellungen. „Person“ ist die anthropologisch hoch aufgeladene Form, welche die strukturelle Kopplung von psychischen und sozialen Systemen gewährleistet, die Form, in der psychische Systeme sozial adressiert werden.19 Diese Privilegierung psychischer Systeme schließt andere Adressabilitäten jedoch keineswegs aus. Grundsätzlich können auch Organisationen oder nichtmenschliche Entitäten wie Götter und Dämonen als Akteure adressiert werden, was zum einen auf die Formverwandtschaft von „natürlichen“ und „juristischen Personen“ und vergleichbaren institutionellen Akteuren, zum anderen auf die Anthropomorphie von Gottes- und Geistervorstellungen verweist. Wer oder was als adressabel gilt, auf welche Instanzen Mitteilungshandeln zugerechnet werden kann, ist jedenfalls kontingent und selbst ein Effekt kommunikativer Prozesse. Entscheidend ist die Unterstellung einer Instanz, die Mitteilungen als Informationen versteht. Diese Person genannte, kommunikationsermöglichende und -stabilisierende Als-ob-Annahme entspricht in systemtheoretischer Terminologie am ehesten dem, was in anderen Theoriesprachen Subjekt genannt wird. Um die postalische Semantik aufzugreifen: Einen Brief mit einer Adresse zu versehen und abzuschicken, macht nur dann Sinn, wenn erstens der Briefträger unter der angegebenen Anschrift einen Briefkasten mit demselben Namen vorfindet und wenn zweitens der Absender davon ausgehen kann, dass der Empfänger die eingehende Post auch öffnet und liest, was drittens voraussetzt, dass dieser einen Brief mit seinem Namen und seiner Anschrift auf dem Umschlag als an sich gerichtet erkennt. (Die Parallele zum Ruf des Polizisten und dem SichUmwenden des Angerufenen ist offenkundig.) In funktional differenzierten Gesellschaften schaffen die verschiedenen Subsysteme sich je spezifische kommunikative Adressen. Das Wirtschaftssystem operiert mit einer anderen Akteursfiktion als das Rechtssystem und dieses wiederum mit einer anderen als das politische System usw. Jedes soziale Subsystem besitzt sein eigenes Rationalitätsmodell, es „sieht“ und personifiziert mit dessen Hilfe spezifische menschliche Eigenschaften, und es „sieht“ und personifiziert ausschließlich diese. „Es gibt eine je systemrelative Zurechnung von Handlungen, Verantwortung, Rechten und Pflichten, subsystemspezifische Ausstattung der Personen mit Kapital, Interessen, Intentionen, Zielen und Präferenzen. Jedes Subsystem erfindet sich sozusagen seine eigene Sozialpsychologie“20 – und eben auch sein eigenes Subjektmodell. Die als Homo oeconomicus, Homo juridicus, Homo politicus, Homo religiosus, Homo scientificus usw. gleich mehrfach adressierten psychischen Systeme wiederum lassen sich in dieser Weise adressieren, weil sie selbst die spezifischen Akteursfiktionen des jeweiligen Funktionssystems nutzen, um mit ihren Bewusstseinsoperationen an die kommunikativen Operationen in Wirtschaft, Recht, Politik, Religion, 19 Vgl. Niklas Luhmann, „Die Form ‚Person‘“, in: ders., Soziologische Aufklärung 6, 3. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 146. 20 Hutter/Teubner, „Der Gesellschaft fette Beute“, S. 121.
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Wissenschaft usw. anzudocken und so Sinn zu kontinuieren. Hutter und Teubner beschreiben diese Kopplung als ein wechselseitiges Parasitieren von sozialen und psychischen Systemen und zugleich als Verschränkung von Konditionierungs- und Selbstkonditionierungsprozessen: Die Sozialsysteme wählen spezifische Personkonstruktionen aus, d.h. sie beziehen sich in ihren Operationen jeweils nur auf einen kleinen Ausschnitt der viel komplexeren psychischen Prozesse. „Diese nur selektive soziale Wahrnehmung der Psyche wird wiederum psychisch wahrgenommen. Die Denkprozesse der Psyche werden somit vom sozialen Subsystem konditioniert, aber nur indirekt, weil sich die Psyche selbst sozialisiert.“21 Wie die Anrufung das Sich-Umwenden der Angerufenen so setzt die kommunikative Produktion sozialer Adressen die Koproduktion der Produzierten voraus. Die spezifischen Rationalitäten der gesellschaftlichen Subsysteme aktualisieren in ihren Adressierungen immer nur einzelne Aspekte menschlicher Verhaltensmöglichkeiten, nur höchst selektive Subjektpositionen, sie spreizen diese aber zugleich zu anthropologischen Wesensbestimmungen und verallgemeinerten Selbstkonzepten auf. Aus der Perspektive des Wirtschaftssystems „ist“ man ein Homo oeconomicus eben nicht nur an der Kasse im Supermarkt oder beim Abschluss eines Arbeitsvertrags. Umgekehrt greifen die psychischen Systeme auf diese subsystemspezifischen Adressierungen zurück, um sich mit Hilfe des im Sozialsystem geformten Personbegriffs selbst zu beschreiben. Die gesellschaftlichen Funktionssysteme erzeugen mit ihren Personkonstruktionen bzw. sozialen Adressen in den psychischen Systemen Irritationen, die es diesen ermöglichen, „am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird“.22 Subjektivierung als Prozess der Formierung und Selbstformierung bedeutet in systemtheoretischer Perspektive genau dies: Irritationen durch die sozialen Systeme und ihre Verarbeitung durch die psychischen Systeme. Anthropologische Bestimmungen als soziale Adressierungen zu beschreiben, hebt einerseits die diskursive Verfasstheit von Menschenbildern und Menschenfassungen hervor und bindet diese andererseits an grundlegende soziale Institutionen zurück. Der Homo oeconomicus oder Homo politicus z.B. sind keine willkürlichen narrativen Konstrukte, sondern Chiffren für funktionsspezifische Anforderungsprofile, die definieren, wie sich Menschen als Akteure zu begreifen und wie sie zu agieren haben, um am Wirtschafts- bzw. politischen Geschehen partizipieren zu können. Mit jedem Kaufvertrag reproduziert das Wirtschaftssystem die Realfiktion des Homo oeconomicus, mit jedem Wahlakt das politische System die des Homo politicus, und mit jedem Kaufvertrag und Wahlakt richten die beteiligten psychischen Systeme ihre Selbstreflexion an diesen Fiktionen aus. Dasselbe gilt für die Personkonstruktionen etwa des Wissenschafts-, Religions-, Erziehungs- oder Rechtssystems. Jedes Funktionssystem generiert und universalisiert seine eigene Sonderanthropologie, seine spezifischen Subjektpositionen, umgekehrt sorgt die funktionale Differenzierung der Gesellschaft dafür, dass diese Sonderanthropologi21 Ebd., S. 119. 22 Luhmann, „Die Form ‚Person‘“, S. 146.
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ULRICH BRÖCKLING
en und Subjektpositionen sich in ihrem Universalisierungsanspruch wechselseitig begrenzen. Als Adressierungsinstanzen fungieren indes nicht nur die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme, sondern ebenso Organisations- und Interaktionssysteme sowie Netzwerke. Auch Familienvater, Mitarbeiterin, Konzertbesucher oder Demonstrantin sind soziale Adressen und verbunden mit spezifischen Vorstellungen menschlicher Lebensformen. Auf welcher Ebene der Systemintegration auch immer sich Kommunikationen ereignen, stets operieren sie mit Akteursfiktionen und den in diese eingelassenen Anthropologien und Subjektkonzepten. Der Grad ihrer Stabilität und ihr Radius variieren. Für die psychischen Systeme ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die konkurrierenden Adressierungen so auszubalancieren, dass trotz der divergierenden Rationalitätsmodelle und Handlungsorientierungen Sinnzusammenbrüche vermieden werden. Ebenso wie im Subjekt der Anrufung kreuzen sich in der Person als soziale Adresse unterschiedliche Menschenbilder und -fassungen, genauer: Subjekt wie Person sind der Kreuzungspunkt der von disparaten anthropologischen Programmen generierten Kraftfelder. Die Semantik der Regierungskünste impliziert Steuerungswillen und Steuerungskompetenz. Die Theoriefiguren von Anrufung und Adressierung reflektieren in unterschiedlichen Begrifflichkeiten, dass Steuerung keineswegs deterministisch, sondern als „Führung der Führungen“23, als Definition von Möglichkeitsräumen und Anstoßen von Selbststeuerungsanstrengungen zu verstehen ist. Beiden verstehen Subjektivierung nicht als Einbahnstraße, sondern als Resonanzverhältnis. Stärker noch als Althussers Anrufungsfigur löst das systemtheoretische Konzept der Adressierung die Analytik der Menschenregierungskünste von der Vorstellung personaler Regentschaft. Dass Anthropologien Effekte von Interpellationen oder der Zuweisung kommunikativer Adressen sind, bedeutet gerade nicht, dass sie sich auf die hehren oder finsteren Intentionen irgendwelcher Anthropotechniker reduzieren lassen. Ebenso wenig jedoch exekutieren die anthropologischen Regime einfach nur funktionale Systemerfordernisse oder die Imperative ideologischer Staatsapparate. Sie sind vielmehr darauf angewiesen, subjektiviert zu werden, d.h. in den Einzelnen Resonanzen in Gestalt von veränderten Selbstdeutungen und Selbstpraktiken zu erzeugen. Resonanzen sind zwar nicht unabhängig von, aber sie sind auch niemals identisch mit den Impulsen, durch die sie ausgelöst werden. Sie entstehen nur dort, wo die Ausgangssignale auf einen Empfänger treffen, der ihre Schwingungen auffängt und diese zugleich verstärkt, dämpft oder moduliert. Das gilt erst recht, da in der Regel unvereinbare Impulse parallel zu verarbeiten sind und beispielsweise der Wirtschaftsmensch zugleich als politisches Subjekt, der Bourgeois zugleich als Citoyen gefordert ist – oder zeitgenössischer: das risikoaffine unternehmerische Selbst, das in Erwartung künftiger Gewinne Wetten auf die Zukunft eingeht, zugleich als risikoaverses präventives Selbst agieren soll, dessen Zukunftserwartungen
23 Vgl. Michel Foucault „Subjekt und Macht“, in: ders. Dits et Ecrits. Schriften, Bd. IV, S. 286.
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darauf zusammengeschrumpft sind, dass es bestenfalls ganz so schlimm doch nicht kommen wird.24 In ihrer Polyphonie, dem Zusammentreffen widersprüchlicher Subjektanrufungen und -adressierungen, erweisen sich die Menschenregierungskünste als umkämpfte Projekte von prekärem Status. Die Menschen, die regieren, regiert werden und sich selbst regieren sollen, liegen diesen Künsten nicht voraus, sie sind ihre Projektionen. Anthropologie als Effekt meint genau dies: Die Bestimmungen des Menschen folgen den Anstrengungen, sie zu formen und zu jenen zu machen, die sie, glaubt man den anthropologischen Programmen, immer schon sind.
24 Vgl. zu diesen gegenläufigen Anrufungen bzw. Adressierungen Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007; Martin Lengwiler/Jeannette Madarász (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010.
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‚Anerkennen‘ und ‚Anrufen‘ Figuren der Subjektivierung Der Ausdruck ‚Subjektivierung‘ macht verständlich, was es heißt, dass Menschen Urheber und Grund ihres Denkens und Handelns sind. Er erläutert die Subjektivität von Subjekten als einen Prozess oder eine Bewegung: Menschen sind Subjekt ihrer Akte und Urteile in der Weise, dass sie sich zum Subjekt machen oder zum Subjekt gemacht werden; sie sind nie einfach Subjekt, sondern sie werden nur je Subjekt. So versteht man den Titel ‚Subjekt‘ nicht mehr als Eigenschaft einer Substanz, sondern als einen praktischen Modus, in dem Menschen miteinander sind. Man versteht, dass Menschen Subjekte ihrer Taten und Urteile sind, indem man differenziert, wie sie sich handelnd und urteilend zu dem, was sie (als Subjekt ihrer Subjektivierung) doch schon sind, erst machen, oder wie sie (als Objekt ihrer Subjektivierung) dazu gemacht werden. Man versteht damit indes noch zu wenig, denn entweder sind Subjekte (als Subjekte ihrer Subjektivierung) schon, was sie doch erst werden sollten, oder sie werden es (als Objekte ihrer Subjektivierung) nur in einem grundsätzlich anderen Sinne. Beide Perspektiven verfehlen, was sie erklären wollen: Was es heißt, dass Menschen Urheber und Grund ihres Denkens und Handelns sind. Der entscheidende Zug des modernen Umgangs mit dieser Schwierigkeit besteht darin, die Sozialität und das politische Dasein von Menschen in den Begriff der Subjektivierung aufzunehmen. Subjekte ‚sind‘ nur vorstellbar im Verhältnis zu anderen Subjekten, der Prozess der ‚Subjektivierung‘ ist ein Prozess zwischen Subjekten: So erläutern es die Figuren der „Anrufung“ und der „Anerkennung“. Auf den ersten Blick scheinen beide das Dilemma zwischen passivem SubjektiviertWerden und aktivem Sich-Subjektivieren zu reproduzieren. Ich will zeigen, dass dieser Schein trügt – jedenfalls dann, wenn man beide Figuren so versteht, dass sie sich wechselseitig erläutern, und nicht als alternative Modelle der Subjektivierung. Zuerst erläutere ich, was es heißt, das Subjekt-Sein als Subjektivierung, als eine normative Prozess- oder Vollzugsform zu verstehen. Dann verfolge ich die Perspektiven, die diesen Prozess als ein Machtgeschehen (ein Angerufenwerden) und als tätigen Bezug zwischen Subjekten (ein Anerkennen) modellieren. Beide Modelle erläutern, was ‚Subjektivierung‘ heißt, an der Struktur des Verhältnisses zwischen Menschen; sie unterscheiden sich darin, wie sie die Aspekte des Tuns und Erleidens in diesem Verhältnis gewichten. Daran, dass die Modelle an entscheidender Stelle ineinander umschlagen, wird sich zeigen, dass die Spannung zwischen beiden gemeinsam das vorstellt, was jedes für sich verfehlt: Den Begriff der prekären Vollzugsform praktischer Subjektivität.
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1. Der Vollzug normativer Selbstverhältnisse In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert Immanuel Kant die Idee des modernen Subjekts: die „Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Wesens“. So erklärt Kant die Freiheit des modernen Subjekts: Es folge einem Willen, der dem Sittengesetz nicht einfach unterworfen ist, sondern „als gesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß“.1 Das ist, wenn es stimmt, eine paradoxe Formulierung – nicht deshalb, weil darin die Unterwerfung unter ein selbstgegebenes Gesetz als Freiheit deklariert würde2, sondern weil in ihr der Akt der Selbstgesetzgebung, in dem die Freiheit des Subjekts sich ausdrücke und verwirkliche, vielmehr als unfrei gedacht werden müsse. Terry Pinkard nennt das das „Paradox der Autonomie“: „But if the will imposes such a ‚law‘ on itself, then it must do so for a reason (or else be lawless); a lawless will, however, cannot be regarded as a free will; hence, the will must impose this law on itself for a reason that then cannot itself be self-imposed (since it is required to impose any other reasons).“3 Pinkard betrachtet die Struktur der Begründungen, die die Idee des freien Willens als vernünftig zwingend erweisen soll. Weil er sich diese Struktur als einen Verlauf vorstellt, an dessen Ende der Akt der Selbstgesetzgebung, der Amtsantritt des freien Subjekts stehen soll, muss er zugeben, dass das grammatische Subjekt dieses Akts noch nicht dasjenige sein kann, das der Akt hervorbringen wird. Die Quelle des freien Subjekt-Seins, schließt er, ist ein Akt der Unterwerfung. Man kann aus dieser Beobachtung auf eine Art historistisches Apriori des Subjektseins schließen. So versteht Michel Foucault im Rückblick seine frühen Arbeiten: als eine „Art Ideologieanalyse“, die offenlegt, unter welchen ‚Gesetzen‘ und Ansprüchen, in welchen „normativen Verhaltensmatrizen“ Individuen je schon stehen. Die Idee des ‚freien Subjekts‘, das sich aus Vernunftgründen unter sein eigenes Gesetz stellt, wäre dann nur eine bestimmte Aktualisierung der mannigfaltigen, historisch varianten „virtuelle[n] Existenzmodi für mögliche Subjekte“4. Am Ursprung des freien Subjekt-Seins steht ein Unterworfen-Sein unter die möglichen Arten und Weisen, in denen Subjektivität unter historisch bestimmten sozialen und politischen Bedingungen vorstellbar und realisierbar ist. Man sieht dann, dass das „Paradox der Autonomie“ noch bedrohlicher ist, als es in der Gestalt erscheint, die
1 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke. Bd. 5, Darmstadt 1983, S. 7-102, hier: S. 63 f. (BA 70 f.). 2 Dieses Problem verschwindet, wenn man das Präfix ‚selbst‘ im Ausdruck ‚Selbstgesetzgebung‘ nicht adverbial auf den Akt des Gesetzgebens bezieht, sondern attributiv auf das gegebene Gesetz: Autonomie heißt dann, sich unter sein eigenes Gesetz stellen oder sich dem Gesetz unterstellen, das sagt, wer man ist; vgl. die Entwicklung dieses Arguments bei Christoph Menke, „Autonomie und Befreiung“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 675-694, hier: S. 678. 3 Terry Pinkard, German Philosophy 1760-1860: The Legacy of Idealism, Cambridge 2002, S. 226. 4 Michel Foucault, Regierung des Selbst und der Anderen. Vorlesungen am Collège de France 1982/83, Frankfurt am Main 2009, S. 15.
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Pinkard ihm gibt. Wenn man Subjektivität im Allgemeinen als Kreuzungs- und Artikulationspunkt pluraler Wirkvermögen modelliert, und diese Modellierung unterscheidet von der begrifflichen Form, in der die so Vermögenden sich ihre eigene Macht vorstellen, dann ist nicht nur der Grund freier Selbstgesetzgebung fraglich. Nicht nur die anspruchsvolle Idee eines absolut freien Willens, sondern der Begriff des Handelns wird grundsätzlich unverständlich. Judith Butler sieht das, wenn sie fragt: „How can it be that the subject, taken to be the condition for and instrument of agency, is at the same time the effect of subordination, understood as the deprivation of agency? If subordination is the condition of possibility for agency, how might agency be thought in opposition to the forces of subordination?“5 Mit dem Verbalsubstantiv ‚Subjektivierung‘ sollen beide Hörner dieses Dilemmas ernst genommen und zusammengespannt werden. Der Terminus behauptet: Es besteht kein Widerspruch zwischen „agency“ und den „forces of subordination“, sondern ihre Spannung definiere den Begriff des Handeln-Könnens –„agency may well consist in opposing and transforming the social terms by which it is spawned“6. Diese begriffliche These besagt: Sich ein wirkliches Subjekt vorstellen7 heißt, sich ein Subjekt vorzustellen, das genau in der und durch die Art8, wie es sich zu den „virtuellen Existenzmodi möglicher Subjekte“ (Foucault) verhält, das ist, was als ‚ein Subjekt‘ angesprochen werden kann. Der Begriff des ‚Subjekts‘ ist – nicht anders als der Begriff des ‚Selbstbewusstseins‘ – nur insofern ein epistemischer Begriff, als er eine praktische Problemlage reflektiert9: Wie es funktioniert, sich praktisch zu sich selbst und zu seinen heteronomen Bedingungen zu verhalten.10 So beschreibt ‚Subjektivierung‘ einen praktischen Vollzug. Dieser Vollzug hat eine normative Struktur: Er kann mehr oder weniger gut gelingen; er kann misslingen. Der Maßstab, an dem solche Urteile über den Vollzug der Subjektivierung sich bemessen, muss die moderne Idee des freien Subjekts sein: Sie gibt allgemein die Form an, auf deren Verwirklichung der Prozess der Subjektivierung hinausläuft. Zugleich aber darf die Erläuterung des Subjekt-Seins als Subjektivierung nicht resultativ verstanden werden – denn diese Vorstellung, in der ein Akt (ein Prozess, ein Vollzug) das Subjekt-Sein performativ bewirke oder herstelle und in ihm terminiere, 5 Judith Butler, „Introduction“, in: The Psychic Life of Power: Theories in Subjection, Stanford, CA, S. 1-30, hier: S. 11. 6 Ebd., S. 29; Hervorh. Verf. 7 Ich spreche von einem ‚wirklichen Subjekt‘, um die Verschiedenheit eines solchen Gedankens von einer (im Zweifelsfall bloß nominaldefinitorischen) Modellierung hervorzuheben. Man kann auch sagen: Sich ein wirkliches Subjekt vorstellen, heißt, sich wirklich ein Subjekt vorstellen. 8 So verstehe ich den doppelten Genitiv in der Rede von „Techniken der Subjektivierung“, wie sie im Titel dieses Bandes auftaucht: Als Spannung zwischen einer instrumentellen Ausdeutung (Subjektivierung vermittels bestimmter Techniken i.S. einer Handlungsweise oder techné) und einer medialen Ausdeutung (Subjektivierung durch bestimmte Techniken im Sinn von Möglichkeitsräumen). 9 So heißt es bei Christine M. Korsgaard, „The Authority of Reflection“, in: Onora O’Neil (Hrsg.), The Sources of Normativity, Cambridge 1996, S. 90-130, hier: S. 100: „The reflective structure of the mind is a source of ‚self-consciousness‘ because it forces us to have a conception of ourselves“. 10 Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/M. 1979, Vorl. 1.
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führte erst in die Paradoxie, auf die die Idee der Subjektivierung reagierte. Man kann das so ausdrücken: Das Subjekt-Sein ist nicht äußerliches telos eines Prozesses, den man sich als Sukzession faktischer Akte vorstellt, sondern das Subjekt-Sein ist das immanente telos einer praxis, die strukturiert ist durch die „Pragmatik des Selbst“11. Es läge nahe, das als die Figur einer unendlichen Annäherung an die Idealform moderner Subjektivität misszuverstehen. Das kann aber nicht stimmen, weil so erstens die normativen Unterscheidungen von ‚frei‘ und ‚gezwungen‘, von ‚Macht‘ und ‚Gewalt‘, denen die Beurteilung der Subjektivierung folgt, sinnlos würden: Im Licht eines unerreichbaren Ideals wären ‚Annäherung‘ und ‚Abweichung‘ gleichgültige Bewegungen. Zweitens tauchte in diesem Verständnis die passive, die erlittene ‚Subjektivierung‘ nur als beiläufige, der Idee des Subjekts äußerliche Behinderung auf. ‚Subjektivierung‘ sollte aber gerade bedeuten, die Heteronomie am Grund z.B. der ‚Selbstgesetzgebung‘ nicht als ärgerliche Störung aufzufassen, sondern als etwas, das intern zum Begriff der Subjektivität gehört12 – etwas das, paradox, Autonomie möglich macht. Die autonomietheoretische und die machttheoretische Formulierung sind Perspektiven auf eine Gestalt: Den Vollzug eines freien Selbstverhältnisses, die Praxis des Subjekt-Seins. In ihr steht der Einzelne einerseits unter Bedingungen und Regeln, die er – als ‚Gesetze‘ – anerkennen muss. Insofern zwingen Gesetze: sie richten sich allgemein an ‚alle und jeden‘, und erlauben es dem singulären Einzelnen nur, sich sub specie dieser Allgemeinheit zu verstehen – als einen von ‚allen und jedem‘. Andererseits hängt die Idee solcher unbedingten Gesetze daran, dass sie praktisch anerkannt sind – die Anerkennung des Gesetzes lässt sich durch das Gesetz nicht erzwingen. Die Anerkennung des Gesetzes setzt seine Kenntnis voraus; das Gesetz kennen aber heißt sagen können, inwiefern man unter es fällt (sein ‚Subjekt‘ ist), und inwiefern man nicht unter es fällt (freies ‚Subjekt‘ dieses Entzugs ist)13. Die Figuren der ‚Anrufung‘ und des ‚Anerkennens‘ entwickeln diese Differenzierung, indem sie die bislang ganz allgemein gefasste Spannung zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Gesetz‘, zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Macht‘ zurückbeziehen auf das praktische Verhältnis zwischen Menschen. Sie machen sichtbar, dass das „Paradox der Autonomie“ nur ein unzulässig zugespitzter Hinweis darauf ist, dass die praktische, situative – soziale und politische – Vermittlung dieser Spannung notwendig scheitern können muss.14 Darin entwickeln sie aber zugleich die Bestimmungsstücke einer Idee praktisch gelingender Subjektivierung. 11 Michel Foucault, Regierung des Selbst und der Anderen, S. 17. 12 Vgl. Christoph Menke, „Innere Natur und soziale Normativität. Die Idee der Selbstverwirklichung“, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 2005, S. 304-352, hier: S. 346 f. 13 Diesen Gedanken borge ich bei Alexander García Düttmann, „A Matter of Life and Death: Spinoza and Derrida“, in: Dimitris Vardoulakis (Hg.), Spinoza Now, Minneapolis, MS 2011, S. 351362, hier: S. 356. Wenn ich ihn richtig verstehe, haben seine Gedanken ein ganz ähnliches Ziel. 14 Vgl. dazu neuerdings die Analyse von Dirk Setton, Unvermögen. Die Potentialität der praktischen Vernunft, Zürich u. Berlin 2012, v.a. Kap. 2.5 u. 2.7. Ich bin mir unsicher, ob Settons überzeugende Zurückweisung neoaristotelischer Konzepte des Scheiternkönnens auch meine Argumentation betrifft, wünschte mir aber, sie täte es nicht.
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(2) Anrufung als Form des Subjekts? Der Grund des freien Subjekts ist seine heteronome Unterwerfung: Das ist das Paradox der Autonomie. Louis Althusser erläutert, was das konkret bedeutet: „Jede Ideologie ruft die konkreten Individuen als konkrete Subjekte an, indem die Kategorie des Subjekts funktioniert. […] Man kann sich diese Anrufung anhand der banalsten alltäglichen Anrufung vorstellen […]: ‚He, Sie da!‘ Einmal unterstellt, dass die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, dann dreht sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, dass der Anruf ‚genau‘ ihm galt und dass es ‚gerade es war, das angerufen wurde‘ (und niemand anderes).“15
Diese Beschreibung bereitet gewisse Schwierigkeiten; sie klingt, als formuliere sie lediglich eine ziemlich schlichte Vorstellung darüber, wie Lebens- und Herrschaftsweisen vernünftige Einsichten verfremden und, mitunter, unterdrücken können. Althusser empfiehlt sich als Exempel für die Rekonstruktion der Anrufungsfigur nicht zuletzt aber deshalb, weil er ‚Ideologie‘ gerade nicht als ‚falsches Bewusstsein‘, ein Set heteronomer oder manipulierter Normen und Überzeugungen versteht, die primär durch theoretische Bemühungen zu berichtigen wären. Die (begriffliche) Kategorie des ‚Subjekts‘ gewinnt ihren Sinn durch die Funktion, die sie im wirklichen Leben spielt. Das berechtigt dazu, in gewisser Hinsicht alle begrifflichen (oder ‚philosophischen‘) Sätze auch als ‚Ideologie‘ zu thematisieren, weil sie „das imaginäre Verhältnis [der] Individuen zu den realen Verhältnissen [repräsentieren], unter denen sie leben“16. Die Rede vom ‚Subjekt‘, von ‚Subjektivierung‘ erfüllt eine Funktion in der Art und Weise, wie wir uns unser Leben vermitteln (vorstellen, darüber reflektieren) – und zwar unbesehen der Geltung, die sie beanspruchen kann. Althusser unterscheidet mithin zwei kategoriale Aspekte oder Hinsichten, unter denen die Funktion solcher Reden – und in der Tat aller ‚begrifflichen‘ oder ‚philosophischen‘! – Reden reflektiert wird: Sie als ‚Ideologie‘ zu betrachten heißt, nach ihrem konkreten Ort im Leben wirklicher Menschen zu fragen. Sie als ‚Theorie‘ zu betrachten heißt, abgesehen vom Sprecher und dem Äußerungskontext nach ihren Geltungsansprüchen und -bedingungen zu fragen. Beide Perspektiven können, ja müssen immer eingenommen werden: Wer die erste ausblendet, vergisst, dass Philosophie ihren Sitz im praktischen menschlichen Leben hat; wer die zweite ausblendet, begeht den Kategorienfehler, dass er die Angemessenheit, Kohärenz und Konsistenz philosophischer Gedanken auf faktische (‚empirische‘) Funktionserfüllung reduziert. Althusser macht mit diesem Gedanken denn auch terminologisch ernst: Das reflexive Selbstverhältnis von Menschen ist ideologisch – es lässt sich auch in der Ge15 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. 1. Halbbd., hg. von Frieder Otto Wolf, Hamburg 2010, S. 88 f. 16 Ebd., S. 78.
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stalt, die es durch die Philosophiegeschichte gewonnen hat, nur analytisch von den politischen und gesellschaftlichen Lebensumständen, denen es Ausdruck verleiht, unterscheiden. Die Ideologie (im Singular – der Zusammenhang von Selbstverhältnis und Lebensweise im Allgemeinen) ist in ihrer Geltung „subjektlos“ und zeitenthoben. Sie hat, verstanden als kategorialer Zusammenhang, „keine Geschichte“17 – auch wenn freilich die konkrete Art und Weise, in der dieser Zusammenhang historisch spezifisch reflektiert wird, als Geschichte der Ideologien (im Plural) erzählt werden muss. Beide Aspekte sind notwendig aufeinander bezogen: Philosophien können nur in dem Maße Geltung beanspruchen und darin mehr als bloße Ideologie sein, wie sie die Form unseres tätigen Lebens explizieren und orientieren – und ‚unser Leben‘ ist genau dasjenige, was wir uns in der reflexiven Ausdeutung unserer Praxis „imaginär repräsentieren“. Aus der Einsicht, dass eine Philosophie (ein philosophischer Entwurf, Diskurs, ein ‚System‘) immer auch eine „ideologische Vorstellung von der Ideologie“ – ja, dass die Philosophie (das Philosophieren im Allgemeinen) immer auch „die Ideologie der Ideologie“ ist, folgt indes kein (historischer oder geltungstheoretischer) Relativismus.18 Der folgte nur, wenn man diese Überlegungen empiristisch direkt auf faktive Lebensformen einerseits und irgendwie ‚vorfindliche‘ Ideologien andererseits ‚anwenden‘ wollte. Einen solchen Fehlgriff gibt die Modellierung sachlich nicht her.19 Sie radikalisiert nur das Problem der Subjektivierung, das die „Paradoxie der Autonomie“ aufwirft, indem sie es kategorial als ein praktisches Problem sichtbar macht: ‚Philosophie‘ ist höherstufige Subjektivierung. Sie artikuliert das Selbstbewusstsein unserer Praxis.
17 Ebd., S. 85. 18 Ebd., S. 81 f. 19 Althusser selbst scheint das anders zu sehen. Man kann seine Sorge vor einer solchen Deutung z.B. in der Formulierung sehen, „dass die Ideologie (für sich) kein Äußeres kennt, aber zugleich (für die Wissenschaft und in Wirklichkeit) nur Äußeres ist“ (Ebd., S. 90; im selben Sinn Louis Althusser, Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler, Hamburg 1985, S. 54). Althusser unterläuft mit der starken Unterscheidung von „Ideologie“ und „Wissenschaft“ seine eigene Modellierung – offenbar möchte er seine eigenen Überlegungen nicht im selben Sinn als ‚Philosophie‘ qua Binnenreflexion der Ideologie, sondern als eine ‚objektive‘ und darin ‚wissenschaftliche‘ Perspektive verstehen. Das unterbietet seine eigene Reflexion, derzufolge „Wissenschaft“ und „Ideologie“ Titel einer aspektuellen Unterscheidung sind. Ihn sorgt die Konsequenz, dass damit auch die Kritik der politischen Ökonomie immer auch als ideologische Formation zu verstehen wäre, weil die Geltungskriterien der kategorialen Rekonstruktion der Reproduktionsform bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften selbst Produkt dieser Gesellschaft sind (vgl. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 98 f.). Gegen diese Konsequenz setzt er, zumindest rhetorisch, das Bekenntnis zu einem szientistischen Materialismus. Darin kann man ihm nicht folgen. Man könnte argumentieren, dass dieser Szientismus ein sachfremdes Philosophem sei, das der „spontanen Philosophie des Wissenschaftlers“ Althusser geschuldet ist; es scheint aber eher so, als habe Althusser die volle Reichweite seines Arguments missverstanden. Er bemerkt, dass Philosophie „nicht (eine) Wissenschaft“ ist, weil sie „kein Objekt [hat] in dem Sinn, wie eine Wissenschaft ein Objekt hat“ – aber er schließt daraus, dass die Philosophie „in letzter Instanz ... Klassenkampf in der Theorie“ sei (Louis Althusser, „Antwort an John Lewis“, in: Horst Arenz/Joachim Bischoff/Urs Jaeggi (Hg.), Was ist revolutionärer Marxismus? Kontroverse über Grundfragen marxistischer Theorie zwischen Louis Althusser und John Lewis, Berlin 1973, S. 35-76, hier: S. 67). Damit kollabiert ihm – „in letzter Instanz“ – die Unterscheidung zwischen ‚Theorie‘ und ‚Ideologie‘.
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Die „theoretische Szene“ des Anrufs inszeniert das „Paradox der Autonomie“ als ein in doppelter Hinsicht praktisches Problem: Sie stellt erstens die Idee des Subjekts als untrennbar von einem bestimmten Verhalten vor. Der von einem Polizisten angerufene Mensch ist passives Subjekt – hier: des Rechts und der Staatsgewalt –, weil er sich umdreht. Die Szene illustriert am Alltäglichen, dass ‚Denken‘ Wirklichkeit hat – dass es ein Aspekt unseres praktischen Lebens ist. Althusser formuliert diesen – von Spinoza geborgten – Gedanken20 so, „dass die Existenz der Ideen [eines Subjekts] selbst materiell ist, insofern seine Ideen seine materiellen Taten sind, welche in materielle Praktiken eingebettet und durch materielle Rituale geregelt sind“ 21. Das trifft auch auf die Idee des modernen Subjekts zu: Zum Begriff des reflexiven Selbstverhältnisses gehört, dass es wirklich ist – dass, insofern es so vorstellbar ist, seine Idee eine Funktion im Vollzug unseres gemeinsamen Lebens erfüllt. Die Funktion, die es erfüllt, ist, den Gedanken von so etwas wie einer Teilnahme an gemeinsamer Praxis überhaupt verständlich zu machen – als das Einüben in den Habitus eines kompetenten Teilnehmers, oder als Unterwerfung unter einen Zusammenhang von Regeln, denen zu folgen ist. Die Idee eines interindividuellen Handlungszusammenhangs umfasst den Begriff des Subjekts im Gedanken der Teilhabe an gemeinsamer Praxis; der Begriff des Subjekts beinhaltet den Begriff einer gemeinsamen Praxis, insofern der Prozess der Subjektivierung als Integration in diese Praxis verstanden werden kann. Althusser formuliert das so: „Es gibt Praxis nur durch und unter einer Ideologie“, und es „gibt Ideologie nur durch das Subjekt und nur für Subjekte“.22 Praxis setzt die Idee des (autonomen) Handlungssubjekts voraus; Ideen wie die des Handlungssubjekts ‚gibt es‘ nur genau insofern, als sie wirklich gedacht werden. Sie werden ‚wirklich gedacht‘ genau insofern, als es subjektivierte Menschen gibt, die sich zu sich als Subjekt verhalten – sich als unter den Begriff des Subjekts im Allgemeinen fallend verstehen, und damit ineins verstehen, was es heißt, sich als kompetenten Teilnehmer zu verstehen.23 Eine gemeinsame Praxis geht der Subjektivierung logisch voraus: Das ist der zweite Aspekt, durch den Althusser das „Paradox der Autonomie“ als praktisches Problem kennzeichnet. Es gibt immer schon handelnde Subjekte, deren gemeinsames Leben und Handeln die Idee des Subjekts exemplifizieren: Der normative Anspruch, der den Prozess der Subjektivierung strukturiert, gründet genau darin, dass diese Idee schon wirklich und wirksam ist. Subjektivierung ist der Titel für den praktischen Umgang mit diesem in Praxis verkörperten Anspruch. Der locus classi20 „[N]icht der Grund des Gehorsams, der Gehorsam macht den Untertan. Aus welchem Grund sich auch einer entschließt, die Befehle der höchsten Macht auszuführen ..., er handelt doch nach dem Geheiß der höchsten Gewalt, auch wenn er sich aus eignem freien Ermessen entschließt“ (Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, in: Wolfgang Bartuschat (Hg.), Werke in drei Bänden, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 249); zu Althussers Aneignung dieses Gedankens vgl. Louis Althusser, Elemente der Selbstkritik, Berlin 1975, S. 76. 21 Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 82 f. 22 Ebd., S. 84. 23 Wer sich als Subjekt versteht, heißt das, verfügt damit praktisch über den Begriff gemeinsamer Praxis; vgl. Sebastian Rödl, Selbstbezug und Normativität, Paderborn 1998, Kap. 8.
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cus für die Frage danach, wie eine Integration in ein solches vorgängiges, normativ strukturiertes Sozialgefüge vorzustellen sei, wird seit spätestens dem frühen 19. Jahrhundert unter dem Titel ‚Bildung‘ reflektiert – wohlgemerkt so, dass das Nachdenken über die praktischen Leistungen und Grenzen des Bildungskonzepts durch die begrifflichen Schwierigkeiten der Idee der Subjektivierung informiert wird24. In der (theoretischen) Philosophie lässt sich dagegen eher die Strategie beobachten25, die Idee der Bildung als einen Lösungsvorschlag für das Problem der Subjektivierung zu verwenden – eine Strategie, die die Spannung zwischen einer freien Anerkennung der Idee des modernen Subjekts und dem normativen Zwang, den diese Idee als Prinzip der vorgängigen Praxis ausübt, als eine kurze, vorübergehende Phase der Subjektivierung, gleichsam die ‚Pubertät des Subjekts‘, philosophisch zu vernachlässigen erlaubt.26 Die Figur der Anrufung verhindert es, sich mit einer solchen Beschreibung zu beruhigen: Sie beharrt auf der brutalen, überformenden und züchtigenden Wirkung von Praxis. Eine Ideologie ruft Individuen als Subjekt an, „indem die Kategorie des Subjektes funktioniert [...]. Das Individuum wird als (freies) Subjekt angerufen, damit es sich freiwillig den Anordnungen des SUBJEKTS unterwirft“. Die praktisch wirksame Norm, die Idee des Subjekts (in Kapitälchen), stellt einen Anspruch ans angerufene Individuum, „damit es […] (freiwillig) seine Unterwerfung akzeptiert und folglich ‚ganz von selber‘ die Gesten und Taten seiner Unterwerfung ‚vollzieht‘. Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung“27; es gibt Subjekte nur als kompetente Teilnehmer der überindividuellen, gemeinsamen Praxis, deren Normen sie ‚unterworfen‘ sind und die sie instanziieren, indem sie ihr Tun als Regelbefolgung oder -verletzung beurteilen. Judith Butler hat eingewandt, dass in dieser Erläuterung der „theoretischen Szene“ das unterkomplexe „Paradox der Autonomie“ wiederzukehren drohe, wenn man nicht beachtet, wie die sprachliche Gestalt der Szene ihren begrifflichen Gehalt unterminiert: „If that submission brings the subject into being, then the narrative that seeks to tell the story of that submission can proceed only by exploiting grammar for its fictional effects. The narrative that seeks to account for how the subject comes into being presumes the grammatical ‚subject‘ prior to the account of its genesis.“28 Butler versteht Althussers Erläuterung, dass Subjektivierung als wirklich (als „materiell‘) zu begreifen sei, so, als gehe es um das faktische Ereignis, in dem ein Subjekt „comes into being“. Das wäre in der Tat schwer verständlich: Wie sollte man über den, der als Subjekt angerufen wird, nachdenken, bevor der Anruf statt24 Vgl. etwa Norbert Ricken, Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung, Wiesbaden 2006, S. 340 ff. 25 Vgl. für viele Robert Brandom, „Freedom and Constraint by Norms“, in: American Philosophical Quaterly 16 (1979), S. 187-196, hier: S. 193. 26 Vgl. immerhin den Einwand von Stanley Cavell, „Der Streit um das Gewöhnliche. Szenen der Unterweisung bei Wittgenstein und Kripke“, in: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophische Essays, Frankfurt am Main 2002, S. 219-263, hier: S. 262. 27 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 88 u. 98. 28 Judith Butler, The Psychic Life of Power, S. 111.
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fand? Entweder müsse er – irgendwie – schon Subjekt sein; oder aber es sei nicht der Akt der Anrufung, der ihn als Subjekt konstituiere29. Die „theoretische Szene“ illustriert jedoch gar nicht, wie ‚Subjekte‘ faktisch konstituiert werden; sie exemplifiziert die Idee (und ihre praktischen Folgen), dass wir „immer schon“30 Subjekte sind, dass „die Kategorie des Subjektes eine primäre ‚Evidenz‘ ist […], die wir eben nicht in der Lage sind nicht anzuerkennen“31. Das Problem ist nicht, dass das „Paradox der Autonomie“ wiederkehrt; es besteht (exemplarisch in der Figur der ‚Bildung‘) ja nur mehr praktisch, als Anforderung an das Individuum, mit dem normativen Anspruch, unter den es sich gestellt findet, umzugehen. Das Problem ist, dass die Idee des modernen, freien Subjekts notwendig und unhintergehbar ist. Die Subjektivierung, scheint das zu sagen, ist, wenn die Idee des Subjekts zum gedanklichen Problem werden kann, immer schon vollzogen. Wir sprechen und denken „in der Ideologie und aus der Ideologie heraus“32 – deshalb ist uns, nach wie vor, Kants Idee der Selbstgesetzgebung und die sich daran anschließenden Modelle von Bildung ein geradezu ‚natürlicher‘ Anfangspunkt. Wenn die Kategorie des Subjekts aber unhintergehbar ist, dann ist erläuterungsbedürftig, wie die Unterwerfung, die der Bewegung des Subjekt-Seins als Subjektivierung intern ist, überhaupt sichtbar werden soll – wie sie, mit anderen Worten, als ein Moment des Subjekt-Seins, und nicht bloß der ihr vorauslaufenden Initiation in den Praxiszusammenhang verständlich ist. Mit dieser Schwierigkeit beginnt der Umschlag der Anrufungs- in die Anerkennungsfigur.33 Brüchig und damit sichtbar wird die unmittelbare, je schon vollzogene Anrufung nicht von sich her, sondern erst dann, wenn das durch sie geformte freie Subjekt in den Fokus gerät. Die Figur der Anrufung erläutert, wie das Subjekt durch die Unterwerfung unter die normative Struktur sozialer Praxiszusammenhänge gezwungen wird, sich diese Unterwerfung als sein freies Tun, und ineins damit den Titel ‚Subjekt‘ zuzuschreiben. ‚Anrufung‘ ist diejenige Gestalt sozialer 29 Butler schwankt zwischen diesen beiden Ausdeutungen. In ihrem früheren Aufsatz über Althusser neigt sie der ersten Variante zu, indem sie dem Noch-nicht-Subjekt ein notwendiges, untergründiges Mitwirken am Zustandekommen der Anrufungssituation zuschreibt („the ,I‘ itself is dependent upon its complicitous desire for the law to make possible its own existence“; Judith Butler, The Psychic Life of Power, S. 108); in einer späteren Ausdeutung verortet sie das Ereignis der anrufenden Subjektivierung in der Performanz der Sprache im Allgemeinen (vgl. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 58 f.). 30 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 87. 31 Ebd., 85 f. 32 Ebd., 87. 33 Spätestens hier ist die Differenz zwischen dem in Anspruch genommenen ‚Geist‘ und dem Buchstaben von Althussers Erwägungen kaum noch zu übersehen. Althusser widmet dem Problem der Unhintergehbarkeit der materiellen ‚Ideologie des Subjekts‘ differenzierte Analysen, um sie zum Ende seines Artikels – bekenntnishaft eingeleitet: „sprechen wir es doch endlich aus“ – in eine geradezu klassische Ideologietheorie kollabieren zu lassen: Das reflexive Verhältnis der Subjekte zu sich und ihren wirklichen Lebensbedingungen eben doch „imaginär“ im doppelten Sinn: gedacht und bloß scheinhaft; und es erfülle die Funktion, dafür zu sorgen, dass die „Reproduktion der Produktionsverhältnisse … in letzter Instanz“ verdeckt würde (Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 98). Sachlich ist das zweifellos richtig – es unterbietet nur das begriffliche Niveau der von ihm selbst entwickelten Problemlage.
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Macht, die ihr Wirken so hinter ihrem scheinbaren ‚Resultat‘ verbirgt, dass das Resultat die Macht zum subjektiven Vermögen umdeutet. Das heißt, dass wir „immer schon Subjekte“ sind: Einen Menschen überhaupt ansprechen heißt, ihn als Subjekt – als Teilnehmer an unserer gemeinsamen Praxis, als Urheber seiner Worte und Taten, sodann als Rechtssubjekt usf. – ansprechen. ‚Er selbst‘, dieser singuläre Mensch, gerät dabei nur in genau dieser Gestalt in den Blick. „Die Individuen sind immer schon Subjekte. Also sind die Individuen in Bezug auf die Subjekte, die sie immer schon sind, ‚abstrakt‘“34: Man kann zwar analytisch differenzieren zwischen ‚diesem singulären, individuellen Menschen dort‘ und ‚ihm als Subjekt‘ – die erste Charakterisierung wäre aber, wenn man von allen Bestimmungen seiner als Subjekt absähe, leer.35 Die Differenz dieser analytischen Perspektiven droht – immer schon – zu verschwinden, weil der singuläre Einzelne wesentlich Subjekt, nichts als Subjekt ist. In der Figur der Anrufung lässt sich dieses Verschwinden kaum verhindern. Möchte man nicht einer Metaphysik des reinen, unantastbaren Subjekts das Wort reden, dann lässt sich das Missverständnis, das den Prozess der Subjektivierung in seinem Resultat terminieren lässt, nur vermeiden, indem man diesen Prozess als auf Dauer gestellt vorstellt: eine „unaufhörliche […] (ewige […]) Praxis der ideologischen Wiedererkennung“.36 Man kann das so formulieren: Die Figur der Anrufung konzentriert sich auf den Schein, der die Bewegung der Subjektivierung immer erst post festum als vollzogen und abgeschlossen präsentiert, und sie klagt dagegen ein, dass die unausgesetzte Wirksamkeit von Habitualisierungen und Machtverhältnissen nur verständlich ist, wenn ihre subjektivierende Wirkung fortbesteht. Sie bleibt aber die Antwort schuldig, wie diese Wirksamkeit – will man nicht eine faktive Konstitutionsfiktion erzählen – im Vollzug der Subjektivierung entdeckt werden kann.
(3) Vom Anerkennen zum Verzeihen Althussers Hinweis auf die mit der Subjektform einhergehende „Abstraktion“ von der singulären Individualität des einzelnen Menschen ist einschlägig – er bezieht sich nur auf einen Bereich, den die Figur der Anrufung systematisch abblendet: Den singulären, situativen Vollzug unseres praktischen Lebens. Die Figur der Anrufung erläutert, was es heißt, dass wir immer schon unter die normative Idee des Subjekts gestellt sind; mit der rekonstruktiven Figur der Anrufung als Prozess der Subjektivierung – so allgemein muss man dann sprechen – wird erklärt, wie das Subjekt-Sein in einer Praxis ‚gelingt‘, indem verständlich wird, dass es aus der Binnenperspektive der („ideologischen“, machtförmigen) Praxis nicht radikal misslin34 Ebd., S. 90. 35 Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Frankfurt am Main 2010, S. 146, entwickelt diesen Gedanken fort zu dem einer strukturellen „Funktion der Verkennung“: Er weist darauf hin, dass das, was als ‚Subjekt‘ angesprochen wird, nicht in der Gestalt aufgeht, als die es angesprochen wird. 36 Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapponate., S. 98.
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gen kann. Es ist ein nicht vermeidbares, weil immer schon perfektes Widerfahrnis: ein „elementare[r] ideologische[r] Effekt“.37 Das heißt freilich nicht, dass das Subjekt-Sein nicht punktuell und graduell misslingen kann – mehr noch: Dass es, weil die Idee des Subjekts einen normativen Anspruch beinhaltet, situativ stets nur mehr oder weniger gut gelingen kann. Die Anrufungsfigur zeigt, dass das Individuum unter diesem normativen Anspruch stehen muss. Sie kann über die allgemeine Bestimmung hinaus, dass ein Subjekt qua unterworfenem Subjekt diesem Anspruch prinzipiell genügt, nicht erläutern, wie das aussieht: Dem Anspruch der Idee des Subjekts praktisch je und je, mehr oder weniger genügen. Dafür muss man allerdings die Teilnehmerperspektive eines solchen ‚Subjekts‘ einnehmen, das sich als handelnde, freie Person zu begreifen versucht. Die Anrufungsfigur erläutert, warum unhintergehbar ist, das zu versuchen. Erst im Blick auf eine Handelnde, die ihr Tun beurteilt und von Anderen beurteilt findet, und die im Einzelfall erlebt, dass ihre Urteile fallibel und grundsätzlich differenzierungsbedürftig sind, erweist sich die aus der vertikalen Anrufungsperspektive je vollzogene Subjektivierung als praktisch prekär. Und es ist gerade diese Prekarität im situativen Einzelfall des gemeinsamen Handelns, die – als Erfahrung des immer möglichen Einbruchs der Heteronomie in den freien subjektiven Vollzug – das Widerfahrnis der Subjektivierung an seinem freien Vollzug sichtbar macht. Dieser Perspektivwechsel in die Teilnehmerperspektive war in der Anrufungsfigur angelegt; nicht umsonst muss Althusser an zentraler Stelle davon sprechen, dass ‚das Subjekt‘ den normativen Anspruch des Anrufs ‚anerkennen‘ muss. Die Triftigkeit und das Recht dieses Anspruchs anerkennen heißt aber – das ist das Prinzip der Idee des autonomen Subjekts –, ihn als einen eigenen sich anzueignen. Der normative Anspruch an das Subjekt kann nur gelten, wenn er zugleich der Regel entspricht, der das Subjekt frei folgt – der es folgt, ohne dass dabei fremde Ansprüche schon irgendeine Rolle spielten. Das ist die Idee nicht nur eines autonomen, sondern souveränen Subjekts. Hegel inszeniert dieses radikale Gegenmodell zur Figur des unterworfenen Subjekts, das zugleich die Bedingung für die Triftigkeit dieses Modells ist, unter dem Titel „Gewissen“: „Das Gewissen drückt die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußtseins aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es so als das Gute weiß, zugleich in der Behauptung, daß, was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht ist.“38 Die Idee der Selbstgesetzgebung fordert, dass der Gesetzgeber „Urheber“ seines Gesetzes sei; die Idee der Anrufung fordert, dass das unterworfene Subjekt „,ganz von selbst‘ die Gesten seiner Unterwerfung“ vollziehe. Hegels Perspektivwechsel macht ernst mit diesen Forderungen, und versucht vorzustellen, wie ein solches Subjekt begrifflich beschaffen sei: Für es muss (1) die Idee der Anrufung zunächst gänzlich unverständlich sein. (2) Ein Anspruch hat seinen Ursprung definitionsge37 Ebd., S. 86. 38 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Theorie-Werkausgabe. Bd. 7, Frankfurt am Main 1972, S. 255.
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mäß außerhalb des Subjekts, an das er ergeht; das als ‚Gewissen‘ vorgestellte Subjekt ist aber nur bereit, Ansprüche „aus sich“ anzuerkennen. Daran zeigt sich, dass das Modell eines ‚reinen Gewissens‘ intern den Bezug auf andere Subjekte fordert: Der (monologische) Anruf ist (schon als Metapher) nur verständlich, wenn er auf den Anspruch zurückgeführt wird, den ein Subjekt an ein anderes Subjekt stellt, oder den Menschen (dialogisch) aneinander stellen. Die kompromisslos durchgeführte Analyse des in seinem Selbstverständnis ernstgenommenen Subjektpols der Anrufungs-Figur zeigt so, dass der Begriff des autonomen Subjekts (oder, wie Hegel formuliert: des ‚Selbstbewusstseins‘) nie nur einen singulären Einzelnen betraf. Der Begriff des Subjekts bezeichnet nicht nur einen Prozess, sondern einen gemeinsamen Prozess der Subjektivierung: „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.“39 Das Diktum der Anrufungsfigur – „Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung“ – war unverständlich geblieben, weil unklar blieb, wie ein Subjekt je von seinem Angerufen-worden-Sein hätte wissen können. Die berühmte Formulierung der Anerkennungsfigur – „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes“40 – macht das nun verständlich: Die normative Kraft des Anrufs, die Unterwerfung unter die allgemeine Form des Subjekts, erreicht den Einzelnen nicht abstrakt ‚von oben‘; sie widerfährt ihm in praktischen, interindividuellen und gemeinsamen Vollzügen. Wie in der Diskussion der Anrufungsfigur geht es auch hier nicht um die Erzählung eines faktiv vorgestellten Konstitutionsprozesses. In einer solchen Erzählung würde die normative Kraft des Anrufs als Anspruch einer Person auf Anerkennung auftreten; diesem Anspruch würde eine andere Person durch „Anerkennungsakte“ entsprechen. Man müsste dann sagen, ein Mensch werde dadurch zum ‚Subjekt‘, dass er einen anderen ‚anerkennt‘, indem er ihm durch einen „expressiven Akt“41 in einem bestimmten Medium seine befürwortende Haltung (oder seinen Anspruch) mitteilt, und umgekehrt eine analoge Befürwortung erfährt. Versteht man ‚Anerkennung‘ in dieser Weise als – und sei’s perpetuiertes, je zu erneuerndes – Produkt eines individuellen Handelns, dann setzt der Akt des Anerkennens genau das ‚Subjekt‘ voraus, das durch ihn erst entstehen sollte.42 Dieser Zirkel taucht erst gar nicht auf, wenn ‚Anerkennen‘ – analog zur ‚Anrufungs‘-Figur – im hier interessierenden begrifflichen Sinn kein subjektives Handeln bezeichnet, sondern die allgemeine Form charakterisiert, in der Menschen Subjekte sind – die Form, in der sie praktisch sich zu sich als Subjekt verhalten.43 39 Ders., Phänomenologie des Geistes, in: Theorie-Werkausgabe. Bd. 3, Frankfurt am Main 1972, S. 145. 40 Ebd. 41 Axel Honneth, „Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von ‚Anerkennung‘“, in: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt am Main 2003, S. 10-27, hier: S. 15. 42 Dieses Dilemma lässt sich nur durch die Investition anspruchsvoller Hintergrundphilosophien beheben; vgl. dazu Andreas Hetzel, Alterität und Anerkennung, in: Ders./Dirk Quadflieg/Heidi Salaverría (Hg.), Alterität und Anerkennung, Baden-Baden 2011, S. 11-34. 43 So verstehe ich die Überlegungen von Volker Schürmann, Muße, Bielefeld 2003 (= Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Bd. 7), S. 21 f. Schürmann weist auf den Unterschied von „Aner-
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Diese Form ist nicht dilemmatisch, aber sie bezeichnet ein Spannungsverhältnis: Subjekt-Sein bedeutet, mit dem Anspruch konfrontiert zu sein, sich unter den Begriff des Subjekts zu stellen (das beschreibt die Figur der Anrufung); sein Versprechen und seine Forderung ist seit Kant, dass erst der Akt der Selbstgesetzgebung das verwirkliche, was die Anrufung nur erst möglich machte: Ein freies Subjekt, das Grund seiner selbst ist. Dieser Forderung kann das Subjekt nicht nicht entsprechen – es ist ja wirklich genau dadurch, dass es ihr immer schon, mehr oder weniger entspricht. Es kann ihr aber auch nicht vollständig und final entsprechen: Die Allgemeinheit der Forderung (des ‚Gesetzes‘) betrifft es nicht als dasjenige singuläre Subjekt, als das es sich (unterworfen) vorfindet, sondern als token eines allgemeinen types – als ‚eines von allen‘. So findet es sich immer schon bezogen auf die Anderen: Auf die Gemeinschaft eines „Wir“ aller, die sich unter das Gesetz der Subjektivität stellen. Und es findet sich immer schon getrennt von Anderen: Wenn die Idee des modernen Subjekts, weil sie die normative Gestalt einer generalisierten Forderung haben muss, in dieser Weise allgemein ist, dann wäre ihre Realisierung die Dementierung dessen, was sie verspricht. Die Singularität des Subjekts besteht und hat nur Bestand darin, wie es dieser Idee nicht entspricht; seine Freiheit zeigt sich darin, wie es nicht im „Wir“ aufgeht, sondern sich praktisch zu Anderen – für die dasselbe gilt! – verhält. „Selbstbewußtsein“ wird damit zum Titel für die Reflexion des Verhältnisses zwischen Menschen als Subjekten; „Anerkennung“ charakterisiert den Modus dieses Verhältnisses, in dem sich das Subjekt zugleich als radikal singulär und höherstufig immer schon auf andere bezogen begreifen muss. Die Einsicht in den praktischen Charakter dieser formalen (die Form des Subjekts betreffenden) Spannung verhindert nun zwar die Aporien, die eine bloß epistemologische Modellierung von Subjektivität erzeugt44; sie macht aber noch nicht sichtbar, wie diese Spannung dem Subjekt sichtbar werden kann.45 Man kann das erst sehen, wenn es um Situationen geht, in denen die Handelnde ihr Tun als geoder misslungen, als erfolgreich oder erfolglos beurteilt, und damit rechnen muss, dass alternative Beschreibungen aus der Beobachterperspektive ihr Tun anders beurteilen oder ihr gar andere Handlungen zuschreiben. Man kann es nicht mehr übersehen dann, wenn es um das Miteinandersprechen geht, in dem nicht nur immer ein Konflikt divergierender Beurteilungen – über die Angemessenheit und Trefflichkeit von Reden, über ‚Gemeintes‘ und ‚Gesagtes‘ – auftreten kann, sonkennung-machen“ und „In-Anerkennung-Sein“ hin. Schürmanns Erläuterungen klingen noch konstitutionstheoretisch; es kommt ihm aber auf die Analyse der begrifflichen Form von Subjektivität und die Abweisung jeder Idee von „Subjektivität, die logisch vor den Strukturen liegt“, an (ebd., S. 27). Vgl. dazu auch Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung, S. 68. 44 Hegel inszeniert diese Aporien bekanntlich in der Geschichte des „Kampfes auf Leben und Tod“, die das erkenntnistheoretische Dilemma vorführt, sich – und dann: sich am Anderen – als selbstständig erkennen zu wollen. 45 In der Tat ist ja mit der Anerkennungsfigur nur erst der „Begriff des Geistes für uns vorhanden“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 145) – das heißt: Es ist noch nichts darüber gesagt, wie das praktische Verhältnis von Menschen als Subjekten sich vollzieht und vollzogen wird. Die Figur der Anerkennung stellt – wenn man sie mit Hegel entwickeln möchte – nicht eine Antwort auf diese Frage dar, sondern sie pointiert die Frage.
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dern ineins damit konfligierende Erklärungs- und Beurteilungsansprüche und ihre Begründung explizit werden. Solche Konflikte lassen sich zumeist noch dadurch auflösen, dass ihr Zustandekommen auf undeutliche oder inhomogene Urteilsgesichtspunkte zurückgeführt wird. Das Paradigma eines Konflikts, bei dem eine solche Klärung der relevanten Hinsichten auf eine Situation nicht hinreicht, ist der Streit über die sittliche Beurteilung einer Handlung46. Die Figur der Anerkennung verwirklicht sich gerade nicht in Vollzügen, in denen Subjekte einander mit wechselseitiger Billigung oder Missbilligung unter Begriffe bringen, indem sie einander als… ‚anerkennen‘ (als Mann, als Bürger, etc.); solche ‚Anerkennung‘ folgt, könnte man sagen, je nur den durch die Praktiken der Anrufung etablierten Subsumtionen47. Sie betrifft gerade nicht, worum es der Figur der Anerkennung ging: Um die Art, wie das Subjekt intern auf den Anderen bezogen ist, sofern es Subjekt ist.48 Die Figur, in der solches ‚unbedingtes‘ Anerkennen verständlich wird, ist das „Verzeihen“ einer unverzeihlichen Tat – die normative Beurteilung eines Handelns mit der Einsicht, dass das mit der Zuschreibung der Handlung zugleich beurteilte Handlungssubjekt einerseits wesentlich Urheber der beurteilten Handlung ist, aber darin nicht aufgeht. Die Figur des Verzeihens verschränkt die beiden Perspektiven, die die formale Spannung des Subjekts der Anerkennung ausmacht: Einerseits ist jede Fremdund Selbstbeurteilung durch ihre sprachlichen Vermittlung allgemein. Andererseits verstellt diese Allgemeinheit die Singularität des subjektiven Selbstbezugs gerade nicht, sondern macht sie allererst artikulierbar. Den Konflikt, an dem sich diese Verschränkung ereignet, erläutert Hegel im „Gewissenskapitel“ seiner Phänomenologie so: „[1] Die Sprache aber tritt nur als die Mitte selbständiger und anerkannter Selbstbewußtsein hervor, und das daseiende Selbst ist unmittelbar allgemeines, vielfaches und in dieser Vielheit einfaches Anerkanntsein. [2] Der Inhalt der Sprache des Gewissens ist das sich als Wesen wissende Selbst. Dies allein spricht sie aus, und dieses Aussprechen ist die wahre Wirklichkeit des Tuns und das Gelten der Handlung. [3] Das Bewußtsein spricht seine Überzeugung aus; diese Überzeugung ist es, worin allein die Handlung Pflicht ist; sie gilt auch allein dadurch als Pflicht, daß die Überzeugung ausgesprochen wird. [4] Denn das allgemeine Selbstbewußtsein ist frei von der nur 46 Vgl. zur vorstehenden Entwicklung Verf., „Das Handeln und die Eule der Minerva. Oder: Wie provisorische Moral und Ironie zusammenhängen“, in: Peter Fischer/Andreas Luckner/Ulrike Ramming (Hrsg.), Reflexionen des Möglichen. Zur Dialektik von Erkennen, Handeln und Werten: Festschrift f. Christoph Hubig, Berlin: Lit 2012, S. 87-101, Abschn. 3 ff. 47 Wesentlich auf diesen Typ von subsumierender Anerkennung als …, die unter Differenzierung von Zuschreibungshinsichten stets differenzierungs- und revisionsbedürftig ist, bezieht sich die These Thomas Bedorfs, dass der ‚Anerkennung‘ notwendig ein Moment von ‚Verkennung‘ innewohne. Ich glaube, dass das richtig ist, meine aber, dass Bedorfs Rekonstruktion nicht weit genug geht. So, wie sie vorliegt, klagt sie gegen einen nivellierenden Reduktionismus prädikativer Zuschreibungen die Einsicht in deren prinzipielle Unangemessenheit ein; sie erläutert aber nicht die Idee gelingender Anerkennung, in deren Licht erst die genannte Unangemessenheit verständlich würde; vgl. Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung, Kap. 2.2 u. 3.2. 48 Vgl. Alexander García Düttmann, Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 122 f. u. 204.
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seienden bestimmten Handlung; sie als Dasein gilt ihm nichts, sondern die Überzeugung, daß sie Pflicht ist, und diese ist in der Sprache [d.h.: im wirklichen Sprechen] wirklich.“49
[1] Auch das subjektive Selbstverhältnis vollzieht sich in prädikativen Reden, in denen das Subjekt nichts ist als der Adressat von Handlungszuschreibungen, und diese Zuschreibungen beziehen sich auf es als Exemplar eines begrifflichen Typs – nämlich: ‚Adressat von Zuschreibungen‘. [2] In der Artikulation seines tätigen Selbstverhältnisses bedient sich das Subjekt zwar dieser sprachlichen Mitteln; dabei ändert sich allerdings der Anspruch solcher Reden. Sie sind nicht einfach Urteile über eine Sache, oder über jemanden. Indem das Subjekt artikuliert, was es tut, artikuliert es unmittelbar auch, wer es ist – und zwar mit unbedingter, durch die Identität von Bezugnehmendem und Gegenstand der Bezugnahme verbürgter Gewissheit. [3] Indem das Subjekt sagt, was es tut, bestimmt es situativ unmittelbar angemessen sein Tun als Handeln und sich als Akteur, und es repräsentiert sein Tun als gut – als etwas, was zu tun seine Vernunft ihm gebietet50. [4] In dieser Subjektperspektive, die Geltung beansprucht genau insofern sie die allgemeine Idee des freien Subjekts exemplifiziert, gerät dem Subjekt sein Handeln nur als Ausdruck seines freien Willens in den Blick. Die „seiend bestimmte Handlung“ – die Handlung, wie sie aus der Dritten-Person-Perspektive beschrieben werden kann – entgeht ihm in ihrer situativen Überbestimmtheit. Indem das Subjekt sein Handeln in dieser Weise als in seiner subjektiven Pflicht gründend repräsentiert und, indem er es anderen mitteilt, praktisch rechtfertigt, kann es zum Konflikt kommen: Die Beurteilung eines Handelns durch zwei Subjekte bedient sich zwar derselben sprachlichen Mittel und orientiert sich im Allgemeinen an denselben Normen – ihre normative Beurteilung aber widerspricht sich. Freilich bleibt die praktisch notwendige Möglichkeit des Dissenses logisch darauf bezogen, dass eine gelingende Übereinstimmung beider Urteilsperspektiven möglich ist; die mögliche Koinzidenz beider Perspektiven ermöglicht erst die Identifikation des praktischen Widerstreits. Diese logische Möglichkeit des Verschränkens beider Urteilsperspektiven bedeutet aber, dass der Widerstreit billig aufgelöst werden könnte. Ein solcher Dissens entzündet sich nicht daran, dass zwei Subjekte das Handeln des Einen einfach verschieden aufgefasst und beschrieben hätten, und auch nicht daran, dass sie sich über die sittlichen Maßstäben ihrer Beurteilung uneins wären, wie es in differenzierten, pluralistischen Gesellschaften fast zwangsläufig geschieht. Dieser Widerstreit entsteht nur genau dann, wenn das pflichtgemäße Tun des Einen den Anderen verletzt: wenn seine Pflicht der des anderen unausweichlich widerspricht, sodass er ihm das Recht auf sein freies Selbstverhältnis streitig macht, oder ihm die Möglichkeit dazu verstellt. In solchen Konfliktlagen, die durch eine Neuordnung oder Anpassung der bürgerlichen Rollenzuteilungen qua ‚Anerkennung als …‘ nicht berührt 49 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 479. 50 Vgl. dazu die Weise, in der Christian Kietzmann, „Handlungsgründe und praktische Schlüsse“ (Sektionsvortrag DGPhil 2011, http://epub.ub.uni-muenchen.de/12432/), dieses Argument entwickelt.
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wären, besteht – folgt man dem Hegel’schen Argument – ein vernünftiger Umgang mit ihnen in einer doppelten Anerkennung: (1) verlangt die allgemeine Form, in der beide sich ihr Verhältnis zu sich und zum anderen repräsentieren, Anerkennung. Die begriffliche Redeform, durch deren Gebrauch der Widerstreit manifest wurde, kann nicht relativiert werden; sie ist das Medium des Subjekt-Seins beider. (2) Gerade dieses Subjekt-Sein hat sich im Widerstreit als prekär erwiesen. Diese Prekarität lässt sich nur aushalten, wenn denkbar wird, dass die begriffliche Redeform zwar einerseits die Form beider als Subjekt angibt und sie in diesem Sinn vergemeinschaftet, als Glieder ihres gemeinsamen ‚Wir‘ vorstellt – beide aber andererseits, obschon sie streng nichts anderes sind als die durch diese gemeinsame Sprachform gegebenen Subjekte, jeweils in dieser Form nicht aufgehen. Für die Anerkennung dieser Differenz steht der Sprechakt des Verzeihens. Im Verzeihen lasse das eine Subjekt, so Hegel, den „Unterschied des bestimmten Gedankens und sein fürsichseiendes bestimmendes Urteil [1] fahren, [2] wie das Andere [Subjekt] das fürsichseiende Bestimmen der Handlung“51. Dass beide ihre Urteile „fahren lassen“, meint nicht, dass sie sich (skeptisch) des Urteils enthielten; beide wissen darum und halten daran fest, dass das beurteilte Handeln [1] aus der Sicht des Verletzten gemessen am allgemeinen Maßstab des Guten eindeutig unentschuldbar, unrelativierbar ist – was sich [2] in der reduktiven Beschreibung des Täters widerspiegelt, der sich im „Geständnis“ offenbart als verantwortlich für seine Tat und restlos durch sie bestimmt. An beidem ist nicht zu rütteln; das ‚Verzeihen‘ besteht genau in der Anerkennung der geltungstheoretischen Unbedingtheit dieser Beschreibung bei ihrer gleichzeitigen Suspendierung. „Die im Akt des Verzeihens exponierte Anerkennung ist weniger als Anerkennung, sofern sie gar keine ‚Anerkennung als...‘ mehr sein kann“52, oder genauer: sie ist sozusagen zugleich mehr, als auch weniger als ‚Anerkennung als …‘, weil sie die bestimmte Anerkennung z.B. als schuldig ist, und ineins damit Anerkennung, dass diese Identifikation praktisch nicht gelten möge. Deshalb ist das „Wort der Versöhnung [...] der daseiende Geist“53: Was Hegel als „Versöhnung“ anspricht, markiert den praktischen Wechsel logischer Ebenen – von der wechselseitigen, normativen Beurteilung des Handelns unter Nutzung qua Sprache geteilter Maßstäbe hin zur gemeinsamen Einsicht in die Form dieses wechselseitigen Urteilens im Zustand seiner Unterbrechung. Die Figur der Anerkennung stellt das Verhältnis zwischen Subjekten als ein Spannungsverhältnis vor, das Symmetrie verspricht, aber (zunächst) nur denkbar macht als einen Wechsel zwischen jeweils asymmetrischen Verhältnissen. Sie stellt ein Verhältnis dar, in dem das eine Subjekt dem jeweils anderen als Funktionär der ihn 51 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 491. 52 Andreas Gelhard, „Die Sprache des Gewissens. Über Alterität und Anerkennung in Hegels Phänomenologie des Geistes“, in: Andreas Hetzel/Dirk Quadflieg/Heidi Salaverría (Hg.), Alterität und Anerkennung, Baden-Baden 2011, S. 113-130, hier: S. 127. 53 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 492: „Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist“.
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‚ANERKENNEN‘ UND ‚ANRUFEN‘
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subjektivierenden, unterwerfenden Macht gegenübertritt; was als ihre scheinbare Symmetrie ausgedacht werden könnte, wäre nur verallgemeinerte Heteronomie. Die Figur der Anrufung wie die Figur der Anerkennung sind bloß formal; sie beschreiben die Struktur des Prozesses, den sie benennen, aber nicht seinen Vollzug. Wirklich sind beide im und durch das „Wort der Versöhnung“: Die Wirklichkeit solchen gelingenden, situativen Miteinandersprechens ist die wirkliche Bewegung des ‚Anerkennens‘ – wirkliches, tätiges Subjektivieren, in dem die anrufende Subjektivierung durch die gemeinsame Praxis die Subjekte gerade dazu freisetzt, sich als unter ihrem eigenen Gesetz stehend zu begreifen. Und wieder ist auch diese „theoretische Szene“ nicht resultativ oder konstitutionstheoretisch zu verstehen. Das Verzeihen, die Versöhnung exemplifizieren – wenn sie denn gelingen! –, wie überhaupt begrifflich vorstellbar ist, dass es so etwas gibt: Die situative Koinzidenz unterworfener und sich wechselseitig im Namen einer allgemeinen Praxis anrufender Subjekte, die dadurch, wie sie sich praktisch zueinander, und damit zu ihren Ansprüchen und denen ihrer Praxis verhalten, als ‚unter ihrem Gesetz‘ sowohl als ‚unter dem Gesetz der Praxis stehend‘ gedacht werden können – als wirklich und praktisch frei. Ob subjektive Perspektiven faktisch in dieser Weise koinzidieren, wird dadurch, dass man verstanden hat, wie sie es tun, freilich nicht unproblematisch. Denn selbstverständlich bedürfen auch Instanzen des Verzeihens und Versöhnens der nachträglichen Reflexion und Beurteilung; selbstverständlich werden sich „Ironie und Zweifel“ dabei „nie endgültig beruhigen“54: Die begriffliche Form des Gelingens der Subjektivierung so begriffen und formuliert zu haben, löst nicht die Herausforderung, ihren unausgesetzten praktischen Vollzug (und seine unausgesetzte praktische Beurteilung) zu bestehen. Es wäre deshalb verfehlt, den Mangel einer solchen Rekonstruktion darin zu sehen, dass sie auf der Unhintergehbarkeit der im sprachlichen Medium mitgegebenen prädikativen Form beharrt – dass sie also festhält, dass die praktische Koinzidenz zweier Subjektperspektiven immer auch als das asymmetrische Verhältnis zweier Anrufungen, zweier ‚Anerkennungen als …‘ beschrieben werden kann. Das beinhaltet keine „Übersetzung der Beziehung zwischen Selbst und Anderem in eine Beziehung zwischen Einzelnem und Allgemeinem“55 – wohl aber die Behauptung, dass eine ‚Beziehung von Selbst und Anderem‘, weil sie sich praktisch ereignet, der begrifflichen Reflexion, und noch mehr der philosophischen Modellierung von Strukturfiguren, entgeht. Die Erfahrung des Anderen ist – wenn es sie gibt – vermittelt über formal allgemeine Zuschreibungen, über ‚Anerkennungen als …‘ und das höherstufige Urteil, dass der Andere darin nicht aufgeht. Der Begriff des ‚Anderen‘ bezeichnet nichts als diese Spannung zwischen notwendiger Zuschreibung und ihrer situativen, praktischen Suspendierung. Die Figur der Anrufung litt unter einer einseitigen Privilegierung des kategorialen Vorrangs der Idee des Subjekts. Als Komplement der Anerkennungs-Figur markiert dieser Vorrang eine kritische Klausel: Die begriff54 Alexander García Düttmann, Zwischen den Kulturen, S. 212. 55 Andreas Gelhard, „Die Sprache des Gewissens“, S. 129.
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liche Vollzugsform des modernen Subjekts – die allgemeine Idee, die sich in den Figuren der Anrufung und der Anerkennung ausbuchstabiert – ist unhintergehbar und überformt noch jeden Versuch, den ‚Anderen‘ ‚rein‘ zu denken. Das ist, meine ich, aber auch kein Problem: Nur weil das Denken in dieser Hinsicht begrifflich keine sauberen Hände haben kann, ist vorstellbar, dass Ich und Du, dass Wir uns praktisch rein begegnen können.56
56 Martin Saar und Frieder Vogelmann haben mir in der Diskussion der Vortragsfassung wichtige Hinweise gegeben; mit Christoph Hubig durfte ich eine Vorfassung des Essays diskutieren, wovon die Überarbeitung immens profitierte. Dafür danke ich ihnen. Dem Gespräch mit Andreas Gelhard verdanke ich entscheidende Anregungen; wo meine Überlegungen überzeugen können, folgen sie seinen Impulsen.
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Spiele der Moderne Ein philosophischer Überblick (1) Eine der leitenden Fragen der geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion der vergangenen Dekaden ist die nach den Gründen für die enorme Resonanz des Konzepts von Subjektivität und Subjektivierung in unserem Diskursuniversum. Philosophisch lautet die erste Antwort: Über das Subjekt in seinen semantischen Variationen – als Ich, Ego, Selbst oder Individuum – nachdenken heißt über die Moderne nachdenken. Die Moderne ist vom Konzept des Ich unablösbar, ja, philosophisch gesehen, basiert sie auf diesem Konzept. Dies ist jedenfalls die These Hegels, die von allen diskursprägenden Theoretikern der jüngeren Vergangenheit übernommen worden ist, um sie dann entweder zu transformieren oder zu negieren. Zu den Theoretikern in transformierender Absicht zählen Jürgen Habermas und Charles Taylor, zu den Theoretikern in negierender Ansicht zählen demgegenüber die Repräsentanten der vereinfachend so genannten Postmoderne, also Jean-François Lyotard, Michel Foucault, Jacques Derrida und Gilles Deleuze. Was also heißt dann „Moderne“? Die geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussion der vergangenen drei Jahrzehnte – alles begann, wir erinnern uns, 1979 mit Lyotards La condition postmoderne – hat dazu geführt, in einem Abgrenzungsakt erneut den Begriff der Moderne zu klären. Auch hier war letztlich jene berühmte binäre Logik zugange, der man eigentlich, zumal als postmodernistisch avancierter Zeitgenosse, nicht folgen wollte. Aus der logisch-semantisch zwingenden und klärenden Abgrenzung wurde so eine simplifizierende Entgegensetzung. Die Vorstellung, Moderne und Postmoderne seien in ihrem unterschiedlichen Gebrauch innerhalb der Philosophie, der Literaturwissenschaft, der Architekturtheorie und der Soziologie auf die Einheit eines Begriffs und damit auf ein ebenso umgreifendes wie eindeutiges Verständnis zu bringen, erweist sich bis heute diskursiv als ebenso schwierig wie sachlich als unhaltbar. Bezüglich des Begriffs der Postmoderne besteht diesbezüglich inzwischen immerhin weitgehend Einigkeit. In der Philosophie vertritt ihn, mit Ausnahme von Lyotard, ohnehin keiner der tonangebenden Theoretiker vorbehaltslos.1 Bezüglich des Begriffs der Moderne gibt es demgegenüber die Strategien, den „Diskurs“ 1 Vgl. Michel Foucault, „Was ist Aufklärung?“, in: Eva Erdmann u.a. (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1990, S. 35-54; zu Jacques Derrida vgl. Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt am Main 1995, S. 247 ff.; zu Richard Rorty vgl. „Der Mensch ist ein tolerantes und schöpferisches Tier. Ein Gespräch mit Richard Rorty“, in: Ingeborg Breuer, u.a. (Hg.): Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie. England/USA, Berlin 1996, S. 133; vgl. allgemein Karl Heinz Bohrer/ Kurt Scheel (Hg.): Postmoderne. Eine Bilanz, Sonderheft des Merkur, 52, Jg.
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der Moderne, etwa bei Habermas, so umfassend anzusetzen, dass er den postmodernistisch aktualisierten Gegendiskurs mit umfasst. Es gibt die ähnliche Strategie, das Konzept der Moderne auf der Zeitachse zu verlängern und, wie bei Anthony Giddens, Ulrich Beck und Heinrich Klotz, von einer „reflexiven“ oder iterativ von einer „zweiten“ Moderne zu sprechen, die in der einen Lesart wiederum hegelianisch konnotiert ist – die Moderne trifft heute auf sich selbst in ihren Prämissen – und in der anderen schlicht bis zur x-ten Moderne fortgesetzt werden könnte. Schließlich gibt es auch die vermittelnde Strategie, den Begriff der Moderne prädikativ zu spezifizieren und, wie bei Wolfgang Welsch, integrativ „unsere postmoderne Moderne“ vorzustellen.2 Demgegenüber müsste eine angemessenere Theorie der Moderne meiner Überzeugung nach nicht nur die Zeit-, sondern auch die Raumachse in den Blick zu nehmen und die Moderne gewissermaßen archäologisch als ein Schichtungsphänomen betrachten.3 Dem alten Hegelschen Programm gemäß, aber die neueren französische Differenzprogrammatik verschärfend, erweist sich die Moderne dann als ein Kampf, ein Widerstreit des Ich mit sich selbst – die agonale Ebene –, der notwendig auf der Grundlegung des Ich als Prinzip der Moderne selber aufbaut – die klassische Ebene – und im frei oder auch wild kombinierenden Spiel mit den eigenen Elementen seine jüngste Ausformung findet – die hybride Ebene. Jede Ebene hat ihre paradigmatischen Theoretiker: die klassische vornehmlich Hegel und zuletzt Habermas, die agonale die Romantiker (in ihrer tragischen und ironischen Gestalt) und die hybride vor allem Nietzsche und seine sogenannten postmodernen Nachfolger. Dieser Ansatz hat meines Erachtens mindestens zwei Vorteile. Erstens schärft er das Konzept der Moderne. Denn dieses in bedeutungstragende Schichten zu zerlegen, verhindert, es als eine monolithische, einfach-eindeutige Einheit zu konzipieren und mit einem vereinfachten, aufgeblasenen Konzept der Postmoderne oder einem schwachen, sozusagen asthmatischen Konzept der zweiten Moderne zu kontrastieren. Überlagerungen, Durchdringungen und wechselnde Gewichtungen der einzelnen Bedeutungsschichten lassen sich so besser begreifen. Sie stehen in einem Verhältnis des Gegen-, Neben- und Miteinander. Die Moderne ist demgemäß nichts anderes als die wechselnde Ausgestaltung dieses Verhältnisses (des Gegen-, Neben- und Miteinanders der dominanten Ebenen). Zweitens betont dieser Ansatz, dass die Konzeption der Subjektivität im Zeichen der Bewusstseinsphilosophie, konkreter: des deutschen Idealismus, von Anfang an die Einheit eines Widerspruchs formuliert, die im romantischen Paralleldiskurs ausbuchstabiert und (1998), H. 9/10; Thomas Assheuer: Der Schnee von gestern, in: DIE ZEIT Nr. 34 v. 13. Aug. 1998. 2 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985; Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986; Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, übers. v. J. Schulte, Frankfurt am Main 1995 (engl. Or. 1990); Heinrich Klotz, Die Zweite Moderne. Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, München1996; Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1988. 3 Das habe ich versucht in meinem Buch Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt am Main 2004.
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im anschließenden nietzscheanischen, d.h. allgemein neoromantischen Diskurs entspannend aufgelöst wird. (2) Fragt man nun explizit in der Philosophie nach, wie sich Subjektivität konstitutiert, erhält man mehrere paradigmatische Antworten.4 – Ausgangspunkt ist wieder der deutsche Idealismus. Subjektivität konstituiert sich, Fichte hat es als erster notiert, durch einen Widerspruch, das Ich durch Entgegen-Setzung zum Nicht-Ich. Sie konstituiert sich, genauer entfaltet, durch einen Prozess von Entgegen-Setzungen (Schelling, Hegel), der entweder „negativ“ bzw. „schlecht unendlich“ sein kann (im endlosen Sehnen und Streben der Romantik) oder „affirmativ unendlich“ (in einer Hegelschen oder utopischen „Aufhebung“). – Die Romantik entwirft den unendlichen Prozess der Selbstsetzung zugleich mit dem Akzent auf Individualität. Seine Un(be)greifbarkeit macht das Subjekt zum Individuum, zum im wörtlichen Sinn Unteilbaren, das ein Unmitteilbares meint. – Nachidealistisch und nachromantisch konstituiert sich Subjektivität dagegen als „Existenz“, als subjektiv „ergriffene“ Wahrheit. Das Subjekt muss eine Idee ergreifen, für die zu leben und sterben sich lohnt. Es ist Kierkegaard, der diesen existenzphilosophischen Ansatz einführt, aber er akzentuiert hier jenen praktischen Ansatz, den bereits Fichte vorstellt: Ich bin, wozu ich mich mache. Bei Kierkegaard heißt das (und bei Heidegger klingt das nach): Ich „wähle“ mich, indem ich die Verantwortung für meine Lebensgeschichte übernehme, indem ich mich wähle als der, der ich durch Kontingenzen bin und zugleich nach meinem Lebensentwurf sein möchte. Subjektivität meint auch in diesem Kontext Individualität und betont, vor allem bei Heidegger und Sartre, die Zukunft als entsprechende Modalform der Zeit (‚ich bin, wozu ich mich jeweils machen werde‘). – Parallel zu Kierkegaard, das heißt vergleichbar, aber doch unterschiedlich, entwickelt Marx seinen Vorschlag. Subjektivität konstituiert sich, nun in einer kollektiv praktischen Wendung, durch die tätige, das heißt arbeitende Auseinandersetzung mit der (äußeren und inneren) Natur. – Es ist die Psychoanalyse, die daraufhin das existenzphilosophische Kriterium der gewählten Lebensgeschichte übernimmt, es aber in Anknüpfung an Schopenhauers Theorie des „Willens“ (die undurchschaute treibende Kraft des Lebens) an den Faktor der inneren Natur knüpft. Wie in der Bewusstseinsphilosophie bleibt das Ich eine gespaltene Einheit, nun zwischen den Begehrungen des triebhaften Es und den moralischen Forderungen des Über-Ich. Auch hier ist es eine Praxis, ein Handlungszusammenhang zwischen Subjekten, der konstitutiv ist für das Entstehen von Ich-Identität. Freilich sieht Freud diese Praxis ihrerseits 4 Dieser Abschnitt findet sich, wie der folgende Abschnitt (3), auch in meinem Aufsatz: „Interrationale Beziehungen, oder Das Subjekt ist nur da ganz modern, wo es spielt“ (erscheint in: Regine Strätling/ Christian Moser (Hg.), Sich aufs Spiel setzen. Spiel als Technik und Medium der Subjektivierung). Wie ich überhaupt betonen möchte, dass beide Aufsätze ihrer Entstehung und ihrem Inhalt nach zusammengehören. Sie sind companion pieces.
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kulturanthropologisch konstituiert; das „Unbehagen in der Kultur“ ist eine anthropologische Konstante. – Eine Synthese zwischen dem individual- und kollektiv-praktischen Ansatz vollzieht dann die Philosophie des 20. Jahrhunderts unter verschiedenen Namen: Sprachphilosophie, Hermeneutik (inklusive Existentialontologie), Pragmatismus. Alles in allem kann man sie unter dem Oberbegriff einer „sprachpragmatischen Wende“ (Habermas) zusammenfassen. Subjektivierung gilt nun als ein sprachlich vermittelter Prozess der Vergemeinschaftung einerseits und der Herausbildung einer Lebensgeschichte andererseits. (3) Vom Spiel war bisher in dieser Kurzversion der Geschichte philosophischer Subjektkonstitution nicht die Rede. Das hat begriffsgeschichtlich gewiss damit zu tun, dass dieser Begriff, schon kurz nachdem ihn Kant 1790 eingeführt und Schiller 1795 zu einem Zentralbegriff erklärt hat, aus dem „philosophischen Diskurs der Moderne“ (Habermas) geradezu vollständig wieder verschwunden ist und erst in den 1960er Jahren zurückkehrt, dann aber mit Nachdruck und in verschiedenen theoretischen Kontexten, nämlich in der Hermeneutik Gadamers, sodann in der Spätphilosophie Wittgensteins,5 in Herbert Marcuses Gesellschaftskritik und schließlich im Postmodernismus, namentlich im Poststrukturalismus Derridas, zur selben Zeit im Übrigen, als Roger Caillois den Begriff des Spiels als Zentralbegriff der Soziologie einführt, fundamental auf die klassische kulturhistorisch-anthropologische Studie Homo Ludens von Johan Huizinga Bezug nehmend.6 Diese vier Konzepte von Spiel möchte ich zunächst vorstellen. Theoriegeschichtlich hat sich, erstens, die postmodernistische Thematisierung des Spielkonzepts gegenwärtig am erfolgreichsten etabliert. Die berühmt-berüchtigte These vom „Ende“ oder – dramatischer – vom „Tod“ des Subjekts ist hier gekoppelt an die semiotisch fundierte These, dass das Subjekt (bloßer) „Effekt“ eines Spiel der Zeichen sei, eines unendlichen Spiels sprachlicher Differenzen. Derrida hat diese These mittels einer Entgrenzung des Saussureschen Differentialitätsprinzips eingeführt, demzufolge jedes Zeichen seine Identität durch Abgrenzung von allen anderen erhält. Da es aber keinen zwingenden Grund für die Annahme gibt, dass die Kette der abzugrenzenden Zeichen endlich wäre, ist die Identität eines Zeichens ins Unendliche verschoben und kann sich nie definitiv gegeben, nie, wie Derrida auch sagt, mit sich selbst „präsent“ sein. Personal-subjektive Identität wird auf diese Weise parallelisiert mit semantischer Identität. Dieses Modell von Subjektivität ist also konstitutiv auf Nicht-Identität hin angelegt, auf das Moment, wie Theodor W. Adorno sagen würde, des „Nichtidentischen“. Allerdings wäre es im Adornoschen, von Hegel, Marx und Freud inspirierten Modell in der Tat allein ein „Moment“, das ein zweites, entgegengesetztes Moment nötig hat, dasjenige nämlich der Identität oder des Selbstbewusstseins 5 Die Philosophischen Untersuchungen erscheinen erstmals 1953. 6 Roger Caillois, Les jeux et les hommes (1958); Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938/39).
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oder des Sinns. Für dieses Modell spricht, dass bei Derrida nicht zu überzeugen vermag, wie so etwas wie Subjektivität aus dem reinen Verweisungszusammenhang der Zeichen, aus dem, wie er es ausdrücklich bezeichnet, „Spiel“ der Zeichen hervorgehen soll. Ohne ein „Moment“ von Identität, von (Selbst-)Präsenz, wäre Differenzierung gar nicht möglich. Von einander unterscheiden lässt sich nur, was zumindest hinsichtlich eines Bedeutungsmoments übereinkommt.7 Diese Argumentation ist auch, zweitens, dem hermeneutischen Modell von Sinnund Subjektkonstitution bestens vertraut. In der Gadamerschen Fassung wird dabei der Begriff des Spiels zentral an der argumentativen Gelenkstelle, an der es um die Begründung der Heideggerschen These geht, dass alles Verstehen ein „Geschehen“ sei, etwas Transsubjektives, das die Subjekte eher passiv erfahren denn aktiv gestalten. Das Spiel erlaubt, den subjektphilosophischen Ansatz der Moderne zu transformieren, das heißt erheblich zu relativieren. Denn das Spiel, so schreibt Gadamer in Wahrheit und Methode, ist „unabhängig vom Bewusstsein derer, die spielen [...]. Das Subjekt des Spiels sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung [...] Alles Spielen ist ein Gespieltwerden.“ Gadamers Hermeneutik, die zeigen möchte, dass Verstehen ein Geschehen ist, in dem sich Sinn als etwas nicht bloß Subjektes manifestiert, muss also zugleich zeigen, dass die zwei Prämissen, von denen die Konklusion ausgeht, gültig sind, die Prämisse, dass, erstens, Spiel vor allem ein Geschehen sei, und dass, zweitens, Spiel homolog zum Verstehen zu begreifen sei. Während Gadamer für die erste Prämisse nicht unplausibel argumentiert, fehlt aber die explizite Begründung für die zweite Prämisse. Und auch die Plausibilität der ersten ist noch abhängig von der zusätzlichen Klarstellung, dass die Spieler-Subjekte mehr sind als bloße „Statisten“.8 Dass durch sie das Spiel „lediglich zur Darstellung“ kommt, muss demnach als zumindest paritätische Relativierung der Intentionalität der Subjekte verstanden werden. Was darüber hinausginge, wie dies sicher bei Heidegger, vor allem beim späten, der Fall ist, wäre eine Degradierung des Subjekts. Was Gadamers Spielkonzeption mit derjenigen Derridas verbindet, ist ihr fundamentaler Charakter. Das eine Mal ist Spiel der Name für eine semiotische, das andere Mal für eine hermeneutische und ontologische Struktur. Es beschreibt das Geschehen der différance (der sich unendlich verschiebenden Bedeutungszuschreibung) und des Seins (das, nach Gadamers berühmter Formulierung, verstanden werden kann und daher Sprache ist9). Beide Male hat Subjektivität nur einen 7 Vgl. Jacques Derrida, „Die Struktur, das Zeichen, und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1972 (franz. Or. 1967), S. 422-442; kritisch dazu Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt am Main 1986, S. 126 f.; eine mit Hilfe der Frühromantik vermittelnde Position zwischen Dekonstruktion und Hermeneutik nimmt Ruth Sonderegger ein in ihrem Buch Für eine Ästhetik des Spiels, Frankfurt am Main 2000. 8 Zu dieser Kritik vgl. Udo Tietz, Hans-Georg Gadamer zur Einführung, Hamburg 1999, S. 89; dort auch das Zitat aus Wahrheit und Methode; zu Gadamers Konvergenz mit Wittgenstein vgl. S. 87 f. 9 „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ (Wahrheit und Methode, Tübingen 1975, S. 450). Sofern etwas (die Natur, die Kunst, die Dinge generell) verstanden und erklärt werden kann,
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sekundären, einen degradierten Rang. Beide Theorien lassen allerdings intern weitere Differenzierungen zu. So kann man einerseits heideggerianisch die Schicksalsergebenheit und Gelassenheit betonen, diese aber wiederum unterscheiden in die Anerkennungshaltung, dass wir die Verhältnisse überhaupt nicht oder nicht vollständig verändern können. Andererseits kann man nietzscheanisch die Konsequenz betonen, mit dem Spiel des Seins oder der Sprache seinerseits spielerisch umzugehen und es subversiv zu gebrauchen. Foucault und Derrida haben diese Konsequenz gezogen. Wenn Derrida schreibt, das sprechende Subjekt sei sich „ohne das Spiel“ der différance nicht gegenwärtig, schreibt er eben nicht, es sei sich nur durch dieses Spiel gegenwärtig.10 Nur im Falle der (paritätischen) Relativierung kann man Gadamers Spielkonzeption denn auch, drittens, mit derjenigen des späten Wittgenstein (und im Übrigen auch von Habermas) zusammenbringen, so wie Gadamer selber es mehrfach getan hat. Praktisches Wissen oder Regelwissen tritt dann in den Vordergrund: Ein Spiel verstehen heißt, eine Regel zu beherrschen. Es heißt, sich auf etwas zu verstehen, was man kann. Es meint eine praktische Kompetenz, ein knowing how. Dieses Verständnis von Spiel als praktischer Regelbeherrschung setzt sich einerseits fort in der gegenwärtigen (post-)analytischen Sprachphilosophie, etwa im Gedanken des deontic scorekeeping bei David Lewis und Robert Brandom, bei dem, in Analogie zum Baseball, sozusagen der Spielstand beim Geben und Fordern von Gründen entwickelt wird. Bei diesem Argumentationsspiel kommt es allerdings nicht darauf an, dass es gekonnt, sondern regelkonform gespielt wird. Nicht Kreativität, sondern Korrektheit ist leitend.11 Das Verständnis von Spiel als praktischer Regelbeherrschung findet sich andererseits auch bereits bei Kant, weniger deutlich in seiner Analyse der ästhetischen Urteilskraft als in seiner Analyse des künstlerischen Genies. Das Genie kann nämlich nicht beschreiben, wie es sein Werk zustande bringt. Es hat kein (in Regeln erlernbares) Wissen darüber, wie es seine Produkte produziert. Dass sie dennoch nach einer Regel produziert sind, erkennt man daran, dass sie anderen als Regel im Sinne eines Musters dienen können. Kant folgert daraus in der Tradition des 18. Jahrhunderts, dass nur die „Natur“ diese Regel geben kann.12 Natur ist hier der Name für eine unbewusste, allein praktisch zu erwerbende Regel. Subjektivität heißt in diesem Zusammenhang, durch Zeigen (Vormachen, praktisches, und das heißt immer auch körperliches Demonstrieren) muss es sprachlich angelegt sein und man kann insofern zu Recht von einer „Sprache der Natur“, einer „Sprache der Kunst“ und einer „Sprache der Dinge“ sprechen. 10 Jacques Derrida, „Die différance“, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 47; zu Heidegger vgl. Martin Seel, „Heidegger und die Ethik des Spiels“, in: ders., Sich bestimmen lassen, Frankfurt am Main 2002, S. 169-195; vgl. auch Stefan Deines, „Formen und Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie“, in: Regine Strätling (Hg.), Spielformen des Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis, Bielefeld 2012, S. 14 f. 11 Vgl. Robert Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt am Main 2000, bes. Kap. 3; vgl. dazu Deines, „Formen und Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie“, S. 11. 12 Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Frankfurt am Main 1968, S. 242 (B 182).
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und Übung (praktisch-körperliches Nachmachen) eine Kompetenz bis zur Meisterschaft auszubilden, das heißt bis zur individuellen und kreativen Variation der Regel. Eine Regel zu „beherrschen“ ist semantisch somit anders konnotiert als die Natur oder Menschen zu beherrschen. Das ist bei der vierten philosophischen Reevaluierung des Spielbegriffs im 20. Jahrhundert anders. Marcuse vertritt nämlich als einziger ein normatives Konzept des Spiels, und er folgt darin Schiller, der zwar einen anthropologischen Ansatz wählt und in der Tradition des 18. Jahrhunderts einer dualistischen Anthropologie folgt, indem er von einem „Stoff-“ und „Formtrieb“ spricht, der aber den berühmten „Spieltrieb“ strukturell allein aus dem Zusammenspiel der beiden erst genannten Triebe herleiten und sodann als historisch-kulturelles Ideal bestimmen kann. Mit Hegel meint Subjektivität bei Marcuse schließlich das Resultat eines Prozesses der Auseinandersetzung mit „dem Anderen“, dem, was das Ich nicht ist, ein Prozess, der mit Marx als Arbeit, mit Freud als gelungene Sublimierung des Unbewussten und in einer Synthese mit Schiller nach dem Modell der ästhetischen Auseinandersetzung mit der (äußeren und inneren) Natur interpretiert wird. Subjekt ist man, wenn man gelernt hat, ein „Ich“ zu sein, ohne das „Es“ zu verdrängen. Ästhetisch gesehen ist dies eine stets prekäre Balance, die sich nur instantan, in Augenblicken ästhetischer Erfahrung, realisieren lässt. Der utopische Überschwang besteht genau darin, diesen Augenblick auf Dauer stellen und so expandieren zu wollen. (4) Das Spiel hat im Kontext der Kritischen Theorie der ersten Generation also keine konstitutive, sondern eine regulative Funktion. Das schwächt seinen ontologischen und im Übrigen auch anthropologischen Status, stärkt dagegen aber seinen normativen Status, wenn auch in einer Weise, die ihn schnell utopisch überschwänglich werden lässt. Die Konzeption des Spiels wird in diesem von Schiller – allerdings, ich wiederhole es, mit einer starken anthropologischen Akzentuierung – entworfenen Kontext eingebunden in den Zusammenhang der Historisierung. Bei Schiller meint dies, dass die spielerische Subjektivierung als individual- und kollektivgeschichtliche Norm, als Ideal und Utopie entworfen wird. Darüber hinaus meint diese Einbindung aber auch, dass die Konzeption des Spiels selber bestimmten historischen Anforderungen unterliegt. Die Frage lautet dann, weshalb sie in einer bestimmten Zeit nötig ist, bzw. welche sozialen und – schwieriger zu verobjektivierenden – kulturellen Bedingungen sie in einer bestimmten Form notwendig machen. Foucaults Forschungen zu epistemisch-archäologischen und, in der Nachfolge Max Webers, zu disziplinär-dispositionalen Strukturen sind in dieser Hinsicht hilfreich. Was zunächst Max Weber betrifft, lässt sich sagen, dass die Konzeption spielerischer Subjektivierung bei ihm einen Platz innerhalb der Sphäre der sogenannten ästhetisch-expressiven Rationalität erhält. In der Moderne gliedert sich ihm zufolge ja die Einheit der Vernunft auf in die „Wertsphären“ der kognitiven Rationalität von (Natur-)Wissenschaft und Technik, der evaluativen Rationalität von Naturrecht und (protestantischer) Ethik und die ästhetisch-expressive Rationalität, in der er zwei Bereiche unterscheidet, nämlich Kunst und Erotik, wobei letztere bei ihm,
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an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, „das außeralltäglich(e)“, „speziell also das ehefreie Geschlechtsleben“ meint.13 Nur in dieser ästhetisch-expressiven Sphäre kann das Subjekt seinen neuzeitlich-modernen Anspruch auf moralische und politische Selbstbestimmung im Sinne expressiver, sich in Lebensformen ausdrückenden Selbstverwirklichung realisieren und sich einen Ausdruck seiner Einmaligkeit verschaffen. Die Bereiche, die um Kunst und Erotik kreisen, werden für das moderne Subjekt deshalb wichtig, weil sie, entweder exklusiv oder privilegiert, individuelle Selbstverwirklichung erlauben. Das Gefühl herzrasender Verliebtheit, voyeuristischen Genusses, umgarnender Beredsamkeit und obsessiver Verfallenheit kann das moderne Subjekt nicht in den Sphären der Wissenschaft und der Moral ausleben14, ebenso wenig wie das Gefühl einer sensuell-intellektuellen Lust, das sich, mehr oder weniger schockhaft, angesichts von Phänomenen des Schönen, Erhabenen und das Hässliche streifenden Nicht-Schönen einstellt, aber auch angesichts der Phänomene der Mode, des Designs, der Architektur und des Kulinarischen, all dessen, was Kant in seiner Analyse des ästhetischen Urteils als „Angenehmes“, als bloß sinnliche (sensuelle und hedonistische) Lust aus dem Bereich des Ästhetischen ausgeschlossen hat. Den Bereich des Ästhetischen, speziell der Kunst, am Begriff des Spiels auszurichten, ist vor diesem Hintergrund, zunächst bei Schiller, ein spezifizierender Ausdruck für moderne Selbstverwirklichung. Das ästhetisch initiierte Spiel erscheint dem Subjekt der Moderne als eine geeignete Kategorie, um seiner individuellen Selbstverwirklichung spezifische Kontur zu verleihen. Dieses Spiel ist ästhetisch initiiert, bleibt aber nicht auf den Bereich des Ästhetischen restringiert. In dem Maße, in dem vielmehr zum einen ideengeschichtlich der Begriff des Spiels zu einem Grundbegriff sowohl der anthropologischen Kulturgeschichte (Huizinga) als auch der Sprachphilosophie (Wittgenstein) wird, und in dem zum anderen kultursoziologisch eine „Ästhetisierung der Lebenswelt“ einsetzt, wie dies in den soge13 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1978, S. 560. 14 Dass Selbstverwirklichung freilich auch im Bereich der reinen, nackten Sexualität ihre Grenzen hat, ist durch die Psychoanalyse und durch Kunst und Literatur inzwischen einschlägig dargelegt. Lacans provozierende These, dass es keine sexuelle Beziehung gibt, bekräftigt, dass die forciert körperliche Verbindung eingeschlossen bleibt im Narzissmus und daher den anderen („das Sein des anderen“), im Unterschied zur Liebe, nicht erreicht. Die Überwindung des Narzissmus durch Sexualität ist ein Ansinnen, das sich nicht real, sondern allein imaginär befriedigen lässt, die Konjunktion zwischen „Sexualität“ und „Beziehung“ eine contradictio in adiecto (vgl. dazu Alain Badiou, Lob der Liebe. Ein Gespräch mit Nicolas Truong, aus dem Franz. von Richard Steurer, Wien 2001, S. 24 ff.). Die beste ästhetische Demonstration dafür bietet in jüngster Zeit Shame (2011) von Steve McQueen, die filmische Studie eines erfolgreichen und gut aussehenden jungen Werbefachmanns, dessen sexuelle Potenz an „emotionale Impotenz“ (Christiane Peitz im Tagesspiegel vom 5. September 2011) gekoppelt ist, an Angst vor persönlicher Intimität und die entsprechende Unfähigkeit, sich auf eine Liebesbeziehung einzulassen. Die großstädtische Welt der Dating-Rituale, Single-Bars und Sex-Clubs erweist sich dementsprechend als ein düster-kühles, high-tech-glänzendes Inferno, in dem Beziehungssüchtige zuinnerst sprachlos umherirren, als Glashaus einer ins Existenziale gesteigerten Einsamkeit. Es ist, als habe ein kafkaesker Gott die Menschen dazu verurteilt, ihr Leben in ewiger Isolationshaft zu verbringen, die sie mit jedem Sexualkt, einem Akt der selbstversprochenen Freiheit, stets nur verschärfen.
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nannten westlichen Wohlstandsgesellschaften zunehmend seit den 1950er Jahren der Fall ist15, im selben Maße kommt es zu einer breiten und breitenwirksamen Aufwertung des Spiels nicht nur im Zeichen der Selbstverwirklichung, sondern auch der Alltagspraxis. Das ethische Ideal der Selbstverwirklichung wird, soziologisch gesehen, entgrenzt. Es verlässt die eingehegten und dem Privatvergnügen anheimgestellten Bereiche der Kunst und der (erotisch aufgeladenen, nicht durch die Institution der Ehe in Besitz zu nehmenden) Sexualität. Diese soziale Tendenz zur Diffusion der Ethik der Selbstverwirklichung, in der deren Konturen sich ebenso ausdehnen wie verschwimmen, korrespondiert in gewisser Weise die theoretische Tendenz, die Alltagswelt nicht nur den auferlegten Imperativen der Moral und dem berechnenden Reglement des Zweckdenkens zu unterstellen, sondern sie ebenso als das Reich eines weicheren, durch Praktiken eingeübten Regelfolgens gelten zu lassen. Die Kategorie des Spiels legitimiert sich also aus dieser Weberschen Perspektive, weil diese Kategorie, angestoßen durch die Kunst, den Kindern der Moderne Selbstverwirklichung und eine vom Striktheitsgebot der kognitiven und moralisch-evaluativen Rationalität befreite Konzeption der Regel ermöglicht. Foucaults Programm einer „Ästhetik der Existenz“ lässt sich zunächst ebenfalls in diesem Max Weberschen Rahmen verorten. Es formuliert eine Variante moderner – von „Postmoderne“ ist auch bei Foucault nicht die Rede – Selbstverwirklichung im Zeichen eines weichen Regelbegriffs. Oben habe ich bereits angemerkt, dass die Transsubjektivitätstheorien des Spiels Subjektivität nur einen sekundären, degradierten Rang zuerkennen, dass die beiden entsprechenden Theorien allerdings intern weitere Differenzierungen zulassen. Einerseits kann man heideggerianisch die Schicksalsergebenheit und Gelassenheit betonen und diese wiederum unterscheiden in die Anerkennungshaltung, dass wir die Verhältnisse überhaupt nicht oder nicht vollständig verändern können. Man kann dies einen entweder resignativen oder moderaten Konservatismus nennen. Andererseits kann man nietzscheanisch die Konsequenz betonen, mit dem sogenannten Spiel des Seins oder der Sprache seinerseits spielerisch umzugehen und es angesichts seiner Übermacht subversiv zu gebrauchen. Foucault hat neben anderen diese Konsequenz gezogen. Man kann sie die eines reaktiven Anarchismus nennen. Der Ausdruck „,Wahrheitsspiele‘“, den Foucault in diesem Zusammenhang (in einfachen Anführungszeichen) gebraucht,16 meint die Abfolge epistemischer Konstellationen, innerhalb deren „sich das Sein historisch als Erfahrung konstituiert.“ Sie binden den Faktor der strukturellen Macht, der unsere Diskurse, Codes und Praktiken reguliert, jeweils zusammen mit einer residualen subjektiven, im Effekt subversiven Freiheit. Es ist dabei wichtig zu betonen, dass Subjektivierung nicht gegen, sondern durch epistemische und disziplinäre Strukturierung erfolgt. Strukturen haben, anders gesagt, 15 Rüdiger Bubner, „Ästhetisierung der Lebenswelt“, in: ders., Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989, S. 152ff; vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1992, bes. S. 142 ff., 150 ff., 277 ff. 16 Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt/M. 1989, S. 13.
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nie nur eine „repressive“, sondern auch eine „produktive“ Funktion. Foucaults Schriften sind ein Plädoyer dafür, diese Ambivalenz in ihrer jeweiligen spezifischen Ausprägung zu untersuchen. Wenn Foucault von einer „Ästhetik der Existenz‘ spricht, greift er zunächst auf die antike und die heutzutage alltagssprachlich vertraute weite Bedeutung des Kunstbegriffs zurück. Mit téchne bezeichnen die Griechen ja jene Art von Wissen, von Können oder Kunstfertigkeit, die ihre Anwendung im Bereich des Herstellens (poiesis), findet, nicht im Bereich der Wissenschaft (episteme) und auch nicht im Bereich des Handelns (praxis). Mit Hilfe der Mittel-Zweck-Relation ausgedrückt, geht es beim Herstellen einer Sache darum, einen bestimmten Zweck mit bestimmten Mitteln zu verwirklichen, und dieser bestimmte Zusammenhang ist lehrbar. Wendet man eine Technik auf den Bereich des menschlichen Lebens an, wie dies in der téchne tou bíou ausgedrückt ist, verwischt sich die Grenze zwischen poiesis und praxis. Für so etwas wie das Herstellen seiner selbst lässt sich nämlich die Mittel-Zweck-Relation und die Lehrbarkeit nicht so einfach aufrecht erhalten. Das Wissen darüber, wie man sich selbst herzustellen hat, muss ersichtlich ein anderes sein als das eines technischen Experten. Unter den „Selbsttechniken“ und „Existenzkünsten“, wie die griechische und römische Antike sie ausgearbeitet hat, sind „gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern […] aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.“17 So unterwirft sich etwa ein griechischer Bürger des fünften und vierten Jahrhunderts vor der Zeitenwende bestimmten Regeln und Praktiken der Meditation, intellektuellen Übungen (wie dem Lesen, dem Zuhören, dem gründlichen Untersuchen) und im engeren Sinn praktischen Regeln bezüglich der Diät und der Sexualität. Relevant sind diese Regeln und Praktiken für ihn vor allem dann, wenn er in der Polis regieren will. Herrschaft über andere setzt nämlich zu jener Zeit Selbstbeherrschung voraus.18 Das Herstellen seiner selbst hat aber, anders als das handwerkliche Herstellen, seinen Zweck letztlich in sich selbst. Darin kommt es mit dem praktischen Handeln überein. Es ist nicht extern zweckgebunden und gehört bei Aristoteles vor allem zum bios politikos und zum bios theoretikos, in den Kontext der polis und der Wissenschaft. Wer am politischen Leben teilnimmt (in der griechischen Antike der freie, keiner fremden Anordnung folgende Mann) oder Wissenschaft betreibt, tut dies aus internen Zwecksetzungen. Auch ist das Herstellen seiner selbst, zumindest in der griechischen Antike, nur gruppenspezifisch gültig. Die Aufforderung, mehr Sorge zu tragen für sein eigenes Leben, richtet der platonische Sokrates an Alkibiades als Repräsentanten einer politischen Elite. Erst die Stoa führt, indem sie die Selbsttechnologien an die Menschen als Vernunftwesen adressiert, eine Verallgemeinerung der Ethik ein. In dem Maße, in dem 17 Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, S. 18. 18 Vgl. Foucault, Michel, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1987, S. 276 f.; ders., Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, S. 80; ders., Sexualität und Wahrheit, Bd. 3: Die Sorge um sich, Frankfurt am Main 1989, S. 114, 317.
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die griechisch-antike Ethik vom Ideal des kalon-agathon bestimmt wird, wird die Herstellung seiner selbst im Idealfall zwar zu einem ungesicherten Akt glückenden Gelingens. Die ethische Anerkennung, die man dadurch erfährt, enthält so bereits ein Element des ästhetischen Wohlgefallens. Aber die kalokagathia ist dennoch weit entfernt vom modernen, erst durch die Romantik eingeführten Ideal einer individualisierten Autonomiemoral, nach der die kantianisch-moralische in eine ethische Selbstgesetzgebung zu überführen ist. Erst hier erlangt die Selbsttechnologie eine Note individueller Gültigkeit. Erst hier wird sie zu einer Ästhetik der Existenz im modernen Sinn. Der Ratschlag oder, etwas stärker, die Aufforderung (zu einem Imperativ im kategorischen Sinn kann sie sich sicher nicht steigern): ‚Mache aus deinem Leben ein (eine Art) Kunstwerk‘, heißt in diesem Zusammenhang soviel wie: ‚Unterwirf dich bestimmten Regeln und praktischen Übungen, die einzig oder vor allem dein Leben als ganzes zum Zweck haben.‘ Foucaults ästhetisierte, das heißt romantisch-modern individualisierte Ästhetik der Existenz ist die jüngste Ausformung in der von ihm verfolgten Geschichte der Subjektivität und ihrer Herstellungsweisen, ihrer Technologien. Die genealogische Frage, was eine bestimmte Ethik zu einer bestimmten Zeit nötig mache, erhält von ihm selbst eine nach verschiedenen Selbsttechnologien bzw. Existenzkünsten aufgefächerte Antwort: von der griechisch-antiken „Selbstsorge“ über die römisch-antike „Selbsterkenntnis“ zur christlichen „Seelsorge“ und schließlich zu einer modernen Ästhetik der Existenz, die ihre antiken Ursprünge durch den ersten französischen Theoretiker oder Stichwortgeber der Moderne, Charles Baudelaire, transformiert in Richtung einer „Haltung“ („ein bisschen wie das, was die Griechen Ethos nannten“), die vom Künstler lernt, „ein schwieriges Spiel zwischen der Wahrheit des Wirklichen und der Ausübung von Freiheit“ zu spielen, ein schwieriges Spiel, da es einerseits die jeweilige Gegenwart als das erfassen muss, was sie (wirklich) ist, und sie sich andererseits anders vorstellen soll, als sie ist, das heißt sie transformieren soll.19 Foucault beschreibt das Konzept einer modernen Selbsttechnologie oder Existenzkunst also insofern als ambivalent, als es einerseits den Einzelnen ermöglicht, die Regeln und unbewussten Codes einer sozialen Lebensform individuell auszuformen und mehr oder weniger auch zu verändern. Andererseits eröffnet es nicht das Reich einer zügellosen Freiheit. Spielerische Subjektkonstitution hat auch bei Foucault nicht nur ein entregulierendes, sondern auch regulierendes Element. Diese Ambivalenz tritt auch bei anderen zeitgenössischen Theoretikern hervor. Gilles Deleuze hat sie, ausgehend von Foucault, im Begriff der „Kontrollgesellschaft“ fixiert, einer Gesellschaft, die ökonomisch durch den Finanzkapitalismus, technologisch durch Informationsmaschinen und kulturell durch das Prinzip der „Modulation“ bestimmt ist, das ein sich permanent neu erfindendes, unendlich kreatives
19 Vgl. Michel Foucault, „Was ist Aufklärung?“, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt am Main/New York 1990, S. 42 u. 44.
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Subjekt verlangt.20 Bei Luc Boltanski und Eve Chiapello lautet der entsprechende Begriff „Künstlerkritik“. Sie begreift seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Emanzipation als Befreiung von allen Zwangsformen und ist seit den späten 1960er Jahren ebenso erfolgreich gewesen wie gescheitert, erfolgreich in ihrer sozial-kulturellen Akzeptanz, gescheitert, weil sie nicht, wie häufig deklamiert, den Anfang vom Ende des Kapitalismus eingeleitet, sondern vielmehr dessen Kraft zur Neuerfindung fortgeführt hat.21 In beiden Fällen sind es starke regulierende Kräfte, stets gebunden an oder gar erzeugt durch die kapitalistische Ökonomie, die die Idee eines bestimmten, zugleich de- und re-regulierenden Spiels als Gegenkraft ins (große, strukturelle) Spiel bringen. (5) Von Kant bis Foucault schreibt man dem Spiel im engeren oder weiteren ästhetischen Sinn ein Potential der Freiheit zu. Ebenfalls von Kant bis Foucault meint diese Freiheit aber nicht, dass sie der Willkür und dem Gutdünken der Subjekte gleichzusetzen sei. Dass (ästhetische) Spiel und die mit ihm verbundene Freiheit unterstellen sich vielmehr eigenen Regeln, eigenen, also autonom gesetzten, aber doch auch Regeln. Regelgebundenheit erscheint somit als ein (notwendiges) Kriterium des Spiels. Gleichwohl erscheint dies auch fraglich, vor allem dann, wenn man zugleich einen essentialistischen Spielbegriff unterstellt. Sind in der Tat alle Spiele durch Regelbefolgung definiert? Gibt es das überhaupt: „das Spiel“? Philosophisch lassen sich diese Fragen nicht mehr beantworten, ohne auf den späten Wittgenstein zu verweisen. Seine Position ist insofern interessant, als er die zuletzt gestellte Frage klar verneint (die Rede vom Spiel mit vorangestelltem bestimmten Artikel ist streng genommen unzulässig), einen sprachphilosophisch relevanten Spielbegriff aber durch Regelbefolgung auszeichnet. Freilich muss man sogleich festhalten, dass Wittgenstein Regel- und Spielbegriff in einer bestimmten, nämlich nicht-definitorischen Weise aneinander bindet. Er betont damit, dass jene Regeln, die unsere verschiedenen Praktiken und „Lebensformen“, unsere „Sprachspiele“ strukturieren, nicht definiert, sondern nur praktisch erlernt werden können, dass also – mehr oder weniger, graduell differenziert – auf alle Sprachspiele zutrifft, was laut Kant nur auf das der (Herstellung von) Kunst zutrifft. Als undefinierbar gilt ihm konsequenterweise auch der Begriff des Spiels. Der einschlägige Abschnitt dazu aus den Philosophischen Untersuchungen lautet: „Schau z.B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie alle unterhaltend? [...] Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? [...] In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlie20 Vgl. Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990, aus dem Franz. von G. Roßler, Frankfurt am Main 1993, S. 254-262. 21 Vgl. Luc Boltanski/ Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, aus dem Franz. von M. Tillmann, Konstanz 2003.
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ren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. [...] Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen. Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen.“22 Wittgensteins Konzept der „Familienähnlichkeiten“ meint eben dies: auf die Ähnlichkeiten, die gemeinsamen und unterschiedlichen Züge zwischen den Phänomenen zu schauen (zu sehen, zu achten) und nicht davon auszugehen, dass es ein durchgehendes Merkmal zwischen ihnen gebe. Freilich gibt es zwischen den Extremen des Essentialismus und der Familienähnlichkeit noch mindestens eine dritte Option, diejenige nämlich der Typologie. Wittgenstein selber deutet in dem Zitat bereits eine an, denn er verweist auf drei unterschiedliche Typen von Spielen: Wettbewerbsspiele (bei denen es „überall ein Gewinnen und Verlieren“ gibt), Glücksspiele (bei denen „Geschick und Glück“ eine Rolle spielen) und, wie man sie in Anlehnung an Kant nennen kann, freie Spiele („wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt“). Typisch für Wettkampfspiele ist, dass sie auf Regeln, Intersubjektivität und Kompetenzen beruhen. Im Vergleich dazu ist für Glücksspiele typisch, dass der Faktor der Kompetenz durch den der Kontingenz ersetzt wird. Und es ist typisch für freie Spiele – wie das Herumtoben von Kindern, das (nervöse oder beruhigende) Herumspielen mit einem handlichen Gegenstand, aber auch das sogenannte Spiel der Lichter oder der Wellen –, dass sie nicht zwingenderweise Regeln und Intersubjektivität erfordern, auch nicht immer Kompetenz. Ein freies Spiel kann man für sich alleine und ohne, wenigstens ohne erkennbare Regel spielen. Sobald ein zweites Subjekt mit im Spiel ist, nimmt die Regelbindung allerdings sofort zu, sei es faktisch (durch gegenseitige Nachahmung), sei es präskriptiv (das Herumtoben macht noch mehr Spaß, wenn man sich auf bestimmte Formen einigen kann). Zu diesen drei Typen von Spielen lassen sich rasch noch zwei andere hinzufügen. Zum einen das mimetische Spiel oder Darstellungsspiel, dessen wesentliches Merkmal das Als-ob ist, also jenes Merkmal, das Kant für die Sphäre des ästhetischen Spiels insgesamt herausstellt. Hier wird so getan, als ob – der Schauspieler auf der Bühne ein Mann namens Hamlet sei, die Kinderpuppe sprechen könne wie ein Mensch und die senkrecht kreisenden Arme eines Kindes die Flügel einer Windmühle seien. Und schließlich gibt es noch ein Spiel, das man dionysisch nennen kann. Bei ihm kommt es primär darauf an, rauschhafte, schwindelartige, also mental, psychisch und physisch desorientierende Wirkungen zu erzielen (primär, denn diese Wirkung kann bei allen anderen Typen von Spielen ebenso eine mehr oder weniger starke Rolle spielen). Caillois nennt diesen Typus „ilinx“, nach dem griechischen Wort für „Wasserwirbel“, whirlpool, und führt als Beispiele an, aus vollem Hals zu schreien, einen Abhang hinunter zu rutschen, Karussel zu fahren und hoch hinaus zu schaukeln; Beispiele, die man
22 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1984, S. 277 f.
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ersichtlich ebenso dem Typus des freien Spiels zuordnen kann, dessen Wirkungen aber seinerseits nicht allesamt dionysisch sein müssen.23 Vom Spiel im Singular zu sprechen, erscheint also auch vor dem Hintergrund einer differenzierenden Typologie nicht mehr möglich. Gleichwohl gibt es begriffliche Merkmale, die stärker hervortreten. Das Merkmal der Regelhaftigkeit gehört dazu. Denn auch das freie und dionysische Spiel folgt (wenn auch, häufig ad hoc, selbstgesetzten, hochvariablen und manchmal auch schwer erkennbaren) Regeln: Einen Ball an die Wand zu werfen und wieder aufzufangen, mit einem Stift in der Hand herum zu spielen, mit Schwung zu schaukeln oder einen Abhang hinunter zu rutschen – all das kann man in unterschiedlichsten Varianten tun, aber als Varianten folgen sie einer Regel. Vor allem aber tritt das Merkmal der Unterhaltung oder, im Kantischen Sprachgebrauch, der Lust hervor. Spiele – man ist geneigt zu sagen: alle Spiele – unterhalten im doppelten Sinn des Wortes: Sie sind anregend wie ein (anregendes) Gespräch, und sie amüsieren, bieten Entertainment. Diese Lust kann intern gewiss wieder differenziert werden, so wie etwa Kant es mit der Unterscheidung in eine sinnliche und reflexive, im engeren Sinn ästhetische Lust getan hat. Aber Wittgensteins Frage zu den Spielen: „Sind sie alle unterhaltend?“ müsste wohl tatsächlich mit einem Ja beantwortet werden. Wenn es einen verbindenden, essentialistischen Faden im Begriff des Spiels gibt, dann wird er aus dem Merkmal der Regel und, mehr noch, der Lust gesponnen. Fraglos aber sind die Konzeptionen des Spiels, die die Moderne philosophisch, kulturanthropologisch und soziologisch in den vergangenen gut zweihundert Jahren vorgestellt hat, heute theoretisch nur noch attraktiv, sofern sie eine befriedigende Konzeption der Spiele umfassen.
23 Vgl. Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, aus dem Franz. von Sigrid von Massenbach, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1982, S. 33. Caillois schlägt eine Spieltypologie nach vier Kategorie vor: agon (Wettkampf ), mimikry (Schauspiel, Darstellung), alea (Glücksspiel) und ilinx (berauschende Spiele). Die Kategorie des freien Spiels fehlt bei ihm. Sicherlich gehören aber die meisten der berauschenden, dionysischen Spiele zu dieser Kategorie. Sie lassen sich allerdings, wie Deines anmerkt, im Unterschied zu den anderen Spielformen nicht mit Hilfe von Strukturmerkmalen, sondern nur aufgrund ihrer physischen, psychischen und mentalen Effekte bestimmen. Deines selber schlägt ebenfalls eine vierfach differenzierte Typologie nach den Kategorien Wettkampf-, Darstellungs-, Glücks- und freies Spiel vor (vgl. „Formen und Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie“, S. 5 ff.).
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Zur Öffentlichkeit und Beobachtbarkeit von Praktiken der Subjektivierung Die Dezentrierung des Subjekts, wie es etwa die traditionelle Bewusstseins- und Handlungsphilosophie annimmt, kann als eine zentrale Theorie- und Denkbewegung am Ende des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. In dieser breiten und heterogenen Strömung, die verschiedene strukturalistische und poststrukturalistische Ansätze umfasst, wird die Frage nach der universalen Struktur des Subjekts ersetzt durch die Frage nach den Prozessen der fortlaufenden Herausbildung, Modellierung und Modifikation von Subjektformen.1 Das Subjekt wird nicht mehr als das Innere eines privaten Selbst oder als eine autonome Instanz verstanden, deren Kern in bestimmten inneren geistigen Qualitäten besteht. Es gilt nicht länger als unabhängig von äußeren Bedingungen, sondern es wird gerade über die äußeren, öffentlichen und beobachtbaren Bedingungen seiner fortlaufenden soziokulturellen und soziomateriellen Produktion analytisch erschlossen. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei die daran beteiligten Sprachspiele, symbolischen Ordnungen, Selbsttechniken, Diskurse und Praktiken. Subjektivierung wird als ein Prozess verstanden, an dem alltägliche Praktiken, Verhaltensweisen, Körperbewegungen, Haltungen, Gesten und Kommunikationsformen genauso wie medizinische oder psychologische Diskurse, eine entsprechende Ratgeberliteratur, aber auch Bilder, Videos, Filme etc. beteiligt sind. Diese kulturanalytische Neuausrichtung leitet zugleich eine Empirisierung der Frage nach dem Subjekt ein. An die Stelle einer Theorie des Subjekts rücken Analysen von Subjektordnungen als Komplexe sozialer Praktiken und empirische Studien einzelner diskursiver, materieller und praktischer Subjektivierungsarrangements. Mit dieser Akzentuierung des Prozessualen und Praktischen und mit der anvisierten Empirisierung des (subjekt-)theoretischen Blicks rückt die kultur- und sozialwissenschaftliche Subjektivierungsforschung in die Nähe jener postklassischen oder postkonventionellen Orientierungen, für die sich in den aktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatten die Bezeichnungen Praxeologie oder practice turn durchgesetzt haben. Diese Nähe und Konvergenz bildet den Ausgangspunkt dieses Beitrages, der der Frage nachgehen möchte, ob und wie die Subjektivierungsforschung von einer Soziologie der Praktiken2 profitieren könnte. In praxeologischer Perspektive subjektivieren soziale Praktiken ihre Teilnehmer, d.h. sie konfrontieren sie mit Anforderungen, Normen, Sinnmustern und Zielorientie1 Vgl. Andreas Reckwitz, Subjekt, Bielefeld 2010. 2 Die folgenden Überlegungen nehmen Thesen und Argumentationen aus Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken, Berlin 2012, auf.
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rungen, setzen sie als Subjekte ein, befähigen und beschränken sie und stellen auf diese Weise fortlaufend adäquate und spezifische Subjektformen her. Davon ausgehend lassen sich zwei Leitfragen einer praxeologischen Subjektanalyse formulieren: Wie lässt sich die praktische Logik einer bestimmten Subjektivierung erschließen? Wie können in der Analyse von sozialen Praktiken deren subjektivierende Wirkungen beobachtbar gemacht werden? In einer Annäherung an diese beiden Leitfragen werden im Folgenden insbesondere die epistemologischen und methodologischen Kernpunkte der praxissoziologischen Perspektive vorgestellt. Sie bestehen in einer charakteristischen Empirisierung des analytischen Blicks sowie in Verfahren der Beobachtung, die von einer für soziale Praktiken konstitutiven Öffentlichkeit ausgehen. Die Grundzüge und Neuorientierungen der Praxeologie werden in einem ersten Schritt zunächst zusammenfassend vorgestellt (1). In einem zweiten Schritt werden daraufhin die epistemologischen Besonderheiten einer Soziologie der Praktiken erläutert (2). In einem dritten Schritt werden mit der Körperlichkeit, der Materialität und dem Mentalen Aspekte und Bestandteile sozialer Praktiken hervorgehoben, die auf die konstitutive Öffentlichkeit sozialer Praktiken verweisen (3). Abschließend werden mit der Öffentlichkeit sozialer Praktiken verknüpfte methodologische Überlegungen zu einer multiperspektivischen Beobachtung von Subjektivierungsprozessen vorgestellt (4).
1. Praxissoziologische Neuorientierungen Zu den wichtigsten Bezugspunkten einer praxeologischen Neuorientierung innerhalb der Soziologie zählen Arbeiten aus dem Umkreis der Ethnomethodologie3, Goffmans Interaktionsanalysen4, Foucaults Analysen von Selbst-Praktiken5, die Materialitätstheorien der soziologischen Wissenschaftsforschung6, an den späten Wittgenstein anschließende Konzeptionen7, die Strukturierungstheorie Giddens‘8 und – nicht zuletzt – die Praxeologie Bourdieus9.
3 Vgl. Michael Lynch, „Ethnomethodology and the Logic of Practice“, in: Theodore Schatzki et al. (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001, S. 131-148. 4 Vgl. Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt am Main 1982. 5 Vgl. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd.2, Frankfurt am Main, 1984; Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd.3, Frankfurt am Main 1984. 6 Vgl. Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford/New York 2005. 7 Vgl. Theodore Schatzki, Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge/New York/u.a. 1996. 8 Vgl. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York 1995. 9 Vgl. insbesondere Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976.
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ZUR ÖFFENTLICHKEIT UND BEOBACHTBARKEIT VON PRAKTIKEN
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Soziale Praktiken lassen sich mit Bezug auf diese Ansätze in einer ersten Annäherung als öffentliche, an bestimmte Umstände, Orte, Kontexte und materielle Rahmungen gebundene Vollzüge verstehen. Praktiken sind sinnhaft und intelligibel, sie vollziehen sich überwiegend im Modus des Gewohnten und Selbstverständlichen. Sie haben kollektiven Zuschnitt, involvieren Teilnehmerschaften oder Praktikergemeinschaften und bilden entsprechend auch kollektiv geltende Subjektformen aus. In sozialen Praktiken spielen körperliche Performanzen und Routinen, ein gemeinsam geteiltes praktisches Wissen und materielle Trägerschaften (Artefakte, gebaute Räume, technische Umgebungen etc.) eine wichtige Rolle. Soziale Praktiken bilden fluide Verknüpfungen, die durch eine mehr oder weniger große Regelmäßigkeit, Geordnetheit und Strukturiertheit gekennzeichnet sind. In praxeologischen Zugängen stehen soziale Praktiken darüber hinaus zugleich im Zentrum der Erkenntnis des Sozialen. Das Soziale wird als ein emergentes Resultat sozialer Praktiken verstanden, d.h. als eine von praktischem Wissen und gekonnten Körperbewegungen getragene, situierte, materiell eingebettete, verteilte und vernetzte Aktivität und fortlaufende Hervorbringung. Soziale Praktiken sind – wie Theodore Schatzki prägnant formuliert – „the site of the social“10: der Ort und Schauplatz des Sozialen. Zusammenfassend lassen sich drei Grundzüge nennen, die die praxissoziologische Perspektive kennzeichnen: Der erste Grundzug besteht in einer ‚flachen‘ Konzeption von Sozialität. Im praxissoziologischen Verständnis hat das Soziale weder verschiedene Stockwerke zwischen sichtbarer Oberfläche und unsichtbarem Souterrain, noch ist es in verschiedene Mikro- und Makroebenen gegliedert. Es erstreckt sich vielmehr auf einer (flachen) Ebene der sites und Praktiken, die durch Rahmungen, Vermittlungen und durch Techniken des Aggregierens zugleich lokalisiert und globalisiert werden. Durch diese Neukonzeptualisierung kann die Mikro-Makro-Dichotomie als eine in der Soziologie konventionalisierte, aber unproduktive Arbeitsteilung zurückgewiesen werden, die Scheinprobleme und Missverständnisse erzeugt. Ein Beispiel für ein solches Scheinproblem ist die immer wieder diskutierte Frage, wie denn die – in vielen mikrosoziologischen Analysen herausgearbeiteten – kreativen und eigenlogischen Aktivitäten von Handelnden mit den – in Analysen der Makroebene herausgearbeiteten – strukturellen Zwängen und Wirkungen ‚der Gesellschaft‘ vermittelt werden können.11 Der zweite Grundzug besteht in einer Konkretisierung, Materialisierung und Empirisierung des soziologischen Verständnisses von ‚Struktur‘. Struktur ist demnach keine wirkende hypothetische Entität hinter den Praktiken, sondern die konkrete, prinzipiell beobachtbare Ausdehnung und Stabilisierung sozialer Vollzüge 10 Theodore Schatzki, The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park/Pennsylvania 2002. 11 Vgl. für einen neueren Beitrag zur Reformulierung des Mikro-Makro-Problems Bettina Heintz, „Emergenz und Reduktion. Neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 56 (2004), S. 1-31.
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in Raum und Zeit. Im Mittelpunkt stehen dabei die Fragen, wie genau solche Ausdehnungen und Stabilisierungen eigentlich hergestellt werden, welchen Dynamiken sie unterliegen, inwieweit sie bestehen bleiben, expandieren, schrumpfen oder ‚absterben‘.12 In dieser Perspektive kommen die verteilten und vernetzten Trägerschaften des Sozialen in den Blick. ‚Struktur‘ wird empirisch beschreibbar als ein Netzwerk von Körpern, Artefakten, Schrift- und Symbolsystemen, Gebäuden, Transportwegen, Kommunikationstechnologien etc. Durch ihren dritten entscheidenden Grundzug reiht sich die praxissoziologische Perspektive schließlich ein in die bereits skizzierte breite Strömung einer Dezentrierung des Subjektes. Die handelnden menschlichen Akteure, in der Handlungstheorie die primäre Quelle von Bedeutung und Sinn, werden aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit geschoben, ohne aber einfach eliminiert zu werden. Statt der handelnden Subjekte werden die situierten praktischen Vollzüge priorisiert. Es geht also – mit einer viel zitierten Formulierung Goffmans – „nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen.“13 Die Praxissoziologie fokussiert also Umstände und ihre verschiedenen Akteur- und Trägerschaften oder allgemeiner situierte Praktiken und ihre Teilnehmer. Für subjektivierungsanalytische Fragestellungen bedeutet diese Aufmerksamkeitsverschiebung, dass die Praxissoziologie nachzuzeichnen versucht, wie sich Akteure über ihre Partizipation an bestimmten sozialen Praktiken in situierte, praktikenspezifische Subjektformen einarbeiten. Die drei genannten Grundzüge sind das Zwischenergebnis einer praxissoziologischen Suchbewegung, die also neben einem neuen Verständnis von Sozialität insbesondere auch auf eine Neukonzeptualisierung des ‚handelnden Subjektes‘ ausgerichtet ist. Diese Suchbewegung verfolgt keine theoriearchitektonischen, sondern eher methodologische Interessen. Besonders deutlich wird dies im Bemühen um eine Reformulierung des in den Sozial- und Kulturwissenschaften nie wirklich geklärten Verständnisses von ,Theorie‘ und ihrer Beziehung zur Empirie. Die konventionelle Auffassung unterstellt nämlich ‚Theorie‘ und Empirie‘ als zwei klar voneinander getrennte Bereiche: Demzufolge dürfen empirische Beobachtungen, durch die Theorien falsifiziert werden sollen, nicht selbst wieder Theorien enthalten. In der Soziologie der Praktiken wird diese ‚Trennung‘ destabilisiert: ‚Theorie‘ und ‚Empirie‘ werden in ihrer Untrennbarkeit und wechselseitigen Verschränkung neu veranschlagt.14 Theorie‘ wird als ein Ensemble von theoretischen Praktiken ‚empirisiert‘. So wird etwa im Anschluss an Kuhn und die ethnografische Wissenschaftsforschung die tatsächliche Arbeitsweise von Theoretikerinnen zum Gegenstand gemacht15 und zugleich wird 12 Vgl. dazu Elisabeth Shove, Mika Pantzar, Matt Watson, The Dynamics of Social Practices, Everyday Life and How It Changes, Los Angeles/London/New Dehli 2012. 13 Erving Goffman, Interaktionsrituale, Frankfurt am Main 1971, S. 9. 14 Vgl. dazu die Beiträge in Herbert Kalthoff et al., Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt am Main 2008. 15 Vgl. Karin Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt am Main 2002.
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eine ‚explizit theoretische‘ empirische Forschung angestrebt. D.h. die praxissoziologische Perspektive bemüht sich um eine Empirisierung des theoretischen Blicks und setzt theoretische Konzepte fortlaufend empirischen Verunsicherungen aus.
2. Praxeologische Epistemologie In dieser Empirisierung von theoretischen Konzepten und hypothetischen Begriffen wie „Struktur“ oder „Subjekt“ wird eine spezifisch praxeologische Epistemologie erkennbar, die nun etwas weiterführend umrissen und präzisiert werden soll. Hierfür ist ein Blick auf den ethnologischen Reflexionskontext der praxeologischen Erkenntnisweise instruktiv. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Bourdieus Ethnologie der unter Modernisierungsdruck stehenden algerischen Übergangsgesellschaft der späten 50er Jahre.16 Die koloniale Situation Algeriens bietet für Bourdieus ethnografische Studien ein ausgedehntes Experimentier- und Beobachtungsfeld, das erhebliche Überraschungen und Irritationen bereithält. Sie destabilisieren etablierte soziologische und kulturanthropologische Konzepte und die theoretischen Modelle und Erklärungsmuster, die Bourdieu aus der akademischen Welt Frankreichs mitgebracht hat. Zu Ersteren zählt etwa das Beschreibungsvokabular der strukturalen Anthropologie, die die von ihr konstruierten „Regeln“ und „Strukturen“ in einer intellektualistischen Projektion zur unbewusst wirkenden Grundlage der untersuchten kulturellen Praktiken erklärt. Darüber hinaus macht die ethnografische Erfahrung auch das für universell gehaltene Modell der Handlungsrationalität des homo oeconomicus fragwürdig: Im Kontext der kabylischen Gesellschaft wird dieses Modell als partikulares Leitbild der kolonialen Modernisierer erkennbar.17 Weil die Erfahrungen im Feld die theoretischen Konstruktionen und Konzepte nachhaltig und produktiv verunsichern, bieten Algerien und die Kabylen in den 50er Jahren deshalb einen überaus günstigen Kontext für entscheidende wissenschaftliche Entdeckungen. Entscheidend für Bourdieus ethnografische Studien in Algerien ist die Erfahrung einer grundlegenden Differenz zwischen der teilnehmend beobachteten empirischen Wirklichkeit und dem perspektivisch verzerrten Gegenstandsbezug der mitgebrachten theoretischen Konzepte und Modelle. Ausgehend von dieser grundlegenden Irritation erkundet Bourdieu zunächst die Grenzen theoretischer Konzeptionen und die in diese eingelassenen Projektionen. Dieses erkenntniskritische Verfahren bringt schließlich „wenn auch negativ“, wie Bourdieu schreibt, „einige Eigenschaften der Logik der Praxis ans Licht, die ihrer Definition nach der theoretischen Auffassung entgehen.“18 Die Logik der Praxis kommt also zunächst nur über diese kritischen oder negativen Operationen in den Blick. 16 Vgl. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis. 17 Vgl. ebd., S. 203-317. 18 Bourdieu, Entwurf, S. 248.
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Ein positives Modell der Praktiken würde das grundlegende Problem, auf das Bourdieu in seiner algerischen Ethnografie stößt, die Differenz zwischen theoretischer Modell-Logik und praktischer Logik, zwischen scholastischem Gegenstandsbezug und der alltäglichen Logik der Praktiken auf der Gegenstandsebene, nur überdecken und perpetuieren. In dieser Einsicht trifft sich die praxeologische Epistemologie Bourdieus mit der ethnomethodologischen Praxisperspektive: Auch diese weist den Versuch zurück, eine allgemeine positive Theorie der Logik der Praxis zu formulieren. Ein solcher Versuch würde die unaufhebbare Kluft zwischen der situierten Auf- und Ausführung einer Praktik und ihrer abstrakten Darstellung unsichtbar machen und das grundlegende erkenntnistheoretische Problem allenfalls in einer Debatte über die richtigen Darstellungsmethoden von Praktiken tradieren.19 In seiner kritischen und negativen Orientierung richtet sich der ethnografische Duktus des Entwurfs also weniger auf die Entdeckung der kabylischen Kultur in der algerischen Übergangsgesellschaft. Bourdieu macht in der Kabylei vielmehr einen analytischen Fund. Er entdeckt die ‚praxeologische Erkenntnisweise‘ für die Kultur- und Sozialwissenschaften.20 Die epistemologische Besonderheit der Konzeption Bourdieus erschließt sich insbesondere über den Weg, den die Entdeckung der Praktiken und ihrer Vollzugs- und Prozesslogiken nimmt: Die Argumentation setzt erkenntniskritisch mit dem Aufdecken der Missrepräsentationen der Praktiken in den zu ihrer Darstellung entworfenen theoretischen Modellen ein. Dieser Weg führt zu einer doppelten negativen Aufgabenstellung: Zum einen will die praxeologische Erkenntnisweise – negativ und im Kontrast zur theoretischen Logik – die Eigenschaften und Eigentümlichkeiten sozialer Praktiken herausarbeiten und eine Konzeption der nicht-theoretischen, praktischen Beziehung zur sozialen Welt entwickeln. Zum anderen möchte die Praxeologie – negativ und im Kontrast zur praktischen Logik der untersuchten Phänomene – auch die Wirkungen und systematischen Fehlleistungen der Theoretisierung aufdecken. Sie bemüht sich in dieser Richtung um eine Analyse des theoretischen Bezugs auf die soziale Welt.
3. Körperlichkeit, Materialität und mentale Praktikenbestandteile Um die Leistungsfähigkeit dieser Frage- und Aufgabenstellungen der praxeologischen Erkenntnisweise zu erläutern, sollen nun – negativ und im Kontrast zur 19 Vgl. dazu etwa die Argumentation bei Lynch: „it is pointless to seek a general methodological solution to ‚the vexed problem of the practical objectivity and practical observability of practical actions and practical reasoning‘, because any abstract account of the logic of practice immediately reiterates the problem. The investigative task for ethnomethodology is therefore to describe how the logical accountability of practice is itself a subject of practical inquiry“, Lynch, „Ethnomethodology and the Logic of Practice“, S. 146. 20 Robert Schmidt, „Die Entdeckung der Praxeographie. Zum Erkenntnisstil der Soziologie Bourdieus“, in: Daniel Suber u.a. (Hg.) Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften. Zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens, Konstanz 2011, S. 89-106.
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theoretischen Logik – drei entscheidende Qualitäten sozialer Praktiken skizziert werden: die Körpergebundenheit von sozialen Praktiken, ihre Materialität und die Bedeutung mentaler Praktikenbestandteile. Alle drei Qualitäten haben jeweils Implikationen für eine praxeologische Subjektivierungsanalyse. 3.1 Die Körpergebundenheit der Praktiken Soziale Praktiken werden in der Praxissoziologie als ein Tun, ein doing verstanden. D.h. sie vollziehen sich immer auch als beobachtbare, sinnhafte, gekonnte Körperbewegungen. Diese Perspektive eröffnet gerade in jenen Feldern neue, kontraintuitive Beschreibungsmöglichkeiten, die wie z.B. die Wissens- und Expertenarbeit, die wissenschaftliche Arbeit, aber auch viele vermeintlich ‚geistigen‘ Kulturproduktionen als Bereiche gelten, in denen körperliche Erfahrungs- und Könnensformen keine Rolle spielen und daher auch analytisch vernachlässigt werden können. Praxeologische Analysen machen in diesem Zusammenhang auf die Verkürzungen mentalistischer Vorstellungen von sozialem Handeln aufmerksam. In dieser negativen Perspektive versuchen sie, gerade auch in den kognitiven, mental dominierten Tätigkeiten eine entscheidende Beteiligung von Körpern und Körperbewegungen zu zeigen. Entsprechend wird versucht, solche Tätigkeiten über ihre äußere, öffentliche und beobachtbare Seite zu erschließen. Praxeographische Analysen rekonstruieren die je besonders befähigten Körper des Lehrens und Unterrichtens, die Körper des Programmierens, Spekulierens, Analysierens, Entscheidens etc.21 Dabei richten solche Analysen ihr Augenmerk insbesondere auf die körperlichen Kompetenz- und Aktivitätsmodi sowie auf die im Zusammenspiel der Körper beobachtbaren Koordinations-, Orientierungs- und Abstimmungsfähigkeiten. Solche körperlichen Könnens- und Wissensformen werden in klassischen Ansätzen, auf denen die praxissoziologische Perspektive aufbaut als Körpertechniken (bei Marcel Maus)22, als knowing how (bei Gilbert Ryle)23, als tacit knowledge (bei Michael Polanyi)24 oder als sens pratique (bei Pierre Bourdieu)25 beschrieben. Gekonnte sinnhafte Körperbewegungen im Sinne der Praxissoziologie haben zugleich eine präsentatorische Seite. Die an praktischen Vollzügen beteiligten Körper ‚zeigen‘.26 Sie stellen dar, sie prozessieren Zeichen und sie demonstrieren Kom21 Vgl. zum Programmieren Schmidt, Soziologie der Praktiken, S. 156-198, zum Entscheiden Stefan Laube, „Im Takt des Marktes. Körperliche Praktiken in technologisierten Finanzmärkten“, in: Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.), Soziologie der Finanzmärkte, Bielefeld 2012, S. 265284, zum Unterrichten und Unterrichtet-Werden Georg Breidenstein, Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob, Wiesbaden 2006. 22 Vgl. Marcel Mauss, „Die Techniken des Körpers“, in: Ders., Soziologie und Anthropologie Band 2, Frankfurt am Main/Berlin/u.a. 1978, S. 198-220. 23 Vgl Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969. 24 Vgl. Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt am Main 1985. 25 Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1987. 26 Vgl. dazu die Beiträge in Robert Schmidt u.a. (Hg), Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit, Weilerswist 2011.
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petenz. Solche kommunikativen Funktionen hat insbesondere Erving Goffman in seinen Interaktionsanalysen herausgestellt. In seinen Studien nimmt die soziale und körperliche Visibilität eine zentrale Stellung ein. Für die Teilnehmer wie für die Beobachter von Praktiken präsentieren die beteiligten Körper in ihrer visuellen Erscheinung unmittelbar Sinn. Dabei sind Darstellung und Beobachtung, Körper und Auge eng miteinander verschaltet: die Teilnehmer zeigen sich wechselseitig, was sie wahrnehmen und insbesondere, als was sie ihr jeweiliges Gegenüber wahrnehmen.27 Als ein empirisches Analysekonzept interessiert sich die praxeologische Perspektive nicht für körperliche Wissens-, Könnens- und Erfahrungsformen schlechthin, sondern vielmehr für situative Verkörperungen, die immer mit anderen Bestandteilen von Praktiken zusammenwirken. Für die Analyse von Subjektformen bedeutet dies zunächst, dass die Praxissoziologie – negativ und im Kontrast zu mentalistischen Verständnissen von Subjektivität – die Körperlichkeit von Subjektivierungen herausstellt. Subjektivierungen gehen demnach immer auch mit körperlichen Trainings- und Modellierungsprozessen einher. Sie vollziehen sich über ein Einüben von Körperbewegungen, Haltungen und Gesten. Zugleich werden Subjektformen immer auch gezeigt und manifestiert, in Praxiszusammenhängen öffentlich dargestellt und von anderen wahrgenommen und beglaubigt. Sowohl bei den körperlichen Einübungen als auch bei den körperlichen Darstellungen, Beglaubigungen und Ratifizierungen von Subjektformen (bzw. bei der Sanktionierung von Abweichungen) handelt es sich um Vollzüge, die prinzipiell über Beobachtungen analytisch erschlossen werden können. Allerdings ist es charakteristisch für bestimmte körperliche Selbsttechniken und Subjektivierungen, dass sie wie z.B. Diätprogramme, Meditationspraktiken oder bestimmte Manipulationen der körperlichen Fassade unbeobachtbar gemacht werden und sich auf privaten Hinterbühnen vollziehen. 3.2 Die Materialität der Praktiken Die Praxissoziologie kann Subjektivierungen als ein Zusammenspiel von befähigten Körpern mit gegenständlichen Artefaktkonstellationen verständlich machen. Mit den materiellen Artefakten rückt die praxeologische Perspektive eine weitere wichtige Trägerschaft sozialer Praktiken in den Mittelpunkt. Die Praxistheorien haben verschiedene Konzepte ausgearbeitet, um die sozialen Wirkungen und Effekte materieller Artefakte praxeologisch zu fassen: Artefakte werden als Träger und stabilisierende Ankerpunkte von Praktiken beschrieben, ihre Mitwirkung in Praktiken wird über ihre je kontextspezifischen Gebrauchsgewährleistungen (ihre Affordanzen oder affordances) entschlüsselt und sie werden schließlich auch – ins27 Vgl. dazu Stefan Hirschauer, „Körper macht Wissen – Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs“, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel, Frankfurt am Main 2008, S. 974-983.
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besondere in der posthumanistischen Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie – als aktive Teilnehmer (als ‚Aktanten‘) an Praktiken konzeptualisiert. Das Konzept der Affordanzen – das im Folgenden skizziert werden soll – ist in besonderer Weise geeignet, die analytischen Intentionen und Interessen des praxeologischen Programms zu realisieren. Dieses – von James Gibson im Kontext der Wahrnehmungspsychologie entwickelte28 – Konzept erschließt je praktikenspezifische sinnhafte Qualitäten und Gebrauchsgewährleistungen von Artefakten, Dingen und natürlichen Umgebungen. Besonders gut an die Praxissoziologie anschlussfähig ist das Konzept der affordances, weil es dichotome Gegenüberstellungen von (handelndem, könnendem, wissendem) Subjekt und (passivem) Objekt sowie von geistig-kognitivem Erkennen und körperlichem Handeln unterminiert. Affordances sind jene praktisch sinnhaften Qualitäten von Dingen und Artefakten, die ein praktischer Sinn an ihnen zugleich (kognitiv) erkennt und (körperlichpraktisch) realisiert. Affordanzen sind zugleich physisch, materiell, „objektiv“ und insofern „subjektiv“, als sie immer nur in Bezug auf bestimmte, mehr oder weniger ausgebildete körperlich-mentale Vermögen und Fähigkeiten existieren. Sie werden den Dingen und Artefakten aber nicht vom Subjekt verliehen – das unterscheidet die Affordanzen vom – als Leistung des Subjekts gedachten – ‚Aufforderungscharakter‘ der Dinge in der Gestaltpsychologie.29 Im Affordanzkonzept werden die Dinge und Artefakte aber auch nicht als eigenständige Handelnde gefasst. An diesem Punkt wird eine Differenz zur AkteurNetzwerk-Theorie deutlich. Letztere weigert sich, mit vorab getroffenen Unterscheidungen zwischen menschlichen, handelnden Akteuren und handlungsunfähigen Artefakten zu operieren. Durch diese methodologischen Zug erhalten in einer symmetrischen Perspektive Artefakte und Akteure gleichermaßen den Status von Aktanten – auch von ihnen können demnach Aktivitäten oder Beiträge ausgehen, die die Analyse mit dieser methodischen Perspektivenverschiebung sichtbar machen will. Mit der Betonung der Agency von Artefakten läuft die ANT jedoch Gefahr, die für die praxissoziologische Perspektive zentrale Frage nach dem Zusammenspiel der verschiedenen Träger und Praktikenbestandteile wieder aus dem Blick zu verlieren. Stattdessen wird – mit umgekehrten Vorzeichen – die traditionelle Perspektive der Handlungstheorie kontinuiert: Als Verursacher und Auslöser von Handlungsketten gelten nun (auch) die Artefakte und nicht länger nur die handelnden Subjekte. Die Subjekt-Objekt-Dichotomie (die bspw. das Konzept der affordances destabilisieren möchte) wird auf diese Weise zwar provokant verkehrt
28 Vgl. James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979; Eleanor J. Gibson, „The Concept of Affordances in Development: The Renascence of Functionalism“, in: Andrew Collins (Hg.), The Concept of Development, New Jersey, 1982, S. 55-82; Alan Costall, „Socializing Affordances“, in: Theory & Psychology 5 (1995), S. 467-481. 29 Vgl. Gibson, „The Concept of Affordances in Development“, S. 66-70.
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(Objekte/Artefakte können demnach eben auch Subjekte sein), aber eben auch tradiert und nicht überwunden. Weiterführend erscheint hier etwa der konzeptionelle Vorschlag von Elisabeth Shove30: Demzufolge lassen sich soziale Praktiken verstehen als fortlaufende Integration und Neukombination von Kompetenzen, Bedeutungen und Materialien. Wenn diese drei Klassen von Elementen im praktischen Vollzug in Verbindung gebracht, bzw. wenn die Verbindungen gekappt werden, entstehen, bestehen oder verschwinden soziale Praktiken. Die Soziologie der Praktiken folgt also nicht den nichtmenschlichen und menschlichen Akteuren, sondern der Zirkulation oder den Reisewegen der Kompetenzen, Materialien und Bedeutungen. Sie fragt, wie genau diese Elemente in soziale Praktiken involviert sind und wie sie in Verbindung kommen. Sie vermeidet es, die Elemente von Praktiken zu Akteuren oder Aktanten zu reifizieren und unterläuft damit nicht zuletzt auch die erhitzten Debatten über deren ontologische Eigenschaften. Für eine praxeologische Subjektivierungsforschung ergeben sich aus diesen Überlegungen zwei Konsequenzen: Zum einen vollziehen sich Subjektivierungen in dieser Sicht immer auch als Einbettungen in bestimmte interobjektive Beziehungen und als Vernetzungen mit Artefakten (Räumen, Verkehrsmittel, mobile Medien, Bekleidung, Ernährung, Kosmetik, Stimulanzien etc.). Diese Artefakte wirken durch ihren je praktikenspezifischen Gebrauch subjektivierend. Wenn Subjektformen an solche Artefaktkonstellationen gebunden sind, dann kann zugleich auch empirisch rekonstruiert werden, wie bestimmte historische Subjektformen über die Transformation oder Modernisierung von Artefaktkonstellationen verschwinden oder abstreben. So verschwindet etwa die Subjektform der „Halbstarken“, die in ein Netzwerk aus Medien, Konsumgütern, Bekleidung, Kosmetik etc. (SingleSchallplatten aus Vinyl, Blue Jeans, James-Dean-Jacken, Pomade etc.) eingebunden war, in dem Maße, indem diese Artefakte entweder andere Verbindungen mit Bedeutungen und Kompetenzen eingehen oder aber – wie z.B. die Pomade – als ein unverbundenes Überbleibsel einer historischen Subjektform der Männlichkeit und Coolness überdauern. Kompetenzen und Bedeutungen gelten in der Konzeption von Shove also als weitere konstitutive Bestandteile von Praktiken, die von den Materialien unterschieden werden. Damit wird davon ausgegangen, dass sich Dinge und Artefakte nicht selbst Bedeutung geben und sich verständlich machen. Non-humans sind keine Träger impliziten Wissens, sie leisten keinen eigenständigen Beitrag zur sinnhaften Integration und zur Intelligibität von Praktiken. Sie sind immer nur im Zusammenspiel mit den menschlichen Teilnehmern und Trägern von Kompetenzen und Bedeutungen intelligibel. In einer symmetrischen Perspektive, die Artefakte als gleichrangige Aktanten versteht, wird dieser Zusammenhang verfehlt. Entsprechend rekonstruiert die Akteur-Netzwerk-Theorie zwar Effekte und Wirkungen, die von Artefakten in Praxiszusammenhängen ausgehen. Sinn, Relevanz und Be-
30 Shove et al., The Dynamics of Social Practices.
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deutung von Praktiken können in dieser Perspektive aber nur schwer erschlossen werden. 3.3 Mentale Praktikenbestandteile Die sinnhafte Integration und Intelligibilität von Praktiken verweist auf die entscheidende Bedeutung mentaler Praktikenbestandteile. Die praxissoziologische Perspektive versteht Praktiken – wie v. a. Theodore Schatzki deutlich gemacht hat – als Verkettungen von prinzipiell intelligiblen acts, die immer auch mentale Komponenten haben, die also verstanden und gedeutet werden.31 Das Mentale bildet ein entscheidendes Medium, durch das soziale Praktiken organisiert sind. Schatzki erkennt diese mentale Mit-Organisation von Praktiken insbesondere im praktischen Verstehen, in der praktischen Interpretation expliziter Ausführungsregeln und in der affektiven Ausgerichtetheit (der Teleo-Affektivität) von Praktiken. Diese Mitwirkung des Mentalen in Praktiken wird in der Praxissoziologie aber ebenfalls v. a. negativ erschlossen, d.h. über die Kritik mentalistischer Sozialtheorien. In der Handlungstheorie wird soziales Handeln als eine soziale Erscheinung verstanden, die von einem mentalen Handlungszentrum ‚im Kopf‘ eines sozialen Akteurs in Gang gesetzt und gesteuert wird. In diesem Modell stehen sich zwei getrennte Sphären gegenüber, die in einem Bedingungsverhältnis stehen: – ein innerer, unbeobachtbarer psychischer Apparat und der durch diesen gelenkte Bereich äußeren, öffentlichen und beobachtbaren Handelns und Verhaltens. Indem sie nun die Aufmerksamkeit auf dieses beobachtbare Geschehen und Tun, die körperlichen Könnensformen verschieben, relativieren die praxeologischen Konzepte diese Zentralstellung des Mentalen. Das Mentale wird nicht länger als etwas von den Praktiken Getrenntes unterstellt, sondern es wird als Bestandteil von Praktiken konzeptualisiert. Eine soziale Praktik bildet demnach immer einen Nexus von Verhaltens- und Verstehensmustern.32 Den Ausgangspunkt für dieses Verständnis bildet die Art und Weise, wie sich uns ‚Mentales‘ alltäglich zeigt: nämlich im Verhalten, in der Gestik und der Mimik von Anderen. Indem die praxeologische Perspektive an diese alltägliche Teilnehmerperspektive anschließt, kann sie die Vorstellung vom Mentalen als einer unsichtbaren, ‚inneren Apparatur‘ revidieren. Mit Bezug auf Argumente aus der Spätphilosophie Wittgensteins wird dabei von einer notwendigen gegenseitigen Abhängigkeit beobachtbarer körperlicher Verhaltensweisen und mentaler Verstehensmuster ausgegangen. Mentales existiert für die Teilnehmer in ihrem gegenseitigen Verständnis dadurch, dass es sich in be31 Vgl. Theodore Schatzki, „Practice Mind-ed Orders“, in: Ders. Et al. (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001, S. 42-55. 32 Vgl. Andreas Reckwitz, „Der Status des ‚Mentalen‘ in kulturtheoretischen Handlungserklärungen. Zum Problem der Relation von Verhalten und Wissen nach Stephen Turner und Theodore Schatzki“, in: Zeitschrift für Soziologie 29 (2000), S.167-185.
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obachtbarem körperlichem Verhalten manifestiert. Solches Verhalten ist gleichzeitig jedoch nur verständlich, wenn man es – bzw. weil man es als Manifestation von mentalen Akten begreift. Dem körperlichen Verhalten wird von den alltäglichen Interpreten also immer schon ein mentaler Hintergrund zugeschrieben. Für eine empirische Analyse von Subjektivierungsformen relevant sind diese Überlegungen, weil sie eine Möglichkeit aufzeigen, die mentalen, geistigen und affektiven Bestandteile von Subjektformen gleichsam methodisch zu praxeologisieren. Sie können – im Rahmen einer doppelten Hermeneutik33 – als von Teilnehmern gedeutetes körperliches Ausdrucksverhalten erschlossen und beobachtbar gemacht werden.
4. Die ‚Öffentlichkeit‘ der Praktiken und die Herstellung von Beobachtbarkeit Die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Methodologien unterscheiden sich – neben vielem anderen – nicht zuletzt durch die von ihnen jeweils dominant gesetzten kognitiven Modi: So dominiert in der standardisierenden und quantifizierenden Sozialforschung das Fragen, Zählen und Messen und im Interview-Paradigma der qualitativen Sozialforschung das Zuhören, sowie – in der „objektiv hermeneutischen“ Variante das Spurenlesen und in der phänomenologischen Variante die Introspektion.34 In der Soziologie der Praktiken ist das Beobachten der vorherrschende kognitive Modus. Diese unterschiedlichen kognitiven Modi verweisen auf unterschiedliche Grundannahmen bezüglich des ontologischen Status des Sozialen: Während bestimmte phänomenologische Varianten des Interview-Paradigmas das Soziale als eine Begegnung innerer, privater, durch Fragen, Zuhören und Introspektion erschließbarer Handlungsmotive auffassen, hängt die praxissoziologische Priorisierung des Beobachtens mit einer dazu konträren Perspektive zusammen: Das Soziale wird als ein durchweg öffentliches Geschehen konzeptualisiert, das nicht durch individuelle Handlungsmotive in Gang gesetzt wird, sondern immer schon läuft. Das Beobachten wird in der Praxissoziologie nicht mit visueller Wahrnehmung gleichgesetzt, sondern als eine Operation verstanden, die alle Formen der sinnlichen Wahrnehmung mobilisiert. Es handelt sich dabei aber nicht um ‚unmittelbare‘ perzeptive Vorgänge. Die Sinneswahrnehmungen sind in der praxissoziologischen Beobachtung vielmehr untrennbar mit einem sozialen Sinn verknüpft und in Prozesse des sozialen Verstehens eingebunden. Damit zusammenhängend und darüber hinaus vollzieht sich die Beobachtung nie unmittelbar, sondern stets mittelbar, über eine methodische Herstellung von Beobachtbarkeit. D.h. was beobachtet wird, wird nicht passiv registriert, sondern als Objekt der Beobachtung konstruiert. Die Herstellung von Beobachtbarkeit ist mit 33 Vgl. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 338. 34 Vgl. Giampietro Gobo, Doing Ethnography, Los Angeles/London/New Dehli 2008, S.18-21.
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Konstruktionsakten verbunden, die die Entfernungen zu den Gegenständen variieren können und variieren müssen.35 Die Beobachtung sucht einerseits die Nähe zu den Objekten und sie distanziert sich andererseits. Denn es ist ein Grundproblem der teilnehmenden, praktisch involvierten Beobachtung, dass die Vorgänge sehr schnell so nahe kommen, vertraut und transparent werden, dass sie eben nicht mehr erkannt werden können, weil sie sich im Selbstverständlichen verbergen.36 Die Beobachtung muss deshalb mit Distanzen, Kontrasten und Perspektiven arbeiten. Sie muss das, was ständig vor Augen ist, be- oder verfremden, um es kenntlich und erkennbar zu machen. Praxisanalytische Beobachtungsverfahren setzen in ihren Rekonstruktionen also nicht an Innerem oder Privatem an, sondern sie zielen auf öffentlich zu Tage liegende (aber eben nicht unmittelbar zugängliche) Strukturen und Sinnmuster. Gerade auch Subjektivierungen und Subjektformen wären entsprechend als öffentliche Vorgänge, Formen und Manifestationen zu erschließen. Die Praxissoziologie bemüht sich, Öffentliches aus immer wieder anderen Blickwinkeln zu beleuchten und zu beschreiben. Sie blicken nicht ‚von oben‘ oder ‚von einem Nirgendwo aus‘ auf die sozialen Praktiken als ihr Anderes, sondern sie nutzen für ihre Perspektivierungen und Beobachtungen die Binnendifferenzierungen einer gemeinsam geteilten sozialen Welt. Die Praxeologie situiert sich mitten im Geschehen, als analytische Praktik unter Praktiken: Ausgehend von der methodologischen Grundannahme der Öffentlichkeit des Sozialen kann die Beobachtbarkeit des Sozialen als Perspektivendifferenz verstanden werden: Die Beobachtbarkeit des Sozialen ist die Differenz der Blickpunkte innerhalb des gemeinsam geteilten öffentlichen sozialen Raumes mit seinen diversen Positionen, sites, Schauplätzen und Arenen. Als Perspektivierung muss die Beobachtung nicht nur mit einer gewissen Beweglichkeit, sondern auch mit einer experimentellen Haltung verknüpft sein: Sie muss und sie kann Verzerrungen, Dekontextualisierungen oder theoretische Sehhilfen verwenden, um Rahmungen, Randbedingungen und Bezüge auszuleuchten, die in einer Situation mitgegeben, aber über die Teilnehmerperspektive nicht einholbar sind.
35 Vgl. Thomas Scheffer, „Das Beobachten als sozialwissenschaftliche Methode – Von den Grenzen der Beobachtbarkeit und ihrer methodischen Bearbeitung“, in: Doris Schaeffer, Gabriele Müller-Mundt (Hg.), Qualitative Forschung in den Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Bern 2002, S. 351-374. 36 Darauf hat Wittgenstein hingewiesen: „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.)“ (Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1967, §129).
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Dispositive der Subjektivierung Eine terminologische Notiz Betrachtet man die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, zu sammeln und weiterzugeben als ein entscheidendes Merkmal von Subjektivität, so bestimmt man Subjektivität von vornherein in ihrem Bezug auf Techniken der Subjektivierung. Denn wenn man den Begriff der Erfahrung nicht willkürlich auf aktuell Erlebtes einschränken will, so muss man zumindest zweierlei in den Blick nehmen: erstens die Techniken der Aufzeichnung und Archivierung, die es einem Subjekt gestatten, als eigene Erfahrung zu verarbeiten, was es selbst nicht erlebt hat; zweitens die Techniken des Übens und Prüfens, die es ihm ermöglichen, seine künftigen Handlungsspielräume zu erweitern und zu verschieben. Techniken der Subjektivierung ermöglichen es Menschen, sich in Subjekte zu verwandeln, die nicht dem unmittelbar Erlebten und dem gerade Gewesenen ausgeliefert bleiben, sondern die Erfahrungen anderer Menschen und vergangener Generationen in einen bewussten Umgang mit künftigen Handlungsoptionen einfließen lassen können. Techniken der Subjektivierung erweitern das Repertoire unserer Handlungsmöglichkeiten und erlauben uns, Selbstverhältnisse auszubilden, die sich als frei begreifen. Gerade deshalb bieten sie aber auch privilegierte Ansatzpunkte für Verfahren der Disziplinierung und Kontrolle, die Handlungsmöglichkeiten gezielt steuern und verschließen. An der langen Geschichte des Gewissensbegriffs zeigt sich das ebenso wie an der kurzen Geschichte psychologischer Testformate: Wo ein freies Selbstverhältnis nur mit Hilfe von Techniken des Prüfens und Übens zustande kommt, lassen diese sich jederzeit in Instrumente der Unterwerfung und Kontrolle verkehren.1 Unter dem Gesichtspunkt der Freiheit betrachtet, bleibt der Begriff der Subjektivierung daher immer zweideutig. Nichts garantiert, dass eine Technik, die ganz auf die Erweiterung individueller Handlungsspielräume ausgerichtet war, zur Einschränkung ebendieser Spielräume verwendet wird. Mit Blick auf Michel Foucaults Analyse des Übens in Überwachen und Strafen hat das Christoph Menke gezeigt: „Jede einzelne Übung kann ebenso disziplinierend wie befreiend sein; jede Übung, ja schon sich zu üben ist zweideutig.“2 Foucault hat das Üben in seinen späten Schriften zwar noch einmal fundamental anders in den Blick genommen als in seinen Studien zu Disziplinarmacht, er hat sich aber nie ausführlicher dazu geäußert, wie mit der Zweideutigkeit der Sub1 Vgl. Andreas Gelhard, Kritik der Kompetenz, Zürich/Berlin 2011. 2 Christoph Menke, „Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz“, in: Axel Honneth, Martin Saar, Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt am Main 2003, S. 283-299, hier: S. 299.
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jektivierung theoretisch umzugehen sei. Das hat bei seinen Lesern schon früh zu Versuchen geführt, seine Schriften der 1970er und 1980er Jahre als komplementäre Analysen desselben Phänomens zu interpretieren: Nachdem die Studien zur Disziplinarmacht des 17. und 18. Jahrhunderts den Zwangscharakter der Subjektivierung enthüllt haben, wenden sich die späten Analysen antiker Selbsttechniken ihrer freien Seite zu. Diese Lesweise ist nicht ganz unberechtigt, so lange sie sich nicht mit der Idee verbindet, in den antiken Formen der askesis ließe sich so etwas wie eine „Alternative“ zu den Zwangstechniken der Disziplinarmacht finden.3 Wenn es stimmt, dass Prozesse der Subjektivierung wesentlich zweideutig sind, dann muss das sowohl für die neuzeitlichen Disziplinartechniken als auch für die antiken Selbstpraktiken gelten. Menke zieht daraus die Konsequenz, beim weiteren Ausbau seiner Überlegungen ganz auf eine Lektüre von Foucaults späten Schriften zu verzichten.4 Die folgenden Überlegungen verfahren komplementär, indem Sie nur die Vorlesungsreihe über die Hermeneutik des Subjekts von 1981/82 und einige kleinere Schriften der 1980er Jahre zugrunde legen. Dabei gehen sie von einer Passage der Hermeneutik des Subjekts aus, die die technische Seite der Selbstbildung mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet und zugleich den Erfahrungscharakter der Subjektivierung betont. Die Grundthese der folgenden Seiten lautet: Prozesse der Subjektivierung lassen sich als eine Form von „Erfahrung des Subjekts“ begreifen, die als Erfahrung auf „Dispositive der Subjektivität“ angewiesen ist, weil sie nicht ohne elementare Techniken der Archivierung und Übung auskommt.5 Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass sich die Begriffe der Erfahrung und des Dispositivs nicht der „freien“ und der „fremdbestimmten“ Seite des Subjektivierungsprozesses zuordnen lassen. Dispositive sind Manifestationen von Macht, ohne die nach Foucault keine Praktiken der Freiheit denkbar wären. Noch in einem seiner spätesten Gespräche rejustiert Foucault sein Vokabular, um diesen Aspekt schärfer fassen zu können: Er unterscheidet – Freiheit ermöglichende – Machtbeziehungen von – Freiheit gefährdenden – Herrschaftszuständen und schreibt der Philosophie der Aufgabe zu, „alle Erscheinungen der Herrschaft“, ganz gleich in welcher Gestalt
3 Foucault selbst betont, dass er mit seinen Analysen antiker Autoren „nicht nach einer Alternative“ zu Techniken der disziplinierenden Subjektivierung sucht. Er markiert dabei aber bloß die Verschiedenheit der beiden Felder, auf denen er disziplinäre und freie Formen der Subjektivierung untersucht, ohne die Frage nach ihrem systematischen Bezug weiter zu erörtern: „man findet nicht die Lösung eines Problems in der Lösung eines anderen Problems, das zu einem anderen Zeitpunkt von anderen Leuten aufgeworfen wurde“ („Zur Genealogie der Ethik: ein Überblick über laufende Arbeiten“, in: Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim, 2. Aufl., 1994, S. 265-292, hier: S. 268). 4 Vgl. Christoph Menke, „Die Disziplin der Ästhetik. Eine Lektüre von ‚Überwachen und Strafen‘“, in: Gertrud Koch u.a. (Hg.), Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, München 2003, S. 109-121. 5 Vgl. Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/82, Frankfurt am Main 2004, S. 390, 392; frz.: L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France. 19811982, Paris 2001, S. 304 f. (diese Ausgabe wird im Folgenden nur angegeben, wo der französische Wortlaut von Bedeutung ist).
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sie auftreten mögen, „in Frage“ zu stellen.6 Damit ist der terminologische Rahmen der folgenden Seiten gesteckt: Sie fragen nach dem Zusammenspiel von subjektiver Erfahrungen und Dispositiven der Subjektivierung im Lichte der Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft.
I. Weite Teile von Foucaults letzten Vorlesungen am Collège de France sind der Untersuchung von ethischen Selbstverhältnissen gewidmet, deren Vollzug an Praktiken der Prüfung und Übung gebunden ist. Dabei wird an vielen Stellen deutlich, dass Foucaults Hinwendung zu den antiken Texten durch sein systematisches Interesse an Praktiken der Prüfung und Übung motiviert ist – und nicht umgekehrt. Eine besonders prägnante Passage der Hermeneutik des Subjekts ist in diesem Zusammenhang die zweite Stunde der Vorlesung vom 24. Februar 1982, die die askesis als Technik der Selbstbildung durch Übung behandelt.7 Foucault stützt sich auf die Abhandlung Peri askeseos des Stoikers Musonius Rufus, betont aber, dass die Idee einer Tugend, die nur durch Übung erlangt werden kann, weit älter ist als die Stoa, und dass er sich nur aus pragmatischen Gründen auf das 1. und 2. Jahrhundert nach Christus konzentriert. Der einzige Vorzug der Stoiker vor den Pythagoreern, vor Platon und Isokrates besteht für ihn darin, dass die „Sichtbarkeit und Lesbarkeit des Phänomens“ hier größer ist und das allgemeine „Schema“ des Tugenderwerbs durch Übung bei ihnen deutlicher zu Tage tritt.8 Es geht Foucault also nicht in erster Linie um die spezifischen Unterschiede zwischen stoischen Askesekonzepten und anderen Formen der ethischen Übung, sondern um die Analyse einer bestimmten Erscheinungsform des ethischen Übens, die sich an den Texten der Stoiker am besten ablesen und in ein „Schema“ fassen lässt. Dabei dient der historische Abstand zu den analysierten Texten zunächst einer Distanzierung von „vertrauten Kategorien“, die den Blick auf das „Phänomen“ verstellen könnten.9 Wie wichtig diese Befreiung von den gängigen Kategorien, die Foucault kurz als „unsere“ oder als „moderne“ bezeichnet, für die gesamte Fragestellung seiner Vorlesungsreihe ist, zeigt sich dabei nicht nur in der Emphase, mit der er sie formuliert, sondern vor allem darin, dass die Differenz zwischen „antiken“ und „modernen“ Auffassungen der ethischen Übung in das Schema selbst eingeht. Wie sieht dieses Schema aus? Es fällt zunächst auf, dass Foucault eine naheliegende Möglichkeit, antikes und modernes Denken zu unterscheiden, vermeidet: Er unterscheidet nicht zwischen hellenistischen Lehren, die durch einen Primat des Praktischen gekennzeichnet sind und solchen, die im Gefolge Descartes’ dem 6 Michel Foucault, „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“, in: Schriften IV, Frankfurt am Main 2005, S. 875-902, hier: S. 902. 7 Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 387; frz. S. 301 („l’ascèse, en tant qu’exercice de soi sur soi“). 8 Ebd., S. 388; frz. S. 302 (Übersetzung geändert). 9 Ebd., S. 390 und 388.
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Primat der Erkenntnis folgen. „Praxis“ und „Erkenntnis“ sind für Foucault keine Begriffe, die sich zur Unterscheidung von Phasen oder Epochen der Philosophiegeschichte nutzen ließen; sie markieren vielmehr zwei „Blickwinkel“, aus denen das Untersuchungsfeld durchgehend betrachtet werden muss.10 In der stoischen Unterscheidung zwischen episteme praktike und episteme theoretike findet Foucault daher nur die Unterscheidung wieder, die ihm schon in seiner gesamten Vorlesungsreihe zur Strukturierung seiner Analysen diente. Die zweite Stunde der Vorlesung vom 24. Februar 1982 beginnt mit einem Rückblick auf die vorausgehenden Überlegungen, die aus dem Blickwinkel der Erkenntnis formuliert waren und kontrastiert sie mit Texten, die das Problem der Selbstsorge „aus dem Blickwinkel der auf sich selbst zielenden Praxis oder Übung“ betrachten.11 Für die Differenz zwischen unseren „vertrauten Kategorien“ und den Auffassungen der Antike heißt das, dass sie sich als doppelte Differenz darstellt: Moderne und Antike unterscheiden sich je unterschiedlich aus dem Blickwinkel der Erkenntnis und aus dem Blickwinkel der Praxis. (1) Die Unterscheidung aus dem Blickwinkel der Erkenntnis entwickelt Foucault vor allem in der Vorlesungen vom 17. Februar und in der ersten Stunde der Vorlesung vom 24. Februar 1982. Dabei wird schnell deutlich, dass es ihm nicht um eine allgemeine Entgegensetzung zwischen Antike und Moderne geht, sondern dass er versucht, eine bestimmte Linie des antiken Denkens zu isolieren, die in besonders deutlichem Kontrast zu unseren heutigen Denkgewohnheiten steht. Die Konsequenz, mit der er das Grundproblem seiner historischen Studien von der Geschichte des Wahnsinns bis zum ersten Band der Geschichte der Sexualität in der Frage nach der Beziehung von Subjektivität und Wahrheit verortet, könnte den Anschein erwecken, als sei es ihm nun um die Vorgeschichte der christlichen „Praktiken der Gewissenserforschung“ und der wissenschaftlichen „Analyse der psyche“ zu tun, die er in Der Wille zum Wissen untersuchte; tatsächlich geht es ihm aber um genau denjenigen Strang des antiken Denkens, der am deutlichsten zeigt, „daß die Dinge nicht so einfach liegen und daß die Selbsterkenntnis, wie wir sie heute verstehen, und noch weniger die Selbstentzifferung im Sinne der christlichen Geistigkeit zu jener Zeit und in jenen Formen der Selbstpraxis entstanden sind“.12 Foucaults Unterscheidung der hellenistischen Philosophenschulen vom Platonismus folgt vor allem dem bekannten Motiv eines Primats des Praktischen der sich nicht auf das Platonische Ideal der Selbsterkenntnis zurückführen lässt.13 Die Grenzlinie zum Christentum ist dagegen schwerer zu ziehen, weil dessen „strenge Moral“ unter anderem auf stoische und kynische Vorbilder zurückzuführen ist.14 Nach Foucault hat das Christentum die hellenistischen Selbstpraktiken allerdings nicht nur „aufgegriffen“, sondern auch auf eine ganz eigene Weise „bearbeitet“ und neu aus10 11 12 13 14
Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 389. Ebd. Ebd., S. 315 f. Ebd., S. 320. Ebd., S. 321.
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gerichtet: Insbesondere die Idee einer „Exegese“ des eigenen Inneren und die Auffassung der Akese als „Selbstverzicht“ hält er für spezifisch christliche Zutaten.15 Wenn Foucault die stoischen „Übungsschemata“16 mit solcher Aufmerksamkeit analysiert, so geht es ihm also um Techniken der Selbstdisziplinierung, die sich weder auf Selbsterkenntnis reduzieren lassen noch mit den „asketisch-monastischen“ Praktiken des Christentums verwechselt werden dürfen.17 Ein zentraler Bestandteil stoischer Askesepraktiken ist die Prüfung der eigenen Vorstellungen, wie sie auch christlichen Techniken der Gewissensprüfung zugrunde liegt. Foucault zeigt aber am Beispiel von Marc Aurels Zu sich selbst, dass die eingehende Prüfung des vorgestellten Gegenstandes dazu dient, ihm seinen spezifischen Ort im Kosmos zuzuweisen und seinen möglichen Nutzen in verschiedenen Handlungszusammenhängen festzustellen. Das kann von pragmatischem Nutzen sein, wenn es darum geht, situationsgerecht zu handeln, es kann aber auch zu dem – nicht minder wichtigen – Ergebnis führen, dass ein allgemein hoch geschätztes Ziel nicht der Mühe wert ist und man seine Energie für andere Anlässe sparen kann. Das genaue Erfassen eines Gegenstandes, das Unterscheiden und Benennen seiner verschiedenen Bestandteile folgt dabei offenkundig nicht dem Streben nach Objektivität, aber ebenso wenig moralischen Kriterien im engeren Sinne. Wo christliche Prüfungspraktiken festzustellen suchen, ob eine Vorstellung von Gott oder vom Teufel stammt,18 zielt die stoische Prüfung der Vorstellungen auf eine innerweltliche Gelassenheit, die Handlungsspielräume schafft und davor schützt, sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren.19 Um diesen spezifischen Zug der stoischen Selbsttechniken gegen moderne Vorstellungen von wissenschaftlicher Objektivität abzusetzen, verwendet Foucault einen Begriff, den er in Überwachen und Strafen – vorübergehend – aus dem Verkehr gezogen hatte: den Begriff der Erfahrung. Im Hellenismus und seinen römischen Ausläufern geht es nicht um die „Frage, ob das Subjekt objektivierbar ist“, sondern darum „das Wissen von der Welt derart abzuwandeln, das es für das Subjekt, in der Erfahrung des Subjekts, für das Wohl des Subjekts eine bestimmte geistige Form und einen bestimmten geistigen Wert annimmt“.20 Diesen Punkt wird Foucault am Ende der gesamten Vorlesungsreihe noch einmal aufgreifen: Im Hellenismus wird die Wirklichkeit nicht in erster Linie als Gegenstand von Erkenntnis, sondern „als Ort der Selbsterfahrung [expérience de soi] und Selbstprüfung [épreuve de soi] gedacht“.21 (2) Die Unterscheidung aus dem Blickwinkel der Praxis findet das ethische Pendant zur beobachtenden Objektivierung des Subjekts in der Idee, das Subjekt
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Ebd., S. 322. Vgl. ebd., 360-368. Vgl. ebd., S. 318. Ebd., S. 369 f. Ebd., S. 366 f. Ebd., S. 390. Ebd., S. 592; frz. S. 465.
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müsse sich „dem Gesetz unterwerfen“.22 Diese Idee, dass moralisches Handeln an der Form des Gesetzes orientiert sein muss, wenn es die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit subjektiver Handlungsregeln beurteilt, hat schon der junge Hegel an Kant kritisiert. Eine ähnlich gelagerte Kritik an Kants Vorstellung vom Gewissen als innerem Gerichtshof findet sich in den Gewissensabschnitten von Heideggers Sein und Zeit. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Foucault sowohl Hegel als auch Heidegger zu den Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts rechnet, die mit dem Rationalismus des klassischen Zeitalters brachen und wieder Kontakt zum Grundanliegen der antiken Ethiken aufnahmen.23 Da es im Folgenden weder um eine eingehende Kritik dieses historischen Schemas geht, das Foucault bereits seiner Geschichte des Wahnsinns zugrunde legt, noch einzelnen „Einflüssen“ auf Foucaults Denken nachgegangen werden soll, beschränke ich mich darauf, einige Schriften Hegels heranzuziehen.24
II. Mit Blick auf die terminologischen Grundfragen meiner Überlegungen ist vor allem von Bedeutung, dass Foucault verschiedene „Dispositive der Subjektivität“ unterscheidet, um die doppelte Differenz zwischen antiken und modernen Formen der Subjektivierung auf den Begriff zu bringen. Ich zitiere noch einmal aus der Vorlesung vom 24 Februar 1982: „Schematisierend könnte man sagen: Da, wo wir Modernen die Frage hören: ‚Ist die Objektivierung des Subjekts in einem Wissensfeld möglich oder nicht?‘, da hörten die Alten der griechischen, hellenistischen und römischen Epoche: ‚Konstituierung eines Wissens von der Welt als geistige Subjekterfahrung‘. Und da, wo wir Modernen hören: ‚Unterwerfung [assujettissement] des Subjekts unter eine Gesetzesordnung‘, da hörten die Griechen und Römer: ‚Konstituierung des Subjekts als dessen Ziel und Zweck durch und über die Einübung der Wahrheit‘. Hier liegt, wie ich meine, eine so grundlegende Ungleichartigkeit vor, daß wir vor jeder retrospektiven Projektion geschützt sein sollten. Ich würde sogar sagen, daß derjenige, der die Geschichte der Subjektivität – besser gesagt: die Geschichte der Beziehungen zwischen Subjekt und Wahrheit – erforschen will, zu versuchen hätte, die sehr lang sich hinziehende, sehr langsame Transformation jenes Subjektivitätsdispositivs [dispositif de subjectivité], das durch geistiges Wissen und die Wahrheitspraxis des Subjekts definiert ist, in jenes andere Subjektivitätsdispositiv, welches das unsere ist und das, wie ich glaube, von der
22 Ebd., S. 391. 23 Ebd., S. 49. 24 Wenn Foucault in seinem späten Gespräch Freiheit von Befreiung und Macht von Herrschaft unterscheidet, um einige Unschärfen in seiner Analyse von Selbsttechniken zu beseitigen, so liegt der Rekurs auf Hegel deutlich näher als der auf Heidegger. Zudem beruft sich Foucault am Ende der Hermeneutik des Subjekts mit einer solchen Emphase auf Hegels Phänomenologie des Geistes, dass man zu der Annahme kommen könnte, der gesamte Vorlesungszyklus orientiere sich an Hegels Geschichte der Erfahrung des Bewsusstseins (vgl. ebd., S. 593 f.).
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Frage der Selbsterkenntnis des Subjekts und der Unterwerfung des Subjekts unter das Gesetz beherrscht ist, aufzufinden und nachzuzeichnen.“25
Die doppelte Unterscheidung zwischen antiker und moderner Subjektivierung – je aus dem Blickwinkel der Erkenntnis und der Praxis – ist eine Unterscheidung zwischen antiken und modernen Dispositiven der Subjektivität; und erst diese Unterscheidung sagt uns, nach Foucault, „wie an die Frage der askesis heranzugehen ist“.26 Als Beispiel für die Funktionsweise des antiken – oder genauer: des hellenistisch-römischen – Dispositivs nennt er zunächst die stoische instructio, die das Subjekt gegen die Wechselfälle des Lebens wappnet, indem sie es mit decreta und praecepta – mit allgemeinen und auf bestimmte Situationen zugeschnittenen Handlungsregeln – ausstattet.27 Dabei bezieht er sich auf das verbreitete Beispiel des Ringers, um zu verdeutlichen, dass es in der askesis weniger um die Aneignung eines wieder abrufbaren Wissens als um Handlungsmuster für den Ernstfall geht, die man „gleichsam in den Muskeln“ speichert.28 Die im ethischen Training wiederholten Regeln werden im Bedarfsfall nicht ausgesprochen wie ein memorierter Text, sondern zum Einsatz gebracht; die in der Wiederholung aufgebaute Erinnerung ist eine „Tätigkeits- oder Handlungserinnerung“.29 Askesis in dem von Foucault analysierten Sinn ist folglich eine Technik zum Aufbau von Wiederholbarkeit, die sich individuell in dem Bewusstsein niederschlägt, auf die Wechselfälle des Lebens vorbereitet zu sein. Foucaults Rede von „Dispositiven der Subjektivität“ zielt dabei auf den Umstand, dass der Vollzug der askesis niemals nur eine Frage der individuellen „Haltung“ ist, sondern sich immer auch auf materielle Hilfsmittel und spezifische Techniken stützt. In einem Gespräch aus dem Jahr 1977 bestimmt Foucault Dispositive als konkrete Ensembles aus „Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen, philanthropischen Lehrsätzen“, die diesen einzelnen Elementen, je nach dem, auf welche historische „Herausforderung“ sie antworten müssen, unterschiedliche „Funktionen“ zuweisen können.30 Methodisch wirft schon die heterogene Aufzählung diskursiver und nicht-diskursiver „Elemente“ genügend Schwierigkeiten auf, weshalb es geraten erscheinen könnte, die Bestimmung des Dispositivs auf die Elemente und ihre Relationen zu beschränken und sich die Annahme einer überindividuellen „Antwort“ auf die Herausforderungen einer spezifischen historischen Situation zu ersparen. Wie dieselben Elemente – ein Gebäude, ein Gesetz, ein Lehrsatz – verschiedene 25 26 27 28 29 30
Ebd., S. 391 f.; frz. S. 303 f. Ebd., S. 392. Ebd., S. 392-401. Ebd., S. 400. Ebd. ; frz. 311 („une mémoire d’activité, une mémoire d’acte“). Michel Foucault, „Das Spiel des Michel Foucault“ (Gespräch mit D. Colas, A. Grosrichard, G. Le Gaufey, J. Livi. G. Miller, J.-A. Miller, C. Millot, G. Wajeman), in: ders., Schriften III, Frankfurt am Main 2003, S. 391-429, hier: S. 392 f.; Michel Foucault, „Le jeu de Michel Foucault“, in: Dits et écrits III, Paris 1994, S. 298-329, hier: S. 299.
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Funktionen übernehmen und situationsabhängige „Positionswechsel“ vollziehen können, wird aber nur verständlich, wenn man berücksichtigt, dass die jeweiligen Funktionen der Elemente durch die spezifische „Herausforderung“ bestimmt werden, auf die ein Dispositiv „antwortet“. Neben den Elementen und ihren Beziehungen gehört es daher zu den wesentlichen Grundzügen eines Dispositivs, „auf eine dringende Anforderung zu antworten (de répondre à une urgence).“31 Inwiefern lässt sich die stoische askesis nun als Charakteristikum eines bestimmten Dispositivs der Subjektivität verstehen? Zunächst in dem Sinn, dass sie auf materielle Mittel angewiesen ist, um sich zu realisieren. Die ethische Übung erfindet keine Regeln, sondern arbeitet mit „tatsächlich gehörten oder gelesenen Sätzen“, die „sprechend wiederholt, geschrieben und wieder geschrieben werden“.32 Ein Dispositiv der Subjektivierung stellt also in gewissem Maße das sprachliche Material zur Verfügung, das zur Ausbildung eines Selbstverhältnisses dienen kann; es enthält aber auch Anweisungen über die Art und Weise, in der mit diesem Material umzugehen ist. Diesen Punkt hat Foucault in seinen Schriften der 1980er Jahre wiederholt aufgegriffen, gemessen an seiner Bedeutung aber erstaunlich selten zum Thema einer eigenen Abhandlung gemacht. Die beste zusammenhängende Analyse bietet hier wohl der Aufsatz „Über sich selbst schreiben“ aus dem Jahr 1983, der insgesamt als Minimalbestimmung eines derjenigen Dispositive der Subjektivität angesehen werden kann, die Foucault in der Hermeneutik des Subjekts als „antik“ von den modernen Varianten unterscheidet.33 Folgt man diesem Text, so besteht ein wichtiger Teil des antiken Dispositivs aus hypomnêmata: aus materiellen Aufzeichnungen von Gelesenem, Gehörtem und Gedachtem.34 Foucault legt großen Wert darauf, dass die in diesem Zusammenhang entstandenen Notiz- und Tagebücher nicht der Darstellung des Seelenlebens und dem Ausdruck persönlicher Erlebnisse dienten, wie man es aus heutiger Sicht annehmen könnte: „Es geht nicht darum, dem Unsagbaren nachzugehen, Verborgenes zu enthüllen, das Ungesagte zu sagen, sondern darum, bereits Gesagtes festzuhalten, Gehörtes oder Gelesenes zu sammeln, und das zu einem Zweck, der nichts Geringeres ist als die Konstituierung des Selbst.“35
31 Ebd., S. 393; frz. S. 299. Christoph Hubig erläutert diesen Zusammenhang als extensionale, intensionale und intentionale Bestimmung des Dispositivs: Eine Menge von Elementen (extensionale Bestimmung) wird zu einer funktionalen Struktur (intensionale Bestimmung), indem eine strategische Herausforderung eine bestimmte Antwort fordert (intentionale Bestimmung). Hubig betont dabei die Bedeutung des dritten Punkts, „weil er die Vorgabe dafür ausmacht, daß bestimmte Binnenrelationen im Dispositiv überhaupt als funktional erachtet werden können“ (Christoph Hubig, „‚Dispositiv‘ als Kategorie“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1/2000, S. 34-47, hier: S. 39 f.). 32 Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 396. 33 Michel Foucault, „Über sich selbst schreiben“, in: Schriften IV, Frankfurt am Main 2005, S. 503521. 34 Ebd. S. 507 („ein materielles Gedächtnis des Gelesenen, Gehörten, Gedachten“). 35 Ebd., S. 508.
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In diesem elementaren Bezug auf das schon Gesagte ähneln die Aufzeichnungen der Stoiker eher einfachen Archivierungstechniken wie Rechnungsbüchern und Registern als dem modernen intimen Tagebuch.36 Sie sind aber nicht nur Resultate von Techniken der Archivierung, sondern werden auch zu Instrumenten der „Subjektivierung“, indem man sie in eine Praxis der Übung einbindet.37 Die hypomnêmata dienen nicht der intimen Selbstdarstellung, sie fungieren aber auch nicht als „bloße Gedächtnisstützen“, weil einige von ihnen als Anweisung dienen, wie mit den anderen im Rahmen der askesis umzugehen sei. Erst darin zeigt sich, inwiefern die hypomnêmata als Teil eines Dispositivs der Subjektivierung aufgefasst werden können. Sie bilden nicht nur das „Material“, sondern auch den „Rahmen“ für „eine Übung, die immer wieder absolviert werden sollte: lesen, wieder lesen, meditieren, Gespräche mit sich selbst und anderen führen usw.“38 Diese Doppelrolle der „materiell vorhandenen logoi“ – einerseits Material der Übung und andererseits Anweisung, wie mit diesem Material zu verfahren ist – betont Foucault auch in der Hermeneutik des Subjekts.39 Dabei zeigt er, dass verschiedene Stile im Umgang mit dem schon Gesagten auch durch exemplarische Figuren angezeigt werden können, die Handlungsschemata repräsentieren: Wer Sätze wie ein Rhapsode wiederholt, will vor Publikum wieder vernehmbar machen, was einst gesagt wurde; wer sich dagegen an der Figur des Ringers orientiert, bereitet sich auf die Wechselfälle des Lebens vor, indem er sich mit automatisierten Handlungsmustern für den Ernstfall ausstattet.40 Dabei ist klar, dass die verwendeten Sätze nicht in erster Linie als Beiträge zu einem rationalen Diskurs rezipiert werden, sondern als Schutzmaßnahmen gegen widrige Lebensumstände. Das eigentliche Bewusstsein, für den Ernstfall gewappnet zu sein, liegt nicht in der Anerkennung vernünftiger Lehrsätze, sondern in der Verfügung über ein gewisses Repertoire automatisierter Handlungsmuster, die eben weil sie spontan und ohne weitere Überlegung ablaufen, Spielräume für Reflexion und Überlegung schaffen. Wenn Foucault schreibt, die „materiellen Elemente“ des Diskurses würden „dem Subjekt als Handlungsmatrizen eingeschrieben“,41 so mag das nach blanker Fremdbestimmung klingen; die Frage, ob ein bestimmtes Dispositiv der Subjektivierung Handlungsspielräume erschließt oder verschließt, lässt sich aber nur mit Blick auf historisch konkrete Situationen entscheiden. Mit diesem Bereich von Übungsschemata, die sich auf elementare Techniken der Aufzeichnung und Archivierung stützen, ist ein wichtiger Teil dessen umrissen, was Foucault als antikes Dispositiv der Subjektivität analysiert. Die Rede vom Dis36 Vgl. ebd., S. 507 f. 37 Foucault gebraucht den Terminus „subjectivation“ in dem zitierten Text enger als in dem hier angesetzten Sinn: Er spricht von der „Subjektivierung des Diskurses“ als Geschehen, in dem die materiellen Aufzeichnungen „in die Seele eingepflanzt“ und „Teil unserer selbst“ werden (ebd., S. 508). Dieser Gebrauch des Begriffs ist aber mit der Idee einer Subjektivierung von Individuen durch spezifische Techniken der Aufzeichnung und Übung durchgehend kompatibel. 38 Ebd., S. 507. 39 Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 397. 40 Vgl. ebd., S. 394 f. 41 Ebd.
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positiv betont dabei die Bedeutung von Techniken, die das Subjekt im Rekurs auf anderes und andere konstituieren. Ihren einfachsten Ausdruck findet dieser Grundzug der Subjektivierung in Senecas Einsicht, dass man nicht alles aus sich selbst schöpfen kann und auf „die Hilfe von anderen“ angewiesen ist.42 Mit Blick auf die Funktion der hypomnêmata handelt es sich dabei allerdings um eine sehr spezifische Form von Fremdbezug: die diachrone Beziehung auf schon Gesagtes, die mit Hilfe von Aufzeichnungs- und Archivierungstechniken einen Prozess der „Überlieferung“ ermöglicht.43 Ein solcher Prozess ist unausweichlich mit der Übernahme von anderem – von schon Gesagtem – verbunden, schafft dadurch aber Handlungsspielräume für die von Foucault so genannten „Praktiken der Freiheit“.44
III. In einem kurzen Text aus dem Jahr 2006 bringt Giorgio Agamben die Schriften des jungen Hegel ins Spiel, um die terminologische Frage zu klären, was eigentlich unter einem Dispositiv zu verstehen ist. Dabei vertritt er die These, Foucaults Begriff der „Positivität“, wie er ihn in der Archäologie des Wissens gebraucht, sei als eine diskurstheoretische Vorstufe zu seinem späteren machtanalytischen Begriff des Dispositivs anzusehen, die ihrerseits auf den Begriff der „Positivität“ in Hegels frühen Schriften zurückgeht.45 Dass Foucault diesen Begriff der Positivität nicht nur aus den Kommentaren seines Lehrers Jean Hyppolite, sondern auch aus erster Hand kannte, ist mehr als wahrscheinlich. Agambens wirkungsgeschichtliche Konstruktion ist aber alles andere als überzeugend. Denn Hegels Begriff der Positivität ist ein normativer Begriff, der sich mit Foucaults frühen und späten Schriften weit besser in Verbindung bringen lässt als mit dem strikt deskriptiven Positivitätsbegriff der Archäologie des Wissens. Eine eingehendere Darstellung von Hegels Begriff der Positivität ist hier schon deshalb nicht möglich, weil er in zwei stark unterschiedlichen Zusammenhängen auftritt. Hegels Berner Schrift über „Die Positivität der christlichen Religion“ bringt Kants Ethik gegen autoritäre Tendenzen der christlichen Kirchen in Stellung; die Frankfurter Neufassung des Textes markiert dagegen die Grundlinien einer weit umfassenderen Kritik ethisch-politischer Disziplinartechniken, die neben der christlichen Asketik auch die aufklärerische Religionskritik und Kants praktische Philosophie als Beispiele bedenklicher Herrschaftsverhältnisse behandelt.46 Nach Hegels Berner Schrift setzt eine positive Religion nicht auf die „Autonomie des Willens“, sondern auf die „Abhängigkeit von der Gottheit“, weshalb 42 43 44 45 46
Foucault, „Über sich selbst schreiben“, S. 509. Ebd., S. 508. Foucault, „Praxis der Freiheit“, S. 877. Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv?, Zürich/Berlin 2008, S. 11 f. Vgl. G.W.F. Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion“ (1795/96), in: Werke, Bd. I, Frankfurt am Main 1986, S. 104-217; die Fragment gebliebene Frankfurter Neufassung (1800) findet sich ebd., S. 217-229.
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sie moralische Vorschriften als ein „Gegebenes“ voraussetzen und ihren politischen Machtanspruch „auf Autorität“ gründen kann.47 Im Gegenzug stilisiert Hegel Jesus zu einem Vorkämpfer der moralischen Autonomie, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Religion nicht länger auf äußerliche Gesetze und Riten zu gründen, sondern „zur Moralität zu erheben“.48 Die spezifisch historische Fragestellung seiner Untersuchung ergibt sich dabei aus der Diagnose, dass Jesus mit seinem Projekt „scheiterte“.49 Nach Hegel bedurfte es keiner äußeren Einflüsse, um die christliche Religion in eine autoritäre Doktrin zu verwandeln. Schon die Unbedingtheit, mit der Jesus seine Jünger nur auf die eigene Person einschwor und alle anderen Einflüsse abwehrte, brachte sie auf den Weg zu einer „positiven Religion“.50 Von dieser ersten Fassung des Gedankens geht Agamben offenkundig aus, wenn er bemerkt, Hegel arbeite mit der „Entgegensetzung von ‚natürlicher‘ und ‚positiver‘ Religion“, wie sie von den Aufklärern gegen die Autorität der Kirche ins Feld geführt wurde.51 In der späteren Überarbeitung des Textes distanziert sich Hegel deutlich von dieser Entgegensetzung, weil sie auf der bedenklichen Voraussetzung beruht, „daß es nur eine natürliche [Religion] gebe, weil die menschliche Natur nur eine ist, daß aber der positiven Religionen viele sein können“.52 Oberflächlich betrachtet läuft dieser Einwand auf eine Kritik der aufklärerischen Arroganz hinaus, die die religiösen Überzeugungen zahlloser Generationen als bloßen „Unsinn“ oder gar als „Immoralität“ abtut.53 Näher betrachtet folgt Hegel in der Frankfurter Neufassung seines Textes aber weiter der These, dass Unfreiheit mit der Reduktion eines Möglichkeitsspektrums auf eine Möglichkeit beginnt. Er gibt seine Kritik an der christlichen Kirche nicht einfach auf, sondern erweitert sie um die Einsicht, dass die autoritäre Reduktion auf „Eins“ auch auf Seiten der aufklärerischen Religionskritik zu finden ist. Während die positive Religion ihre gesamte Überlieferung auf eine Erlöserfigur und die ihr zugeschriebenen Glaubenssätze zentriert, stützt sich die aufklärerische Religionskritik auf die Vorstellung einer invarianten „Natur“ oder „Bestimmung“ des Menschen.54 47 48 49 50 51 52 53 54
Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion“, S. 179, 189 und 108. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. Ebd., S. 119 f. Agamben, Was ist ein Dispositiv?, S. 12. Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion“, S. 217. Ebd., S. 221. Ein verwirrendes Detail von Agambens Ausführungen besteht darin, dass er zur Erläuterung von Hegels Begriff der Positivität eine Passage der zweiten Fassung des Textes zitiert, in der Hegel die Argumentation der ersten Fassung referiert, um sie im nächsten Schritt zu revidieren. Da Agamben sich auf genau diejenigen Partien des referierenden Teils beschränkt, die auch Hyppolite zitiert, ist nicht davon auszugehen, dass es sich dabei um ein bewusstes Manöver handelt: „‚Eine „positive Religion‘, schreibt Hegel in einer von Hyppolite zitierten Passage, ‚fordert Gefühle, die durch Vorrichtungen gewaltsam hervorgetrieben und Handlungen, die nur auf Befehl und Gehorsam, ohne eigenes Interesse getan werden“ (Agamben, Was ist ein Dispositiv?, S. 12; vgl. Jean Hyppolite, Introduction à la philosophie de l’histoire de Hegel, Paris 1948, S. 35; Agamben zitiert die Neuauflage des Textes von 1983, S. 43; der korrekte Wortlaut der Passage findet sich in: Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion“, S. 217).
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Die Beurteilung einer Religion muss die konkreten Praktiken, in denen sie sich die menschliche Freiheit realisiert, berücksichtigen, wenn sie nicht mit einem abstrakten „Maßstab allgemeiner Begriffe“ operieren soll, an dem die historischen Gestalten des Religiösen „abgeurteilt“ werden.55 Hegels zweite Fassung der Positivitätsschrift entwickelt damit letztlich schon Einsichten, die er später unter dem Titel der Sittlichkeit formulieren wird. In der frühen Berner Fassung bezeichnet der Begriff der Positivität ein Zwangssystem äußerlich auferlegter Gesetze, dem die moralische Autonomie des Einzelnen entgegengesetzt wird; in der späteren Frankfurter Fassung steht er dagegen für die Einsicht, dass die Macht religiöser, ethischer und politischer Systeme sich wesentlich auf „Gewohnheiten der Seele“ stützt, die im Hinblick auf die Frage der Freiheit ambivalent sind.56 Hegels neue Fassung des Gedankens besagt, dass historisch konkrete Lehrsätze, Riten und Verhaltensmuster nicht per se als Elemente autoritärer Herrschaftstechniken zu betrachten sind, sondern nur dann als „positiv“ kritisiert werden können, wenn sie die „Freiheit aufheben“.57 Diese zweite Fassung von Hegels Begriff der Positivität nimmt Agamben nicht zur Kenntnis.58 Er versteht Dispositive ganz offenkundig als „positiv“ im Sinnes des frühen Berner Begriffs, das heißt als ein Konglomerat aus Lehrsätzen und Verhaltensregeln, die „den Individuen von außen auferlegt sind“.59 Besonders kennzeichnend für Agambens Konstruktion der Beziehung zwischen Hegel und Foucault ist dabei, dass er ausgerechnet den strikt deskriptiven Begriff der Positivität aus der Archäologie des Wissens als Bindeglied zwischen dem normativen Positivitätsbegriff des frühen Hegel und Foucaults Begriff des Dispositivs ansetzt. Dieses Manöver ist emblematisch für Agambens konsequente Moralisierung des Dispositivbegriffs, die ihm jeden Wert als Instrument historischer Analysen nimmt. Die bloße Möglichkeit, Dispositive als Techniken der Disziplinierung und Kontrolle einzusetzen wird bei Agamben zu einem Szenario der Unterdrückung durch Dispositive, aus der nur ein – dunkel angedeuteter – Akt der Befreiung herausführen kann.
55 56 57 58
Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion“, S. 225. Vgl. ebd., S. 203. Vgl. ebd., 220. Diese mangelnde Differenzierung zwischen den beiden Fassungen des Positivitätsbegriffs übernimmt Agamben offenkundig von Hyppolite. Er zitiert zwar an einer Stelle aus der zweiten Fassung der Positivitätsschrift, beschränkt sich aber auf eine Passage, die den Standpunkt der frühen Fassung referiert, um sie anschließend in Frage zu stellen. Das – nicht ganz wörtliche – Zitat lautet: „‚Eine positive Religion‘ schreibt Hegel in einer von Hyppolite zitierten Passage, ‚fordert Gefühle, die durch Vorrichtungen gewaltsam hervorgetrieben und Handlungen, die nur auf Befehl und Gehorsam, ohne eigenes Interesse getan werden‘“ (Was ist ein Dispositiv, S. 12). Das ist nach Hegel die Überzeugung gerade derjenigen aufklärerischen Religionskritiker, die davon ausgehen, dass es eine menschliche Natur und folglich nur eine natürliche Religion gebe, die man als Maßstab an jede beliebige historische Gestalt des Religiösen anlegen kann. Es ist die Überzeugung derer, die ein aufklärerisches Pendant der religiösen Reduktion auf „Eins“ formulieren und nicht zur Einsicht in die Bedeutung der konkreten historischen Gestalten des Religiösen vordringen (vgl. Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion“, S. 217 f.). 59 Agamben, Was ist ein Dispositiv, S. 12.
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IV. Entspräche das Foucaults Verständnis von Dispositiven, so ließe sich seine Rede von antiken und modernen „Dispositiven der Subjektivität“ nur als Diagnose eines endlosen Verhängnisses lesen. Doch Dispositive sind für Foucault keine repressiven Zwangssysteme, sondern zunächst vor allem eins: „Manifestation von Macht“.60 Man muss also an das alte und gleichsam klassische Argument Foucaults erinnern, dass Macht nicht notwendig Herrschaft bedeutet. Dispositive entsprechen gerade nicht der von Hegel kritisierten Herrschaftstechnik, die ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten auf eine einzige reduziert, sondern zeitigen, wie Petra Gehring mit Blick auf Foucaults Machttheorie betont, „Pluralisierungseffekte“.61 In der Hermeneutik des Subjekts betont Foucault genau diesen offenen, beweglichen Charakter der Macht, indem er die Frage nach dem Subjekt mit Blick auf ein „strategisches Feld beweglicher, veränderbarer und reversibler Machtverhältnisse“ stellt.62 Dabei greifen die deskriptive und die normative, die historische und die herrschaftskritische Seite seines Unternehmens noch so eng ineinander, dass er sich später genötigt sieht, den Punkt, an dem reversible Machtverhältnisse in irreversible Herrschaftsverhältnisse umschlagen, genauer zu markieren und terminologisch zu fixieren. Im Gegensatz zu Herrschaftszuständen, denen man nur durch eine „Praxis der Befreiung“ begegnen kann, sind Machtbeziehungen die Voraussetzungen jener „Praktiken der Freiheit“, die Foucault in der Hermeneutik des Subjekts am Beispiel der antiken Askesetechniken studiert.63 Eine besonders deutliche Darstellung dieses Zusammenhangs findet sich in dem bereits erwähnten Gespräch über „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“. Foucaults Gesprächspartner haben die Vorlesungen über die Hermeneutik des Subjekts gehört und sind vor allem an den politischen Implikationen seiner Überlegungen interessiert. Sie geben Foucault Gelegenheit, die „asketische Praxis“ als zentrales Thema der Vorlesung hervorzuheben, zwingen ihn aber zu einer sehr grundsätzlichen Erörterung seines Themas, indem sie vorschlagen, die asketische Arbeit an sich als einen „Prozess der Befreiung“ zu verstehen.64 Foucault lehnt das ab, weil er die Gefahr sieht, in die klassische Vorstellung einer ursprünglichen „Natur des Menschen“ zurückzufallen, die „durch Repressionsmechanismen entfremdet und eingesperrt wird“.65 Letztlich formuliert er damit dieselbe Erkenntnis, die Hegel zur Überarbeitung seiner frühen Positivitätsschrift veranlasste: Die Voraussetzung einer menschlichen Natur, die als Maßstab der Kritik an autoritären Techniken der Seelenführung dienen kann, ist so fragwürdig wie diese Techniken selbst. Sie verschließt nicht nur die Möglichkeit, den historischen Besonderheiten unterschiedlicher Machtkonstellationen gerecht zu werden, sondern ist in ihrer Anlage 60 61 62 63 64 65
Hubig, „‚Dispositiv‘ als Kategorie“, S. 38. Petra Gehring, Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt/New York 2004, S. 127. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, S. 314. Foucault, „Praxis der Freiheit“, S. 877. Ebd., S. 876. Ebd., S. 877.
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selber autoritär, weil sie von vornherein nur einen Maßstab der Beurteilung zulässt. Ähnlich wie Hegel in seiner zweiten Fassung der Positivitätsschrift die historische „Besonderheit“ religiöser Regeln und Bräuche betont, die einer rein normativen Kritik als eine „Menge von Überflüssigem“ vorkommen müssen,66 analysiert Foucault daher die spezifischen Praktiken der Subjektivierung in ihren je unterschiedlichen historischen Ausprägungen. Das ist der deskriptive Grundzug seiner Analysen, der auch seine Rede von „Dispositiven“ und, gelegentlich, von der „Positivität der Macht“ kennzeichnet.67 Zugleich hält er an der Möglichkeit einer normativen Kritik spezifischer Dispositive fest, indem er offene, reversible Machtbeziehungen von Herrschaftszuständen unterscheidet, in denen diese Beziehungen „blockiert und erstarrt“ sind.68 Weder die Rede von Dispositiven noch die Rede von Positivität ist bei Foucault auf diese Form erstarrter Machtbeziehungen beschränkt. Dispositive sind Manifestationen von Macht, die in Herrschaft umschlagen kann. Sie sind vollkommen kompatibel mit den unterschiedlichsten „Praktiken der Freiheit“. Das ist der Punkt, an dem auch die Parallele zur zweiten Fassung von Hegels Positivitätsschrift ihre Grenze findet, da Hegel den Ausdruck „positiv“ für den Fall reserviert, dass eine bestimmte Konstellation von Regeln und Bräuchen „die Freiheit aufhebt“.69 Das historisch Vorfindliche wird zwar nicht mehr vom Standpunkt der Kantischen Ethik als bloßes Beiwerk der eigentlichen Vernunftbestimmung des Menschen abgeurteilt, aber der Begriff des Positiven bleibt auch in dieser zweiten Fassung des Gedankens, auf historische Konstellationen beschränkt, die Foucault als Herrschaftszustände bezeichnen würde. In dem genannten Gespräch sagt Foucault: „Man kann mir nicht die Vorstellung zuschreiben, dass Macht ein Herrschaftssystem darstellt, das alles kontrolliert und keinerlei Raum für Freiheit lässt.“70 Genau das müsste aber zutreffen, wenn Agambens Kurzschluss zwischen Foucaults Begriff des Dispositivs – als Machtkonstellation – und Hegels Begriff der Positivität – als Herrschaftsstruktur – theoretisch tragen sollte. Löst man sich von Agambens suggestiver Zuordnung, so zeigen sich allerdings eine Reihe von deutlichen Parallelen zwischen Hegels zweiter Fassung der Positivitätsschrift und Foucaults später Machttheorie. Insbesondere die Ambivalenz historisch vorfindlicher Machtkonstellationen, die sich jederzeit zu Herrschaftsstrukturen verfestigen können, spielt bei beiden eine zentrale Rolle. Da ich diesen Zusammenhang hier nicht in voller Breite entfalten kann, möchte ich mich auf zwei eng zusammenhängende Probleme beschränken, die Foucault in seinen späten Schriften nur anschneidet und die sich mit Hegel noch einige Schritte weiter entwickeln ließen: die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Selbst und Anderem
66 Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion“, S. 220. 67 Die „Positivität der Macht“ steht für Foucault in einer Linie mit dem, was ihre „produktive Effizienz“ und ihren „strategischen Reichtum“ ausmacht: vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1983, S. 106. 68 Foucault, „Praxis der Freiheit“, S. 878. 69 Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion“, S. 220. 70 Foucault, „Praxis der Freiheit“, S. 891.
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(Abschnitt V.) und nach der Bedeutung von Überlieferungsprozessen für die Konstitution von Subjektivität (Abschnitt VI.).71
V. Foucaults erste Sorge im Umgang mit der Differenz Selbst/Anderer besteht seit der Hermeneutik des Subjekts darin, die antiken Formen der Arbeit an sich selbst von den christlichen Formen der Askese und allen Formen der Demut und der Nächstenliebe zu unterscheiden. Nach Foucault impliziert die griechische Ethik der Selbstsorge zwar „komplexe Beziehungen zu anderen“, sie ist aber „nicht deshalb ethisch, weil sie Sorge um die anderen ist“.72 Der schon in den früheren Vorlesungen ausgearbeitete Grundgedanke lautet, dass nur derjenige, der sich auf angemessene Weise selbst leitet, sich auch angemessen um die anderen sorgen und deren politische Leitung übernehmen kann; nur ein „ethisches“ Verhältnis zu sich verhindert den „Missbrauch der Macht“.73 Foucaults Argument geht dabei weit über pragmatische Regeln des guten Regierens hinaus, indem er den ethischen Vorrang der Selbstsorge durch den ontologischen Vorrang des Selbst flankiert: „die Sorge um sich ist ethisch vorrangig, so wie die Beziehung zu sich ontologisch vorrangig ist“.74 Angesichts dessen ist es voll und ganz verständlich, wenn seine Gesprächspartner den Eindruck gewinnen, dass Foucault in letzter Konsequenz die Selbstbeziehung „verabsolutiert“.75 Tatsächlich betont Foucault in den Anfangspassagen des Gesprächs über die Praktiken der Freiheit konsequent den Vorrang des Selbst vor den Anderen und formuliert sehr nahe an früheren Überlegungen zur Ästhetik der Existenz: Wo der Andere nur als Rezipient eines gelungenen Lebens ins Spiel kommt, das er retrospektiv „bewundert“ und „als Beispiel zitiert“,76 da scheint sein Eigengewicht denkbar gering. Die Lage ändert sich aber auffallend, sobald Foucault beginnt, den Zusammenhang von Macht, Herrschaft, Freiheit und Befreiung näher zu analysieren. Insbesondere die Frage, wie sich Macht- von Herrschaftsbeziehungen unterscheiden, zwingt ihn nahezu durchgehend dazu, Paarkonstellationen zu diskutieren, die der Beziehung Selbst/Anderer eine konstitutive Funktion für die Unterscheidung von Freiheit, Befreiung, Macht und Herrschaft verleihen. Foucault spricht vom Machtspiel zwischen Liebenden und den Herrschaftsverhältnissen in der Ehe, er erläutert das Umschlagen von Macht- in Herrschaftsverhältnisse an den Beziehungen zwischen Schüler und Lehrer, er reflektiert auf die Machtverhältnisse zwischen einem jüngeren und einem älteren Gesprächspartner und beschreibt sogar die 71 In einer Terminologie, die ich im Folgenden lieber vermeiden möchte, könnte man auch sagen: der Frage nach synchroner und diachroner Intersubjektivität. 72 Ebd., S. 883. 73 Vgl. ebd., S. 882-884. 74 Ebd., S. 884. 75 Vgl. ebd., S. 885. 76 Ebd., S. 882.
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Konstitution des „wahnsinnigen“ Subjekts als Beziehung zwischen einem Geisteskranken und demjenigen, der ihn dazu „erklärt“.77 Bevor ich zwei dieser Beispiele aufgreife, sei hier zunächst Foucaults allgemeinere Bestimmung des Verhältnisses von Macht und Freiheit zitiert, in der die Machtbeziehung ganz selbstverständlich als dyadische Beziehung zwischen „dem einen“ und „dem anderen“ gefasst wird: „Man sollte außerdem beachten, dass es Machtbeziehungen nur in dem Maße geben kann, in dem die Subjekte frei sind. Wenn einer von beiden vollständig der Verfügung des anderen unterstünde und zu dessen Sache geworden wäre, ein Gegenstand, über den dieser schrankenlos und unbegrenzte Gewalt ausüben könnte, dann gäbe es keine Machtbeziehungen. Damit eine Machtbeziehung bestehen kann, bedarf es also auf beiden Seiten eine bestimmte Form von Freiheit. Selbst wenn die Machtbeziehung völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist, wenn man wirklich sagen kann, dass der eine alle Macht über den anderen besitzt, so lässt sich die Macht über den anderen nur in dem Maße ausüben, in dem diesem noch die Möglichkeit bleibt, sich zu töten, aus dem Fenster zu springen oder den anderen zu töten. Das heißt, dass es in Machtbeziehungen notwendigerweise Möglichkeiten des Widerstands gibt“.78
Foucault fasst hier eine Reihe von Überlegungen zusammen, in denen er zu zeigen versucht, dass die Konstitution eines Subjekts als x – als politisches, als delinquentes, als wahnsinniges Subjekt – sich nur in einem Feld von Machtbeziehungen vollziehen kann, die ihm nicht seine Freiheit rauben, so lange sie sich nicht zu Herrschaftsverhältnissen verfestigen. Als ein Beispiel derartiger Herrschaftsverhältnisse nennt er die „Ehe in der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts“, in der die Frau zwar gewisse Handlungsspielräume hatte, sie aber lange Zeit nicht zur Rückübersetzung „asymmetrisch“ verfasster Herrschaftsstrukturen in reversible Machtbeziehungen nutzen konnte.79 Wenn es so etwas wie Befreiung gibt, so lautet Foucaults Antwort auf die Ausgangsfrage des Gesprächs, dann kann sie nur in der Rückverwandlung von Herrschafts- in Machtverhältnisse bestehen. Foucaults durchgehender Rekurs auf das dyadische Verhältnis Selbst/Anderer ist dabei offenbar der Frage nach der Freiheit geschuldet. Die Frage, wie der Wahnsinn zur „Krankheit“ wurde, die den Regeln des medizinischen Wahrheitsspiels unterworfen wird, ist auf den ersten Blick keine, die man als Paarkonstellation analysieren könnte. Wo Foucault zu zeigen versucht, dass „das wahnsinnige Subjekt kein unfreies Subjekt ist“, übersetzt er die Beziehung zwischen Wahnsinn und Medizin aber unmittelbar in die Beziehung des Wahnsinnigen zu dem, der in als solchen behandelt. Die Konstitution eines Menschen „als wahnsinniges Subjekt“ geschieht in der „Konfrontation“ mit demjenigen, „der ihn als wahnsinnig erklärt“.80 In solchen Formulierungen nimmt Foucault offenkundig wieder Kontakt zu seiner frühen Geschichte des Wahnsinns auf, deren herrschaftskritischer Zuschnitt aus 77 Vgl. ebd., S. 889 (Wahnsinn), 890 (älter/jünger), 891 (Ehe), 899 (Liebespaar, Schüler Lehrer, Student/Professor). 78 Ebd., S. 890. 79 Ebd., S. 891. 80 Ebd,, S. 889 („… et que, présisément, le malade mental se constitue comme sujet fou par rapport et en face de celui qui le déclare fou“; Dits et écrits IV, S. 719).
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Sicht der späteren Machttheorie überholt erscheinen könnte, den er aber nun im Rahmen dieser Machttheorie reformuliert. Wenn die Geschichte des Wahnsinns Teil eines übergreifenden Projekts war, das zeigen sollte, „wie der Mensch bestimmte Grenzerfahrungen in Erkenntnisobjekte verwandelt“,81 so bedeutet das in der Terminologie der späten Machttheorie, dass er Macht- in Herrschaftsverhältnisse verwandelt. Es spricht für die Geistesgegenwart von Foucaults Gesprächspartnern, dass sie die Konsequenzen der neuen Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft sofort überblicken und mit derjenigen Passage der Hermeneutik des Subjekts konfrontieren, die mit ihr am wenigsten kompatibel ist. Das ganze Gespräch hat gezeigt, dass die neue Unterscheidung zwischen Machbeziehungen und Herrschaftszuständen den ethisch-ontologischen Vorrang des Selbst gefährdet, wie ihn Foucault am Anfang des Gesprächs behauptete. Nachdem er die Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft als eine notwendige terminologische Präzisierung seiner früheren Machttheorie zusammengefasst hat,82 sprechen ihn seine Gesprächspartner daher noch einmal auf diesen Punkt an und bewegen ihn zu einer zweiten aufschlussreichen Korrektur seiner früheren Überlegungen: „– In Ihrer Vorlesung über die ‚Hermeneutik des Subjekts‘ findet sich ein Abschnitt, in dem Sie sagen, dass es für den Widerstand gegen die politische Macht keinen anderen praktikablen Ausgangspunkt gäbe als den Bezug des Selbst auf sich selbst. – Ich glaube nicht, dass der einzig mögliche Widerstandspunkt gegen die politische Macht, verstanden als Herrschaftszustand, im Bezug des Selbst auf sich selbst besteht.“83
Wenn die Befreiung von Herrschaft nur in der Rückverwandlung von irreversiblen Herrschafts- in reversible Machtbeziehungen bestehen kann, dann ist Befreiung kein Geschehen, in dem das Selbst Widerstand gegen Anderes leistet, sondern ein Geschehen, in dem ein asymmetrischer, statischer Typ der Beziehung Selbst/Andere in einen symmetrischen, dynamischen Typ verwandelt wird. Das bestätigt auch der zweite Teil des Aufsatzes „Über sich selbst schreiben“, der neben den hypomnêmata einen spezifischen Typ von schriftlicher „Gegenseitigkeit“ analysiert: den Briefwechsel.84 Dabei betont Foucault – wie schon im Falle der Notiz- und Tagebücher –, dass es in der stoischen Praxis des schriftlichen Austauschs nicht um den Ausdruck intimer Seelenregungen und überhaupt nicht in erster Linie um die Mitteilung seiner selbst geht. Wenn man von dieser Form des schriftlichen Austauschs sagen kann, dass sie ein „Verhältnis von Angesicht zu Angesicht“ schafft, in dem der eine sich dem Anderen „zeigt“, dann geht es gerade nicht um einen ‚authentischen‘ Ausdruck des eigenen Inneren, sondern darum, sich „dem 81 82 83 84
So Foucault rückblickend in einem Interview aus dem Jahr 1980: Schriften IV, S. 72. Ebd., S. 900. Ebd., S. 901. Vgl. Foucault, „Über sich selbst schreiben“, S. 512-521; Zitat: S. 513.
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Blick des anderen auszusetzen“ und ihm Rechenschaft zu geben.85 Die Asketik des schriftlichen Austauschs zielt nicht auf eine möglichst angemessene Darstellung des Selbst, sondern auf die „Öffnung gegenüber einem anderen“.86 Zu dieser ausgesprochen allgemeinen Formel wäre einiges zu sagen. In dem zitierten Aufsatz steht sie im Zusammenhang einer Lektüre stoischer Texte, die Nähe und Distanz zwischen antiken und christlichen Askesepraktiken vermisst. Das Sich-Öffnen auf den Anderen erscheint daher von vornherein im Modus einer „Prüfung“ durch den Blick des Anderen, die sich in schriftlichen Techniken der „Gewissenserforschung“ konkretisiert.87 Damit adressiert Foucault eine derjenigen Selbsttechniken, an denen die Ambivalenz der askesis besonders greifbar wird: Das Gewissen galt einer langen Tradition als Inbegriff der unveräußerlichen Innerlichkeit und wurde als Arkanum der Freiheit gegen staatliche und kirchliche Übergriffe in Schutz genommen; zugleich war es einer der prädestinierten Angriffspunkte für religiöse und pädagogische Disziplinartechniken, die mit dem Sprachgebrauch des späten Foucault klar als Herrschaftstechniken zu identifizieren wären. Diesen spezifischen Fall der Ambivalenz der askesis kann ich hier nicht im Detail weiter verfolgen.
VI. Ich schließe mit der eingangs aufgeworfenen Frage: Inwiefern lassen sich Prozesse der Subjektivierung als eine Form von Erfahrung des Subjekts begreifen, die als Erfahrung auf Dispositive der Subjektivität angewiesen ist? Eine erste, einfache Antwort lautet: Weil Subjektivierungsprozesse Machtspiele sind, in denen sich Einer zu Anderen verhält. Sich zu Anderen zu verhalten bedeutet dabei immer, ihnen als x zu begegnen: nicht nur in der „Rolle“ des Freundes, Ratgebers, Vorgesetzten, Untergebenen, sondern auch als politisches, privates, gesundes, krankes, vernünftiges oder wahnsinniges Subjekt. Foucault formuliert das mit Blick auf seine beiden großen historischen Studien zur Geschichte des Wahnsinns und zur Geburt des Gefängnisses: „Was ich zeigen wollte, war, wie sich das Subjekt in der einen oder anderen Weise durch eine Reihe von Praktiken, die in den Spielen der Wahrheit, Praktiken der Macht usw. bestehen, als wahnsinniges oder gesundes Subjekt, als delinquentes oder nicht delinquentes Subjekt konstituiert.“88 Die eigentliche Herausforderung dieser Frage liegt in der Weise, wie die Konstitution des Subjekts „als x“ das Schema von Selbst- und Fremdbestimmtheit unterläuft, das nicht nur Grundlage klassischer Freiheitslehren, sondern auch eine Leitunterscheidung zahlreicher Kulturkritiken ist. In dem genannten Interview rückt Foucault die Möglichkeiten, dass sich ein Subjekt „als wahnsinniges“ oder 85 86 87 88
Ebd., S. 515, 519. Ebd., S. 516. Ebd., S. 516, 519. Foucault, „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“, S. 888.
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„als politisches“ konstituiert, so nah zusammen, dass seine Gesprächspartner sich genötigt fühlen, begrifflich aufzuräumen. Sie geben zu bedenken, dass es sich bei dem wahnsinnigen Subjekt um ein „passives“ Subjekt handelt, das letztlich „Objekt eines theoretischen Diskurses“ ist, wogegen das politische Subjekt als „aktives“ verstanden werden müsse, das in einem viel stärkeren Sinne sich konstituiert.89 Dem hält Foucault entgegen, dass auch das „wahnsinnige Subjekt“, dessen Konstitution als Produkt eines „Zwangssystems“ verstanden werden kann, „kein unfreies Subjekt ist“. Die Weise, in der der psychiatrische Diskurs auf es zugreift, behält den Charakter einer „Konfrontation“. Andererseits sind die Praktiken, die es einem Subjekt erlauben, sich als selbstbestimmtes, politisches, moralisches zu konstituieren, keine Praktiken, die es selbst erfindet, sondern „Schemata, die es in seiner Kultur vorfindet“.90 Der Prozess, in dem ein Subjekt „sich als x“ konstituiert, entzieht sich also einer klaren Unterscheidung von „aktiv“ und „passiv“, von „selbstbestimmt“ und „fremdbestimmt“, von „subjektiv“ und „objektiv“. Bestes Beispiel dafür ist die Charakterisierung der Prozesse des assujettissement, die Foucault zu Beginn des Prüfungs-Abschnittes in Überwachen und Strafen gibt: „Im Herzen der Disziplinarprozeduren manifestiert sie die subjektivierende Unterwerfung [l’assujettissement] jener, die als Objekte wahrgenommen werden, und die objektivierende Vergegenständlichung jener, die zu Subjekten unterworfen werden [de ceux qui sont assujettis]. Die Überlagerung der Machtverhältnisse und der Wissensbeziehungen erreicht in der Prüfung ihren sichtbarsten Ausdruck“.91 Prüfungstechniken sind Subjektivierungstechniken, sie sind Organisationsformen des „als“, die immer nur eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten offen lassen, „als wer“ und „als was“ wir handeln, sprechen und denken. Dabei lässt sich der Punkt, an dem Zwang und Freiheit zusammenhängen, zunächst am angemessensten mit dem Begriff der Kontingenz bezeichnen. Folgt man Bernhard Waldenfels’ phänomenologischen Analysen, so ist schon das elementare Geschehen, in dem „etwas als etwas erscheint“ durch ein „selektives Moment des so und nicht anders“ gekennzeichnet, das dem Erscheinenden den „Stempel der Kontingenz“ aufprägt.92 Das gilt a fortiori für ein Individuum, das „als x“ auftritt, handelt und spricht. Stabilität gewinnt dieses Subjekt nicht dadurch, dass ein für allemal entschieden werden könnte, „als wer“ oder „als was“ jemand erscheint, sondern nur durch Prozesse der Wiederholung und Habitualisierung, die eine bestimmte Selektion erwartbar machen. An diesem Punkt erlauben Waldenfels’ Überlegungen, zu explizieren, was Foucault nur andeutet: Die Struktur des „als x“ stabilisiert sich weder in „objektiven“ Strukturen, die das Subjekt schlicht zum „Sachverhalt“ herabsetzten noch in „subjektiven“ Prozessen, die als persönliches „Erleben“ verbucht werden könnten, sondern in „Zwischeninstanzen“, in einer „Zwischensphäre aus Zeichen, Symbolen, 89 90 91 92
Ebd., S. 888 f. Ebd., S. 889. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1976, S. 238. Bernhard Waldenfels, „Bewährungsproben der Phänomenologie“, in: Philosophische Rundschau 57/2 (2010), S. 154-178, hier: S. 160.
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ANDREAS GELHARD
Texten, Bildern, Ritualen, Werkzeugen, Apparaturen und Medien“.93 Diese Zwischeninstanzen öffnen den gesamten Bereich, in dem etwas „als x“ auftritt – vom simplen erscheinen eines Gegenstands bis zur Selbstkonstitution des Subjekts – einer elementaren Technisierung, die zur Folge hat, dass die Art, wie etwas erscheint und wie jemand sich (zu Anderen) verhält, „immer auch technologisch verfaßt ist“.94 Der Schrift kommt in diesem Zusammenhang schon deshalb eine zentrale Bedeutung zu, weil sie das Verhältnis des Einen zum Anderen über den Nahraum unmittelbarer Begegnung hinaus erweitert. Wie die beiden Abschnitte von „Über sich selbst schreiben“ andeuten, werden dabei nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Entfernungen überbrückt. Die Schrift dient nicht nur der „Korrespondenz“ mit entfernten Anderen, sondern ermöglicht auch den Rückgriff auf ein ganzes Arsenal von Gedächtnisstützen, ohne die Erfahrung in den engen zeitlichen Horizont einer Lebensspanne eingeschlossen bliebe. Das ist ein zweiter Grund, weshalb Erfahrung auf Dispositive der Subjektivierung angewiesen ist: in die Erfahrungen eines Subjekts geht weit mehr ein als das, was es selbst erlebt hat. Ein nicht unwesentlicher Teil von Dispositiven der Subjektivierung besteht daher aus hypomnêmata: aus Aufzeichnungs- und Archivierungstechniken der unterschiedlichsten Bauart, die den Rückgriff auf die Erkenntnisse und Erlebnisse anderer, aber auch auf deren praktisches Wissen, auf gelungene und misslungene Experimente und auf exemplarische Lebensvollzüge ermöglichen. Es stellt sich daher die Frage, wie sich die langfristigen Prozesse generationenübergreifender Subjektivierung zu denjenigen Verhältnissen zwischen Selbst und Anderem verhalten, an denen Foucault den Unterschied zwischen Macht und Herrschaft expliziert. Dass ein Generationengefälle auch innerhalb dieser synchronen Beziehungen eine Rolle spielen kann, deutet er in dem Gespräch von 1984 an, indem er die Reversibilität von Machtverhältnissen an der Differenz älter/jünger erläutert. Dabei hebt er auf den Umstand ab, dass seine Gesprächspartner Hörer seiner Vorlesungen und faktisch seine Studenten sind, was eine Verfestigung von Macht- zu Herrschaftsbeziehungen nahe legt, aber nicht notwendig hervorbringt: „Die Tatsache beispielsweise, dass ich älter bin und Sie zu Beginn ein wenig befangen waren, kann sich im Verlaufe der Unterhaltung umkehren und ich bin es dann, der vor jemandem befangen sein kann, gerade weil dieser jünger ist. Diese Machtbeziehungen sind also mobil, reversibel und instabil.“95 Auch in diesem beiläufigen Beispiel bleibt Foucault seiner Entscheidung treu, die Differenz zwischen Macht- und Herrschaftsbeziehungen an Paarkonstellationen zu 93 Ebd., S. 160 f. 94 Dass menschliche Erfahrung daher immer auf Techniken der Archivierung und Überlieferung angewiesen bleibt, hat vor allem Bernard Stiegler hervorgehoben (vgl. ders., Technik und Zeit, Zürich/Berlin 2009). Entsprechend kritisiert Stiegler in seiner Auseinandersetzung mit Foucault dessen eher sporadische Auseinandersetzung mit der Schrift und betont die Bedeutung des späten Aufsatzes „L’écriture de soi“ (ders., Von der Biopolitik zur Psychomacht, Frankfurt am Main 2009, S. 27-34). Auffallend ist dabei, dass Stiegler mit keinem Wort die Vorlesungen am Collège de France erwähnt. Ein Blick in die Vorlesungstexte zeigt, dass Foucaults Auseinandersetzung mit der Schrift bei weitem nicht so schmal ausfällt, wie es die gedruckten Schriften vermuten lassen. 95 Foucault, „Praxis der Freiheit“, S. 890.
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DISPOSITIVE DER SUBJEKTIVIERUNG
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erläutern. Es geht ihm hier offenbar nicht um das Verhältnis des (akademischen) Lehrers zu ganzen Schülerpopulationen, wie sie in Schulklassen und Hörsälen unterrichtet werden, sondern um das Paar Schüler-Lehrer, das in der philosophischen Tradition immer wieder als Paradigma einer – missbrauchsanfälligen und gefährdeten – ethischen Beziehung behandelt wurde. Wie Foucault in „Über sich selbst schreiben“ am Briefwechsel zwischen Seneca und seinem deutlich jüngeren Freund Lucilius zeigt, kann sich eine solche Beziehung trotz der unübersehbaren Asymmetrien auf eine Gegenseitigkeit öffnen, in der einer den anderen ermahnt und anregt.96 Dasselbe Interesse an Machtbeziehungen, die gleichsam eine Sicherung gegen ihre Verfestigung zu Herrschaftsverhältnissen enthalten, leitet offensichtlich auch die ausführlichen Analysen der Sokratischen Praxis einer Prüfung seiner selbst und der Anderen, die er zeitgleich in seinen Vorlesungen am Collège de France vorträgt.97 In beiden Fällen bleibt seine Untersuchung aber stark auf einzelne Figuren und Episoden konzentriert und nimmt nur wenig in den Blick, was man wirklich als Dispositive der Subjektivierung analysieren könnte.
VII. Die Reichweite solcher Analysen, die stark auf Figuren und Episoden konzentriert sind, ist begrenzt. Sie lassen sich aber auch auf der Ebene von Dispositiven fruchtbar machen, wenn man – zum Beispiel – die Bedeutung der Archivierungs- und Aufzeichnungstechniken stärker in den Vordergrund rückt, die Foucault in seinen Texten der 1980er Jahre eher zurückhaltend behandelt. Damit kommt nicht nur der technische Charakter der Subjektivierung stärker ins Spiel, sondern auch die Dimension diachroner Macht- und Herrschaftsbeziehungen, die man üblicherweise unter dem Titel der Tradition abhandelt. Die Beziehung Lehrer-Schüler ist nicht nur paradigmatisch für asymmetrische Machtbeziehungen, die beständig Gefahr laufen, in Herrschaft umzuschlagen, sie liefert auch Muster für verschiedene Stile der Überlieferung. Das ist der Punkt, an dem Agambens Hinweis auf Hegels Begriff der Positivität weiterführen kann. Denn Hegel interessiert sich nicht für die Praktiken und Charaktere einzelner Christen, er entwirft die Geschichte eines Dispositivs namens „Christliche Religion“, dessen Geschichte sich als eine Geschichte der Verwandlung von „lebendigen“ Machtbeziehungen in „positive“ Herrschaftsverhältnisse darstellen lässt. Diese Geschichte ist nur möglich, weil Dispositive – anders als Agamben annimmt – nicht notwendig Herrschaftssysteme sind. Die dialektische Pointe von Hegels Darstellung besteht gerade in dem Aufweis, dass das Spiel reversibler Machtbeziehungen, in dem sich die Gruppe der Jünger um Jesus 96 Foucault, „Über sich selbst schreiben“, S. 514 f. 97 Zum Problem der Sokratischen „Prüfung meiner selbst und der anderen“, dem Foucault vor allem in den Vorlesungen der Jahre 1982-84 nachgeht, vgl. meinen Aufsatz: „Zwischen Skeptizismus und Kynismus. Über Prüfung und Bewährung bei Hegel und Foucault“, in: Petra Gehring, Andreas Gelhard (Hg.), Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit, Zürich/Berlin 2012, S. 161-186.
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ANDREAS GELHARD
konstituierte, bereits den Keim der Verwandlung in ein System irreversibler Herrschaftsverhältnisse enthält, wie sie später im „moralischen System der Kirche“ begegnen.98 Dass das nicht notwendig der Fall sein muss, zeigt er im Vergleich zweier Stile, das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern zu organisieren: Zwischen der konsequent geschlossenen Gruppenbildung im frühen Christentum und der Lehre des Sokrates, die „nie zur öffentlichen Religion gediehen“ ist.99 Dabei vermeidet er die naive Vorstellung, Lehrer und Schüler könnten – obwohl ihr Kenntnis- und Erfahrungsstand faktisch ungleich verteilt ist – einfach „auf Augenhöhe“ kommunizieren. Nach Hegel handelt es sich vor allem dann um ein reversibles – lebendiges, nicht positives – Machtverhältnis, wenn es die Schüler nicht auf die Gefolgschaft gegenüber einem einzigen Meister festlegt: wenn nicht nur der Lehrer mehrere Schüler, sondern auch der Schüler mehrere Lehrer haben kann. Der entscheidende Unterschied zwischen den Schülern des Sokrates und den Jüngern Jesu besteht für ihn darin, dass erstere „meist schon andere Philosophen, andere Lehrer gehabt“ hatten, während letztere ganz „auf die Person Jesu eingeschränkt“ waren.100 Die Schüler des Sokrates waren nicht geübt in der konsequenten Reduktion auf Eins, die für die ersten christlichen Gemeinden konstitutiv war; sie waren nicht gewohnt, „ganz und gar nur an einer Person zu hängen“ und neigten daher dazu, „das gelernte zu bearbeiten und ihm den Stempel eigener Originalität aufzudrücken“, während es in der christlichen Traditionsbildung von Anfang an darum ging, die Lehre „getreu aufzufassen und aufzubewahren und sie ebenso getreu, ohne Zusatz, […] anderen zu überliefern“.101 Diese kurze Reflexion Hegels markiert den Punkt, an dem Foucaults Analyse der Subjektivierung ergänzungsbedürftig bleibt: Er eröffnet mit der Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft eine Möglichkeit, die Ambiguität von Subjektivierungsprozessen terminologisch zu fassen, erläutert diese Unterscheidung aber ausschließlich an synchronen Beziehungen zwischen Selbst und Anderen. Erst die diachrone Dynamik der Überlieferung zeigt aber, in welchem Maße Machtbeziehungen – und das heißt potentiell immer auch: Herrschaftsverhältnisse – von Techniken der Aufzeichnung und Archivierung abhängig sind. Die „Selbsterfahrung“ des Subjekts ist nicht ohne Dispositive der Subjektivierung denkbar, weil sie mehr umfasst als den unmittelbaren Nahraum des Erlebten; zugleich bieten die Aussagen und Archive, die in einzelnen Dispositiven als hypomnêmata fungieren, einen privilegierten Ansatzpunkt, um Macht- in Herrschaftsbeziehungen zu verwandeln. Hegels Untersuchung über die Positivität der christlichen Religion kann in diesem Zusammenhang als exemplarische Analyse der Genese von Herrschaft gelesen werden. Sie zeigt, wie die christlichen Techniken der Überlieferung ein Spektrum von Möglichkeiten auf eine Möglichkeit reduzieren, um so die dauerhafte Umwandlung von Machtbeziehungen in Herrschaftszustände zu sichern. 98 99 100 101
Vgl. Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion“, S. 179. Ebd., S. 119. Ebd., S. 120. Ebd., S. 119 f.
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DISPOSITIVE DER SUBJEKTIVIERUNG
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Entsprechend führt Agambens Gleichsetzung von Positivität und Archiv zu dem Missverständnis, Dispositive seien immer schon Herrschaftstechniken, die keine alternativen Möglichkeiten offen lassen. Dieses Missverständnis ist nur möglich, weil Agamben die terminologischen Fragen, deren philosophische Bedeutung er betont,102 selbst nicht ernst nimmt und die Arbeit am Begriff ignoriert, aus der Hegels Begriff der Positivität und Foucaults Begriff des Dispositivs hervorgehen. Positivität bedeutet Herrschaft. Dispositive dagegen sind Manifestationen von Macht; sie bleiben offen für die „situativ antwortbereite, die überraschende und die radikal gesetzlose Dynamik im Spiel der Mächte“.103
102 Der erste Satz von Agambens Aufsatz lautet: „Terminologischen Fragen kommt in der Philosophie besondere Bedeutung zu“ (Was ist ein Dispositiv?, S. 7). 103 Gehring, Foucault, S. 125. Bei Stiegler findet sich eine Kritik an Agambens Fassung des Dispositiv-Begriffs, die die Unklarheiten der Hegel-Lektüre unbeachtet lässt, aber den entscheidenden Punkt hervorhebt: dass es „nicht eine richtige oder falsche Gebrauchsweise eines Dispositivs gibt, sondern ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten“ (Von der Biopolitik zur Psychomacht, S. 131).
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URTEILEN, PRÜFEN, ERZIEHEN
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RUBEN HACKLER
Subjektivierung der Rechtsprechung? Vom forum internum zur (Sozial-)Psychologie des Richters im Straf- und Zivilrecht um 1900* 1. Psychomacht und Subjektivierung: heute und aus theoretischer Sicht Vor der Analyse historischer Subjektivierungsprozesse ist es ratsam, auf die Gegenwart zu schauen und eine Kontrastfolie zu entwerfen. Eine zentrale Devise zeitgenössischer Subjektvorstellungen lautet bekanntlich Selbststeigerung. Ständig und überall wird man aufgefordert, seine Leistungsfähigkeit zu erhöhen (und unter Beweis zu stellen), soft skills verschiedenster Art auszubilden und sich auf immer neue Erwartungen im Berufs- und Privatleben einzustellen, ohne jedoch sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, das zu einer nützlichen Ressource im Bemühen um Anerkennung und finanzielles Auskommen geworden ist. Mithilfe des analytischen Instrumentariums von Niklas Luhmann und Michel Foucault lassen sich diese Zwänge des modernen oder wahlweise spätmodernen Subjekts auf zwei prägnante Formeln bringen: stetige Ausdifferenzierung des psychischen Systems und größtmögliche Effizienz in der Lebensführung.1 Ein wichtiger Antrieb dieser Entwicklung, die neben den einzelnen Individuen auch die gesellschaftlichen Institutionen betrifft, sind die Humanwissenschaften und insbesondere die Psychologie, die das Subjekt in funktionale Einheiten zerlegt und das so gewonnene Wissen zirkulieren lässt. Der Zwang zur Selbststeigerung verschärft sich dadurch, dass der psychologischen Erforschung des Individuums kaum inhärente Grenzen gesetzt sind, eine Tatsache, die in der soziologischen und kulturwissenschaftlichen Literatur mit Unbehagen registriert wird. Anstatt hier jedoch die immense Menge an Texten zu den * Dieser Aufsatz bildet Vorüberlegungen zum Verhältnis juristischer und außerjuristischer Akteure ab, dem ich in meiner Dissertation weiter nachgehen werde. Für Hinweise danke ich Nora Binder, Florian Kappeler und den Herausgebern dieses Bandes. 1 Vgl. Niklas Luhmann, „Individuum, Individualität, Individualismus“, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main 1993, S. 149-258; Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978/79, Frankfurt am Main 2004, S. 367-398, und, an letzteren anknüpfend, die subjektivitätstheoretisch erhellenden Überlegungen von Hubert L. Dreyfus, „Die Gefahren der modernen Technologie: Heidegger und Foucault“, in: Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, hg. v. Axel Honneth, Frankfurt am Main 1994, S. 107-120. Vgl. auch die deutlicher gegenwartsbezogenen Analysen von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007; Stefan Rieger, Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung, Frankfurt am Main 2012.
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RUBEN HACKLER
Formen und Folgen psychologischer Selbsttechniken auszubreiten, sei stellvertretend auf Bernard Stieglers Kritik der „Psychomacht“ eingegangen, die das Thema meines Aufsatzes, die „Psychologisierung“ von Richtern in der Zeit um 1900, auf eine produktive Weise anzugehen erlaubt.2 Im Rahmen einer kritischen FoucaultLektüre stellt Stiegler folgende These auf: Während die Biomacht des 19. Jahrhunderts auf schulischer Bildung beruhte, die, wenigstens dem Anspruch nach, mündige Subjekte hervorbrachte, ist seit einigen Jahrzehnten zu beobachten, wie die Psychomacht der sogenannten „Programmindustrien“ (Marketingpsychologie, Computertechnologien, Ratgeberliteratur etc.) auf deren Zerstörung hinwirkt. Wir sind laut Stiegler immer weniger in der Lage, uns ausführlich beziehungsweise sachlich angemessen mit etwas zu beschäftigen, weil unsere Aufmerksamkeit von kurzweiligen technischen Apparaturen und leistungsverbessernden Maßnahmen absorbiert wird, die sich auf unvorteilhafte Weise der Struktur unserer Psyche einprägen. Man ist nicht gezwungen, Stieglers kulturpessimistische Sichtweise oder seine fragwürdige Sicht auf die Pädagogik des 19. Jahrhunderts zu teilen, um die antiidealistische Stoßrichtung seiner Argumentation anzuerkennen: Die Psyche ist kein autonomes Gebilde, sondern irreduzibel gebunden an die jeweils verbreiteten Kulturtechniken der Wissensverarbeitung.3 Aus diesem Grund musste es eine tiefgreifende Veränderung hervorrufen, als Psychologen und Psychiater in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu übergingen, die geistigen Fähigkeiten und überhaupt die menschliche Leistungsfähigkeit mit experimentellen Methoden zu erfassen und zu quantifizieren, auch in der Absicht, dem Wissenschaftsideal der Naturwissenschaften zu entsprechen.4 Der andere Aspekt, für den sich Stiegler interessiert, die ist Kritik von Psychomacht. Dafür stützt er sich auf Foucaults Begriff der „Subjektivierung“, der einerseits die Unterwerfung unter ein bestimmtes Regime meint, etwa das der Schule 2 Bernard Stiegler, Von der Biopolitik zur Psychomacht, Frankfurt am Main 2009; ders., Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien, Frankfurt am Main 2008. 3 Vgl. Bernard Stiegler, Denken bis an die Grenzen der Maschine, Zürich/Berlin 2009, S. 66. Er spricht nicht von „Kulturtechnik“, sondern nur von „Technik“, doch ähneln sich die Konzepte insofern, als beide Menschen, Artefakte, Zeichen und Verfahren in Beziehung setzen; vgl. Harun Maye, „Was ist eine Kulturtechnik?“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 1/2010, S. 121-135. 4 Stiegler, Psychomacht, S. 92. Einen Überblick der damaligen Experimentalfelder geben Emil Kraepelin (Hg.), Psychologische Arbeiten, Leipzig 1895-1928; Wilhelm Wundt, Grundriss der Psychologie, Leipzig 1896; aus der Sekundärliteratur seien genannt Rudolf Schmid, Intelligenz- und Leistungsmessung. Geschichte und Funktion psychologischer Tests, Frankfurt am Main 1977, S. 4578; Kurt Danziger, Constructing the Subject. Historical Origins of Psychological Research, Cambridge 1990; Philipp Sarasin/ Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998; Anson Rabinbach, Motor Mensch. Energie, Ermüdung und die Ursprünge der Modernität, Wien 2001, S. 147-174; Gerhard Benetka, Denkstile der Psychologie. Das 19. Jahrhundert, Wien 2002, S. 6173, 79-88; Michael Hagner, Der Geist bei der Arbeit, Göttingen 2006; Katja Patzel-Mattern, Ökonomische Effizienz und gesellschaftlicher Ausgleich. Die industrielle Psychotechnik in der Weimarer Republik, Stuttgart 2010, S. 12-27.
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SUBJEKTIVIERUNG DER RECHTSPRECHUNG?
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oder einer wissenschaftlichen Disziplin, andererseits aber auch vorsieht, dass die dabei erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Mündigkeit und Kritikfähigkeit beitragen.5 Subjektivierung ist darum ein zutiefst ambivalenter Prozess des „Leute Zurechtmachens“ (Ian Hacking), der immer in seinem spezifischen Kontext betrachtet werden muss, möchte man die Handlungsspielräume der Akteure adäquat beurteilen. Auffällig ist, dass Stiegler eine solche Kontextualisierung vermeidet und sich stattdessen mit der Behauptung eines universellen Aufmerksamkeits- und Mündigkeitsverlusts begnügt, die empirisch kaum zu überprüfen sein dürfte; seine Gesellschaftsdiagnose beruht letztlich auf philosophischer Spekulation. Interessant an seinen Texten als solchen ist, dass sie eins deutlich machen: Psychomacht bleibt nicht unhinterfragt, sondern fordert Stellungnahmen und Widerspruch heraus, sie kann unter Umständen auch erfolgreich zurückgewiesen werden.6 Im Folgenden möchte ich diese beiden Aspekte – die kulturtechnische Bedingtheit der Psyche und die Zurückweisung von Psychomacht – an einem historischen Fallbeispiel nachvollziehen: der „Subjektivierung“ von Richtern im Straf- und Zivilrecht um 1900 (also relativ zu Beginn des von Stiegler konstatierten Prozesses), die insbesondere durch die Experimentalisierung und Verbreitung psychologischen Wissens vorangetrieben wurde. Zur Terminologie: Subjektivierung bedeutet, dass Richter mit psychologischem Wissen und der Forderung, dieses in der Gerichtspraxis anzuwenden und selbst auch zu verinnerlichen, konfrontiert wurden.7 Somit trifft auch der Ausdruck „Psychologierung“ des Richters zu, insofern darunter die Ausdifferenzierung der Juristenpsyche unter wissenschaftlichen Vorzeichen verstanden wird. Diese Ausdifferenzierung gehörte zu der von dem Psychologen William Stern konstatierten „Psychologisierung des gesamten menschlichen Lebens“.8 Meine These lautet, dass der Subjektivierung von Strafrichtern mit psychologischen Mitteln nur wenig Erfolg bescheiden war, weil sie dem elitären Selbstverständnis der Juristen widersprach. Dabei schließe ich mich ausdrücklich nicht der gängigen Auffassung an, Richter und psychologische Sachverständige hätten um die Deutungsmacht im Gerichtssaal konkurriert;9 die Gründe für die von mir beschriebene 5 Stiegler, Psychomacht, S. 29-34, 45-48. Ähnlich, wenn auch präziser argumentiert Christoph Menke, „Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz“, in: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, hg. v. Axel Honneth/Martin Saar, Frankfurt am Main 2003, S. 283-299. 6 Für eine exemplarische Analyse vgl. Andreas Gelhard, Kritik der Kompetenz, Zürich, 2011. 7 Zum Begriff der Subjektivierung vgl. Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow (Hg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1987, S. 183-198; Ulrich Bröckling, „Das demokratische Panoptikon. Subjektivierung und Kontrolle im 360°-Feedback“, in: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, hg. v. Axel Honneth/Martin Saar, Frankfurt am Main 2003, S. 77-93, sowie die Beiträge von Bröckling und Saar in diesem Band. 8 William Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung. An Stelle einer dritten Auflage des Buches: Die Intelligenzprüfung an Kindern und Jugendlichen, Leipzig 1920, S. 45 f. Da Stern selbst erheblich an dieser Psychologisierung beteiligt war, kann von einer self-fulfilling prophecy gesprochen werden. 9 Vgl. jüngst den Sammelband von Mathias Schmoeckel (Hg.), Psychologie als Argument in der juristischen Literatur des Kaiserreichs, Baden-Baden 2009, für den die These von der Konkurrenz
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RUBEN HACKLER
Auseinandersetzung zwischen Juristen und Psychologen sind in erster Linie auf der symbolisch-identitären Ebene zu suchen. Im Zivilrecht hingegen stieß psychologisches Wissen auf Zuspruch, was hauptsächlich mit der internen Kritik an der „Wirklichkeitsferne“ der Rechtsprechung zu erklären ist. Die Rechtsprechung müsse, so die im „Methodenstreit“ erhobene Forderung, ‚sozialpsychologischer‘ als bisher werden. Sozialpsychologie ist dabei nicht fachterminologisch zu verstehen, sondern dem Wortsinn nach: Die zivile Rechtsprechung sollte im Modus einer soziologisch oder (sozial-)psychologisch verfahrenden Beurteilung auf soziale Belange und gesellschaftliche Veränderungen Rücksicht nehmen.10 Zu meiner eigenen Methode der Quelleninterpretation: Ausgehend von den verwendeten Quellen, Beiträge aus juristischen und psychologischen Zeitschriften sowie Monographien, wird Subjektivierung im Sinne Louis Althussers als „Anrufung“ (franz. interpellation) gedeutet, das Psychowissen in die Rechtspraxis zu übernehmen. Nach Althusser sind Anrufungen autorisierte Sprechakte, die einen aufgrund ihrer Autorisierung nicht unberührt lassen, sondern abhängig von der jeweiligen Situation und vom Kräfteverhältnis der beteiligten Akteure positive oder negative Reaktionen auslösen.11 Während sich die Psychologen auf ihre (nicht immer ganz aussagekräftigen) Forschungsergebnisse beriefen, um ihren Vorstoß ins rechtliche Feld zu legitimieren, stützten sich die Juristen entweder auf die prozessrechtlich verankerte Machtstellung des Strafrichters und besiegelten damit ihre ablehnende Haltung gegenüber psychotechnischen Verfahren, oder sie verwiesen im Gegenteil auf gesellschaftliche Belange, die ein sozialpsychologisches Element im Zivilrecht begründen sollten. Der Aufsatz gliedert sich in vier Kapitel: Zunächst möchte ich in typologischer Absicht auf die theologisch-moralische Gewissensprüfung in der Aufklärung eingehen, um die historische Neuartigkeit psychologisierender Anrufungen zu markieren und gleichzeitig auf eine wichtige Kontinuität hinzuweisen: das unter Juristen verbreitete elitäre Selbstverständnis (II.). Dann geht es um die Situation im Strafrecht rund einhundert Jahre später, die geeignet ist, die Komplexität von Subjektivierungsprozessen wie auch deren Zurückweisung an einem paradigmatischen Fall aufzuzeigen (III.). Anschließend soll das Zivilrecht untersucht werden, das für um Deutungsmacht leitend ist. Zwar ist die Konkurrenz an sich nicht zu bestreiten, doch erscheint es mir lohnender, das Verhältnis von Recht und Psychologie aus einem interdisziplinären Blickwinkel zu betrachten; vgl. zusammenfassend Miloš Vec, „Die Seele auf der Bühne der Justiz. Die Entstehung der Kriminalpsychologie im 19. Jahrhundert und ihre interdisziplinäre Erforschung“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 3/2007, S. 235-254; und die programmatischen Überlegungen von Philipp Sarasin, „Was ist Wissensgeschichte?“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1/2011, S. 159-172. 10 Zur Herausbildung der Sozialpsychologie um 1900 vgl. Robert M. Farr, The Roots of Modern Social Psychology 1872-1954, Oxford 1996, S. 17-36. 11 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. 1. Halbband: Michel Verrets Artikel über den „studentischen Mai“. Ideologie und ideologische Staatsapparate. Notiz über die ISAs, Hamburg 2010, S. 88-91. Der Akzent auf der Autorisierung ergibt sich aus Althussers oft zitiertem Beispiel des Polizisten, der jemanden auf der Straße anspricht – „anruft“ – und über ausreichend Sanktionsmacht verfügt, um nicht kurzerhand ignoriert zu werden.
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SUBJEKTIVIERUNG DER RECHTSPRECHUNG?
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einen positiven, wenngleich oberflächlichen Bezug auf den humanwissenschaftlichen Diskurs steht (IV.). Im Schluss will ich noch einmal darauf eingehen, warum der von mir vorgeschlagene Analysemodus eine Alternative zu kulturpessimistischen Sichtweisen wie der Stieglers ist (V.).
2. Anrufung des Gewissens um 1800 Psychotechnische Verfahren kommen im Recht nicht erst in der Zeit um 1900 auf, sie finden sich weitaus früher. So gab es in Deutschland bereits im 18. Jahrhundert eine nennenswerte psychiatrische Gutachtertätigkeit im Rahmen von Gerichtsprozessen, die begleitet wurde von der öffentlichen Reflexion auf die Schattenseiten des bürgerlichen Selbst, an der sich auch Juristen beteiligten.12 Aufklärung meinte nicht nur Erforschung der äußeren Natur und Kritik an den herrschenden Zuständen, sondern auch intensive Erkundung des Seelenlebens, der als unsicher geltenden ‚inneren Natur‘ des Menschen. Bevorzugter Ort für diese „Selbst-Beschäftigung“ waren populäre Journale, etwa das von Karl Philipp Moritz begründete Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793), und Texteditionen mit gerichtsmedizinischen Gutachten oder Kriminalfällen wie die von dem Juristen Paul Johann Anselm von Feuerbach herausgegebenen Merkwürdigen Criminal-Rechtsfälle (1808-1811); Zweck solcher Publikationen war, Einblick zu geben in menschliche Grenzzustände und in die verwickelte Motivlage straffällig gewordener oder in anderer Hinsicht devianter Personen. Ein performatives Element sticht in diesen Texten besonders hervor: das Bekenntnis zu ungewöhnlichen, extrem verlaufenden seelischen Anwandlungen, die mit der Gefahr eines Kontrollverlusts einhergingen und deshalb angstbesetzt waren,13 oder das Geständnis zu einer Straftat, wegen derer man sich vor Gericht zu verantworten hatte. Solche publizistisch aufbereiteten Bekenntnis- beziehungsweise Geständnispraktiken bestärkten die obrigkeitlichen Versuche, das Gewissen – forum internum – mit seiner religiös-moralisch-juridischen Bedeutungsgeladenheit und seiner topologischen Innen/Außen-Differenz, die zu Überschreitungen in beide Richtungen einlädt (Geständniszwang, aber eben auch Wahrhaftigkeit), als maßgebliche handlungsanleitende Instanz zu etablieren. In seiner Untersuchung zur Entstehung des modernen Gewissens ist Heinz Dieter Kittsteiner zu dem überzeugenden Schluss ge12 Vgl. Esther Fischer-Homberger, Medizin vor Gericht. Zur Sozialgeschichte der Gerichtsmedizin, Darmstadt 1988, S. 148-165; Doris Kaufmann, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die „Erfindung“ der Psychiatrie in Deutschland, 1770-1850, Göttingen 1995, S. 312 ff.; Maren Lorenz, Kriminelle Körper – gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999. 13 Ein gutes Bespiel ist die Erzählung „Johann Hahn tötet seine von ihm schwangere Geliebte“ im 1. Band der Criminal-Rechtsfälle. Zur virulenten Angst vor Kontrollverlust vgl. Martina Kessel, „Das Trauma der Affektkontrolle. Zur Sehnsucht nach Gefühlen im 19. Jahrhundert“, in: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, hg. v. Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten, Köln/Weimar 2000, S. 156-177.
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kommen, dass es meist bei solchen Versuchen geblieben sein muss, weil die Landbevölkerung kaum dazu zu bewegen war, den obrigkeitlichen Normen freiwillig Folge zu leisten – hierfür bedurfte es weiterhin direkter oder indirekter Formen der Sozialdisziplinierung.14 Die Zielgruppe der Gewissensanrufung war zunächst die Obrigkeit selbst, die sich freiwillig auf das Leitbild einer gesetzeskonformen Selbstführung verpflichten sollte.15 Um 1800 verband sich im Recht die mit dem Gewissensdiskurs verknüpfte Verantwortlichkeits- und Schuldthematik zusätzlich mit psychiatrischen Konzeptionen wie das der „Manie“ und der „Simulation“, die den medizinischen Sachverständigen (Kreisärzte, Vertreter der medizinischen Fakultäten) einen erweiterten Geltungsbereich zuwiesen.16 Das Verhältnis zwischen Richtern und Medizinern in dieser Zeit war verhalten-kooperativ: Während auf theoretischer Ebene kontrovers über den Status medizinischer Expertise gestritten werden konnte, drang das neue Krankheitswissen langsam aber sicher in die Gerichtsurteile ein. Juristen und besonders Mediziner waren bemüht, nicht zu sehr in den Aufgabenbereich des jeweils anderen einzugreifen,17 wobei eine Machtasymmetrie zu konstatieren ist, denn von medizinischer Seite wurde häufig beklagt, bei Gericht nicht die ihr eigentlich zustehende Anerkennung zu bekommen. Diese Klage führt zu dem neben dem Gewissen hier zweiten wichtigen Punkt, dem geringen Interesse der Juristen an medizinischem oder psychologischem Wissen. So stellte der renommierte Kieler Juraprofessor Nikolaus Falck fest: „Manche [medizinischen, forensischen] Thatsachen sind der Art, daß jeder verständige Mensch darüber urtheilen kann, und insofern darf auch der Richter nach seiner eignen Kenntnis von der Sache und nach eingenommenen Augenschein darüber entscheiden. Liegen aber die zur Beurtheilung des Factischen erforderlichen Kenntnisse außer dem Kreise der allgemeinen Erfahrung, so ist es dem Richter weder gestattet, ohne das Gutachten von Sachverständigen, über die Thatsache zu entscheiden, noch kann es ihm zugemuthet werden, sich solche besondere Kenntnisse zu verschaffen.“18
Ich habe in den Quellen keine Hinweise entdecken können, dass diesem programmatischen Desinteresse aus den eigenen Reihen ernsthaft widersprochen worden wäre, weder in der Theorie noch in der Praxis. Der Tendenz nach arbeiteten Juristen und Mediziner soweit zusammen, wie sie es in pragmatischer Hinsicht für geboten hielten. Dies hatte, wissenssoziologisch betrachtet, zwei Gründe: Erstens wa14 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt am Main 1991, S. 293-331, insb. S. 328; vgl. auch Hans Reiner, „Gewissen“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3: G-H, hg v. Joachim Ritter, Basel/Stuttgart 1974, Sp. 574-592. 15 Kittsteiner, Entstehung, S. 15. 16 Kaufmann, Selbsterfahrung, S. 319 f., Fischer-Homberger, Medizin vor Gericht, S. 156-164. 17 Für die medizinische Seite vgl. Adolph Henke, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Zum Behuf akademischer Vorlesungen und zum Gebrauch für gerichtliche Ärzte und Rechtsgelehrte, Berlin 1841: 10. Aufl., S. 10, und für die juristische Ludwig Pfister, Merkwürdige Criminalfälle mit besonderer Rücksicht auf die Untersuchungsführung. Bd. 5, Frankfurt am Main 1820, S. 610 f. 18 Nikolaus Falck, Juristische Encyclopädie, auch zum Gebrauche bei academischen Vorlesungen, Kiel 1821, S. 312.
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ren Gerichtsmedizin und Psychiatrie zu schwach institutionalisiert, um die Juristen im Falle einer gegensätzlichen Meinung zwingen zu können, sich ihren fachlichen Standpunkt zu Eigen zu machen.19 Die im 18. Jahrhundert angestrebte, aber erst im 19. Jahrhundert einigermaßen realisierte Professionalisierung des Hygiene- und Gesundheitswesens hatte zunächst einmal zum Ziel, den akademischen Doktortitel zur verbindlichen Voraussetzung für ärztliche Tätigkeiten zu machen und die große Gruppe der sogenannten „Pfuscher“ an den Rand des medizinischen Feldes zu drängen.20 Psychologie als eigenständiges Fach mit direktem Anwendungsbezug existierte ohnehin noch nicht. Zweitens wäre überhaupt erst zu klären gewesen, worauf sich der Begriff der „besonderen Kenntnisse“ beziehen sollte. Um diese Frage in eine konkrete Richtung zu lenken, möchte ich analytisch drei Aspekte des Falck’schen Kenntnisbegriffs unterscheiden, die auch im Anschluss noch eine Rolle spielen werden, vor allem der letzte: 1.) die Verbreitung medizinischer und psychologischer Wissensbestände, die allgemeiner Natur waren und daher für ganze Klassen von Fällen Geltung beanspruchten; 2.) die Expertise auf der Grundlage von Einzelfällen, die per definitionem nur eine begrenzte Anwendung gestattete; 3.) der Transfer humanwissenschaftlicher Verfahren der Wissenserzeugung in die Rechtspraxis, die anderen Regeln folgte und über eine eigene Subjektkonzeption verfügte. Wie bereits ausgeführt, setzte sich die Expertise auf der Grundlage von Einzelfällen mit der Zeit immer mehr durch, sie wurde bei Gericht als willkommene Unterstützung gesehen, schwierige Fälle zu bearbeiten und einen Teil der Verantwortung an die medizinischen Sachverständigen abzugeben. Strittiger erschienen die allgemeinen Erkenntnisse der Humanwissenschaften, da sie sich nicht reibungslos in das psychologische Alltagswissen der Juristen fügten, das diese auch hundert Jahre später noch für mehr oder minder ausreichend hielten, um ihre Fälle zu entscheiden.21 Schlussendlich hing es stark von den lokalen Gegebenheiten und individuellen Interessen des Richters ab, inwieweit die Resultate humanwissenschaftlicher Forschung zur Kenntnis genommen und bei der Urteilsfindung in Erwägung gezogen wurden. Über den dritten Aspekt, den Transfer medizinischer oder psychologischer Verfahren der Wissenserzeugung in die Rechtspraxis, der, wenn überhaupt, weitgehend sporadisch erfolgt sein dürfte, ist kaum etwas bekannt. Foucault hat in seiner Vorlesung Die Wahrheit und die juristischen Formen unter dem Stichwort „Untersuchung“ [franz. enquête] auf mittelalterliche Untersuchungstechniken hingewiesen, 19 Vgl. Hans-Heinz Eulner, Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebiets, Stuttgart 1970, 159–179. 20 Vgl. Johann Friedrich Faselius, Gerichtlichte Arzeneygelahrtheit. Vornehmste Materien des bürgerlichen criminal- und geistlichen Rechts, nach denen neuesten und besten medicinischen Grundsätzen erläutert und erklärt, Leipzig/Budizin 1770, S. 2; Thomas H.Broman, The transformation of German academic medicine 1750-1820, Cambridge 1996, S. 13-42; Calixte Hudemann-Simon, Die Eroberung der Gesundheit 1750–1900, Frankfurt am Main 2002. 21 Vgl. Friedrich Stein, Das private Wissen des Richters. Untersuchungen zum Beweisrecht beider Prozesse, Leipzig 1893.
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die kirchlichen und monarchischen Ursprungs waren und ein „rationales System der Wahrheitsfindung“22 abgaben, doch steht meines Wissens nach ihre Verknüpfung mit den frühneuzeitlichen Humanwissenschaften innerhalb des Rechts noch aus. Erschlossen ist bislang das physiognomische Wissen der Kriminologie, dem von Beginn an ein gravierender Makel anhaftete, denn es unterlag (und unterliegt) der reinen Willkür, die vermeintliche Schulddisposition einer Person an ihrem Gesicht oder ihrer Kopfform Blick abzulesen.23
3. Subjektivierung im Strafrecht: um 1900 „Welche Herabwürdigung wäre es auch für den Richter, wenn er nicht mehr allein über die Glaubwürdigkeit der Zeugen entscheiden dürfte.“24
Im Kaiserreich war die Verantwortlichkeits- und Schuldfrage nicht aus dem Recht verschwunden, doch musste sie gegen Cesare Lombrosos kriminalanthropologischen Denkstil und seine juristischen Fürsprecher, unter anderem den Berliner Strafrechtsprofessor Franz von Liszt, verteidigt werden. Sie unterstellten bestimmten Tätergruppen eine natürliche Veranlagung zu verbrecherischen Handlungen; Individuen, die diesen Gruppen angehörten, sollten, anstatt unter das allgemeine Strafrecht zu fallen, als „gemeingefährlich“ und „unverbesserlich“ eingestuft werden, um die Gesellschaft dauerhaft vor ihnen schützen zu können.25 Im Klartext: Ihnen wurde die Handlungs- respektive Willensfreiheit abgesprochen. Ungeachtet fachlicher Einwände gegen ihre deterministische Schlagseite bekam die Kriminalanthropologie nicht zuletzt deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil der theologischmoralische Gewissensdiskurs, der das Prinzip der Haftresozialisierung begründete, kaum Effekte zeitigte und die hohen Rückfallquoten ein konstantes kriminalpolitisches Ärgernis blieben.26
22 Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen. Mit einem Nachwort von Martin Saar, Frankfurt am Main 2003, S. 72. 23 Vgl. Peter Becker, „Physiognomie aus kriminologischer Sicht. Von Lavater und Lichtenberg bis Lombroso und A. Baer“, in: Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß, hg v. Gert Theile, Paderborn 2005, S. 93-124; ders., „‚Recht schreiben‘ – Disziplin, Sprachbeherrschung und Vernunft. Zur Kunst des Protokollierens im 18. und 19. Jahrhundert“, in: Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte, hg. v. Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa, Frankfurt am Main 2005, S. 50-76. 24 Ernst Sontag, „Kriminalpsychologische Versuche im Gerichtssaal“, in: Deutsche Juristen-Zeitung, 1/1907, Sp. 66 f., hier Sp. 66 (Herv. v. mir). 25 Cesare Lombroso, Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, 3. Bde., Hamburg 1887-1896; Richard Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology 1880-1945, Chapel Hill 2000, S. 33-38, 79-83. 26 Georg Rusche/ Otto Kirchheimer, Sozialstruktur und Strafvollzug, Frankfurt am Main 1974, Désirée Schauz, Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777-1933, München 2008.
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Zusammen mit der Kriminalanthropologie etablierten sich zwei weitere Wissensfelder, die direkt an das Recht angrenzten: die Soziologie, auf die im nächsten Kapitel näher einzugehen sein wird, und die experimentelle Psychologie. Ein wichtiger Strang der Psychologie, die beim Individuum und seinen kognitiven Fähigkeiten ansetzende „Differentialpsychologie“ William Sterns (1871-1938),27 formierte sich im Austausch mit zwei Arbeitsfeldern des Strafrechts: der Tatbestandsforschung und der Aussagepsychologie. Sterns interdisziplinäre Zeitschrift Beiträge zur Psychologie der Aussage. Mit besonderer Berücksichtigung von Problemen der Rechtspflege, Pädagogik, Psychiatrie und Geschichtsforschung, erschienen in den Jahren 1903-1906 und dann überführt ein Periodikum mit engerem Themenfokus,28 enthielt eine Reihe von Aufsätzen zur juristischen Relevanz der Psychologie, teilweise verfasst von Juristen, die selbst Experimente im Hörsaal durchgeführt hatten. Stern und andere Psychologen unterbreiteten ausgehend von ihrer Forschung Vorschläge, wie die Strafprozessgebung zu verändern sei, um den wissenschaftlichen Maßstäben ihres Faches gerecht zu werden, doch hatten sie damit keinen unmittelbaren Erfolg. Das Anliegen Sterns und seiner Kollegen musste an einem entscheidenden rechtspolitischen Hindernis scheitern: der 1879 in Kraft getretenen Strafprozessordnung (StPO). § 260 der StPO ging vom Prinzip der „freien Beweiswürdigung“ aus, das dem Richter gestattete, sich „nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Ueberzeugung“ auf die Expertise von Sachverständigen zu stützen, ihm blieb also de jure das letzte Wort. Auch wenn darüber diskutiert wurde, wie „frei“ diese „Ueberzeugung“ tatsächlich sein durfte, war für die standespolitisch bewussten Juristen klar, sich den richterlichen Handlungsspielraum nicht von außerjuristischen Akteuren vorschreiben zu lassen. Wenig verwunderlich, dass es unter den deutschsprachigen Juristen auch nur wenige gab, die sich systematisch mit der Psychologie beschäftigten und für einen fachübergreifenden Austausch auf gleicher Augenhöhe eintraten. An erster Stelle ist der Österreicher Hans Gross (1847-1915) zu nennen, der als Untersuchungsrichter und Staatsanwalt arbeitete, bevor er auf eine Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht in Czernowitz und anschließend Prag berufen wurde.29 Er besprach Ergebnisse der psychologischen Forschung in der angesehenen Deutschen JuristenZeitung,30 veröffentlichte eine Monographie mit dem Titel Criminalpsychologie, die ausführlich die „psychische Tätigkeit“ von Richtern und Vernommenen darlegte, und gab das breitenwirksame Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik (1898-1916) heraus, in dem regelmäßig psychologische Fragen diskutiert wurden.
27 Zu Stern vgl. die populärwissenschaftliche Biographie von Martin Tschechne, William Stern, Hamburg 2010. 28 William Stern/ Otto Lipmann (Hg.), Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, Leipzig 1908-1915. 29 Zum akademischen Werdegang Gross’ vgl. Lukas Gschwend, Justitias Griff zur Lupe. Zur Verwissenschaftlichung der Kriminalistik im 19. Jahrhundert, Graz 2004, S. 59-64. 30 Vgl. etwa Hans Gross, „Beiträge zur Psychologie der Aussage“, in: Deutsche Juristen-Zeitung, 6/1906, Sp. 385.
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In der Criminalpsychologie argumentierte Gross sowohl von der Warte des praktisch geschulten Untersuchungsrichters als auch des theoretisch informierten Wissenschaftlers, wenn er seine Kollegen aufforderte, kriminalpsychologisches Wissen zu rezipieren, um effektiver zu ermitteln. Er beklagte ihre einseitige Fixierung auf gesetzliche Normen und bezog einen naturwissenschaftlichen Standpunkt, der auf der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“31 gründete, von der die Psychologen wie auch die Verfechter der Kriminalanthropologie profitierten: „Lange genug haben wir uns auf das Studium unserer Normen beschränkt, nun gehen wir an das exakte Studium des Materials; freilich bedeutet dies eine Umkehr und ein Beginnen mit dem, was zuerst hätte geschehen sollen, aber die Naturwissenschaften, die wir uns zum Muster nehmen, haben dies auch tun müssen und tun es jetzt ehrlich offen. Die alte Medizin hat zuerst das Universalmittel gesucht und Theriak [Medikament auf Opiumbasis] gekocht, die heutige Medizin seziert, mikroskopiert und experimentiert“.32
Das in Aussicht gestellte „exakte Studium des Materials“ lehnte sich eng an die Praxis naturwissenschaftlichen Experimentierens an, der Untersuchungsrichter sollte im Verhör beziehungsweise in der Zeugeneinvernahme die Aussagebedingungen beliebig variieren wie ein Experimentator im Labor, um nicht nur annähernde, sondern „objektiv richtige“33 (Mess-)Ergebnisse zu erzielen. Gross übersetzte die verbrecherische Handlung und ihre Vorgeschichte ins Sprachspiel humanwissenschaftlicher Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten, für das sich nicht grundlos die Psychologen zuständig erklärten. An Bedeutung verlor bei ihm das know-how des Richters, insbesondere seine Fähigkeit, Charakterunterschiede und andere individuelle Besonderheiten zu erkennen, die schwer zu explizieren war, weil sie im Laufe der Erziehung und bei der Arbeit erworben wurde.34 Sie sollte ergänzt werden durch stärker standardisierbare Verfahren wie etwa Max Wertheimers ausgeklügelte „Assoziationsmethode“, die sich dadurch auszeichnete, jemanden allein durch assoziative Wortfolgen und nebensächlich wirkende Fragen zu veranlassen, seine Schuld oder die Kenntnis über einen Tathergang zu verraten; andere Verhörtechniken wie das Bedrängen eines Tatverdächtigen, die stärker von der Persönlichkeit des Untersuchungsrichters abhingen, rückten hierbei in den Hindergrund.35
31 Lutz Raphael, „Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“, in: Geschichte und Gesellschaft, 2/1996, S. 165-193. 32 Hans Gross, Kriminalpsychologie, Leipzig 1905: 2. Aufl., S. 15 (Herv. v. mir). 33 Ebd., S. 14. 34 Vgl. hierzu Carlo Ginzburg, „Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst“, in: ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7-57; Wolfgang Schäffner/ Sigrid Weigel/ Thomas Macho (Hg.), „Der liebe Gott steckt im Detail“. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003. 35 Vgl. Max Wertheimer, „Über die Assoziationsmethoden“, in: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik, 1906, S. 293-319.
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Für Gross’ Ansatz sprach, dass er zwei eigentlich schwer vereinbare Objektivitätskonzeptionen zusammenführte: die von Naturwissenschaftlern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bevorzugte „mechanische Objektivität“, die sich auf technische Verfahrensweisen stützte und von der als unzuverlässig wahrgenommenen Subjektivität des Forschers weitgehend abstrahierte, und das „geschulte Expertenurteil“, dem ebenfalls Objektivität zugesprochen wurde, weil es auf standardisierten Wahrnehmungs- und Denkweisen beruhte.36 Trotzdem konnten sich Gross und Stern mit ihren Vorschlägen im rechtswissenschaftlichen Diskurs nicht durchsetzen. Das Versprechen, die Strafverfolgung mittels psychologischer Befragungstechniken zu verbessern, verfing nicht. So erklärte Albert Hellwig, Richter am Landgericht Potsdam, in seiner Einführung in die forensische Psychologie von 1927 den Erwerb psychoforensischen Wissens weiterhin auf eine Weise, die verglichen mit der planvollen Methodenausbildung der Psychologie rückständig, wenn nicht gar „vorwissenschaftlich“ anmuten musste: „Wer der rechten Blick für Menschen und Dinge hat, wer sich in andere einzufühlen vermag, wem Begabung für die Kunst der Menschenbehandlung eigen ist, wer in diesem Sinne ein ‚Psychologe‘ ist, der wird im Laufe der Jahre aus seiner praktischen Erfahrung heraus die wichtigsten Grundregeln der forensischen Psychologie von sich aus erarbeiten.“37 Dass praktizierende Juristen wie Hellwig auf ihren intuitiven Fähigkeiten beharrten, hatte mehrere Gründe: 1.) Die experimentelle Psychologie stand erst am Anfang und konnte kaum Ergebnisse vorweisen, die sich unvermittelt auf die Rechtspraxis übertragen ließen. Stern lieferte zum Beispiel den statistischen Nachweis, dass die menschliche Auffassungs- und Merkfähigkeit bis zum einem gewissen Grad immer fehlerhaft sei, doch half diese anthropologische Konstante wenig dabei, die Verlässlichkeit einzelner Personen oder Aussagen zu beurteilen. 2.) Der naturwissenschaftlich-deterministische Denkstil der Kriminalanthropologie relativierte mit der Handlungsfreiheit eine für das Strafrecht zentrale Kategorie, weshalb kein Interesse bestand, auch noch die richterliche Handlungsfähigkeit experimentell zu überprüfen und womöglich der Kritik preiszugeben.38 Das gesellschaftliche Wertesystem, das unbescholtene Bürger zur allgemeinverbindlichen Norm erhob und Straftäter am unteren Ende der Sittlichkeitsskala ansiedelte, korrelierte mit der epistemischen Asymmetrie, die Intelligenz und Urteilsfähigkeit von Verbrechern, besonders der „unverbesserlichen“, grundsätzlich und mit Nachdruck zu problematisieren, die von Richtern aber bestenfalls oberflächlich, um ihnen nicht ihre Glaubwürdigkeit zu entziehen. Daraus erklärt sich, warum speziell Richter in 36 Vgl. Lorraine Daston/ Peter Galison, Objektivität, Frankfurt am Main 2007, S. 127-132, 340366. Wertheimers Assoziationsmethode ist ein Paradebeispiel für mechanische Objektivität in der Psychologie. 37 Albert Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik bei Tatbestandsermittlungen. Eine Einführung in die forensische Psychologie für Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte, Sachverständige und Laienrichter, Berlin 1927, S. 20 (alle Herv. v. mir). Zur Methodenausbildung in der Psychologie vgl. Kurt Danziger, „The Origins of the Psychological Experiment as a Social Institution, in: American Psychologist, 2/1985, S. 133-140. 38 Auf dieses Spannungsverhältnis hat mich Beat Bächi hingewiesen.
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Sterns Beiträgen nur selten als Untersuchungsobjekte einbezogen und, falls doch, die Ergebnisse zu ihren Gunsten ausgelegt wurden.39 3.) Der Transfer von Psychotechniken ins Strafrecht war in den Augen vieler Juristen nicht der Wahrheitsfindung dienlich, sondern lief auf zeitraubende, letztlich unproduktive Mehrarbeit hinaus. An diesem Punkt ist jedoch Skepsis angebracht, denn wie pragmatisch ein Richter vorging, spielte eine untergeordnete Rolle, solange er nicht gegen das Prozessrecht verstieß. Nach §171 der StPO hatten Strafrichter im Zweifelsfalle selbständig anzuordnen, was die Aufklärung des Tatbestandes voranbringen könnte. Der Vorwurf an die Adresse der Psychologie, nicht praktikabel zu sein, war kaum mehr als ein bequemer Vorwand, sich nicht die Methoden einer prozessrechtlich und in der universitären Fächerhierarchie untergeordneten Disziplin aneignen zu müssen, denn das hätte bedeutet, die eigenen Schwächen symbolträchtig einzugestehen. Deshalb sprach der am Anfang dieses Kapitels zitierte Amtsrichter Ernst Sontag emphatisch von „Herabwürdigung“, er verteidigte die herausragende Position des Richterstandes. Das Strafrecht um 1900 ist ein historisches Beispiel, wie die Anrufung von Psychologen und Kriminologen, die richterliche Leistungsfähigkeit durch die Anwendung von Psychowissen zu steigern, abgewehrt wurde. Es würde sich aber nicht um eine gute Subjektivierungsgeschichte handeln, wenn die Situation so eindeutig zuungunsten des Psychowissens ausgefallen wäre. Darum möchte ich auch auf das Zivilrecht zu sprechen kommen, dessen Vertreter teilweise aufgeschlossener gegenüber den Humanwissenschaften waren.
4. Der soziologisch informierte Zivilrichter Während sich in Deutschland die universitäre Soziologie etablierte, entstanden auch im Zivilrecht soziologisch und sozialpsychologisch inspirierte Denkansätze, die in der Forschung unter den Schlagworten „Freirechtsschule“ und „Interessenjurisprudenz“ abgehandelt werden.40 Die politisch-moralische Hypothek dieser Reformbewegung ist enorm, denn sie setzte sich dafür ein, die Entscheidungskompetenz des Richters auszuweiten, auch auf Kosten seiner Gesetzesbindung – eine Forderung, die von der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz, dem „Maßnahmestaat“, der parallel zum bisherigen „Normenstaat“ agierte, auf extreme Weise um-
39 Vgl. Ludwig Wilhelm Weber, „Ein experimenteller Beitrag zur Psychologie der Zeugenaussagen“, in: Beiträge zur Psychologie der Aussage. Mit besonderer Berücksichtigung von Problemen der Rechtspflege, Pädagogik, Psychiatrie und Geschichtsforschung, 1906, S. 462-477; Arno Günther, „Ein Vorgang in der Wiedergabe naiver Zeugen und in der Rekonstruktion durch Juristen“, in: ebd., S. 489-522. 40 Die Verbindung zwischen Soziologie und Recht dokumentiert der erste deutsche Soziologentag, auf dem der Rechtswissenschaft eine von insgesamt sechs Sektionen eingeräumt wurde; vgl. Deutscher Soziologentag (Hg.), Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.-22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge, Tübingen 1911, S. 275-335.
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gesetzt wurde.41 Um die Jahrhundertwende waren die Zukunftsaussichten jedoch noch nicht so düster, weshalb es vertretbar ist, sich hier auf die kultur- und wissenshistorischen Aspekte zu beschränken. Das zivilrechtliche Interesse, sich vermehrt mit humanwissenschaftlichen Perspektiven auf die Rechtspraxis und das Tätigkeitsprofil des Richters zu befassen, hatte zwei Hintergründe: zum einen die interne Kritik am Methodenverständnis der sogenannten „Begriffsjurisprudenz“, der vorgeworfen wurde, rein logisch-formalistisch, das heißt wirklichkeitsfremd und deshalb untauglich für eine mit immer komplexeren gesellschaftlichen Problemen befasste Rechtspraxis zu sein.42 Zum anderen drängte sich nach Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) am 1. Januar 1900 die Frage auf, welche Kriterien in Zukunft für die Rechtsprechung maßgeblich seien. Einer der Hauptdiskussionspunkte war, dass die sprachlich stark reduzierte Ausgestaltung des BGB, die eigentlich als eine große rechtswissenschaftliche Leistung angesehen wurde, Gesetzeslücken zum Vorschein bringe, die vom Richter und dessen Urteilskraft zu füllen seien.43 Nur wie sollte das konkret vonstatten gehen? Die Allgemeinbildung des Richters, sein „privates Wissen“, dessen Vorrangstellung der Prozessrechtler Friedrich Stein in den 1890er Jahren noch mit voller Überzeugung behauptet hatte, schien alleine nicht mehr zu ausreichend zu sein.44 Daher forderten Rechtswissenschaftler wie Hermann Kantorowicz und Praktiker wie der publizistisch aktive Rechtsanwalt Ernst Fuchs, dass Zivilrichter ihre Entscheidungen vermehrt auf der Grundlage soziologischen und sozialpsychologischen Wissens treffen, anstatt die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen und die Belange der Betroffenen weiterhin zu ignorieren. Die Juristin Steffi Heine hat die verschiedenen Argumente für die Reform der Rechtspraxis zusammengefasst und dabei einen harmonistisch-liberalen Deutungsrahmen angelegt: Juristische Theoretiker und Praktiker stritten im Prinzip partnerschaftlich über die richtige Methode, um zu einer konsensfähigen, im Bewusstsein der Akteure rationalen Lösung zu kommen.45 Allerdings ist ein solches Diskursverständnis nur bedingt angemessen, wenn man die Rhetorik der Protagonisten hinzuzieht, die ihre Bücher mit Schlagworten wie Kampf um die Rechtswissenschaft und Juristischer Kulturkampf betitelten und, wie Fuchs, unter Berufung auf Friedrich Nietzsche gerne polemisch wurden, um ihrer Sichtweise Nachdruck zu verleihen.46 Mit anderen Worten, der „juristische Kulturkampf“ war ein von konservativer Kulturkritik durchsetzter „Grundlagenstreit“, in dem die Reform41 Vgl. dazu Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Hamburg 2001. 42 Vgl. etwa Adelbert Düringer, Richter und Rechtsprechung, Leipzig 1909, S. 6 f. 43 Ernst Zitelmann, Lücken im Recht, Leipzig 1903, insb. S. 34 ff. Die Diskussion setzte freilich schon früher ein, vgl. Eugen Ehrlich, „Über Lücken im Recht“, in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, hg. v. Manfred Rehbinder, Berlin 1967, S. 80-169. 44 Stein, Das private Wissen. 45 Steffi Heine, Die Methodendiskussion nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches und die Gründung des „Vereins Recht und Wirtschaft“, Frankfurt am Main 2004. 46 Hermann Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906; Ernst Fuchs, Juristischer Kulturkampf, Karlsruhe 1912.
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vertreter dadurch für ihr Anliegen warben, dass sie beständig das Bild der Justiz als einer von der Wirklichkeit entfremdeten Institution aufriefen.47 Sie appellierten an die im Bürgertum verbreitete Gefühlslage, die negativen Folgen der Moderne, verstanden als zunehmende Rationalisierung, Standardisierung und Technisierung der Arbeits- und Lebenswelt, die über diverse Kanäle auch in die Rechtsprechung eindrang, nicht unbegrenzt verkraften zu können.48 Heines Deutung greift auch deshalb zu kurz, weil sie die Auseinandersetzung auf die Frage nach der richtigen Methode im Sinne einer strategischen Entscheidung reduziert und damit ein rein instrumentelles Praxisverständnis unterstellt, das die Techniken der Rechtsfindung in den Bereich frei wählbarer Präferenzen auslagert. Dagegen spricht, dass in den Texten immer wieder an die inneren Qualitäten des Juristen, sein Sensorium für konkrete Lebensverhältnisse, appelliert wurde. Eugen Ehrlich, der mit Gross in Czernowitz lehrte, begründete auf diesem subjektiven Vermögen die Erzeugung und Anwendung rechtssoziologischen Wissens: „Da die Entscheidungsnormen sich unmittelbar aus den gesellschaftlichen Gestaltungen ergeben, so sind sie selbst gewissermaßen eine Projektion dieser Gestaltungen und können zum großen Teile nicht anders dargestellt werden, als in und mit diesen Gestaltungen. Die Darstellung der Entscheidungsnormen muß daher zugleich eine Darstellung gesellschaftlicher Einrichtungen sein, von Männern entworfen, die solcher Beobachtung ihr Leben gewidmet haben, dafür besonders geschult sind und ein feines Gefühl für die Wirklichkeit der Dinge besitzen.“49
Dieses „feine Gefühl für die Wirklichkeit der Dinge“ war, so Ehrlich, auch für den Richter charakteristisch.50 Gemeint war dessen implizites Handlungswissen, dem, wie gezeigt, auch im Strafrecht große Bedeutung zukam. Worin die „besondere Schulung“ bestehen sollte, behielten Ehrlich und seine Mitstreiter allerdings für sich. Das subjektive Vermögen des Richters wurde nicht, wie durchaus nahe gelegen hätte, bildungssoziologisch hergeleitet, sondern einfach behauptet. Die Texte der Freirechtsbewegung und Interessenjurisprudenz dienten – neben der Artikulation einer allgemeinen Krisenstimmung und ungeachtet der Kritik an der wirklichkeitsfernen Rechtsprechung – dazu, sich der eigenen Fähigkeiten bei der Beurteilung von Menschen und juristischen Sachverhalten rückzuversichern. Für diese Lesart spricht, dass die soziologischen Arbeitstechniken des Richters nur oberflächlich behandelt wurden. Verglichen mit Emile Durkheims Les règles de la 47 Vgl. Heine, Methodendiskussion, S. 12; Düringer, Richter, S. 26 f. 48 Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 175-203; Miloš Vec, Recht und Normierung in der Industriellen Revolution. Neue Strukturen der Normsetzung in Volkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierug, Frankfurt am Main 2006, S. 165-292; ders., „Alle Weltworte streben nach Standardisierung. Vereinheitlichung und Vereinheitlichungskritik in historischer Perspektive“, in: Normen, Standards, Werte – was die Welt zusammenhält, hg. v. Heinz-Dieter Assmann/ Frank Baasner/Jürgen Wertheimer, Baden-Baden 2012, S. 11-33. 49 Eugen Ehrlich, „Soziologie und Jurisprudenz“, in: ders., Gesetz und lebendes Recht. Vermischte kleine Schriften, hg. v. Manfred Rehbinder, Berlin 1986, S. 88-103, hier S. 94 (Herv. v. mir). 50 Vgl. ebd., S. 93.
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SUBJEKTIVIERUNG DER RECHTSPRECHUNG?
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méthode sociologique von 1895, die 1908 auch in deutscher Übersetzung vorlagen, erläuterten die Reformvertreter nicht, wie eine planvolle Beobachtung sozialer Phänomene ablaufen könnte, dies wurde wieder einmal dem Einzelrichter oder dem Richterkollegium überlassen.
5. Schluss Im Zuge der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ sahen sich die Vertreter des Straf- und Zivilrechts mit den Verfahren, Wissensangeboten und immer lauter werdenden Deutungsansprüchen der Humanwissenschaften konfrontiert. Die Reaktionen auf diese Anrufungen fielen unterschiedlich aus: Während im Strafrecht nur wenige bereit waren, die Leistungsfähigkeit der Rechtsprechung durch den Import von Psychowissen zu steigern, konnte sich eine Reihe von Zivilrechtlern für die Übernahme soziologischer Methoden begeistern, doch ließen sie offen, wie deren konkrete Anwendung in der Gerichtspraxis aussehen könnte. In beiden Fällen spielte das implizite Handlungswissen des Richters eine zentrale Rolle: Entweder war es der Grund, sich gegen den Transfer psychologischer Verfahren ins Recht auszusprechen, oder es wurde ins soziologische Sprachspiel überführt, ohne dabei jedoch substanzielle Änderungen zu erfahren. Auch wenn die herangezogenen Quellen nur begrenzt Rückschlüsse auf tatsächliche Praxis erlauben, ist festzuhalten, dass der humanwissenschaftlichen Subjektivierung der Rechtsprechung zu Beginn des 20. Jahrhunderts kein großer Erfolg beschieden war. Die Gründe sind im elitären Selbstverständnis der Juristen zu suchen, das bis in die Frühe Neuzeit zurückzuverfolgen ist, und in der prozessrechtlich gestützten Asymmetrie zwischen Richtern und Humanwissenschaftlern. Welchen Beitrag leistet nun diese historische Analyse zur allgemeinen Diskussion über Subjektivierung? Es sollte deutlich werden, dass sich Stieglers Kritik an der Psychomacht der Programmindustrien und der juristische Umgang mit den Humanwissenschaften insofern ähneln, als beide einen elitären Standpunkt einnehmen: Die Strafrechtler ziehen sich auf ihre überlegene Position im gesellschaftlichen Machtgefüge zurück, während Stiegler die Autorität humanistischer Bildung zurückverlangt, als gäbe es in der Pädagogik nicht schon längst alternative Ansätze.51 Stiegler formuliert darum nicht zufällig eine konservative Kulturkritik, die sich wiederum auch im Zivilrecht finden lässt. Zwingend ist eine solche Positionierung nicht. Was David Gugerli über die geläufige Rede von der „Informationsflut“ geschrieben hat, gilt ebenso für die Anrufungen der Humanwissenschaften: „Wenn wir uns technischen Wandel nicht als etwas vorstellen, was aus unerfindlichen Gründen geschieht oder einfach über Individuen und Organisationen hereinbricht, sondern als etwas, das für Gruppen und Akteure attraktive Vorteile verspricht oder höchst bedrohliche Nachteile mit sich bringt, also von 51 Vgl. den jüngst ins Zentrum der Diskussion gerückten Ansatz von Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien 2007.
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ihnen gewählt oder von ihnen dezidiert abgelehnt wird, dann ist Informationsflut auch nicht mehr der Grund für das informationelle Leiden jener, die diese Vorteile nicht nutzen können oder wollen.“52 Bezogen auf die hier vorgelegte Analyse: Wer ernsthaft Subjektivierungsprozesse kritisieren will, anstatt sich bloß in der Pose des intellektuellen Kritikers zu gefallen, müsste den Blick auf diejenigen Situationen richten, in denen die Akteure ihre Handlungsspielräume zu nutzen wissen. Dass man sich mit den Akteuren identifiziert, ist nicht zwingend; Es kommt darauf an, ihre Handlungsspielräume möglichst präzise nachzuzeichnen, um der Rhetorik der Unvermeidlichkeit etwas entgegenzusetzen.
52 David Gugerli, „Nach uns die Informationsflut. Zur Pathologisierung soziotechnischen Wandels“, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 8: Gesundheit, hg. v. Patricia Purtschert/Jakob Tanner, Zürich 2012, S. 141-146, hier S. 143 f.
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Verantwortung als Subjektivierung Zur Genealogie einer Selbstverständlichkeit Die Behauptung, dass Verantwortung eine Subjektform sowie die Technik zu ihrer Herstellung bezeichnet, wird kaum Erstaunen auslösen.1 Wozu wären all die auf Verantwortung sich stützenden ethisch-moralischen Normen auch gut, wenn sie nicht unsere Subjektivität formen könnten? Dieses Selbstverständnis als verantwortliche Subjekte ist Nietzsches zentralen Angriffspunkt in der zweiten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral. Doch sein Verständnis von Verantwortung als Subjektivierungstechnik und Subjektform war im Kontext des philosophischen Diskurses, in dem er sich selbst verortet, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Der junge Begriff „Verantwortung“ war noch zu eng am Recht orientiert, um ein Selbstverhältnis zu besitzen, und wurde von der Philosophie nur in der metaphysischen Schlacht um die Willensfreiheit gebraucht. Nachdem ich dargestellt habe, dass Nietzsche Verantwortung tatsächlich als Subjektivierungstechnik und Subjektform versteht (1), widme ich mich daher den Herkünften des philosophischen Verantwortungsbegriffs (2), um zuletzt vorzuschlagen, dass Nietzsches „lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit“2 auf Veränderungen der politischen Verwendung von Verantwortung beruht (3).3
1. Verantwortlichkeit in Zur Genealogie der Moral Verantwortung4 herzustellen löst die Aufgabe, mit der Nietzsche die zweite Abhandlung beginnt: „Ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf “.5 Zwei Schwierigkeiten sind zu überwinden: die aktive Kraft der Vergesslichkeit, ohne die der Mensch ein krankes Tier wäre, und die Unberechenbarkeit des Menschen, der
1 Ich greife im Folgenden auf Foucaults Begriff von Subjektivierung und Subjektivierungstechnik zurück (Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste, übers. von U. Raulff und W. Seitter, Frankfurt am Main 2004, S. 9-45). 2 Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, hg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin/München 2010, II/2, S. 293. 3 Einige Abschnitte gehen auf meine unveröffentlichte Dissertation (Frieder Vogelmann, Im Bann der Verantwortung, Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2012) zurück, wurden jedoch stark überarbeitet und dienen hier einer anderen Argumentation. 4 Dem Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts folgend, spricht Nietzsche nahezu nirgends von „Verantwortung“, sondern von „Verantwortlichkeit“ und „Verantwortlichmachen“. 5 Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 292. Alle Hervorhebung entstammen, wo nicht anders vermerkt, dem Original.
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erst „berechenbar, regelmäßig, nothwendig“ werden muss – und zwar auch „für seine eigene Vorstellung“6. Gegen das aktive Vergessen schafft die Mnemotechnik Schmerz ein ebenso aktives Erinnern, denn „nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtniss“7. Doch um die Menschen berechenbar zu machen, bedarf es mehr als Schmerz, obgleich das Gedächtnis eine erste Voraussetzung ist. Wie die Zufälligkeit des Menschen in Notwendigkeit verwandelt wurde, lässt laut Nietzsche nur die Geschichte „jene[r] andere[n] ‚düstre[n] Sache‘“8 erkennen: des schlechten Gewissens. Zwar entsteht es aus anderen Gründen, aber die Genealogie der Verantwortlichkeit zeigt, dass es eine neue strategische Rolle erhält, sobald seine berechenbar-machende Wirkung erkannt wird. Wie die Strafe besitzt auch das schlechte Gewissen einen „flüssigen“ Sinn, so dass seine Entstehungsgründe nicht mit seiner heutigen Funktion übereinstimmen.9 Im ersten von drei Schritten führt Nietzsche „Schuld“ auf die ökonomische Sphäre des Verschuldens und Schulden Bezahlens zurück, in der der Schmerz seinen zweiten Auftritt bekommt. Leiden-Machen ist eine Alternative zur Rückzahlung, weil es „im höchsten Grade wohl that“10, einen „Gegen-Genuss“11 für die entgangenen Schulden bietet. Doch obgleich Grausamkeit für nicht bezahlte Schulden entschädigt, produziert sie kein schlechtes Gewissen. Strafe – laut Nietzsche das Eintreiben von Schulden durch das Gemeinwesen12 – „stärkt die Widerstandskraft“13 und hat damit die „Entwicklung des Schuldgefühls am kräftigsten aufgehalten“14. Das schlechte Gewissen entsteht erst dort, so Nietzsches zweiter Schritt, wo der „Instinkt der Freiheit“15 – die aktive Kraft, die sich als „Wille zur Macht“16 ursprünglich nach außen richtet, etwa um andere zu quälen – sich nicht mehr entladen darf und sich nach innen kehrt, um den Einzigen zu quälen, dessen diese Kraft noch habhaft werden kann: sich selbst. Diese Veränderung habe sich plötzlich und nur unter Zwang ergeben, als „irgend ein Rudel blonder Raubthiere, eine Erobererund Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt“17. Unter
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Ebd. Ebd., S. 295. Ebd., S. 297. Ebd., S. 313–318. Ebd., S. 300 f. Ebd. Ebd., S. 307 f. Ebd., S. 319. Ebd. Ebd., S. 326. Ebd. Ebd., S. 324. Zu Nietzsches Übernahmen rassistischer rhetorischer Figuren wie den „blonden Raubthieren“ und seinem Verhältnis zum Antisemitismus vgl. Yirmiyahu Yovel, Dark Riddle. Hegel, Nietzsche, and the Jews, Cambridge 1998.
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diesem Druck richtet sich der äußerlich bezwungene Wille zur Macht nach innen und schafft die gleiche Lust, die der Gläubiger beim Quälen des Schuldners empfindet, nun durch das Quälen des Selbst. Das „aktivische ,schlechte Gewissen‘“18 geht also aus dem Vergnügen am internalisierten Leiden-Machen hervor und ist eine „Krankheit, wie die Schwangerschaft eine ist“19: Es gebiert dem Menschen eine „Seele“, ein „Innen“, und macht ihn erst zu einem interessanten Tier. Es bleibt die Frage, inwiefern dieses schlechte Gewissen den Menschen regelmäßig macht – der Ausgangspunkt der Genealogie war schließlich die Verantwortung als höchste Form des Gewissens, die auf das unter Schmerzen geschaffene Gedächtnis angewiesen ist, um den Willen zu verdauern, aber zudem eine Kraft braucht, um sich notwendig und berechenbar zu machen – auch vor sich selbst.20 Ein Gedächtnis durch Schmerz und ein Innen durch die Freude an der reflexiv gewendeten Grausamkeit sind zwei notwendige, doch zusammen noch nicht hinreichende Schritte auf dem Weg zur Verantwortlichkeit. Dieser letzte notwendige Schritt besteht in der Moralisierung der Schuld. Nietzsche führt auch den Ursprung der Religion auf ein frühes Schuldner-Gläubiger-Verhältnis zurück, von dem er annimmt, dass es auf die Generationenfolge projiziert wird: Je mächtiger die eigene Familie, desto größer muss die Unterstützung der Ahnen gewesen sein und desto mehr schuldet man ihnen. Vergöttert werden daher Urahnen der mächtigen, der „vornehmen“ Familien.21 Allerdings hätte sich das schlechte Gewissen mit dem zunehmenden Abfall vom Glauben erledigt, wenn dieser die Schuld nicht moralisch gewendet hätte. Wurde unter dem Zwang des Staates zuerst der Wille zur Macht internalisiert, wo er nicht mehr andere, sondern mich selbst lustvoll quält, werden diese Qualen nun als angemessene Abgeltung meiner Schuld mit Sinn versehen.22 Daraus gehen die Ideen der Erbsünde, der „bösen“ Natur oder des insgesamt nichtswürdigen Daseins hervor,23 und sie sind es, die Nietzsche einen unvergleichlichen „Willens-Wahnsinn“ nennt: „der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne, sein Wille, den untersten Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu inficiren und giftig zu machen, um sich aus diesem Labyrinth von „fixen Ideen“ ein für alle Mal den Ausweg abzuschneiden, sein Wille, ein Ideal
18 Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 326. 19 Ebd., S. 327. 20 Kontra Stegmaier, für den der Preis der Berechenbarkeit für andere darin besteht, für sich selbst unberechenbar zu werden (vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘, Darmstadt 1994, S. 156 f.). Dann aber wäre Nietzsches Voraussetzung des Versprechen-Könnens, „auch sich selbst für seine eigene Vorstellung“ (Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 292) berechenbar zu werden, gerade nicht erfüllt. 21 Ebd., S. 328. 22 Warum? In der dritten Abhandlung legt Nietzsche nahe, dass alle Leidenden „einen für Leid empfänglichen schuldigen Thäter“ suchen, um Rache zu üben im „Verlangen … nach Betäubung von Schmerz durch Affekt“ (ebd., S. 374). 23 Ebd., S. 331.
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aufzurichten – das des „heiligen Gottes“ –, um Angesichts desselben seiner absoluten Unwürdigkeit handgreiflich gewiss zu sein.“24
Doch kommt mit dem Wahnsinn die Berechenbarkeit: Nicht nur im Außen sind die Impulse gebändigt, auch der nach innen gerichtete Wille zur Macht lässt sich als gerechtes Leiden für die eigene Schuld entziffern. Jedem Schmerz entspricht nun eine Schuld, jede Grausamkeit lässt sich als ein gerechtfertigtes Verantwortlich-Machen interpretieren. Obgleich Nietzsche sowohl die reflexive Wendung des Willens zur Macht gegen sich selbst als auch die Deutung der so entstehenden inneren Qualen an religiöse Interventionen bindet,25 ist auf dem abstrakten Niveau, auf dem Nietzsche nach den Voraussetzungen des Versprechens (Erinnerung und Berechenbarkeit) fragt, nicht das spezifisch Religiöse der Religion entscheidend, sondern dass jeweils Interpretationen am Werk sind. Die Regelmäßigkeit des Menschen kann erst die zweite Interpretation garantieren, denn sie verleiht dem Leiden am nach innen gekehrten Willen zur Macht nicht nur Sinn, sondern gibt dem Menschen ein Bild von sich selbst als immer schon Schuldigen. So wird er sich selbst transparent, verständlich und damit vorhersagbar – zumal die Interpretation der konstitutiv(en) eigenen Schuld den Willen zur Selbsterkenntnis beflügelt.26 Mit diesem dauerhaft und vorhersehbar gemachten Willen lässt sich ruhig versprechen; Gewissen und Gedächtnis haben damit jene Form erreicht, von der Nietzsche ausgegangen war: „[S]o finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn „autonom“ und „sittlich“ schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf – und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, was da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt.“27
Verantwortlichkeit in ihrer „reifen“ Form ist das Bewusstsein, versprechen zu dürfen, weil das erinnernde und berechenbar gewordene Individuum versprechen kann; es ist das Bewusstsein der eigenen Macht und der Gewissheit, selbst die Vollendung des Züchtungsprozesses zu sein. Der langwierige und schmerzhafte Prozess des Verantwortlich-Machens bringt also das praktische Selbstverhältnis der Verantwortlichkeit hervor; Verantwortung bezeichnet bei Nietzsche demnach eine Subjektivierungstechnik und die daraus resultierende Subjektform. Wegen dieser Verknüpfung ist Nietzsches Verantwortung als Selbstverhältnis ambivalent: Es ist sowohl das Bewusstsein der Zurichtung und 24 Ebd., S. 332. 25 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, übers. von B. Schwibs, München 1976, S. 145. 26 GM III/20, S. 389 f. Vgl. dazu Marco Brusotti, „Die ‚Selbstverkleinerung des Menschen‘ in der Moderne. Studien zu Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘“, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 81– 136, hier S. 111 f. 27 Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 293.
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damit ein „aktives“ Wissen um das eigene Unterworfen-Sein durch die „Sittlichkeit der Sitte“ als auch das Bewusstsein der dank dieser Unterwerfung errungenen Macht und der Verpflichtung, die daraus erwächst.28 So ist Verantwortung einerseits das Bewusstsein der eigenen Macht und damit der eigenen Fähigkeit, sich selbst und andere zu unterwerfen,29 und andererseits das „zum Instinkt gewordene […] Gewissen“30, also das von der christlichen Interpretation angeleitete Selbstverständnis, die inneren Qualen des sich nicht mehr nach außen richten könnenden Willens zur Macht als gerechte Strafe zu deuten. Jeweils lässt sich Verantwortung als eine Interpretation, ein aktives Wissen um das Faktum des eigenen Unterwerfens verstehen. Ist Verantwortlichkeit zunächst eine Interpretation des Faktums, sich mit den Qualen des auf sich selbst gerichteten Willens zur Macht arrangieren zu müssen, wird sie, sobald diese Interpretationen so stark geworden sind, dass sie die Individuen auch für sich selbst berechenbar und regelmäßig gemacht haben, zu einer Interpretation des Faktums, über die daraus erwachsenden Kräfte frei verfügen zu können. Jeweils steckt eine besondere Art der Selbstobjektivierung in dem „Verantwortung“ genannten Selbstverhältnis: Das Unterwerfen – das Unterworfen-Sein wie das eigene Unterwerfen seiner selbst und anderer – muss mitsamt seinen Qualen angeeignet, interpretiert werden, ohne diesen Prozess selbst in den Vordergrund zu rücken, da das verantwortliche Subjekt nur souverän bleibt, solange es den dafür zu zahlenden Preis der Selbstobjektivierung ausblendet.31
2. Jugendzeiten eines „Schlüsselbegriffs“32 Nietzsches Verantwortung als Subjektivierungstechnik und Subjektivitätsform ist so vertraut, dass die Neuheit, die dies im philosophischen Diskurs 1871 darstellte, leicht zu übersehen ist. Doch musste der Begriff erst aus seiner engen Bindung ans Recht ausbrechen, um als Selbstverhältnis gedacht werden zu können,33 und 28 Denn „wer wie ein Souverän verspricht“, tut dies „schwer, selten, langsam“ und nur dann, wenn er dieses Versprechen auch „gegen das Schicksal“ (ebd., S. 294) einzuhalten gedenkt. Vgl. David Owen, „Nietzsche, Ethical Agency and the Problem of Democracy“, in: Nietzsche, Power and Politics. Rethinking Nietzsche’s Legacy for Political Thought, hg. v. H. W. Siemens und V. Roodt, Berlin/New York 2008, S. 144–167, hier S. 148–152. 29 Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 294. 30 Ebd. 31 Diese Ambivalenz wird häufig aufgelöst, indem man zwei streng getrennte Verantwortungsbegriffe unterscheidet; z.B. „Schuld(en)-Verantwortlichkeit“ versus „Schuld-Verantwortlichkeit“ bei Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S. 155 oder „Verantwortung“ versus „Zurechnung“ bei François Raffoul, The Origin of Responsibility, Bloomington/Indianapolis 2010, S. 118. Meiner Lektüre zufolge geht dabei jedoch sowohl die Spezifität von Nietzsches Verantwortlichkeit als auch seine Behauptung eines Zusammenhangs beider Seiten der Ambivalenz verloren. 32 Kurt Bayertz, „Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, in: Verantwortung. Prinzip oder Problem?, hg. v. K. Bayertz, Darmstadt 1995, S. 3–71, hier S. 3. 33 Dass Rechtsbegriffe keine Selbstverhältnis implizieren dürfen, ist eine Folgerung aus der kantischen Einsicht, nur äußerlich zwingen darf (vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, hg. v.
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durfte zweitens nicht nur das Bewusstsein eines machtlosen Subjekts sein, das seine Strafe erwartet, sondern musste im Gegenteil auch machtvollen Subjekten zugeschrieben werden können. Den uns weniger vertrauten Verantwortungsbegriff vor diesen Transformationen fördern einige Splitter „wirklicher (Begriffs)Historie“ zur relativen Jugend von Verantwortung und ihrer Herkunft aus dem Recht zu Tage.34 Wie „antworten“ entstammt auch „verantworten“35 der Terminologie des mittelalterlichen Gerichtsprozesses, in dem der Beklagte nicht zufällig „antwerder“ genannt wird, und bezeichnet den Akt der Klageerwiderung.36 Noch Zedlers Universal-Lexikon (1726–1751) erläutert „Verantwortung“ als „Verteidigung“.37 In dieser Bedeutung wird „Verantwortung“ bzw. „verantworten“ auch von Luther in seiner Bibelübersetzung gebraucht: Entgegen der verbreiteten Überzeugung, sie sei ein „moralischer Begriff christlichen Ursprungs“38, gebraucht Luther in seiner letzten Bibelfassung von 1545 „Verantwortung“ und „verantworten“ selten und stets im Sinne des Verteidigens oder Rechtfertigens gegenüber anderen Menschen, nie gegenüber oder vor Gott. Wieso auch sollte man vor dem Allwissenden in einer Verteidigungsrede seine Beweggründe offenbaren müssen, die dieser ohnehin kennt? Verantwortung blieb bis Anfang des 19. Jahrhundert ein juristischer Fachbegriff, wie sein Gebrauch noch von Fichte im Titel seiner Verteidigung gegen den Atheismusvorwurf demonstriert.39 In den von Reinhart Koselleck als begriffsgeschichtlichen Quellen besonders geschätzten Wörterbüchern und Lexika40 wird Verantwortung erst ab 1974 (!) – mit Johannes Schwartländers Artikel im Handbuch philosophischer Grundbegriffe – einer eigenständigen Reflexion für würdig erachtet;
34
35 36 37 38 39 40
W. Weischedel, Frankfurt am Main 1989, S. 338). Damit soll die subjektivierende Wirkung von Rechtsbegriffe nicht geleugnet werden – nur muss die juridische Argumentation sie ausblenden. Begriffsgeschichtlich ambitionierte Arbeiten zu „Verantwortung“ fehlen noch; Vorarbeiten für den deutschen, englischen respektive französischen Begriff liefern Bayertz, „Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, Richard McKeon, „The Development and the Significance of the Concept of Responsibility“, in: Revue Internationale de Philosophie 39. 1 (1957), S. 3–32 und Gunnar von Proschwitz, „Responsabilité. L’idée et le mot dans le débat politique du XVIIIe siècle“, in: ders., Idées et mots au siècle des lumières. Mélanges en l’honneur de Gunnar von Proschwitz, Göteborg/Paris 1988, S. 79–95. Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm datiert „Verantwortung“ auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts; das Verb „verantworten“ ist etwa 300 Jahre älter. Julius Wilhelm von Planck, Das Deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter. Nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen, Hildesheim/New York 1973, Band I, S. 229. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Leipzig/Halle 1746, online unter ‹http://www.zedler-lexikon.de› (5. September 2012), S. 96. Georg Picht, „Der Begriff der Verantwortung“, in: ders., Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 318–342, hier S. 319. Johann Gottlieb Fichte, „Der Herausgeber des philosophischen Journals gerichtliche Verantwortungsschrift gegen die Anklage des Atheismus“, in: ders., J. G. Fichte – Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart/Bad Cannstatt 1981, S. 25–144. Weil sie „mehrere temporale Schichten“ enthalten: vgl. Reinhart Koselleck, „Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels“, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2006, S. 86– 102, hier S. 97.
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davor wird Verantwortung in den philosophischen Nachschlagewerken allenfalls als Verweis auf Zurechnung geführt.41 Doch obgleich Verantwortung ein junger Begriff ist, tritt er schon rund 150 Jahre früher in den philosophischen Debatten auf: Als neue Nebenfigur in dem alten Drama um Freiheit und Notwendigkeit.42 Mit Arthur Schopenhauer (1841) in Deutschland und John Stuart Mill (1865) in England führen zwei Deterministen den Begriff ein.43 Sie (und andere) gebrauchen Verantwortung als begriffliches Instrument, das nicht selbst von Interesse ist, sondern mit dem sie eine Entscheidung im Streit zwischen Indeterminismus und Determinismus herbeiführen zu können glauben. Noch 1859 hält Alexander Bain Verantwortung für eine neumodische Metonymie: „Instead […] of responsibility, I shall substitute punishability; for a man can never be said to be responsible, if you are not prepared to punish him when he cannot satisfactorily answer the charges made against him.“44 Doch schon 1861 ist der Satz „Responsibility means punishment“45 für John Stuart Mill eine wichtige Erkenntnis, da sie ihm erlaubt, die Diskussion um die Freiheit des Willens auf das zu lenken, worum es darin eigentlich geht: „The real question is one of justice – the legitimacy of retribution, or punishment.“46 Aber diese Frage nach Gerechtigkeit, so Mill, müsse mit Blick auf die Gesellschaft und die (empirisch feststellbaren) Wirkungen von Strafe auf den Charakter der Bestraften beantwortet werden, nicht durch die Metaphysik der Willensfreiheit.47 In der deutschen Diskussion sieht es ähnlich aus. Schopenhauer, der den Verantwortungsbegriff in die Debatte einführt, sieht in ihr nur einen Hinweis darauf,
41 Lexika des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen Verantwortung bestenfalls unter Zurechnung erwähnt wird, sind z.B. Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon, Leipzig 1740; Johann Christian Lossius, Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon, Erfurt 1804; Friedrich Kirchner, Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, Heidelberg 1890; Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke, Berlin 1899; Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, München/Leipzig 1910. – Für ungleich gehaltvollere Artikel nach 1974 vgl. u.a. Pavel Baran, „Verantwortung“, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hg. v. H. J. Sandkühler, Hamburg 1990, S. 690–694; Gertrud Nunner-Winkler, „Verantwortung“, in: Lexikon der Wirtschaftsethik, hg. v. G. Enderle et al., Freiburg 1993, S. 1185–1192; Oswald Schwemmer, „Verantwortung“, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. J. Mittelstrass, Stuttgart/Weimar 1996, S. 499–501; Kurt Bayertz, „Verantwortung“, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. v. H. J. Sandkühler, Hamburg 1999, S. 1682–1686; Jann Holl und Redaktion, »Verantwortung I«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, K. Günder und G. Gottfried, Darmstadt 2001, S. 566–569; Adrian Holderegger, „Verantwortung“, in: Lexikon der Ethik, hg. v. J.-P. Wils und C. Hübenthal, Paderborn/München/Wien/Zürich 2006, S. 394–403. 42 McKeon, „The Development“, S. 6–8, 19–23. 43 Weder Kant noch Hegel gebrauchen „Verantwortung“ in systematischer Absicht: vgl. Bayertz, „Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung“, S. 3 f.; Tatjana Schönwälder-Kuntze, „Auf wen oder was antwortet ,Verantwortung‘“? Zur Genealogie (und Pathologie) des Verantwortungsdenken«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 19 (2011), S. 367–395, hier S. 374–377. 44 Alexander Bains, The Emotion and the Will, London 1865, S. 520. 45 John Stuart Mill, An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy and of The Principal Philosophical Questions Discussed in his Writings, Toronto/Buffalo/London 1979, S. 454. 46 Ebd., S. 458. 47 Ebd., S. 458–469.
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wo die menschliche Freiheit zu finden ist.48 Der Begriff selbst, den Schopenhauer nahezu gleichbedeutend mit Zurechenbarkeit gebraucht, trägt kaum argumentatives Gewicht; sein Nutzen erschöpft sich darin, dass er den (transzendentalen) Charakter und damit das Sein des Menschen anstelle seines Tuns als frei angezeigt.49 Obgleich wesentlich prominenter gebraucht, gewinnt der Begriff in den Schriften späterer philosophischer Kombattanten wie Paul Rée oder Constantin Gutberlet kaum mehr Gehalt.50 Er dient nicht einmal mehr als Instrument, das die Diskussion in die Frage nach Gerechtigkeit auflösen kann, sondern wird als Preis angesehen, den es zu erringen bzw. dem Gegner zu entreißen gilt. Daher urteilt Theodor Lipps noch 1899, dass die Frage nach Verantwortung und Willensfreiheit „der Hauptsache nach [eine] bloße Begriffsfrage ist […], die […] auch nicht eigentlich Anspruch hat, unter die ethischen Grundfragen gerechnet zu werden“.51 Die ethischen Fragen seien unabhängig von diesem begrifflichen Problem, das nur zur Vermeidung künftiger Verwirrung besprochen werden müsse.52 Als aus dem Recht stammender Begriff benennt Verantwortung auch für Lipps kein Selbstverhältnis; ein Gegenüber zur Verantwortung zu ziehen drückt für ihn vor allem überraschte Empörung über eine Tat aus, die aus Sicht des Verantwortung Zuschreibenden nicht mit dem Charakter des zur Verantwortung gezogenen Subjekts vereinbar ist. Verantwortung ist hier primär noch immer Strafe, doch sorgt die Kenntnis der Verantwortlichen und insbesondere ihres Charakters für eine stärkere „Gefühlsbetonung“: Denn im „Verantwortlichmachen […] liegt etwas Aggressives; ein Beschuldigen, ein heftiger Widerspruch“53; diese affektive Aufladung unterscheide den Begriff der Verantwortung von dem der Zurechnung.54 Insofern hefte sich Verantwortung nicht an alle Handlungen, sondern nur an solche, die „auf einen niedrigen oder verderbten Charakter hindeute[n]“55, wo bisher ein anständiger erwartet wurde, und wird auch nur in einer unterlegenen Position (analog zu Angeklagten vor Gericht) gedachten Subjekten zugeschrieben. Verantwortung als metaphysischer Kampfbegriff ohne Selbstverhältnis, die nur für gesetzwidrige Handlungen machtlosen Subjekten zugeschrieben wird – vor die48 Arthur Schopenhauer, „Die beiden Grundprobleme der Ethik“, in: ders., Sämtliche Werke, Frankfurt am Main 1986, S. 481–815, hier S. 619. 49 Ebd., S. 623. 50 Paul Rée, „Der Ursprung der moralischen Empfindungen“, in: ders., Gesammelte Werke 18751885, Berlin/New York 2004, S. 126–211; Constantin Gutberlet, Die Willensfreiheit und ihre Gegner, Fulda 1893. Charakteristisch für die Diskussion um Willensfreiheit im 19. Jahrhundert ist, dass ihre Teilnehmer nahezu allesamt vergessen sind. Leopold Müffelmann, der in seiner Dissertation Das Problem der Willensfreiheit in der neuesten deutschen Philosophie (Leipzig 1902) noch als Teilnehmer der Debatte ihre Geschichte verfasst, beschäftigt sich zwar auch mit Arthur Schopenhauer, Hermann Lotze und Georg Simmel, weitaus größeren Raum aber nehmen Hugo Sommer, Alois Riehl, Rudolf Eucken, Constantin Gutberlet, Philipp Kneib, Paul Rée, Eduard von Hartmann oder Theodor Lipps ein. 51 Theodor Lipps, Die ethischen Grundfragen. Zehn Vorträge, Hamburg/Leipzig 1899, S. 241. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 286. 54 Ebd., S. 284–287. 55 Ebd., S. 284.
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sem Hintergrund prägt Nietzsches Genealogie von „Verantwortlichkeit“ als dem „Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich“56 einen ganz neuen Verantwortungsbegriff, obgleich sich Nietzsche durchaus in dem skizzierten philosophischen Diskurs einordnet, wenn er Zur Genealogie der Moral mit einer Kritik an Rées Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877) beginnt.57 Doch schöpft er seinen Verantwortungsbegriff nicht ex nihil.
3. Von der Metaphysik der Strafe zur politischen Kontrolle der Macht Den Ausbruch aus dem Recht verdankt der Verantwortungsbegriff im Deutschen einem doppelten Umweg über seine englischen und französischen Pendants sowie zweier nicht nur sprachlicher Revolutionen: Sowohl im Englischen als auch im Französischen wird responsibility bzw. responsabilité im Kontext der jeweiligen demokratischen Revolution geboren,58 um das Verhältnis von Regierung und Parlament (Frankreich) bzw. von Regierung und Volk (Vereinigte Staaten von Amerika) neu zu reflektieren und die staatliche Machtausübung zu kontrollieren. In beiden Sprachen entwickelt sich der Begriff insofern gegenläufig zum deutschen: Dringt Verantwortung in der französischen und in der englischen Sprache aus der Politik in das Recht ein, wird er im Deutschen durch den Rückgriff auf politische Schriften aus Frankreich und Amerika aus dem Recht in die Politik übertragen. Während allerdings responsibility von Philosophen wie Bain und Mill mit Strafbarkeit gleichgesetzt wird und sich daher auch in der englischsprachigen Philosophie lange nicht aus seinem eng ans Recht angelehnten Gebrauch befreien kann, gelangt responsabilité unter ganz anderen Vorzeichen in die französische Philosophie. Obgleich sie rasch zu einem zentralen französischen Rechtsbegriff und bereits seit 1804 im Code Civil gebraucht wird,59 fasst sie in der Philosophie als ethisches Konzept Fuß und wird nicht primär als begriffliche Waffe in metaphysischen Diskussionen um die Willensfreiheit gebraucht.60 So kann Verantwortung früh mit einem Selbstverhältnis ausgestattet werden, und weil die Verbindung zu individueller Schuld schwächer ist, wird sie nicht im Sinne von Strafbarkeit einem tendenziell unterworfenen Subjekt zugewiesen, sondern dient ganz im Gegenteil dazu, die Grenzen eines mit großer Handlungsmacht ausgestatteten Subjekts abzustecken. Besonders ausgeprägt zeigen sich beide Transformationen in einer kleinen Schrift von Benjamin Constant: De la responsabilité des ministres (1815).61 Um Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 294. Ebd., S. 250 f. McKeon, „The Development“, S. 8; Proschwitz, „Responsabilité“. Karlheinz Stierle, „Interpretations of Responsibility and Responsibilities of Interpretation“, in: New Literary History 25. 4 (1994), S. 853–867, hier S. 853 f. 60 Natürlich findet sich diese Verwendungsweise von responsabilité auch in der französischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, bleibt aber marginal. 61 Benjamin Constant, Über die Verantwortlichkeit der Minister, übers. von D.G. v. Ekendahl, Neustadt an der Orla 1831. Die einzige deutsche Übersetzung ist unvollständig und bindet zum Teil 56 57 58 59
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das Konzept der Ministerverantwortung zu klären, beginnt er mit der Frage, welche ministeriellen Handlungen sie betrifft: legale oder illegale. Den Bezirk von Handlungen, der der Ministerverantwortlichkeit untersteht, durch diese juridische Abgrenzung aufzuteilen, erlaubt Constant, seinen politischen Verantwortungsbegriff von Anfang an einer strafrechtlichen Verantwortung entgegenzustellen. Denn wenn die Ministerverantwortlichkeit sich auf illegale Handlungen bezöge, so Constant, müsste jedes von einem Minister privat begangene Verbrechen vor das Parlament gebracht werden – aber dafür gäbe es die gewöhnlichen Gerichte. Daher folgt: „Die Verantwortlichkeit erstreckt sich nur auf den schlechten Gebrauch einer gesetzlichen Macht.“62 Indem er Verantwortung legalen Handlungen vorbehält, erlaubt der Begriff Constant, auch das legale Handeln von Politikern und Politikerinnen zu beschränken; seine Funktion ist es, eine parlamentarische Kontrolle über die Macht zurückzubehalten, die die Bürgerinnen und Bürger einer Regierung per Wahl übertragen haben.63 „Verantwortlich“ kontrastiert Constant daher explizit mit „strafbar“ und bricht damit die enge Verbindung von Strafe und Verantwortung auf:64 Während in Großbritannien und Deutschland Verantwortlichkeit Strafe bedeutet und damit vor allem die illegalen Handlungen betrifft, wird in Frankreich mit Constant ein anderer Begriffsgebrauch geprägt, der Verantwortung jenem nicht durch Gesetze eingeschränkten Handeln vorbehält, um es gleichwohl begrenzen zu können.65 Wo der zuvor rekonstruierte Sprachgebrauch Verantwortung einem machtlosen Subjekt zuschreibt, inauguriert Constant einen Verantwortungsbegriff, der Verantwortlichkeit an die machtvolle Subjektposition heftet, um den weniger mächtigen Subjekten eine gewisse Kontrolle zu verleihen und damit die Machtasymmetrie zu verringern. Neben dem Einsatz von Verantwortung als Instrument zur Machteinschränkung gibt es eine zweite Neuerung, für die Constant argumentiert: Weil Verantwortung
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den Verantwortungsbegriff doch wieder stärker an das Recht, weshalb ich sie gelegentlich modifiziere. Dass die juridifizierende und entpolitisierende Lesart Constants in Deutschland kein Zufall ist, verdeutlicht die Debatte der damaligen Liberalen um die Ministerverantwortung: vgl. Lothar Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963, S. 272–283. Constant, Über die Verantwortlichkeit der Minister, S. 24. Ebd., S. 4. Man könnte die weiteren Ausführungen Constants zur Ministerverantwortlichkeit (vor allem ebd., S. 32–51) und ihren Prozeduren, die doch wieder dem Gerichtsprozess und der strafrechtlichen Verantwortung nachgebildet sind, als Beleg dafür ansehen, dass er die Anfangs so prononcierte Trennung nicht durchhält. Allerdings betont er auch in diesen Kapiteln stets den Unterschied zwischen Strafbarkeit und Verantwortung, von der er im letzten Kapitel (ebd., S. 51–56) zeigen will, dass sie eigentlich ohne den Vollzug der angedrohten Strafe auskommt. Das kommt dem frühen politischen Gebrauch von „responsibility“ nahe, den die Federalists prägen: vgl. Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter, hg. v. A. Adams und W. P. Adams, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, Nr. 63, 381; dazu Proschwitz, „Responsabilité“, S. 82–92. Obgleich er sich sonst häufig auf sie beruft, erwähnt Constant sie in Über die Verantwortlichkeit der Minister nicht.
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die missbräuchliche Ausübung legaler Macht betreffe, sei sie nicht juristisch kodifizierbar.66 Deshalb sei Verantwortung als dauerhafte Machtbeziehung, die den Minister zur Rechtfertigung vor dem Parlament zwinge, nicht durch (immer mehr) Gesetze zu ersetzen. Die politische Verantwortung gewinnt ihre Macht also nicht aus den Sanktionen, die ihre Konsequenzen wären, sondern aus der Abhängigkeit, die sie dauerhaft etabliert. Die Vorstellung einer permanenten Kontrolle der Minister (d.h. ihrer politischen Macht) durch das Parlament soll „vor allem zwei Zwecke erreichen: den, [schuldigen] Ministern die Gewalt zu entreißen; und den, in der Nation durch die Wachsamkeit ihrer Vertreter, durch die Öffentlichkeit der Verhandlungen und durch die Ausübung der Preßfreiheit, auf die Zergliederung aller ministerieller Handlungen angewendet, einen Prüfungsgeist [esprit d’examen], ein zur Gewohnheit gewordenes Interesse an der Erhaltung der Staatsverfassung, eine fortdauernde Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, mit einem Worte, ein lebendiges Gefühl des politischen Lebens zu unterhalten.“67
Constant selbst arbeitet in der kurzen Schrift nicht mehr heraus, was es für einen Minister bedeutet, diesem dauerhaften „Prüfungsgeist“ ausgesetzt zu sein, seine Handlungen also von vornherein unter Berücksichtigung einer später eingeforderten Rechtfertigung reflektieren zu müssen. Doch ist leicht zu sehen, wie Verantwortung mit dem „Prüfungsgeist“ zu einer Subjektivierungstechnik gemacht wird, deren Vorstellung einer Besserung durch Überwachung sich bis zu den gegenwärtigen Transparenzforderungen verfolgen lässt.68 Constants Neuerungen im Verantwortungsbegriff – sie an die machtvolle Subjektposition zu knüpfen und als nicht vollständig juristisch kodifizierbar zu betrachten – wurden von der Philosophie bereitwillig aufgegriffen, um aus dem politischen Verantwortungsbegriff einen ethischen zu machen.69 Man könnte hier anhand von Max Weber und Hans Jonas aufzeigen, wie der zwischen verschiedenen politischen Institutionen verlaufende Verantwortungsbegriff subjektiviert wird, so dass der Politiker Verantwortung zu einem ständigen Selbstbezug internalisieren soll (Weber) und dieses Selbstverhältnis dann aus der politischen Sphäre herausgelöst und verallgemeinert wird, indem Verantwortung als „Pflicht der Macht“70 jedem handelnden Subjekt verordnet wird (Jonas).71 Aber genau betrachtet, brauchen wir nur zu Nietzsches „lange[r] Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit“72 66 Constant, Über die Verantwortlichkeit der Minister, S. 25. 67 Ebd., S. 51, Übersetzung modifiziert. Ekendahl übersetzt hier coupable mit „strafbar“, obgleich Constant scharf zwischen coupable (schuldig) und punissable (strafbar) unterscheidet, da letzteres für ihn ein juridischer Terminus ist, erster hingegen nicht. 68 Vgl. zu dieser Logik Frieder Vogelmann, „Die Falle der Transparenz. Zur Problematik einer fraglosen Norm“, in: Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, hg. v. L. Hempel, S. Krasmann und U. Bröckling, Wiesbaden, 2011, S. 71–84. 69 Exemplarisch Lucien Lévy-Bruhl, L’Idée de Responsabilité, Paris, 1884. 70 Hans Jonas, Das Prinip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1983, S. 174. 71 Vogelmann, Im Bann der Verantwortung, Kapitel 5.2. 72 Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 293.
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zurückzukehren, wo bereits der Raum für all diese verschiedenen Verantwortungsbegriffe abgesteckt wird und deren Vorgeschichte drei Schlüsse nahelegt: Erstens zieht Verantwortung in dem uns selbstverständlichen Sinn als Subjektivierungstechnik und Subjektform erst mit Nietzsche in den philosophischen Diskurs ein, nachdem der Begriff durch den Umweg über die Politik hinreichend Distanz zum Recht gewinnen konnte. Dass bedeutet, dass Verantwortung keine Erbin des kantischen Zurechnungs- oder Pflichtbegriffs sein kann, was besonders an der Differenz der praktischen Selbstverhältnisse von Verantwortung und Pflicht sichtbar wird. Auf diesem Selbstverhältnis der Pflicht beruht Kants bekannte Unterscheidung zwischen pflichtgemäßem Handeln und Handeln aus Pflicht: Zusätzlich zur objektiven Bedingung, dem Gesetz gemäß gehandelt zu haben, fordert letzteres, aus Achtung für das Gesetz gehandelt zu haben.73 Achtung ist nach Kant das einzige a priori erkennbare moralische Gefühl und ist als „Bewusstsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz“74 unvermeidlich mit einem gewissen Schmerz verbunden, der aus der Demütigung folgt. Denn auch die freiwillige Unterwerfung bleibt eine Unterwerfung, die das Handeln aus Neigung verhindert und daher der „Selbstliebe“ – dem „Hang, sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen“75 – zuwiderläuft. Achtung ist darum die positive Kehrseite der durch das moralische Gesetz erfahrenen Demütigung.76 Entscheidend für den Unterschied zum Selbstverhältnis der Verantwortung ist die Aktivität des Subjekts: Während die Aktivität im Selbstverhältnis der kantischen Pflicht in der Unterwerfung besteht, ist die Unterwerfung im Selbstverhältnis der Verantwortung etwas Vorgefundenes, ein Faktum, das durch die Aktivität des Selbstverhältnisses zu etwas Eigenem oder zumindest doch Erträglichem gemacht wird. Nietzsches ambivalente Verantwortlichkeit ist eine Interpretation des als Faktum vorgefundenen Unterwerfens – sowohl des eigenen Unterwerfens (seiner selbst und anderer) als auch des eigenen Unterworfen-Seins. Jeweils geht das Verantwortung genannte Selbstverhältnis vom Faktum des Unterwerfens aus: Die Selbstbeziehung der Verantwortung besteht nicht schon im Unterwerfen, sondern verläuft als Beziehung zu dem als Tatsache gesetzten Unterwerfen, das als ein dem Selbst fremdes Relatum erst in der Verantwortung angeeignet wird. Das Selbstverhältnis der Pflicht ist dagegen die Aktivität des Unterwerfens selbst. Daher lässt sich die Demütigung, die von dieser Selbstunterwerfung erzeugt wird, nie von der Achtung für das Gesetz trennen, dem das Subjekt sich unterwirft. So ist nicht das Selbstverhältnis der Pflicht als Aktivität des Sich-Selbst-Unterwerfens ambivalent, sondern die dadurch erzeugten Gefühle von Erhebung und Demütigung. Die Ambivalenz des verantwortlichen Selbstverhältnisses betrifft dagegen 73 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt am Main 2000, S. 191, 203. 74 Ebd., S. 202. 75 Ebd., S. 194. 76 Ebd., S. 194 f.
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gerade seine Aktivität: den notwendigerweise unterschiedlichen aktiven Umgang mit den zwei Seiten des Machtausübens. Konfrontiert mit dem zur Tatsache geronnenen eigenen Unterworfen-Sein wie mit dem eigenen Unterwerfen erwächst das mit Verantwortung verknüpfte Selbstverhältnis aus dem Umgang mit dieser doppelten Konfrontation. So lässt sich zweitens die Subjektform wie die Subjektivierungstechnik Verantwortung präziser zu bestimmen. Das Selbstverhältnis der Verantwortung ist als Integration einer janusköpfigen Objektivierung zu verstehen: Es ist der Versuch, das Unterworfen-Sein bzw. das Unterwerfen als Faktum hinzunehmen und mit aller Kraft einen Umgang damit zu finden, der diese Objektivität im Herzen des Subjekts annehmbar macht, ohne die Objektivierung wieder aufzubrechen und die Demütigung des Unterworfen-Werdens oder die gefährlichen Freuden des eigenen Unterwerfens erneut ins Zentrum der Subjektivität einzulassen. Verantwortung organisiert das Selbstverhältnis um eine schützende Objektivierung herum, die es dem Subjekt erlaubt, sich trotz seines Unterworfen-Seins als souverän zu verstehen. Dafür ist die Objektivierung des Unterworfen-Seins notwendig, die jedoch nicht als Tätigkeit des verantwortlichen Selbstverhältnisses erscheinen darf. Mit anderen Worten: Ein Teil des Preises, den das Subjekt dafür zahlen muss, ein verantwortliches zu sein, besteht in der partiellen Selbstobjektivierung und in der erfolgreichen Verschleierung dieser Objektivierung von Machtverhältnissen vor sich selbst. Nietzsche reduziert daher Verantwortung nicht auf die grausamen Abrichtungspraktiken der „Sittlichkeit der Sitte“; vielmehr ist Verantwortung zugleich der Gewinn dieser Tortur: die Souveränität des Subjekts. Verantwortung ist deswegen eine (heute) so beliebte Subjektivierungstechnik, weil sie dem ihr unterworfenen Subjekt erlaubt, sich trotz dieser Unterwerfung als „Herr des freien Willens“77 zu interpretieren. Angesichts dessen ist die ungeheure Proliferation der Subjektivierungstechnik kaum verwunderlich: ob Verantwortung zur Subjektivierung von Konsumenten, zur Regulierung der Finanzmärkte oder zur Grundlegung der Moral dient, stets soll Subjektivität kontrolliert und geformt werden, ohne ihre die Schmerzen dieser Operation zumuten zu müssen. Fast ist man versucht, in Verantwortung ein Pendant des Panopticons zu sehen: ein veritables Ei des Kolumbus, diesmal im Bereich der Moral.78 Zuletzt zeigen diese vorläufigen Versuche auf dem Weg zu einer „wirklichen Historie“ des Verantwortungsbegriffs in der Philosophie, wie unbekannt wir uns sind: Verantwortung mag heute zurecht als selbstverständlicher „Schlüsselbegriff“ in der Philosophie gelten – solange wir nicht einmal wissen, wie wir an diesen Schlüssel gekommen sind, und wir uns nur an jenen Schlössern versuchen, die er öffnet, solange bleiben wir Erkennende uns noch in unseren Selbstverständlichkeiten notwendig fremd.
77 Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 293. 78 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von W. Seitter, Frankfurt am Main 2004, S. 265.
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Von Hänschen klein zum kleinen Hans Prüfen als Subjektivationstechnik 1. Hänschen klein und kleiner Hans In dem Kapitel „Die Prüfung“ aus seinem Buch Überwachen und Strafen findet Michel Foucault ein eindrucksvolles Bild für Änderungen, die mit der Disziplinargesellschaft einhergehen. Er schreibt: „Es sind die Unglücke vom kleinen Hans und nicht mehr die von Hänschen klein, die das Abenteuer unserer Kindheit erzählen.“1 „Hänschen klein“ meint ein aus dem 19. Jahrhundert stammendes Volkslied, das auf Franz Wiedemann zurückgeht. Das Lied besingt ein Erwachsenwerden, das durch den Verlust der heimischen Geborgenheit errungen wird. „Hänschen klein Ging allein In die weite Welt hinein Stock und Hut Steht ihm gut, Er ist wohlgemut. Doch die Mutter weinet sehr, Hat ja nun kein Hänschen mehr! ‚Wünsch dir Glück!‘ Sagt ihr Blick, ‚Kehr nur bald zurück!‘“2
Nach sieben Jahren in der Fremde kehrt der reife, vollständig veränderte Hans zurück. Viele erkennen ihn nicht wieder. Sogar seiner Schwester ist er gänzlich fremd. Das Gedicht fährt fort: „Kommt daher sein Mütterlein, Schaut ihm kaum ins Aug hinein, Ruft sie schon: ‚Hans, mein Sohn! Grüß dich Gott, mein Sohn!‘“3
Nicht zu überhören ist die damalige erzieherische Botschaft, dass man sich aus der Geborgenheit der Familie entfernen muss, um erwachsen zu werden. Diese 1 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976, S. 249. 2 http://www.mamas-truhe.de/lieder/hanschen-klein.html, 07.09.2012. 3 Ebd.
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KÄTE MEYER-DRAWE
Überzeugung klingt in einer heute noch gebräuchlichen Redewendung nach: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Ein sorgenvoller Blick folgt dem Sohn auf seiner riskanten Reise in die abenteuerliche Fremde, ein anerkennender nimmt ihn in Empfang. Ganz anders akzentuiert eine Nachdichtung aus dem späten 19. Jahrhundert die Erzählung. Sie lässt die erste Strophe mit dem Satz enden: „Da besinnt sich das Kind, kehrt nach Haus‘ geschwind.“4 Diese Version ist uns heute vertrauter als das Original. Nun geht es um die Gefühlsbindung an die Mutter und um die sorgfältige Behütung des Kindes. Aus dem Abenteuer ist eine Fantasie und aus der Familie ein Schoß geworden. Der kleine Hans bezeichnet im Unterschied zum Volkslied mit dem Titel „Hänschen klein“ eine berühmte Fallgeschichte, die Sigmund Freud von der Angstphobie eines Fünfjährigen erzählt.5 An die Stelle von abenteuerlichen Irrfahrten und eines harmonischen Gefühlslebens tritt nun die Einkehr in ein geheimnisvolles Innenleben. Freud übernimmt in diesem Fall die Kranken- und Heilungsgeschichte vom Vater des Jungen. Das besondere Verdienst des Vaters sieht er hierbei darin, dass es – wie er betont – einer „anderen Person überhaupt nicht gelungen [wäre], das Kind zu solchen Bekenntnissen zu bewegen“.6 Der kleine Hans wird unentwegt – wie es heißt – „inquiriert“.7 Tägliche Berichte werden verfasst. Der Junge verwandelt sich unter dem immer wachen Blick und dem stets offenen Ohr von Vater, Mutter sowie Therapeuten zum Patienten. Im Mittelpunkt der minutiösen Beobachtung steht das intensive Interesse des kleinen Patienten an Geschlechtsorganen von Tieren, Kindern und Erwachsenen. Sein onomatopoetisches Wort dafür lautet „Wiwimacher“. Es steht für ein vieldeutiges Symbol, das ermöglicht, einer exakten Buchführung des Begehrens zuliebe selbst noch die kleinsten Abweichungen zu registrieren. Pedantisch werden die Gespräche mit dem kleinen Hans notiert. Der hermeneutischen Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Unentwegt wird Hans vernommen.8 Freud rechnet nicht ohne Grund mit der Langeweile des Lesers, weil dieser mit Wiederholungen gequält wird. Unermüdliche Übungen des „Geständnistieres“ werden protokolliert. Der Text wuchert, weil der traktierte Patient schließlich einen großen Genuss an den Selbstentzifferungen findet. In einer Fußnote rühmt Freud den kleinen Hans wegen seines Verständnisses der Psychoanalyse, das man bei Erwachsenen vergeblich suche, denn ihm sei besonders wichtig, auch das Verbotene, das nur gedacht wird, zu Protokoll zu geben.9
4 Hubert Wißkirchen, Materialen zum Zentralabitur Musik 2010 NRW, S. 36, online unter http:// www.wisskirchen-online.de/downloads/zentralabitur10c.pdf, 12.09.12. 5 Sigmund Freud, „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben“ [„Der kleine Hans“], in: ders., Zwei Kinderneurosen, Zürich 1969, S. 9-123. 6 Ebd., S. 13. 7 Vgl. ebd., S. 38. 8 Vgl. ebd., S. 51. 9 Vgl. ebd., S. 66.
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VON HÄNSCHEN KLEIN ZUM KLEINEN HANS
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Vieles wird in der Prozedur zur Sprache gebracht, ohne es beim Namen zu nennen. Der Blick fällt auf das, was die Theorie fordert.10 Willkommen war deshalb die zeitgenössische medizinische Fachsprache, die an delikaten Stellen eine Terminologie bereitstellte, welche dem interessierten Erwachsenen Auskunft gab, dem lüsternen Nachkommen die praktische Umsetzung aber verweigerte. Der klinische Diskurs ermöglicht, das Verbotene zu bezeichnen, ohne anstößig zu sein. Darin trifft er sich mit der Sprache von Kindern und antwortet auf ein zentrales pädagogisches Problem, nämlich Bedenken auf den Weg zu bringen, ohne verbotene Gedanken hervorzurufen. „Das Geständnis der Wahrheit hat sich ins Herz der Verfahren eingeschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt.“11 Das Geständnis wird zu einem wissenschaftlichen Ritual. Der Gestehende entziffert sich nicht länger vor dem pastoralen Ohr als schändlicher Sünder. Er decodiert sich unter dem medizinischen Blick als normal oder anormal. Das Normale nimmt dabei den Platz des Altehrwürdigen ein. Alles, was Hans sagt und tut, ist von daher Anzeichen des Anormalen, der Krankheit. „Der Zuhörende wird der Herr der Wahrheit.“12 Das allmächtige Ohr steht dem alles sehenden Auge bei. Sexualität wird zum Schnittpunkt, an dem sich die Pastoral- mit der Disziplinarmacht trifft und sie sich wechselseitig stützen.
2. Das doppeldeutige Subjekt Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Individualisierung. An die Stelle des denkwürdigen Menschen tritt der berechenbare.13 Den Platz des Souveräns besetzen nun die vielen einzelnen Subjekte. Das Individuum ist nicht länger ineffabile. Die Registrierungs-, Tabellierungs- und Auflistungstechniken „haben die epistemologische Blockade der Wissenschaften vom Individuum aufgehoben.“14 Das Individuum tritt in das Feld des Wissens ein. Bekenntnis und Prüfung gehen dazu einen Pakt ein, dessen Verhängnis hinter dem Credo von Transparenz sowie dem Pathos der Wahrheit verschwindet. Das Individuum wird zum Fall, indem man es „beschreiben, abschätzen, messen, mit anderen vergleichen kann – und zwar in seiner Individualität selbst; der Fall ist aber auch das Individuum, das man zu dressieren oder zu korrigieren, zu klassifizieren, zu normalisieren, auszuschließen hat usw.“15 Die Prüfung kehrt die Sichtbarkeit in der Machtausübung um. Gesehenwerden ist nicht länger Privileg der Herrschenden. Es ist auch Schicksal der gemeinen Individuen und üblen Subjekte.
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Vgl. ebd., S. 54, Anm. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1983, S. 76. Ebd., S. 86. Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 249. Ebd., S. 246. Ebd.
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In dieser Epoche der Policey „münden autobiographische Narrationen in einen unbeendbaren Aktenvorgang.“16 Laurence Sterne lässt etwa seinen Protagonisten Tristram Shandy beim Schreiben der Bände seines Lebens angesichts der nie endenden Suche nach Dokumenten aufseufzen: „In Summa; an allen Ecken und Enden gilt’s Archive einzusehen und Akten, Annalen, Dokumente und BandwurmGenealogien, zu deren Lektüre ihn die Billigkeit immer wieder anhält [denn es geht um die Wahrheit]: – Kurzum, ein Ende ist nicht in Sicht; – ich für meinen Teil erkläre, daß ich seit sechs Wochen drübersitze und mich nach Kräften spute, – und noch nicht einmal geboren bin: – ich habe es nur eben fertiggebracht, und kein Fitzelchen mehr, Euch zu erzählen, wann es geschah, aber nicht wie; – Ihr seht also, die Sache steht noch weit von der Vollendung.“17 Kleinliche Regularien lassen die Verstöße grenzenlos wachsen. Die Macht, die alles sichtbar macht, produziert Nacht- und Schattenseiten des Subjekts. Protokolle und Tabellen, die haarfeine Details festhalten, bedeuten eine Macht, durch welche der Mensch sowohl inventarisiert als auch individualisiert wird. Als Teil der Bevölkerung wird er einem statischen Regime unterworfen (suiectum), für deren Erhalt und Wachstum er mitverantwortlich ist. Im Hinblick auf seine eigene Bildung wird er zum sinnstiftenden Subjekt (subiectum), das an seiner eigenen Vollkommenheit arbeitet. Das doppeldeutige Subjekt steht in der Spannung von neuhumanistischer Utopie und philanthropinistischem Nützlichkeitskalkül. Einerseits wird der Mensch in Verwaltungsakten konkretisiert, durch Prüfungen normiert sowie sanktioniert und so zum Disziplinarsubjekt gestaltet. Andererseits ist die Vollendung des Menschengeschlechts eine ihm aufgegebene Pflicht, die sogar über sein Leben hinausgeht. Das Muster des Subjekt-Souveräns,18 d. h. des weder nur unterworfenen noch lediglich zugrunde liegenden Subjekts, wird in dem Streit zwischen Philanthropinismus und Humanismus geprägt. Die damals populär werdende Erfahrungsseelenkunde oder Experimentalseelenlehre formiert derweil den Blick auf das Innenleben.19 Der Herrschaft der Sprache über die Deutung des Selbst entspricht in den Erziehungsanstalten die Kontoführung über Meriten nach dem Vorbild der Ablasshandlungen. Eine helle Tafelseite mit glitzernden Nägeln für Fleiß, Aufmerksamkeit und Ordnung wird von einem dunklen Pendant vervollständigt, das mit schwarzen Nägeln die Rügen repräsentiert. Der Tausch der gesammelten Billets ermöglicht den längerfristigen Erfolg. Ein kompliziertes System öffentlicher Auszeichnungen konnte der Zerle16 Burkhardt Wolf, Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers, Zürich/Berlin 2004, S. 186. 17 Laurence Sterne, Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman, Band I, Frankfurt am Main 1996, S. 82. 18 Vgl. Käte Meyer-Drawe, Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich, München 2. Aufl. 2000, S. 150 ff. 19 Vgl. Nicolas Pethes, „‚Beobachtungsgeschichten‘. Wezels Pädagogik zwischen Philanthropinismus und Menschenversuch“, in: Heinz, Jutta/Ilbrig, Cornelia (Hg.), Wezel-Jahrbuch. Studien zur europäischen Aufklärung, Band 6/7, Hannover 2003/2004, S. 113-130 und ders., Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007.
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gung des Disziplinarsubjekts in seine Licht- und Nachtseiten präziser entsprechen als körperliche Zucht.20 Die Schule bereitet auf die leistungsorientierte bürgerliche Gesellschaft vor. „Jeder Bürger ist sein eigener Beamter, insofern er Protokoll über seine Menschwerdung zu führen hat, die sich allererst in dieser Selbstbeobachtung und Selbstregistratur vollzieht.“21 Schulen haben ein Schriftmonopol. Sie prägen den Diskurs über das Subjekt, indem sie dessen Unterwerfung als Geständnisritual sowie als Prüfung verwirklichen und seine Souveränität durch Illusionen von Autonomie am Leben erhalten. Pädagogen modellieren das Subjektverständnis der Zeit, nicht die Philosophen. Hegel, dem die grundlegende Bestimmung des Menschen als Subjekt zugerechnet wird, kannte sich als Nürnberger Schulrat aus. Das Subjekt der Moderne ist nach Friedrich Kittler das „Subjekt als Beamter“: „Ein Staat, der diesem Ruf [scil. nach der besseren Menschheit] Folge leistet und seine Lehrer verbeamtet, implementiert mithin alle philosophischen Menschenideale. Der Erziehungsbeamte muß einerseits ‚alle seine Kräfte, Triebe und Anlagen nicht als sein, sondern als Eigenthum des Staates betrachten‘, ist also schlechthin unterworfen und d. h. Subjekt; andererseits ist er schlechthin frei und d. h. wiederum Subjekt, weil Staaten nur durch Erzieher aus Despotie in Freiheit, aus Bestrafung in Moral zu überführen sind. Penzenkuffers Appell liefert die Schlüsselworte für Surveiller et punir.“22
Es dominiert ein pädagogischer Blick, der in seiner Schärfe Mikro- und Teleskopen in nichts nachsteht. Die Bürokratie der Lebensführung wird in den Schulen geübt und die Überzeugung einverleibt, dass man profitiert, wenn man gehorcht. Minutiöse Inspektionen folgen strikten Regelwerken. „Das Verhältnis des Zuchtmeisters zum Zögling läuft über Signale: es geht nicht um das Verstehen des Befehls, sondern um die Wahrnehmung des Signals und die alsbaldige Reaktion darauf entsprechend einem Code. Die Körper befinden sich in einer kleinen Welt von Signalen, denen jeweils eine einzige obligatorische Antwort zugeordnet ist“.23 Kein Murmeln und keine Fantasie darf diese „Dressurtechnik“ stören. Über 100 Jahre später prägt Pavlov den Begriff Signalsystem (signal’naja sistema). Das einfache Signallernen geschieht durch die Konditionierung unbedingter Reflexe. Das Lernen, das nur dem Menschen vorbehalten ist, gestattet, die Sprache als das Signalsystem der Signale zu betrachten. Der Behaviorist betritt damit das Feld der höheren Geistestätigkeiten. Lange bevor jedoch der Behaviorismus Le20 Vgl. Johann Bernhard Basedow, „Die Einrichtung der Meritentafel“, in: Benner, Dietrich/Kemper, Herwart, Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus, Weinheim 2000, S. 153. 21 Wolf, Die Sorge des Souveräns, S. 189. 22 Friedrich Kittler, „Das Subjekt als Beamter“, in: Frank, Manfred/Raulet, Gérard/Reijen, Willem van (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt am Main 1988, S. 401-420, hier: S. 411. Kittler zitiert, Christian Friedrich Wilhelm Penzenkuffer, Vertheidigung der in dem obersten Staatszwecke begründeten Rechte und Ansprüche der gelehrten Schullehrer meines Vaterlandes, Nürnberg 1805, S. 92. 23 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 214.
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bewesen als Reflexmaschinen modelliert, haben Militär, Medizin und Pädagogik das Selbstverständnis als Körpermaschine längst zur Richtschnur erhoben, deren normende Funktion genutzt und mit deren Bewertung eine Normalität geschaffen wird, die im Heimlichen wirkt und heute bis in die einzelne Nervenzelle zu verfolgen ist. Das Individuum ist zu einem Zellenwesen in mehrfacher Bedeutung geworden: in Parzellen beobachtet unter dem Diktat neuronaler Zellen.24 Wie unter einem Mikroskop sollen Schüler beobachtet werden, fordert bereits Ernst Christian Trapp, der 1779 bis 1783 den ersten neu geschaffenen Lehrstuhl für Pädagogik in Halle innehatte, bevor er ihn enttäuscht verließ, weil die Streitigkeiten mit der theologischen Fakultät und deren Schikanen ihn an seinem Reformprogramm hinderten.25 Er verlangt wie auch Immanuel Kant in seiner Pädagogikvorlesung nach einer empirischen Wissenschaft, die auf sorgfältiger Beobachtung der einzelnen Schüler beruhte: „Aber diese Beobachtungen [scil. von sechs bis acht Kindern oder eines einzelnen Kindes] würden uns die Kinder und die in ihnen wirkenden Kräfte nur noch sehr unvollkommen kennen lehren: Man müßte sie ausserdem noch auf allen ihren Schritten und Tritten belauschen, und zusehen was sie wollen und was sie thun, und warum sie es wollen und thun. Man müßte dabei die Kunst verstehn, sie auszufragen, wie ihnen dieser Einfall oder Gedanke, diese oder jene Begierde gekommen sei. Zu dem Ende müßte man ihr völliges Vertrauen gewonnen haben, und sie müßten uns alle, auch ihre tollsten Grillen, ohne Scheu sagen dürfen. Daß wir die Kinder so wenig kennen, kömmt, ausser der Ursache, daß wir uns keine Mühe darum geben, auch daher, daß sie sich und ihre Handlungen und ihre Bewegursachen aus Furcht vor uns verbergen.“26
Die Beobachtungen machen vor nichts Halt und werden minutiös protokolliert. „Ein solches Protokoll würde zwar Vielen eine lächerliche Sache scheinen, und sie würden es eben so wenig lesen mögen, als eine Reihe Wetterbeobachtungen. Aber ich glaube, daß jenes für die Erziehung wenigstens eben so nützlich sein würde, als diese für den Landmann und den Reisenden.“27
3. Das Geständnistier Vereinzelung war im Rahmen unserer westlichen Geschichte wie Einsamkeit bis weit in den Hellenismus verpönt. Unter dem Einfluss des Christentums ändert sich diese Einschätzung. Die Schutzmacht der kirchlichen Hirten bringt zunehmend individualisierende Effekte hervor, die sich auf das Innere des Einzelnen beziehen. 24 Vgl. Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München, 2. Aufl., 2012, S. 53 ff. 25 Vgl. Ulrich Herrmann, „Die Pädagogik der Philanthropen: Ernst Christian Trapp (1745-1811)“, in: Scheuerl, Hans (Hg.), Klassiker der Pädagogik I, München 2. Aufl. 1991, S. 151-153, hier: S. 153. 26 Ernst Christian Trapp, Versuch über Pädagogik, unveränderter Nachdruck der 1. Ausgabe Berlin 1780, besorgt von Ulrich Herrmann, Paderborn 1977, S. 68 f. 27 Ebd., S. 70.
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Die Pastoralmacht richtet sich auf alle Schäfchen und auf jedes einzelne zugleich. Gehorsam wird nach und nach unbemerkt als Selbstzweck normalisiert. Denn die Aufgabe der Pastoralmacht ist die Sicherung und Verbesserung des Lebens jedes Einzelnen und damit die Gewährleistung eines harmonischen Zusammenlebens aller. „Wie sehr man sich auch die Zunge abbeißen möchte: die Ausweitung des Geständnisses, des Geständnisses über das Fleisch, ist nicht aufzuhalten.“28 Die „Wahrheit“ muss ans Licht gezerrt werden. Die Frage zielt nicht darauf, auf was man verzichten muss, um zu wissen, sondern umgekehrt, was man über sich wissen muss, um zu verzichten.29 Alles muss gesagt werden, nichts unterliegt einem Tabu. „Seit dem Mittelalter begleitet wie ein Schatten die Folter das Geständnis und hilft ihm weiter, wenn es versagt: schwarze Zwillingsbrüder. Die waffenloseste Zärtlichkeit wie die blutigsten Mächte sind auf das Bekennen angewiesen. Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.“30 Zieheltern dieser schwarzen Zwillingsbrüder sind ohne Zweifel die Pädagogen. Sie normalisieren Machtnetze und organisieren die freiwillige Unterwerfung. Macht ist dabei nicht nur repressiv. Sie hat auch positive Effekte und erregt Lust. Sie kann geradezu liebenswert sein.31 Denn die „Macht [wäre] mit Sicherheit locker und leicht niederzureißen […], wenn sie nichts anderes tun würde als überwachen, ausspionieren, überraschen, verbieten und bestrafen; aber sie stachelt an, ruft hervor und bringt hervor; sie ist nicht einfach nur Auge und Ohr, sie macht handeln und sprechen.“32 Die Verpflichtung zum Geständnis wird mit ihrer Hilfe umgemünzt in einen Willen zur Preisgabe, zur Wahrheit. Die mitunter so genüssliche wie quälende unkontrollierbare Erzählung über sich selbst ist vernarrt ins Authentische, das sie unaufhörlich normalisiert. Das Geständnis fungiert deshalb nicht als Dokument masochistischer Subjektivität, es erscheint als Befreiung. Das Schweigen dagegen wird als Folge von Unterdrückung wahrgenommen. Foucault charakterisiert diese Absonderlichkeit: „Man muß schon dieser inneren List des Geständnisses vollkommen auf den Leim gegangen sein, um der Zensur, der Untersagung des Sagens und Denkens eine grundlegende Rolle beizumessen; man muß sich schon eine reichlich verdrehte Vorstellung von der Macht machen, um glauben zu können, daß von Freiheit alle jene Stimmen reden, die seit so langer Zeit das ungeheuerliche Gebot unserer Zivilisation wiederkäuen, sagen zu müssen, 28 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 29. 29 Vgl. Michel Foucault, „Technologien des Selbst“, in: Ders. u.a., Technologien des Selbst, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 1993 [Massachusetts 1988], S. 24-62, hier: 25. 30 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 77. In einer Fußnote zu dieser Textstelle vermerkt Foucault, dass bereits das griechische Recht Folter und Geständnis in Bezug auf Sklaven miteinander verknüpft hat, was im römischen Recht ausgedehnt wird. 31 Vgl. Michel Foucault, „Die Antworten des Philosophen“, in: Ders., Dits et Ecrits. Schriften, Band II, 1970-1975, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, übers. v. Reiner Ansén u.a., Frankfurt am Main 2002, S. 1001-1018, hier: S. 1016. 32 Michel Foucault, „Das Leben der infamen Menschen“, in: Ders., Dits et Ecrits. Schriften, Band III, 1976-1979, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, übers. v. Michael Bischoff u.a., Frankfurt am Main 2003, S. 309-332, hier: S. 329.
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was man ist, was man getan hat, wessen man sich erinnert und was man vergessen hat, was man verbirgt und was sich verbirgt, woran man nicht denkt und was man nicht zu denken denkt.“33 Geschrieben wird nicht nur die Geschichte des autonomen Subjekts, sondern auch gleichzeitig jene des infamen Subjekts, das es zu seinem eigenen Erstaunen wert ist, zur Sprache gebracht zu werden. Diese Verführung ist unwiderstehlich. Es sind nicht lediglich die Herrschenden, über die zu sprechen sich lohnt, und die Gebildeten, deren Element die Sprache ist, sondern auch die banalen, alltäglichen Exzesse drängen zum theatralischen Wort.34 Das alles kann nur verständlich werden, wenn man von einer Geschichte der Repressionen von Sexualität Abschied nimmt und der Tatsache Beachtung schenkt, dass in den Inszenierungen von Sinnlichkeit stets Technologien des Selbst fungieren. Diese sind nicht lediglich Produkt von Manipulationen, Kommunikationen und Herrschaft. Sie sind Effekte ihrer eigenen Wahrheitspraktiken: „Techniken, die es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, daß sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen.“35 Das Unsagbare wird zur Quelle sprudelnder Selbstbezichtigungen. Die Aufwertung der Sünden des einfachen Menschen verschwistert sich mit der Hervorbringung des schäbigen Subjekts. In einem „emphatischen Theater des Alltäglichen“36, im Gewimmel wortreicher Selbstdenunziationen werden Monstren geboren. Sinnlichkeit wird dort, wo sie sich am weitesten von der öffentlichen Sprache entfernt, zum Reden gebracht, allerdings nicht in einer Poesie der Lust, sondern als Protokoll der klinischen Schande. Im Geständnis des eigenen Wahnsinns erhält das Subjekt der Vernunft neuen Glanz. In der Kapitulation vor der eigenen Wollust wird für das Wagnis der Vernunft geworben. „Man scheucht den Sex auf und treibt ihn in die diskursive Existenz hinein.“37 Ebenso ergeht es dem Subjekt, das angesichts der eigenen Sprachlosigkeit in die Falle des Diskurses über es selbst getrieben wird.38
33 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 78. 34 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Arlette Farge/ Michel Foucault (Hg.), Familiäre Konflikte: Die „Lettres de cachet“. Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, übers. von. Chris E. Paschold und Albert Gier, Frankfurt am Main 1989 [Paris 1982]. Die „lettres de cachet“ waren ursprünglich Siegelbriefe, durch die sich absolutistische Unterdrückung ohne Gerichtsverhandlungen durchsetzen konnte. Farge und Foucault zeigen in ihrer Auswahl und ihrem Kommentar, dass diese Briefe von Bürgerinnen und Bürgern in deren Sinne instrumentalisiert wurden, um durch wortreiche Denunziationen unbequeme Familienmitglieder loszuwerden. 35 Michel Foucault im Gespräch mit Richard Sennett, „Sexualität und Einsamkeit“, in: Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch, übers. von Marianne Karbe und Walter Seitter, Berlin, o.J., S. 25-53, hier: S. 35 f. 36 Vgl. Foucault, „Das Leben der infamen Menschen“, S. 321. 37 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 46. 38 Vgl. in diesem Zusammenhang Gehrings Kritik an Judith Butler: Petra Gehring, Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt am Main/New York 2004, S. 107, Anm. 4.
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Keine Zeit ist zu viel, kein Verdacht zu groß. Die „leserlichsten Zeichen sind dem anstößigen Subjekt auf die Stirn geschrieben“.39 Auf Zeugungs- und Geburtsteilen schnurrt die Aufmerksamkeit zusammen. Sie enttäuschen den Voyeur nicht, der stets zur Stelle ist. Immer geht es um die Wohlfahrt der Gesellschaft. Ohne Lücke schließt sich die Sorge um den Einzelnen. Körper und Seele sollen vor der Selbstschwächung geschützt werden. „Der Mensch, mit dem Vorrecht einer höhern Vernunft, sollte seine Sinnlichkeit selbst beherrschen; selbst urtheilen, prüfen, wählen; selbst der Schöpfer seiner Freuden werden.“40 Aber nicht jede Freude ist willkommen. Die unkontrollierbare Imagination ist keine Kandidatin in diesem Schöpfungsplan. Sie ist die Konkubine des Subjekts der Wollust und ausnahmslos unrein. Damit wird zu Beginn der Moderne ein Subjekt produziert, das in sich tief gespalten ist. Während bis zur Moderne der Mensch in Bezug auf seine Selbstbestimmung mit einer Selbstliebe im akzeptablen Sinn, zwischen einem amour de soi-même, und einem amour propre gerungen hat, der auf jeden Fall schlecht war, klafft in den neuen Selbstthematisierungen diese Spannung vollends auseinander in ein Subjekt der Selbstschwächung – ein verseuchtes Subjekt – und ein autonomes Subjekt – ein Subjekt der Selbstbestimmung. Das verwerfliche Subjekt ist Effekt einer Unterwerfung durch seine kontraproduktive Lust, während sich das autonome Subjekt durch seinen reinen Willen oder seine Vernunft bestimmt. Das eine ist Folge einer mutigen Entschließung, das andere Ergebnis einer lustvollen Kapitulation. Das Subjekt fungiert nicht nur als Stifterfigur, wie es die Illusionen von Autonomie in der Moderne nahelegen, es ist auch Effekt von Subjektivationen. Diese umfassen eine Vielfalt von Praktiken, in denen Diskurse über das Subjekt ihre Form gewinnen. Pädagogische Normalisierungstechniken haben einen großen Anteil daran. In gegenwärtigen Konzeptionen lebenslangen Lernens dominiert etwa die Vorstellung von der Selbststeuerung oder Selbstorganisation. Dem Lernenden wird zugetraut oder aber zugemutet, sich und sein Leben selbst zu managen. Abhängigkeiten werden dadurch zumindest bagatellisiert, wenn nicht gar tabuisiert. Gleichzeitig ist permanente Sichtbarkeit zur Normalität geworden. Prüfungen, Evaluationen, Leistungsvergleichstests, Rankings, Ratings, Akkreditierungen, Reakkreditierungen und elektronische Verwaltungen von Noten spannen ein dichtes Netz, dem nur einer entkommt: der Authentische. Seine vermeintliche Selbstoffenbarung scheint jede Nachfrage überflüssig zu machen. Kaum eine Kontrolle ist mehr anstößig für uns, zumal sie mit unserer Sicherheit verschwistert ist. Das 39 Vgl. D. Samuel Gottlieb Vogel, Unterricht für Eltern, Erzieher und Kinderaufseher: wie das unglaublich gemeine Laster der zerstörenden Selbstbefleckung am sichersten zu entdecken, zu verhüten und zu heilen, Stendal 1786, S. 8 f. 40 Joachim Heinrich Campe, Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft practischer Erzieher. Sechster Theil, Wolfenbüttel 1787, S. 19. Vgl. auch Käte Meyer-Drawe, „Hygienische Imaginationen. Der Schrecken der Selbstbefleckung im Philanthropinismus“, in: Stefanie Zaun, Daniela Watzke, Jörn Steigerwald (Hg.), Imagination und Sexualität, Analecta Romanica 71, Frankfurt am Main 2004, S. 209-223.
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Ausspähen des menschlichen Gehirns ist eine der letzten Verheißungen des alles durchschauenden Blicks, der noch in den letzten Winkeln der Materie nach verräterischen Zeichen sucht. Es ist so, als ob Transparenz niemals ihre Unschuld verloren hätte. Unaufgefordert verfangen wir uns mit unseren neuronalen Netzen in elektronischen Maschen der Macht. Von der „freiwilligen Unknechtschaft“41 kann keine Rede sein. Subjektivation meint derzeit vor allem Selbstermächtigung, um andere nicht mit unserem Selbst zu belasten. Der Souverän unterschlägt, unterdrückt oder überspielt seine andere Seite als sujet. Dadurch könnten jedoch „dunkle Spielräume“, potenzielle Produzenten der Macht aus dem Lager des Widerstands entstehen,42 aber nur so lange, wie Orte existieren, an denen sie erscheinen können.
41 Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 15. 42 Vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 122 f.
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Wie subjektivieren Prüfungstechniken? Subjektivität und Möglichkeit bei William Stern und Martin Heidegger Dass Prüfungen subjektivierend sind, gehört zu den Thesen, die ohne aufwendige Erläuterung breite Zustimmung auslösen. Prüfungen bestimmen Lebensläufe, Selbstverständnisse, Können und Nichtkönnen, sie gehen einher mit Sorgen, Ängsten, Hoffnungen, sie eröffnen Optionen und verschließen sie; wer eine bedeutende Prüfung erfolgreich absolviert oder aber nicht besteht, für den verläuft das Leben anschließend in anderen Pfaden. Es versteht sich daher irgendwie von selbst, dass Prüfungen eine große Bedeutung für die Entwicklung einer Person haben können. Aber was heißt „Prüfungen subjektivieren“? Lässt sich über diese anfängliche Evidenz hinaus sagen, was Prüfungen mit Subjektivität verbindet und inwiefern Prüfungen subjektivierend sind? Der vorliegende Beitrag stellt einen Klärungsversuch dar. Dabei erweist es sich als ein Defizit der bisherigen Diskussion, dass theoretische und historische Zugänge zu Subjektivierung relativ getrennt voneinander verlaufen; dazwischen findet sich wenig Vermittelndes. Subjektivierung am Leitfaden von Prüfungen zu analysieren, bietet eine Chance, beide Perspektiven zusammenzuführen. Denn die Prüfungsthematik führt, wie nachfolgend gezeigt werden soll, ins Zentrum von Subjektivität und Subjektivierung; gleichwohl handelt es sich beim Prüfungsgeschehen um einen radikal historischen Gegenstand, der in wechselnden Konstellationen und Konjunkturen auftritt.1 Will man die Frage klären, was es heißt, dass „Prüfungen subjektivieren“, muss der Zusammenhang zwischen Prüfungen und Subjektivität/Subjektivierung grundbegrifflich dargelegt werden. Im ersten Abschnitt des Beitrags wird dazu ein sowohl systematisch als auch historisch zu begreifender Gedanke entwickelt: Heideggers Analysen in Sein und Zeit (1927) legen frei, dass Subjektivität nur unter dem Gesichtspunkt Möglichkeit zu begreifen ist. Sie stehen dabei in systematischer und historischer Kontiguität zu den sich seit 1900 massiv ausbreitenden psychologischen Prüfungstechniken. Die Bestimmung des Möglichkeitsraums von Subjektivität und die Beurteilung der spezifischen Möglichkeiten eines Subjekts erfolgen seit dem Beginn des modernen Prüfungswesens um die Jahrhundertwende im 1 Vgl. Andreas Gelhard, Kritik der Kompetenz, Zürich 2011. Andreas Kaminski, „Prüfungen um 1900 – als moderne Subjektivierungsform“, in: Historische Anthropologie, H. 2 (2011), 331-353. Andreas Kaminski, „Psychotechnik und Intelligenzforschung: 1903-1933“, in: Christopher Coenen; Reinhard Heil; Stefan Gammel; Andreas Woyke (Hg.): Human Enhancement: Historische, philosophische und ethische Aspekte, Bielefeld 2010, S. 117-142.
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Rahmen einer psychologischen Prüfungsdiagnostik, welche Subjekte unter dem Gesichtspunkte von Dispositionen (als latenten Potenzialen) denkt. Hierin besteht das begrifflich-systematische Verhältnis von Prüfung und Subjektivität, welches der zweite Abschnitt zugleich in historischer Perspektive entwickelt.2 Die Darstellung orientiert sich dabei primär, aber nicht ausschließlich an William Stern, einem der bedeutendsten theoretischen und praktischen Psychologen nach 1900, da sich in Sterns Arbeiten die Transformation der Psychologie (hin zur Erforschung und Prüfung von Dispositionen) besonders deutlich reflektiert. Der dritte Abschnitt schließlich führt die Perspektiven der ersten beiden Abschnitte zusammen und gibt eine Antwort auf die Frage, was es heißt, dass Prüfungen subjektivieren. Ob in Erscheinung tretende Prüfungstechniken jeweilig faktisch subjektiveren – und welche Sinne diese Redeweise hat –, ist damit noch nicht gesagt. Es handelt sich um die Bestimmung des begrifflichen Verhältnisses von Prüfung und Subjektivierung in eins mit der Darstellung historischer Konstellationen, in denen sich dieses verwirklicht hat.
1. Subjektivität als Möglichsein Ob es um Selbstbezug, Praxis, Verstehen, Gewissen oder Tod geht, Martin Heidegger rekonstruiert in Sein und Zeit Subjektivität durchgängig unter dem modalen Gesichtspunkt Möglichkeit. Gleichsam programmatisch ist daher das folgende Zitat zu lesen: „Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein.“3 Die systematischen Gehalte dieses Gedankens versuche ich im Folgenden zu explizieren. 2 Heideggers Überlegungen fungieren in dreierlei Weise im nachfolgenden Argumentationsgang. (1) Zentrale Probleme der psychologischen Thematisierung von Möglichkeit werden von Heidegger aus erkennbar und analysierbar – im Nachfolgenden beispielsweise der Zirkel in der Feststellung von Möglichkeiten. (2) Die Psychologie verbleibt letztlich im Schema Ding / Dispositionseigenschaft, wenn sie die Möglichkeiten von Personen bestimmt. Auch deshalb lässt sich von ihr ausgehend kein angemessener Subjektivierungsbegriff entwickeln; wogegen Heideggers Überlegungen direkt zu Subjektivierungsfragen beitragen. Die beiden ersten Punkte begründen die systematisch gezogene Verbindungslinie von Heidegger zur Psychologie. In historischer Perspektive (3) tritt eine Parallelbewegung im Subjektbegriff bei Heidegger und der Differentiellen Psychologie in Erscheinung; zeitgleich mit der psychologischen Erfassung der Möglichkeitsproblematik von Personen findet in der Philosophie Heideggers eine deutliche Verschiebung des Subjektbegriffs hin zu einem Primat des Möglichen statt. 3 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2006 [1927], S. 143. – Bekanntlich vermeidet Heidegger die Ausdrücke Subjekt/Subjektivität weitgehend – jedoch nicht in den Vorlesungen im Umfeld von Sein und Zeit – und spricht stattdessen von Dasein, um die Modelle sowie Probleme und Problemlösungen, welche der traditionelle Subjektbegriff implizit vorgibt, zu vermeiden (so etwa die Innen-/Außenproblematik oder den Theorieprimat). Ich spreche im Folgenden dennoch von Subjektivität, da die nachfolgende Explikation von Heideggers Daseinsbegriff unter anderem darin bestehen wird, diese Fallen zu sehen und zu vermeiden. Außerdem geht es mir um die Bezüge zwischen Psychologie, Existenzialontologie und Subjektivierungsdebatte. Daher werde ich, wenn ich im zweiten Abschnitt die Persönlichkeitspsychologie um 1900 darstelle, auch von Subjektivität oder Subjekten sprechen.
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WIE SUBJEKTIVIEREN PRÜFUNGSTECHNIKEN?
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1. Der konstitutive Bezug auf Mögliches: Die These, dass Subjektivität primär im Möglichsein besteht, ruft zunächst die Frage auf, was daran besonders sein mag. Ist Subjektivität in besonderer Weise auf Möglichkeit bezogen? Und: Inwiefern ist Subjektivität primär als Möglichsein zu begreifen? Schließlich gilt es auch für Dinge oder Sachverhalte, dass sie unter modalen Aspekten zu betrachten sind: Sachverhalte können logisch möglich oder unmöglich sein, ein Ding kann Möglichkeiten und Unmöglichkeiten aufweisen, etwa verformbar oder nicht entflammbar sein.4 Logische oder dingliche Möglichkeiten sind jedoch nicht gemeint, wenn es heißt, dass im Zentrum von Subjektivität sich das Verhalten zu Möglichkeiten findet: „Das Möglichsein, das je das Dasein existenzial ist, unterscheidet sich ebenso sehr von der leeren, logischen Möglichkeit wie von der Kontingenz eines Vorhandenen, sofern mit diesem das und jenes passieren ‚kann‘. Als modale Kategorie der Vorhandenheit bedeutet Möglichkeit das noch nicht Wirkliche und das nicht jemals Notwendige. Sie charakterisiert das nur Mögliche. Sie ist ontologisch niedriger als Wirklichkeit und Notwendigkeit. Die Möglichkeit als Existenzial dagegen ist die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins“.5
Worin besteht diese Auszeichnung, von der Heidegger hier spricht? Dinge weisen Möglichkeiten auf, wie etwa die, verformbar zu sein; sie haben aber keinen Sinn für Mögliches oder Unmögliches. Subjektivität dagegen kennzeichnet ein konstitutives Verhalten zu Möglichem, ohne den für Heidegger weder Handlungen noch Selbstbezug, weder Gewissen noch Todesgewissheit möglich wären. Dass Subjektivität nicht allein Möglichkeiten aufweist, sondern jeweils immer schon erschlossen hat, dafür steht bei Heidegger terminologisch der Ausdruck „verstehen“.6 Der Begriff kennzeichnet noch vor der Entdeckung spezifischer Möglichkeiten (x oder y ist möglich) den Bezug auf die Möglichkeitsdimension überhaupt. Subjekte verstehen sich auf Möglichkeiten nicht, weil x oder y ihnen möglich erscheint, sondern weil sie das, worauf immer sie bezogen sind, generell im Horizont des Möglichen erfassen. Insofern ist dieser Gesichtspunkt immer schon im Spiel, auch wenn konkrete Möglichkeiten in einer Situation noch nicht erscheinen mögen. Das, was in der Welt begegnet, wird verstanden, indem es „frei [gegeben] wird auf seine Möglichkeiten.“ In Bezug auf die alltägliche Praxis heißt dies: „Das Zuhandene als solches ist entdeckt in seiner Dienlichkeit, Verwendbarkeit, Abträglichkeit.“7 2. Eigene Möglichkeiten: Es wäre jedoch ein allzu erkenntnistheoretischer Zugang zur Möglichkeitsthematik, wenn man annähme, es ginge Heidegger vor allem darum, dass Subjekte in ihrem Weltbezug stets einen Möglichkeitsbezug mitlaufen ließen. Möglichkeiten werden von Subjekten nicht lediglich neutral registriert oder an Dingen erfasst. Das Verhalten zu Möglichkeiten ist für Heidegger primär 4 Dingliche Eigenschaften lassen sich als Dispositionsprädikate rekonstruieren. Vgl. dazu Nelson Goodman, Fact, Fiction and Forecast, Cambridge 1983, S. 40 ff. 5 Heidegger, Sein und Zeit, S. 143 f. 6 Vgl. ebd., S. 142-148. 7 Ebd., S. 144.
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ein Selbstbezug. Etwas ist dienlich, verwendbar, abträglich in einer Situation für mich. Was für den Umgang mit Dingen in der alltäglichen Praxis gilt, gilt den Analysen von Sein und Zeit nach notwendig auf allen Ebenen von Subjektivität: Möglichkeiten weisen stets einen Selbstbezug auf. In Möglichkeiten spiegeln sich Subjekte, indem es ihre eigenen Möglichkeiten sind, zu denen sie sich verhalten. Systematisch zeigen lässt sich dies zunächst am Handlungenbegriff. Handlungen unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit zu erfassen, impliziert nicht, eine Chronologie des Handelns zu behaupten, in der zunächst ein Plan erstellt und anschließend umgesetzt würde. Damit von Handlungen gesprochen werden kann, dürfen diese nicht nur irgendwie auf Möglichkeiten bezogen sein, sondern sie müssen in der Weise rekonstruierbar sein, dass sich Subjekte zu Möglichkeiten als ihren eigenen Möglichkeiten verhalten, weil es sich ansonsten immer noch um einen Kausal- oder Naturprozess handeln könnte. Die Redeweise, dass Handlungen unter dem Gesichtspunkt Möglichkeit rekonstruiert werden können müssen, zeigt dabei allerdings an, dass Möglichkeiten im Vollzug nicht thematisch reflektiert werden müssen, wie Heidegger betont.8 Obgleich bereits der Nachweis, dass die Praxis nur dann als Praxis verstanden werden kann, wenn sie in dieser Weise gedacht wird, Möglichkeit ins Zentrum von Subjektivität setzt, setzt Heidegger in Sein und Zeit grundlegender an. Subjektivität ist für Heidegger ein Verhältnis zu eigenen Möglichkeiten im Sinne von Existenzweisen, also Möglichkeiten zu sein. Dem Dasein, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht, geht es darin nämlich um „je ihm mögliche Weisen zu sein. […] Dasein ist je seine Möglichkeit“.9 Ein Leben zu führen heißt demnach nicht nur, unter Handlungsoptionen zu wählen, sondern sich zu Lebensformen oder Existenzweisen als eigenen Möglichkeiten zu verhalten.10 An diesen Gedanken schließt Heideggers bekannte und häufig kritisierte Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit an. Es handelt sich dabei um verschiedene Existenzweisen, also verschiedene Möglichkeiten, ein Leben zu führen. Sie sind in keiner Weise substantiell zu verstehen, sondern rein formal bestimmt. Das Zentrum dieser Unterscheidung ist in Heideggers Analyse des Gewissens zu finden, welche die radikalste Verortung der Möglichkeitsbestimmung des Subjekts darstellt. Zunächst ist Heidegger damit beschäftigt, die Gewissensthematik aus der Verengung auf das schlechte Gewissen zu befreien. Heideggers anschließende positive Darstellung des Gewissens mag jedoch auf den ersten Blick rätselhaft oder paradox anmuten. Das Gewissen wird von Heidegger als ein fortlaufend ergehender Anruf ohne Rede-Inhalt bestimmt, der von sich selbst an sich selbst ergeht, in dem das Subjekt „zu ihm selbst“, wie Heidegger schreibt, „aufge8 Vgl. Heideggers Ablehnung des stillschweigenden Theorieprimats in der Praxis, welcher darin besteht, dass die Praxis nach dem Modell der Theorie konzipiert, selbst also theorieförmig modelliert werde: Sein und Zeit, §§15 f. Dies bedeutet wiederum nicht, dass Handlungen irrational sind, sie haben vielmehr ihnen eigene praktische „Theorie“ (=Sicht). 9 Vgl. dazu Heidegger, Sein und Zeit, S. 42, 12, 143 et passim. 10 Auch dies muss, wie bereits in der Handlungsthematik erwähnt wurde, keine bewusste Entscheidung implizieren.
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rufen [wird], das heißt zu seinem eigenen Seinkönnen“.11 Diese Bestimmungen des Gewissens folgen jedoch in strenger Weise einer Rekonstruktion der Bedingungen von Selbstbestimmung – das heißt der Möglichkeit eigentlichen Selbstbezugs. Von diesem Postulat ausgehend lassen sich die zunächst unklaren Bestimmungen nicht anders denken: Weil Heidegger die Bedingungen, unter denen Selbstbestimmung gedacht werden kann, in seiner Gewissensanalyse rekonstruiert, ergeht der Ruf des Gewissens von sich an sich selbst; außerdem kann der Anruf durch das Gewissen nicht einen Inhalt haben; etwa so, als wenn eine Stimme dann sagte, was man zu tun habe, denn dies würde Herrschaft und Unterwerfung bzw. Subversion im Subjekt rekonstituieren, aber eben nicht Selbstbestimmung. Außerdem kann, wenn das Gewissen der Ort ist, an dem Selbstbestimmung und damit ein Leben führen wie auch Moralität möglich werden, dieses sich nicht erst im Fall des schlechten Gewissens melden; stattdessen muss Gewissen einen immer schon gegebenen und dauerhaften Selbstbezug ermöglichen, nämlich als Sinn dafür, dass es um die eigenen Möglichkeiten, seine Existenz zu vollziehen, geht.12 Geht man davon aus, dass die Gewissensanalyse den Sinn der Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit erläutert, wird deutlich, dass es falsch ist, von einer Wahl zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zu sprechen. Uneigentlichkeit kann nicht gewählt werden.13 Ebenso ist es aber falsch, Eigentlichkeit mit der Ablehnung von Gesetzen, Regeln oder institutionalisierten Lebensformen zu assoziieren. Eigentlichkeit kennzeichnet vielmehr ein Verhältnis zu sich selbst und darüber zu Regeln oder Gesetzen, welche das Handeln bestimmen; dieses Verhältnis kann auch darin bestehen, dass Regeln, Institutionen oder Gesetze sich selbst zu Eigen gemacht werden.14 Am Beispiel von Heideggers Analyse des Gewissens lässt sich der Status der Aussagen in Sein und Zeit verdeutlichen. Es handelt sich dabei nicht um faktische und/oder anthropologische Aussagen. Verstehen oder Gewissen werden von Heidegger nicht als anthropologisches Vermögen behandelt, vielmehr sind es Analysen dessen, was zur Form von Existenz (als ein Leben führen), zur Form von Selbstbestimmung, Handeln und dergleichen notwendig gehört. Wenn es Subjekte gibt, müssen diese sich und ihre Praxis im Horizont von Möglichkeiten betrachten.15 11 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 273. 12 Vgl. dazu auch die kluge Analyse von Andreas Luckner, „Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit“, in: Rentsch, Thomas (Hg.), Martin Heidegger: Sein und Zeit, Berlin 2001, S. 149-168. 13 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 268: „Mit der Verlorenheit in das Man ist über das nächste faktische Seinkönnen des Daseins – die Aufgaben, Regeln, Maßstäbe, die Dringlichkeit und Reichweite des besorgend-fürsorgenden In-der-Welt-seins – je schon entschieden. Das Ergreifen dieser Seinsmöglichkeiten hat das Man dem Dasein immer schon abgenommen. Das Man verbirgt sogar die von ihm vollzogene stillschweigende Entlastung von der ausdrücklichen Wahl dieser Möglichkeiten.“ 14 Vgl. Luckner, Martin Heidegger. 15 Dabei werden die Hinsichten, in denen Möglichkeiten diesen Horizont ausmachen, von Heidegger fortlaufend differenziert. Vgl. eine dafür beispielhafte Passage: Heidegger, Sein und Zeit, S. 191-196.
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3. Die Erschließung des Möglichen: Wie werden Möglichkeiten erschlossen? Heidegger untersucht, wie erwähnt, die notwendige „Offenheit“ für Mögliches unter dem Titel „Verstehen“. Diese Offenheit meint nun nicht eine Form von Aufgeschlossenheit im Sinne von Toleranz, es geht vielmehr darum, dass Möglichkeiten nicht als solche unmittelbar wahrnehmbar sind. Eine Möglichkeit ist nichts, was man direkt sehen, anfassen oder hören kann. Wie kommt es dann, dass Möglichkeiten gegeben sind? Sie müssen erschlossen werden, wobei dies auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen kann.16 Heidegger untersucht diese Erschließungsprozesse auf einer sehr allgemeinen Ebene, indem er die Auslegung und die damit verbundene Als-Struktur des Verstehens analysiert. Etwas wird verstanden, indem es als etwas bestimmt wird. Diese Als-Struktur ist dennoch nicht einfach gegeben. Heideggers Unterscheidung des hermeneutischen vom apophantischen Als hat den Sinn, dies zu verdeutlichen.17 Damit in einem Urteil etwas als etwas bestimmt werden kann (apophantisches Als), muss eine Bildung der möglichen Bestimmungen vorausgehen (hermeneutisches Als). Auf die Sprachebene bezogen: Den möglichen Klassen von Gegenständen geht eine Bildung der Klassifikation voraus, in der der Raum möglicher Urteilsbestimmung gebildet wird. Dieser Prozess weist keinen Fixpunkt auf, er ist vielmehr zirkulär: Einzelne Gegenstände führen zur Evidenz einer Gegenstandsklasse und die Gegenstandklasse führt zur Evidenz, dass es sich um einen solchen Gegenstand handelt.18 Heidegger spricht unter anderem in diesem Sinne von einem unvermeidbaren Zirkel des Verstehens.19 Es wird sich noch zeigen, wie dieser und andere Punkte in der Prüfungsthematik wiederkehren.
2. Prüfungen als Bestimmung von Möglichkeiten An Heideggers Überlegungen ist zu erkennen, dass Möglichkeiten zwar zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags gehören, sie aber nicht von selbst gegeben sind. Die Frage, wie es dazu kommt, dass Möglichkeiten gegeben sind, ist vielmehr gut begründet. Verstehen, Gewissen, Eigentlich- und Uneigentlichkeit bieten darauf Antworten im Rahmen der existenzialontologischen Analyse Heideggers. Von einer ganz anderen Seite nähert sich die Persönlichkeitspsychologie seit der Zeit um 1900 dieser Frage – in Hinsicht auf das Subjekt, das nun nicht Dasein, sondern Person heißt. Wo Heidegger Existenzialien – als Bedingungen, welche den Bezug 16 Den Status von Möglichkeiten hat in umfassender Weise Christoph Hubig analysiert; ebenso die differenzierten (Intellektual-)Techniken, mittels derer Möglichkeiten erschlossen werden können. Vgl. dazu Christoph Hubig, Mittel. Bielefeld 2002. –, Die Kunst des Möglichen I. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006. –, „Expertendilemma und Abduktion: Zum Umgang mit Ungewißheit“, Antrittsvorlesung, Universität Stuttgart 1997, im Netz verfügbar auf: http://elib.uni-stuttgart.de/opus/volltexte/2000/650. 17 Vgl. dazu Heidegger, Sein und Zeit, S. 158. 18 Mit anderen Worten: type und token (ent)stehen in einem zirkulären Begründungsverhältnis. Vgl. dazu ebd., S. 152 f. 19 Vgl. dazu ebd., S. 150-153.
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auf Mögliches ermöglichen – untersucht, stellt die Psychologie der Jahrhundertwende Prüfungstechniken vor. Prüfungen, so die hier vertretene These, bestimmen die Möglichkeiten eines Subjekts. Dabei ist Bestimmen mehrdimensional zu verstehen. Ich werde im weiteren Verlauf diese einzelnen Dimensionen freizulegen versuchen. 1. Prüfungen als Bestimmung von Dispositionen: Auf einer grundlegenden Ebene stellt sich zunächst die Frage, inwiefern Prüfungen überhaupt zu Aussagen über Möglichkeiten führen. Prüfungen beurteilen doch scheinbar, was ist: wie gut oder schlecht eine Leistung ist. Dies trifft jedoch nicht zu, denn die Form „Prüfung“ entsteht dadurch und besteht darin, dass eine aktuelle Leistung als repräsentativ gilt für ein Leistungsvermögen. Ansonsten handelte es sich nicht um eine Prüfung, sondern um einen Wettkampf, ein Spiel oder dergleichen.20 Die grundlegende Form der Prüfung lautet demnach: n repräsentiert N, wobei n für das Ereignis des Lösens einer Prüfungsaufgabe (einen Denkakt, eine Handlung) steht und N für ein Können (eine Fähigkeit, eine Disposition), das zur Lösung der Aufgabe als nötig betrachtet wird. Was die Prüfung hervorbringen soll, ist nicht primär das Ereignis n, also ob und in welchem Maße und in welcher Weise jemand diese Aufgabe n lösen kann, sondern ob und in welchem Maße ihm die Könnerschaft, das Vermögen, die Disposition N eignet.21 Zwar ist nur n unmittelbar gegeben und beobachtbar: „Was in einer Prüfung – welcher Art sie auch sei – zunächst direkt hervortritt, ist eine Leistung, nicht eine Leistungsfähigkeit“. Aber das ist nicht, worauf die Prüfung eigentlich zielt, sondern: „Ein Experiment kann nur dann als ‚Test‘ gelten, wenn es trotz seines akuten Charakters chronischen Symptomwert besitzt.“22 So sollen Intelligenzprüfungen nicht testen, ob man diese Aufgaben lösen kann, sondern sie sollen den Grad testen, in dem die allgemeine Disposition, sich intelligent zu verhalten, gegeben ist: „Eine Intelligenzprüfung will nicht den Mechanismus des augenblicklichen Kombinierens, Definierens usw. analysieren, sondern die immanente Angelegtheit des Individuums zu Denkleistungen feststellen.“23 Aus diesem Grund erheben Intelligenzprüfungen den Anspruch, dass ihr heutiges Ergebnis auch mit dem in zwölf Wochen übereinstimmt. Homolog verhält es sich bei anderen Prüfformen. Charakterologische Prüfungen untersuchen, wie ihr Name schon impliziert, nicht ein singuläres Verhalten einer Person, sondern ihren Typus, 20 Dies gilt selbst in solchen Prüfungen, wo scheinbar nur Augenblicksaufnahmen gemacht werden sollen. Wer etwa eine Mathematikprüfung durchführt, will nicht prüfen, ob jemand die richtigen Worte oder Zahlen auf eine Frage gibt, sondern ob jemand das zugrunde liegende Problem verstanden hat und in diesem Verständnis darauf antwortet. Es geht darum, zu prüfen, ob jemand diese mathematischen Operationen beherrscht. Wenn es nur darum ginge, die richtigen Zahlen zu nennen, gäbe es keinen Grund, warum Spickzettel etwa nicht erlaubt wären. Wie dieses Verständnis allerdings geprüft wird (und worin das Verständnis bestehen soll), variiert historisch weitgehend. 21 William Stern, Die Differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen, Leipzig 1911, S. 93. 22 Ebd., S. 88. 23 Ebd., S. 24. Siehe dazu auch: William Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung, Leipzig 1920, S. 1-11.
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ihren Charakter.24 Kompetenzprüfungen messen Kompetenz als „Disposition“. Dabei „stellt sich die Frage nach der Beobachtbarkeit von Kompetenzen. Wie können Kompetenzen ermittelt werden, wenn sie doch innere, unbeobachtbare Voraussetzungen, Dispositionen des selbstorganisierten Handelns einer Person sind? […] Offenbar sind Kompetenzen nur anhand der tatsächlichen Performanz – der Anwendung des Gebrauchs von Kompetenz – aufzuklären.“25 Im Zentrum des Prüfungsgeschehens findet sich daher die Modalthematik. Es geht um die Möglichkeit von Subjekten, die vor allem als Disposition, zuweilen auch als Fähigkeit oder Vermögen bezeichnet wird.26 Dispositionen „haben chronischen und potentiellen Charakter.“27 Ihre Feststellung führt aus diesem Grund „von der unmittelbaren Erfahrung“ weg.28 Sie sind jedoch notwendig vorauszusetzen, denn „wo Taten auftreten, muß die zu ihnen führende Tatfähigkeit postuliert werden, Aktualität setzt Potenzialität voraus.“29 2. Ein abduktiver Zirkel: Das Verhältnis von n zu N lässt sich in zweierlei Weise betrachten: n dient als Zeichen30 für N, und zwar weil – in umgekehrter Richtung betrachtet – N die Erklärung31 für bzw. Ermöglichung von n ist. In diesem zweifachen Verhältnis liegen zugleich die Aussagekraft und die Problematik von Prüfungen. Die Aussagekraft, welche einer Prüfung zugrunde liegt, gründet darin, dass das Bewältigen oder Nichtbewältigen von einer Aufgabe eine Aussage über das Vermögen einer Person zulassen soll. Es handelt sich in bestimmten Grenzen um ein Urteil über die Zukunft der Person. Die Problematik besteht darin, dass ungeklärt ist, ob es n und N überhaupt gibt. Wie ist dies zu erklären? Eine Disposition ist prinzipiell nicht direkt bestimmbar. Sie kann als Ermöglichung von Leistungen nicht direkt beobachtet werden, denn sie soll ermöglichend in dieser und ähnlichen Situationen (zum Beispiel ähnlichen Prüfungen) sein. Deshalb soll n als Zeichen von N fungieren. Ein Akt, eine aktuelle Leistungen (eine Antwort, ein Rechenergebnis, ein Kreuzchen, eine Handlung usw.) wird zur Basis eines Schlusses auf ein nicht unmittelbar in Erscheinung tretendes, aber durch die gegebenen Leistungen 24 Zu charakterologischen Prüfungen vgl. Menschenformen, hg. von der Inspektion des Personalprüfwesens des Heeres, Berlin 1941, insbesondere S. 9-13. 25 John Erpenbeck; Lutz von Rosenstiel, „Einführung“, in: dies. (Hg.), Handbuch Kompetenzmessung. Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis, Stuttgart 2007, S. XVII–XLVI, hier S. XVIII. 26 Die Begriffe werden nicht einheitlich verwandt; gleichbleibend aber, ob es um Vermögen oder Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Dispositionen geht, ist die Modalthematik, die dabei adressiert wird. 27 Stern, Die Differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen, S. 24. 28 Ebd., S. 23. 29 Ebd., S. 24. – Vgl. ferner für den charakterologischen Bereich beispielsweise Heinz Hartmann, „Über genetische Charakterologie, insbesondere über psychoanalytische“, in: Jahrbuch der Charakterologie VI (1929), S. 73-95, hier S. 82. 30 Als „Symptom“, wie William Stern schreibt, für die chronische, aber latente Disposition. Vgl. William Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung, S. 1. 31 Vgl. Hartmann, „Über genetische Charakterologie“, S. 82, der von einem erklärenden Begriff spricht.
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erschließbares Vermögen verwendet. Von etwas Beobachtbarem wird auf etwas nicht sinnlich Wahrnehmbares, von etwas Aktuellem auf etwas Dauerhafte(re)s, von etwas Wirklichem auf etwas Ermöglichendes geschlossen. Woher weiß man aber, dass n ein Zeichen für N ist? Aufgrund der Annahme, dass n von N hervorgebracht wurde. Beide verweisen und begründen damit ihre Existenz wechselseitig aneinander. Die Begründung, dass es sich um einen Akt n handelt (und nicht p) erfolgt über den Verweis auf N, die Begründung dafür, dass es N gibt, erfolgt über den Verweis auf n. Es handelt sich um ein zirkuläres Begründungsverhältnis. Im folgenden Zitat wird dieses wechselseitige Begründungsverhältnis deutlich von Stern selbst gestreift, ohne dass er es ausdrücklich als solches bemerkt und problematisiert: „Die geistigen Akte und Inhalte, mit denen sich die Denkpsychologie beschäftigt, sind für den Intelligenzforscher wichtig als Betätigungsformen der geistigen Veranlagung, die er studieren will, als Symptome, an denen er Grad und Art der vorhandenen Intelligenz erkennt und mißt; umgekehrt muß der Denkpsychologe, wenn er nicht ganz im Phänomenologischen stecken bleiben will, stets die Disposition zum Denken nach Art und Grad als Erklärungsgrund für die von ihm festgestellten Denkvorgänge selbst heranziehen.“32
Die Dispositionen werden durch die Phänomene erschlossen, umgekehrt werden die Phänomene durch die Dispositionen erklärt. Die Zirkularität besteht also darin, dass die Annahme einer Disposition nötig ist, um zu wissen, um was für ein Phänomen es sich handelt. Denn sie, die Disposition, erklärt es nicht nur in der Weise, dass sie den Grund seines Vorkommens angibt, sondern zugleich auch darin, um was für ein Phänomen es sich eigentlich handelt. Umgekehrt gibt das Phänomen jedoch erst zu erkennen, dass und was für eine Disposition es ist, die es ermöglicht. Die wechselseitige Konstitution und Bestimmung von Phänomen und Disposition ist (unter der Voraussetzung, dass man ein Vermögen zur Tat hinzu konzipiert) unvermeidbar. Genau darin besteht die Möglichkeit und Notwendigkeit psychologischer Begriffsbildung. Die zirkuläre Struktur von Phänomen/Akt und Disposition schließt deren Erforschung nicht aus. Sie vollzieht sich jedoch in prinzipiell unsicherer (offener) Weise, weil sie auf einem unsicheren Schlussverfahren beruht. Es handelt sich um die klassische Form eines abduktiven Schlusses: Ein Ereignis n tritt auf. Unter der Annahme, dass Hypothese N gelten würde, wäre N eine Erklärung für n, daher nimmt man an, dass N zutrifft.33 Dabei gilt, dass streng genommen n vor dem Schluss auf N anders bestimmt ist als nach dem Schluss. Denn nach dem Schluss handelt es sich um einen Akt n vom Typ N, etwa eine Intelligenzleistung.
32 Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung, S. 2. 33 Vgl. Charles Sanders Peirce, „Deduktion, Induktion und Hypothese“, in: ders., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt am Main 1976, S. 229-250, hier S. 232. Ferner: ders., Vorlesungen über Pragmatismus, Hamburg 1991, S. 129.
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3. Möglichkeiten bestimmen: Im Zentrum der Prüfungsthematik findet sich folglich die Möglichkeitsproblematik wieder. Prüfungen bestimmen die Möglichkeiten (Vermögen) von Subjekten. Die Rede von einer Bestimmung ist dabei, wie gesagt, mehrdimensional zu verstehen. Prüfungen bestimmen (a) den Möglichkeitsraum von Subjektivität, (b) das Selbstverständnis des jeweiligen Subjekts und (c) dessen Selbstbildung. Ich gehe sukzessive diesen drei Dimensionen nach. In Bezug auf die zirkuläre Struktur von Akt/Disposition ergab sich die Bedeutung psychologischer Begriffsbildung. Dies ist von zentraler Bedeutung auf der ersten Ebene: die psychologische Prüfungsdiagnostik bestimmt den jeweiligen Möglichkeitsraum von Personen. Dessen Grenzen und Struktur legen fest, wie sich – unter psychologischen Prüfungsgesichtspunkten – Personen selbst begreifen können. Die jeweilig geltenden Persönlichkeitsmodelle geben diesen Rahmen vor. Gelten die Vermögen N, O, P, Q als die zentralen Persönlichkeitsdimensionen, steckt dies die psychologisch-prüfungstechnischen Grenzen ab. Ernst Meumanns einleitende Formulierung zu Intelligenz und Wille exemplifiziert eine um 1900 typische, basale Strukturierung der Person: „Eine hervorragende Intelligenz und ein kraftvoller Wille sind die beiden Mächte, auf deren Entfaltung alle menschliche Größe und aller Fortschritt des einzelnen und der menschlichen Gesamtheit beruht. […] Gewiß ist auch das Gefühlsleben des Menschen von bestimmender Bedeutung für seine Persönlichkeit“, so Meumann, aber dieses „bildet mehr eine verborgene Innenseite unserer Seelenlebens“.34 Die Evidenz, mit der für Meumann Intelligenz und Wille im Zentrum der Person stehen, bricht sich historisch an der Evidenz, mit der in Teilen der gegenwärtigen Psychologie Emotionen in diesem Zentrum erscheinen. Anders als bei Meumann betreffen Emotionen nicht einen Innenbereich, sie gelten vielmehr als „absolut notwendig […], wenn wir gute Entscheidungen treffen, optimale Wege zur Problemlösung finden, mit Veränderungen umgehen und Erfolg haben wollen“.35 Sie bestimmen die persönliche und soziale Wirklichkeit und dienen daher zur Erklärung gesellschaftlicher Krisenerscheinungen.36 Die Binnenstruktur des Möglichkeitsraums von Subjektivität wird in der charakterologischen Psychologie der 1920 und 1930er Jahre durch „volkstümliche Typen“ (beispielsweise „der Intellektuelle“, „der Fanatiker“, „der Faule“, „der Empfindsame“) bestimmt, sie wird an literarischen Figuren gewonnen oder es dienen modernisierte antike Körperkonstitutionsvorstellungen als Grundlage.37 Dass sich solche Typologien nur in geringem Maße von alltäglichen Persönlichkeitskategorien entfernt haben, ist nicht nur dadurch begründet, dass die Psychologie zu diesem Zeit34 Ernst Meumann, Intelligenz und Wille, Leipzig 1925 [1908], S. III. 35 David R. Caruso; Peter Salovey, Managen mit emotionaler Kompetenz. Die vier zentralen Skills für Ihren Führungsalltag. Frankfurt am Main 2005, S. 7. 36 Vgl. Daniel Goleman, Emotionale Intelligenz, München 1997, S. 7 et passim. 37 Vgl. Menschenformen, herausgegeben von der Inspektion des Personalprüfwesens des Heeres, Berlin 1941; Hans Prinzhorn, „Wege zur Charakterologie“, in: Jahrbuch der Charakterologie IIIII (1926), S. 1-20, hier S. 6; Narziß Ach, „Willensuntersuchungen in ihrer Bedeutung für die Pädagogik“, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik 14/1(1913), S. 1-11.
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punkt noch nicht lange als forschende Wissenschaft existiert; vielmehr ist die psychologische Begriffsbildung kein Vorgang, der unmittelbar aus wissenschaftlicher Beobachtung erfolgen kann. Die Psychologie greift hier, mit Heidegger zu reden, auf die Vorausgelegtheit des durchschnittlichen Man zurück. Fernab solcher volkspsychologischer Typologien stellen wirtschaftliche und berufliche Anforderungen das leitende Prinzip bei der Binnenstrukturierung von Subjektivität dar. In so genannten Arbeitsstudien werden dazu die Anforderungen, die ein Beruf stellt, erhoben, analysiert und dann in psychologische Anforderungen übersetzt. Exemplarisch ist dafür das hier abgebildet Berufs-Eignungsprofil des Nachtwärters (Abbildung 1). Gleichgültig, ob in der Industrie, beim Militär oder in Schulen – bereichsübergreifend wird der Möglichkeitsraum anhand dieses Verfahrens entworfen. Die Vorlage solcher Profile ist in der zweidimensionale Matrize zu finden, aus welcher Stern das Programm der Differentiellen Psychologie herleitet. Die Differentielle Psychologie, so Stern, hat es auf ihren basalen Achsen mit Individuen und ihren Merkmalen (die Stern vor als Dispositionen bestimmt) zu tun. Je nach Forschungsrichtung ergeben sich daraus die Variationsforschung, die Korrelationsforschung, die Psychographie oder die Komparationsforschung, wie die folgenden beiden Abbildungen verdeutlichen. Diese Matrizen bringen den jeweiligen Möglichkeitsraum von Personen zur Darstellung. Die Grenzen der Subjektivität sind die Grenzen dessen, was hier noch als Merkmal fungieren kann. Die Prüfung ordnet das Individuum in der Ausprägung seiner Disposition ein (Variationsforschung oder Korrelationsforschung). Oder: Sie ordnet es einem bestimmten Typus zu (Psychographie oder Komparationsforschung). Die Darstellung der Ausprägung von Dispositionen wird dabei von einer Abbildung auf Zahlen geleistet, wodurch zum einen Maße des Normalen, Überund Unternormalen gebildet werden, zum anderen schon vorausgesetzt werden. Die abstrakte Matrize Sterns ist die abstrakte Darstellung des Möglichkeitsraums; die psychologische Ordnung der Personen (die Dispositionen, Typiken) stellt den hermeneutischen Horizont dar, der die Voraussetzung der Prüfungsurteile ist. Auf einer zweiten Ebene bestimmen Prüfungen das Selbstverständnis von Personen. Die Person wird im psychologischen Möglichkeitsraum verortet: „Ein Test ist demnach eine solches Experiment, das bestimmt ist, in einem gegebenen Fall die individuelle psychische Beschaffenheit einer Persönlichkeit oder einzelne psychische Eigenschaften von ihr festzustellen. Seine Aufgabe ist also, unmittelbar genommen, keine rein wissenschaftlich-theoretische, sondern eine diagnostische; er will nicht unbekannte Gesetze und neue Zusammenhänge erforschen, sondern die Einordnung eines Einzelfalles in einen bereits bekannten Zusammenhang vollziehen.“38
Person A soll das Vermögen N in hohem Maße besitzen, dagegen sei Q nur schwach ausgeprägt. Das Selbstverständnis der Person sollte sich nun rationalerweise – aus 38 Stern, Differentielle Psychologie, S. 87.
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Abb. 1: Hans Spreng: Praktische Anwendung und Bewährung der Psychotechnik, S. 11
Sicht der Prüfungspsychologie – daran orientieren, dass sich die Person als eine Persönlichkeit vom Typ N begreift. Ein Empfehlungsschreiben aus dem Jahr 1933 mag diese Überlegungen abschließend verdeutlichen. In diesem schreibt ein uns unbekannter Vater aus Gossen, „dass sein Sohn P. sich bei Herrn Dr. Geier in Herisau einer psychotechnischen Prüfung unterzogen hat und das Resultat vollauf befriedigend ausgefallen ist. Der Untersuch scheint so gründlich und vielseitig gemacht worden zu sein, dass auf gar manches, sei es Charakterbild, Fähigkeitsausweis und speziell Seelenleben hingewiesen worden ist, worauf man bis dahin nie besonders aufmerksam wurde. Durch diese Aufdeckungen […] sind die anfänglich vorhanden gewesenen Schwierigkeiten der Berufswahl leicht überwunden worden. Ich möchte somit jedermann auf die Wichtigkeit eines solchen Untersuches aufmerksam machen, speziell dann, wenn ein Prüfling noch keine ganz ausgesprochene Zuneigung oder bereits bewiesene Fähigkeiten für irgend einen Beruf besitzt.“39
Die Effekte der ersten Ebene (Möglichkeitsraum) sind ungemein subtil, sofern fehlende Möglichkeiten (des Selbstverständnisses) aufgrund eines jeweils historisch 39 Spreng, Praktische Anwendung und Bewährung der Psychotechnik, o. O., 1934, S. 36.
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Abb. 2: Die vier Forschungsmöglichkeiten der Persönlichkeitspsychologie nach William Stern, Differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen, S.18
begrenzten Möglichkeitsraums einen anderen Machteffekt aufweisen als ein spezifisches Selbstverständnis. Um es anders zu formulieren: Eine Person mag daran zweifeln, dass sie sich zu Recht als eine Person vom Typ N begreifen sollte, etwa indem sie annimmt, die Prüfung habe aus bestimmten Gründen zu einem falschen Ergebnis geführt. Dadurch zweifelt sie nicht notwendigerweise auch daran, dass die Persönlichkeitstypen, welche der Prüfung zugrunde gelegt werden, das Feld der Persönlichkeit ausschöpfen. Die psychologischen Prüfungstechniken eröffnen auf der ersten Ebene den hermeneutischen Horizont in Heideggers Terminologie (das hermeneutische „Als“), wogegen sie auf der zweiten Ebene apophantische Bestimmungen, also Urteile setzen. Die dritte Ebene kennzeichnet die Selbstbildung der Person. Prüfungen bestimmen nicht nur erkenntnismäßig den hermeneutischen Horizont und das jeweilig Selbstverständnis einer Person. Man mag sich Prüfungen zunächst wie einen einfachen Messvorgang vorstellen, etwa so, wie man ihn aus der Messung von Längen kennt. Man hält einen Maßstab an einen Körper und bestimmt durch Superposition, wie viele Mal die jeweilige Einheit (seien es Zentimeter oder Zoll) sich an den Körper anlegen lässt. Psychologische Messverfahren sind jedoch wesentlich komplexer; die Bestimmung des psychischen Maßes, also die psychische Einheit, aber auch die Skalenbildung, die Eichung und vieles andere bereiten, wie früh absehbar ist, große Schwierigkeiten.40 Ein Unterschied springt durch den Vergleich aber besonders hervor: Die Person weiß nicht nur, dass sie geprüft wird. Sie richtet sich am 40 Dies wird schon bei den psychophysischen Messungen Fechners und ihrer Diskussion deutlich. Vgl. dazu Gustav Fechner, Elemente der Psychophysik I, Leipzig, 1860. Ferner: Tannery Jules; Wilhelm Wundt, „Streitschriften über die Psychophysik“, in: Oliver Schlaudt (Hg.), Die Quantifizierung der Natur. Klassische Texte der Messtheorie von 1696 bis 1999, Paderborn 2009, S. 127-143. – Anders als bei Längenmessungen (oder auch Temperaturmessungen) genügt es etwa nicht lediglich einen Messvorgang durchzuführen. Intelligenzprüfungen beispielsweise bestehen aus einer ganzen Testbatterie vieler einzelner „Messpunkte“. Die Findung eines Eichpunkts ist außerdem besonders kritisch, wie die Diskussion um die Normalverteilung zeigt. Auf diese Punkte kann ich hier jedoch nicht eingehen.
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Prüfkriterium aus. Um im Vergleich zu sprechen: Sie sieht, dass ein Längenmaß an sie angelegt wird und will deshalb möglichst „lang“ werden oder zumindest erscheinen und tut entsprechendes dafür. Aus der empirischen Lernforschung ist bekannt, dass die Prüfform die Lernform bestimmt: Werden Kenntnisse abgefragt, lernen Personen anders, als wenn die Anwendung von Wissen auf eine komplexe Aufgabe geprüft wird. Prüfformen sind daher keines ein bloß äußerlich angelegter Maßstab. Sie werden (ob ein Prüfling an den Wert des Maßstabs glaubt oder ihn nur instrumentell verwendet, macht dafür keinen Unterschied) als Maßstab übernommen. In diesem Sinne leiten Prüfformen in einem ersten Schritt Selbstbildungsprozesse ein. Die Personen verändern ihre Formen des Denkens, Handelns, des Selbstbezugs, wenn sich die Prüfformen ändern.41 Indem Prüfungen das Vermögen einer Person bestimmen, berechtigen sie diese aber auch, diese Person zu werden, das Vermögen zu entwickeln. Eine Person wird aufgrund von Prüfungsergebnissen ausgewählt, einen Beruf zu erlernen oder eine (höhere) Schule zu besuchen. Die Prüfung berechtigt sie dazu, und indem sie diese Berechtigung ergreift, wird sie praktisch tätig und bildet in dieser Praxis das Vermögen aus, das ihr laut der Prüfung potenziell zugesprochen wurde. Dieser zweite Schritt der Selbstbildung erfolgt dabei in einem Futur II. Die Person wird einst (der Wirklichkeit nach) das geworden sein, was sie (ihrem Potenzial nach) ist.
3. Was subjektivieren durch Prüfungen heißt Die genannten drei Hinsichten der prüfungstechnischen Bestimmung des Möglichen erläutern den Sinn der Rede, dass Prüfungen subjektivierend sind. Prüfungen sind subjektivierend, indem sie, die (1) Möglichkeitsräume von Personen eröffnend und (2) das Selbstverständnis der Person innerhalb dieser Grenzen bestimmend, (3) die Person selbstbildend das werden lassen, was sie der Prüfung nach potenziell ist.42 Diese Redeweise von Subjektivierung legt jedoch einen Einwand nahe. Denn lässt sich dieser Begriff von Subjektivierung mit den Überlegungen vereinbaren, die in der Interpretation Heideggers entwickelt wurden? Widerspricht diese Redeweise von Subjektivierung durch Prüfungstechniken nicht jenem dort diskutierten Gedanken, dass sich der zentrale Gesichtspunkt zum Verständnis von Subjektivität ist? Subjektivierung durch Prüfungstechniken bedeutet scheinbar, sich nicht zu Möglichkeiten zu verhalten, sondern durch Prüfungen in seinen Möglichkeiten be41 An dieser Stelle ergibt sich eine interessante Erklärung des Flynn-Effekts in der Intelligenzmessung. Vgl. James R. Flynn, „The mean IQ of Americans. Massive gains 1932 to 1978“, in: Psychological Bulletin 95 (1984) H. 1, S. 1-29. –, „Massive IQ gains in 14 nations: What IQ tests really measure“, in: Psychological Bulletin 101 (1987) H. 2, S. 171-191. Ulric Neisser (Hg.), The Rising Curve: Long-Term Gains in IQ and Related Measures, Washington DC 1998. 42 Dabei muss der Begriff „potenziell“ im Sinne der Psychologie differenziert werden, in natürliche Anlagen einerseits und in entwickelte Fähigkeiten als Dispositionen (die gleichwohl auf Anlagen zurückführen, aber durch Übung und andere Einflüsse ausgebildet wurden) andererseits.
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WIE SUBJEKTIVIEREN PRÜFUNGSTECHNIKEN?
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stimmt zu werden. Anders gesagt: Wenn Subjektivierung den Vorgang der Genese von Subjekten und nicht die Herstellung von Dingen bezeichnet, dann stellt sich die Frage, inwiefern Prüfungstechniken daran teilhaben können. Würden Subjekte als technischer Effekt gedacht, würde doch verfehlt, worum es gehen soll, nämlich die Entstehung von Subjektivität. Subjektivierung kann aus diesem Grund nicht als kausaler Prozess verstanden werden. Die Rede von Prüfungstechniken (standardisierten Tests, die in der Persönlichkeitspsychologie entwickelt werden und die als Messgeräte funktionieren) legt jedoch einen solchen kausalen Gesichtspunkt nahe. Um zu zeigen, dass sich Subjektivierung durch Prüfungstechniken nicht ausschließt, müssen zwei Punkte geklärt werden: Zum einen, was die Alternative zu einem kausalen Subjektivierungsprozess (was eine Contradictio in adiecto ist) wäre, zum anderen, wie Technik anders denn kausal an Subjektivierung beteiligt sein kann. Die Alternative zu kausalen Erklärungsmodellen findet sich im Konstitutionsbegriff, der insbesondere in der phänomenologischen Tradition ausgearbeitet wurde. Während Kausalprozesse entlang von Ursache-Wirkungsbeziehungen erfolgen, vollziehen sich Konstitutionen auf der Ebene von Sinn. Konstitutionsprozesse betreffen Sinnbildung und Sinn (als deren Ergebnis). Dabei ermöglichte es der Konstitutionsbegriff bereits bei Husserl oder Merleau-Ponty Selbstkonstitutionsprozesse zu beschreiben. Konstitution als Sinnbildung ermöglicht nun auch den zweiten Schritten zu gehen, nämlich wie Technik in Subjektivierungsprozesse einbezogen sein kann, ohne dabei kausal zu wirken. Technik als reales Mittel bewirkt technische Effekte, als Medium dagegen ist sie an Sinnbildungen beteiligt.43 Die psychologischen Prüfungstechniken operieren auf der Sinnebene, wie zuvor gezeigt wurde; sie bestimmen den hermeneutischen Horizont, das Selbstverständnis und die Selbstbildung, allesamt Sinnbildungsprozesse, die zu Sinngebilden führen. Subjektivierung als Selbstkonstitution unter Vermittlung von Prüfungstechniken bedeutet dann: Subjektivierung ist Sinnbildung unter Vermittlung von Technik, die dabei medial betrachtet werden muss. Dieses nichtkausale Verständnis von Prüfungstechniken schließt es keineswegs aus, dass sie machtvoll sind. Möglichkeiten finden sich, wie gezeigt, nicht als Dinge in der Welt. Die mediale Macht der Prüfungstechniken besteht darin, dass sie Subjektmöglichkeiten ausbuchstabieren und die Prüflinge sich danach ausrichten (Selbstbildung). Prüfungstechniken subjektivieren, aber sie determinieren nicht.
43 Für ein Kind mit einem Hammer in der Hand zerfällt die Welt in zwei Klassen von Dingen, solche, die sich einschlagen, und solche, die sich nicht einschlagen lassen, wie der häufig zitierte Gedanke von Mark Twain lautet. Ein solches mediales Verständnis von Technik wird entwickelt von Christoph Hubig. Vgl. dazu Hubig, Christoph, Mittel, sowie ders., Die Kunst des Möglichen.
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Die Produktion von (Un-)Selbständigkeit in individualisierenden Lernformen Zur Analyse von schulischen Subjektivierungspraktiken Wissenschaftliche Untersuchungen zur Subjektformation stellten sich in Deutschland zunächst – und das galt vor allem für die Soziologie1 – als methodisch mehr oder weniger explizit vorgehende diskursanalytische Beschreibung kultureller Selbstrepräsentationen dar. Unterstellt – aber nicht näher untersucht – wurde dabei zumeist, dass Subjektivierung oder Subjektbildungsprozesse sich implizit und weitgehend unproblematisch vollziehen, indem Individuen in der Praxis, in und mit der Teilnahme an Diskursen und Praktiken bestimmte „Subjektpositionen“ wiederholt einnehmen und darin lernen, sich zu sich selbst in ein bestimmtes Verhältnis zu setzen, sich als Subjekt zu verstehen. Die Fragen, in welcher Weise sich diese Relation formiert und wie sich auf der Seite eines Individuums die wiederholte Einnahme von Subjektpositionen als etwas „ablagert“, z.B. auf implizitem Wissen beruhende Routinen als körperliche Haltungen und Dispositionen, blieben bei diesen Betrachtungen im Dunkeln. Angesichts der vorausgesetzten Nachrangigkeit des Subjekts, der Kulturalität seiner Erscheinungsform bzw. der von Subjektivität und schließlich der Historizität epistemologischer Voraussetzungen seiner Wahrnehmung, schien die Beantwortung dieser Fragen von geringem Interesse und eher als theoretischer „Rückfall“. Fragwürdig musste es wirken, so etwas wie die Sedimentation körperlicher Teilnahme an Praktiken als eine Art der „Erfahrungsaufschichtung“ oder als eine Art Geschichte auf der Seite eines Einzelnen, eines Individuums überhaupt in einen empirischen Blick nehmen zu wollen. Anders stellt es sich dar, wenn man die internationale, vor allem die angloamerikanische und englische Anthropologie in den Blick nimmt, die sich in den letzten 20 Jahren zunehmend stärker mit Fragen der Sozialität, Kulturalität und Historizität von Subjekten und Subjektivität, insbesondere etwa in der Zuwendung zu Gefühlen und dem, was diese sind, beschäftigt hat.2 So versucht etwa Reddy in einem Buch über die Geschichte der Gefühle mit Hilfe des Konzeptes der „Translation“ Prozesse und „Ablagerungen“ auf Seiten des Einzelnen – durchgeführt mit Hilfe von „Aktivität“ und „Aufmerksamkeit“ als „Übersetzern“ – abbilden zu können: „I will argue that translation is something that goes on, not just between languages 1 Vgl. z.B. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006; ders., Subjekt, Bielefeld 2008; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main 2007. 2 Vgl. William M. Reddy, The Navigation of feeling. A Framework for the History of emotions, Cambridge 2001, S. 34.
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and between individuals, but among sensory modalities, procedural habits, and linguistic structures. This idea points, not toward a reconstitution of a Cartesian type of subjectivity, but toward a conception of the individual as a site where messages arrive in many different languages or codes, and where some of the messages are successfully translated into other codes, while others are not“3. Auch die Autoren des von Biehl, Good und Kleinman4 herausgegebenen Bandes „Subjectivity. Ethnographic Investigations“ bemühen sich, in der Erforschung von Subjektivierungsprozessen die herkömmliche Trennung von symbolischen Prozessen und der notwendigen Materialität dieser zu überwinden. Dabei richtet sich verständlicherweise das Interesse vieler Autoren in besonderer Weise auf das Verhältnis zwischen Körper und Subjektivität, auf die somatische Dimension sozialer Subjektivierungsprozesse. Wenn Subjekte und Subjektivität nicht als „original forms but as dynamically formed and transformed entities“5 gesehen werden sollen, ist es notwendig – so die Herausgeber des angeführten Bandes – gerade nicht traditionelle settings, wie etwa die Schulen, in den Blick zu nehmen, sondern Krisen, ökonomische und staatliche Gewaltanwendung, Vertreibung, Ausbeutung von Migranten-Communities sowie Kriege und Unterdrückung in postkolonialen Staaten. Die Herausgeber plädieren dafür, dass gerade eine „Anthropology of illness and suffering“6 versteckte Prozesse der historisch und „kulturell“ spezifischen Konstituierung von Subjekten aufzeigen kann. Ich werde in diesem Beitrag daran in doppelter Weise ansetzen: Ich werde die These von der Unergiebigkeit des Feldes „Schule“ für Fragen einer empirischen, dichotomische Konzeptionalisierungen von Körper und Geist oder Natur und Geschichte vermeidende, Erforschung von historisch und kulturell spezifischen Subjektivierungsformen zurückzuweisen versuchen, indem ich den Gedanken aufnehme, dass gerade Krankheit und Leiden das Funktionieren von Subjektivierungspraktiken sichtbar machen. Ich werde den Blick auf den wiederholten Vollzug von bestimmten subjektivierenden Praktiken in den Schulen lenken, mit denen bei aller pädagogischen Rhetorik von Inklusion notwendig – d.h. nicht aus bösem Willen und nicht in Unfähigkeit der Pädagoginnen gegründet – Verhaltenssyndrome produziert werden, die als „mental disorders“, als krankhafte Erscheinungen, möglicherweise Leiden hervorrufen, sicher aber Ausschlüsse von Schülern und Schülerinnen darstellen bzw. nach sich ziehen. Dafür wird im Folgenden in mehreren Schritten argumentiert. Zunächst wird ausgehend von einigen Bemerkungen zur historischen Entwicklung der Form des Unterrichts seine gegenwärtige Entwicklungstendenz, die Ausbreitung individualisierender, eine bestimmte Art von „Selbständigkeit“ produzierender pädagogi-
3 Ebd, S. 80. 4 João Guilherme Biehl, Byron Good und Arthur Kleinman, „Introduction: Rethinking Subjectivity“, in: Subjectivity: Ethnographic Investigations, João Guilherme Biehl, Byron Good und Arthur Kleinman (Hg.), Berkeley 2007, S. 1-23. 5 Ebd., S. 10. 6 Ebd., S. 11.
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scher Settings in Schulen7 skizziert (1). Wie mit diesen Settings bestimmte Praktiken der Organisation schulischer bzw. unterrichtlicher Arbeit einhergehen und – vor dem Hintergrund immer wieder aufgerufener pädagogischer Normen von Selbständigkeit – besondere Subjektpositionen selbständiger und unselbständiger Schülerinnen entstehen, wird in einem zweiten Schritt erörtert (2). Anhand einzelner in einem ethnographischen Forschungsprojekt beobachteter Situationen wird schließlich geschildert, wie ein Schüler wiederholt in die Position eines Unselbständigen gerät (3). In der Geschichte der „Lerngruppe“, zu der dieser Schüler gehört, können Figurationen verschiedener komplementärer Subjektpositionen von Unselbständigen und Selbständigen beschrieben werden, in die der Schüler und einzelne Schülerinnen zueinander geraten, und die sich in körperlichen Haltungen des Schülers niederschlagen und zu beobachtbaren Dispositionen verdichten. Sie führen schließlich zu dessen Ausschluss als eines an einem bestimmten Verhaltenssyndrom leidenden Schülers.
1. Zur Geschichte der modernen Interaktionsform Unterricht – die pädagogische Norm der „Selbständigkeit“ Ein Blick auf die Geschichte des Unterrichts8 zeigt, wie dieser sich im Entstehungsprozess moderner Schule mit all ihren Merkmalen, ihren spezifischen Organisationsformen und Technologien wie dem graduierten Curriculum, der Jahrgangsklasse, von Zertifizierung und Notengebung im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland9 als eine besondere Form, als ein Kommunikationssystem, hat etablieren können.10 Unterricht war nicht mehr – wie noch im 16. und 17. Jahrhundert – nur „Ort der Verkündigung“ und kollektiver Adressierung11. Vielmehr wurde ein vom Lehrer geleitetes klassenöffentliches Gespräch initiiert und aufrechterhalten, in dem zunehmend einzelne Schüler und Schülerinnen vor anderen als Einzelne angesprochen wurden. Dieses System einer Interaktion unter Anwesenden lässt sich mit Hilfe folgender Merkmale beschreiben:
7 Vgl. Kerstin Rabenstein, „Individuelle Förderung in unterrichtsergänzenden Angeboten an Ganztagsschulen: ein Fallvergleich“, in: Jahrbuch Ganztagsschule 2010, Leitthema Förderung, hg. v. Stefan Appel et al., Schwalbach im Taunus 2009, S. 23-33. 8 Vgl. etwa Gerhardt Petrat, Schulunterricht. Seine Sozialgeschichte in Deutschland 1750 bis 1850, München 1979; Marcelo Caruso, Geist oder Mechanik. Unterrichtsordnungen als kulturelle Konstruktionen in Preußen, Dänemark (Schleswig-Holstein) und Spanien 1800-1870. Frankfurt am Main 2010. 9 Vgl. z.B. Walter Dohse, Das Schulzeugnis, Weinheim: Belz, 1963; Karlheinz Ingenkamp, Zur Problematik der Jahrgangsklasse, Weinheim, Basel 1969; Carlo Jenzer, Die Schulklasse. Eine historischsystematische Untersuchung, Bern u.a. 1991. 10 Vgl. Christel Adick, Die Universalisierung der modernen Schule, Paderborn 1992. 11 Vgl. Marcelo Caruso, „Lernbezogene Menschhaltung. (Schul-)Unterricht als Kommunikationsform“, in: Unterrichtstheorien in Forschung und Lehre, hg. v. Wolfgang Meseth, Matthias Proske und Frank-Olaf Radtke, Bad Heilbrunn 2011, S. 29.
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1. Es ist durch eine bestimmte Art der Aufrechterhaltung von Disziplin, die als Antwort auf die Anfälligkeit der hier geführten Interaktionen für Störungen zu verstehen ist, gekennzeichnet. 2. Es ist für dieses System konstitutiv, dass ein Thema oder eine Abfolge von Themen festgelegt wird, das bzw. die damit gleichzeitig als gemeinsame bestimmt werden. 3. Es ist in diesem System eine spezifische Regulierung der Rederechte zu beobachten. Mit der Zeit werden auch in besonderer Weise unterschiedene Funktionen von Äußerungen sichtbar, also eine Organisation des Sprecherwechsels und des phasentypischen Gebrauchs bestimmter Sprechakte.12 Spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts – also etwa gleichzeitig mit der flächendeckenden Durchsetzung der Schulpflicht – wird in Deutschland die reformpädagogische Kritik laut und es werden Versuche unternommen, den Unterricht weiter zu modernisieren. Rekurriert wird auf „Selbständigkeit“, die als Ziel deutlicher als bis zu diesem Zeitpunkt formuliert und als Charakteristikum der Arbeit der Schüler und Schülerinnen eingefordert wird. Parsons13 wird in strukturfunktionalistischer Perspektive später darauf aufmerksam machen, dass es genau diese Selbständigkeit ist, um die es in der modernen Schule und der ihr entsprechenden Organisation des Unterrichts geht, um die Formierung „selbständiger“, sich für bestimmte Geschehnisse verantwortlich fühlnder Subjekte. Die Schüler haben hier nicht nur zu lernen, „dass es Aufgaben gibt, die sie allein tun müssen“14, sondern die allein zu erledigen sie auch wollen müssen. Es gehe um „unabhängiges Verhalten“: „von sich aus etwas tun, Selbstvertrauen haben, persönliche Verantwortung für das eigene Verhalten akzeptieren, selbständig handeln [...]“15. In und mit einem solchermaßen modernisierten Unterricht ging es stärker als bis dahin um die Durchsetzung weitgehender „Innen“-Steuerung, um die Ausbildung „innerer“ Instanzen auf Seiten der Schüler und Schülerinnen,16 d.h. um die Ausbildung von Regulationsfähigkeiten. Verbunden ist das Setzen auf „Selbständigkeit“ um 1900 sofort mit demjenigen auf „Interesse“ – durchaus in der Tradition des pädagogisch-didaktischen Diskurses, wie etwa schon bei Herbart als die nicht über den Gegenstand disponierende, sondern an ihm haftende Selbsttätigkeit17 – also mit dem Betonen eines bestimmten sichtbaren Bezug des Einzelnen zur verhandelten Sache. Gewährleistet 12 Vgl. Mehan, Hugh, Learning Lessons, Cambridge: Harvard University Press, 1979. 13 Talcott Parsons, „Die Schulklasse als soziales System: Einige ihrer Funktionen in der amerikanischen Gesellschaft“, in: Sozialstruktur und Persönlichkeit, hg. v. Talcott Parsons, Frankfurt am Main 1968, S. 161-193. 14 Robert Dreeben, Was wir in der Schule lernen, Frankfurt am Main 1980, S. 62. 15 Ebd, S. 63. 16 Vgl. Fritz-Ulrich Kolbe und Kerstin Rabenstein, „Zum Verhältnis von Schule und Schülern“, in: Ganztagsschule als symbolische Konstruktion. Fallanalysen zu Legitimationsdiskursen in schultheoretischer Perspektive, hg. v. Bettina Fritzsche, Till-Sebastian Idel, Fritz-Ulrich Kolbe, Kerstin Rabenstein und Sabine Reh, Wiesbaden 2009, S. 195-221. 17 Johann Friedrich Herbart, Umriß pädagogischer Vorlesungen, hg. v. Eva Matthes und Carsten Heinze, Darmstadt 2003, S. 32-45.
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werden könne Selbständigkeit – so die reformpädagogische Kritik – dann, wenn die Gestaltung zu bearbeitender Aufgaben nicht vollständig vorgegeben ist, also durch Bereitstellung von Gestaltungs- und damit Entscheidungspielräumen von Schülern und Schülerinnen. Auch wenn die Kritik erst später praktisch wirksam wird, während der Weimarer Republik z.B. in den Hamburger Versuchssschulen18, setzten sich seit der vorletzten Jahrhundertwende – darauf haben Caruso in expliziter Analyse des Bayrischen Volksschulwesens19 und auch Pongratz in seinen eher an pädagogischen Diskursen orientierten Studien20 hingewiesen – biopolitische Prinzipien und ein pastorales Führungsmodell in einer Art säkularem Trend zunehmend durch. Das erfolgte über „Aktivierung“ und das Setzen auf „Individualität“ bzw. Äußerung von „Individualität“ fordernde Aufgaben, z.B. seit der vorletzten Jahrhundertwende durch den individuellen Erlebnis-Aufsatz, im Zeichenunterricht durch das geforderte Gestalten von Bildern statt des Abzeichnens von Vorgegebenem oder mit Hilfe eines hermeneutisch verfahrenden Literaturunterrichts, der in besonderer Weise den Einzelnen als Interpreten und besondere Leistungen an Aufmerksamkeit nötig machte.21
2. Individualisierender Unterricht: Subjektpositionen des (Un-)Selbständigen Entsprechend unseren in den letzten zehn Jahren in Deutschland durchgeführten ethnographischen Studien in verschiedenen Schulen, u.a. in Ganztagsschulen, ist gegenwärtig in allen Schulformen zu beobachten, wie die oben beschriebenen Tendenzen sich fortsetzen. Man könnte davon sprechen, dass die Individualisierung des Lernens 1. im Sinne der Berücksichtigung und damit Unterstellung individueller Besonderheiten, auf die pädagogisch mit besonderen Angeboten – zusätzlichen, auf die individuellen Interessen ausgerichteten Angeboten oder Förderangeboten – einzugehen ist, weiter voran schreitet, sich geradezu universalisiert. Mit dieser Individualisierung des Lernens geht 18 Vgl. Ullrich Amlung, Dietmar Haubfleisch und Jörg-W. Link et al., „Die alte Schule überwinden“. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1993; Dietrich Benner und Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik, Weinheim und Basel 2003. 19 Marcelo Caruso, Biopolitik im Klassenzimmer. Zur Ordnung der Führungspraktiken in den Bayerischen Volksschulen (1869-1918), Weinheim 2003. 20 Ludwig Pongratz, „Freiwillige Selbstkontrolle. Schule zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft“, in: Michel Foucault. Pädagogische Lektüren, hg. v. Norbert Ricken und Markus RiegerLadich, Wiesbaden 2004, S. 243-260. 21 Vgl. Sabine Reh und Kerstin Rabenstein, „Die soziale Konstitution des Unterrichts in pädagogischen Praktiken und die Potentiale qualitativer Unterrichtsforschung. Rekonstruktionen des Zeigens und Adressierens“, in: Zeitschrift für Pädagogik, 59. Jg., 2013, H. 3, S. 291-307.
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2. eine Ausweitung täglicher Schulzeiten – womit die Informalisierung steigt – und eine Veränderung der zeitlichen Strukturen einher, die sich gegenüber einem für alle gleichen, festen Zeitregime als eine Flexibilisierung, eine Auflösung starrer Grenzen innerhalb der Schulzeiten, z.B. zwischen Unterricht und Pausen darstellt. 3. Die Individualisierung steht in einem Zusammenhang mit der Erweiterung des Platzes und einer Öffnung der Räume, in denen gelernt wird.22 Nicht nur spielen in vielen Schulen mittlerweile die Flure, aber auch Orte außerhalb des Schulgebäudes eine immer größere Rolle; es werden auch die zum Lernen genutzten Räume in der Schule flexibler verwendet.23 In individualisierenden Lernangeboten, wie z.B. dem Unterricht mit Arbeitsplänen, sind Praktiken der Selbstkontrolle,24 ist ein immer stärker formaler Umgang mit Lernanforderungen25 und ein stärker formalisierter Vergleichsmaßstab – die benötigte Zeit, um ein bestimmtes Lernpensum zu erledigen26 – zu erkennen. Lernen wird dann etwa durch das Ausfüllen, Abhaken und Abheften von Arbeitsblättern oder das Herstellen bestimmter Produkte, wie etwa PP-Präsentationen27, sichtbar gemacht. Es geht immer stärker darum, überhaupt Aufgaben zu erfüllen und sich dafür in Tätigkeiten zweiter Ordnung zu üben. In unterschiedlicher Weise wird Schülern und Schülerinnen Raum geboten, über bestimmte Dinge selbst Entscheidungen zu treffen (z.B. über das, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt mit wem wo genau machen). Keinesfalls ist das mit Freiheit zu verwechseln: Den Schüler_innen werden in unterschiedlicher Weise Entscheidungen als Wahlen und in hohem Maße Regulation als Aufrechterhaltung getroffener Entscheidungen gegen andere „Versuchungen“ abverlangt. Beobachtund erkennbar sind Praktiken des Wählens anhand verschiedener Bewegungen, z.B. unterschiedliche Orte aufsuchen, in Materialien blättern und suchen bzw. 22 Vgl. Sabine Reh und Fritz-Ulrich Kolbe, „Grenzverschiebungen. Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen“, in: Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs, hg. v. Jeanette Böhme, Wiesbaden 2009, S. 103-119; Sabine Reh, Kerstin Rabenstein und Bettina Fritzsche, „Learning spaces without boundaries? Territories, power and how schools regulate learning“, in: Social and Cultural Geography, 12 (1), 2011, 83-98. 23 Vgl. Reh, Sabine, Kerstin Rabenstein und Till-Sebastian Idel, „Unterricht als pädagogische Ordnung. Eine praxistheoretische Perspektive“, in: Unterrichtstheorien in Forschung und Lehre, hg. v. Wolfgang Meseth, Matthias Proske und Frank-Olaf Radtke, Bad Heilbrunn 2011, S. 209-222. 24 Vgl. Kerstin Rabenstein, „Das Leitbild des selbstständigen Schülers. Machtpraktiken und Subjektivierungsweisen in der pädagogischen Reformsemantik“, in: Kooperatives und selbstständiges Arbeiten von Schülern. Zur Qualitätsentwicklung von Unterricht, hg. v. Kerstin Rabenstein und Sabine Reh, Wiesbaden 2007, S. 39-60. 25 Vgl. Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008. 26 Vgl. Sabine Reh, „Individualisierung und Öffentlichkeit. Lern-Räume und Subjektivationsprozesse im geöffneten Grundschulunterricht“, in: Öffentliche Erziehung revisited. Erziehung, Politik und Gesellschaft im Diskurs, hg. v. Sigrid Karin Amos, Wolfgang Meseth und Matthias Proske, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 33-52. 27 Vgl. Andreas Gruschka, Präsentieren als neue Unterrichtsform: Die pädagogische Eigenlogik einer Methode, Opladen u.a. 2008.
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Dinge in Augenschein nehmen, etwas davon wieder mit zurück nehmen an einen eigenen, den zuvor verlassenen Platz. Aus empirischen Studien – Befragungen von Schülerinnen28, aber auch aus Untersuchungen zu Schularchitekturen und deren Nutzung durch Schülerinnen29 – wissen wir, dass Schüler_innen die Möglichkeit, über ihren Aufenthaltsort zu entscheiden, ausgesprochen wichtig ist und als Ermöglichung von Selbständigkeit wahrgenommen wird; weniger wichtig sind ihnen didaktische Entscheidungen, die von deutschen Pädagog_inn_en zumeist für wertvoller gehalten werden. Über verschiedene Lerngruppen hinweg30 konnten wir entdecken, dass in einem solchermaßen verfahrenden Unterricht unterschiedliche Subjektpositionen eröffnet werden, Individuen in verschiedener Weise als Subjekte anerkennbar werden31, nämlich als selbständige Schülerinnen und als im weitesten Sinne unselbständige, die „hilfebedürftig“ werden und sich als „hilfebedürftig“ zeigen müssen, um anerkennbar zu sein. Hilfebedürftigkeit wird in den Klassen durch unterschiedliche Praktiken markiert, ob es das Aufzeigen, das Melden bei der Einzelarbeit ist, das Anbringen von Namenskärtchen an einer speziellen Tafel, das Warten in einer Schlange vor dem Lehrertisch bzw. bei der Lehrerin oder ob es nur darin besteht, zu signalisieren, dass man nicht weiter weiß, in der Gegend herum schaut oder Blickkontakt mit der irgendwo im Klassenraum befindlichen Lehrerin aufnimmt. Die Hilfebedürftigkeit kann sich auf Unterschiedliches beziehen, also etwa auf die Fähigkeit nicht anfangen zu können, sich nicht organisieren zu können, sich leicht ablenken zu lassen, vergesslich zu sein oder schlicht eine Aufgabe nicht bearbeiten zu können. Man kann alles Mögliche nicht können, wenn man sich nur als willig zeigt, Hilfe einzufordern und anzunehmen. Die Praktiken des Helfens sind demgegenüber häufig gekennzeichnet durch ihre dyadische Struktur, den Blickkontakt und den gemeinsamen Blick auf ein Papier, ein Heft oder Buch32. Wie genau die Positionen des Hilfebedürftigen in den Praktiken ausgestaltet sind, damit auch, wie 28 Andreas Hartinger, „Interesse durch Öffnung des Unterrichts – wodurch?“, in: Unterrichtswissenschaft, 34, 3, 2006, S. 272-288. 29 Vgl. Woodman, Kenneth R., Re-Placing Flexibility: An investigation into flexibility in learning spaces and learning, The University of Melbourne: Dissertation (Unveröffentlichtes Manuskript), 2011. 30 Vgl. Kerstin Rabenstein, An den Grenzen des Förderns. Eine videografische Studie zu Subjektivation in individualisierenden Lernangeboten an Ganztagsschulen, Eingereichte Habilitationsschrift an der TU Berlin 2011; Sabine Reh und Kerstin Rabenstein, „Normen der Anerkennbarkeit in pädagogischen Ordnungen. Empirische Explorationen zur Norm der Selbstständigkeit“, in: Judith Butler: Pädagogische Lektüren, hg. v. Norbert Ricken und Nicole Balzer, Heidelberg 2012, S. 225246. 31 Vgl. Nicole Balzer und Norbert Ricken, „Anerkennung als pädagogisches Problem. Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs“, in: Anerkennung, hg. v. Alfred Schäfer und Christiane Thompson, Paderborn u.a.: Schöningh, 2010, S. 35-88; Sabine Reh und Norbert Ricken, „Das Konzept der Adressierung. Zur Methodologie einer qualitativ- empirischen Erforschung von Subjektivation“, in: Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie, hg. v. Ingrid Miethe und Hans-Rüdiger Müller, Opladen/Farmington Hills 2012, S. 35-56. 32 Vgl. dazu Kerstin Rabenstein, An den Grenzen des Förderns. Eine videografische Studie zu Subjektivation in individualisierenden Lernangeboten an Ganztagsschulen, Berlin: Habilitationsschrift 2011.
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genau in welches Verhältnis zu sich selbst die Schüler_innen sich bringen müssen, ist von Lerngruppe zu Lerngruppe durchaus variierend. Vor diesem Hintergrund verwundert es daher nicht, dass Praktiken im individualisierenden Unterricht auch dazu führen, dass Besonderheiten auf Seiten eines Einzelnen agiert werden können und sichtbar werden. In den im Rahmen eines ethnographischen Forschungsprojektes zur Ganztagsschulentwicklung von uns beobachteten Grundschulklassen (von 12 untersuchten Schulen waren sechs Grundschulen, in denen wir meist zwei Klassen beobachtet haben) gab es immer ein bis etwa drei Kinder, bei denen wir aufgrund der Reaktionen der Lehrerinnen erkennen konnten, dass diese jene für auffällig im Unterricht hielten. In den ethnographischen Interviews mit den Lehrerinnen über diese Kinder tauchten häufiger Hinweise auf zwei prominente Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen auf – unabhängig davon, ob es sich bei diesen Kindern jeweils um Kinder handelte, bei denen ein Arzt bzw. ein Kinder- und Jugendpsychiater eine entsprechende Störung diagnostiziert hatte (was wir in der Regel nicht wussten und auch nicht gesondert erfragt haben). Die eine dieser beiden Störungen ist das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom – ein Problem des „Selbstmanagements“, der Handlungssteuerung oder der Selbstregulation33 – und die andere der Autismus – eine Beeinträchtigung der sozialen Interaktions- und der Kommunikationsfähigkeit, deren Diagnose stark zunimmt.34 Beide Störungen werden häufiger bei Jungen diagnostiert und oft erst und vor allem in der Schule zu einem Problem.35
3. Ethnographische Beobachtungen: Die Geschichte eines Unselbständigen Im Folgenden wird es um einen Schüler gehen, den wir Johannes nennen und den wir beobachtet haben in einer Grundschule, die im Ganztagssystem mit jahrgangsübergreifenden Lerngruppen arbeitet und in der Erst-, Zweit- und Drittklässler und dann wiederum Viert-, Fünft- und Sechstklässler in einer Lerngruppe zusammen unterrichtet werden bzw. zusammen arbeiten.36 Als wir in die Schule kamen, war Johannes gerade Zweitklässler geworden, dann war er zweimal hintereinander Drittklässler (es gibt in Berlin die Möglichkeit, länger in einer sogenannten „flexiblen Eingangsstufe“ zu verweilen, ohne offiziell sitzen zu bleiben) und in unserem 33 Vgl. Manfred Döpfner, Jan Frölich und Gerd Lehmkuhl, Hyperkinetische Störungen, Göttingen u.a. 2000; Caterina Gawrilow, Lehrbuch ADHS. Modelle, Ursachen, Diagnose, Therapie, München 2009. 34 Vgl. Inge Kamp-Becker und Sven Bölte, Autismus, Berlin 2011, vor allem S. 25/26. 35 Vgl. für den Autismus ebd., S. 27; für das Hyperkinetische Syndrom Döpfner/Frölich/Lehmkuhl, Hyperkinetische Störungen, S. 4-6; Gawrilow, Lehrbuch ADHS. 36 Die Beobachtungen wurden zunächst durchgeführt im Rahmen eines ethnografischen Forschungsprojektes zur Entwicklung von Lernkulturen an Ganztagsschulen, das Projekt LUGS, das von 2005 bis 2009 vom BMBF finanziert wurde.
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letzten Forschungsjahr war er Viertklässler. Inzwischen ist er – wie wir aus Berichten der Lehrerinnen, die wir dazu nachträglich befragt haben, wissen – Siebtklässler und besucht eine Klasse mit sehr wenig Schülerinnen in einer besonderen schulischen Einrichtung. Die Überweisung in diese spezielle Schule – es handelt sich um eine für Kinder mit unterschiedlichen Formen des Autismus – erfolgte, so berichteten die Lehrerinnen, auf Wunsch der Eltern, die verschiedene Ärzte und andere Spezialisten konsultiert hatten, bis schließlich eine entsprechende Diagnose gestellt worden sei. Die Überweisung in die besondere Schule erfolgte also nicht – wie oft – aufgrund einer Empfehlung der Pädagoginnen dieser Lerngruppe, die sich im Gegenteil– so ihre eigenen Berichte – ausdrücklich dagegen ausgesprochen hatten, den Schüler in die andere Schule zu überweisen. Den folgenden drei Situationsbeschreibungen liegen Videographien zugrunde, die ausführlich transkribiert und sequentiell rekonstruiert wurden.37 Im Anschluss daran wurde jeweils analysiert, wie sich in den Situationen ein „Re-Adressierungsgeschehen“ vollzieht.38 Dazu wurde gefragt, als wer sich jemand in seinen Reaktionen auf einen anderen durch diesen gesehen und angesprochen sieht und in welche Position diesem gegenüber gebracht er sich zeigt. Gefragt wurde auch, vor welchem normativen Hintergrund – der damit immer auch neu aufgerufen und unter Umständen verschoben wird – dieses geschieht und welche Wertungen in den Adressierungen damit verknüpft sind. Diese Analysen werden im Folgenden nicht detailliert dargestellt. Die erste Situation ist eine, in der Johannes dabei beobachtet wurde, wie er im Lerngrupen-Raum ankommt, seine Schultasche in den dafür vorgesehenen Regalplatz bugsiert, nachdem er Sachen aus dem Ranzen genommen hat, zu einem Platz geht, seine Papiere ablegt, sich an die „Hilfetafel“ bewegt, mit einem Magnetkärtchen, auf dem sein Name steht, markiert, dass er Hilfe von der Lehrerin benötigt, ohne vorher in seinem mitgebrachten Heft zu schauen, was er tun muss, und sich dann wieder hinsetzt und abwartet. Nachdem eine Mitschülerin ihn daran erinnert hat, dass er sich noch seinen Arbeitsplan abholen müsse, er das tut und weiter wartet, kommt nach einigen Minuten die Lehrerin und setzt sich neben ihn: „Was kann man hier rechnen wenn man rechnen will?“ Sie arbeitet ca. zwei bis drei Minuten mit ihm an der Aufgabe im Heft, die er zu erledigen hat, indem sie ihn durch Nachfragen anleitet. Im Dialog mit ihr beginnt Johannes zu arbeiten, um anschließend, „in die Gänge“ gebracht, von einer Schülerin wieder unterbrochen zu werden. Nachdem die Lehrerin nämlich gegangen ist und er erst einmal weiter arbeitet, interveniert die neben ihm sitzende Schülerin, weist ihn darauf hin, dass
37 Vgl. zum Vorgehen Sabine Reh und Julia Labede, „Kamera-Interaktionen. Videographie im geöffneten Unterricht“, in: Feld und Theorie. Herausforderungen erziehungswissenschaftlicher Ethnographie, hg. v. Barbara Friebertshäuser, Helga Kelle, Heike Boller, Sabine Bollig, Christina Huf, Antje Langer, Marion Ott und Sophia Richter, Opladen/Farmington Hills 2012, S. 89-103. 38 Vgl. Reh/Ricken, „Das Konzept der Adressierung“.
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er das, was er tut, gar nicht tun müsse, vielmehr eine andere Aufgabe zu lösen habe. Das wehrt er unwirsch ab, arbeitet weiter und hört nach kurzer Zeit wieder auf. Die zweite Situation spielt sich ein paar Monate später ab; sie ist eine, in der Schülerinnen an einem Tisch – darunter auch Johannes – Gegenstände aus einem Korb, der auf dem Tisch steht, und deren Bezeichnungen alle mit dem Buchstaben Z beginnen, aufschreiben sollen. Offensichtlich ist während des Bearbeitens – Johannes spielt mit einem Plastik-Zebra, mit einer Zange und einem Zitronenmelisseblatt – die Unterrichtsstunde zu Ende gegangen. Johannes hat vier Worte notiert. Während die drei Mädchen nun auch beginnen, mit den Gegenständen im Korb zu spielen, indem sie, in einer Art Rollenspiel für diese sprechend, Johannes auffordern, sie – also tatsächlich das zur Bezeichnung genutzte Wort mit Z – aufzuschreiben: „Schreib mich auf, schreib mich auf“, tanzt das Zebra auf dem Tisch vor Johannes herum. Ein Mädchen verliert sich im Spiel mit der Zange; irgendwann erlischt allerdings das Interesse der Mädchen und sie verlassen Johannes, der weiter mit den Gegenständen spielt. In der nächsten, der dritten Situation, in der ein Übergang vom einen zum anderen Unterrichtssetting stattfindet, nämlich vom Morgenkreis zu einer Art Partneroder Gruppenarbeit, ist Johannes schon in der dritten Klasse. Die anderen Schülerinnen hatten – nachdem er nicht auf den Aufruf seines Namens reagierte – ihn deutlich stigmatisiert: Sie riefen dann, wie die Lehrerin unterstützend, ebenfalls seinen Namen. Das machen sie keinesfalls, wie wir beobachten konnten, bei allen Schülerinnen, die irgendwann einmal von einer Lehrerin ermahnt werden. Die Situation des Zusammenarbeitens von Johannes mit einem Mädchen, Charlotte, zu der die beiden von der Lehrerin aufgefordert wurden, entwickelt sich geradezu desaströs. Charlotte versucht, sich von Johannes abzusetzen und die Situation zu bestimmen – möglicherweise, weil sie nicht in eine gleichberechtigte Kooperation mit ihm geraten will.39 Die Gründe für dieses Verhalten Charlottes sind nur zu vermuten; es könnte sein, dass sie Johannes aus irgendwelchen Gründen nicht mag; es könnte aber auch sein, dass sie von der Lehrerin in der Zusammenstellung des Teams als die Selbständigere schon angesprochen wurde und diese Position nur zu erhalten ist, wenn sie den Jungen degradiert zu einem, dem geholfen werden muss. Sie behandelt Johannes als jüngeren, ihr unterlegenen Schüler, der ihr das Leben in der Position der Helfenden einerseits ermöglicht, andererseits aber schwer macht. Beide hatten sich zu zweit eine Aufgabe aus mehreren bereit liegenden heraus suchen sollen. Während Charlotte ihm dabei einmal den kurz vorher gereichten Korb mit Materialien zum Lösen einer Aufgabe, an ihm vorbeisausend, wieder aus der Hand nimmt, bleibt er stehen und schaut wie verwundert – fast wirkt es slapstickmäßig – auf seine Hände, als würden sie noch den Korb halten. Das Mädchen hantiert geschäftig mit den Dingen und bittet irgendwann Johan39 Vgl. Sabine Reh and Kathrin Berdelmann, (2012). „Aspects of Time and Space in Open Classroom Education“, in: Tacit Dimensions of Pedagogy, Bosse Bergstedt, Anna Herbert, Anja Kraus and Christoph Wulf, Münster, New York: Waxmann, 2012, pp. 97-110; Reh/Rabenstein, „Normen der Anerkennbarkeit in pädagogischen Ordnungen“.
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nes, mit übergeschlagenen Beinen und etwas gelangweilt dasitzend, sich nun eine Aufgabe auszuwählen: „Johannes, Johannes such dir mal eine Aufgabe ...“ – er darf und muss jetzt, von Charlotte autorisiert, aussuchen, welche Aufgabe er bearbeiten möchte. Wir konnten in den Videos eine sich wiederholende Konstellation beobachten, in der Johannes die ihm gestellten Aufgaben – eine Aufgabe kann im Übrigen auch darin bestehen, sich eine Aufgabe zu suchen bzw. auszuwählen – nur sehr zögerlich und langsam und mit Hilfe anderer bearbeitet. Drei Adressierungen als Hilfebedürftiger realisieren sich in unterschiedlichen Reaktionen – sie werden zu dem, was sie dann sind, erst jeweils in der Reaktion von Johannes auf sie. Die Beobachtungen lassen sich in subjektivierungstheoretischer Perspektive folgendermaßen zusammenfassen: 1. Die Haltung von Johannes – das körperliche Auftreten von Johannes – schien für die ethnographische Beobachterin im Verhältnis zu dem einiger Mädchen auffällig. Er wirkte wie unentschlossen; schlendernd und tänzelnd bewegte er sich im Raum; er war nicht schnell, sondern bewegte sich eher langsam – während viele der Mädchen, vor allem Charlotte, sehr schnell durch den Raum liefen und geschäftig sich darum kümmerten, Johannes mitzunehmen und ihn in Bewegung zu bringen. Johannes zeigt sich unbeteiligt oder zumindest weniger beteiligt. Ob er weniger beteiligt war und ob von ihm beabsichtigt wurde, eine geringere Beteiligung zu zeigen, können wir nicht wissen. Es waren überhaupt weniger Bewegungen und Aktivitäten auf seiner Seite zu beobachten. 2. Johannes fing nicht gleich mit der Erledigung der schulischen Aufgaben an oder erfüllte sie auf andere Art, als offensichtlich viele der anderen Schülerinnen es taten. Oder er fing – so sah es für die Beobachterin aus – mit irgendetwas an, was ihm gerade in die Hände oder vor die Füße fiel; in diesem Sinne wirkten seine Aktivitäten im Sinne der geforderten schulischen Aufgabenerledigung ungeplant und nicht immer zielgerichtet. 3. Die skizzierten Situationen zeigen sehr auffällig, dass zu der Position von selbständigen Schülerinnen in Relation die der Unselbständigen gehören. Wir können also in diesem Rahmen erkennen – das macht Schule und Pädagogik in der Schule aus – wie die Schule und in ihr alle Beteiligten selbst Differenzen als differente Subjektpositionen produzieren und beobachten. Die Subjektposition eines anerkennbaren unselbständigen Schülers ist die des Hilfebedürftigen, die erst entsteht, indem jemand ein Angebot als ein Hilfeangebot annimmt und in einer besonderen Weise diese Position mit schafft. Das tut Johannes vor allem in der zuerst beschriebenen Situation, wo er sich sowohl von einem Mädchen wie auch von der Lehrerin helfen lässt und die ungebetene Hilfe eines anderen Mädchens ablehnt. 4. Im Verlauf der Jahre in der Lerngruppe scheinen einige Mädchen – die, die wir hier beobachtet haben – Johannes gegenüber mehr und mehr zu „Hilfslehrerinnen“ zu werden. Das Zusammenspiel scheint eine Art Spirale zu sein, aus der es für niemanden ein Entrinnen gibt – für die Mädchen nicht, die, wenn sie vor der pädagogischen Norm von Selbständigkeit bestehen wollen, sich kaum mehr gleichberechtigt kooperierend mit Johannes zeigen können, für Johannes
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allerdings auch nicht, weil er unter den Bedingungen der als Hilfslehrerinnen agierenden Mädchen sich nur mehr mit Einschränkungen für seine eigene Position unter den gleichaltrigen peers als hilfebedürftig zeigen kann (so wie noch in der hier zuerst berichteten Situation). Er zeigt sich dagegen als eher unwillig und widerständig, Aufgaben als Aufgaben anzunehmen. 5. Die Mädchen zitieren auf unterschiedliche Weisen Praktiken und darin eine spezifische Norm von Selbständigkeit, mit denen die Schülerinnen dazu gebracht werden, Wahlen zu treffen, sich zwischen Alternativen zu entscheiden. Interessant ist, dass sie dabei nicht einfach die Lehrerin nachahmen. In der ersten Situation scheint die Lehrerin, die sich neben Johannes setzt und mit ihm unprätentiös rechnet, ohne noch einmal das Problem des Nicht-Anfangens ihm gegenüber zu thematisieren, keineswegs übergriffig; sie versucht nichts zu beeinflussen, was in der Schule nicht zu beeinflussen ist – etwa das Elternhaus oder irgendwelche Erfahrungen von Johannes in seinem Elternhaus; Johannes muss keine Erklärungen zu seinem Verhalten oder Bekenntnisse abgeben. Und dennoch sind in der Geschichte der Praktiken dieser Lerngruppe, im Zusammenwirken von Johannes und den Mädchen, also verschiedener Beteiligter, komplementär zuweisbare und einnehmbare, aber nur begrenzt zurückweisbare Subjektpositionen entstanden, übergeordnete Positionen von selbständigen Schülerinnen, die verbunden sind mit der Position einer Hilfslehrerin, und tendenziell mit Unterordnung gekoppelte Positionen des hilfebedürftigen Schülers.
4. Fazit: Subjektivierung eines Unselbstständigen in der Schule In den Situationen, die in den Feldaufenthalten beobachtet werden konnten, ist erkennbar, dass die Varianz derjenigen Positionen, die Johannes einnimmt, nicht sehr groß ist. Haltungen, die hier beobachtet werden können – ganz unabhängig davon, wo sie ihren Ursprung haben (wenn sie denn einen haben) –, decken sich mit medizinisch-pathologisierenden Beschreibungen bestimmter Verhaltenssyndrome. Die in den ethnographischen Feldnotizen immer wieder beobachtete Organisation des individualisierenden Unterrichts, die angebotenen Räume des Wählens und Entscheidens lassen Reaktionen wie die von Johannes überhaupt erst möglich werden. Aber indem dieser Johannes zu wiederholten Malen in Subjektpositionen eines Hilfebedürftigen kommt, routinisiert sich möglicherweise die Teilnahme an Praktiken und verfestigen sich eingenommene körperlichen Haltungen, finden Inkorporierungen statt. Zusammen mit sich ändernden Figurationen unter den peers werden die Möglichkeiten für diesen Johannes, sich darin in ein Verhältnis zu sich selbst zu setzen, verändert, letztlich eingeschränkt – bis er schließlich zum Hilfebedürften, aber nur ungern Hilfe Annehmenden und teilweise gar Widerständigen wird. Nicht gut organisiert zu sein, nicht zielgerichtet zu arbeiten, sich mitreißen zu lassen von den Gegenständen des Klassenraums und sich gleichzeitig rhythmisch und langsam zu bewegen, machen Johannes in einer bestimmten Umgebung auffällig, weil es Kategorien gibt, dieses Verhalten als ein pathologisches zu beobachten und zu beschreiben.
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KÖRPER, DINGE, RÄUME
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NUMA MURARD
Individuum, Subjekt und somebody Subjektivierung als Körpererfahrung In diesem Aufsatz geht es um ein Verständnis der Subjektivierung als Körpererfahrung und die Überwindung der althergebrachten Unterscheidung von Seele oder Geist und Körper. Ethnografische Forschung ist „körperliche Erkenntnis“1 und somit etwas ganz anderes als eine Erkenntnis allein durch Wort oder Schrift. Zunächst soll daher erklärt werden, warum wir dieses Subjektivierungskonzept benutzen. Mit Blick auf die ältere und neuere Geschichte der Sozialwissenschaften vertrete ich die These, dass die Entwicklung des Subjektivierungskonzepts in erster Linie eine Möglichkeit war, die Grenzen des Begriffs des Individuums zu überwinden, in zweiter Linie aber auch eine Reaktion auf die Aporien des Subjektbegriffs. Ich schließe mit dem Vorschlag, mit dem Konzept des „somebody“ zu arbeiten, mit dem sich die körperliche Dimension der Subjektivierung erfassen lässt.
1. Das Individuum: ein unscharfes Konzept In seiner Archäologie des Wissens hat Michel Foucault gezeigt, dass der Aufschwung der Humanwissenschaften nicht etwa dazu führte, dass man dem Wesen des Menschen auf die Spur kam, sondern dass dieses Wesen stattdessen im Netz von Wissen, Notwendigkeiten und Gewalten verschwand. Die historischen Individualitäten sind nur ein an der Oberfläche dieser Netze aufblitzendes Wellengekräusel.2 In der soziologischen Tradition ist das Erbe dieser Bewegung das Individuum als eine rein rechnerische Größe in einer statistischen Reihe, einer Wahrscheinlichkeitsrechnung, einer Liste von Objekten. Für eine auf wissenschaftliche Anerkennung bedachte, den Naturwissenschaften nahestehende, wenn nicht gar zur experimentellen Überprüfung ihrer Ergebnisse fähige Disziplin mag das ein nützliches Konzept gewesen sein. Aber für die Soziologen meiner Generation, die der 1970er Jahre, war es ein bloßes Skelett, ein Knochensack, dem es an Fleisch, Muskeln, Organen und vor allem an Leben mangelte. Gestützt auf Max Weber meinten wir, man müsse diesem Individuum die Fähigkeit zuerkennen, seinen Betätigungen und seinen Beziehungen einen Sinn zu geben. Das aber hieß, dass das Individuum eben mehr ist als ein Individuum. Vielleicht eine Person? Emile Durkheim selbst hatte seinen berühmten Essay Über soziale Arbeitsteilung mit der starken Maxime
1 Pierre Bourdieu, Meditationen, Frankfurt am Main 2001. 2 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981.
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beschlossen: „Nun bestreitet heute niemand mehr den verpflichtenden Charakter der Regel, die uns befiehlt, immer mehr zur Person zu werden“3. Aber die Soziologie des Individualismus stand in mancherlei Hinsicht auf schwachen Füßen. Erstens hätte sie als Basis eine stabile, ausgewogene und einheitliche psychologische Konzeption des Individuums gebraucht, eine Konzeption, die es so nicht gibt. Die verschiedenen Zweige der Psychologie definieren das Individuum auf je eigene Weise, sodass es zum ständigen Streitobjekt zwischen Experimentalpsychologen, kognitiven Psychologen und Verfechtern einer Konzeption des Unbewussten geworden ist. So ist zum Beispiel das von Norbert Elias beschriebene Individuum, das sich unter dem Druck der auf seine Triebe einwirkenden, heterogenen Zwänge ausbildete, kein homo sociologicus mehr, sondern die sozialgeschichtliche Version des Subjekts der Psychoanalyse.4 Zweitens setzte das Individuum des soziologischen Individualismus das Individuum des politischen Individualismus voraus, des liberalen Individualismus, das heißt, das Individuum, das im Besitz seiner selbst und Träger von Rechten ist, während diese Eigenschaft nicht einmal in den Industriegesellschaften für alle Menschen gilt. Schon die Figur des Proletariers, des Menschen, der nur seine Arbeitskraft besitzt, sollte genügen, um daran zu erinnern, dass es trotz aller Fortschritte des Sozialstaats immer noch ein Privileg ist, ein Individuum in diesem Sinne zu sein.5 Derart zwischen die Fronten von psychologischem Wissen einerseits und Politik oder Recht andererseits geraten, musste die Soziologie des Individualismus einräumen, dass zwischen dem Individuum als empirischem Subjekt, das spricht und handelt, und dem Individuum als Wert6 als einer von der Kultur mit einem ganzen Komplex von Bedeutungen unterschiedlichster Art belegten Größe7, keine klare Trennung möglich war. Unter diesen Bedingungen bestünde die Arbeit der Soziologen nur noch in der Beschreibung und Analyse des Individualisierungsprozesses als soziologischer Dublette des Sozialisationsprozesses, bei immer häufigerer Wiederholung dieser Beschreibung und dieser Analyse. Das Konzept war also entweder zu facettenreich und daher nicht allgemein genug oder zu facettenarm und für eine Analyse der sozialen Erfahrungen nicht ausreichend. Eines der deutlichsten Indizien für eine Wende vom Individuum zum Subjekt und zur Subjektivierung ist die seit den 1970er Jahren stark gestiegene Zahl der empirischen und qualitativen Arbeiten über Berufsgruppen, soziale Gruppen, marginale oder arme Gruppen, Altersklassen, Geschlechterklassen usw. In Frankreich dürfte diese empirische Wende der Soziologie mit dem Ende der 3 Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt am Main 1992, S. 475. 4 Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation: soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2. Wandlungen der Gesellschaft: Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt am Main 1969/1976. 5 Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000. 6 Louis Dumont, Homo aequalis. Genèse et épanouissement de l’idéologie économique, Paris 1977. 7 Charles Taylor, Quellen des Selbst: die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1996.
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Kolonisierung und der Rückkehr der Ethnologen ins Mutterland zu tun haben.8 Jetzt konnte sich die Soziologie, frei (so glaubte sie zumindest) von den kolonialistischen Vorurteilen, die einen Schatten auf die Geschichte der Ethnologie warfen, der Aufgabe widmen, Erkenntnisse über die in den Subgruppen einer Gesellschaft vorherrschenden Praktiken und Vorstellungen zu gewinnen und zu verbreiten und auf diese Weise einen Wissensbestand aufzubauen, der keine Folge von aufeinander aufbauenden Erkenntnisschritten war, sondern ein „wissenschaftliches Mosaik“9 soziologisches Puzzle, zu dem jede empirische Untersuchung ein Stück beisteuerte. In diesen empirischen Arbeiten nun spielten die Angehörigen der entsprechenden sozialen Gruppen eine große Rolle. Ihre Diskurse, Praktiken, Handlungen standen im Zentrum der Analyse. Ihre Erinnerung, ihre Biografie wurden zum wichtigsten Material einer Analyse, in der sie als Subjekte ihrer Geschichte vorkamen. Musste sich die Soziologie des Individuums da nicht den Subjektphilosophien zuwenden?
2. Das Subjekt, eine philosophische und soziologische Aporie Auch das Subjekt der Philosophie, das erkennende, sprechende und handelnde Subjekt, ist ein Produkt der bürgerlichen Revolution, ein Rechtssubjekt, das Subjekt der Menschenrechte mit ihren drei Attributen: Freiheit, Willensfreiheit, Verantwortung. Doch auch dieses Subjekt war eine Illusion, wie uns Marx, Freud und Nietzsche, die „Meister des Verdachts“, jeder auf seine Weise gelehrt haben. Das freie, autonome und verantwortliche Subjekt ist ein Subjekt für ein Gericht, ein Subjekt für einen Fürsten. Es ist in Wirklichkeit assujetti, subjectus, unterworfen, ein Untertan. In eben jenen 1970er Jahren erinnerte Althusser daran, dass dieses Subjekt der Mensch ist, der sich umdreht, wenn der Polizist „He, Sie da!“ hinter ihm her ruft.10 Dieses Subjekt ist eher ein erkanntes als ein erkennendes Subjekt, eher eines, aus dem es spricht, als ein sprechendes, eher ein fremdgesteuertes als ein handelndes, es ist ein Spielball seines Unbewussten, seiner Klasse, seiner Moral. Auch bei diesem Subjekt war die Subjektivität illusorisch, war sie das, was gegenüber der Objektivität immer den Kürzeren zog. Politisch konnte dieses Subjekt kein wirklicher Citoyen sein, kein sujet-citoyen, sondern musste assujetti, untertan, bleiben. Was für den Proletarier in den Industriegesellschaften gilt, gilt auch für die meisten Subjekte in den alten Reichen, den kolonialen oder post-kolonialen Nati-
8 Vgl. z.B. Gérard Althabe, „Ethnologie du contemporain et travail de terrain“, Paris, Terrains N°14 (1990). 9 Howard Becker, Traduction française, „Biographie et mosaïque scientifique“, Paris, Actes de la recherche en sciences sociales, N°1 1986. 10 Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung)“, in: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Berlin West 1977.
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onalstaaten, in denen sie als Untertanen auch wieder nur Regiertenpolitik machen konnten.11 So stellen sich auch, aus dem historischen Abstand betrachtet, die beiden wichtigsten soziologischen Theorien jener Zeit samt ihren Weiterentwicklungen als großangelegte Versuche zur Überwindung dieser philosophischen und soziologischen Aporie dar: (a) Die Theorie des agent. Das Subjekt der Theorie Pierre Bourdieus, der agent, das handelnde Subjekt, wird als eine Verbindung von Objektivität und Subjektivität präsentiert. Sein treibendes Prinzip sind bestimmte Denk- und Handlungsschemata, ein Habitus, der sich vor allem in einem Gebrauch und einer Darstellung des Körpers ausdrückt – einer Hexis –, sowie in Moralvorstellungen und Repräsentationen – einem Ethos. Als strukturiertes und strukturierendes Prinzip ist der Habitus die Verinnerlichung und Inkorporierung der sozialen Herkunft und der Abfolge der von diesem Subjekt eingenommenen Positionen und zugleich das, was den Weg von der einen zur jeweils nächsten Position bestimmt. Die handelnden Subjekte können Strategien entwickeln und sie an immer wieder neue Situationen anpassen, die selber jedoch jeweils Aktualisierungen des Habitus sind. Für viele Soziologen blieb diese Sichtweise deterministisch, auch wenn sich P. Bourdieu selbst immer wieder gegen diesen Vorwurf verwahrte,12 und ihre Anwendung auf die verschiedenen „Felder“, etwa das der Ästhetik, war ihrer Meinung nach repetitiv, nicht immer überzeugend und vor allem kaum geeignet, so etwas wie sozialen Wandel, soziale Kämpfe, Revolutionen zu erklären. (b) Die Theorien des Akteurs. Diese können in ihrer ursprünglichen Form wie auch in ihren Weiterentwicklungen als Versuche zur Rettung des Subjekts durch eine Soziologie des Handelns verstanden werden.13 Ihre soziologischen Implikationen sind ambivalent. Auf der einen Seite haben wir die agency-Theorien14, die eine Anpassung der liberalen Ideen an den Kontext der post-welfare-Gesellschaften darstellen. Bei ihnen geht es meiner Meinung nach weniger darum, die soziale Wirklichkeit zu beschreiben, als vielmehr die Eigenverantwortung zu propagieren. Wenn die Subjekte nicht in der Lage sind, sich „zur rechten Zeit am rechten Ort“ zu befinden, um die von den post-welfare-Gesellschaften spärlich vergebenen Chancen wahrzunehmen, dann liegt das an ihrem Mangel an Reflexivität, und man muss sich staatlicherseits bemühen, diesen Mangel durch Einstimmung der Subjekte auf das Konkurrenzdenken zu kompensieren. Auf der anderen Seite haben wir die Theorien des in den sozialen und politischen Kämpfen engagierten Akteurs. Mit Axel Honneths15 Konzept der Anerkennung können wir die politischen 11 Partha Chaterjee, Politics of the governed: Reflections on popular politics in most of the world, Columbia 2004. 12 Vor allem: Pierre Bourdieu, Interventionen 1961-2001, 3 Bde., Hamburg 2002-2004. 13 Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1992. 14 Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/New York 1988. 15 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992.
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und sozialen Bewegungen des Industriezeitalters mit neuen Augen sehen. Dabei tritt ein Subjekt zutage, das von Liebe, Selbstachtung und Anerkennung oder, die andere Seite der Medaille, von Verlassenheit, Missachtung, Entwürdigung geprägt ist. In beiden Fällen ein Subjekt, das kämpft. Zwei Fragen bleiben. Erstens, der Kampf ist sporadisch. Das Subjekt kann eine Zeit lang, die Zeit des Kampfs, ein Subjekt sein, ist aber vor und nach dieser Zeit ein Objekt. Zweitens, das Konzept des Kampfs um Anerkennung ermöglichte ein neues Verständnis der sozialen Bewegungen des Industriezeitalters, eines Zeitalters also, in dem der Feind als der vom Staat mehr oder weniger unterstützte Arbeitgeber, Ausbeuter, klar identifiziert war. Aber gilt das auch für das postindustrielle Zeitalter, in das wir inzwischen eingetreten sind? Hier richtet sich der Kampf gegen einen unsichtbaren Feind, eine Art Phantom-Feind. Was Neoliberalismus ist, wissen wir, nämlich die bewusst auf die Spitze getriebene Konkurrenz, was aber weniger ein Feind als ein abstraktes Konzept ist, ein Phantom, ein Phantom des „Systems“, das schon frühere Autoren wie Herbert Marcuse vergebens bekämpften.
3. Der Subjektivierungsprozess und der Körper Das Konzept der Subjektivierung dürfte die vorläufige Lösung für diese verschiedenen Probleme darstellen. Mit ihm lässt sich die im Subjektbegriff angelegte Substanzialisierung vermeiden, da nun der Prozess betrachtet wird und also die Entscheidung über den Status der an diesem Prozess beteiligten Person(en) nicht schon von vornherein gefallen ist. Zudem lässt sich mit diesem Konzept die EntSubjektivierung ebenso gut betrachten wie die Subjektivierung, die Umdeutung des Stigmas ins Positive zum Beispiel ebenso wie seine Verinnerlichung. Jeden Tag werden Tausende von erfolgreichen Herabsetzungszeremonien vollzogen,16 und jeden Tag Tausende von kleinen Akten des Widerstands gegen diese Herabsetzungen. Judith Butler17 hat diesen dynamischen Zusammenhang von Subjektivierung und Ent-Subjektivierung vielleicht am klarsten formuliert. Denn in den konkreten Beziehungen und Praktiken sind, ausgehend von der Festnagelung eines jeden als Subjekt (Althussers „He, Sie da!“), Identifizierung und Ent-Identifizierung, Subjektivierung und Ent-Subjektivierung, Abhängigkeit und Emanzipation immer miteinander verknüpft. Unter diesen Bedingungen kann das Konzept der Subjektivierung summarisch als der Prozess definiert werden, in dem die Individuen sich als Subjekte hervorbringen und als Subjekte hervorgebracht werden. An diesem Punkt jedoch muss zunächst geklärt werden, wie sich Identifizierung und Subjektivierung sowohl voneinander unterscheiden als auch miteinander zusammenhängen. So ließe sich Identität als Ergebnis der Subjektivierung definieren. Aber wir kennen die Schwie16 Harold Garfinkel, „Conditions of successful degradations ceremonies“, American journal of sociology, Chicago1956 . 17 Judith Butler, Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001.
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rigkeit, auf die wir beim Gebrauch dieses Konzepts stoßen: Wenn ich sage, Identität sei etwas Vorläufiges, Mobiles, Flexibles, bekomme ich es mit einer logischen Unmöglichkeit zu tun, impliziert doch der Begriff Identität, dass A nicht ungleich A sein kann. Der Philosoph Paul Ricoeur hat als Lösung für dieses Problem die Unterscheidung zwischen Selbstheit (identité-ipse) und Selbigkeit (identité-idem) vorgeschlagen.18 Wenn die Subjektivierung ein Prozess ist, kann sie zwar nicht zur Selbigkeit führen, ist aber durchaus mit der Aufrechterhaltung einer Selbstheit (identité-ipse) vereinbar. Diese Selbstheit wäre dann das, was bei dem Soziologen Erving Goffman das Konzept des self ist. Man kann sich allerdings fragen, ob das self, oder die identité-ipse, nicht letzten Endes durch die Selbigkeit oder die identité-idem überdeterminiert ist, durch die Identität im logischen Sinne des Wortes, während das Interessante an der Arbeit mit dem Subjektivierungskonzept meiner Meinung gerade war, dass die soziologische Forschung mit ihm begann, sich nicht mehr auf die Identität der Person, sondern auf ihre Einmaligkeit, ihre Besonderheit zu konzentrieren. Hinzu kommt, dass das Konzept der Identifizierung eindeutig psychologische Anklänge hat. Die Identifizierung erfolgt immer gegenüber anderen, während die Subjektivierung, selbst wenn der Anstoß zu ihr von anderen kommt, ein Verhältnis von sich zu sich ist, ein Verhältnis in Bewegung, eine Bewegung von sich zu sich. Die Bewegung der Subjektivierung wäre eher als ein ständiger, meist individuell und manchmal kollektiv geführter Kampf zu charakterisieren. In diesem Kampf tritt zwar keine Identität und auch kein Subjekt zutage, aber doch ein Jemand. Ich möchte anregen, diesen Jemand als einen somebody zu betrachten, das heißt, als jemanden, der einen Körper hat oder sogar ein Körper ist. Wir alle sind vor allem Körper, von unseren Müttern ausgetragene „Neunmonatskörper“. Erst Kinderkörper, dann Erwachsenenkörper, dann hinfällige und sterbende Körper. Zu pflegende und zu umsorgende Kinderkörper, zu erziehende Körper für den Markt der Bildungsabschlüsse, zu verschönernde und zu schmückende Körper für den Heiratsmarkt, arbeitende Körper für den Arbeitsmarkt, dann Körper ohne Wert auf allen diesen Märkten. Körper, die sich um sich selbst kümmern, um andere, um die andere sich kümmern. Wer ist dieser somebody? Diese Frage ist nicht dasselbe wie die Frage: Wer ist dieses Subjekt? Und da sie auf mehreren Wissensgebieten gestellt wird, etwa in der Philosophie mit Hannah Arendts Unterscheidung zwischen Politik und Leben und in der Psychoanalyse mit der Frage der Geburt oder vielmehr des Aufbaus des somebody in der eigenen Psyche, könnte sie auch zu ergiebigeren Antworten führen. Man könnte sich ihr etwa nähern, indem man von der Feststellung ausgeht, dass die Subjektivierung keiner Determinierung a priori unterliegt, dass sie eine politische, aber auch eine ethische oder ästhetische Ausrichtung haben kann. Und dass sich, soziologisch gesprochen, diese Ausrichtungen gewiss nicht zufällig ergeben.
18 Paul Ricoeur, Das Selbst als ein anderer, München 1996.
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4. Das physische Leben der Macht Denn ist „Das psychische Leben der Macht“ – wie die wörtliche Übersetzung des Titels von J. Butlers Buch The Psychic Life of Power lautet19 –, nicht vor allem ein physisches Leben? Zum Beispiel hätte die Aufteilung zwischen Vernunft und Wahnsinn in Michel Foucaults Terminologie20 keinerlei Berechtigung, wenn die Rationalisierung der produktiven Tätigkeiten – der Kapitalismus – nicht über das beharrliche Da-Sein eines Körpers stolpern würde, der arbeitsfähig scheint, aber eine mangelhafte Ausrichtung und Bündelung der auf die Arbeit zu verwendenden Kräfte aufweist. Ein anderes Beispiel ist das der kolonisierten, auf rassische Merkmale reduzierten, kategorisierten, stigmatisierten Gruppen. Ihre Erfahrung zeigt, dass die soziale Welt aufgeteilt ist, und zwar vornehmlich nach der Hautfarbe. Von der Hülle zu dem, was in ihr steckt, ist es nur ein Schritt. Die Erfahrungsvielfalt ist Ausdruck der Formenvielfalt der Subjektivierung. Das Entscheidende ist die Haut, aber auch die Gesichtsbildung und überhaupt alle Körperaccessoires, etwa die Maske (persona). Und alle Körperpartien. Nehmen wir noch einmal das Beispiel des vom drückenden Mangel gekennzeichneten Körpers in den unteren Klassen. War und ist das entscheidende Problem nicht immer das Dilemma von Askese und Hedonismus? Von Subjektivierung in der Genügsamkeit oder Subjektivierung im Genuss? Lange wurden Askese und Hedonismus als alternative, vom Stand der Ressourcen bestimmte Entscheidungen gesehen. Danach wäre die Askese typisch für die respektable Arbeiterklasse, für diejenigen, die noch Hoffnungen und Ambitionen, noch etwas zu verlieren und zu gewinnen hatten und sich von daher malthusianisch verhielten: je mehr Hoffnung, desto weniger Kinder, je größer die Hoffnung, desto kleiner der Konsum. Der Hedonismus dagegen wäre das typische Kennzeichen der Praktiken derer, die nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu verlieren hatten, im Mangel gefangen waren. Ein Körper ohne Ethos. Das aber entspricht nicht der beobachteten Wirklichkeit. Das Ethos steckt im Körper, und anders als in dem berühmten Ausspruch stinkt Geld eben doch, je nach dem, woher es kommt. In den unteren Klassen weiß jeder, dass Askese über Hedonismus geht, dass Arbeit besser ist als „Stütze“, familiale Stabilität besser als Trennungen und immer wieder neue Patchworkfamilien, Mäßigung besser als übermäßiger Alkoholkonsum. Jeder weiß, dass es besser ist, wenn man seine Miete bezahlt. Der Arbeitslose ist der beste Parteigänger der Arbeit, der Alkoholiker der beste Parteigänger der Abstinenz, der Dieb der beste Parteigänger des Eigentums. In den beherrschten sozialen Gruppen dominiert also die ethisch ausgerichtete Subjektivierung. Das physische Leben der Macht ist der Kampf gegen den Mangel, gegen die Willensschwäche, gegen die Tatsache, dass die Praxis von der Moral abweicht. Das nämlich ist das Ethos, dieses Verhältnis von Praxis und Normen, die 19 Judith Butler, Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001. 20 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft: eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969.
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Art und Weise, wie wir mit der Tatsache umgehen, dass wir nicht handeln, wie wir sollten. Auf diese Weise versucht jeder, somebody zu werden oder zu bleiben. Das wusste schon Georg Simmel, als er, auf die sozialdemokratischen Politiker seiner Zeit anspielend, bemerkte: Zwar kann man „jemand“ bleiben, auch wenn man arm ist, aber wenn man als arm abgestempelt ist, ist das eben sehr viel schwerer.21 „Jemand sein“ bedeutet in dieser ethisch ausgerichteten Subjektivierung: jemand Respektables sein. Was ganz und gar nicht dasselbe ist wie jemand Wichtiges sein, nach dem Muster des Satzes „ich bin schließlich wer“, mit dem jemand seinen Anspruch auf Wichtigkeit bei einem anderen einfordern kann, wenn er zu ihm sagt: „Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie es zu tun haben?“ Ein Beispiel für dieses physische Leben der Macht liefert eine kurze ethnografische Beobachtung, die ich hier wiedergeben möchte. In unseren Befragungen zur sozialen Erfahrung von Angehörigen des Lumpenproletariats22 bekam ich mehrfach von Männern wie von Frauen zu hören, sie seien „gestrichen“ worden, womit sie sagen wollten, dass sie ihren Anspruch auf Sozialleistungen verloren hatten, auf die „Stütze“, das Arbeitslosengeld, usw. Um erneut Zugang zu dieser Ressource zu bekommen oder sich eine andere zu verschaffen, muss man hingehen und bei den Sozialämtern anklopfen, bei den zuständigen Organen des Sozialstaats vorsprechen, seine Geschichte erzählen, sein Missgeschick, seine Situation. Die Sozialleistung stellt sich dann als ein Verhältnis zwischen einer Geldsumme und einer Situation dar, die letzten Endes die Situation eines Mangel leidenden Menschen ist, eines Körpers im Würgegriff der Not. Die Verwirrung zwischen „man hat mich gestrichen“ und „man hat mir die Stütze gestrichen“ resultiert aus der Erfahrung dieses Verhältnisses. Die Subjektivierung wird oft als eine Epiphanie dargestellt, als das plötzliche, von einem bestimmten Ereignis hervorgerufene Auftreten eines Subjekts. Rada Ivekovic zum Beispiel schildert den verstörenden Subjektivierungseffekt, den sie erlebte, als sie entdeckte, dass man sie in den Zeitungen Ex-Jugoslawiens eine „kroatische Hexe“ nannte, während sie sich selbst immer noch als Jugoslawin dachte.23 Meistens aber ist die Subjektivierung ein langsamer Prozess, das Ergebnis einer Anpassung an eine Situation. Ein langsames Durchdrungen-Werden von den Zwängen, die mit dem Eintritt und dann langjährigen Verbleiben in einem System wie dem der Sozialhilfe einhergehen. Die institutionellen Karrieren zwischen Gefängnis, Krankenhaus und gemeinnütziger Arbeit prägen den Körper, „subjektivieren“ ihn Schritt für Schritt, bestimmen das Verhalten, indem sie die Fixpunkte liefern, an denen sich die Kategorien der Reflexivität orientieren. So hat man etwa beim Tribunal de police, dem für Strafsachen zuständigen Amtsgericht, oft den Eindruck, dass die Betroffenen dem Richter gar nicht zuhören und Gutachten und morali21 Georg Simmel, „Der Arme“, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 345-374; online zugänglich: http://socio.ch/sim/unt7a.htm. 22 Jean-François Lae/Numa Murard, Deux générations dans la débine. Enquête dans la pauvreté ouvrière, Paris 2012. 23 Rada Ivekovic, Le sexe de la nation, Paris 2003.
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sche Ermahnungen an sich abprallen lassen. Lernt man sie dann näher kennen und diskutiert mit ihnen, stellt man fest, dass sie Aussagen des Gutachtens benutzen und sich Argumente des Richters zu eigen machen, um ihr eigenes Verhalten zu steuern, ganz so, wie es Niklas Luhmann in seiner Analyse der Legitimation durch Verfahren schildert.24
5. Soziologie des somebody Fasst man die Individuen als somebody auf, heißt das nicht, dass man sich von der Soziologie unterscheiden und absetzen will; vielmehr soll damit dem Konzept der Subjektivierung erst zu seiner vollen soziologischen Brauchbarkeit verholfen werden. In der Beschreibung und Analyse der Praktiken finden sich wichtige soziologische Konzepte wieder, etwa das der Distinktion, des „feinen Unterschieds“. Man nehme zum Beispiel den Tabak: In den nordeuropäischen Ländern sind die Zigarettenpreise so stark gestiegen, dass ein Arbeitsloser, wenn er regelmäßig raucht, monatlich einen Betrag dafür aufwenden muss, der etwa ein Viertel seines Einkommens ausmacht (oder ein Drittel des revenu social d‘activité, der Unterstützung für ungelernte Sozialhilfeempfänger bei Aufnahme einer Erwerbsarbeit). Infolgedessen drehen die meisten Befragten, die ich kennenlernte, ihre Zigaretten mit Hilfe einer kleinen Maschine selbst. Aber manche Befragten kauften auch weiterhin teure amerikanische Zigaretten. Als ich einmal zu einer Frau sagte, die meisten würden sich ihre Zigaretten doch selber drehen, bekam ich umgehend die gereizte Antwort: „Pfui Teufel, das ist doch was für Bettler“. Was man in der Hand hält, was man per Lungenzug einatmet, das ist der feine Unterschied. Diese kurze Beobachtung ließe sich durch Beispiele aus der Sozialgeschichte ergänzen, durch eine Klassenanalyse, die der zunehmenden Differenzierung zwischen den respektablen unteren Klassen, denen es gelungen ist, einen anständigen Lebensstandard zu halten, und all den Verlierern der Modernisierung Rechnung trägt, den Opfern des Übergangs zur Post-Wohlfahrts- und Post-Industriegesellschaft. Eine Soziologie der Subjektivierung könnte die Langzeitanalyse der Praktiken mit einer speziellen Betrachtung der biografischen Brüche, Übergänge, Abweichungen verbinden. Ein Beispiel für einen Subjektivierungstest, den alle durchmachen, wäre etwa der Renteneintritt, ein Zeitpunkt, zu dem die Vergangenheit des Arbeitslebens, die Gegenwart der Berechnung der Ruhestandsbezüge und der Ausblick auf ein je nach den Einkommenseinbußen mehr oder weniger leichtes Leben zusammenkommen. Die Berechnung der Ruhestandsbezüge nach der Zahl der Beitragsjahre stellt eine Reform mit biopolitischen Charakter dar. Jeder ist mit der Notwendigkeit einer biopolitischen Entscheidung konfrontiert, nämlich entweder das Arbeitsleben in der Hoffnung auf eine höhere Rente, wenn auch mit kürzerer Bezugsdauer, zu verlängern oder sich von der Arbeit zu verabschieden und dafür einen niedrigeren Lebensstandard in Kauf zu nehmen. 24 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied am Rhein und Berlin 1969.
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Eine besondere Note bekommt diese biopolitische Subjektivierung aber bei Langzeitarbeitslosen, die keine Möglichkeit haben, länger zu arbeiten, sowie bei allen Menschen mit einem nicht ganz lückenlosen Erwerbsverlauf. Jeder erhält zum Zeitpunkt des Renteneintritts einen Computerauszug mit einer Aufstellung sämtlicher Beschäftigungszeiten, in denen Beiträge gezahlt wurden, und diese Karrierebilanz erweist sich oft als schmerzhafter Schock und schwer zu verkraftender Realitätstest. Einer meiner Gesprächspartner, ein Mann, der im ganzen Viertel wegen der Moralpredigten bekannt war, mit denen er jahrelang die Arbeitslosen als Faulpelze abgekanzelt hatte, wie auch wegen seines Eigenlobs als guter Arbeiter und guter Ehemann, musste aus diesem Anlass feststellen, dass seine Erwerbsbiografie viele Lücken aufwies, ganze Jahre, in denen keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt worden waren. War er skrupellosen Arbeitgebern zum Opfer gefallen, die ihn beschäftigt hatten, ohne ihn bei der Sozialversicherung anzumelden, oder ist auch er einer dieser Typen, die mit ihrem Arbeitseifer prahlen, aber tatsächlich schwarz arbeiten oder vielleicht sogar nur so tun, als gingen sie arbeiten, während sie in Wirklichkeit angeln gehen? Vielleicht ein bisschen von beidem. Die Subjektivierung, die sich aus dieser Krise ergab, machte aus ihm einen Mann, der heute „keine großen Töne mehr spuckt“, sich mit dem zufrieden gibt, was er hat, froh ist über die Unterstützung seiner Tochter, die für ihn sorgt und sein (bisschen) Geld zusammenhält. Einmal im Monat, sobald die Rente überwiesen ist, geht sie einkaufen. Dieser Einkaufskorb ist das Resümee des Rentnerkörpers, das Produkt seiner Geschichte und seine Zukunft bis zum Monatsende, bis zur nächsten Folge, und immer so weiter ad libitum. Auch die Beziehungen zu den anderen verwandeln sich mit der Subjektivierung: Er kann jetzt seine Kinder besser akzeptieren, und sogar die, die nicht arbeiten, er freut sich, dass er sich auf ihre Unterstützung verlassen kann, er toleriert ihr nicht immer lupenreines Verhalten. Vor seinem inneren Auge lässt er immer wieder seine Erwerbsvergangenheit Revue passieren, erinnert sich an die Zeiten der Arbeitslosigkeit, räumt ein, dass er sich geirrt hat, übertrieben hat, die anderen zu streng beurteilt hat. Kurz, das Konzept der Subjektivierung lässt sich als das Zutagetreten und Austesten des somebody definieren. Dieses Konzept ermöglicht es der soziologischen Analyse, erstens, der Einmaligkeit gerecht zu werden, der Dimension der Person: somebody ist nicht anybody. Dieses Konzept schließt aber, zweitens, die Dimension des Individuums ein, denn „jemand“ zu sein setzt voraus, dass man jemand Respektables, Verantwortungsbewusstes ist, es setzt voraus, dass man Respekt verdient und mit Respekt auf andere reagieren kann. Diese ethische Dimension ist das, was man beobachtet, wenn man sich mit den Schwierigkeiten von Menschen befasst, denen es nicht gelingt, für sich Respekt zu erlangen oder ihrerseits mit Respekt zu reagieren. Aus dem Französischen übersetzt von Hella Beister
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Subjektivierung als (Aus-)Bildung körperlichmentaler Mitspielkompetenz Eine praxeologische Perspektive auf Trainingstechniken im Sportspiel1 Einleitung Während das Subjekt im vielstimmigen Feld philosophischer, soziologischer und psychologischer Handlungstheorien cum grano salis als der Ursprung der Initiative und Zentrum des Handelns gilt, ist es in den verschiedenen Spielarten des soziologischen Objektivismus kaum mehr als ein Struktureffekt oder ein Emergenzphänomen. In einer dritten, kulturwissenschaftlichen, Perspektive ist hingegen seit einigen Jahren eine Rehabilitierung des Subjekts zu beobachten, ohne dieses allerdings weiterhin als autonom und souverän vorauszusetzen. Es wird hier vielmehr als ein Teil der symbolischen und materiellen Kultur betrachtet. Diese Perspektive drückt sich in den Begriffen des Diskurses einerseits und der Praktiken andererseits aus. Durch die ‚Brille‘ beider Konzepte existiert das Subjekt nicht länger im Singular, sondern ausschließlich im Plural – entweder als Resultat eines schier grenzenlosen Konvoluts aus kulturellen Klassifikationen und historischen Diskursen, aus sprachlichen Kategorien, Bildern und Deutungsmustern, oder aber historisch sich fortlaufend verändernder sozialer Praktiken im Sinne überindividueller Verhaltensund Handlungsmuster, die durch eine Vielzahl unterschiedlicher, häufig einzigartiger Handlungen ausgefüllt werden können.2 Diese Sichtweise macht darauf aufmerksam, dass praktische oder sprachliche Aktivitäten – „doings und sayings“, wie Theodore R. Schatzki in Bezug auf Arthur C. Danto3 schreibt – nicht willkürlich sind, sondern sich bestimmten sozialen Formen anbequemen müssen, um als Handlungen intelligibel zu werden und damit soziale Existenz zu erlangen; nur unter dieser Bedingung können sie wirksam in ein soziales Geschehen eingreifen. Allerdings laufen diesem Paradigma folgende Forschungen dann Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn sie Dis1 Wir danken Nikolaus Buschmann und Norbert Ricken für wertvolle Hinweise. 2 Vgl. u.a. Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32/4, 2003, S. 282-301.; Karl H. Hörning, Experten des Alltags, Weilerswist 2001; Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken, Frankfurt am Main 2012. 3 Theodore W. Schatzki, Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 89 und Arthur C. Danto, „Basic Actions“, in: American Philosophical Quarterly, Bd. II, Nr. 2, April 1965, S. 141-148.
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kurse, Praktiken oder „Praxis/Diskurs-Formationen“4 schlicht an die Stelle der in den Kulturwissenschaften „inzwischen vielgeschmähten Strukturen“5 treten lassen. Waren Subjekte im Rahmen des strukturalistischen Paradigmas nichts weiter als Struktureffekte, so drohen sie nun zu bloßen Objekten machtvoller Diskursformationen oder zu unbedeutenden Vollzugsorganen sie ‚rekrutierender‘ Praktiken6 zu werden. Es scheint, als könnten die Teilnehmersubjekte den in diese Praktiken eingelassenen Anforderungskatalogen und normativen Erwartungen auf der Basis eines impliziten Körperwissens so gut wie nur routiniert gerecht werden, wenn nicht gleichzeitig auch darauf reflektiert wird, dass und wie sie sich von ihren jeweiligen Positionen aus zu den sie ‚anrufenden‘ Diskursen und ‚rekrutierenden‘ Praktiken verhalten und diese mittels erlernter Handlungskompetenzen eventuell auch aktiv ausgestalten oder transformieren. Mit der Thematisierung eines vorreflexiven und vorsprachlichen Körperwissens ist vollkommen zu Recht auf den Anteil eines Wissenstypus‘ am Vollzug praktikadäquater und in diesem Sinne kompetenter Handlungen aufmerksam gemacht worden, der im ‚Prozess der Moderne‘ zugunsten der Aufwertung theoretischen Wissens weitgehend de-thematisiert wurde.7 Wird dieses inkorporierte Wissen jedoch schlicht mit Routinen identifiziert, dann droht die Tendenz, jene besonderen Vermögen und kritisch-reflexiven Operationen unberücksichtigt zu lassen, die die Handlungsträgerschaft menschlicher Ko-Akteure von derjenigen anderer „Partizipanden des Tuns“8 wie Dingen, Artefakten oder Tieren unterscheiden. Es sind eben diese Vermögen und Operationen, die den Begriff des Subjekts von verwandten Begriffen wie Individuum oder Person abheben. Soll unter Subjektivierung mehr verstanden werden als die bloße Anpassung eines Individuums an diskursive Vorgaben und/oder praktische Handlungsschemata, kommt es darauf an, sie (erneut) ins Licht zu rücken, ohne jedoch in den klassischen Subjektivismus bzw. hinter die (post-)strukturalistische Einsicht der gesellschaftlichen Gemachtheit, der historischen Transformierbarkeit und damit der Pluralität konkurrierender Subjektformen zurückzufallen: Subjektivierungstheoretisch gilt das besondere Augenmerk den sozialen Hervorbringungen und Gestaltungen vorreflexiver wie kritisch-reflexiver Vermögen des Wahrnehmens, Erken-
4 Andreas Reckwitz, „Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation“, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt am Main 2008, S. 201 ff. 5 Marian Füssel, „Die Rückkehr des Subjekts“, in: Stefan Deines, Stephan Jaeger, Ansgar Nünning (Hg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin/New York 2003, S. 141-159, hier S. 156. 6 Vgl. z.B. Elitabeth Shove, Mika Pantzar, Matt Watson, The Dynamics of Social Practices. Every Day Life And How It Changes, London 2012, Kapitel 4: „Recruitment, Defection and Reproduction“, S. 63-80. 7 Vgl. ausführlicher Thomas Alkemeyer, „Körperwissen“, in: Anina Engelhardt, Laura Kajetzke (Hg.), Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme, Bielefeld 2010, S. 293-310. 8 Stefan Hirschauer, „Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns“, in: Karl H. Hörning, Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73-91.
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SUBJEKTIVIERUNG ALS (AUS-)BILDUNG MITSPIELKOMPETENZ
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nens, Beurteilens und der Selbstkorrektur in Praktiken des ‚Mitspielens‘, Lernens, Übens oder Trainierens.9 Genau dies ist das Anliegen des vorliegenden Beitrags: Es soll im Rahmen der skizzierten kulturwissenschaftlichen Perspektive auf Subjektivierungsprozesse gezeigt werden, wie in der Teilnahme an sozialen Praktiken bzw. Spielen10 Fähigkeiten erworben und verfügbar gemacht werden, die es einem ‚Mitspieler‘ nicht nur gestatten, routiniert einen funktionalen Beitrag dazu zu leisten, ein Spiel ‚am Laufen zu halten‘, sondern auch schöpferisch in das Geschehen einzugreifen, es von innen heraus mitzugestalten, darin einen eigenen Sinn zu verwirklichen, womöglich kritisch Stellung zu beziehen oder ganz und gar ‚auszusteigen‘. Unser empirisches Beispiel für eine so verstandene Subjektivierung entstammt dem Training einer Frauen-Volleyballmannschaft, die auf einem hohen Leistungsniveau spielt.11 Gerade ein Beispiel aus dem Sport-Training verspricht wertvolle Einsichten in die Praktiken und Prozesse der Subjektivierung, weil sich die Aufmerksamkeit hier in besonderer Weise auf die ‚Zurichtung‘ von Körpern als Handlungsträger richtet. Für die praxeologische Perspektive ist diese körperliche Dimension des wechselseitigen Konstitutionsverhältnisses zwischen dem Sozialen und seinen Subjekten zentral. In dieser Perspektive richtet sich der theoretischempirische Blick auf die sichtbaren Bewegungen des Körpers12 und deren – praktische wie diskursive, ‚stumme‘ wie sprachliche – Formatierungen, die ihre (An-) Erkennbarkeit und Verständlichkeit als Handlungen in einer sozialen Praktik gewährleisten. Subjekte werden dem Handlungsvollzug in dieser Sicht nicht logisch und genealogisch als eine unabhängige „präpraktische“ Ursache13 vorausgesetzt, sondern konstituieren sich mit ihren jeweiligen sozialen Identitäten, ihren vielfältigen Fertigkeiten und Fähigkeiten, in der Teilnahme an Praktiken. Während Sportpraktiken in praxistheoretischen Untersuchungen jedoch gern als Beispiele für ein bloßes Einschleifen körperlicher Routinen in Prozessen des Übens und Trainierens, des Disziplinierens und Habitualisierens, angeführt werden,14 möchten wir dem9 Vgl. Thomas Alkemeyer, „Subjektivierung in sozialen Praktiken“, in: ders., Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 29-64. 10 Wir begreifen soziale Spiele als geregelte Praktiken-Bündel. 11 Es handelt sich um eine Juniorinnen-Nationalmannschaft. 12 Vgl. u.a. Andreas Reckwitz, „Der Status des ‚Mentalen‘ in kulturtheoretischen Handlungserklärungen. Zum Problem der Relation von Verhalten und Wissen nach Stephen Turner und Theodore Schatzki“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 29/3, 2000, S. 167-185; Andreas Reckwitz: Subjekt, Bielefeld 2008 und Thomas Alkemeyer/ Gunilla Budde/ Dagmar Freist (Hg.), SelbstBildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013. 13 Andreas Hetzel, „Zum Vorrang der Praxis. Berührungspunkte zwischen Pragmatismus und kritischer Theorie“, in: Andreas Hetzel/Jens Kertscher/Marc Rölli (Hg.), Pragmatismus – Philosophie der Zukunft? Weilerswist 2008, S. 17-57, hier S. 23. 14 Reckwitz zufolge vollziehen praxistheoretischen Ansätze „eine komplette ‚Umkehrung‘ von Max Webers Handlungstheorie“, indem sie anstelle zweckrationalen Handelns, dem Weber ein Primat vor dem traditionalen Handeln attestiert, ein letzterem ähnelndes Handeln im Sinne eines „routinisierte(n) Stroms der Reproduktion typisierter Praktiken“ in den Mittelpunkt rückten („Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken“, S. 294).
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gegenüber plausibilisieren, dass in diesen Prozessen neben bloßen Routinen auch vielfältige subjektive Fähigkeiten und praktische Geschicklichkeiten (aus-)gebildet werden, ohne die ein kompetentes – und das heißt immer auch kreatives und improvisierendes – Mitspielen nicht möglich wäre. Dazu gehören Fähigkeiten des Wahrnehmens, Spürens, Verstehens, Einschätzens und Beurteilens situativ sich ergebender Handlungsspielräume und -notwendigkeiten ebenso wie spielspezifische Körpertechniken, Tricks und Kniffe. Dies gilt bei Mannschaftssportarten umso mehr, als es sich hierbei um ein außerordentlich unsicheres, hochgradig kontingentes soziales Geschehen handelt, das seinen Mitspielern komplexe Abstimmungs-, Koordinations- oder auch Täuschungsleistungen (des Fintierens) abverlangt, d.h. sowohl die Fähigkeit zur adäquaten Deutung der anderen Körper als auch des Einsatzes des eigenen Körpers als Kommunikationsmedium und Zeichengeber.15 Ebenso wie bei technischen Fertigkeiten handelt es sich bei diesen Fähigkeiten nicht um eine ausschließlich geistige Befähigung, sondern um die Kompetenz eines spieladäquat geformten, trainierten und eingestellten Körpers bzw. Leibes.16 Vor diesem Hintergrund werden wir im Folgenden zunächst analytisch eine isolierte Trainingsepisode beschreiben. Sie ist einem umfassenden Trainingsprozess entnommen, in dem es insgesamt darum geht, die Mitspielfähigkeit in einer Volleyballmannschaft zu verbessern. Wir konzentrieren uns dabei auf ein Set von Techniken, mit dessen Hilfe spezifische Kompetenzen gebildet und für das Volleyballspielen verfügbar gemacht werden (sollen). Neben eingeschliffenen Körpertechniken fokussieren wir vor allem solche Fähigkeiten, die in klassischer handlungstheoretischer Perspektive einem Subjekt zugeschrieben werden: in diesem Fall insbesondere Fähigkeiten zur Selbstbeobachtung, Selbstkorrektur und Selbstregulation im übergeordneten Interesse des Zusammenspiels in und der Selbstorganisation der Mannschaft. Mit diesem Vorgehen und Untersuchungsgegenstand streben wir zugleich an, einen Baustein zur Umsetzung einer Idee zu liefern, die bislang in der praxistheoretischen Debatte bloßes Postulat geblieben ist: der Idee nämlich, an praxeologischen Beobachtungen und Beschreibungen des Sports eine Analyseoptik zu schärfen bzw. zu entwickeln, die es gestattet, die körperlich-leiblichen Dimensionen der ko-konstitutiven Prozesse von sozialer Ordnungsbildung (als kontingentem Vollzug) und
15 Vgl. Thomas Alkemeyer, „Handeln unter Unsicherheit – vom Sport aus beobachtet“, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden 2009, S. 183-202. 16 Um auf die doppelte Gegebenheit des Gegenstandes wie auf seine Einheit zu verweisen, wird in der körpersoziologischen Debatte seit einiger Zeit die philosophisch-anthropologische Unterscheidung zwischen ‚Körper‘ und ‚Leib‘ aufgegriffen und mit dem – von Herrmann Schmitz übernommenen – Begriff des „körperlichen Leibes“ reformuliert. Dieser und verwandte Begriffe eines ‚Körperleibes‘ sollen die Abhängigkeit leiblichen Spürens von den sozial-kulturellen Formatierungen des Körpers herausstellen (vgl. u.a. Ulle Jäger, Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung, Königsstein im Taunus 2004, S. 107 ff. und Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers, Bielefeld 2004, S. 146ff.).
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SUBJEKTIVIERUNG ALS (AUS-)BILDUNG MITSPIELKOMPETENZ
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Subjektivierung präziser und vergleichend auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Arbeit, Bildung oder Militär auszuleuchten.17
Eine Trainingsepisode Unser Beispiel ist ein Zuspiel-Training, an dem ausschließlich der Trainer und die Zuspielerin der Mannschaft teilnehmen. An dieser überschaubaren Trainingskonstellation lassen sich zentrale Merkmale der Subjektivierung von Mitspielfähigkeit wie durch ein Brennglas hindurch beobachten. Neben den beiden menschlichen Teilnehmern sind das Netz, die Bälle und ein technisches Beobachtungssystem, bestehend aus einer Videokamera mit verzögerter Wiedergabe und einem Laptop, als weitere Ko-Akteure zentral an der Szene beteiligt. Die Kamera wird vom Trainer vor dem Beginn des eigentlichen Trainings hinter der Seitenlinie des Spielfeldes in der Nähe des Netzpfostens so positioniert und ausgerichtet, dass sie dem Netz folgend die Rückseite des Körpers der Zuspielerin fokussiert. Der Trainer selbst bringt sich dann im Training mit einem Ballkorb am zweiten Netzpfosten (‚Angriffsposition 4‘) so in Stellung, dass die Zuspielerin zwischen ihm und der Kamera angeordnet ist. Von dieser Position aus wirft er ihr fortlaufend Bälle zu, die ihm die Spielerin nacheinander so zurück spielen soll, dass er sie von seiner Angriffsposition aus ins gegnerische Feld schmettern könnte. Die Übung ist seriell aufgebaut: Nach jeder Serie von Zuspielen schauen sich Trainer und Spielerin gemeinsam die Videoaufzeichnungen am Computerbildschirm an und diskutieren sie. Nach der ersten Serie fragt der Trainer die Athletin, was ihr auffiele. Nach einem kurzen Zögern stellt diese fest, stets etwas „schief“ zu stehen und den Ball nicht völlig parallel zum Netz zu spielen. Der Trainer geht in die Details: Die Distanz der Finger18 zwischen den beiden Händen sei zu groß, der Winkel des Handgelenks stimme nicht, vor allem aber seien die Hände bei der Ballberührung verschieden hoch, da die Schultern sich nicht in der Waagerechten befänden. Die große Distanz zwischen den Fingern beider Hände mache es unmöglich, den Ball mit allen Fingern gleichzeitig zu berühren. In Verbindung mit der unterschiedlichen Höhe beider Hände könne deshalb der Druck nicht gleichmäßig auf den Ball übertragen werden: „Symmetrie der Hände und ihre Ausrichtung entscheiden den Pass!“ Derartige Erläuterungen machen spiel- bzw. technikspezifische 17 Zu dieser Idee einer vom Sport ausgehenden praxeologischen Soziologie und Subjektivierungsforschung vgl. u.a. Thomas Alkemeyer, „Rhythmen, Resonanzen und Missklänge. Über die Körperlichkeit der Produktion des Sozialen im Spiel“, in: Robert Gugutzer, body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 265-296 und Robert Schmidt, „‘Geistige Arbeit‘ als körperlicher Vollzug. Zur Perspektive einer vom Sport ausgehenden praxeologischen Sozialanalyse“, in: ebd., S. 297-320. Diesen Versuchen liegen jedoch keine eigenen empirischen Untersuchungen über sportliche Praktiken zugrunde, sie stützen sich hingegen entweder auf theoretische Konstruktionen dieser Praktiken bspw. durch George H. Mead und Pierre Bourdieu oder aber auf ‚fremde‘ Empirie wie auf Loïc Wacquants (Leben für den Ring, Konstanz 2003) (Auto-)Ethnografie der eigenen Boxerwerdung. 18 Mit den Kursivsetzungen werden im Folgenden zentrale Beobachtungskodes markiert.
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Beobachtungskodes, Gütekriterien und Beurteilungsmaßstäbe sprachlich explizit. Beide Teilnehmer entwickeln auf diesem Weg einen gemeinsamen deutenden, prüfenden und beurteilenden Blick auf die praktische Ausführung des Zuspiels. Indem Kodes, Kriterien und Maßstäbe durch sprachliche Explikation öffentlich werden, werden sie auch für die Selbstbeobachtung der Spielerin verfügbar. Mit Fokus auf die Hand-, Arm- und Schulterstellung wird die Übung anschließend mehrmals wiederholt und die Ausführung kontinuierlich am Bildschirm kontrolliert. Im Verlauf dieser Übungsfolge wird die Komplexität der Gesamtbewegung in verschiedenen Übungsansätzen je besonders auf ein Minimum reduziert. So wird der Ball einmal nur aus dem Handgelenk, ein anderes Mal ausschließlich über die Daumenbewegung gespielt. Anschließend werden die isolierten Bewegungen wieder in einen übergreifenden Bewegungszusammenhang eingegliedert und als integrierte Bewegungssequenz zur Entfaltung gebracht. Gleichzeitig macht der Trainer die Spielerin mitlaufend, d.h. ohne die Übung zu unterbrechen, auf ‚Fehlstellungen‘ aufmerksam („Schulter hoch“, „über die Daumen den Druck auf den Ball übergeben“, usw.) und begleitet den Augenblick jedes Ballkontakts mit einem scharf artikulierten „Zack!“. In dieser kontinuierlichen Explizierung des Beobachtungsrahmens bettet der Trainer die praktischen Ausführungen der Zuspielerin in den Horizont eines volleyballspezifischen Technik-Wissens ein. Das Beobachten und das der-Beobachtung-ausgesetzt-Sein erlangen in dieser Verzahnung von Bewegungsvollzügen und sprachlichen Kommentaren den Status eines integralen Teils der Ausführung selbst: Sie bleiben keine bloße Zutat zu einem ‚eigentlichen‘ Ausführungsgeschehen, sondern gehören dazu. Für die Spielerin wird es selbstverständlich, permanent unter (Selbst-)Beobachtung zu stehen, am Maßstab eines praxisspezifischen Wissens beurteilt zu werden und sich selbst daran zu beurteilen. Ein Indiz dafür, dass ihr der prüfende Blick auf diese Weise zur Gewohnheit geworden ist und sie ihn in der Folge reflexiv auf sich selbst wendet, ist, dass sie in den Pausen immer wieder Fragen zu ihren Bewegungsausführungen stellt und von sich aus Korrekturen einfordert: Wie soll ich das machen? Warum klappt es nicht? Wo genau liegt der Fehler? Usw. Dabei kommentiert sie ihre Schwierigkeiten und Eindrücke kontinuierlich sowohl verbal als auch durch praktisch-mimetisches Noch-Einmal-Machen. So meldet sie bspw. zurück, sie könne ihre Schulterstellung kaum einschätzen, und führt die geforderten Bewegungen ein ums andere Mal in demonstrativer Überzeichnung aus – so, als würde sie sich die korrekte Bewegungsausführung auf diese Weise selbst vergegenwärtigen und durch Erspüren zugänglich zu machen versuchen. Mit Bourdieu lässt sich diese selbstbezügliche Praxis als eine Form „praktischen Reflektierens“ begreifen, bei der eine Bewegung in ihrem Vollzug vom Ausführenden selbst im Hinblick auf die Maßstäbe derjenigen sozialen Praktik beobachtet, beurteilt, ausgerichtet und korrigiert wird, zu deren Realisierung sie beiträgt bzw. beitragen soll.19 Bourdieu konzipiert ein solches, 19 Pierre Bourdieu zufolge können Störungen „eine Form von Nachdenken hervorrufen, die nichts mit dem eines scholastischen Denkers zu tun hat und die über angedeutete Körperbewegungen (etwa die, mit der ein Tennisspieler einen misslungenen Schlag wiederholt, um durch einen Blick
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der Praxis zugewandtes und in diesem Sinne empraktisches ‚Nachdenken‘ als eine selbstregulatorische Praxis, die wesentlich in der Selbststeuerungskapazität eines entsprechend disponierten, gebildeten Körpers gründet. Diese praktische Selbstregulation kann durch von außen kommende Hinweise, die ihrerseits zur Bildung eines auf die Praktik bzw. das Spiel eingestellten Körpers beitragen, unterstützt und kanalisiert werden. Im vorliegenden Fall gibt der Trainer den Tipp, die fehlende Symmetrie in der „Energieübertragung“ könne nicht nur an der Flugbahn, sondern auch am Drall des Balles erkannt werden: Er definiert äußere Anzeichen als Orientierungspunkte für die Selbstbeobachtung, -problematisierung und -evaluation der Athletin. Im Verlauf der Trainingseinheit werden noch weitere Zuspielformen (kurz, über Kopf, aus dem Sprung heraus usw.) geübt. Stets positionieren sich beide Beteiligte gezielt so, dass die Zuspielerin im Brennpunkt der Videokamera bleibt. Während der Besprechungen der Videosequenzen führt der Trainer die Bewegungsabläufe teilweise selbst noch einmal vor oder stellt den Körper der Spielerin – ihre Finger, ihr Handgelenk, ihre Arme und Schultern – ein ums andere Mal ein, indem er ihn durch Drücken und Schieben in Position bringt, korrigiert und einzelne Bewegungen aktiv führt. Er schafft auf diese Weise konkret spürbare Orientierungen, an denen sich die Spielerin ‚abarbeiten‘ und selbst orientieren kann. Die von ihm induzierten und geführten Bewegungen erklärt er begleitend, indem er überwiegend auf ein Vokabular aus der mechanischen Physik („kinetische Energie“) und der Biomechanik zurückgreift. So weist er u.a. auf die Punkte hin, an denen die Energie auf den Ball übertragen und damit kausal Wirkung erzeugt werde. Gleichermaßen macht er auf die für die Kraftübertragung und die Ballführung entscheidenden Körperpunkte und Symmetrien in der Körperhaltung aufmerksam und bezieht einzelne Körperstellungen, Haltungen und Bewegungen fortlaufend auf den Zusammenhang übergreifender Spielzüge. Ihr praktischer Sinn für das Spiel wird auf diese Weise offengelegt. So weist der Trainer bspw. auf den Einfluss der Handstellung auf die Flugbahn des Balles hin und zeichnet mit dem Zeigefinger simultan dessen verschiedene mögliche Idealkurven in die Luft: Unabhängig von der jeweiligen Zuspielform soll der Ball die adressierte Angriffsposition stets oberhalb der Netzkante erreichen, so dass der dort positionierten Spielerin ein möglichst großes Spektrum von Angriffsschlägen zur Verfügung stehe. Mit derartigen Erklärungen vermittelt er der Zuspielerin sowohl ein propositionales Wissen über die Einbettung einzelner Bewegungshandlungen in die überindividuelle Intentionalität und die Notwendigkeiten des Spiels20 als auch ein prozedurales Wissen (Knowhow) über verschiedene Möglichkeiten einer aktiven Einflussnahme auf den Spielverlauf. Zudem expliziert er am Beispiel des ‚Zuspiels über Kopf nach hinten‘ die Bedeutung von Körperhaloder eine Geste den Effekt dieser Bewegung oder den Unterschied zwischen ihr und derjenigen zu prüfen, die es auszuführen galt) der Praxis zugewandt bleibt und nicht demjenigen, der sie vollführt“ (Meditationen, Frankfurt am Main 2001, S. 208). 20 Schatzki bezeichnet dies als „teleoaffektive Strukturen“(The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania 2002, S. 77 ff..
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tungen und Bewegungen für das Fintieren, d.h. die Tarnung der eigenen Absichten, um „vorsätzliche Fehlinterpretationen“21 zu bewirken: „Die Armhaltung und -bewegung muss am Anfang immer gleich bleiben, damit das Zuspiel für den Gegner nicht lesbar ist“. Daran wird verdeutlicht, dass der Körper nicht nur für die (Selbst-) Beobachtung im Training als Zeichenträger fungiert, sondern vor allem auch im Spiel selbst ein Kommunikationsmedium ist, das über seine Gestik, Mimik und Proxemik für Gegner und Mitspieler fortlaufend signifikante Zeichen für mögliche Anschlusshandlungen prozessiert. Die Spielerinnen müssen deshalb immer auch lernen, die für spieltypische Kommunikationen (einschließlich von Täuschungen) relevanten Zeichen hervorzubringen, diese zu erkennen und sie augenblicklich auch unter höchstem Zeitdruck zu verstehen, um situationsadäquat (re-)agieren zu können. Dies schließt die praktische Fähigkeit ein, selbst noch im Eifer des Wettkampfgeschehens anhand der Beobachtung der ‚anderen‘ Körper zwischen wirklichen und vorgetäuschten Absichten unterscheiden zu können.22
Techniken der Subjektivierung Das Beispiel ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem längeren Prozess, in dem Mitspielfähigkeit ausgebildet und subjektiv angeeignet werden soll. Wir konzentrieren uns hier auf eine Unterscheidung derjenigen Techniken, mit denen Mitspielkompetenzen in Gestalt jener technischen Fertigkeiten ausgebildet werden sollen, die für die Position des Zustellers aus Sicht des Trainers wie der Spielerin entscheidend sind. Diese Techniken existieren nicht isoliert, sondern sind in ein übergreifendes praktisches Arrangement eingebettet.23 Im vorliegenden Fall wird im ‚Format‘ des Einzeltrainings eine räumliche Anordnung geschaffen, in der die Spielerin sowohl den Blicken des Trainers als auch dem Objektiv der Videokamera ausgesetzt ist. Sie wird in dieser bühnenartigen Ordnung so in Szene gesetzt, dass die Haltungen und Bewegungen ihres Körpers und einzelner Körperteile für den Trainer wie für die Spielerin unter einem Blick21 Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch, Frankfurt am Main 1974, S. 33, Fn. 13. 22 An dieser deutenden Wahrnehmung des Verhaltens von Mit- und Gegenspielern ist nicht unbedingt nur der Sehsinn beteiligt, sondern bspw. auch der Hör-, Tast- oder Geruchssinn. Dies zeigt sich exemplarisch an einer Sportart wie dem Ringen: Für das Agieren von Ringern ist es unverzichtbar, im direkten Körperkontakt jede Muskelanspannung des Gegners spürend zu interpretieren. Wir fassen den Begriff der Beobachtung demnach weit: Er schließt auch andere Sinne als nur den visuellen ein. 23 Die Vielfalt möglicher Bedeutungen von Technik ist unüberschaubar. Wir begreifen Techniken als ein Arsenal weitgehend feststehender Handlungsabläufe und Vorgehensweisen, mit deren Hilfe ein spezifischer Zweck – hier die Herstellung von Mitspielfähigkeit – im Kontext einer Praktik verfolgt wird. Techniken können in diesem Sinne als Partizipanden in einer Praktik aufgerufen, vollzogen und aufgeführt werden; sie erhalten ihren Sinn – wie Schatzkis „doings“ und „sayings“ – allein in diesem praktischen Kontext. Beispiele wären das Gangschalten in der Praktik des Autofahrens oder pädagogische Techniken des Korrigierens, Ermahnens, Beurteilens und Bewertens in Praktiken der Erziehung, des Unterrichtens oder des Trainings.
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winkel beobachtbar und damit begutachtungsfähig gemacht werden, der von beiden24 als relevant für ein gelingendes Zuspiel erachtet wird. Vor allem die Schultern und Hände geraten in den Fokus. Ihnen wird in dieser Phase des Trainings offenbar eine Schlüsselstellung für die Produktion eines kompetenten ZustellerinnenKörpers zugewiesen. Das Trainings-Format bildet eine Art Beobachtungsdispositiv, in dem der Sportlerinnen-Körper als ein zugleich beschreib- und analysierbarer wie verfüg- und veränderbarer Gegenstand konstituiert wird. Er wird in dieser Anordnung unter dem geschulten, professionellen Blick eines besonderen (Fach-) Wissens über die zentralen (normativen) Anforderungen der volleyballspezifischen Praktik des Zustellens in seinen Fähigkeiten und ‚Fehlstellungen‘ festgehalten sowie als ein spezifischer Zeichenträger (re-)konfiguriert: Unter Mitwirkung der videotechnischen Aufzeichnungsapparatur werden bestimmte körperliche und motorische Phänomene für einen prüfenden Blick als praktik- bzw. spielrelevant aus dem Fließgeschehen des Übens herausgehoben und vor dem Hintergrund eines sport(art)spezifischen Wissens als Anzeichen für (In-)Kompetenz gedeutet, so dass mit gezielten Korrekturen in den Lernprozess interveniert werden kann. Die Interventionen erfolgen dabei nicht einfach Top-Down vom Trainer zur Athletin, vielmehr werden die unter Beteiligung der Videotechnologie gewonnenen Informationen so zwischen Trainer und Athletin besprochen, dass sich diese in allen weiteren Versuchen am Maßstab der mit dem Trainer ‚ausgehandelten‘ Beurteilungskodes selbst beobachten, begutachten und mit entsprechenden Selbstkorrekturen reagieren kann. Das sozio-materielle Trainingsarrangement figuriert so als Dispositiv einer praktikspezifisch strukturierten Selbstbeobachtungs- und Verhaltensschulung, welches berücksichtigt, dass ‚Einsicht‘ zwar nicht gemacht (i.S. von hergestellt) werden kann, aber sozial (prä-)figuriert wird bzw. werden muss: Sich auf sich selbst zu beziehen ist, nur in sozial etablierten Praxisformen möglich, die in diesem Falle auf die übergeordneten Trainingsziele hin orientiert sind. In die kommunikativ hergestellte und zugleich beglaubigte Beurteilung der videotechnisch (re-)produzierten Bewegungen gehen mithin unterschiedliche Wissenstypen ein, reagieren aufeinander, kommentieren einander und beeinflussen sich gegenseitig. Neben dem Experten- bzw. trainings- und bewegungswissenschaftlichen Fachwissen des Trainers werden in den Besprechungen, die in die Übungssequenzen eingewoben sind, auch die Bewegungserfahrungen und Eindrücke der Zustellerin als eine relevante Informationsquelle anerkannt. Deren zunächst vages Gespür dafür, dass etwas nicht stimmt, wird in der videogestützten und -vermittelten Kommunikation mit dem Trainer in Sprache übersetzt und auf diesem Weg auf spezifische Weise konturiert und definiert: Schritt für Schritt werden die subjektiven Erfahrungen25 der Athletin im kontinuierlichen Austausch mit dem Trainer in 24 Die dauernden Nachfragen an die Spielerin und ihre Ratsuche belegen, dass sie die Vorschläge, Einschätzungen und Urteile des Trainers teilt und akzeptiert. 25 Erfahrung wird hier nicht auf den Aspekt des Wahrnehmens reduziert, sondern bezeichnet einen Prozess der „produktiven Erkundung erlebter Wirklichkeit“ (Nikolaus Buschmann, „Persönlichkeit und geschichtliche Welt. Zur praxeologischen Konzetualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft“, in: Alkemeyer/Budde/Freist, Selbst-Bildungen, S. 121-145, hier S. 138).
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ein sport- bzw. volleyballspezifisches Wissens- und Sprachregime hinein übersetzt, dessen auf die Praktik des Zustellens bezogene Elemente als Beobachtungskodes, Gelingens- und Gütekriterien (Distanzen zwischen den Händen und den Fingern, Symmetrie der Schultern, Armwinkel etc.) ausdrücklich als Beurteilungsmaßstab an die im Trainingsarrangement beobachtbar gemachten Bewegungen angelegt werden. Normalerweise implizite funktionale und normative Ansprüche der Praktik des Zustellens an das Agieren und die Kompetenz der Spielerin werden auf diese Weise reflexiv zugänglich, bearbeitbar und verfügbar gemacht. Dabei reichen offenbar sprachliche Erläuterungen allein nicht aus. Vielmehr werden die erwünschten Bewegungsformen ergänzend sowohl durch Zeigen26 verbildlicht als auch durch Manipulation direkt auf den Körper der Spielerin übertragen: Der Trainer bringt diesen immer wieder handgreiflich ‚in Position‘ oder führt derart zugleich als signifikant und praxisrelevant ausgeflaggte Teile des Körpers so, dass der Sportlerin die erstrebte Idealform der Bewegung leiblich spürbar werden kann.
Engagement als Subjekt Die ausgewählte Übungssequenz ließe sich statt durch die ‚Brille‘ des Subjektivierungskonzepts problemlos auch in den Begriffen der Disziplinierung (Foucault) oder der Habitualisierung (Bourdieu) beschreiben. Durch die Optik des Disziplinierungsbegriffs träte diese Sequenz dann bspw. als eine Praktik der „minutiöse(n) und konkrete(n) Dressur der nutzbaren Kräfte“27 des Körpers in den Blick, der so als das Objekt bzw. als Effekt eines sportspezifischen Macht-Wissens-Komplexes konzeptualisiert würde. Mit dem Begriff der Habitualisierung würde demgegenüber zwar die subjektive Genese eines Spieler-Habitus thematisiert, es rückten jedoch einseitig insbesondere die zu einem Gewohnheitswissen geronnenen körperlichen Fertigkeiten in den Lichtkegel der Theorie.28 Der Subjektivierungsbegriff richtet die Aufmerksamkeit hingegen zum einen auch auf die aktive Beteiligung der Athletin an ihrer eigenen (Aus-)Bildung zu einem Handlungsträger des Volleyballspiels, zum anderen darauf, dass diese (Aus-)Bildung mit der Ausformung spezifischer Selbstbeziehungen, Selbstverhältnisse sowie Selbstregulations- und Handlungsfähigkeiten einhergeht. So legen die Trainingspraktiken bestimmte Formen, Weisen, Maßstäbe und Schlüsselpunkte reflexiver Selbstbeobachtung nahe, Ihr wird damit in praxeologischer Perspektive eine Orientierungsfunktion für das Handeln in einer sozialen Praxis zuerkannt. 26 Zum Zeigen im Sport vgl. ausführlicher Thomas Alkemeyer, „Bewegen und Mit-Bewegen. Zeigen und Sich-Zeigen-Lassen als soziale Körperpraxis“, in: Robert Schmidt/Wiebke-Marie Stock/ Jörg Volbers (Hg.), Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit, Weilerswist 2011, S. 44-72. 27 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976, S. 278. 28 Vgl. Hubert Knoblauch, „Habitus und Habitualisierung. Zur Komplementarität von Bourdieu mit dem Sozialkonstruktivismus“, in: Boike Rehbein/Gernot Saalmann/Hermann Schwengel (Hg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven. Konstanz 2003, S. 187201, hier S. 195.
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in denen bzw. in Bezug auf die die Sportlerin ihre Bewegungen, Körperhaltungen, Hand- und Schulterstellungen und Armwinkel sowie ihre zeit-räumliche Koordination mit Ball und Netz fortlaufend selbstkritisch überprüft und gegebenenfalls gezielt korrigiert. Es wird sichtbar, dass die Spielerin in der analysierten Sequenz kein bloßes Objekt disziplinierender Zurichtungen ist, sondern sich selbst engagiert in die Praktiken des Übens und Trainierens einbringt. Der Begriff des Engagements scheint uns aufgrund seiner erhellenden Doppeldeutigkeit hervorragend geeignet, um die aktive Beteiligung der Athletin an ihrem eigenen Bildungsprozess zu erfassen. Er bezeichnet – wie Goffman ausgeführt hat – sowohl eine Verpflichtung oder Verantwortlichkeit gegenüber gewissen Aktionen, Anforderungen und Erwartungen als auch eine „,Zuneigung‘ im Sinne von Investition der eigenen Gefühle und Identifikation mit einer Sache“29. Ersichtlich ist die Spielerin nicht nur körperlich in das Trainingsarrangement ‚eingespannt‘, sondern auch kognitiv und affektiv ‚bei der Sache‘. Diese Einschätzung stützt sich auf ihren äußeren, körperlichen wie sprachlichen Ausdruck. Ihr ‚Involvement‘ zeigt sich bspw. darin, dass sie bei ihrem Trainer immer wieder eindringlich nachfragt und um Rat sucht, dass sie ihm aufmerksam zuhört und unermüdlich daran arbeitet, ungewohnte Bewegungsmuster durch Ausprobieren und Nachahmen möglichst erwartungsgemäß zu verkörpern30 – insgesamt in der Bereitwilligkeit, mit der sie sich auf der Bühne des Beobachtungsdispositivs der Trainingssituation so präsentiert, ja buchstäblich aussetzt, dass es möglich ist, ihren Bewegungsvollzügen die für eine Beurteilung und Korrektur nötigen Informationen zu entnehmen, sowie in der ungeteilten Aufmerksamkeit, die sie dem Training widmet.31 Gleichzeitig subjektiviert die Spielerin in dieser Konstellation auch den Trainer, den sie mit ihrem Engagement implizit dazu auffordert, sich seinerseits in seiner Rolle als Trainer zu engagieren, d.h. nicht nur Trainer zu spielen, sondern auch Trainer zu werden. Dieses engagierte Aufgehen beider ‚Akteure‘ in den Trainingspraktiken wird durch spezifische sozio-materielle Arrangements, Maßnahmen und Techniken induziert und befördert. Unter einem subjektivierungstheoretischen Blickwinkel fällt insbesondere auf, dass die Spielerin nicht ‚stumpf‘ den Vorgaben eines Trainingsplans unterworfen wird, sondern dass sich das Trainingsgeschehen gleichsam intersubjektiv ausformt. In einem kontinuierlichen kommunikativen Austausch von Wissen, Erfahrungen und Einschätzungen zwischen Trainer und Athletin wie auch über die Praktiken einer manipulativen Hinführung einzelner Bewegungen zu einer erwünschten Idealform entfaltet sich Schritt für Schritt ein intersubjektiv
29 Erving Goffman, Interaktion im öffentlichen Raum. Frankfurt/New York, Neuausgabe 2009, S. 30. 30 Der Begriff des Verkörperns wird hier in der Doppelbedeutung von einkörpern und körperlich darstellen bzw. aufführen gebraucht. 31 Ein Gegenbeispiel wäre eine ganz und gar routiniert ablaufende Tätigkeit, die es zulässt, diversen Nebentätigkeiten nachzugehen wie Plaudern, Rauchen oder Herumkritzeln (vgl. Goffman, Interaktion im öffentlichen Raum, S. 59 ff.).
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geteilter und in diesem Sinne öffentlicher Raum32 gegenseitiger Aufmerksamkeiten, Erwartungen und Anforderungen, von Bewertungen und Urteilen über die Qualität der Bewegungen. Statt einer starren, vorweg detailliert angebbaren Trainingsmethodik zu folgen, wird ein wichtiger Teil des Vorgehens durch Diskussion, Entdecken und Ausprobieren erst unterwegs ge- bzw. erfunden. Indem sich das Vorgehen auf erst im Trainingsprozess auftauchende Fragen und Probleme jeweils neu einrichtet, ist es nicht nur reproduzierend, sondern auch konstruierend. Der Trainer übernimmt dabei weniger die Rolle eines Dresseurs als vielmehr diejenige eines ‚Reisebegleiters‘:33 Er bestimmt von der Zustellerin diffus gespürte Unstimmigkeiten im Bewegungsvollzug dadurch, dass er sie in (Fach-)Sprache übersetzt; er reagiert situativ durch korrigierende Eingriffe, ZeigeGesten und direkte Manipulation auf Fehler; und er legt die Bedeutung einzelner Übungen, Körperstellungen und Bewegungsmuster für den übergeordneten Sinnzusammenhang des Spiels fortlaufend offen. In diesem Prozess wechselseitiger Subjektivierung spielt auch die Aufzeichnungsapparatur eine wichtige Rolle: Sie dient der Herstellung einer Beobachtbarkeit und Bearbeitbarkeit des Zustellerinnen-Körpers, indem dessen Haltungen, Stellungen und Bewegungen über den externen, objektivierenden Kamerablick zum Gegenstand gemeinsamer Diskussion und Beurteilung gemacht werden können. Durch dieses kommunikative Vorgehen werden beide – Zustellerin und Trainer – als Handlungssubjekte eingesetzt und in die Trainingspraxis verwickelt. In einer auf Entlarvung abzielenden machttheoretischen Perspektive ließe sich dieses Vorgehen entweder als Strategie der Verführung oder aber als eine bloße „Fassade der Selbstregierung“34 enttarnen. Es zielte in dieser Sicht allein darauf ab, ein Selbst so zu regieren, dass es in herrschende Ordnungen hinein- und sich deren Anforderungskatalogen anpasst. Selbstbeobachtung, Selbstproblematisierung, Selbstkontrolle und Selbstkorrektur wären dann nichts anderes als Selbsttechniken zur Sicherstellung der Selbstunterwerfung bzw. der „ideologischen Subjektion“35 unter eine fremde Verfügungsmacht. Eine derartige Betrachtungsweise tendiert allerdings dazu, die grundlegende Ambivalenz der Subjektivierungsform der ‚Selbstregierung‘, ihr Oszillieren zwischen Selbstunterwerfung und Selbstermächtigung,36 einseitig aufzulösen und die sich subjektivierenden Individuen zu bloßen Effekten bzw. Gefangenen ideologischer 32 Zu diesem Begriff von Öffentlichkeit vgl. u.a. Robert Schmidt/ Jörg Volbers, „Öffentlichkeit als methodologisches Prinzip. Zur Tragweite einer praxistheoretischen Grundannahme“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 40/1, 2011, S. 3–20. 33 Zum Lehrer als ‚Reisebegleiter‘ in Lehr-Lernverhältnissen vgl. Georg Hans Neuweg, Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis, 2. Auflage, Münster 2001, 115. 34 Vgl. Das Argument 261, 2005, über „Fassaden der Selbstregierung“. 35 Wolfgang F. Haug: Elemente einer Theorie des Ideologischen, Hamburg 1993, insbesondere Kapitel 10: „Ideologische Subjektion der Geschlechterverhältnisse“. 36 Paula-Irene Villa, „Habe Mut, Dich Deines Körpers zu bedienen! Thesen zur Körperarbeit in der Gegenwart zwischen Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung“, in: Dies. (Hg.), Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 245-272.
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Anrufungen und Diskurse zu degradieren. Ihre Subjekte atmen – mit einer schönen Formulierung von Wolfgang F. Haug – einen „Geist der Gleichgültigkeit“37 gegenüber den Praktiken, in die sie sich verwickeln. Dieser Sichtweise droht zweierlei zu entgehen: zum einen die Dimension subjektiven Sinns, d.h. die Tatsache, dass auch vermeintlich ‚entfremdete‘, von außen auferlegte Praktiken den in diese sich verwickelnden Individuen etwas bedeuten können – (anders wäre ihr Engagement auch gar nicht zu erklären); zum anderen das Faktum, dass sich in der Teilnahme an sozialen Praktiken bzw. Spielen Handlungsfähigkeiten bilden können, die es einem Individuum gestatten, sich reflexiv und kritisch zu spezifischen Anforderungen des Spiels zu verhalten oder darin in einer bestimmten (stilistischen) Form so zu handeln, dass es in seinem Handeln sich selbst bzw. ein Bild von sich verwirklicht. Im vorliegenden Fall ist es der Spielerin offenbar sehr wichtig, ihre Spielfähigkeit zu verbessern: Das Volleyballspielen bedeutet ihr etwas, deshalb engagiert sie sich und demonstriert ihr Engagement sprachlich wie körperlich in Formen, von denen anzunehmen ist, dass sie zu den konventionalisierten „Konturen“38 und Regeln des Engagements im Feld des (Volleyball-)Sports gehören. Die Praktiken des Übens und Trainierens koppeln sozusagen an vorhandene subjektive Neigungen, Dispositionen und Wünsche an und entfalten und bearbeiten diese in einem intersubjektiven Verfahren, an dem sprachliche wie körperlich-leibliche Kommunikationen gleichermaßen beteiligt sind.39 Über diese intersubjektive und ‚zwischenleibliche‘40 Anlage des Geschehens ist es der Spielerin möglich, ihre Fähigkeiten und Erfahrungen in den Übungsprozess einzubringen und diesen so mitzugestalten.
Schluss Die in einem intersubjektiven Verfahren zum Einsatz kommenden Techniken – Üben, Wiederholen, das Betrachten und Diskutieren von Videosequenzen, die handgreifliche Führung von Bewegungen – zielen im Kern auf das Generieren und Entfalten einer spezifisch „empraktischen Reflexivität“41 ab, welche die Verfügungsgewalt der Athletin über sich selbst, genauer: über ihre für das Volleyballspielen, speziell das Zuspiel, als relevant markierten Dispositionen aktualisieren und verbessern soll. Während die Wiederholungen die Reflexion entlasten, indem sie das Einschleifen zustelltypischer Körpertechniken und Bewegungsmuster beför37 Wolfgang F. Haug, Die kulturelle Unterscheidung. Elemente einer Philosophie des Kulturellen, Hamburg 2011, S. 56. 38 Erving Goffman, Interaktionen im öffentlichen Raum, S. 53. 39 Diese Intersubjektivität ist, das soll an dieser Stelle nochmals unterstrichen werden, in ein Arrangement aus raumzeitlichen (An-)Ordnungen, Dingen und Artefakten eingebunden. 40 Vgl. Nick Crossley, „Body Techniques, Agency and Intercorporeality: On Goffman’s Relations in Public“, in: Sociology 29/1, 1995, S. 133-149. 41 Volker Caysa, Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt/New York 2003, S. 163.
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dern, richtet der Austausch über die Videoaufnahmen die Selbstbeobachtung auf bestimmte, als Knotenpunkte der Bewegung gekennzeichnete Körperhaltungen und -stellungen sowie auf das Ausloten situativ sich ergebender Handlungsmöglichkeiten. Die von einem „empraktischen Sprechen“42 begleiteten Manipulationen des Trainers am Körper der Athletin schließlich bringen dessen Haltungen und Bewegungen von außen in die Form eines Zustellerinnen-Körpers und fördern zugleich einen für das Zustellen erforderlichen (Spür-)Sinn für praktikrelevante Körperzonen und -teile sowie deren Stellungen und Bewegungen in Raum und Zeit.43 Gemeinsam wirken körperliche Vollzüge und sprachlicher Austausch als Medien der Herstellung einer Mitspielfähigkeit, zu der eingeschliffene Körpertechniken ebenso gehören wie spielbezogene Erkenntnis- und Reflexionsleistungen. Diese können sich sowohl als Gefühl für die richtige Bewegung als auch in einer Sensitivität für Spielsituationen und deren Handlungsspielräume äußern. Klassische Entgegensetzungen von Geist und Körper, von Kognition und Emotion, von rationalem Erfassen und Intuition werden dadurch irritiert: Kompetentes Mitspielen beruht allem Anschein nach auf unmittelbar in die Handlungsvollzüge eingebundenen und diesen zugewandten Weisen des Wahrnehmens, Erkennens, Verstehens, Reflektierens und Entscheidens, an denen ein spiel(regel)gerecht geformter, trainierter und eingestellter ‚Körper-Leib‘ ebenso beteiligt ist wie Bewusstsein und Reflexion.44 Die „Automatisierung“ und „Gewöhnung“ von Bewegungsabläufen durch wiederholtes Üben seien deshalb enorm wichtig, erklärt in diesem Sinne auch der Trainer der Spielerin, weil sie sich dann im Wettkampf ganz auf das Spiel konzentrieren könne, ohne noch über einzelne Bewegungsabläufe und Körpertechniken nachdenken zu müssen. Es geht in dieser Sicht gerade nicht darum, Aufmerksamkeit und Reflexion durch Automatisierung auszuschalten, sondern sie für ein augenblickliches, auf das Erreichen praktikimmanenter Ziele gerichtetes Durchspielen situativ sich ergebender Handlungsalternativen zu entlasten.45 42 Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 1965, S. 52. 43 Den Stützrädern beim Erlernen des Fahrradfahrens vergleichbar, schaffen die Manipulationen des Trainers materielle Halterungen und Markierungen, die sowohl dazu dienen, bestimmte Haltung und Bewegungsmuster einzuprägen, als auch dazu, die Ausbildung eines leiblichen Gespürs für die korrekte Bewegungsausführung und deren Spielraum anzuregen. Wie beim Fahrradfahren sollen die Bewegungen später dann auch selbstreguliert ohne diese äußere Stütze vollzogen werden können. 44 Mit dieser Aufmerksamkeit für körperlich-leiblich fundierte Kommunikations- und Verstehensfähigkeiten wird nicht nur der einseitige Mentalismus klassischer Handlungstheorien korrigiert, sondern auch das reduktionistische Körperverständnis jener praxistheoretischen Ansätze, die dem Körper zwar ihre Aufmerksamkeit zollen, ihn jedoch vornehmlich wie einen routiniert arbeitenden Automaten behandeln. 45 In diesem Sinne schreibt Polanyi (Implizites Wissen, Frankfurt am Main 1985, S. 19), dass wir in der „Ausführung einer Kunstfertigkeit [...] unsere Aufmerksamkeit von diesen elementaren Bewegungen auf die Durchführung ihres vereinten Zwecks“ richten (Hervorhebungen im Original); vgl. ausführlicher auch Thomas Alkemeyer, „Denken in Bewegung. Über die Gegenwart des Geistes in den Praktiken des Körpers, das Ergreifen von Situationspotentialen und die Bewältigung von Unsicherheit“, in: Swen Körner/Peter Frei (Hg.), Die Möglichkeiten des Sports. Kontingenzen im Brennpunkt sportwissenschaftlicher Analysen, Bielefeld 2012, S. 99-128.
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Sowohl die praktische Intelligenz eines spielbezogen gebildeten, gewissermaßen erfahrungsgesättigten ,Körper-Leibes‘ als auch die durch ein Einschleifen von Körpertechniken und Bewegungsmustern erlangte Freisetzung von Kognition und Reflexion für das vorausschauende Erkennen von Spielzügen, das augenblickliche Erfassen von Situationspotenzialen und das situierte Treffen von Entscheidungen sind für die Mitspielfähigkeit im kontingenten Geschehen eines Wettkampf-Spiels, in dem der Erfolg wesentlich von den Selbstorganisationsfähigkeiten der Mitspieler wie des Kollektivs abhängt, entscheidend. Der in die Form eines Spiels gebrachte Körper-Leib ist nicht nur dessen Medium, sondern ein „,agiles‘ Moment“46, das intelligente Anschlusshandlungen ermöglicht und vollzieht. Entsprechend fungieren Aufmerksamkeit und Bewusstsein als „soziale Organe“47, die darauf gerichtet sind, die dynamischen Figurationen des Spielgeschehens und die eigene Situierung ebenso zu erfassen wie situativ sich ergebende Handlungsspielräume. Körperlichen-leibliche und mentale Vermögen sorgen in dieser Perspektive ‚kooperativ‘ dafür, dass das Individuum nicht nur ein verkörpertes Instrument des Spiels ist, sondern zu dessen Subjekt wird: dass es fähig ist, sich mit seinen Aktionen in das kollektive Netz der Spielzüge einzuschalten, situationsbedingte Aufgaben kreativ zu beantworten, erkannte Handlungsmöglichkeiten zu ergreifen und damit gestaltend ins Spielgeschehen einzugreifen.48
46 Peter Fuchs, Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Untersuchungen, Weilerswist 2004, S. 86. 47 Mit diesem Begriff beleihen wir Volker Gerhard („Bewusstsein als Organ der Mitteilung“, in: Akademie der Wissenschaft, Berichte und Abhandlungen Bd. 15, Berlin 2009, S. 93-118, hier S. 94), der „alles, was die Verbindung im Gattungszusammenhang ermöglicht“, als Organ bezeichnet, also neben bspw. der Stimme, den Instinkten und den Gefühlen auch das Bewusstsein. 48 Wie Volker Caysa in seinen (auto-)ethnografischen Beschreibungen dargelegt hat, kann die durch ein systematisches Training sozialisierte Sensibilität für den eigenen Körper darüber hinaus auch dazu führen, nicht nur seine Stärken sondern auch seine Schwächen und Anfälligkeiten z.B. für Verletzungen genauer wahrzunehmen und in der Folge zumindest die Möglichkeit zu haben, entsprechende Konsequenzen etwa für die Art und den Umfang des Trainings zu ziehen, eventuell sogar ganz auszusteigen (Körperutopien, S. 186 ff.).
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Sich entbehrlich machen: Subjektivität und Arbeitsteilung I. In einer der Geschichten von Herrn Keuner hört Brechts Titelheld von einem Beamten, den seine Kollegen mit den Worten loben, er sei unentbehrlich. „,Wieso ist er unentbehrlich?‘ fragte Herr K. ,Das Amt liefe nicht ohne ihn‘, sagten seine Lober. ,Wie kann er da ein guter Beamter sein, wenn das Amt nicht ohne ihn liefe?‘ sagte Herr K., ,er hat Zeit genug gehabt, sein Amt so weit zu ordnen, daß er entbehrlich ist. Womit beschäftigt er sich eigentlich? Ich will es euch sagen: mit Erpressung!‘“1
Anhand des Amtes erörtert das die Beziehung von Politik und Arbeit. Bei der Institution, in der eine Vielzahl von Beamten arbeiten und dabei mehr oder weniger zusammenarbeiten, um das Gemeinwesen zu verwalten, sagt die eine Stelle, an der einer sich festgesetzt hat, etwas darüber, wie diese Verwaltung sich selbst verwaltet. Herrn K. missfällt der Mann, den seine Kollegen ihm im Spiegel ihrer persönlichen Wertschätzung vorstellen, denn wer solches Lob verdient, ist deplatziert in einer Einrichtung, die nicht die sich ergebenden gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnisse abbilden oder fortsetzen soll, sondern helfen, eine demokratische Ordnung zu etablieren: eine Ordnung des Gleichen. Zwischen den Begriffen „demokratisch“ und „Ordnung“ besteht offenkundig eine Spannung. Doch leben wir mit den Resultaten des Versuches, für eine Demokratie institutionelle Voraussetzungen zu schaffen; und bei aller berechtigten und wichtigen Institutionskritik pflegt es der Demokratie zu schaden, wenn eine Gesellschaft aufhört, den Versuch ernstzunehmen, ohne die Institutionen abzuschaffen. Brechts Geschichte erinnert daran, dass die demokratische Ordnung einen Bruch mit dem bedeutet, was Menschen an anderen Menschen hängen lässt: Falls es so etwas geben kann wie eine Verwaltung, die den Anspruch eines Staates oder Gemeinwesens, eine Demokratie zu sein, stützt, ihn jedenfalls nicht schon durch ihren Betrieb Lügen straft, dann gehört zur Bestimmung des Amtes in dieser Organisation wesentlich die Ersetzbarkeit desjenigen, der es bekleidet. Im Anschluss an Claude Leforts Definition der Demokratie als einer Form des Zusammenlebens, in der der virtuelle Ort der Macht auf Dauer leer bleibt, könnte man sagen: Jede Besetzung eines Postens muss eine Trennung von Amt und Person respektieren.2 1 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke Bd. 12, Frankfurt am Main 1967, S. 396. 2 Vgl. Claude Lefort, L’invention démocratique. Les limites de la domination totalitaire, Paris 1981. Totalitarismus und Demokratie sind für Lefort dabei nicht zwei getrennte Staats- oder Gesellschaftsformen, sondern Prinzipien und ihnen verbundene Kräfte, die in Staaten und Gesellschaften um Vorherrschaft ringen (und von denen keine jemals den endgültigen Sieg davonträgt). Insofern spielt es für unseren Zusammenhang eine nachgeordnete Rolle, ob Brecht bei seiner
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Ob man die Ämter verlost wie in der attischen Polis oder sie teils durch Wahl, teils durch Ernennung vergibt wie in den modernen Nationalstaaten, soll ein Mensch ein ihm verliehenes Amt zwar für einen gewissen Zeitraum ausüben und in das, was er tut, seine Persönlichkeit einbringen – es „ausfüllen“, wie man sagt –, ohne jedoch als Person mit der Position zu verschmelzen. Und das gilt durch sämtliche Stufen der Hierarchie, sofern ein Amt irgend Macht einräumt, vom Sachbearbeiter der Lokalbehörde bis hinauf zum Regierungschef. Brechts Geschichte betont eine subjektive Seite der Trennung. Dieser Akzent auf dem Subjektiven ist das irritierende Detail, das punctum in dem literarischen Schnappschuss eines Gespräches mit Leuten vom Amt (die alle mit einer Stimme reden): Herr K. legt seinem Urteil eine Ethik zugrunde, die verlangt, dass diejenigen, die Ämter innehaben, etwas für ihre Ersetzbarkeit tun. Der Vorwurf gegen den unentbehrlichen Beamten formuliert ex negativo eine Maxime des Arbeitens in einer demokratischen Institution, die ungefähr lautet: Handle beizeiten so, dass die Wirkungen deines Handelns es denen, die mit dir arbeiten, leicht machen, dich zu entbehren, wenn es an der Zeit ist, dich durch einen andern zu ersetzen. Die geforderte Haltung impliziert zugleich eine Einstellung zur Arbeitsteilung. Indem er es zur Aufgabe des Beamten erklärt, sich entbehrlich zu machen, aus eigener Anstrengung am Ersetztwerden mitzuarbeiten, argumentiert Brechts abendländische Version eines taoistischen Weisen für Arbeitsteilung im Bereich der politischen, das Gemeinwesen betreffenden Angelegenheiten. Es scheint, als ob die Gleichheit sogar eine besonders rigide Arbeitsteilung gebiete, wo Verwaltungsarbeit das Demokratische in Ordnung übersetzen soll. Damit keiner an seinem Stuhl klebt, braucht es eine allgemeine Klarheit darüber, was der Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich eines jeden umfasst und wo dessen Grenzen verlaufen. Die zeitliche Endlichkeit der Macht setzt ihre sachliche voraus. Diese Argumentation wirft indes die Frage auf, was ein politisch-ethisches Einverständnis in die institutionell geregelte Wirklichkeit geteilter Arbeit wäre. Wir erfahren aus dem Text keine Einzelheiten über das Amt, über die Dienstwege, die Berichtpflichten und anderen Verantwortlichkeiten des Mannes, und die parabelhafte Aussparung des Lebensfarbigen reizt an, in theoretischer Grundsätzlichkeit zu fragen: Wie sähe eine gewollte Arbeitsteilung aus? Eine Arbeitsteilung, zu der ich mich entscheide, so dass meine Entschlossenheit zur Arbeit für die eigene Ersetzbarkeit die Treue zu der Entscheidung mitteilt statt widerwilligen Gehorsam gegenüber einer Anordnung von oben? Was unterscheidet ein entschiedenes Einverständnis vom Hinnehmen einer Hierarchie, die Zuteilungen verhängt und mich bei Bedarf von Abteilung zu Abteilung „umsetzt“, wie das Amtsdeutsch sagt, ehe nach Ablauf der vorgeschriebenen Anzahl von Dienstjahren die Versetzung in den Ruhestand ansteht? In gewisser Weise scheinen solche Fragen zu spät zu kommen, hat die Realität der meisten Institutionen die Zeit des Ethos‘, die Zeit der Gewöhnung, die im Keuner-Geschichte den Beamten eines liberalen Staates oder eines sozialistischen Staates im Sinn hatte.
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Handeln eine Haltung ausprägt, längst überholt oder von Anfang an übersprungen. Die Normierung vieler Vorgänge, die herstellt, was wir Bürokratie nennen und was Amtsgänge immer noch hier und da zu einem kafkaesken Abenteuer macht, ist ja Ausdruck eines Misstrauens der Institutionen gegenüber ihrem Personal. Die Verwalter der Verwaltung gehen davon aus, dass die Arbeitenden dem Anspruch, ihr „Amt zu ordnen“, nicht gewachsen sein werden, und nehmen die Ordnung darum weitestmöglich vorweg. Wo die Beamten diese vorgesetzten Normen so sehr internalisieren, dass sie halbwegs reibungslos im bürokratischen Getriebe funktionieren, begünstigt das eine Schwächung des Charakters, woraufhin der Argwohn dann umso stärker begründet erscheint. In der Hülle des Korrekten, der Deckung von Norm und Selbst, züchtet die Bürokratie instabile, fremd- und autoaggressive Subjekte, deren Rechtfertigung vor der Welt und vor sich keinen anderen Wert mehr namhaft zu machen weiß als eine apolitische „Nützlichkeit“ von Ordnung. Exotisch mutet die Insistenz auf einer Ethik der Ersetzbarkeit aber nicht nur im Kontext der Institutionengeschichte an. Auch die Theorien, die für die Erklärung des Prinzips Arbeitsteilung Zuständigkeit reklamierten, haben diese kaum je als Gegenstand einer Entscheidung und damit als Politikum betrachtet. Von den antiken griechischen Philosophen über die Klassiker der politischen Ökonomie im 17. und 18. Jahrhundert und ihre neoklassischen Nachfolger im 20. bis zu den Organisationstheoretikern und Management-Beratern in der Ära, die man derzeit unter den Begriff Postfordismus fasst, steht Arbeitsteilung im Doppelgestirn einerseits der Überlebensnotwendigkeit, andererseits der Erleichterung und Verbesserung innerhalb des ohnehin Unerlässlichen. Die ökonomischen Argumentationen präsentieren die Notwendigkeit arbeitsteiligen Produzierens wie eine direkte Verlängerung der Notwendigkeit des Arbeitens selbst: Der Mensch benötige mehr, als er allein produzieren kann. Als ein Supplement dieses Arguments taucht schon bei Platon ein zweites auf, das den Wert der Leichtigkeit anführt. Die Ursache für das Leichtere, so erläutert Sokrates in der Politeia, liegt in der natürlichen Verschiedenheit der Menschen, die er für gleichbedeutend damit ausgibt, dass einer eher zur einen Tätigkeit, ein anderer zur anderen disponiert sei („ἄλλος ἐπ‘ ἄλλου ἔργου πράξει“ – Schleiermacher übersetzt: „jeder zu einem andern Geschäft geeignet“).3 Geteilt fällt Arbeiten leichter erstens, weil es im Einklang mit den unterschiedlichen körperlichen Ausstattungen und individuellen Begabungen steht, wenn jeder das tut, was er besser als andere kann; zweitens, weil jemand, der sein Tagewerk auf eine Tätigkeit konzentriert, darin durch tägliche Übung geschickter wird als jemand, der seine Aufmerksamkeit auf viele Tätigkeiten verteilt; und drittens, weil Menschen, die gleichzeitig mehreres Nötiges tun, die Flexibilität gewinnen, um ihre Arbeit optimal an den Naturgegebenheiten auszurichten, so dass der Bauer den Termin zum Säen nicht versäumt, weil er noch den Pflug schmiedet, usw. Bis ins 19. Jahrhundert halten ökonomische Traktate diese drei Vorteile im Spiel (obwohl bspw. Adam Smith auffällt, dass die ‚natürlichen‘ Talente eher das Resultat 3 Platon, Politeia, 370b.
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des Aufwachsens in einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind als deren Grundlage4). Man naturalisiert die Arbeitsteilung dabei in der Identifikation zum einen mit einem mehr oder weniger spontanen Zur-Hilfe-Kommen von Menschen untereinander, das David Graeber „baseline communism“5 genannt hat, zum anderen mit der Dynamik des Tausches, in dessen sinnlicher, lebendiger Bewegung noch der frühe Hegel die Verbindung des Individuums zum Ganzen der Gesellschaft sieht.6 Marx verdeutlicht dagegen im Kapital, dass die Erfahrung von Arbeit im Zusammenhang mit der Teilnahme an Tauschprozessen im Zeitalter industrieller Produktion ein bourgeoises Privileg darstellt. Die Aufteilung der Arbeit in den Manufakturen durch deren Besitzer und ihre Verwalter habe nichts gemein mit der „gesellschaftlichen Arbeitsteilung“.7 Während die bürgerlichen Ökonomen beides als Kontinuum verstehen und die offenkundigen Diskrepanzen zu einer Sache der subjektiven Wahrnehmung erklären (schaue ich auf den einzelnen Betrieb, schaue ich auf die Volkswirtschaft?), insistiert Marx auf ihrer Heterogenität: Den Industriekapitalismus charakterisiert die Abtrennung der Arbeitsperformanz von der Tauschbewegung. In einer gesellschaftlichen Organisation, wo Berufe sich nach unterschiedlichen Produkten differenzieren und es innerhalb eines Berufes zu weiteren, einander ergänzenden und unterstützenden Spezialisierungen kommt, erzeugt jeder Arbeitende etwas vom Status einer Ware, die er dem anderen eintauscht oder verkauft. Die Beziehungen zwischen den Arbeitenden entsprechen beim „Stufenprodukt“ zur Weiterverarbeitung denen zwischen Tauschpartnern bzw. zwischen Verkäufer und Käufer, und diese Beziehungen unterliegen den Gesetzen des Marktes, d.h. einer Konkurrenz zwischen prinzipiell Gleichrangigen, Wertverschiebungen gemäß dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage usw. Der Arbeiter in einer Manufaktur hingegen stellt keine Ware her, die er zum Handel anbieten könnte. Er verkauft seine rohe Arbeitskraft. Das macht ihn beliebig ein- und ersetzbar, denn er besitzt nichts Spezifisches, das ein anderer dringend benötigt, um mit dem eigenen Produktionsprozess fortzufahren. Höhnisch merkt Marx an, wenn die Liberalen sich so vehement gegen eine Planwirtschaft wehrten, täten sie dies mit keinem anderen Argument, als dass dies „die ganze Gesellschaft in eine Fabrik verwandeln würde“.8 Die Kritik an der künstlichen Arbeitsteilung in den Fabriken eröffnet auch eine politische Auseinandersetzung mit der Ersetzbarkeit. Der Blick, der versteht, dass die industrielle Tätigkeitssegmentierung gewollt und nicht gewachsen ist, erkennt 4 Vgl. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, hg. von Sálvio M. Soares, Amsterdam u.a. 2007, http://www.ibiblio.org/ml/libri/s/SmithA_WealthNations_p. pdf, S. 17. 5 Vgl. David Graeber, Debt. The First 5.000 Years, New York 2011, S. 97 ff. 6 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Realphilosophie, hg. von Johann Hoffmeister, Hamburg 1967, S. 214 f. 7 Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, IV.4 („Teilung der Arbeit innerhalb der Manufaktur und Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft“), http://www.mlwerke.de/ me/me23/me23_356.htm#Kap_12_4, S. 371-380. 8 Ebd., S. 377.
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im Arbeiter den Proletarier: einen Menschen, der in seiner Arbeitskraft nur etwas zu verkaufen hat, das für den Tausch ausfällt, weil es in nahezu völliger Indifferenz gegen die Dinge und ihre transformatorischen Beziehungen einen Nullpunkt bloßer Aktivität markiert. Den Proletarier erkennen bedeutet dabei, die Effekte des Reduziertseins auf einen Faktor, der zu leicht ersetzbar ist, um ihn zu tauschen, auf ihr Handlungspotenzial hin zu prüfen. Die berühmten Schlussworte des Kommunistischen Manifests adressieren die Angehörigen der revolutionären Klasse als diejenigen, die nichts zu verlieren haben als ihre Ketten.9 Man hält sie in den Fabriken wie Sklaven, raubt ihnen mit der handwerklichen Beziehung zum hergestellten Ganzen, dem Anteil am Produkt, auch die Chance auf eine Anerkennung für das, was sie leisten – und so die Chance auf Teilnahme an den sozio-ökonomischen Selbstermittlungen der bürgerlichen Gesellschaft, die den Anspruch hat, Leistung symbolisch gerecht zu entgelten, und jedem die Möglichkeit eines Aufstiegs verheißt. Der Ausschluss von der sozialen Dimension des Ökonomischen und der ökonomischen Dimension des Sozialen schenkt aber andererseits eine Freiheit, und der Begriff der politischen Klasse konvertiert, den der Masse umwertend, die Deprivation in ein Mehr an Handlungsfähigkeit: Allein die Arbeiter können handeln. Im bürgerlich sozialisierten Kapitalismus lähmen gerade die sozialen Positivwerte, erschweren bis zur Unmöglichkeit jeden Versuch, die Verhältnisse im Ganzen zu verändern. Das Bürgertum, dessen politischer Enthusiasmus sozialkompetente Subjekte zu Urteilsgemeinschaften arrangiert, findet sich nirgends in einer Entscheidung zusammen. Die Engagierten, die immerzu um ihren Status besorgt sein, auf ihr Ansehen achten, ihre Einflüsse mit denen biederer Mitbürger harmonisieren müssen, halten einander wechselseitig im Geflecht sozio-ökonomischer Beziehungen fest, so dass sie kollektiv nicht vom Fleck kommen. Die Proletarier stellen, eben weil die Gesellschaft ihnen keinen Zugang zu jenen Praktiken des symbolischen Tausches gewährt, die Arbeitsteilung an die soziale Wertschöpfung anschließen, deren beweglichstes Element dar. David Graeber beschreibt in Debt den Sklaven als eine Figur, in der kapitalistische Ausbeutungsprogramme zwei Arten von Ersetzbarkeit zur Deckung bringen: die eines Mitmenschen, d.h. der heikle und aufwändige Akt, das schlechthin Unersetzbare eines Menschenlebens doch durch ein Äquivalent aufzuwiegen, wo dies für den Fortbestand einer Gemeinschaft unumgänglich scheint (nach einem Mord etwa, um die Rachefehde zu vermeiden oder ihre Konsequenzen zumindest zu mildern); und die einer Ware, die frei zirkulieren, konsumiert und beliebig nachproduziert werden kann und soll. Dekontextualisierung sei der Vorgang, der beide Arten von Ersetzbarkeit verschränkt: „Slavery is the ultimate form of being ripped
9 „Die Proletarier haben nichts in ihr [= einer Revolution] zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. / Proletarier aller Länder, vereinigt euch! “ Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, online unter http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459. htm.
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from one’s context, and thus from all the social relationships that make one a human being. Another way to put this is that the slave is, in a very real sense, dead.“10 Das Gespenst des Kommunismus, das Marx und Engels in Europa umgehen sahen, ist die Massenbewegung solcher Toten. Diejenigen, deren körperlicher Ausverkauf als Arbeitskraft sie von der lebendigen Bewegung des Tausches abschneidet, entdecken in der proletarischen Bewegung eine Freiheit zu handeln, wie kein reguläres Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sie kennt. Das Proletariat ist die Klasse der vollkommen Ersetzbaren. In dem Maße, wie die kollektive Integrität der politischen Klasse von der Ersetzbarkeit ihrer Angehörigen her zuteil wird, darf deren Solidarität daher nicht die sozio-ökonomischen Bindungen des bourgeoisen Establishments reproduzieren. Darin, dieser Differenz treu zu bleiben, in der die Leichtigkeit ihres Handelns verwahrt ist, begegnet die proletarische Bewegung der schwierigsten Aufgabe. Die Konsistenz der organisierten Massen soll ein anderes Zusammen bewahrheiten als den alternativenlosen Konsens verschuldeter Subjektivität, die bei Erreichen der Volljährigkeit so viele Gefälligkeiten und Vorleistungen von „Freunden der Familie“ in Anspruch genommen hat, dass es an Verrat grenzte, deren Interessen bei den eigenen Plänen unberücksichtigt zu lassen (ein Konsens, den höchstens die ökonomische Katastrophe hinreichend unter Stress setzt, um ihn aufzubrechen). Diese Massen bestehen aus Menschen, die nach dem Abschütteln ihrer Ketten tatsächlich alles los sind, auch und vor allem die Fesseln dessen, was die Bourgeosie mit dem Etikett des „sozialen Bandes“ versieht. Die Solidarität zwischen Angehörigen der proletarischen Klasse ist die organisatorische Intelligenz derjenigen, die ohne sozio-ökonomische Bindungen zusammen handeln. Sie entspricht nicht Durkheims „mechanischer Solidarität“, denn anstelle eines positiv gemeinsamen Gruppenmerkmals eint die Proletarier das unverhältnismäßig Leichte, das die Körper außerhalb der Tauschgemeinschaft auffliegen lässt; aber ebenso wenig der „organischen Solidarität“, denn die Proletarier ergänzen sich nicht, wie die Teile einer Maschine ineinandergreifen, sondern stehen einander als Gleiche, gleichermaßen Ersetzbare zur Seite.11 Das Einverständnis in die eigene Ersetzbarkeit birgt das Verständnis einer Freiheit zum Verändern der Verhältnisse und gehört deshalb wesentlich zu einem revolutionären Klassenbewusstsein. Das schließt, wie Brecht in der Maßnahme behandelt, Gefühle für den andern, auch starke, keineswegs aus; aber die Intelligenz muss Widerstand leisten gegen das klebrig Gefühlige einer bürgerlichen Empathie, die mit dem emotionalen Mehrwert des Solidarischen eine systemerhaltende Korruption finanziert.
10 Graeber, Debt, S. 168. 11 Vgl. Émile Durkheim, De la division du travail social (1893), édition électronique, hg. von JeanMarie Tremblay, http://classiques.uqac.ca//classiques/Durkheim_emile/division_du_travail/division_travail_1.pdf.
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II. Dem Fabrikarbeiter ist verwehrt, was John Stuart Mill als die einzige Art von Notwendigkeit beschreibt, die in einer ausdifferenzierten Arbeitsteilungsökonomie noch gelte: eine Notwendigkeit im Verhältnis zu anderen. Mill korrigiert in seinen Principles of Political Economy von 1848 Edward Wakefield, der mit einer Unterscheidung von „simple co-operation“ und „complex co-operation“ versuchte hatte, noch einmal das elementare Einander-Helfen von den Verflechtungen ausdifferenzierter Überschussproduktion zu scheiden.12 Mill betont, in einer entwickelten Gesellschaft durchziehe die komplexe Kooperation längst auch die Produktion der Subsistenzgüter Nahrung, Kleidung und Unterkunft.13 Es besteht damit nicht nur an jenen Arbeitenden, die in der Komfort- und Luxusindustrie beschäftigt sind, kein zwingender Bedarf, sondern in den komplexen Produktionsketten ist im Prinzip jede einzelne Arbeitsstelle verzichtbar, mindestens aber jeder Mensch auf seiner Stelle ersetzbar. Wenn die Organisation von Arbeit sich einmal verselbständigt und nicht mehr bloß das Sortiment der Produkte bzw. ihrer Bestandteile abbildet, kann es keine essenzielle Notwendigkeit mehr geben, die auf der Unerlässlichkeit bestimmter Güter für das Überleben beruht. Es bleibt dann nur eine relationale Notwendigkeit: Man braucht mich, solange andere nehmen, was ich zu geben habe, und mir das Benötigte zu geben bereit sind. Marx weist darauf hin, dass der Kapitalismus in den Fabriken gewaltige Belegschaften verwaltet, von denen niemand Aussicht hat, sich durch Positionierung in einem System von Verhältnissen notwendig zu machen. Da die Fertigungslogik in ihnen nichts als mechanische Kraft wahrnimmt, den persönlichen Beitrag eines Arbeiters auf ein paar Handgriffe einschränkt, spielt es praktisch keine Rolle, wen man zwischen welche andern stellt und wie oft man irgendwelche von ihnen austauscht.14 Mit der postfordistischen Reorganisation des Produzierens – wann immer man sie einsetzen lässt, ob mit dem Toyotismus der 1960er und 70er Jahre oder den Deregulierunsgwellen der 90er – hält, auf eine knappe Formel gebracht, die gesellschaftliche Arbeitsteilung Einzug in die Unternehmen. Der Staatssozialismus scheitert daran, die Gesellschaft in eine Fabrik zu verwandeln (wie im Nachhinein klar wird, 12 Vgl. Edward Wakefield, Notes to A. Smith „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, London 1835, S. 29. 13 Vgl. John Stuart Mill, The Principles of Political Economy, http://ebooks.adelaide.edu.au/m/mill/ john_stuart/m645p/book1.8.html. 14 So die strukturelle Setzung, die das Personalmanagement dann mal strikter, mal lockerer vollstreckt. Das fordistische System benötigt immer eine gewisse Anzahl von Facharbeitern, und auch im Bereich der sog. ‚ungelernten Arbeit‘ kann es selbstverständlich vorkommen, dass Vorgesetzte einzelne Arbeiter wegen realer oder imaginärer Leistungen schätzen und ihnen spezielle Aufgaben zuteilen, auch im Hochfordismus achtet mancher Chef auf das ‚Betriebsklima‘, usw. Auf der anderen Seite stellt gerade das psychomotorische Einschwingen in den Maschinentakt sehr wohl eine persönliche Leistung dar, gerade weil es darum geht, sich eines gewissen Überschusses an subjektiver Aktivität zu entledigen. Simone Weil, die mit sechsundzwanzig ihre Tätigkeit als Philosophielehrerin unterbrach, um in der Fabrik zu arbeiten, zeichnet in ihren Tagebüchern die vielen Momente des Scheiterns auf, die zu Zwischenfällen und Verletzungen führen – und liefert so ein bemerkenswertes Negativportrait ‚ungelernter‘ Arbeit. Vgl. Simone Weil, Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem, Frankfurt am Main 1991.
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schafft es die Planwirtschaft überhaupt nur durch hoch entwickelte Formen von Korruption über mehrere Jahrzehnte). Der Kapitalismus verfolgt unterdessen mit Hochdruck das gegenläufige Projekt: Er verwandelt die Fabrik in eine Gesellschaft. Fließbänder und Automatisierungen verschwinden nicht, aber das mechanische Procedere regelt in immer geringerem Grade das Zusammenarbeiten. Es obliegt den Mitgliedern von Arbeitsteams, das Wie, Wann, Wer-mit-wem untereinander auszuhandeln und es mit den institutionell und maschinell vorgegebenen Abläufen zu synchronisieren. Zu den spezifischen körperlichen und intellektuellen Verrichtungen im Anforderungsprofil des Jobs tritt Kommunizieren, und zwar die organisatorische Funktionalität von Kommunikation. Paolo Virno identifiziert in einigen der Kompetenzen, die postfordistische Zusammenarbeit abruft, ursprünglich politische Tugenden: rhetorische Fähigkeiten, andere für eine Sache zu begeistern, Gemeinplätze (topoi koinoi) zu finden und zu verwenden, um auf diese Weise operative Mehrheiten für ein bestimmtes Vorgehen zu gewinnen, usw.15 Die postfordistische Flexibilisierung greift diese political skills indes an einem Punkt auf, wo sie bereits in die Ausstattung eines bürgerlichen Subjekts eingepasst sind, das seinen ökonomischen und seinen gesellschaftlichen Erfolg aufs engste miteinander verflochten weiß und auch politischen Einfluss davon ableitet. Die Kooperationsprozesse involvieren das Subjekt gerade als urteilendes. Je weiter die Normierung sich in eine Schicht separat zu bewältigenden Papierkrams zurückzieht, je weniger Dinge, Schritte, Kriterien das Unternehmen seinen Mitarbeitern für die Praxis vorschreibt, desto stärker sind diese auf ihr Vermögen angewiesen, Urteile in antizipativer Rücksicht aufeinander zu treffen und ‚das Projekt‘ als Je-Gemeinsames aus dem Geflecht sich kreuzender Perspektiven zu modellieren. Die postfordistische Formel für die relationale Notwendigkeit lautet: Man braucht mich, solange ich besser als jemand anderes mit dieser besonderen, ab und zu wechselnden Gruppe von anderen komplex kooperiere. Oder jedenfalls so gut, dass niemandem auffällt, wie viel besser es mit jemand anderem als mir ginge. Um dem Ersetztwerden durch so einen anderen zuvorzukommen, lerne ich mich in alle anderen zu versetzen, evaluiere meine eigene work performance im Spiegel ihrer möglichen Bewertungen, während jeder von ihnen wahrscheinlich ähnlich verfährt. Stärkt das nicht die Position der Arbeitenden gegenüber der von Fabrikarbeitern oder gesichtlosen Bürokräften? Immerhin steigen die Chancen, etwas für die verhältnismäßige Notwendigkeit zu tun, von annähernd Null auf einen unklaren Wert über Null. Dessen Unklarheit trägt allerdings dazu bei, Arbeit in einem bisher ungekannten Ausmaß zu hysterisieren, sowohl auf Seiten der Angestellten als auch am Ort derer, die sie einstellen und über Weiterbeschäftigung oder Entlassung befinden. Als Arbeitnehmer habe ich jederzeit Anlass, mich zu fragen, wie wichtig ich im workflow wohl bin. Wenn meine Relevanz für das Ganze davon abhängt, 15 Vgl. Paolo Virno, Virtuosity and Revolution: The Political Theory of Exodus, in: ders./Michael Hardt (Hg.), Theory out of Bounds, Vol. 7: Radical Thought in Italy. A Potential Politics, Minneapolis MN 1996, S. 189-212; zu den topoi koinoi vgl. ders., Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, Berlin 2005, S. 23 ff.
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wie ich mich mit dem, was ich tue, positioniere im Bezug zu dem, was andere tun, gelingt mir das hinreichend, um dem Verdacht der Überflüssigkeit zu entgehen? Vernachlässige ich die unausgesprochene Hauptaufgabe dieser Positionierung nicht etwa über dem Erledigen des Anstehenden, arbeite ich genug für mich in dem Prozess, dessen Endprodukt sich dann unter schwankenden Marktbedingungen mehr oder weniger verkauft, wobei die Gewinne daraus über meine persönliche Leistung allenfalls sehr indirekt etwas sagen? Obwohl an den liberalisierten Märkten selbst Großkonzerne in den Konkurs schlittern, geht die alltägliche Bedrohung weniger von negativen Zahlen aus, die irgendein manifestes underachievement verraten (die Selbstinszenierung der Aktiengesellschaften sorgt dafür, dass die eigenen Angestellten von solchem Versagen zumeist nicht früher erfahren als die Öffentlichkeit und die Massenentlassungen sie überraschen). Aber täglich muss ich den Wert meiner Tätigkeit aus den Stimmen, Mienen und Gesten meiner co-worker herauslesen, aus ihrer (Un-)Aufmerksamkeit, ihrem (Des-)Interesse an meinen Vorschlägen, ihren Bitten, Rückfragen, Ratschlägen, Einwänden, Umdeutungen, Kompromissangeboten, ihren Vertraulichkeiten, Weiterempfehlungen, Essenseinladungen, Geburtstagsgrüßen und Scherzen. Was schlechte, was gute Arbeit ist, was ein strategischer Fehler, was ein innovativer Einfall, ermitteln in einer selbstorganisierenden Kollektivdynamik immer erst die Reaktionen der Partner. Und dabei handelt es sich um die Reaktionen von zugleich Konkurrierenden und Kooperierenden. Das postfordistische Teamwork etabliert die co-competition, den Chiasmus von Konkurrenz und Kooperation, als durchgängiges Prinzip des Miteinander-Umgehens am Arbeitsplatz. Das Objekt meiner Angst ist der Tag, an dem ich merke, dass das Gegeneinander gegenüber dem Miteinander das letzte Wort behält. Ich bin da, aber die Kommunikationen laufen an mir vorbei. Alles wird besprochen und beschlossen und bewältigt wie gehabt, bloß ohne mich. Nachdem technologischer Fortschritt es im 20. Jahrhundert ermöglichte, große Mengen menschlicher Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, hat man mit der organisatorischen Experimentierfreude des Postfordismus einen Typ von downsizing entdeckt, der Profit schlägt gerade aus dem Unwissen, wer in einer flexiblen Aufteilung von Arbeitstätigkeiten wirklich Nötiges tut. Wo das Netzwerk das fordistische Sequenzsystem ablöst oder refiguriert, fällt eine proportionale Logik aus, die von der Anzahl der Teile und ihren jeweiligen Leistungskapazitäten auf die Gesamtperformance schließt. Kevin Kelly erwähnt in Out of Control den Versuch von Stuttgarter Stadtplanern Ende der 60er Jahre, die Innenstadt zu entlasten, indem sie eine neue Straße bauten. Der Verkehr floss danach aber zäher als zuvor, und als man die neue Straße sperrte, lief er wieder besser.16 Zahlreiche vergleichbare Erfahrungen zeigen, dass ab einer gewissen Eigendynamik von Interaktionen mehr Infrastruktur nicht zwangsläufig mehr Performance bringt, weniger Infrastruktur die Performance nicht zwangsläufig senkt. Entsprechend führt eine Verkleinerung des Mitarbeiterstabs 16 Vgl. Kevin Kelly, Out of Control. The New Biology of Machines, Social Systems, and the Economic World, New York 1994, online unter: http://www.kk.org/outofcontrol/contents.php, hier: http:// www.kk.org/outofcontrol/ch2-g.html.
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nicht schon gleich zu geringerer Arbeitsleistung, so wie zusätzliche Einstellungen nicht mit Sicherheit bewirken, dass die Abteilung mehr schafft, was von Wert für das Unternehmen wäre. Hunderte konkurrierender Methoden, die versprechen, die Performance von Teams und einzelnen Mitarbeitern zu messen, helfen nicht aus dem Relativismus von Leistung heraus: Kein Repräsentations- und Bewertungsverfahren reduziert die Komplexität von Kooperation so weit, dass sie einen selbstorganisierenden Teamwork-Prozess in Elemente zergliedert, deren Summe das Ganze ergibt. Angesichts der beschränkten Aussagekraft betriebswirtschaftlicher MannstundenKalkulationen für Projektarbeit probieren Personalmanager schlicht aus, ob, wenn sie Einen entlassen, die Übrigen nicht denjenigen Teil seiner Arbeit übernehmen, der prozessrelevant war. Und ob das nicht auch bei einem Zweiten, Dritten, Vierten klappt. Die Effekte dieser Eingriffe treten oft erst verzögert zutage, denn komplexe Kooperation generiert eine Eigenzeitlichkeit, die an mechanischer Kausalität orientierten Zukunftserwartungen und -berechnungen selten entspricht. Es passiert durchaus, dass Personalabbau zu weit geht, aber die Differenz zwischen Prozesszeit und Institutionszeit, die Verspätung, mit der Schäden sich zeigen, verleiht dem Einsparen eine schwer widerstehliche Irreversibilität. Die Abwesenheit von sog. Leistungsträgern hat zwar Auswirkungen, aber deswegen noch lange keine Konsequenzen. Die Auswirkungen zählen lediglich zu einer neuen Ausgangssituation, deren Unzulänglichkeiten man als challenge an die Verbliebenen zurückgibt – sofern nicht das Schlechtere längst das nächste Normale darstellt. Wir gewöhnen uns an massive Verschlechterungen von Produkten und Dienstleistungen, nicht nur bei den hierzulande einmal staatlichen Betrieben Bahn und Post. Es sind gerade die großen Unternehmen mit komplizierten Strukturen, die – abgesehen davon, dass sie bewusst personalintensiven Service streichen und die Kunden zur Selbstbetreuung drängen – ihre eigenen Qualitätsstandards verpassen, weil ihre Entscheider nicht mehr wissen, wen man wofür bräuchte und wie viel oder wie wenig Spielraum es bei Straffungen gibt. Es ist in diesem Sinne unmöglich geworden, dem Prozess zu fehlen. Allein der persönliche Einsatz von Vorgesetzten und Kollegen, die einen nicht missen möchten, bewahrt im Zweifelsfall vor der Ersetzung oder dem Wegfallen der Stelle. Doch kann solche Wertschätzung ebenfalls nicht mehr auf die Unverzichtbarkeit des Geschätzten pochen, wo der Betreffende institutionell Einfluss ausüben und sie geltend machen will. Dem Fürsprecher bleibt nur, in Gutachten, Evaluationsberichten oder Verhandlungen das Wohlgefällige in eine herbeigeredete Dichte von Vorteilen zu kleiden und zu hoffen, dass die Mitentscheider den Köder schlucken. Auch Personalchefs bekommen zudem die subjektiven Folgen der privatwirtschaftlichen ‚Vergesesellschaftung‘ von Arbeit zu spüren, die Angestellte darin schult, für ihre Chance auf weitere Arbeit, d.h. für sich zu arbeiten. Der verängstigte Egoismus des täglichen co-competitors schlägt bei Gelegenheit um in einen abgebrühten: Ausgerechnet die Spitzenperformer, die man unbedingt halten will, lassen die Firma im Stich, sobald ein Konkurrent bessere Konditionen bietet.17 17 Vgl. Roland Springer, Neue Führungsmethoden in der Automobilindustrie, in: Dirk Baecker (Hg.), Archäologie der Arbeit, Berlin 2002, S. 51-62.
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In der Tat hat der Übergang zum Postfordismus die Figur des Herren mit der des Sklaven verrechnet in der des Managers – genauer gesagt: des middle managers, denn das Management beginnt das Wesen der Arbeit zu verändern als eine Reorganisation, die sich aus der Mitte heraus vollzieht. Im Unterschied zur Allianz von Firmenbossen und Ingenieuren, die auch Optimierer wie Taylor einschloss, taucht der Manager zwischen der Führungsriege und dem Heer der Ausführenden auf und gewissermaßen auch zwischen den Arbeitsschritten, an den Stellen des Betriebes, wo Vorgänge von einer Zuständigkeit in eine andere wechseln und Reaktionen sich auf theatralen Szenen des Präsentierens ereignen. Und er taucht dort eigentlich nur auf, um zu verschwinden. Eine Management-Weisheit sagt: „Je besser es ohne dich geht, ein desto besserer Manager bist du.“18 Was auf den ersten Blick wie die Übersetzung der Brecht’schen Ersetzbarkeitsethik in eine postfordistische Arbeitskultur anmutet, teilt seinen Adressaten effektiv mit, dass es ein Jetzt des Ersetzens, einen Zeitpunkt, zu dem der eine seinen Schreibtisch räumt, der andere auf dem freien Stuhl Platz nimmt, in der Welt, für die diese Maxime gedacht ist, gar nicht gibt. Der Hauch von Zen, der das „ohne“ umweht, enthält eine atmosphärische Wahrheit: Ohne eigentlichen Imperativ weist dieser Satz vom Besseren das Subjekt an, zwischen Plus und Minus, der eigenen Anwesenheit und der eigenen Abwesenheit, quasi hindurchzugehen. Wenn seit kaizen „Managementphilosophien“ bereitwillig ostasiatische Lehren bzw. deren New-Age-Derivate aufnehmen, so aufgrund einer Disposition der Arbeitstätigkeit ‚Managen‘ selbst, an der ein Entweder-oder-Denken irre würde. Jener Prozess, den die bürgerlichen Apologeten der Arbeitsteilung wie eine natürliche Entwicklung erzählen, erhält mit dem Manager jemanden, der ihn pflegt; doch die Definition einer spezialistischen Zuständigkeit für das Organisieren soll dabei das naturhaft Evolutionäre der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung keineswegs kompromittieren. Das Walten des Managers entlarvt nicht etwa die Fiktion vom produktiven Kosmos, wo jeder seinen natürlichen Ort findet; es arbeitet an deren Fortzeugung und Erneuerung. Was er tut, darf in der Art, wie er es tut, daher nicht den Eindruck eines künstlichen, gewaltsamen Eingreifens in den Lauf der Dinge erwecken. Er wird der Evolution lediglich ein Mehr an Effizienz abgewinnen, das emergierende Bessere so rechtzeitig erkennen, dass es bei erster Gelegenheit gleich zur vollen Entfaltung gelangt, weil die betreute Gegenwart es freundlicher empfängt, als roher Status quo es täte. Eine Ökonomie, die sich vom Naturnotwendigen verabschiedet, gibt mit dem Job des Managers nunmehr die Erleichterung für das Natürliche aus. Die Disposition eines Entscheiders, dessen Entscheidung über Verzichtbare(s) und Unverzichtbare(s) selbst möglicherweise vollkommen verzichtbar ist, sucht 18 Dieses Verständnis von Management vertritt interessanterweise auch der christlich-neoliberal argumentierende Abt Notker Wolf (bspw. in der NDR-Talkshow „Tietjen und Dihaba“ am 11.1.2008). Er zieht zur Untermauerung neben Bibelstellen gern ‚östliche Weisheiten‘ heran: „Und wie zeitlos diese hohe Kunst der Menschenführung ist, steht auch bei Laotse: ‚Wenn der Meister regiert, ist sich das Volk kaum bewusst, dass es ihn gibt.‘“ (Notker Wolf, Vom Wert der Demut, in: Wirtschaftswoche, 12.2.2008, http://www.wiwo.de/politik/konjunktur/denkfabrikvom-wert-der-demut/5349262.html)
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sich im Manager zunächst bestimmte Körper, Rollen, Habitusformen, eine Rhetorik des Führens, Begeisterns, Ermächtigens, die ihre eigenen Moden, ihre Paradigmen und paradigm shifts hervorbringt. Sie heftet ihr schwebend Besseres an Namen auf Gehaltslisten, und aus der Mitte der Gut- und Besserverdienenden steigen einige charismatische Akteure auf, die lange Abschnitte des 20. Jahrhunderts hindurch die Szene eines performativen Souveränen bespielen.19 Ob als glorreicher Eroberer, skrupelloser Halunke, genialischer Visionär, verschmitzter Jedi oder erhabener Normaler, illustriert dieser Heros eine Art Souveränität zweiter Ordnung, die ihren Einfluss maximiert, indem sie die Herrschaft aus der Hand gibt und den Knechten dabei hilft, es selber hinzukriegen. Die Menschen mit der passenden Persönlichkeit dafür übersetzen den Effekt von der Null, die für sich keinen Wert hat, aber den anderer Zahlen enorm erhöht, wenn man sie ihnen beigesellt, in eine post-aristokratische Epoche.20 Der ‚Top-Manager‘ repräsentiert den Zufall, der einen Menschen unter Vielen in die Position einer solchen Null rückt, nicht mehr in einer Logik der edlen Geburt oder der Wahl, sondern in einer Logik des Erfolges, als Solipsismus: Die ‚Top-Manager‘ sind unverzichtbar für den Erfolg eines großen Unternehmens, weil sie so erfolgreich sind, dass sie ‚Top-Manager‘ geworden sind. Ihre glanzvolle Karriere, die die aktuelle Stellung jeweils krönt, rechtfertigt, dass sie diese Stellung bekleiden. Sie geben dem Unternehmen die leere Evidenz des Erfolgs, die aus ihrer Leere auf alles übertragbar scheint, was sie zum Gegenstand ihrer Entscheidungen machen, und es stimmt völlig zur Hoffnung auf eine die Verhältnisse selbst vom Regulären befreiende Steigerung, dass man sie unverhältnismäßig entlohnt. Das Salär des ‚Top-Managers‘ gehorcht nicht der risikoproportionalen Logik von Investition; es stellt eine Ausgabe dar, deren Höhe unmittelbar den Wert des von ihm Unternommenen und Unterlassenen angibt und vornehmlich den Zweck hat, diesen Wert zu behaupten.21 Der Rückübersetzung prinzipieller Verzichtbarkeit in die Figur eines souveränen Handelns und Seins, wie sie mit dem ‚Top-Manager‘ an der Spitze der Funktionshierarchie stattfindet, korrespondiert aber ein Prozess, der die Koinzidenz von Steigerung und Gleichgültigkeit in der managerialen Entscheidung zur anderen
19 Zur performativen Souveränität vgl. Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn 2013, bes. den Abschnitt „Die Macht von Performance und die Differenzen im Handeln“, ebd., S. 33-47. 20 „Fürsten sind Nullen – sie gelten an sich nichts, aber mit Zahlen, / Die sie beliebig erhöhn, neben sich gelten sie viel.“ (Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. II. Das philosophische Werk I, Stuttgart 1981 [3. Aufl.], S. 668; vgl. Kai van Eikels, „Freie Bereicherung, raffinierte Glückseligkeit: Das Virtuose im ökonomischen und politischen Denken der Romantik“, in: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann [Hg.], Genie – Virtuose – Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik, Würzburg 2011, S 67-98). 21 Es gibt keine Szene öffentlichen Handelns für diese manageriale Top-Performance. Wer die offizielle Repräsentation der Unternehmen beobachtet – etwa die Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften –, erlebt die großen Manager als ungelenke Marionetten, die von Juristen hinter der Bühne zusammenkopierte Texte aufsagen. Die Tätigkeit ‚Managen‘ kommt in solchen Auftritten nicht vor.
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Seite hin auflöst: ein generelles Manager-Werden, das vor keinem Berufszweig Halt macht und nach und nach sämtliche Befugnis- und Gehaltsstufen erfasst. Ulrich Bröckling hat in Das unternehmerische Selbst die Konsequenzen für die individuelle Lebensführung protokolliert, und im Anschluss an Foucaults Konzept der gouvernementalité untersuchen mittlerweile zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien die „Ökonomisierung des Sozialen“.22 Die suggestive Formulierung sollte dennoch nicht zu dem Trugschluss verleiten, neoliberale Reformen müssten die ökonomische Perspektive, die das Organisieren durch Kommunizieren im Hinblick auf Steigerungsoptionen betreibt, dem sozialen Leben erst einpflanzen. Für die „Ökonomisierung des Sozialen“ brauchen Maßnahmen das in einer jeglichen bürgerlichen Gesellschaft längst virulente sozio-ökonomische Moment des Interagierens lediglich zu stärken: Es reicht, den Mehrwert der Effekte ins Bewusstsein zu heben, die gelingendes Zusammenleben hat, um plausibel zu machen, wie viel mehr Wert ein noch besser gelingendes Zusammenleben mir bescherte. Pädagogik und Bildungsinstitutionen unterstützen das, indem sie die Heranwachsenden von klein auf zu einem strategischeren Gebrauch ihrer Kommunikationsfähigkeiten erziehen (und ‚Kompetenz‘ so definieren, dass sie Strategien für die co-competition impliziert). Regierungen und Staatsverwaltungen forcieren es, wenn sie etwa in nationalen Richtlinien und internationalen Verträgen wie dem Bologna-Abkommen den Begriff der „employability“ verankern.23 Es gibt hier durchaus treibende Kräfte und programmatisch Verantwortliche zu identifizieren; doch deren Interventionen wäre schwerlich eine derartige Wirksamkeit beschieden, stünden sie nicht zutiefst in Harmonie mit einer Dynamik, deren Ursprung Rousseau in seinem Discours sur l’inégalité in einer Rückprojektion des Bürgerlichen an den Anfang geselligen Lebens überhaupt verlegt: Sobald die Menschen sich in Siedlungen niedergelassen haben, Arbeitsteilung eingespielt ist und die Überproduktion in der Landwirtschaft ihnen ein wenig freie Zeit und Aufmerksamkeit schenkt, entstehen im selben Zug die elementaren kulturellen Techniken des Zusammenlebens (inkl. der performativen Künste) und das Gefühl des Mangels an Aufmerksamkeit und Anerkennung, die sozio-ökonomische Konkurrenz: „Der Gesang und der Tanz, wahre Kinder der Liebe und der Muße, wurden das Vergnügen oder vielmehr die Beschäftigung der müßigen und zusammengekommenen Männer und Frauen. Jeder begann, die an-
22 Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007; ders./Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main 2000. 23 Um 1900 bedeutet der Begriff „employable“ einfach, dass jemand für eine Arbeit zur Verfügung steht. In den 1950er und 60er Jahren bezieht er sich dann auf eine vornehmlich körperliche, in groben Zügen auch geistig-seelische ‚Gesundheit‘ (die sog. „manpower policy employability“). In den 70er und 80er Jahren wandelt sich das grundlegend unter Einfluss der Vorstellung, Arbeitnehmer müssten sich fortlaufend an veränderte Anforderungen anpassen. Und dabei geht es sogleich schon nicht mehr um die tatsächliche Anpassung, sondern um das Potenzial zur Anpassung, um Lernfähigkeit und lebenslange Lernmotivation. Vgl. Phoebe Moore, The International Political Economy of Work and Employability, London/New York 2010.
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deren zu beachten und selbst beachtet werden zu wollen, und die öffentliche Wertschätzung hatte einen Wert [et l’estime publique eut un prix]“.24 Meine These, dass der Postfordismus die gesellschaftliche Arbeitsteilung in die Unternehmen trägt, widerspricht der Annahme, es habe irgendwann ein unschuldiges, reines, anökonomisches Soziales gegeben, ein liebevolles und gerechtes Miteinander, das der Kapitalismus heimtückisch zersetzte und sich selbst entfremdete. Die manageriale Intelligenz, zu der postfordistisches Arbeitsleben flächendeckend verpflichtet, exponiert bloß den ökonomischen Wert des Sozialen, um den jedes Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft mindestens ahnt. Sie leuchtet interessiert das Zwischen aus, wo Menschen aufeinandertreffen, und das Einzige, was der Wille zum Wissen in diesen Interessen wirklich zerstört, ist das Halbdunkel, das clairobscur, in dem bürgerliches Gesellschaftsleben die Generierung und Verteilung seines Mehrwerts gern lässt: die Ideologie des Bürgerlichen.25
III. Ebenso verfehlt das Beschwören solider Fachkompetenzen die Pointe der Generalisierung, welche die Verschiebung von der Arbeitsleistung zur work performance bringt. Denn im Postfordismus kommt nicht Spezialisierung an ihr Ende, vielmehr kommt zur spezialistischen Ausrichtung etwas hinzu, das nicht spezifische Anforderungen betrifft (und die Frage, ob jemand mit dem, was er tut, das Geforderte ableistet oder nicht), sondern den Wert der Arbeit als solchen. Dieser Wert zählt als solcher, sofern er sich nicht mehr darin realisiert, dass labor zu work wird. Man mag noch so laut eine (weitere) „Real Economy“ ausrufen, es führt im Liberalismus kein Pfad zurück zum Leistungsnachweis des geschaffenen Werkes. Selbst handwerkliche crafts erfahren ihre neue Wertschätzung im Spiegel einer virtuosity, die im Hergestellten das materielle Substrat des gesellschaftlich Schätzenswerten wahrhat. Die „employability“ bezeichnet die Chancen eines Menschen, in einer solchen Situation seinem Ersetztwerden wenigstens mittelfristig zuvorzukommen. Diese Chancen, die nun oft den Ausschlag geben, ob man ihn überhaupt einstellt, werden ermittelt auf der Grundlage vornehmlich persönlicher Einschätzungen, die professionelle Urteile willkürlich – und ihre Willkür kompetent verschleiernd – auf fragmentiertes, zur Präsentation angeordnetes Datenmaterial (Exposés, Lebensläufe, Zeugnisse, Empfehlungsschreiben usw.) beziehen. Postfordistische Arbeitskulturen legen ihren Akteuren zwar nahe, den Anschein einer Beurteilung nach objektiven Kriterien aufrechtzuerhalten, aber das System delegiert den Großteil der Bewertung an die distinguierte Intersubjektivität zwischen den Arbeitenden. Jeder 24 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’inégalité/Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn u.a. 1997 (4. Aufl.), S. 189. 25 Diese Verschwommenheit des Ökonomischen im Sozialen ersehnt zurück, wer den neoliberalen Kapitalismus im Namen „bürgerlicher Werte“ kritisiert. Der Appell an soziale Tugenden, die der „unmenschliche“ Wettbewerb bedrohe, irrt oder täuscht darüber, dass eben das von solchen Tugenden evaluierte Soziale das Milieu für die Ausbildung dieses Kapitalismus gewesen ist.
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work performer muss dementsprechend Gutachter-Performanzen ins eigene Leistungsprofil integrieren. Der externe Gutachter vom Typ des neutralen Schiedsrichters weicht einer den Arbeitsprozessen selbst immanenten Beurteilungsfunktionalität, so dass soziale Anerkennung und ökonomische Evaluation von Arbeitenden konvergieren.26 Bestrebungen, aus dieser Situation heraus doch so etwas wie Souveränität zu erringen, laufen auf allen Ebenen der Hierarchie über das, was Herr K. beim Namen „Erpressung“ nennt. Das Verhalten des Beamten, der unentbehrlich geworden ist, weil er seine Kollegen in dem Glauben vereint hat, dass es nicht ohne ihn liefe, dürfte vielen von uns aus der eigenen Praxis nur allzu vertraut sein. Im sozialen Kapitalismus entspricht mein einzig verbürgter Wert auf der Arbeitsstelle dem der Beziehungen, die meine Ersetzung durch jemand anderen negativ tangierte. Es empfiehlt sich also, die sozio-ökonomischen Beziehungen zu vervielfältigen, eifrig immer mehr Sozialkontakte auf ökonomische Valenz abzuklopfen, ihre Profitabilität den anderen gegenüber herauszukehren und sie in Richtung dieser Profite zu entwickeln. Hier ist die ‚Kreativität‘ des Improvisators gefragt, denn bei dieser weichen Form der Erpressung tritt ein Interagierender als Autor der sozialen Beziehung auf, handhabt das dem Allgemeinen Zugewandte daran wie eine persönliche Abmachung, an der er als einer der Urheber nach Belieben etwas ändern darf. Auf der Szene jener Kommunikationen, die den Garantiestempel offizieller gesellschaftlicher Institutionen tragen, sagt er: Wenn ich diese (Arbeits-)Beziehung zu dir erfunden hätte, fiele mir nun gerade folgende kleine Ergänzung ein… Solche Transformationen des Sozialen in ein inoffizielles gemeinsames Projekt entfalten ihre erpresserische Wirkung eher über positive Werte als über negative. Setzt der harte Erpresser sein Opfer unter Druck durch Schlechtes, Kompromittierendes, das er weiß, bindet der Erfinder seiner eigenen Unentbehrlichkeit den anderen an sich durch ein „verbindliches Gedächtniss“ dessen, was es über ihn Gutes zu sagen gäbe: „Wer einen hohen Rang hat, thut gut, sich ein verbindliches Gedächtniss zu schaffen, das heisst, sich von den Personen alles mögliche Gute zu merken und dahinter einen Strich zu machen: damit hält man sie in einer angenehmen Abhängigkeit.“27 Es ist wichtig, dass die Abhängigkeit beiden Seiten relativ angenehm vorkommt, und üblich, das Unangenehme auf eine ‚der Gesellschaft‘ zugeschriebene Unumgänglichkeit abzuschieben: Viel lieber würde ich den anderen ganz frei von irgendwelchen Spekulationen auf spätere Vorteile schätzen, loben, empfehlen, und eigentlich tue ich es wahrscheinlich auch – doch leider leben wir in einer Realität, die uns zu selten Gelegenheiten gönnt, das zu merken, und so jedenfalls läuft es nun einmal. Die Sache betrifft unsre Vertrautheit ohnedies nur in einem ihrer Aspekte und
26 Vgl. van Eikels, Die Kunst des Kollektiven. S. 344-349. 27 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, 6. Aufl., München 2003, Nr. 278, S. 215.
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zwischenzeitlich, „für heute“.28 Die Erpressung ‚von oben‘ setzt den „hohen Rang“ des Erpressers voraus, da es für den Erpressten etwas Ehrendes haben muss, so zum Gehilfen eines Unentbehrlichen zu werden. Doch lässt sich diese Verbindlichkeit, das Ineinandergreifen von Erpressen und Erpressenlassen, auch im Selbstverhältnis eines Menschen etablieren:„So kann der Mensch auch mit sich selber verfahren: ob er ein verbindliches Gedächtniss hat oder nicht, das entscheidet zuletzt über seine eigene Haltung zu sich selber, über die Vornehmheit, Güte oder das Misstrauen bei der Beobachtung seiner Neigungen und Absichten und zuletzt wieder über die Art der Neigungen und Absichten selber.“29 Der passende Rang fürs Erpressen stellt dann ein subjektives Verdienst dar, das Resultat einer self-fulfilling prophecy, eines Eigenlobs, das seine Fähigkeit, die Gegenwart vorherzusagen, im Zuspruch der Mitarbeiter beglaubigt. Brechts Beamter ist, wie wir annehmen dürfen, seinen Lobern mit gutem Beispiel vorangegangen. Und er hat recht daran getan. Was ein Bürger aus der fernen Epoche, da das Bürgertum so etwas wie eine Standesehre der aristokratischen nachbildete, für die äußerste Schamlosigkeit erachtet hätte, ist common sense im sozialen Kapitalismus: Ohne zustimmungsfähiges Eigenlob, ohne die gelebt-lebendige Erinnerung des Gutenfür-andere an mir wird es mir niemals gelingen, die anderen im Lob für mich zu einem hinreichend belastbaren Netzwerk zu organisieren. Die heute weithin geteilte Überzeugung, wer kein Selbstwertgefühl habe, könne nicht damit rechnen, dass andere ihn schätzen, ergibt auch den Leitsatz der Korruptions-Koproduktion: Lass dich unter keinen Umständen dabei erwischen, dich selbst für ersetzbar zu halten! Wo keiner weiß, was schließlich die Entscheidungen beeinflusst, sind die Versager diejenigen, denen man anmerkt, dass sie sich – bis in ihre Optimismen – an das Zweifelhafte der eigenen Leistung erinnern. Mit dem letzten Halbsatz „und zuletzt wieder über die Art der Neigungen und Absichten selber“ gibt das Nietzsche-Zitat, episodisch in die Brecht-Geschichte eingeschoben, einen Wink in die Richtung eines Abweichens vom gegenwärtigen System der relativ angenehmen, subjektiv internalisierten Erpressung. Dieses System ist fürchterlich stabil – es ist das Stabile am Kapitalismus, und seine Stabilität scheint mir die Ursache dafür, dass all die spektakulären Zusammenbrüche der kapitalistischen Wirtschaftsform kaum soziale Veränderungen anstoßen. So wenig wir unsere Abhängigkeiten voneinander beseitigen können, so wenig lässt sich deren Funktionalität für die Ermittlung ökonomischen Wertes einfach wieder aus ihnen 28 Der Partner für den korrupten Deal lässt sich, wie Nietzsche schreibt, „‚für heute‘ verführen und bestechen und behält sich die Zukunft und die Tugend vor“ (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [la „gaya scienza“], Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, München 2003 [6. Aufl.], Nr. 23, S. 397). Weiche Korruption funktioniert, solange sie denjenigen, die auf Vorschläge zu inoffiziellen Händeln eingehen, wie ein Interim erscheint, ein Arrangement, von dem man profitiert, das aber, weil es ein persönliches Arrangement ist, jederzeit kraft derselben Übereinkunft widerrufen werden kann, die es eingesetzt hat, und nicht wirklich teilhat an der irreversiblen, irgendwie vermutlich schicksalhaften Entwicklung im Großen. 29 Nietzsche, Morgenröthe, S. 215 f.
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löschen. Das soziale Moment des Kapitalismus hält ihn am zähesten unter uns fest. Die sozio-ökonomische Determinierung dessen, was uns für gut gilt, hindert unser Interagieren daran, aus den bestehenden Produktions- und Verteilungsroutinen herauszufinden. Es bedarf zu einer Veränderung der Verhältnisse daher nicht mehr und nicht weniger als eines anderen Guten. Und wenn es einer Ethik (d.h. einem Denken) zufällt, dieses Gute, diesen höchsten Wert des Handelns zur Sprache zu bringen, dann wäre es besser eine asoziale Ethik, die nicht den Mythos vom vorökonomischen Sozialen reproduziert. In dem Zustand, in den wir durch die Erträge und Plagen des Kooperierens geraten sind, hilft uns am ehesten das Asoziale einer Frage nach der Gleich-Gültigkeit von Beziehungen aus der Klemme. Während „unserem Gefühle der antike Sclave fehlt“30 und uns damit die Vornehmheit, die der Freiheit eine große Haltung verleiht, verstehen wir es ebenso schlecht, Sklaven zu sein und uns zu einem Virtuosenproletariat zu organisieren, das seines Namens würdig wäre. Gleichermaßen unkundig selbst der bloß empfundenen Freiheit von Arbeit wie unfähig, die befreienden Effekte der Austauschbarkeit als work performer zu nutzen, stürzen wir uns immer panischer ins socializing, fassen ins Gestrüpp der Bekannten und Halb-Bekannten nach Halt. Brechts unzeitgemäße Betrachtung setzt eine andere Erinnerung gegen das „verbindliche Gedächtniss“, das wir uns selber in unseren Vernetzungen zu werden bemühen, und ich finde derzeit keinen treffgenaueren Einspruch als Herrn K.’s Abmahnung eines Mannes, den man mit einigem Grund für sein Networking preist. Ich schlage vor, die wörtliche Rede im letzten Satz von Der unentbehrliche Beamte probehalber mit einem Ausdruck der Deklassierung zu lesen. Die Fähigkeit, die eigene Ersetzbarkeit zu bejahen und trotz allem, was an den Verhältnissen abrät, etwas dafür zu tun, stützt sich heute vielleicht auf nichts als eine gewisse Verachtung. Nach Abschaffung eines vornehmen Standes erhebt uns allein eine Höhe, die wir uns selber geben, über die Vulgarität der sozio-ökonomisch vereinnahmten, durch ihre Exzellenzphantasien vom guten Durchschnitt entfernten „Mitte“ der Gesellschaft: eine kollektiv vereinzelte aristokratische Subjektivierung gegen das Selbstwertgefühl. Was dem sozio-ökonomisch Erfolgreichen wie Brechts Beamten abgeht, ist die vermessene Subjektivität, jener Stolz, den ein Mensch aus dem Einverständnis in seine Endlichkeit zieht. Deshalb erpresst er, deshalb ist er erpressbar.
30 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 18, S. 389.
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Vom Treppensteigen, Lippennachziehen und anderen alltäglichen Praktiken der Subjektivierung oder: Die kybernetische Form des Subjekts „Wenn Sie eine Rolltreppe oder einen Lift sehen, sagen Sie sich automatisch: ‚Ich nicht!‘ und halten Sie Ausschau nach dem Treppenhaus. Treppensteigen ist die billigste und wirksamste Fitnessübung, die es gibt. Oben (oder unten) angekommen werden Sie Ihr Herz deutlich spüren, zugleich aber auch ein feines kleines Glückserlebnis haben.“1 Diese Anweisung, dem Körper „Glücksstoffe zu ent-locken“2 und sich dabei fit zu halten, entstammt dem Bestseller Simplify your Life. Einfacher und glücklicher leben von Werner Tiki Küstenmacher. In 20 Sprachen übersetzt und fast zwei Millionen Mal verkauft, ist das Buch ein paradigmatisches Beispiel einer breiten Palette (massen-)medialer Ratgeberformate,3 die Hilfe in sämtlichen Belangen der Lebens-, Selbst- und Beziehungsführung versprechen. Die Sozialwissenschaften wenden sich diesen Formaten erst zögerlich zu.4 Das ist erstaunlich, denn in ihnen werden kulturelle Wissensbestände und soziale Normen explizit gemacht und 1 Werner Küstenmacher, Simplify your life. Einfacher und glücklicher leben, Frankfurt am Main/ New York 2001, S. 193. 2 Ebd. 3 Zur Wechselwirkung von Bedingungen der (Massen-)Medien und der Form der Beratung vgl. die Aufsätze in Peter-Paul Bänziger et al. (Hg.), Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen, Berlin 2010. 4 Unbeachtet blieb das Genre der Ratgeberliteratur jedoch nicht. So bildeten Anstandsratgeber das Material den Zivilisationsprozesses (Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1977), den Wandel vom innen- zum außengeleiteten Charakter (David Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Reinbek bei Hamburg 1958) oder um die Flugbahnen des spätmodernen Selbst (Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge 1991) zu untersuchen. Jüngste gesellschaftliche Transformationen wurden von Ulrich Bröckling (Ulrich Bröckling, „Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement“, in: ders.; Susanne Krasmann; Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main 2000, S. 131-167) sowie Luc Boltanski und Eve Chiapello anhand eines breit angelegten Korpus von Managementratgebern analysiert (Luc Boltanski; Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003). Verschiedene Medienformate der Sexualberatung und ihre Auswirkungen auf Prozesse der Subjektivierung wurden in Stefanie Duttweiler, „Subjektivierung im Modus medialisierter Sexualberatung“, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 2/2008, S. 45-66; Dies., „Expertenwissen, Medien und der Sex. Zum Prozess der Einverleibung sexuellen Körperwissens“, in: Reiner Keller; Michael Meuser (Hg.), Körperwissen, Wiesbaden 2010, S. 163-183; Bänziger et al. (Hg.), Fragen Sie Dr. Sex!; Peter-Paul Bänziger, Sex als Problem. Körper und Intimbeziehungen in Briefen an die ‚Liebe Marta‘, Frankfurt am Main 2010 und Annika Wellmann, Beziehungssex. Medien und Beratung im 20. Jahrhundert, Köln 2012 verhandelt.
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dieses Wissen in alltagspraktische Techniken überführt, die sowohl die Lebensführung als ganzes als auch unzählige Details des alltäglichen Lebens adressieren. Hier verdichten sich die Vorstellungen über den Menschen und seine Möglichkeiten, hier werden sie ausbuchstabiert, verhandelt und legitimiert, hier wird dem Subjekt „ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muss und das andere in ihm anerkennen müssen“,5 hier lernt es, sich an seine Identität zu binden – die (erst) durch die Verfahren der Wissensproduktion auf diese Weise und in dieser Deutung sichtbar gemacht wurde. Mit anderen Worten: Ratgebende Formate tragen dazu bei, Menschen zu Subjekten zu machen und damit zugleich die je historisch bestimmte Form des Subjekts zu konzipieren und zu produzieren. In den hier zu untersuchenden aktuellen Lebenshilferatgeber,6 wird, so meine These, die Form des Subjekts als eine kybernetische ausgewiesen. Es wird ein Subjekt entworfen, das sich selbst steuern und gestalten kann, das heißt, das sich reflexiv auf sich bezieht und sich selbst gegeben ist. Im Folgenden werde ich nach einführenden Bemerkungen die Aneignungsweisen, Akzeptabilitätsbedingungen und Techniken des Selbstbezugs in aktuellen Lebenshilferatgebern vorstellen, die der Herausbildung dieser Subjektform zuarbeiten. Auch wenn kein historischer Vergleich durchgeführt wird, soll mit dieser Herangehensweise sichtbar werden, dass es „keine universelle Form des Subjekts [gibt], die man überall wiederfinden könnte“.7 Die Form des Subjekts entfaltet sich vielmehr in den historisch je spezifischen Weisen des Selbstbezugs. Anders gesagt: Die Form des Subjekts ist ein Effekt historisch und kulturell spezifischer Prozesse der Subjektivierung, in dem sich Wissensformen, Machtpraktiken und die Weisen, sich selbst zu konstituieren, verschränken. Spricht man den in Lebenshilferatgebern vorgestellten Techniken einen prominenten Stellenwert für die Selbstkonstitution zu, liegt es nahe, in ihnen jene von Foucault beschriebenen „Technologien des Selbst“ zu sehen, „die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt“.8 Der Begriff Technologien des Selbst überzeugt insofern, als er den Bezug auf sich selbst als einen technischen ausweist. So betont er die Konstitution und intentionale Bearbeitung eines Objektes – wobei hier Subjekt und Objekt der Einwirkung
5 Michel Foucault, „Das Subjekt und die Macht“, in: Hubert L. Dreyfus; Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1987, S. 246. 6 Die folgenden Überlegungen sind Zusammenfassung und Weiterführung meiner Dissertation: Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz 2007. 7 Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, Helmut Becker et al. (Hg.), Frankfurt am Main 1985, S. 137 f. 8 Michel Foucault, „Technologien des Selbst“, in: Luther M. Martin; Huck Gutman; Patrick H. Hutton (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt am Main 1993, S. 26.
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zusammenfallen.9 Das Ziel der Einwirkung ist dabei präzise genannt: ein Selbst, das sich im Prozess der technisch induzierten Selbsteinwirkung selbst hervorbringt. Darüber hinaus soll mit dem Begriff die Wechselwirkung zwischen dem ‚Eigensinn‘ der Techniken und ihren diskursiv vorgegebene Verwendungsweisen, die eine bestimmte Nutzung und Gebrauch wahrscheinlich machen, hervorgehoben werden. Und ähnlich wie in technische Operationen ist auch der Selbstbezug auf Wissen, erprobte Verfahren, Regeln und Methoden sowie auf spezifische Instrumente, Artefakte und Medien angewiesen und es sind Fertigkeiten nötig, die sich im angeleiteten Gebrauch ausbilden und vervollkommnen. So soll der Begriff der Technologien des Selbst nicht zuletzt anzeigen, dass die Einzelnen die angewendeten Mittel zum Selbstbezug nicht aus sich selbst hervorbringen, vielmehr beziehen sie sich auf Verfahren und Schemata, die sozial „vorgeschlagen, nahegelegt und aufgezwungen werden“10. Diese sind eingebettet in einen bestimmten Macht-WissensKomplex und verleihen so den Einwirkungen auf sich selbst eine bestimmte, sozial legitimierte Form. Will man die historisch je spezifischen Formen des Selbstbezugs analysieren, erweist sich der Begriff Technologien des Selbst also als ausgesprochen fruchtbar, macht er doch die Selbstkonstitution als einen komplexen verfahrensgeleiteten, selbstinduzierten und selbstgesteuerten Prozess beschreibbar, der zugleich unlösbar mit den historisch je spezifischen Macht- und Wissensformationen verknüpft ist. Denn wenn „sich das Subjekt in der einen oder anderen determinierten Form durch eine gewisse Menge von Praktiken, die Wahrheitsspiele, Machtpraktiken usw. sind, selbst konstituiert“11, dann sind Machtpraktiken und Wahrheitsspiele nicht ausgeklammert. Macht und Wissens stehen nicht neben den Praktiken der Selbstkonstitution, sondern die Praktiken sind Wahrheitsspiele und Machtpraktiken; Macht und Wissen zeigen sich dementsprechend in den konkret ausgeführten Praktiken der Selbstkonstitution. Mehr noch: Es sind die Praktiken, in denen sich Machtpraktiken und Wahrheitsspiele vermitteln und so Macht wirksam werden lassen. Denn Macht muss in und durch die Körper und das Selbst hindurch,12 damit sie wirksam wird; sie „existiert nur in actu, auch wenn sie sich, um sich in ein zerstreutes Möglichkeitsfeld einzuschreiben, auf permanente Strukturen stützt.“13 Damit wirken diese Technologien in doppelter Hinsicht produktiv: Sie verwirklichen eine bestimmte Macht-Wissensformation und sie machen aus Menschen Subjekte. So sind es nicht zuletzt diese Praktiken der Selbstkonstitution, durch die sich das konstitutive Paradoxon des Subjektes, zugleich unterworfen zu sein 9 Das impliziert auch, dass sich die hier vorgestellten Technologien des Selbst als Teil einer Machtmaschinerie erweisen, die vertiefte Unterwerfung mit gesteigerter Tauglichkeit verkettet, die diszipliniert und zugleich produktiv ist (Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1976, S. 177). 10 Foucault, Freiheit und Selbstsorge, S. 19. 11 Ebd, S. 18. 12 Vgl. Butler, Judith, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main, 2001, S. 18. 13 Foucault, „Das Subjekt und die Macht“, S. 254
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und dadurch seine Handlungsfähigkeit verliehen zu bekommen, verwirklicht. Die Praktiken der Selbstkonstitution erweisen sich als ‚Vollzugsorte‘, an denen sich das Paradox der Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Subjektproduktion entfaltet. Ein wesentliches Moment im Prozess der Subjektivierung ist das Anerkennen der Wahrheit über sich, d.h. Identifikation mit sich selbst. „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemanden unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein“.14 Subjekte, das hat Judith Butler im Anschluss an Foucault hervorgehoben, „scheinen diese ‚Selbstverhaftung‘ zu brauchen, diesen Prozess, in dem man an seine eigene Subjektivität geheftet wird“.15 So sind wir „von Anfang an dem ausgeliefert [...], was außer uns ist und uns den Bedingungen unterwirft, die unserer Existenz Form geben.“16 Sich an sich selbst zu ‚verhaften‘ ist somit nicht losgelöst von gesellschaftlichen Vorgaben, sondern vermittelt über die Normen der Anerkennbarkeit, die dem Subjekt eine gesellschaftlich akzeptierte Form geben. „Die Macht kann nur auf ein Subjekt einwirken, wenn sie der Existenz diese Subjekts Normen der Anerkennbarkeit aufzwingt.“17 Lebenshilferatgeber machen Normen der Anerkennbarkeit explizit, tragen dazu bei, eine Identität auszubilden und sich an sie zu binden und tragen so dazu bei, freie und handlungsfähige und zugleich unterworfene und an die eigene Identität verhaftete Subjekte (mit-)zuproduzieren. Die folgenden Ausführungen zielen darauf ab, die aktuelle Bedingungen und Weisen der Subjektivierung herauszuarbeiten und aufzuzeigen, welche Form des Subjektes daraus erwächst.
Die Weisen der Aneignung Die Verkaufszahlen aktueller Lebenshilferatgeber und ihre enorme Popularität legen die Vermutung nahe, dass diese Bücher nicht nur gekauft und verschenkt, sondern wahrscheinlich auch gelesen werden. Nicht alle Leserinnen und Leser sind dabei Ratsuchende im strengen Sinne, nicht wenige dürften die Bücher aus anderen Gründen lesen. Die Fülle ihrer verständlich dargestellten und für den Alltagsgebrauch ausgewählten Wissensbeständen der Psychologie, Philosophie, Esoterik oder Neurowissenschaften18 sowie die zahlreichen Anekdoten, Erfahrungsberichte und konkrete Tipps und Techniken können auch lediglich ein Informationsbedürfnis befriedigen oder als Unterhaltung konsumiert werden. Doch unabhängig davon, ob die Bücher als Quelle für Orientierungs- und Handlungswissen oder 14 Ebd, S. 246. 15 Judith Butler, „Noch einmal: Körper und Macht“, in: Axel Honneth, Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt am Main 2003, S. 62. 16 Ebd., S 67. 17 Ebd., S. 63. 18 Zur Hybridisierung der in Ratgebern aufgerufenen Wissensformen vgl. Stefanie Duttweiler, Sein Glück machen.
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der Unterhaltung dienen, in allen Herangehensweisen muss man davon ausgehen, dass sich Ratsuchende und Ratkonsumierende mit den dort vorgestellten Wissensbeständen, Normen und Techniken tatsächlich auseinandersetzen – auch wenn sie „möglicherweise gar nicht ursächlich für bestimmte praktische Entscheidungen sind. Hierfür sind oft ganz andere lebensweltliche, situative und ökonomische Faktoren ausschlaggebend. [...] Die Ratgebertexte jedoch stellen, so wäre zu vermuten, Argumentationen und Begründungen bereit, um innerhalb dieser je zeittypisch gegebenen Kontexte die getroffenen Alltagsentscheidungen diskursiv abzusichern, vielleicht sogar zu rechtfertigen“.19 Das lässt sich auch für die vorgestellten Techniken vermuten. Ihre Methoden aus dem therapeutischen, philosophischen und esoterischen Repertoire sind im Einzelnen alles andere als neu, auch sie bestätigen das Bekannte und legitimieren die eigene Praxis. Doch trotz und möglicherweise gerade aufgrund ihrer Bekanntheit und Banalität20 bieten die Wissensbestände und Techniken Orientierungshilfen, Anregungen, Rezepte und Ermutigungen, auf sich selbst und das eigene Leben zu reflektieren und zielgerichtet auf seinen Körpern, seine Gedanken, Gefühle und seine Umwelt einzuwirken. Dabei werden die Techniken nur selten direkt übernommen. Stattdessen ist zu vermuten, dass die Leserinnen dem Rat der Bücher folgen, mit den vorgestellten Techniken zu experimentieren: „Probieren Sie aus, was Sie auf irgendeine Weise anspricht. Mit dem, was Sie mögen, spielen Sie, bis Sie es lieb gewinnen oder langweilig finden. Dann hat es seinen Dienst getan“.21 Den Leserinnen und Lesern wird mithin die Freiheit zugesprochen, die Techniken nach ihren je persönlichen Bedürfnissen auszurichten und anzuwenden: Man kann sie ausprobieren, übernehmen, modifzieren oder ganz verwerfen. Auf welche Weise die Leserinnen und Leser dieses Wissen und diese Techniken praktisch werden lassen, ist somit weder in den Wissensbeständen noch in den vorgestellten Techniken zwingend angelegt. Doch unabhängig von der konkreten Umsetzung vollzieht sich ein direkter und indirekter Prozess der Auseinandersetzung, der zur Selbstreflexion und Selbststeuerung anregt. Folgen der Lektüre Verhaltens-, Handlungs- und Einstellungsänderungen, so sind es also keine unmittelbaren Diskurseffekte, vielmehr erweisen sich Lebenshilferatgeber als Vorlagen, auf die die Einzelnen je individuell antworten. Mehr noch: Gerade der eigensinnige Umgang mit sozialen Vorgaben ist ein wesentliches Moment der Selbstkonstitution. Im individuellen Ausüben bestimmter Reflexions19 Timo Heimerdinger, „Brust oder Flasche? – Säuglingsernährung und die Rolle von Beratungsmedien“, in: Michael Simon et al. (Hg.), Bilder. Bücher. Bytes. Zur Medialität des Alltags. Münster 2009, S. 105. 20 Auch Werner Küstenmacher ist sich dieser Banalität bewusst: „Die Ratschläge, die ich gebe, sind ja nicht besonders originell, die weiß man eigentlich schon. Aber es ist vielleicht schön, es mal in so geballter Form zu hören. [...] Simplify your life ist ja ein populärer Bestseller, und er kann nur populär und Bestseller sein, wenn da etwas drin steht, was die Leute schon wissen. Etwas revolutionär Neues hätte keinen so durchschlagenden Erfolg“ (Maike Schult, „Das Einfache ist kompliziert. Interview mit Werner Tiki Küstenmacher“, in: Praktische Theologie. Zeitschrift für Praxis in Kirche, Gesellschaft und Kultur, 1/2010, S. 40). 21 Lothar Seiwert, Das Bumerang-Prinzip: Mehr Zeit fürs Glück, München 2002, S. 10.
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und Modulationspraktiken der alltäglichen Lebensführung ereignet sich Selbstkonstitution, ist sie doch im Wesentlichen ein tätiges Verhältnis zu sich selbst. Die Machtpraktiken und Wissensformen der Ratgeberformate strukturieren zwar das Feld der Möglichkeiten, doch erst in der situativen und konkreten Auseinandersetzung damit werden die vorgestellten Technologien zu alltagsverändernden und damit subjektkonstituierenden Praktiken.
Akzeptabilitätsbedingungen und Plausibilisierungsstrategien Was bringt die Einzelnen dazu, sich mit den Technologien des Selbst auseinanderzusetzen, die in Lebenshilferatgeber vorgestellten werden? Was bringt sie dazu, sie als Bezugspunkte ihres Selbstbezugs anzuerkennen? Was bringt sie dazu, sich selbst als jemand zu gestalten, der die Treppe benutzt, statt bequem auf einer Rolltreppe nach oben zu fahren? Erkundet man die Akzeptablitätsbedingungen dieses Wissen und dieser Technologien, muss man sich zunächst der Konstellation von Macht, Wissen und Selbstbeziehung zuwenden, die sich durch die spezifische Form der Kommunikation – die der Beratung – ergibt. Sie ist bestimmt durch die Zuschreibung von Autorität und die Unterstellung von Expertenwissen, aus der sich eine asymmetrische Positionierung von Ratsuchenden und Ratgebenden ergibt. Ob derjenige, der erbeten oder ungebeten einen Rat erhält, diesem allerdings eine Tat folgen lässt, ist ihm freigestellt, denn im Unterschied zu Zwang, Nötigung und Kontrolle beruht Beratung auf Freiwilligkeit, Veränderungsbereitschaft und Selbstbestimmung. Die Form der Beratung ist mithin eine Macht-Wissensformation, die als Angebot ausgewiesen ist. Doch indem sie die autoritätsgestützte Wahrheit über den Ratsuchenden und eine Verbesserung seiner Problemlage versprechen, wird die Annahme des Angebots wahrscheinlich. Die Form der Beratung entfaltet ihre Machtwirkung mithin über Distanz und vermittelt über Einsicht, denn es wäre unvernünftig, ihr Angebot auszuschlagen. Daraus ergibt sich eine doppelte Weise der Anrufung: Die Ratsuchenden werden angehalten, ihr Unbehagen im Rahmen eines vorgegebenen Problemhorizontes einzugrenzen und sich als beratungsbedürftig zu erkennen, doch zugleich werden sie als selbstbestimmte, vernünftige und optimierungsfähige Subjekte adressiert. Denn um nicht sinnlos zu sein, muss die Form der Beratung das Subjekt als etwas figurieren, auf das eingewirkt werden kann.22 Dementsprechend fällt die Form der Beratung Freiheits- und Handlungsspielräume aus, die die Einzelnen zur Veränderung ihrer Situation und von sich selbst nutzen können – die Form der Beratung setzt mithin ein Subjekt der Selbstbestimmung.23 Die Form des Angebots und die 22 Vgl. Peter Fuchs; Enrico Mahler, „Form und Funktion von Beratung“, in: Soziale Systeme 6/2000, S. 349-368. 23 Vgl. Stefanie Duttweiler, „Beratung“, in: Ulrich Bröckling et al. (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt 2004, S. 125-129; Dies., „Beratung als Ort neoliberaler Subjektivierung“, in: Roland
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Adressierung als frei und selbstbestimmt sind heute wesentliche Bedingungen, das Wissen und die Veränderungsanleitungen als relevant für die eigenen Lebensführung zu akzeptieren. Darüber hinaus findet sich eine Reihe von Strategien, die Wissen und Techniken der Ratgeber plausibilisieren. Eine wirkmächtig Plausibilierungsstrategie aktueller Lebenshilferatgeber ist beispielsweise das große Versprechen auf Veränderung: „Sie werden den Sinn und das Ziel Ihres Lebens finden. Sie werden sich innerlich und äußerlich verändern. […] Sie werden neue Kontinente in sich entdecken. Ihnen werden Kräfte zuwachsen, von denen Sie keine Ahnung hatten. Sie werden einen Grad an körperlicher Zufriedenheit haben, den Sie noch nicht kannten. Sie werden materiell besser stehen. […] Sie werden von Ihren Mitmenschen geschätzt und geliebt werden, und Sie werden sich in sich selbst wohl fühlen“.24 In diesem Versprechen auf Selbstfindung und Komplett-Optimierung klingt nicht zufällig eine religiöse Erlösungssemantik an, die sich mit der Überzeugung paart, dass Veränderung für alle zu jeder Zeit möglich ist. Unter der Hand wird auf diese Weise auch eine der wesentlichen Normen der Anerkennbarkeit verdeutlicht: den Willen und die Fähigkeit auszubilden, an sich zu arbeiten, um das eigene Leben und sich selbst zu gestalten. Da hier ausschließlich Verbesserung versprochen wird, ohne dass das Optimum tatsächlich benenn- oder erreichbar wäre, wird die Arbeit an sich als eine permanente ausgewiesen. Darüber hinaus wird in Lebenshilferatgebern auf sozial legitimierte „Problematisierungsformeln“25 Bezug genommen, die als abstrakte Reflexions-, Zurechnungsund Handlungsregel für die individuelle Lebensführung fungieren.26 So lassen sich beispielsweise mit der Problematisierungsformel ‚Glück‘ die Diffusität des Lebens, die Heterogenität der Wünsche und die Vielfalt der Handlungsoptionen vereindeutigen und zu einer Polarisierung zwischen glücklichem und unglücklichem Leben verdichten. Problematisierungsformeln strukturieren die Mannigfaltigkeit individueller Erfahrungen indem sie sie auf den Begriff bringen, die Komplexität spezifischer Situationen und der Lebensführung im Allgemeinen reduzieren. Sie bieten dem Selbstbezug einen ‚griffigen‘ Außenhalt, mit dem sie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reflektieren und beurteilen können. So erweisen sich Pro-
Anhorn; Frank Bettinger; Johannes Stehr (Hg.), Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2007, S. 261-275. 24 Küstenmacher, Simplify your life, S. 11 f. 25 Vgl. Duttweiler, „Beratung“. 26 Der Begriff lehnt sich an die Überlegung Foucaults an, die diskursive Problematisierung eines Gegenstandes bringe ihn als solchen erst hervor. Wie Foucault hervorgehoben hat, sind es Problematisierungen, durch die die Dinge in den Raum des Sagbaren und des Aushandelbaren eintreten, durch sie werden die Dinge zu Gegenständen des Wissens und Denkens. Problematisierungen lassen sich darum als produktive Praktiken verstehen; es sind Praktiken, die verändern: die Gegenstände des Diskurses, indem sie sie hervorbringen; den Diskurs, indem sie seine Gegenstände konstellieren und zu weiteren Diskursen anreizen; die Weisen des Wissen über den Menschen ebenso wie seine konkrete Formierung.
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blematisierungsformeln als Kontaktpunkte zwischen den Normen der Anerkennbarkeit und dem Selbstbezug der Einzelnen. Plausibilisiert werden sie durch den Aufruf verschiedener Wissensformen wie wissenschaftliches Wissen, Erfahrungs- und Weisheitswissen, das die Techniken plausibilisieren und legitimieren sollen, sowie durch Stilmittel wie Metaphorisierung, Dramatisierung und Moralisierung. Dass dieses Wissen dabei nicht selten alltäglich und banal ist, trägt wahrscheinlich, wie oben ausgeführt, eher zur Akzeptanz des Wissens als zu dessen Abwehr bei. Das Wissen wäre aber nur halb so attraktiv, bliebe es abstrakt. Daher erweist sich die Übersetzung des Wissens in nachvollziehbare Techniken, die einfach in den Alltag zu integrieren sind, als die entscheidende Plausibilisierungsstrategie. Auf diese Weise wird zum einen offensichtlich, dass Veränderungen möglich sind und zum anderen wird konkret ausgewiesen, wie das geschehen kann. So wird beispielsweise vorgeschlagen, sich ein Ziel zu setzen und seine Werte zu überdenken, seine Wünsche kennen zu lernen oder ein Glückstagebuch zu führen, Treppen zu steigen und mit Blumen Farbe in die Wohnung zu bringen, das Lächelgesicht zu trainieren oder sich die Lippen nachzuziehen, um sich schön zu fühlen. Hilfestellungen, positiv zu denken und Achtsamkeit zu trainieren, runden oft das Angebot ab. Dabei ist es nicht zuletzt die Materialität der Techniken, die plausibilisiert, legitimiert und zur Ausübung motiviert. Fragebögen machen Neues sichtbar, Listen zur Selbstexploration tragen einen Anreiz zur Vervollständigung in sich und begrenzen sie zugleich27; Kuchendiagramme und Prozentrechnungen stellen Beziehungen zwischen Teil und Ganzem her und entfalten so eine zugleich differenzierende und vereinheitlichende Wirkung und die akribische Verwaltung der Freunde durch Kalendereinträge routinisiert die Beziehungspflege. So ergibt sich auch hier eine doppelte Wirkung: Der zwingende Charakter, der diesen Techniken eingeschrieben ist, wirkt evidenzproduzierend und der Sog, den diese Praktiken entwickeln, verselbständigt und verselbstverständlicht die Arbeit der Selbstgestaltung. Stellt sich durch die Anwendung der Techniken das angestrebte „kleine, feine Glückserlebnis“ dann tatsächlich ein, verwirklicht sich das Versprechen auf Glück am eigenen Leib und plausibilisiert es so unmittelbar. Denn vermeintlich der Bezeichnungspraxis vorgelagert, reklamieren leibliche Empfindungen und Gefühle den Status von Etwas, das nicht beweisbar, nicht bestreitbar und nicht widerlegbar ist. Kurz: Die kommunikative Form der Beratung, die Rhetorik und der Stil der Ratgeber, der Sog der Techniken sowie die je eigensinnige Umgangsweise mit den 27 „The arrangement of words (or ,things‘) in a list is itself a mode of classifying ... since it includes some items and excludes others“ (Jack Goody, The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977. S. 103). Eine Liste erweist sich somit als produktives Medium der „selektiven Vergegenwärtigung“ (Hahn) – ein Modus zur Selektion und Organisation, der Formen bereitstellt, das eigene Selbst zu explizieren. Eine Liste anzulegen, klassifiziert, hierarchisiert, provoziert zur Vervollständigung, kann aber auch zur Neuordnung anregen. Denn Aufschreiben heißt nicht zwangsläufig festschreiben, Listen regen an zum Umschreiben, Weiterschreiben, Fortschreiben: „The list relies on disontinuity rather than continuity“ (ebd., S. 81).
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Techniken und die leiblichen Erfahrung ihrer Wirksamkeit machen es wahrscheinlich, die normativen Vorgaben, das vorgestellte Wissen und die Problematisierungsformeln der Ratgeber als relevant für die eigenen Lebens- und Selbstführung anzuerkennen.
Techniken der Selbstkonstitution Die Techniken, die in aktuellen Lebenshilferatgebern vorgestellt werden, haben vor allem zwei Stoßrichtungen: sich selbst zu erkennen und sich selbst zu gestalten. Beide Weisen des Selbstbezugs sind jedoch nur analytisch zu trennen, denn alle konvergieren in dem einen Ziel, sich in die Lage zu versetzen, das Leben nach Maßgabe der individuell präferierten Problematisierungsformel (Glück, Erfolg, Gesundheit, Sinnerfüllung) selbstbestimmt zu führen. Um sich selbst zu erkennen, werden in Lebenshilferatgebern unzählige Varianten der Selbstbefragung vorgestellt, die dazu anregen, auch unscheinbare oder indifferente Wünsche und Befindlichkeiten zu explizieren und jedes Detail der Lebensführung der Beobachtung und Bewertung auszusetzen. Wörtlich nimmt das die sogenannte „Spiegelarbeit“: „Stellen Sie sich vor den Spiegel und betrachten Sie sich in aller Ruhe, und dann beantworten Sie folgende Fragen: Ist mir mein Gegenüber sympathisch? […] Möchte ich mit ihm befreundet sein […] Was sollte er an sich ändern?.“28 Meist sind es jedoch Spielarten von Persönlichkeitstest, Listenführungen oder Kuchendiagramme, die dazu dienen, den Einzelnen mehr Wissen über sich zu entlocken, als ihnen bewusst ist und dies in eine sichtbare Form zu bringen. Damit leiten sie dazu an, die eigene Individualität komplexer zu beschreiben und sie immer feiner auszudifferenzieren. Die so entstehenden Punktesysteme, Listen, Bilder, Diagramme und Schemata bieten dann buchstäblich eine Auslegeordnung seiner selbst, eine neue Sichtweise auf sich selbst. Die Techniken der Selbsterkenntnis entfalten somit einen produktiven Effekt: es können mehr Eigenschaften, Wünsche oder Dispositionen dem eigenen Selbst als die eigene Wahrheit zugerechnet werden und mehr Möglichkeiten zur Ausgestaltung der eigenen Individualität werden denk- und lebbar. Doch damit produzieren diese Techniken nicht lediglich die Erkenntnis der individueller Einzigartigkeit, sie bringen sie ihrerseits auch hervor – und sind gewissermaßen der ‚Leim‘, sich an seine Identität zu ‚verhaften‘. Die Techniken der Selbstkenntnis profilieren so nicht zuletzt eine Form des Subjekts, das reflexiv in sich gesetzt ist, mehr noch: das sich in unzähligen Operationen der Rekursion aus sich selbst heraus setzt. Dazu bedienen sie sich der Mittel der Verschriftlichung und Visualisierung, um sich selbst zu entäußern und so einen externen Bezugspunkt der Selbstidentifikation zu erhalten. Dabei binden die Techniken an eine Wahrheit über sich selbst, die sich Wissensformen und Machtpraktiken außerhalb seiner selbst verdankt. Neu ist das keineswegs, „für die Moderne 28 Kurt Tepperwein, Der Schlüssel zum Glück. Ein Anti-Ärger-Programm, Güllesheim 1997, S. 72.
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scheinen […] vor allem Techniken der Selbstbeobachtung, der Selbstkontrolle, der Buchführung über sich selbst, Formen des freiwilligen oder erzwungenen Bekenntnisses von zentraler Bedeutung gewesen zu sein.“29 Doch in den meisten aktuellen Lebenshilferatgebern ist das Bekenntnis eines wahren Selbst, das noch die Selbsthilfeliteratur der 1960er bis 1980er Jahre prägte, weniger von Interesse. Sich selbst zu erkennen soll vor allem dazu dienen, die Ausgangspunkte der Selbstoptimierung zu bestimmen. Neben den Techniken der Selbsterkenntnis treten daher Techniken der Selbstgestaltung. Sie leiten dazu an, die eigenen Grenzen zu erweitern, aktiv zu werden, positiv zu denken, die eigenen Gefühle zu beeinflussen, achtsam zu sein und die Beziehungen zu Familie, Freunden oder zu Gott gewinnbringend zu organisieren. Eine Reihe der Techniken zielt dabei insbesondere auf Selbststimulation. Mit Hilfe von Meditationspraktiken, Körperübungen, durch Farbtupfer in Wohnung und Kleidung oder Aromaölen und Gewürzen soll der Körper so angeregt werden, dass er positive Gefühle produziert. Letztlich zielen alle diese Anleitungen zur Selbstund Fremdinstrumentalisierung auf die Steigerung der Selbstverfügung: Sie sollen in die Lage versetzten, so auf sich einzuwirken, dass man von seinen Gefühlen und Gedanken, falschen Gewohnheiten oder falschen Freunden, Stress und Umweltbelastung nicht daran gehindert wird, was man persönlich erreichen will.
Die Form des Subjekts Darüber, ob das Ausführen dieser Technologien des Selbst tatsächlich zu einem glücklichen, erfolgreich oder sinnerfüllten Leben beiträgt, gibt es kaum empirische Belegen. Dieser Effekt scheint nicht ausgeschlossen, ist aber ungewiss. Ihre Produktivität entfalten Lebenshilferatgeber jedoch in erster Linie in anderer Hinsicht; sie liegt in der theoretischen und praktischen Herausbildung einer spezifischen Form des Subjektes. Das Subjekt wird als eines entworfen, das sich reflexiv auf sich bezieht und sich so selbst steuert und es wird zugleich – setzt man sich mit den Wissensbeständen und Techniken tatsächlich auseinander – als solches hervorgebracht: Die vorgestellten Technologien des Selbst steigern die Erkenntnis und das Bewusstsein von sich selbst, entfalten die Individualität der Einzelnen und regen dazu an, die eigene Identität zu entwerfen, sie auszubauen und sich mit ihr zu identifizieren. Darüber hinaus etabliert die kommunikative Form der Beratung Freiheits- und Zugriffsmöglichkeiten, zu deren Realisierung die Techniken wesentlich beitragen. Sie arbeiten konkret an der Grenzverschiebung des individuell Verfügbaren, indem sie die Selbstwirksamkeit erhöhen und Handlungsoptionen mehren. Der Mensch wird so als ein Wesen entworfen, das in der Lage ist, sich selbst zu gestalten, ohne auf interne oder externe Bedingungsfaktoren Rücksicht zu nehmen, mithin als ein
29 Alois Hahn; Volker Kapp, „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main 1987, S. 7.
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Wesen, das sich selbst vollständig gegeben ist. „Autonomie ist heute nicht mehr ‚in sich reflektiertes Gesetztsein‘ (Hegel), sondern Selbstprogrammierung.“30 Die Fähigkeit zur Programmierung geht dabei über die Selbstverfügung hinaus und schließt die Beziehung zur Umwelt ein. Denn die Beziehungen zwischen Innen- und Außenwelt werden so figuriert, dass das Individuum zwar offen gegenüber Einflüssen der Umwelt ist, ihnen aber gerade nicht wehrlos ausgeliefert ist. Im Gegenteil: Das sich selbst steuernde Subjekt gilt als eines, das auch den Umwelteinfluss beherrschen und positiv für sich nutzen kann. Durch die Ratschläge und konkreten Techniken soll es zum einen in die Lage versetzt werden, diejenigen Einflüsse in der Umwelt auszumachen, die das Wohlgefühl steigern und Glücksgefühle produzieren (z.B. Treppen, Farben, Gerüche, Blumen, Freunde). Dabei ist es unwesentlich, ob man diese Einflussfaktoren in der Umwelt auffindet oder ob man die Umwelt zunächst so gestalten muss, dass sie stimulierende Rückwirkungen auf das Selbst ermöglicht (Duftöle, Badeessenzen oder bunte Sofakissen). Und zum anderen lehren Übungen im ‚Nein-Sagen‘, Techniken der Gedankenbeeinflussung oder Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen, wie man sich gegen diejenigen Einflüsse der Umwelt wehrt. Dabei ist die Beziehung zu Umwelt permanent neu auszutarieren, ein Optimum, das den Prozess der Selbststeuerung still stellen würde, kann schon aufgrund der sich ständig verändernden Umweltbedingungen nicht erreicht werden. Die kybernetische Form des Subjekts impliziert mithin permanente Bewegung. Das schließt nicht zuletzt auch eine Steigerung der Dynamik der Selbstdistanzierung und Verobjektivierung mit ein. Auch sie ergibt sich nur zu einem geringen Teil durch die Ratschläge, es sind auch hier vor allem die konkret ausgeführten Praktiken der Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung, die das Selbst unentwegt und akribisch in unzählige Einzelmomente auf- und einteilt und es so in ein bemächtigtes Objekt und ermächtigtes Subjekt differenziert. Wo die Trennlinie zwischen Subjekt und Objekt verläuft, ist dabei gerade nicht vorab festgelegt. Es muss je situativ neu bestimmt werden, denn jede Dimension des Selbst (Körper, Gefühle, Gedanken) kann auf andere einwirken, ohne dass eine Dimension privilegiert würde. Treppensteigen kann die Gefühle beeinflussen; die bloße Vorstellung eines Wannenbades kann Entspannung evozieren; das Lösen seelischer Blockaden kann die Lebendigkeit steigern und die Stimulierung der Sinne kann Fröhlichkeit ‚herbeizaubern‘. Dementsprechend führen verschiedene Techniken zum Ziel: Beobachtet man eine Energieschwäche bei sich selbst, kann man die Eßgewohnheiten anpassen oder mehr körperliche Bewegung in den Tageablauf bringen; ist man in der Partnerschaft oder im Büro frustriert, empfiehlt sich eine Revision der Lebensführung ebenso wie ein Wellness-Wochenende oder der Genuss von Schokolade; fühlt man sich depressiv, kann man es mit Positivem Denken versuchen, Freundschaften pflegen oder seine Lebensvision überdenken – oder einfach mal Treppen steigen und sich die Lippen nachziehen. Mit anderen Wor30 Norbert Bolz, „Selbsterlösung“, in: ders.; Willem van Reijen (Hg.), Heilsversprechen, München, 1998, S. 215.
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ten: Körper, Gefühle und Gedanken werden als gleichberechtigte Angriffspunkte und zugleich als gleichberechtigte Ausgangspunkte der Selbststeuerung figuriert. Die spezifische Form des Subjektes folgt mithin einem kybernetischen Modell der Selbststeuerung durch Reflexionsprozesse, externalisierte Außenhalte und internen Regelkreisen, das Selbstdistanzierung, Verobjektivierung und Technologisierung des Selbst unlösbar mit Selbstermächtigung und Selbstverbesserung, Steigerung der Individualität und Stabilisierung der Identität verknüpft. Durch die Arbeit an der eigenen Selbstgestaltung treten die Einzelnen „in einen Prozess ein, der sie als Objekt konstituiert und sie dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der sie als Subjekt umgestaltet“.31 Radikalisieren sich in den aktuellen Technologien des Selbst die Prozesse der Technisierung und Verobjektivierung? Kommt es – wie es schon der Begriff der Technologien des Selbst nahelegt – zu einer Steigerung der Technisierung des Menschen? Werden diese Fragen gestellt, sind sie nicht selten Ausdruck einer technikkritischen Haltung und prognostizieren ein Verschwinden des ‚eigentlich Menschlichen‘. Man kann die technische Existenz aber auch als Bestimmung des Menschen ausweisen, wie es beispielsweise Max Bense gefordert hat. 32 Oder man kann mit Helmuth Plessner die Fähigkeiten der Distanz zu sich und der Verfügung über sich selbst sowie die Notwendigkeit, dem Leben eine Form zu geben, als anthropologische Grundgesetze fassen.33 Es ist mithin schwer zu beantworten, ob man aktuell einen historischen Wandel in Richtung Technisierung des Selbst beobachten kann oder ob nun die anthropologische Bestimmung des Menschen nur deutlicher zutage tritt. Ich habe den soziologischen Weg gewählt und zu zeigen versucht, welche Bedingungen die theoretische und praktische Form des Subjekts hervorbringen, die einem kybernetischen Modell der Selbststeuerung folgt. Dass aktuelle Ratgeber gerade diese Form des Subjektes profilieren ist dabei kein historischer Zufall, sondern lässt sich mit der gegenwärtigen Weise der „Führung der Führung“ in Verbindung bringen. In der Lage zu sein, sich selbst steuern zu können mag eine fundamentalen Bestimmung des Menschen sein, doch ihr konsequenter Ausbau und die Dynamisierung des Selbstverhältnisses sind aktuell sozial und politisch gefordert. Die aktuell zu beobachtende politische und ökonomische Aktivierung der Individuen sowohl im Hinblick auf ihre Selbstverantwortung als auch in der Indienstnahme ihrer Subjektivität erfordert sich selbst bewusste, selbstbestimmte und handlungsmächtige Individuen. Diese werden an verschiedenen Orten und durch verschiedenen Diskurse und Praktiken hergestellt. Die Arbeit an jedem Moment der Alltagsgestaltung ist dabei nicht die unwesentlichste.
31 Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, Frankfurt am Main 1996, S. 85. 32 Max Bense, „Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine“, in: Ausgewählte Schriften, Bd.2: Philosophie der Mathematik, Naturwissenschaft und Technik, Stuttgart 1998, S. 429-446. 33 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1975 (1928).
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Was gehen uns die Dinge an? Ein Versuch über Materialität und Subjektivierung 1. Anrufung und Subjektivierung „Wir behaupten […], daß die Ideologie in einer Weise ‚handelt‘ oder ‚funktioniert‘, daß sie durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ‚rekrutiert‘ (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in Subjekte ‚transformiert‘ (sie transformiert sie alle). Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: ‚He, Sie da!‘. Wenn wir einmal annehmen, daß die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, dass der Anruf ‚genau‘ ihm galt und daß es ‚gerade es war, das angerufen wurde‘ (und niemand anderes)“. 1
In seiner Studie „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ führt Althusser den Begriff der Anrufung oder Interpellation ein, um damit einen Vorgang der Subjektkonstitution in Abhängigkeit von der „Ideologie“ zu beschreiben. Die oben angeführte Textpassage, die in die berüchtigte Szene von dem Polizisten mündet, der einem Passanten hinterherruft, führt den engen wechselseitigen Bezug von Anrufung und Ideologie vor: Die Funktionsweise der Ideologie wird als ein Einbezug beschrieben, der die Individuen als Subjekte einholt. Die Ideologie bildet keine allgemeine Weltanschauung, die den Subjekten in Form ideeller Gehalte vorausgehen würde. Vielmehr beginnen mit der Ideologie die Individuen als Subjekte zu erkennen und zu handeln, z.B. indem sie als Passanten darüber nachdenken, welcher gesetzlichen Übertretung sie sich angesichts der Anrufung des Polizisten schuldig gemacht haben könnten. Althussers Nachdenken über die Anrufung ist zu einem wichtigen Ausgangspunkt für ein Denken geworden, welches das Subjekt nicht mehr in einem geistigen Binnenraum verortet, das unendlich von der materiellen Welt entfernt ist (Descartes). Die Existenzweise des Subjekts wird hingegen als ein Werden des Erkennens und Handeln-Könnens verstanden, das zugleich als Unterwerfung (assujetissement) unter jene Bedingungen zu kennzeichnen ist, aus denen die Anrufung hervorgeht.2 Mit dieser begrifflichen Verschiebung ist ein Forschungsprogramm impliziert, das sich den Prozessen und Praktiken zuwenden muss, die eine Hervorbringung des Subjekts in der Unterwerfung, die Subjektivierung oder Subjektivation, allererst 1 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg, 1977 142. 2 Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001.
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systematisch verständlich macht und diese empirisch-materiell nachvollzieht.3 Wie erfahren bzw. erkennen sich Subjekte im Zusammenhang der an sie gerichteten Anrufungen? Im Theorieprogramm Althussers ist mit der Anrufung eine absolute Macht verknüpft: Althusser spricht von einer Zentrierung der Ideologie um das „Absolute SUBJEKT“4, während andere Autoren wie Michel Foucault und Judith Butler eine solche Zentrierung der Macht kritisieren. So nutzt Judith Butler explizit den Begriff der Anrufung von Althusser, um die Abhängigkeit des Subjekts von ihm vorausgehenden Existenzbedingungen zu kennzeichnen, ohne doch diesen Prozess auf die durch Klassenherrschaft etablierte Ordnung zu begrenzen: „‚Subjektivation‘ bezeichnet den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung. Ins Leben gerufen wird das Subjekt, sei es mittels Anrufung oder Interpellation im Sinne Althussers oder mittels diskursiver Produktivität im Sinne Foucaults, durch eine ursprüngliche Unterwerfung unter die Macht […]“. Dabei bleibt „Althussers Auffassung, so nützlich sie auch ist, implizit durch den Begriff des zentralisierten Staatsapparates beschränkt, dessen Wort, wie das der göttlichen Autorität, Tat ist“5. Butler nimmt also von Althusser den Gedanken auf, dass das Subjekt-sein darüber zu erschließen ist, wie Individuen im sozialen Raum adressiert und in diesen einbezogen werden. Zugleich wendet sie sich gegen eine Vereindeutigung von Anrufung im Lichte einer Ordnung, die nach Althusser das Zentrum der Macht besetzt und von hier aus in alle Richtungen zu wirken vermag. Mit einer Dezentrierung von Macht, wie sie verschiedentlich im poststrukturalistischen Denken artikuliert worden ist6, stellt sich die Frage nach der Hörbarkeit und Wirksamkeit der Macht – ihre Übersetzung in Möglichkeiten, Präferenzen und Spielräume des Handelns. Soll an dieser Stelle nicht wieder die Verfügung der Macht vereindeutigt werden und aber dem Subjekt auch nicht die souveräne Verfügung über die sozialen Bedingungen seiner Existenz zugesprochen werden, stellt sich die Aufgabe eines Denkens der Differenzierung, der Differenz und der Ambiguität. Es verwundert nicht, dass das Verhältnis von Subjekt und Macht zu spannungsreichen Theoriefiguren führt: zu einer Differenz von Subjektivierung und Desubjektivierung7, zu einer tropologischen Bestimmung von Subjektivität
3 Vgl. z.B. Sabine Reh/Norbert Ricken, „Das Konzept der Adressierung. Zur Methodologie einer qualitativ-empirischen Erforschung von Subjektivation“, in: Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie, hg. von Ingrid Miethe und Hans-Rüdiger Müller, Opladen/Farmington Hills 2012, S. 35-56. 4 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 147, 96. 5 Judith Butler, Psyche der Macht, S. 8, 11. 6 vgl. dazu Andreas Hetzel, „Figuren der Selbstantizipation. Zur Performativität der Macht“, in: Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart, hg. von Marc Rölli und Ralf Krause, Bielefeld 2008, S. 135-152. 7 Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt am Main 1996.
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in Prozessen der Subjektivation8 oder zur Figur eines konstitutiven Scheiterns von Subjektkonstitution9. Dieser erste Blick auf die Operationen der Macht zur Subjektkonstitution ermöglicht, auf ein Spannungsverhältnis hinzuweisen, mit dem jede (empirisch und theoretisch ausgerichtete) Subjektivierungsforschung konfrontiert ist: Bei der Erforschung der Hervorbringung des Subjekts werden die Vollzüge, unter denen die Handlungsfähigkeit des Subjekts gebildet wird, als prozessuale Vorgänge formuliert und zugleich stellt sich die damit nahegelegte klassische Temporalstruktur der Wirksamkeit als problematisch dar, um Subjektivierung zu erfassen. Wer von „Techniken der Subjektivierung“ spricht, wie dies in diesem Band vorgeschlagen wird, der versucht, die situationsüberschreitenden Aspekte der Subjektivierung, ihre Situierung in institutionellen Arrangements, Routinen etc., herauszuarbeiten, ohne Subjektivierung als einen Vorgang zu beschreiben, der in Regeln bzw. einer temporalen Logik der Regelmäßigkeiten aufgeht. Die Herausforderung besteht darin, das materiell-praktische Eingebundensein des Subjekts zu beschreiben, ohne die Produktivität und Intelligibilität dieser Praxis, die an der Konstitution von Selbstverhältnissen und an Verständigungen greifbar werden, auszublenden. Im Folgenden werden wir diese systematische Problemstellung aufnehmen und dabei das Augenmerk auf die Beteiligung der Dinge an „Subjektivierung“ bzw. an „Techniken der Subjektivierung“ richten: Wie z.B. ist die Uniform des Polizisten und das Straßensetting in der von Althusser angeführten Szene auf die Anrufung zu beziehen? Wie richten wir uns nach Sicherheitsgurt und Kontrollleuchte im Auto? Stellen sich Dinge ungebrochen in die Funktion der ‚ideologischen Rekrutierung‘ der Subjekte ein? Mit diesen Fragen rückt das unseres Erachtens wichtige Verhältnis von Materialität und Intelligibilität in der sozialen Praxis in den Blick (ein Verhältnis, das letztlich auch die Konstitution von Macht in einem Ordnungszusammenhang betrifft, wie sich an der Uniform als „Teil“ des Staatsapparates andeutet). Unseren Ausführungen nehmen wir vorweg, dass das Verhältnis von Materialität und Intelligibilität systematisch nicht zu „bewältigen“ ist, da es mit der Grenze der Reflexion von Materialität und der Grenze der Definitheit von Macht konfrontiert ist. Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist daher zunächst, zwei verschiedene theoretische Ansätze vor allem hinsichtlich einer „Anrufung durch die Dinge“ vorzustellen und an ihnen das Verhältnis von Materialität und Intelligibilität zu diskutieren. Zwei Herangehensweisen, das Verhältnis zu den Dingen zu beschreiben, sind Heideggers Überlegungen in Sein und Zeit zur Bewandtnis (2) und die sogenannte Akteur-Netzwerk-Theorie nach Latour (3). In beiden Ansätzen wird Handeln und Umgang mit Dingen zentral über ein Eingebundensein des Daseins 8 Butler, Psyche der Macht. 9 Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, London 1990; Vgl. dazu Judith Butler, „Restaging the Universal: Hegemony and the Limits of Formalism“, in: Judith Butler/ Ernesto Laclau/ Slavoj Žižek, Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London 2000, S. 11-43.
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bzw. des menschlichen Akteurs gedacht. Über die Differenzen der Ansätze (4) lässt sich das Nachdenken über Subjektivierung fortsetzen. Anschließend werden wir kurz auf die pädagogische und erziehungswissenschaftliche Beschäftigung mit Materialität eingehen (5). Die Vorstellung einer Erziehung durch ein Arrangieren der Dinge begleitet die neuzeitliche Pädagogik. Sie kann unter Rückgriff auf die unternommenen Lektüren zwischen der Machtförmigkeit der Erziehung und der Illusion pädagogischer Machbarkeitsvorstellungen kritisch situiert werden.
2. In-der-Welt-sein im ontologischen Zwielicht Sein und Zeit, Heideggers erstes wichtiges Buch von 1927, baut nicht auf die Kategorie der Subjektivität oder der Subjektivierung. Das Buch führt das „Dasein“ ein, in dem man zuvor das „Subjekt“ erkannt hätte. Der Begriff dient gerade einer Subjektkritik und zugleich der Kritik einer mit dem traditionellen Subjekt verknüpften philosophischen Sprechweise: Nach Heidegger hat die philosophische Tradition die Seinsweise des Subjekts völlig missverstanden, indem sie dieses als entrückt von der Welt situiert und es als einfach Vorhandenes unterstellt habe. Was Heidegger mit dem „Dasein“ zu beschreiben sucht, ist die Vollzugserfahrung, wie sich dieses Seiende in der Welt auffindet: nämlich als ein Da, dem Welt erschlossen und zugänglich ist. Das Dasein ist also nach Heidegger ein Seiendes, das ein besonderes Verhältnis zu seinem Sein hat – ein verstehendes. Ein Buch wie Sein und Zeit basiert zuletzt auf dieser Eigenart des Daseins, sich verstehend auf sich und die Welt zu beziehen. Mehr noch: Heidegger nimmt die Eigenart des Daseins als Leitfaden für die Frage, wie in der philosophischen Tradition die Frage nach dem Sein, zu dem ja nicht zuletzt die Frage gehört, wie dem Dasein das Sein zugänglich ist, in Vergessenheit geraten konnte. Sein und Zeit bearbeitet mit anderen Worten die Frage nach dem Sein, indem es jenes Seiende untersucht, das ein verstehendes Verhältnis zum Sein besitzt. Das Dasein versteht sich auf sich – anders als Zuhandenes bzw. Vorhandenes; diese beiden Seinsmodi denkt Heidegger in Abhängigkeit vom Dasein. In den beiden Seinsmodi der Zuhandenheit und der Vorhandenheit verbirgt sich das Verhältnis des Daseins zu den Dingen, das zuvörderst eine Wendung gegen die cartesianische Vorstellung der Dinge als res extensae, als Dinge in träger Ausdehnung, impliziert. Die beiden von Heidegger angeführten Seinsmodi verweisen darauf, dass das Dasein „‚in‘ der Welt im Sinne des besorgend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich begegnenden Seienden“ ist.10 Heidegger führt das Existenzial11 des „In-der-Welt-seins“ an, das eben jenes Verhältnis des Daseins zur Welt fassen soll: als immer schon im Umgang mit Welt sich Befindendes. Der Ausdruck des „Zuhandenen“ enthält bereits wichtige Bestimmungen des Umgangs mit bzw. des Verhältnisses zu den Dingen. Heidegger schreibt, dass im 10 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 104. 11 Mit Existenzialien beschreibt Heidegger die Strukturkategorien des Daseins.
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Dasein eine wesenhafte Tendenz auf Nähe liege.12 Die Referenz auf die „Hand“ im „Zuhandenden“ verweist ebenfalls auf die Nähe im Umgang – aber auch auf eine Bezogenheit oder eine praktische Verbindung zu den Dingen: „Die Zeugverfassung des Zuhandenen wurde als Verweisung angezeigt. […] Als bestimmte Verweisungen nannten wir Dienlichkeit zu, Abträglichkeit, Verwendbarkeit und dergleichen. Das Wozu einer Dienlichkeit und das Wofür einer Verwendbarkeit zeichnen je die mögliche Konkretion der Verweisung vor.“13 Heidegger bringt in dieser Textstelle die Zusammenhänge des Vorkommens der Dinge als Zusammenhänge des konkreten Umgangs, der Bewandtnis14, ein. Der berühmte Hammer als Ding geht uns an – dadurch dass wir ihn greifen können für das Einschlagen eines Nagels in die Wand. Der Seinsmodus der Vorhandenheit wird von Heidegger demgegenüber so beschrieben, dass das „zunächst begegnende Seiende vorfindlich und bestimmbar wird“15, also anders gesagt dadurch, dass im Rahmen des Bewendens das Zuhandene aus der Verweisung heraustritt und für sich vorfindlich und bestimmt wird. Ein Beispiel hierfür könnte die Vase sein, die zuvor in meinen Umgang mit den Blumen ‚verwickelt‘ war und die nun als ästhetisches Objekt bestimmt wird. Das Vorhandene erscheint als von der innerweltlichen Begegnung, d. h. vom Zuhandenen, abkünftig. Als Seinsmodi sind Vorhandenes und Zuhandendes also keine Dingeigenschaften, sondern Bezugsangaben, wie diese jeweils im Erschließungszusammenhang des Daseins vorkommen. Dabei zeigt sich an der Differenz von Zuhandenheit und Vorhandenheit, dass dem Dasein sein Verhältnis zur Weltlichkeit „zunächst und zumeist“ nicht transparent ist, dass es selbst im Bewenden verwickelt bleibt: Im Aufgehen in Welt und den mit ihr impliziten Bewandtniszusammenhängen sieht Heidegger ein Verfallensein des Daseins. Weil es, kurz gesagt, immer ‚draußen‘ ist, verliert das Dasein sozusagen den Bezug zu sich, zu seiner Singularität und Endlichkeit. Heideggers Diskussion verschiedener Seinsmodi ist für das Verhältnis von Materialität und Intelligibilität des In-der-Welt-seins folgenreich. Sie konstituiert zwei Formen von Intelligibilität, wobei der Intelligibilität im Umgang mit dem Zuhandenen ein Primat zugesprochen wird: dem impliziten Dasein als In-sein (oder: ‚implizitem Wissen‘), das im In-der-Welt-sein bzw. als In-der-Welt-sein fungiert. Es handelt sich beispielsweise um das (Körper-)Wissen, an welcher Stelle wir den Hammer greifen, wie wir im Verhältnis zum Hammer das Handgelenk beim Einschlagen des Hammers bewegen, aber auch wie wir im Kontext von Bewandtniszusammenhängen Wohnwände mit Bildern ‚füllen‘. Davon abkünftig ist eine Intelligibilität bezüglich des Vorhandenen, der Bestimmtheit und Explizitheit eignet. Sie ist gekennzeichnet durch ein Bestimmen-Können im Vorstellen und durch ein Aussetzen der praktisch fungierenden Intelligibilität. 12 13 14 15
Ebd., S. 105. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Ebd., S. 88. Hervorh. C.T./B.H.
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Die implizite und praktische Intelligibilität stellt sich demnach als Komplement der Materialität des Zuhandenen dar und dieses komplementäre Verhältnis setzt wiederum dem Dasein eine Grenze der reflexiven explizierenden Erschließung, worauf Theodore Schatzki anschließend an Heidegger in seiner Praxistheorie hingewiesen hat.16 Schatzki denkt Heidegger mit Wittgenstein so weiter, dass er das Dasein im Umgang mit dem Zuhandenen in teleologische Strukturen einbezogen sieht – in Strukturen, die in den Bewandtniszusammenhängen aufgehoben sind und die eine normative Qualität entfalten, auch wenn damit kein Determinismus des Handelns impliziert ist.17 Insgesamt positioniert Heidegger das Dasein im Modus einer praktischen Intelligibilität in einem ontologischen Zwielicht, das Heidegger in der besorgten ‚Welt‘ eindrücklich auf den Begriff gebracht hat.18 Vor diesem Hintergrund kann eine Anrufung durch die Dinge bei Heidegger in zwei Richtungen verstanden werden: Auf der einen Seite ließe sich die Seinsart des Daseins als immer schon im Umgang mit den Dingen Befindliches im Sinne einer „Anrufungsbereitschaft“ auslegen. In diesem Umgang dokumentieren sich zahlreiche Verweisungen, z.B. zwischen Nagel, Hammer, Händen, Auge, Wand, Bild etc., die zumeist unthematisch bleiben. Dass Heidegger das Dasein in diesem Zusammenhang als ein Seiendes qualifiziert, das – trotz seiner ontologischen Erschlossenheit – an sich vorbei existiert, eröffnet einen Gedanken, der im Zusammenhang der Subjektivierung öfter entwickelt worden ist: dass das aus der Subjektivierung hervorgehende Subjekt diesen Prozess nur begrenzt erschließen oder sich reflexiv vorführen kann. Auf der anderen Seite verwendet Heidegger den Begriff der „Anrufung“ nicht im Zusammenhang des Umgangs mit dem Zuhandenen, sondern reserviert diesen für den „Ruf“ des Gewissens, für jene Stimme, die dem je eigenen Dasein in der Unverwechselbarkeit und Singularität seiner Existenz gilt.19 Gerade weil das In-derWelt-sein über verschiedene Verweisungsmodi gedacht wird, lässt sich Heideggers Daseinsanalytik kaum mit einer ideologischen Rekrutierung von Einzelsubjekten nach Althusser zusammendenken. Auch wenn Heidegger mit dem ontologischen Zwielicht des In-der-Welt-seins dazu beigetragen hat, Formen praktischen Wissens und Verwiesen-seins zu denken (Haltungen, Verhaltungen, vorreflexive Gewohnheiten etc.), die von einer verstehenden Explikation zu unterscheiden sind, so wird doch auch deutlich, dass Heideggers ontologisches Projekt einer Reihe von Übersetzungen und Konkretisierungen bedürfen würde, die teilweise von anderen, wie 16 Theodore Schatzki, „Introduction: Practice Theory“, in: The Practice Turn in Contemporary Theory, hg. von Theodore Schatzki et al. London 2001, S. 10-23; dazu Raymond Caldwell, „Reclaiming Agency, Recovering Change? An Exploration of the Practice Theory of Theodore Schatzki“, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 42, 3, 2012, S. 283-303. 17 Theodore Schatzki, Social practices. A Wittgensteinian approach to human activity and the social, Cambridge 1996; Caldwell, „Reclaiming Agency“, S. 290. Wie Caldwell herausgearbeitet hat, bemüht sich Schatzki dabei, praktische Intelligibität und praktisches Verstehen von linguistischer Sprachlichkeit abzugrenzen. 18 Heidegger, Sein und Zeit, 184. 19 Ebd., §56.
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z.B. Schatzki, unternommen worden sind.20 Heideggers philosophische Beschreibung des alltäglichen und verfallenden In-der-Welt-seins eröffnet kurz gesagt das Fungieren einer implizit bleibenden Normativität über Verweisungen und doch ist eine soziologische Analyse des Verfallenseins gerade nicht Heideggers Intention (sondern vielmehr eine ontologische Freilegung der Seinsstrukturen des Daseins).
3. Zur Materialisierung von Anrufungen – und deren Verschiebung (Latour) Die Figur des Sprechens, im Konzept der Anrufung so wesentlich gesetzt, wird in der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die sich zentral mit der Frage nach den Dingen in der sozialen Welt befasst, auf verschiedene Arten virulent: Die ANT versucht, den Zusammenhängen zwischen allen an der Welt beteiligten Akteuren gerecht zu werden und dabei eine epistemologische Vorrangstellung der gesprochenen Sprache in Frage zu stellen: „Die Welt lässt sich nicht auf Text und Diskurs reduzieren – ebenso wenig wie auf Natur oder Gesellschaft. Zeichen, Menschen, Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und Artefakte bilden Mischwesen, technosoziale-semiotische Hybride, die sich in dauernd sich verändernden Netzwerken selbst organisieren.“21 Darüber hinaus formuliert die ANT die Frage, wie Sprache und Dinge überhaupt voneinander zu trennen seien.22 Im Anschluss daran geht Bruno Latour von Übersetzungsprozessen aus, in denen sich die Dinge, Subjekte und Handlungen miteinander zu Hybriden verschalten. An drei Beispielen Latours – dem Gewicht des Schlüsselanhängers, dem Sicherheitsgurt wie dem Berliner Schlüssel – lassen sich exemplarisch folgende für Anschlüsse an ein Konzept der Anrufung bedeutsame Aspekte herausarbeiten: das Übersetzungsparadigma der ANT, ihre Handlungsprogrammatik sowie eine Idee dekonstruktiver Verschiebung, welche sich in der Interaktion zwischen dinglichen und humanen Akteuren beobachten lässt. Am Beispiel des an Hotelschlüsseln befestigten „moralischen Gewichts eines Schlüsselanhängers“ entfaltet Latour das Konzept der Bindung zwischen verschiedenen Akteuren als Beteiligte an einem Handlungsprogramm.23 Für Latour finden zwischen der Aussage, den Zimmerschlüssel bei Abreise an der Rezeption abzugeben (als erster Stufe), und dem Gegenstand des Schlüsselanhängers (als letzter Stufe eines Handlungsprogramms) verschiedene Übersetzungen und Transformationen statt, die sowohl die Aussage als auch die beteiligten Akteure in ihrer Bedeutsamkeit verschieben. Eine Übersetzung der moralischen Programmatik gelingt hier durch
20 Schatzki, „Introduction: Practice Theory“. 21 Andréa Belliger et al. (Hg.), Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S.23. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie Verlag, 1996, S. 59.
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„die Befestigung eines gußeisernen Gewichts an Hotelschlüsseln; es hat die Funktion, den Hotelgästen in Erinnerung zu rufen, daß sie den Schlüssel nicht mit sich durch die Gegend tragen sollen, sondern an der Rezeption abzugeben haben“24. Latour stellt in dieser Idee von Übersetzung eine Verknüpfung von Sprache und Dinglichkeit her, in der sich sozusagen eine Annäherung an das Konzept „Anrufung“ vernehmen lässt: „Die auf ein Schild geschriebene Aussage im Imperativ ‚Geben Sie Ihre Schlüssel bitte an der Rezeption ab!‘ scheint nicht ausreichend, um den Hotelgästen ein Verhalten aufzuzwingen, das den Wünschen des Sprechers der Aussage entspricht.“25 Das dem Artefakt hinzugefügte Charakteristikum des Gewichts, das seine einfache Handhabbarkeit übersetzt in Unhandlichkeit, kann demnach verstanden werden als eine in Materialität überführte Aussage. Nach Latour verändert sich diese Aussage – zunächst nur sprachliche Zeichen, die dechiffriert werden müssen – im Kontext kulturellen Wissens: Dechiffriert ergeben diese Zeichen eine Handlungs- und damit eine moralische Verhaltensaufforderung. „Aber die Aufforderung, welcher der Gast nachkommt, ist nicht mehr dieselbe wie am Anfang. Sie ist übersetzt und nicht bloß übermittelt worden. […] Das Programm ‚Die Schlüssel an der Rezeption abgeben‘, das die meisten Gäste gewissenhaft ausführen, ist nicht mehr dasselbe, von dem wir ausgegangen sind. Dadurch, dass es in ein anderes Material übertragen worden ist, ist es übersetzt und transformiert worden. […] Es ist nicht mehr dieselbe Aussage, es sind nicht mehr dieselben Gäste, es ist nicht mehr derselbe Schlüssel, und es ist überhaupt nicht mehr dasselbe Hotel. Im Übergang vom Zeichen zum Gußeisen ändert sich das Verhalten der Gäste von Grund auf.“ 26
Im Akt der Rückgabe des Schlüssels antwortet das Subjekt als Subjekt auf die Anrufung durch das Gewicht und Volumen des Schlüssels. Latour illustriert diese Transformationen in der Verknüpfung von „Ersetzungen“ und „Bindungen“27. Ersetzungen werden vorgenommen auf dem Weg der Innovation zwischen einfacher Aussage und materiellem Gegenstand und zielen ab auf die Erzeugung von Bindungen zwischen den einzelnen Akteuren, Hoteliers, Gästen, Schlüsseln und Anhängern. Die „Aktanten“28 werden in graduell unterschiedlicher Weise an ein „Aktionsprogramm“29 gebunden: „Der Schlüssel ist durch einen Ring sehr fest mit dem Gewicht verbunden, wie auch der Hotelier sehr mit seinem Schlüssel verbunden ist.“30 Latour nimmt hier keine Unterscheidung von materiellen und immateriellen Verbindungen vor.
24 25 26 27 28 29 30
Ebd., S.53. Ebd. Ebd., S.55. Ebd., S.57. Ebd., S. 59. Ebd., S. 47. Ebd.
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Am „Dilemma eines Sicherheitsgurtes“ vertieft Latour die Frage danach, wie die Dinge, hier der Sicherheitsgurt, moralisch handeln können, inwiefern also das Ding die Anrufung des kulturell legitimen Handelns über ein Skript den Körper und das Subjekt dirigiert. Moralisch graduell unterscheidbare Möglichkeiten des Gebrauchs sind demnach als in die Dinge eingeschrieben zu verstehen. Es handelt sich hierbei um Skripte31, die kulturell als Normen und Wissen zirkulieren und sich im dinglich Materiellen über eine gewisse Zeit hinweg manifestieren. Sie veranlassen Aktionsprogramme als in die Gegenstände übersetzte Handlungsaufforderungen, wie Latour am Beispiel des Berliner Schlüssels32 illustriert, einer technischen Vorrichtung, die – ähnlich dem Sicherheitsgurt, der mit dem Anlasser des Wagens verbunden ist und bei Nicht-Anlegen das Starten des Wagens verhindert – ganz konkrete Gebrauchsweisen vorschreibt: „Wenn wir das Skript einer Vorrichtung ‚Aktionsprogramm‘ nennen wollen, welches wäre dann das Aktionsprogramm eines solchen Schlüssels? ‚Schließen Sie bitte die Haustür nachts immer hinter sich zu, tagsüber jedoch nie‘.“33 Hier findet ebenfalls eine Übersetzung von kulturellem Wissen und ebenso ethisch-normativer Handlungsaufforderung in Material und Material-Anordnung statt, eine Übersetzung, die insbesondere das kulturelle Wissen daran hindert, in Vergessenheit zu geraten, indem es dieses sozusagen dem diskursiven (also rein sprachlichen) Kommunikationsverkehr auslagert. Es bleibt somit in gewisser Weise der Praxis „Sprache“ sowohl ein- wie auch ausgelagert sichtbar, erfassbar (leiblich und körperlich begreifbar), real und konturiert in gewisser Weise die Logik einer Kultur, in deren Herstellungs- und Gebrauchsweisen es eingebunden ist.34 Die Dinge übernehmen und transformieren in ihrer Materialität nach Latour eine kleinste diskursive Einheit, die Aussage, ein explizit sprachlich-semiotisch verfasstes Moment. Sprache und Ding, Intelligibilität und Materialität, sind also bei Latour über den Übersetzungsbegriff miteinander verbunden: Dabei wird die Übersetzung nicht durch die Bezeichnungen der Dinge geleistet, sondern vielmehr umgekehrt, die Dinge als nichtsprachlicher Ausdruck eines Normativs, eines Regulariums, das zu bestimmtem Handeln auffordert und anderes zu verhindern sucht, verstanden.35 Der Akt des Sprechens übersetzt sich in einen Zusammenhang, in welchem der Sprechende abwesend ist.
Vgl. Andréa Belliger et al. (Hg.), Anthology, S. 42. Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel. Ebd., S. 47. Zur Normalisierung in den Dingen und durch die Dinge: Die Dinge und die Netzwerke, in welchen sie Bedeutung erhalten, stabilisieren sich über die Zeit ihrer Existenz. Diese Stabilisierung der Netzwerke fungiert über die Bildung von in der ANT sogenannten Black Boxes: Dinge, Handlungsweisen, Rollenzuschreibungen, die selbstverständlich geworden sind, die Routinen folgen, deren Ereignisablauf mehr oder weniger informell geregelt ist. 35 Vgl. Gudrun M. König, „Das Veto der Dinge. Zur Analyse materieller Kultur“, in: Die Materialität der Erziehung: kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte, hg. von Karin Priem, Gudrun M. König und Rita Casale, Weinheim 2012, S. 14-31. 31 32 33 34
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Ist also davon auszugehen, dass die weiter oben als in der Aussage erscheinende Norm bereits in den gegenständlichen Akteur eingeschrieben ist, so erscheint der Gegenstand in der Rolle eines Stellvertreters der fraglichen moralischen Aufforderung und – so wurde bereits im Beispiel des Hotelschlüssels deutlich – in gewisser Weise als Dekonstrukteur: Er verschiebt in dieser Rolle sowohl Aussage als auch die Figur des menschlichen Akteurs. Die Intelligibilität des Materialen ergibt sich hier nicht aus der Tatsache ihres Bezeichnet-Werdens, sondern eher aus der in sie eingeschriebenen Adressierung des Körpers der humanen Akteure; ein Erkennen formuliert sich auch hier – ähnlich Heideggers Konzeption – in einem wesentlich vorreflexiven Körperwissen.
4. Materialität als Grenze oder Übersetzung der Ideologie? Was sowohl Heidegger als auch Latour teilen, ist die Weigerung, Praktiken und Umgangsformen um ein verstehendes Subjekt im Sozialen zu zentrieren. Auch wenn sich beide nicht des Begriffs der „Subjektivierung“ bedienen, denken beide das Subjekt in seinen materialen Eingebundenheiten. Bei Heidegger geschieht dies durch das Existenzial des „In-der-Welt-seins“, das von vornherein ein ‚zu tun haben mit‘ impliziert; demgegenüber stellen sich reflexive Betrachtungen im Modus der Vorhandenheit als Abstraktionen des ontologisch vorgängigen innerweltlich Zuhandenen dar. Latour thematisiert materiale Eingebundenheit als Verhältnis zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bzw. Aktanten: Diese sind nicht unabhängig von den techno-sozial-semiotischen Hybriden zu denken, in die sie einbezogen sind. Durch die Ausweitung des Akteursbegriffs auf menschliche und nichtmenschliche Akteure dezentriert Latour den Begriff der Handlungsfähigkeit – weg von der Vorstellung eines intentionalen Rückhalts, hin zu einer Akteurschaft, die in der Netzwerkstruktur verbürgt ist. Sowohl Heidegger als auch Latour denken die Beziehung zu den Dingen im Sinne impliziter Verweisungen, die als Bewandtniszusammenhang bzw. als Handlungsprogramm beschrieben werden. Während Heidegger aber am Dasein einen ontologischen Riss nachvollzieht – das Dasein ist das Seiende, das sich auf sich versteht, und zugleich ist das Dasein jenes Seiende, das der besorgten Welt verfallen ist – sieht Latour in den Dingen eine Art Stellvertreterposition für Handlungsaufforderungen, wobei er zugleich „Übersetzungen“ und das heißt beständige Verschiebungen von Sprachlichkeit und Materialität in Rechnung stellt. Latour setzt – anders als Heidegger – nicht bei der Originalität einer ontologischen Beschreibung an. Ihn interessiert demgegenüber die Materialität konkreter Aussagen, die für die „Aufbewahrung“ einer normativen Idee und zur Adressierung an eine verkörperte Kultur benötigt werden, welche das Subjekt (auch) ist. Latour beschreibt also im Kontrast zu Althussers Konzeption der Anrufung eher den umgekehrten Prozess: wie die in den Gegenstand eingeschriebene Interpellation quasi in Abwesenheit des adressierenden wie des adressierten Subjektes in der materiellen Anordnung in gewisser Weise gespeichert bleibt.
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Was mit der Akteur-Netzwerk-Theorie beschreibbar wird, ist also insbesondere der in spannungsvoller Weise nicht- bzw. nachsprachliche Akt der Anrufung des Subjekts durch den Gegenstand, ausgelöst durch seine von dem humanen Akteur sinnlich wahrnehmbaren Charakteristika, etwa seine – z.T. den Körper zitierenden bzw. vermessenden – Ausdehnung, stoffliche Beschaffenheit, seine Platzierung, seine Leibbezogenheit. Überdies aktiviert der Gegenstand ein Wissen um normativ markierte Handlungsweisen und fungiert so gewissermaßen als Speichermedium, indem er etwas aufhebt, das paradoxerweise erst durch die Interpretation eines menschlichen Subjekts aktiviert wird. Während die ANT ausdrücklich kulturelle Prozesse der Übersetzung zu beschreiben sucht, drückt Heidegger mit der ontologischen Ambivalenz des Daseins eine innere Grenze der Erschlossenheit und der Rede aus, die übrigens immer als geteilte, als Mitsein verstanden werden muss. Dies impliziert nach Heidegger keinen normativen Determinismus, wohl aber die Notwendigkeit, das Dasein von seinem In-Sein, von Materialität und Räumlichkeit her zu denken. Der Begriff der „Anrufung“ scheint in diesem Zusammenhang wenig passend, und es verwundert nicht, dass die stärkeren Bezüge zu Althussers Interpellationstheorie in Heideggers Analyse des Gewissens gesehen worden sind.36
5. Auseinandersetzungen um Materialität in der Pädagogik Eine erziehungswissenschaftliche Reflexion der materialen Seite von Subjektivierung hat eine hohe Relevanz, da sich mit ihr die Möglichkeiten und Herausforderungen pädagogischer bzw. didaktischer Arrangements und ihre Formierung der Aufmerksamkeit betrachten lassen; zugleich können unter der Inblicknahme von Praktiken die Grenzen einer explizit-sprachlichen Formulierung der impliziten Normativität des Pädagogischen greifbar werden. Im Folgenden greifen wir eine pädagogische Perspektive37 auf Materialität auf, die sich im Lichte von Heideggers und Latours Überlegungen darstellen und diskutieren lässt: Es handelt sich um die
36 Leander Scholz, „Anrufung und Ausschließung. Zur Politik der Adressierung bei Martin Heidegger und Louis Althusser“, in: Die Listen der Evidenz, hg. von Michael Cuntz et al., Köln 2006, S. 283-297. Dass der Ruf des Gewissens nach Heidegger nicht recht verortet werden kann, ist in der Tat eine starke Parallele zu Althussers Fungieren ideologischer Staatsapparate (vgl. ebd., S. 6 f.). Die Frage nach dem Gewissen angesichts der ‚Wirkung‘ der Macht ist auch der Ausgangspunkt von Butler in Psyche der Macht. 37 In letzter Zeit sind zahlreiche neue Publikationen zum Thema erschienen (vgl. Karin Priem/ Gudrun M. König/ Rita Casale (Hg.), Die Materialität der Erziehung: Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte, Weinheim 2012.). Mit Ansätzen, die den Bildungswert der Dinge bestimmen und diskutieren (Andreas Dörpinghaus/Andreas Nießeler (Hg.), Dinge in der Welt der Bildung – Bildung in der Welt der Dinge,), werden wir uns nicht auseinandersetzen, obgleich hier das Motiv von Appell und Anrufung oft aufgenommen wird (vgl. Claus Stieve, Von den Dingen lernen. Die Gegenstände unserer Kindheit, München 2008). Wir richten unser Interesse auf die Normativität des Pädagogischen in der Materialität.
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These pädagogischer Programmierung und Machtausübung über das Arrangement und die Materialität der Dinge. Dass die Ausübung von Macht in der Erziehung über die Dinge verläuft, hat paradigmatisch Rousseau mit seinen Überlegungen zu einer indirekten Erziehung im Emile formuliert.38 Der fiktive Erziehungsroman stellt sich als Entwurf eines lückenlosen Handlungsprogramms dar, in dem, um mit Latour zu sprechen, den Dingen ein ‚pädagogisches Gewicht‘ verliehen wird. Die „wohlgeordnete Freiheit“ und die damit einhergehende Naturalisierung des Erziehungsverhältnisses wird nach Rousseau gerade auch über die Materialität der Dinge im Erziehungsprozess greifbar, z.B. an einer vom Kind zerbrochenen Fensterscheibe und der damit einhergehenden Kälte im Zimmer, die das Kind zu spüren bekommt.39 Die Materialisierung eines pädagogischen Programms ist auch in reformpädagogischen Ansätzen angelegt, wie Käte Meyer-Drawe überzeugend herausgearbeitet hat. Der disziplinarische Charakter der Dinge in der reformpädagogischen Tradition wird an der folgenden Äußerung Montessoris deutlich: „Helle Farben und Glanz verraten Flecken, die Möbel in ihrer Leichtigkeit verraten die noch unvollkommenen und grobschlächtigen Bewegungen durch Umfallen oder dadurch, daß sie geräuschvoll über den Boden gezogen werden. So wird die gesamte Umgebung zu einem strengen Erzieher, zu einem immer aufmerksamen Wachtposten. Jedes Kind empfindet seine Warnungen, als stünde es ganz allein vor diesem unbeseelten Lehrer“.40 Meyer-Drawe erläutert: „Ganz unterschiedliche Formen der Macht verdichten sich hier hinter dem Schleier der Eigentätigkeit des Kindes. Die ungebrochene Kontrolle, der Blick, der alles sieht, ohne selbst gesehen zu werden, und die Pastoraltechnik fangen das Kind in den ‚Maschen der Macht‘“.41 Auch wenn häufig das pädagogische Arrangement der Dinge als Machbarkeitsphantasie42 erscheint, bei der mit Latour nicht hinreichend auf die Verschiebungen geachtet wird, die sich in den Übersetzungen der pädagogischen Direktive in die Dinge vollzieht, so werfen die hier aufgenommenen Beispiele aus der pädagogischen Tradition die Fragestellung einer pädagogischen Intelligibilität der Dinge und die anfangs formulierte Frage nach der Ideologie auf, die sowohl bei Rousseau als auch bei Montessori über ein disziplinarisches Schema verläuft. Die Dinge werden, anders gesagt, zum Stellvertreter eines disziplinierenden Sprechers, der selbst
38 Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1963; Alfred Schäfer, Rousseau – ein pädagogisches Porträt, Weinheim 2002. 39 Rousseau, Emile, S. 226. 40 Maria Montessori, Die Entdeckung des Kindes, hg. von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch, Freiburg 1996, S. 117 zit. nach Käte Meyer-Drawe, „Erziehung und Macht“, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 77, 2001, S. 446-457, hier 448. 41 Ebd.. 42 Vgl. Alfred Schäfer/ Michael Wimmer (Hg.), Machbarkeitsphantasien, Opladen 2003. Dies ist bei Rousseau der Fall – und dennoch wird in der Unwahrscheinlichkeit der Erziehung ihr Erfolgsrezept gesehen (Jürgen Oelkers, „Rousseau und die Entwicklung des Unwahrscheinlichen im pädagogischen Denken“, in: Zeitschrift für Pädagogik 29, 5, 1983, S. 801-816; Michael Wimmer, Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik, Bielefeld 2006).
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nicht mehr auftreten muss und der nicht mehr als Gegenüber identifizierbar ist, wie Meyer-Drawe im obigen Zitat festhält. Gegen eine solche Einordnung von Disziplin ließe sich mit Heidegger entgegnen, dass sie die Möglichkeit einer Inszenierung pädagogischer Dingordnungen angesichts der praktischen Dimension des In-der-Welt-seins überbewertet; denn seine These, dass dem In-sein des Daseins ein Primat zukommt, impliziert die Unmöglichkeit, das Arrangement der Dinge auf eine explizite und vorausgehende (pädagogische) Intelligibilität zurückzurechnen: Die implizite Normativität der besorgten Welt ist nicht einfach auf eine pädagogische Intentionalität rückführbar. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, so betonen dann auch besonders die Praxistheoretiker wie Theodore Schatzki, die unterschiedlichen Dimensionen praktischer Intelligibilität überhaupt einem reflexiven Denken zu erschließen. Aus dieser Betrachtung folgt, dass für eine Erforschung der materialen Dimension pädagogischer Räume eine Dezentrierung des pädagogischen Programms entscheidend ist: Mag die Fehlerkontrolle im didaktischen Material Montessoris materialisiert sein, so umgreift oder determiniert dies nach Heidegger nicht den besorgenden Umgang des Daseins mit dem innerweltlich Begegnenden. Zu diesem besorgenden Umgang des Daseins würde nach Heidegger gerade auch der Umgang mit der pädagogisch-didaktischen Rahmung als ‚Situation‘ gehören.43 Eine Dezentrierung des pädagogischen Programms ist auch mit Latour angezeigt: Es kommt darauf an, den komplexen Handlungslogiken menschlicher und nicht-menschlicher Akteure nachzugehen, die Übersetzungen des Pädagogischen als einfache Übertragungen desavouieren. In diesem Sinn hat Marei Fetzer (2012) kürzlich gefordert, dass ein objekt-integrierender Ansatz zur Unterrichtsanalyse die Akteur-Netzwerk-Theorie und Interaktionstheorie verknüpfen sollte, um die Vernetzung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure in den Blick zu bekommen. Die verdichteten Lektüren zu Latour und Heidegger führen vor, dass der Begriff der „Anrufung“ gegenwärtig einen Anspielungsraum konstituiert, der das materiale Moment von Subjektivierung unspezifisch zu umgreifen erlaubt. Zugleich wird die Verweigerung einfacher Vermittlungen von Intelligibilität und Materialität bei beiden Denkern deutlich. Wurde zu Beginn unserer Überlegungen mit Althusser die ideologische Rekrutierung der Subjekte durch Anrufung eingeführt, so bleibt an dieser Stelle die Frage offen, wie das Verhältnis von pädagogischer Intelligibilität und Materialität abschließend zu fassen ist. Möglicherweise ist jedoch diese begriffliche Offenheit des Anspielungsraums von Anrufung aus systematisch-pädagogischer Sicht weiterführend, weil sich mit ihr einer Besonderheit des Pädagogischen nachgehen lässt: der Unbestimmtheit
43 Dass Materialität und Räumlichkeit generell einer Analyse quer zu pädagogischen Selbstverständnissen bedürfen, haben Ricken und Rieger-Ladich an einer Analyse von Schul-Architekturen gezeigt (Norbert Ricken/Markus Rieger-Ladich, „Macht und Raum. Eine programmatische Skizze zur Erforschung von Schularchitekturen“, in: Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs, hg. von Jeanette Böhme, Wiesbaden 2009, S. 186-203).
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und Unausdeutbarkeit einer Lern- und Bildungssituation.44 Im Letztgenannten drückt sich eine Grenze der Verfügung und Bestimmung pädagogischen Handelns aus, aber auch die Unmöglichkeit, die Übersetzung der Materialität in Sinnbestimmungen vorwegzunehmen. Eine Auseinandersetzung um Materialität in der Pädagogik führt damit dahin, Begriffe wie ‚Übersetzung‘ systematisch-pädagogisch auszuarbeiten. Dies könnte beispielsweise unter Rückgriff auf die Spätphilosophie von Merleau-Ponty geschehen, dem es in seiner späten Ontologie auch um die Verwobenheit von Materialität und Intelligibilität im Ausdrucksgeschehen ging.45 Die ‚Übersetzung‘, die in diesem Zusammenhang für einen nicht einholbaren Rückbezug steht, d. h. für die Unmöglichkeit, das Verhältnis von Leib und Welt zu entflechten, böte eine theoretische Strategie, der pädagogischen Artikulation in der Anrufung der Dinge weiter nachzugehen. Diese enthält indes nicht nur eine Problematisierung pädagogischer Planung und Steuerung, sondern auch eine Problematisierung von einfachen Identifikationen bezüglich ‚Lernen‘ im jeweiligen bzw. konkreten Umgang mit didaktischen Materialien.
44 Vgl. Andrea Liesner/Michael Wimmer, „Der Umgang mit Ungewißheit. Denken und Handeln unter Kontingenzbedingungen“, in: Ungewissheit. Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess, hg. von Werner Helsper, Reinhard Hörster und Jochen Kade, Weilerswist 2003, S. 23-51; Christiane Thompson, Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, Paderborn 2009; Michael Wimmer, „Die Agonalität des Demokratischen und die Aporetik der Bildung: Zwölf Thesen zum Verhältnis zwischen Politik und Pädagogik“, in: Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart, hg. von Ingrid Lohmann et al., Bielefeld 2011, S. 33-54. 45 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Résumés de cours, Collège de France 1952-1960, Paris 1968 ; ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. v. Claude Lefort, München 1986; Dazu Bernhard Waldenfels, Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt am Main 1995, S. 115 f.; Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 1984; Thompson, Bildung und die Grenzen der Erfahrung, Schöningh 2009.
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Kontextbezogene digitale Spiele als Kommunikations-Mittel in der Gesundheitsvorsorge Health Games stellen einen Teilbereich digitaler Lern- und Trainingsprogramme dar, mit deren Hilfe Bürger bestimmte Aspekte der Gesundheitsvorsorge eigenverantwortlich in die Hand nehmen wollen. Zunehmend präsentieren sich Health Games auf mobilen Endgeräten wie Smartphones oder Tablet PCs. Sie vernetzen dabei Spielhandlungen mit dem Stadtraum und diversen Sensoren zur Vitalparameter-, Bewegungs- und Positionserkennung. Dieser Artikel fasst zusammen, wie besonders durchdachte, ausdrucksstarke und sprichwörtlich „ansteckende“ Spiele rund um körperliche Aktivität entstehen, wenn reale Orte sowie soziale und kulturelle Umgebungen in den Spielverlauf einbezogen werden. Es wird geschildert wie gerade die Interaktion mit personalisierten und multimodalen Karten dazu ermuntert subjektive und für die Gesundheit relevante Erfahrungen und Daten zu sammeln. Die Benutzer scheinen dabei über Verhalten wie Laufen, Rennen oder Ruhen, über dessen Hintergründe im Stadtraum und Auswirkungen zum Beispiel auf den Puls zu reflektieren. Ich möchte hier aufzeigen, wie Urban Health Games1 so als ein Sprungbrett zur Kommunikation in der Gesundheitsvorsorge dienen und in Zukunft eine wichtige Grundlage bilden können um neue Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Verhaltensweisen und städtischen Lebenswelten zu erforschen.
Vom Morgenpromenaden-Verein zum Stair Climbing Game Die enge Verflechtung zwischen der Gestaltung städtischer Lebenswelten und öffentlicher Gesundheitspflege ist alles andere als neu. Spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbünden sich Gesundheitsreformer und Stadtplaner um auf die katastrophalen hygienischen Bedingungen der frühen IndustrieStädte zu reagieren. In der Folge werden die modernen europäischen Städte mit Infrastrukturen zu Frischwasserversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung ausgestattet. Plätze und Parks werden als „grüne Lungen“ in die Städte implantiert; deren Straßen verbreitert und mit Gehsteigen und Bäumen verschönert.2 Mit der zunehmenden Standardisierung von Produkten nach hygienisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten – einschließlich Nahrungsmittel, Trinkwasser, Möbel und 1 Vgl. Martin Knöll, Urban Health Games. Collaborative, Expressive & Reflective (Dissertation, Universität Stuttgart, Fakultät Architektur und Stadtplanung – Institut Grundlagen Moderner Architektur und Entwerfen, 2012). 2 Vgl. Leonardo Benevolo, Die Geschichte der Stadt, Frankfurt am Main 1983, S. 837 f.
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Wohnungen3 – reagieren die Bürger mit persönlichen Vorbeuge- und Trainingsprogrammen. Der Naturheiler Hermann Klencke beispielsweise beobachtet um 1860 mit großer Freude die Gründung von sogenannten „MorgenpromenadenVereinen“ in einigen deutschen Großstädten. Nach Klencke verabredeten sich deren Mitglieder für den frühen Morgen an einem Ort in der freien Natur um vor einem bevorstehenden Büro-Tag für mindestens eine Stunde spazieren zu gehen. Für unbegründetes Fehlen würden sich die Mitglieder empfindlich hohe Geldstrafen auferlegen. In den Augen Klenckes eine notwendige Disziplinar-Maßnahme, denn der „von träger Bequemlichkeit nur allzu leicht überwältigte Kulturmensch“ müsste zu seinem Glück gezwungen werden. Tatsächlich würden sich die Mitglieder bester Gesundheit und Laune erfreuen und obendrein zu frühem Aufstehen ermahnt werden.4 Es scheint mir nicht zu weit hergeholt, die Entwicklung und Benutzung von heutigen digitalen Gesundheits-Assistenten in dieser Tradition der bürgerlichen Eigeninitiative zu sehen. Heute wollen sogenannte „Serious Games for Health“ ihre Spieler unterhalten und verfolgen dabei ernsthafte Anliegen wie Lernen, Ausbildung, Tourismus oder Gesundheitsvorsorge.5 Ich weise gerne darauf hin, dass sich das selbstbestimmte, spielerische Moment, welches dieser Praxis zugeschrieben wird, nur von Fall zu Fall und nur durch die genaue Analyse der Konzeption, Gestaltung und tatsächlichen Nutzung zeigen lässt. Schon Sigfried Kracauer machte darauf aufmerksam, dass der Schönheits-, Körper- und Jugendwahn der Berliner Großstadtmenschen der 1920er Jahre vor allem dem wachsenden Konkurrenzkampf um Jobs und Anerkennung geschuldet gewesen sei.6 Sport zu treiben, sich gepflegt und gesund zu halten, ist in dieser Sichtweise eine Fortsetzung und Ventil der sich entwickelnden Leistungsgesellschaft. Die Mitglieder eines Morgenpromenaden-Vereins mögen auf den ersten Blick ebenso bizarr wie subversiv daherkommen. Wie Goeckenjan beobachtet, kehren die bürgerlichen Anhänger einer (alternativen) Naturheilkunde dieser Zeit zwar einer von Ihnen als einseitig empfundenen Schulmedizin den Rücken. Sie unternähmen damit allerdings einen verzweifelten Versuch den Pathos des bürgerlichen, aufgeklärten und selbstbestimmten Gesundheitsvorsorge in die moderne, von Experten bestimmte Gesundheits-Landschaft hinüber zu retten.7 Die Mitglieder eines Morgenpromenaden-Vereines flüchteten aus der Stadt in die freie Natur. Allerdings legen sie sich ein ebenso rigides Regelwerk zur Selbst-Disziplin
3 Vgl. Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen – Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main 2001, S. 114. 4 Hermann Klencke, Die physische Lebenskunst oder praktische Anwendung der Naturwissenschaften auf Förderung des persönlichen Daseins, Leipzig 1864, S. 76. 5 Stefan Göbel et al., „Serious Games for Health – Personalized Exergames“, in Proceedings ACM Multimedia 2010 (Fiorenze: ACM), S. 1663-1666. 6 Vgl. Siegfried Kracauer, Die Angestellten – Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt am Main 1971, S. 25. 7 Gerd Göckenjan, Kurieren und Staat machen – Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1985, S. 88 f.
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auf um nach dem Spaziergang pünktlich, fröhlich und leistungsfähig im Büro anzukommen. Sie scheinen mir wenig Gedanken darauf zu verwenden, wie gemeinsame Aktionen die als ungesund empfundene Arbeits- und Lebenswelt verändern könnten. Das iPhone „stair climbing game“ Monumental verfolgt ein ähnliches Anliegen: Es möchte zu mehr Bewegung – im speziellen zum Treppensteigen – anregen. Mit Hilfe des eingebauten Bewegungssensors werden die tatsächlich gemachten Schritte des Nutzers im Alltag gezählt und mit einer virtuellen Geschichte verknüpft. Auf dem Bildschirm des Smartphones können so berühmte Sehenswürdigkeiten wie Eiffelturm oder Empire State Building erstiegen werden. Hat man beispielsweise die 364 Stufen der New Yorker Freiheitsstatue geschafft, werden Aussichten auf Manhattan freigeschaltet, man sammelt digitale Souvenirs und kann die Erfolge über ein soziales Netzwerk wie Facebook mitteilen.8 Monumental organisiert – ähnlich dem Morgenpromenaden-Verein – das Wetteifern mit anderen Teilnehmern, erinnert an tägliche Vorhaben und belohnt persönliche Bestleistungen. Durch mobile Endgeräte können Health Games offensichtlich sehr viel näher an den Alltag und persönliche Verhaltensweisen ihrer Nutzer heranrücken. Man muss sich nicht frühmorgens im Park verabreden, sondern kann mit Monumental überall und zu jederzeit etwas für seine Gesundheit tun. Für den Spielverlauf von Monumental scheint es gar unerheblich, ob man sich tatsächlich im Eiffel-Turm oder in einem Treppenhaus im Bürokomplex bewegt. Trotz der technischen und konzeptuellen Möglichkeiten ziehen Health Games bisher wenig die Qualitäten von realen Orten in ihre Spielhandlungen ein. Im folgenden möchte ich zeigen, dass Health Games genau durch einen Bezug zu ihrem urbanen Kontext einiges mehr leisten könnten.
Für ein breites Spektrum von Spielaktivitäten Spiele-Entwickler weisen darauf hin, dass es gerade für den Erfolg von Serious Games wesentlich darauf ankommt, einen möglichst breiten „Möglichkeitsraum von Spielhandlungen“ auszuloten.9 Debra Lieberman konnte bereits in den 1990er Jahren zeigen, wie Diabetes- und Asthma-Patienten gemeinsam mit deren Familien und Freunden digitale Spiele als ein „Sprungbrett“ zur Kommunikation über chronische Krankheiten und deren Behandlung nutzen.10 Sie weist auf die Potentiale für Health Games durch neue Spielformen wie das kooperative Spielen in sog. 8 Me You Health, Inc., „Monumental – Free Stair Climbing iPhone App“, in Creators of Daily Challenge – MeYou Health [aufgerufen am 03.03.2011]. 9 Ben Sawyer und Peter Smith, „Serious Games Taxonomy“, in Presentation given at the Game Developers Conference [aufgerufen am 22. März 2011]. 10 Debra A. Lieberman, „Interactive Video Games for Health Promotion: Effects on Knowledge, Self-Efficacy Social Support, and Health“, in Health Promotion and Interactive Technology: Theore-
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Multiplayer-Dungeons und neue Interfaces durch mobile Endgeräte hin.11 In der Prävention chronischer Krankheiten wie Adipositas oder Typ-2-Diabetes geht es zu einem Großteil um die Förderung von körperlicher Bewegung und die Information zu einer gesünderen Ernährung. Experten weisen allerdings darauf hin, dass weitverbreitete ungesunde Verhaltensweisen stark vom räumlichen und sozialen Umfeld geprägt sind.12 Psychologen sehen gerade in der Interaktion zwischen digitalen Asistenz- und Trainingsprogrammen mit eben jenem Umfeld große Potentiale für das Lernen und die Unterstützung von Verhaltensänderungen.13 Deren tatsächlicher Nutzen für die Gesundheit muss in zukünftigen Experimenten und begleitenden Studien weiter nachgewiesen werden. Mein Überblick über eine Auswahl von aktuellen Beispielen konzentriert sich daher auf die Frage inwieweit Health Games im Sinne Liebermanns als Sprungbrett zur Kommunikation in der Gesundheitsvorsorge entwickelt werden können. Die folgenden Aspekte scheinen mir hierfür besonders relevant: 1. Durch welche Spielmechanismen (Anreizsysteme, Wettkampf, oder freies Spielen, etc.) wird gesundheitsrelevantes Verhalten und Lernen im Spielverlauf motiviert? 2. In wie weit trägt die Interaktion mit dem stadträumlichen Umfeld zur Spielhandlung bei? Wie unterstützen die eingesetzten Technologien die Vernetzung von Spielhandlungen, körper- und raumbezogenen Daten? 3. In wie weit scheinen Spieler in die Lage versetzt, Aussagen über die Zusammenhänge zwischen eigenem Verhalten, Körperdaten und äußeren Einflüssen zu treffen?
CryptoZoo – Ansteckende Running Styles Als erstes Beispiel für ein Health Game, das seinen städtischen Kontext in den Spielverlauf einbezieht möchte ich das Mixed Reality Game CryptoZoo anführen. Auf dessen Website lernen Spieler die Bewegungen von virtuellen Spielcharakteren kennen und verabreden sich diese im realen Stadtraum nachzuahmen. Die Teilnehmer lernen Spuren (Kreidezeichnungen, Aufkleber, etc.) zu lesen und versuchen die sogenannten Cryptids ausfindig zu machen und durch die Stadt zu folgen. tical Applications and Future Directions, hg. v. Richard L. Jr. Street, William R. Gold und Timothy Manning, New Jersey & London 1997, S. 103-20, S. 115. 11 Vgl. Debra A. Lieberman, „What can We Learn From Playing Interactive Games?“, in Playing video games: motives, responses, and consequenses, hg. v. Peter Vorderer und Jennings Bryant, New Jersey 2006, S. 379-98, S. 391-393. 12 Vgl. W. Philip T. James, Rachel Jackson-Leach und Neville Rigby, „An International Perspective on Obesity and Obesogenic Environments“, in: Obesogenic environments: complexities, perceptions, and objective measures, hg. v. Amelia Lake, Tim G. Townshend und Seraphim Alvanides, Oxford 2010, S. 1-10, S. 4-7. 13 Vgl. BJ Fogg, Persuasive Technlogy – Using Computers to Change What We Think and Do, San Francisco 2003, S. 10 f.
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KONTEXTBEZOGENE DIGITALE SPIELE ALS KOMMUNIKATIONS-MITTEL
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Spiele-Designerin McGonigal spricht in einem Interview von CryptoZoo als einer Art „Parkours für jedermann“.14 Feireiss beobachtet wie sich professionelle und stark trainierten Traceure durch ihre waghalsigen Bewegungen den kürzesten Weg durch die Stadt bahnen. Sie treten dabei in Zwiesprache mit der physikalischen Topographie um dabei die räumlichen Grenzen ihres Körpers neu auszuloten.15 Auf den Werbe-Videos, die in Zusammenarbeit mit der American Heart Association gedreht sind, lassen es die Teilnehmer von CryptoZoo sehr viel betulicher angehen. Das ganze wirkt hier wie ein Animations-Programm im Urlaubs-Club, das jeden ansprechen will und zu leichten Bewegungen im Alltag motivieren soll. Spannender wird es, wenn Game-Designerin Jane McGonigal dazu auffordert ähnlich wie beim Parkours oder beim Skateboarden eigene „Running Styles“ zu entwickeln. Dies geschieht in Reaktion auf lokale Begebenheiten wie Treppen, Sitzbänke oder Parkstreifen. Tatsächlich filmen die Teilnehmer ihre Touren, veröffentlichen Clips auf der Website, verorten diese auf Google Maps und verabreden sich um gemeinsam neue Running-Styles auszuprobieren. Iain Borden beschreibt das Skaten als räumliche Praxis, durch die sich Skater, ähnlich den Traceuren, Stadträume aneignen und deren mögliche Nutzungen umdeuten und weiterentwickeln. Stadtmobiliar und Topographie kommt dabei zum einen die Rolle eines großflächigen, vernetzten Trainingsgerätes zu. Zum andern aber stellt der Stadtraum eine Bühne dar, auf der Skater ihre Tricks gemeinsam mit anderen Skatern entwickeln, nachahmen, bewerten und diskutieren und schliesslich Passanten vorführen. Borden beschreibt sehr eindrücklich wie das Skateboarden so als ein Mix aus Kooperation und Wetteifern gesehen werden kann für den Räume einen fruchtbaren Rahmen bilden. Für die Verbreitung der einzelnen Tricks, Moden und eines ganzen Lebensstils weist Borden außerdem auf die wichtige Rolle der Medien hin. Diese wurden seit Anfang der 1980er Jahre in selbstorganisierten Fanzines, VHS Video-Verleih-Ringen und schließlich Internet-Foren durch günstig zu produzierende Medien weltweit verbreitet.16 Die CryptoZoo-Website funktioniert ebenfalls als eine Art Katalysator, mithilfe deren die Spiele-Gemeinschaft sich organisiert. In der sozialen Interaktion, die durch CryptoZoo stimuliert wird, sehe ich den größten Reiz, aber auch die eigentlichen Grenzen zum Erreichen seines ernsthaften Anliegens – die Motivation zu mehr körperlicher Bewegung im Alltag zu erhöhen. Das Spiel motiviert hauptsächlich innerhalb der Spielsituation indem es zwar neue, unterhaltsame Arten der Bewegung durch die Stadt vorschlägt, aber nur wenig deren Anwendung, Unterstützung oder Hinterfragen außerhalb der Spiele-Sessions 14 Jane McGonigal, „CryptoZoo – Behind the Scenes‘, in Cryptzoo – A secret world of strange and fast-moving creatures [aufgerufen am 30. Januar 2012]. 15 Vgl. Lukas Feireiss, „Urban Free Flow: The Individual as an Active Performer“, in Space Time Play – Computer Games, Architecture and Urbanism: The next Level, hg. v. Steffen P. Walz, Friedrich von Borries und Matthias Böttger, Basel 2007, S. 280 f. 16 Vgl. Iain Borden, Skateboarding, Space and the City – Architecture and the body, Oxford; New York 2001, S. 124 f.
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anregt. Reflektion über gesundheits-relevantes Verhalten im Alltag, bzw. wann, wo und wie man sich auch dort mehr bewegen könnte, sind bisher nicht Gegenstand von CryptoZoo. Im Sinne einer wachsenden Durchdringung des Alltags durch Spiele – oft Gamification genannt – setzt McGonigal darauf, die Menschen dafür begeistern zu können für gesellschaftliche wie persönliche Ziele Games entwickeln und zu nutzen. Durch Games, so McGonigals optimistischer Ausruf, kann jeder seinen inneren Schweinhund überwinden und so nach und nach sich und seine Lebenswelt verbessern.17 Meiner Meinung nach, könnte das Potential des gemeinschaftlichen, ansteckenden Handelns, das man auf den CryptoZoo Videos beobachten kann, vermehrt dazu genutzt werden um auf Verhaltensweisen und deren Ursachen außerhalb der Spiel-Situation hinzuweisen. Die Erfahrungen könnten schließlich Ideen und Impulse für temporäre Installationen geben, die durch bauliche Eingriffe in den öffentlichen Raum körperliche Bewegung stimulieren wollen. Als Beispiel sei hier die Installation Stairway Stories von Design That Moves You genannt, die durch das Anbringen von Textstücken auf einzelnen Trittstufen das Treppensteigen zur New Yorker Highline attraktiver machen wollen.18 Borden sieht das selbstbestimmte Moment im Skateboarden gerade dort, wo neben der Aneignung und Umnutzung der Stadt in den 1970er und 80er Jahren Konstruktionen wie Halfpipes, Obstacles und Rails provisorisch und durch Eigen-Initiative gebaut wurden.19 Auch die Inszenierungen CryptoZoos greifen durch Kostüme, Kreidespuren oder Bespielung von Videoleinwänden am Times Square in den Stadtraum ein. Meiner Meinung nach scheuen sie sich bisher aber Zusammenhänge zwischen Bewegung, eigenem Wohlbefinden und alltäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen zu thematisieren.
Ausdrucksstarke Mobile Games Ian Bogost erklärt die Funktionsweisen besonders überzeugender Exemplare von Videospielen als „prozedurale Rhetorik“. In sogenannten „Persuasive Games“ würden Spieler mit einem Satz von Regeln und Prozessen interagieren, welche in Form einer überspitzten Simulation die Weltsicht des Game-Designers abbilden.20 Durch das Aufeinandertreffen jener Rhetorik und der Ansichten des Spielers erhofft sich Bogost ein Überdenken von festeingeschriebenem Verhaltensweisen auch außerhalb des Spieles.21 Die Überzeugungskraft solcher Medien scheint für viele Branchen und Institutionen interessant. Tatsächlich zeigt Bogost Beispiele aus den Bereichen 17 Jane McGonigal, Reality is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World London 2011, S. 125. 18 Alison Uljee und Sierra Seip (Design That Moves You), „Stairway Stories“, in: Spontaneous Interventions: Design actions for the common good [aufgerufen am 30. November 2012]. 19 Vgl. Borden, Skateboarding, Space and the City, S. 77-88. 20 Ian Bogost, Persuasive Games: The Expressive Power of Videogames, Cambridge 2007, S. 29. 21 Ebd., S. 214.
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Lernen, Politik, oder Werbung und hebt die Möglichkeiten für kleine Gruppen und Aktivisten hervor, in Eigeninitiative und mit begrenzten finanziellen Rahmen ausdrucksstarke Games entwickeln zu können. Seiner Meinung nach müsse dies auch für weitere Sub-Kategorien wie die der Gesundheit gezeigt werden.22 Spiele, die für bestimmte Produkte oder Services aus dem Gesundheitsbereich werben wollen, kann man sich leicht vorstellen. Ebenso kann man sich analog zu Bogosts Theorie Spiele vorstellen, die Kritik an Missständen der öffentlichen Gesundheitspolitik üben. Weitaus schwieriger allerdings scheint es Spiele zu entwickeln, die persönliche Verhaltensweisen wirkungsvoll thematisieren. Mit Experimental-Psychologen wie BJ Fogg, den ich eingangs erwähnt habe, wähnt auch Bogost Persuasive Games besonders ausdrucksstark, wenn sie auf mobilen Endgeräten möglichst nahe an die betreffenden Alltags-Handlungen heranrücken. Er konkretisiert dieses Prinzip einer möglichen kontextbezogenen Applikation in der Gesundheitsvorsorge in folgendem Vorschlag: In einem Schnellrestaurant oder in Supermärkten könnten unterschiedliche Levels eines Health Games die Konsequenzen simulieren, welche sich aus bestimmten ErnährungsEntscheidungen ergeben. Wie wirkt sich das regelmäßige Verzehren von Hamburgern oder Tiefkühl-Pizzas auf die Fähigkeit aus in 10 Jahren Treppensteigen zu können, Rennen zu laufen oder mit dem Enkel zu spielen?23 Die Motivation in einem solchen Konzept speist sich weniger aus der Kooperation Gleichgesinnter, die ich in dem „ansteckenden“ Miteinander der Spieler CryptoZoos beobachtet habe. In ausdrucksstarken Spielen wird großen Wert auf eine Simulation gelegt, die im beste Falle neugierig darauf macht, verschiedene Szenarien zu testen und so-zu-tun-als-ob. Es mag bisher deutlich geworden sein werden, dass es für kontextbezogene Health Games sehr wohl einen Unterschied macht, ob ich sie daheim, auf einem öffentlichen Patz oder im Restaurant spiele. Aus Bogosts Sicht sind die besten Effekte in Bezug auf Verhaltensänderung dann zu erzielen, wenn mobile Games möglichst expressiv Alltagshandlungen mit Spielaktivitäten kollidieren lassen.24 Bogosts Konzept deutet einen weiteren Ansatz an, durch den Health Games von ihrem urbanen Kontext profitieren können. Neben der spielerischen Aneignung von Topographie und den Möglichkeiten die Stadt als Bühne für Kooperation zu nutzen, bin ich davon überzeugt, dass die sorgfältige Auswahl von realen Orten dazu dienen kann eine möglichst effektvolle Kulisse für Health Games zu erzielen. Im Sinne Bogosts müssten diese Orte als Spiel-Kulisse den Unterschied zwischen fest eingeschriebenem Verhalten im Alltag und stimuliertem Spielhandlungen verdeutlichen. Solche ausdrucksstarken Health Games sind meiner Meinung nach besonders geeignet auf Gewohnheiten und deren Ursachen in räumlichen und 22 Ebd., S. 64. 23 Ian Bogost, „Persuasive Games on Mobile Devices“, in Mobile Persuasion: 20 Perspectives on the Future of Behavior Change, hg. v. B.J. Fogg und Dean Eckles, Palo Alto 2007, S. 29-37, hier: S. 36. 24 Vgl. ebd., S. 32.
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sozialen Umgebungen aufmerksam zu machen. Es ist aber wichtig zu betonen, dass ein solches Kommunikationsmittel die Sicht des Game Designers abbildet, sei dieser einzelner Aktivist, Gruppe oder von Institutionen beauftragt. Ausdrucksstarke Health Games sind daher weniger dazu geeignet neue Einsichten über bisher unbekannte Zusammenhänge zwischen Verhalten und städtischer Umgebung zu Tage zu befördern.
Ere Be Dragons – Reflektierendes Spielen In seiner einflussreichen Studie weist Roger Caillois neben dem Wettkampf auch auf den Zufall, die Maskierung und dem Rausch als wichtige Faktoren zur Motivation des Spielens hin. Er führt außerdem die hilfreiche Unterscheidung in stark reguliertes Spielen (ludus) wie bei traditionellen Mannschafts-Sportarten und freiem, konstruktiv-kreativen Formen des Spielens (paidia) ein.25 Boyd Davis und Kollegen beobachten bei den meisten digitalen Spielen, die im weitesten Sinne Gesundheit thematisieren, das sprichwörtliche Aufklären mit erhobenem Zeigefinger. Die Inhalte würden den Spielern zu oft vorschreiben wollen, welche Verhaltensweisen gut und welche schlecht für sie seien. Obendrein würden sog. Exergames – Spiele, die vorrangig körperliche Bewegung stimulieren wollen – hauptsächlich durch Wettkampf – und leistungsorientierte Spielhandlungen auffallen.26 Gerade um jene Menschen zu erreichen, die wenig oder keinen Bezug zu traditionellen Sportarten haben, schlagen Boyd Davis und Kollegen unter Bezugnahme auf Caillois ein möglichst freies und kreatives Spielen vor. In ihrem Projekt Ere Be Dragons bewegt sich der Spieler durch die Stadt und entwickelt dabei auf dem Bildschirm eine virtuelle Landschaft. Diese reagiert zum einen auf Positions- und Richtungswechsel des Spielers und zum anderen auf den Grad seiner körperlichen Anstrengung. Das Spiel kombiniert hierzu GPS-gestützte Positionsortung mit einem Pulsmesser, der an die Fingerspitzen angeheftet wird. Die Spiele-Landschaft auf dem Smartphone entwickelt sich von einer leeren und noch unbeschriebenen Karte zu einer unterhaltsamen, ruhigen, bedrohlichen, oder fröhlichen Anmutung.27 Ziel ist es seinen Puls in einem bestimmten, leicht erhöhten und für die Gesundheit günstigen Bereich zu halten. Ere be Dragons gibt allerdings nicht vor, durch welche Übungen, Bewegungen, oder Touren durch die Stadt dieses Ziel erreicht werden soll. Boyd Davis und Kollegen sehen sich in der Tradition des „Situationistischen Projekts“ indem sie die Effekte und Wechselwirkungen des städtischen Umfelds auf Individuen aufspüren und aufzeichnen wollen. Der Körper rückt daher ins Zen25 Vgl. Roger Caillois, Man, Play and Games, trans. by Meyer Barash, Urbana, Chicago 1961, S. 12 f.. 26 Vgl. Stephen Boyd Davis et al., „Mapping Inside Out“, in: Pervasive Gaming Applications – A Reader for Pervasive Gaming Research Vol. 2, hg. v. Carsten Magerkurth und Carsten Röcker, Aachen 2007, S. 199-226, hier: S. 213. 27 Vgl. ebd., S. 200-202.
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[Legende:] In Ere Be Dragons steuern Spieler durch Bewegung und körperliche Anstrengung eine virtuelle Landschaft auf ihrem Smartphone – gemessen durch GPS und Herzfrequenz.
trum des Geschehens. Schließlich erlebe man die Stadt vermittelt durch dessen sensorischen Empfindungen. Umgekehrt würde man etwas über die Verfassung und Befindlichkeit seines Körpers erfahren, indem man ihn in Bezug setzt auf die Stadt Abmessungen, Atmosphäre und Beschaffenheit des Raumes.28 Um eine mögliche Rolle der kontextbezogenen Health Games in dieser Wechselbeziehung zwischen Körper und Stadtraum aufzuzeigen, hilft erneut ein Blick auf Iain Borden. Er stellt uns das Skateboard als ein Gerät vor, einem „prosthetic device“, das zwischen Körperraum und Stadtraum vermittelt. Er beschreibt, wie Skater durch den Klang der Rollen die Oberflächen der Stadt auf ihren Nutzen für das Skateboarding hin befragen würden. Erst durch das Skateboard unter den Füßen ließe sich für sie spüren, wie sich die Beschaffenheit des Asphalts auf den Fluss der Bewegung auswirkt und welche Möglichkeiten sich daraus für Tricks und Manöver ergeben.29 Boyd Davis sieht an anderer Stelle interaktive Karten als „prothesenhafte Erweiterungen“ des Körpers. Durch eine Reihe von Sensoren, die Vitalparameter, Position oder Bewegung erheben, seien diese Applikationen als „multimodal“ zu bezeichnen. Sie liefern personalisierte Informationen in Echtzeit auf die Smartphones der Nutzer. Mit „subjective mapping“ meint Boyd Davis Visualisierungen, welche die Wahrnehmung von komplexen Zusammenhängen unterstützen, die sonst innerlich und verborgen blieben. Für Boyd Davis liegen in dem Spielen mit solchen multimodalen Karten große Potentiale für Verhaltensänderung. Die Spieler von Ere Be Dragons beispielsweise würden ihr Verhalten (Stehen, Laufen, Anstrengen, Ausruhen, etc.) im Lichte der Karte anpassen, verändern, und erproben. Er nennt dieses Prinzip „reflection-in-action“ ähnlich dem Akt des Zeichnens, in dem Zeichen-Stift durch das Beobachten des bereits Gezeichneten geführt und
28 Vgl. ebd., S. 219. 29 Vgl. Borden, Skateboarding, Space and the City, S. 100.
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wechselseitig beeinflusst werden. 30 Wie Boyd Davis und Kollegen selbst anmerken, muss der tatsächliche und nachhaltige Effekt auf Verhaltensänderungen durch weitere und umfangreichere Untersuchungen nachgewiesen werden.31 Ich möchte ein solches „reflektierendes“ Spielen von Health Games als eine Technik sehen, durch die verschiedene (gesundheitsbezogene) Facetten des Subjekts abgebildet, bewusst und verdeutlicht werden können. Als ein Kommunikationsmittel dient es zunächst jedem Nutzer in der Zwiesprache mit seinem Körper. Dieses Konzept des reflektierenden Spielens von Health Games in der Stadt scheint mir geeignet um Zusammenhänge zwischen Verhalten, Körperdaten und städtischer Lebenswelt aufzuspüren und in der Spiel-Handlung Ausdruck zu verleihen.
Spekulation: Health Games im Städte-Design Ich hatte eingangs betont wie eng öffentliche Gesundheitsvorsorge und Gestaltung der Lebenswelten verschränkt sind. Im Laufe dieses Textes ist deutlich geworden, dass man die Entwicklung und Benutzung von kontextbezogenen Health Games an sich als Städte-Wahrnehmung im weiteren Sinn verstehen kann. Sie initiieren ein subjektives Erleben der Stadt indem sie eine Reihe von Kommunikations-Technologien vernetzen. Interessanterweise müssen digitale Spiele dafür nicht zwangsläufig in die bauliche Gestalt eingreifen. Ein wichtige Referenz um darüber zu spekulieren wie Health Games die Beteiligung von Bürgern an gesundheitsorientierter Stadtplanung, insbesondere temporäre bauliche Interventionen, unterstützen können, scheinen mir die Arbeiten von Christian Nold zu sein. In seinen Bio-Maps kombiniert Nold die Aufzeichnung von „Erregtheits-Zuständen“ einer Gruppe von Probanden mithilfe von Schweiß-Detektoren mit Daten aus Positionserkennung. Eingetragen in Google Maps entstehen so Zackendiagramme, die beispielsweise erhöhte Erregtheitszustände an stark befahrenen Straßen im Vergleich zu weniger befahrenen Straßen im Londoner Stadtteil Greenwich zeigen.32 In Workshops, in denen er Aussagen zu möglichen stadträumlichen Interventionen gemeinsam mit Bürgern erarbeiten will, weist Nold auf die Notwendigkeit hin, gesammelte Körper- und Positions-Daten von den Teilnehmern selbst interpretieren zu lassen. Sinnvolle Aussagen könnten nur durch die Anreicherung der „objektiven“ Daten und deren Visualisierungen mit „subjektiven“ Kommentaren, Einschätzungen und persönlichen Anekdoten entstehen.33 Bio Maps werden so zu einer Grundlage, welche die Kommunikation über komplexe Zusammenhänge un-
30 Stephen Boyd Davis, „Mapping the unseen: Making sense of the subjective image“, in: Emotional Cartography: Technologies of the Self, London 2009, S. 39-51, hier: S 48. 31 Stephen Boyd Davis u.a., „Mapping Inside Out“, S. 211. 32 Christian Nold, „Greenwich Emotion Map, Christian Nold, 2005-6“ [aufgerufen am 10 Oktober 2011]. 33 Christian Nold, „Introduction: Emotional Cartography – Technologies of the Self‘“, in: Emotional Cartography: Technologies of the Self, hg. v. Christian Nold, London 2009, S. 3-14.
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terstützt und in Zukunft etablierte Beteiligungsverfahren in der Stadtentwicklung ergänzen könnten. Boyd Davis verweist auf die Bio Maps von Christian Nold als einen parallelen Ansatz zum Health Game Ere Be Dragons. Im Unterschied zum reflektierenden Spielen in Echtzeit würden Bio Maps zu einer Reflektion in der Gruppe und im Nachhinein anregen.34 Ich denke, dass diese Unterscheidung für die Entwicklung von Urban Health Games als Kommunikationsmittel sowohl in der Gesundheitsvorsorge als auch in der Stadtentwicklung besonders fruchtbar werden kann. In einer ersten Stufe könnten Health Games durch verschiedene Herangehensweisen, die ich hier skizziert habe, auf Zusammenhänge zwischen Stadtraum und Verhaltensweisen aufmerksam machen. Parallel dazu könnten hierdurch Prozesse angestoßen werden, die in Anlehnung an Nolds Bio-Maps eine Grundlage zur Diskussion und Interpretation von körper- und kontextbezogenen Daten und Erfahrungen dienen. Health Games könnten so Personen oder Gruppen als Kommunikationsmittel dienen.
Zusammenfassung und Ausblick Obwohl es sich um ein noch junges Feld handelt, wird in der Analyse ausgewählter Projekte ein breites Spektrum an Potentialen und Herausforderungen deutlich. Weniger als die derzeit vorherrschenden leistungsorientierten Applikationen, habe ich hier kreative Spielarten beleuchtet, die den Stadtraum aktiv in Spielhandlungen einbeziehen. Ich habe hierfür die Attribute des ansteckenden, ausdrucksvollen und reflektierenden Spielens vorgestellt, die ich an anderer Stelle im Detail entwickelt habe.35 Während ansteckende Spiele wie CryptoZoo durch eine Mischung aus Kooperation und Wetteifern motivieren wollen, scheinen ausdrucksstarke Spiele auf eine effektvolle Konfrontation zwischen Alltags- und Spielhandlungen zu setzen. Einen dritten Weg geht meiner Meinung nach das reflektierende Spielen, das ich hier in dem Game Ere Be Dragons beobachtet habe. Das spielerische Umgehen mit einer personalisierten, multimodalen und interaktiven Karte ermöglicht es in diesem Fall die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche gesundheitsrelevante Facetten zu lenken. In Kombination mit Workshops können Health Games als GesprächsGrundlage für einen Austausch in der Gruppe dienen. Dieser Artikel stützt sich weniger auf empirische Untersuchungen zum medizinischen Nutzen von Health Games, der bisher in Teilbereichen, insbesondere in der Behandlung von chronischen Krankheiten nachgewiesen werden konnte.36 Die weitere Entwicklung und Erforschung von Urban Health Games wird zeigen müssen, ob durch die hier angedeuteten Strategien z.B. ein höherer Gewichts34 Boyd Davis, „Mapping the unseen“, S. 46 f. 35 Vgl. Knöll, Urban Health Games. Collaborative, Expressive & Reflective. 36 Vgl. Tom Baranowski u.a., „Playing for Real: Video Games and Stories for Health-Related Behaviour Change“, in: American Journal Perventive Medicine, XXXIV (2008), S. 74-82.
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verlust, dauerhaft gesenkter Puls, oder Motivationserfolge erzielt werden können. Einen solchen Nutzen im Vergleich und in Ergänzung zu herkömmlichen Motivationsprogrammen wird nur durch die Entwicklung und Evaluation von Prototypen gezeigt werden können. Eine wichtige Voraussetzung für die konzeptuelle und technische Entwicklung in einem interdisziplinären Team bestehend aus Serious Games-Entwicklern, Psychologen, Gesundheitsexperten, Architekten und Nutzern scheint mir allerdings zu sein, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Gerade durch einen Austausch mit Technik-Philosophen und Soziologen verspreche ich mir diesen Ansatz zu fördern und eine theoretische Grundlage dafür zu schaffen, gesellschaftlich relevante Ziele und Herangehensweisen von Health Games zu definieren.
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CLAUDIA GIROLA
Zwischen erlittener und konstruierter Liminalität Der Subjektivierungsprozess von obdachlosen Menschen in Frankreich Die Frage der Obdachlosigkeit in Frankreich, seit den 1990er Jahren ein Thema von öffentlichem Interesse und einiger politischer Brisanz, wurde im alltäglichen wie im politischen und selbst im wissenschaftlichen Diskurs lange im Sinne der dominanten Repräsentation des Obdachlosen als einer negativen Individualität behandelt, eines nirgends zugehörigen, aus allen Bindungen und Tauschbeziehungen herausgefallenen, buchstäblich an den Rändern der Welt lebenden Individuums. Dieses auch heute noch sehr prägnante Bild beruht auf einer allzu simplen Gleichung, die eine Kausalbeziehung zwischen extremer sozialer und ökonomischer Prekarität und einer gestörten Fähigkeit zum In-der-Welt-Sein herstellt. So werden obdachlose Personen als ungewisse Identitäten aufgefasst, denen jegliches Bewusstsein ihrer selbst und ihrer eigenen Individualität fehlt. Anhand einer reflexiven Ethnografie der sozialen Praktiken von Obdachlosen, die ich in mehreren Kommunen der Pariser Region durchgeführt habe1, möchte ich zeigen, dass die Situation der täglichen Ungewissheit, in der sich die Obdachlosen befinden, an sich bereits eine komplexe und extreme Erfahrung des Abseitsstehens ist, die eine Art Subjektivierung „trotz allem“2 (eine liminale Subjektivität?) erkennen lässt und weit entfernt von jenem Bild des desubjektivierten Individuums ist, das uns die herrschende Vorstellung zwangsläufig vermittelt.
Der Ähnlichkeitsschock Für die Präsentation meiner Untersuchung habe ich eine narrative Form gewählt, denn ich begreife das ethnografische Verfahren als einen erfahrungsbasierten Erkenntnisprozess, der zusammen mit den Akteuren im Feld in einer begleitenden, auf Intersubjektivität aufbauenden Beziehung stattfindet. Um zu einer Objektivierung der Prozesse zu gelangen, die er untersuchen will, muss sich der Feldforscher auf sein Objekt einlassen. Er kann sich dieser intensiven Subjektivierungsarbeit 1 Mein Forschungsprojekt erstreckt sich über einen Zeitraum von Beginn der 1990er Jahre bis heute und befasst sich mit den Verhältnissen in Frankreich, insbesondere im Departement Hautsde-Seine in der Pariser Region und in der Stadt Saint-Etienne in der Region Rhône-Alpes. 2 Ich benutze das Konzept der „Subjektivierung“ im Sinne der Formulierung von Laurence Cornu in ihrem Vortrag Trois exemples de construction du concept de subjectivation: variations conceptuelles ou conceptualisations hétérogènes?, gehalten im Rahmen des Seminars des CSPRP (2011-2012), Sujet, subjectivation, désubjectivation.
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CLAUDIA GIROLA
nicht entziehen, schon gar nicht, wenn er über Thematiken arbeitet, die mit sozialem Leiden zu tun haben. Die Konfrontation mit der Person, die diese Formen von Ungerechtigkeit und Ungeschütztheit am eigenen Leibe erleidet, erweckt ein unklares Gefühl, das zumindest zu Beginn der Begegnung nicht leicht in den Griff zu bekommen ist und einen nicht gleichgültig lassen kann. Ich meine damit das, was ich den „Ähnlichkeitsschock“3 nenne, dieses Gefühl des Nichtverstehens und der Bestürzung, das einen überfällt, wenn man Menschen gegenübersteht, die obdachlos und extremen Lebensverhältnissen ausgesetzt sind. Diese anfängliche Verwirrung angesichts des notleidenden anderen sei, so heißt es, auf das Erleben (die Erfahrung) einer unerträglichen Andersheit zurückzuführen.4 Demgegenüber behaupte ich, dass sie viel eher mit dem intensiven Gefühl der Ähnlichkeit zu tun hat, das der Beobachter angesichts dieses anderen empfindet. Es drängt sich ihm eine „wesensmäßige“ Ähnlichkeit auf, in der jede benennbare Besonderheit aufgehoben ist. Was hier geteilt wird, ist das beiderseitige Menschsein. So tritt dieser Ähnlichkeitsschock unterschiedslos sowohl bei denjenigen auf, die sich politisch oder humanitär für die Leidenden engagieren, als auch bei denen, die sich nicht engagieren und dem Unglück der anderen gleichgültig gegenüberstehen. Erst durch die Beachtung, die sie diesem „Ähnlichkeitsschock“ schenken, durch die Art, wie sie mit ihm umgehen, und durch die Konsequenzen, die er für ihr Handeln hat, unterscheiden sich diese beiden Typen von Akteuren. Dieser Ähnlichkeitsschock hat meine Untersuchung von Anfang an geprägt. Er ließ mich begreifen, dass es dabei nicht um einen Versuch gehen konnte, eine bestimmte Gruppe oder Population differenziert wahrzunehmen oder so etwas wie eine „Obdachlosen-Wesenheit“ zu erfassen, eine nur dem Armen vorbehaltene Lebensform. Dies hätte in eine Sackgasse geführt, denn es hätte von vornherein eine Grenze zwischen IHNEN und UNS gezogen. Was ich, ganz im Gegenteil, verstehen musste, war unsere gemeinsame Welt, war das, was an Erkenntnissen und Lehren aus extremen Lebensverhältnissen zu ziehen war, in die wir alle geraten könnten. Es gilt, grundsätzlich von der Ähnlichkeit und nicht vom Unterschied auszugehen und vor allem die – oft schwer auszumachenden – Zonen der Gemeinsamkeit zu betrachten, die uns im Kern unseres Wesens mit diesen Personen verbinden. Aber von der Ähnlichkeit ausgehen heißt auch, die Distanz deutlich machen, die uns, was Recht, Gerechtigkeit und soziale Anerkennung angeht, von ihnen trennt. Nur in dieser unaufgelösten Spannung zwischen Distanz und Ähnlichkeit lässt sich eine produktive Begegnung zwischen dem Feldforscher und seinen Gesprächspartnern aufbauen.
3 Claudia Girola, De l’homme liminaire à la personne sociale. La lutte quotidienne des sans-abri, ANRT (Lille), thèse, nov. 2007. 4 Georg Simmel, « Digressions sur l’étranger », traduit par Philippe Fritsch et Isaac Joseph, in Yves Grafmeyer et Isaac Joseph, L’École de Chicago. Naissance de l’écologie urbaine, Paris, S. 53-59, 1908, 1984.
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ZWISCHEN ERLITTENER UND KONSTRUIERTER LIMINALITÄT
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Da sein, trotz allem Wenn wir von extremen Lebensverhältnissen sprechen, heißt das nicht unbedingt, dass diese Personen ihr Leben auch selber als eine Grenzsituation oder Grenzerfahrung empfinden. Erst der Blick des Forschers zieht diese „Grenze“, indem er feststellt, dass ihre elementaren Bedürfnisse nicht befriedigt werden und dass sie unter Bedingungen leben, die für jede andere, sogenannte normale Person unerträglich wären: keine Wohnung, keine Einkünfte, immer wieder hintangestellte Rechte, keine soziale Anerkennung, unbeständige soziale Bindungen, die mitunter nicht einmal den lebensnotwendigen Schutz bieten [...] Und doch sind diese Personen da. Dieses „Trotz-allem-da-Sein“ hat mir keine Ruhe gelassen und wurde für mich zum Anstoß, mich für die sozialen Lebens- und Überlebenspraktiken von obdachlosen Menschen zu interessieren, das heißt, für die Handlungen, Tätigkeiten, Entscheidungen, Gedanken, Diskurse, mit denen diese Personen versuchen, mit ihren schwierigen und ungewissen Lebensbedingungen fertig zu werden. Praktiken, die es ihnen ermöglichen, „DURCHZUHALTEN“, „DA ZU SEIN“ oder, wie ein Obdachloser einmal zu mir sagte: „TROTZ ALLEM MAN SELBST ZU BLEIBEN“. „Trotz allem“ – während meiner gesamten Untersuchung habe ich mich von diesem zufällig gehörten Ausdruck leiten lassen und ihn mir als Denkkategorie zu eigen gemacht. Dieses „man selbst“, ausgesprochen in einem keinen Widerspruch duldenden Ton von den Personen, denen ich begegnete, brachte mich dazu, ihre Alltagspraktiken als ebenso viele Formen der Selbstbehauptung oder Selbstvergewisserung zu denken, als einen echten Subjektivierungsprozess „trotz allem“, und dies zum roten Faden meiner verstehenden Ethnografie zu machen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gleich hinzugefügt, dass der Ausdruck „trotz allem“ hier in einem Sinne gebraucht wird, der keineswegs die Vorstellung einer wie auch immer gearteten Resignation beinhaltet, ganz im Gegenteil. Im Anschluss an Georges Didi-Hubermans5 Analysen der Bilder von Grenzsituationen würde ich sagen, dass mit „alles“ die alltäglichen materiellen Zwänge gemeint sind, jene historischen und strukturellen, von extremen Lebensverhältnissen auf die Spitze getriebenen Zwänge, gegen die anzukämpfen so schwer und so langwierig ist. Mit „trotz“ sind dann die Widerstände gegen diese Bedingtheiten gemeint, Widerstände, in denen wir im allgemeinen nichts als schlichte Anpassung sehen, ein Sich-Arrangieren, und die doch, oft still, unsichtbar, nicht eben siegreich, uns daran erinnern, dass Nachgeben nicht gleich Einverstanden-Sein ist.6
5 Georges Didi Huberman, Bilder trotz allem, München 2007. 6 Nicole-Claude Mathieu, Nachgeben ist nicht zustimmen: ethnologische Überlegungen zum Geschlechterverhältnis, Wien 1995.
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CLAUDIA GIROLA
Obdachlose Personen unter dem desubjektivierenden sozialen Blick Um zu verstehen, worin dieses „trotz allem durchhalten“ besteht, müssen wir den desubjektivierenden sozialen Blick berücksichtigen, mit dem diese Personen oft betrachtet werden. Dieser Blick nämlich und die für die Netze und Einrichtungen der Sozialhilfe zuständigen sozio-politischen Akteure führen dazu, dass Obdachlose zwischen Ablehnung und Akzeptanz agieren und reagieren, sich zwischen Lernen und Widerstand konstruieren; und dabei echte „Subjektivierungsarbeit“ leisten. Ich sage „Arbeit“, denn diesem Blick und diesem abstoßenden Leben standzuhalten, bedeutet, dass sie Risikobewusstsein entwickeln und „außerordentliche“ Energie aufbringen, um sich anders zu denken. Auch wenn sie am Ende manchmal erschöpft aufgeben, ist das meist weniger eine Kapitulation als vielmehr das Ergebnis eines langen Kampfes im Beharren, „man selbst“ zu bleiben. Über die große Vielfalt der Muster, die bei meiner Analyse der Diskurse und Handlungen der mit der sozialen und politischen Behandlung von obdachlosen Personen befassten Akteure zutage traten, habe ich bereits an anderer Stelle berichtet.7 Hier sei nur noch hinzugefügt, dass das typische Bild, das sich aus diesen Mustern gibt, das Bild eines sozial entwurzelten Menschen ist, das angesichts der Verweigerung von Recht und Gerechtigkeit8, die ihm widerfährt, mehr Mitleid als Empörung hervorruft. Ihre Sicht der Obdachlosen ist vollkommen negativ: Es sind Opfer, unheilbar „desubjektiviert“ oder unbedingt „zu subjektivieren“. Die extreme Lebenserfahrung von obdachlosen Personen wird negiert, für sozial sinnlos erklärt und nur noch als ein Zustand wahrgenommen, in dem die Person vernichtet und selbst der fundamentalsten anthropologischen Strukturen – der Zeiten und der Orte – beraubt ist („Sie haben jeden Sinn für Zeit und Raum verloren“, heißt es immer wieder in dem Sozialämtern). Es ist ein Zustand, in dem sich die Person in einer Schwellenphase befindet, einer Phase des bloßen Überlebens, die nicht von Dauer sein kann und durch einen sozialpolitisch verordneten und verwalteten Prozess der Wiederangliederung behoben werden soll: daher diese ganzen „Wohn- und Integrationshilfen“, regelrechte Bußpfade auf dem Weg zur Eingliederung oder zur Entwicklung einer sogenannten Eigenständigkeit, die bewiese, dass man überhaupt anspruchsberechtigt ist. Diese negative Sicht speist sich aus der Überzeugung, dass obdachlose Personen besondere „Kompetenzen“ besäßen, oder doch die Fähigkeit, sie zu erwerben. Diese Kompetenzen werden lediglich als „berechnende“ Strategi7 Girola, De l’homme liminaire à la personne sociale. La lutte quotidienne des sans-abri. 8 Es sei daran erinnert, dass die Begriffe, die zur Bezeichnung von obdachlosen Personen benutzt wurden und werden – der „Entsozialisierte“ (Patrick Declerck, Les Naufragés, Paris 2001), der Disqualifizierte (Serge Paugam, La disqualification sociale. Essai sur la nouvelle pauvreté. Paris 1991), das negative Individuum (Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz 2000) – , durchweg negativ geprägt sind und ihrerseits, sobald sie vom unkritischen common sense, vom sozialen Handeln und vor allem von den Medien aufgegriffen und außerhalb des Kontextes der wissenschaftlichen Produktion dieser Autoren und des genau bestimmten historischen und begrifflichen Umfelds ihrer Analyse und Argumentation aufgegriffen und verwendet wurden, dazu beigetragen haben, das durch und durch negative Bild des endgültig Ausgeschlossenen zu produzieren.
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en verstanden, als „Tricks“, „Schleichwege“, Durchwursteleien, Kniffe, wie man sie für dieses Leben „auf der Straße“ braucht, Verhaltensweisen, die als nützlich, aber anormal gelten. Die positive Bewertung hält jedoch nur solange vor, wie diese Personen auf der Straße leben; sobald sie „weg von der Straße“ sind, werden diese Kompetenzen schlicht und einfach disqualifiziert. Um in die von der Sozialpolitik angebotenen Normalisierungsmaßnahmen zu passen, müssen sie aufgegeben oder umgeformt werden. Gleiches gilt für die Freundschaftsbeziehungen zwischen „Straßenkollegen“, die abgebrochen werden müssten, für die Pläne, an denen die Obdachlosen festhalten, die Träume, die ihnen helfen, ihr leidvolles Leben zu ertragen, und von denen sie ablassen müssten, weil sie aus der Sicht der Sozialbeamten nicht realisierbar und „verrückt“ sind. Für die Variable „Träume und Wünsche der Armen“ ist kein Platz in der Sozialpolitik. Man muss sehen, dass diese Kompetenzen selten als neue Erfahrungen betrachtet werden, in die der ganze Reichtum eines Stück für Stück historisch und kollektiv erworbenen Wissens eingegangen ist, als „Handlungs- und Seinsweisen“, die im Handeln eines ganzen Lebens ihren Sinn bekommen. Selten werden sie als ein Wissen begriffen, das in die Vergangenheit der Person zurückreicht und deutlich macht, dass es in ihrem Sein trotz der vielfachen biografischen Knicke und Brüche eine gewisse Kontinuität gibt. Wie Philippe, ein ehemaliger Schweißer bei Dassault, den ich in Nanterre kennenlernte, einmal zu mir sagte: „Ich habe keine Arbeit mehr, ich habe keine Wohnung, aber dass ich mal Arbeiter war, das vergesse ich nicht, und in meinem Kopf bin ich das immer noch.“ Diese ganze Konstruktion der Figur des Obdachlosen ist nicht nur eine Repräsentation. Sie ist auch das Ergebnis konkreter sozialer Praktiken und einer Identitätsreduktion oder Desubjektivierung. Zu diesen Praktiken gehören die biografische Verstümmelung, wie ich das nenne, und die verschiedenen Formen der Deterritorialisierung. Seit den 1980er Jahren ist man institutionell zu einer Praxis übergegangen, bei der die Biografien der Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, narrativ erfasst und als solche zur Entscheidungsgrundlage für die Anwendung der diversen sozialpolitischen Maßnahmen gemacht werden. Das Hauptargument für diese Methode lautet, angesichts der Vielfalt der Lebensverhältnisse von sozialhilfebedürftigen Menschen könne sich der Staat nicht länger mit Variablen begnügen, die nur aus allgemeinen Daten zur Person (Alter, Geschlecht, Familienstand, Einkommen usw.) bestehen. In diesem Sinne entschied man, dass individuell angepasste Maßnahmen und ein gerechter Zugang zu den Sozialleistungen nur auf Basis der Lebensverläufe und ihrer Besonderheiten zu gewährleisten seien. Wie diese biografischen Rekonstruktionen in der Praxis aussehen, konnte ich selber feststellen, als ich als zuhörende Ethnografin mit einer Reihe von soziopolitischen Akteuren in einer Diskussionsrunde zum Thema Bewilligung von sozialen Leistungen für Obdachlose saß. Der narrative Faden war immer der gleiche: Die „Ent-Bindungen“ in der Geschichte der Obdachlosen wurden systematisch in eine Abfolge gebracht, die den bei einem normativen biografischen Verlauf zu erwartenden Bindungen entsprach. Ereignisse aus ihrer Vergangenheit fielen oft ganz weg oder wurden als nicht relevant im Sinne einer staatlichen „Wiedereingliederungs-
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politik“ abgetan. Ihre vergangenen Identitäten (als Arbeiter, als Eltern usw.) wurden als unvollendete Identitäten betrachtet, weil sie keine den Erwartungen entsprechende biografische Kontinuität aufwiesen. Dabei ist durchaus bekannt, dass die meisten Obdachlosen oft ehemalige Arbeiter aus sozialen Gruppen mit schwierigen häuslichen Verhältnissen oder Menschen mit langer Armutserfahrung sind. Sie sind unbestreitbar Teil eines sozialen Gedächtnisses, das ihnen jedoch verweigert wird. Durch einen die Biografie extrem reduzierenden und „verstümmelnden“ narrativen Prozess bringen diese sozio-politischen Akteure die Personen gewissermaßen zum „Verschwinden“. Dies ist das Ergebnis einer Praxis, die die Besonderheiten dieser Menschen nicht so sehr anerkennt als vielmehr eine grundsätzliche „Andersheit“ produziert und letztlich auf die Konstruktion eines nirgends zuordenbaren und also als „anders“ definierbaren Menschseins hinausläuft: eines liminalen Menschseins, eines Menschseins in einer Schwellenphase. Es gibt ein ganzes Bündel von Praktiken der Deterritorialisierung: Bettelverbote (seit 1995), verschiedene mehr oder weniger handfeste Formen der Vertreibung aus dem Straßenbild, Nimby9 Bewegungen und vor allem „Abschiebungen“ an die Gemeindegrenzen (mit von den Kommunalverwaltungen gemieteten Bussen, die die obdachlosen Personen an die Gemeindegrenzen bringen). Seit den Dezentralisierungsgesetzen von 1982 liegt die finanzielle Zuständigkeit für Populationen mit besonders prekären Lebensverhältnissen direkt beim Staat. Konkret umsetzbar ist dies aber nur, wenn die Kommunen mitspielen, die sehr oft Personen, die keinen Wohnsitz in der Kommune nachweisen können, nicht als Einwohner anerkennen. So praktiziert die Kommune eine Selektion ihrer Bewohner, indem sie zwischen „ihren“ Einwohnern und den Obdachlosen eine unsichtbare Grenze zieht10, und entscheidet auf diese Weise über den Zugang oder Nicht-Zugang zu den Schaltern des örtlichen Sozialamts. Da die Obdachlosen den Zugehörigkeitskriterien nicht entsprechen können, werden sie von den Kommunen als Menschen „nicht von hier und nicht von da“ betrachtet, wie ein stellvertretender Bürgermeister der Stadt Nanterre im vertraulichen Gespräch einmal sagte. Damit sind sie auf das Pauschalterritorium der ungesicherten Lebensverhältnisse verwiesen, ein Territorium ohne sichtbaren Grenzstein, an den man sich halten könnte, lauter Grenzorte, oft als kollektive humanitäre Zufluchts- und Unterbringungsräume gedacht, in die man eine herkunftslose Menschheit rasch abschieben kann; Räume, in denen das Etikett „obdachlos“11 die erste Geste einer „negativen Anerkennung“ darstellt und es sehr schwer ist, sich so etwas wie ein Zuhause zu schaffen. Kurz, es ist eine regelrechte „Distanzierungs-“ und Kennzeichnungspolitik. 9 Mit Nimby (Not in my backyard – Nicht in meinem Garten/Hinterhof; oder auch: Heiliger Sankt Florian, Verschon mein Haus, Zünd’ andre an...) wird ein aus den USA kommendes Phänomen bezeichnet, bei dem sich Anwohner zusammenschließen, um ihre unmittelbare Umgebung zu schützen, ohne Rücksicht auf das Interesse der Allgemeinheit. 10 Kriterien sind: Dauer der Ansässigkeit in der Kommune (mehr als zwei Jahre), Blutsverwandtschaft, Arbeitsstätte. 11 Obdachlose, eine politisch-administrative Kategorie, mit der Personen bezeichnet werden, die keinen festen Wohnsitz haben und auch sonst keinem Haushalt angehören.
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Gemeinsam ist diesen beiden Formen der Desubjektivierung, dass sie die biografischen und territorialen Grenzen dieser Menschen neu ziehen, indem sie sie dem „Obdachlosenterritorium“ zuweisen, dem Territorium derer, die „auf Kosten der Allgemeinheit“ leben, und sie damit zugleich aus unserer „gemeinsamen Welt“, der Welt des Zusammenlebens, ausstoßen. Dank des Klimas der reflektierten Empathie, in dem meine lange Arbeit im Feld und bei der Beobachtung des Alltags von Obdachlosen verlief, begriff ich, dass jeder von ihnen den eigenen Erfahrungen – dem, was er ist, was er hat, was er tut – einen Sinn gibt. Nach und nach sah ich diese Menschen in neuem Licht, und vor allem als sprechende und sich beharrlich als Teil des Sozialen verstehende Subjekte. Ich sah sie als Menschen, die auf das Festgelegt-Werden auf eine eindimensionale, deterritorialisierte Lebensform „reagieren“, indem sie den ihnen verordneten Identitätsprozess, die ihnen aufgezwungene Subjektivierung infrage stellen und versuchen, sich aus diesem undifferenzierten, ihnen den Zugang zur eigenen Besonderheit versperrenden Menschsein herauszuarbeiten.
Rückzug für sich selbst in einer schon menschlichen Welt Beim Durchlaufen der Netze der Hilfsmaßnahmen und der Wege einer ungastlichen Urbanität stehen diese Menschen verwirrt vor der Sprache derer, die zu ihnen mit Worten reden, die etwas „bedeuten“, das sie nicht mehr sind: nicht arbeitend; nicht zugehörig; ohne Territorium. Konfrontiert mit dem, was da mit ihnen geschieht und was für sie selbst einmal undenkbar, unvorstellbar war, sind sie vor allem verwirrt, ungläubig. Man muss sich klarmachen, dass diese Personen aus sozialen Gruppen mit schwierigen häuslichen Verhältnissen oder langer Armutserfahrung kommen. Ihr Leben war immer schon sehr hart, war immer schon ein Kampf, um das Schlimmste zu verhindern. Und doch ist das Schlimmste geschehen. Auch wenn sie als Bruch erlebt und formuliert wird, ist die Situation, mit der sie jetzt fertig werden müssen, letztlich nichts anderes als eine Extremform des bereits Bekannten. In diesem Prozess der Verwirrung kommt es zu einer extremen Besonderung, zum unmittelbaren Erleben des Schweigens und der sozialen Vereinsamung, zum Rückzug auf sich selbst. Doch das muss keine Selbstaufgabe sein; eher ist es ein Rückzug für sich selbst: eine Selbst-Erfahrung und ein Denken des Selbst, das Raum lässt für eine intensive Reflexivität und damit der herrschenden Vorstellung widerspricht, die meint, aufgrund der Unmittelbarkeit ihres ungewissen Lebens seien diese Menschen in einem ebenso unmittelbaren und ausweglosen Denken ihrer eigenen Lebensbedingungen gefangen. Emmanuel Levinas formuliert das in Totalität und Unendlichkeit sehr klar: „Die Innerlichkeit der Sammlung ist eine Einsamkeit in einer Welt, die schon menschlich ist“12. Diese Sammlung ist eine 12 Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1987, S. 221.
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Art und Weise, sich unmissverständlich als ein Selbst zu spüren, sie ist das, was diese Männer und Frauen suchen, als erstes Anzeichen für ein Aufbrechen dieser Einsamkeit. Von dieser Rückzugsposition aus beobachten diese Menschen die Gesellschaft. Denn so klar es ist, dass sie die Dinge lernen müssen, die sie für das schlichte Überleben auf der Straße brauchen (die Vorteile der Stadt ausfindig machen; die Netze der Hilfsmaßnahmen; die überwachungsfreien städtischen Räume; usw.), so unstrittig ist auch, dass sie lernen müssen, sehr genau die allgemeinen Mechanismen zu beobachten, nach denen die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft funktionieren: Machtspiele; Sozialversicherungspflicht und Anspruch auf soziale und sonstige humanitäre Leistungen; kleine oder große Unterwerfungen unter die Normen der Etablierten; Abschieben der politischen Verantwortung, aber auch menschliche Gesten, von Eigeninteresse getragene Zuwendung, um sich der Freundschaft, Solidarität und Gastfreiheit des anderen zu versichern. Aus alledem entsteht nach und nach eine Art Geheimwissen von der sozialen Wirklichkeit. In dieser unmittelbaren Erfahrung der vielfältigen Formen der Alltagsbeziehungen und in der Auseinandersetzung mit ihrem eigenen ungewissen „Dasein“ konstruieren und finden die obdachlosen Personen ihr In-der-Welt-Sein, eine Art Schulung im Selbstsein in einem extremen Leben. Es ist ein seelischer Kampf, ein Grundbaustein des Subjektivierungsprozesses dieser Menschen. Der einzige Augenblick, in dem ihr Dasein nicht verloren ist, ist genau der Augenblick, in dem sie spüren und sich dessen bewusst sind, dass es droht, ihnen verloren zu gehen.
(Sich) Territorien erschließen, Totalisierung des Selbst Dann nämlich gehen diese Menschen daran, Territorien für ihren Alltag, Territorien für „sich“ zu erschließen. Sie besetzen beharrlich den Raum der Stadt und stellen Öffentlichkeit her, indem sie durch ihre bloße, als unerwünscht und störend empfundene Anwesenheit den Konflikt in diesen Raum hineintragen, sich in ihm behaupten: „Ich bin hier, auch wenn ihnen das stinkt.“ Sie konstruieren Zufluchtsorte in den städtischen Zwischenräumen, Zufluchtsorte zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von denen aus sie sich die Stadt zugänglich machen und sie studieren können, wobei sie ein regelrechtes Wissen von ihrer Logik erwerben (so erfahren sie etwa von künftigen Baumaßnahmen, weil sie da sind, wenn die Stadtplaner kommen und erste Messungen vornehmen, und wissen, dass ihre Anwesenheit wieder einmal zum Problem wird). Sie bleiben ihren Revieren treu: „Ich bin von hier, die kennen mich hier alle in Nanterre, ich kann dir die Geschichte der ganzen Stadt erzählen“. Sie knüpfen (nicht immer konfliktfreie) Netze der Zugehörigkeit zu den Bewohnern, aus denen Netze der Anerkennung werden. Sie gehen in das Café an der Ecke, wo sie der Besitzer gastfreundlich aufnimmt; sie erledigen Gartenarbeiten für einen Nachbarn, der sie schwarz bezahlt; sie kennen die kleine alte Dame, die ihnen Futter für ihren Hund gibt und ihre persönlichen Habseligkeiten, ihre Erinnerungsstücke, in ihrer Garage aufbewahrt.
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Auf diese Weise bauen sie sich aus lauter Aktivitäten ein Tagesprogramm zusammen, das kompliziert und ermüdend ist, aber systematisch eingehalten wird, geradezu als Garantie für ihr Am-Leben-Sein. Sie brauchen dieses Tagesprogramm, denn die verschiedenen lebenswichtigen Ressourcen sind über die ganze Stadt verstreut, sodass sie unentwegt von einem Ort zum nächsten unterwegs sind. Dieses Unterwegssein führt zu einer Dauerfragmentierung ihres Alltags, die sie körperlich spüren und auf eine Weise schildern, die zeigt, wie sehr Körperlichkeit und Selbst ein lebenswichtiges Ganzes bilden. Alfred (fünfzig Jahre alt, kein Anspruch auf Sozialleistungen mehr) formuliert mit Nachdruck: „Bei so einem Leben gehst du richtig in Stücke, Kopf, Arme, Beine, jedes für sich. Du isst nicht da, wo du schläfst, du schläfst nicht da, wo du duschen gehst. Ja, du musst dir immer wieder sagen, warum du das machst, wenn du beim Rumrennen du selbst bleiben willst, man muss das einfach, wenn man nicht den Verstand verlieren will“. So muss man den Körper in Stand halten und sich um ihn kümmern, damit das „Selbst“ standhält, „trotz allem“. Deswegen ist es ihnen auch so wichtig, durch die spartanische Einteilung ihrer Lebenszeit so etwas wie Vernunft in diese aufgezwungene Fragmentierung zu bringen, um so ihrem Körper wieder zu einer Ganzheit zu verhelfen, die nichts anderes ist als die Unversehrtheit des Selbst. In einer extremen Lebenslage verschwimmen zwangsläufig die Grenzen zwischen Notwendigkeit und Selbsterhaltung, was kein Beweis für eine zu kompensierende oder zu überwindende Unzulänglichkeit ist, sondern eine Art und Weise, sich in der Ganzheit seines Seins zu behaupten. Hier wäre noch hinzuzufügen, dass diese Menschen, wenn sie den Forschern, die ihre Lebenspraktiken beobachten, von ihrem Alltagsleben erzählen, ausnahmslos betonen, wie wichtig ihnen dieser Schutz ihres Körpers und vor allem ihres Gesamtbildes ist, ihrer physischen Erscheinung. Man hört aus ihren Worten heraus, dass dies ihre Art ist, sich ihr Menschsein und, letzten Endes, sich als Person zu bewahren. Was sie da aber zu bestimmen versuchen, ist das „Vor-allem-MenschSein“. Und das ist etwas ganz anderes als das Denken in Restkategorien, das die Auffassung bestimmt, die die Sozialbeamten von den Obdachlosen und ihren Körpern haben, wenn sie behaupten, diese Menschen seien eben das, was übrigbleibt nach einem Leben der Verluste und des Elends. „Es sind trotzdem Menschen,“ wiederholen sie ein ums andere Mal. Das ist aber das Gegenteil dessen, was die obdachlosen Menschen von sich selber denken. Sie behaupten, ihr Menschsein sei „vor allem anderen“ unveräußerlich, es sei nicht mehr und nicht weniger als das nicht reduzierbare Menschsein eines jeden von uns. Im Rahmen dieses Prozesses der Selbst-Territorialisierung (im – meist öffentlichen – städtischen Raum) sprechen diese Menschen von ihren Leiden und stellen ihre Körper aus, Körper, die (beim Betteln, in ihrer über die Klage vermittelte Konfrontation mit den Institutionen) das Unerträgliche anprangern. Anzumerken ist auch, dass die vielfachen Narben, die ihre Körper tragen, nicht systematisch die Spuren eines leidvollen Lebens darstellen. Ich konnte feststellen, dass sie in den Augen dieser Menschen vor allem Markierungen sind, an denen das Vergehen der Zeit abzulesen ist, und zwar einschließlich der „guten alten Zeit“.
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Denn dieser Körper hat existiert. Ihr Körper wird zur Erzählung, zu einem Erinnerungsarchiv mit eingrenzbaren biografischen Epochen und Zyklen. Das ist kein bloß passiv den unheilvollen Folgen dieses extremen Lebens ausgesetzter Körper, es ist auch ein reaktiver Körper, der andere Bedeutungen eröffnet, sich für andere Bedeutungen öffnet. Wenn man ihn im öffentlichen Raum ausstellt, dann nicht nur, weil die extremen Lebensbedingungen einen dazu zwingen. Nicht wenige obdachlose Menschen sagen, sie könnten das nicht, sich auf der Straße zur Schau stellen und betteln. Wer es tut, hat also vor allem eine Entscheidung getroffen, sucht eine Art öffentlicher Zeugenschaft. Denn sie haben begriffen, dass das Leiden mitteilbar ist, weil es sozial ist, und dass es vor allem politisch ist, weil es sich an die anderen wendet. (Wobei es, damit sein politischer Sinn voll zum Tragen kommt, natürlich auch jemanden geben muss, der hinhört.) Damit sind der Körper, das Denken von sich selbst und das Denken der anderen nicht mehr voneinander zu trennen.
Hinwendung zu sich selbst Mit diesem Prozess der Selbst-Totalisierung treten die Menschen in eine Dynamik der Hinwendung „zu sich“ ein, in so etwas wie eine über die Geschichte der Selbst-Erfahrungen vermittelte Wiederaneignung des Selbst und Anerkennung ihrer selbst. Sie erinnern sich an den Tag, an dem sie Nein zum Chef sagen konnten, an den Tag, an dem sie ihr Handeln als rechtmäßig und richtig empfanden, daran, wie sie einmal über sich selbst hinauswuchsen, um dem anderen, ihrem Gefährten, zu helfen, und dies, als sie schon dachten, nicht einmal mehr für sich selber noch genug Kraft zu haben, sie vergessen ihn nicht, diesen Tag, an dem sie ungeahnte Kraftreserven in sich entdeckten, sozusagen einen Überschuss an Leben für den anderen. Diese Hinwendung „zu sich“ spiegelt sich auch in einer intensiven Erinnerungsarbeit wieder, die vor allem ihre Beziehung zu ihren gegenwärtigen und vergangenen Lebensräumen betrifft. Erinnerung, die die Orte der Kindheit heraufbeschwört, die Häuser, die sie verlassen mussten, lauter Orte, an die sie ständig physisch und in der Erinnerung zurückkehren müssen, um immer und immer wieder von ihnen zu reden. Wie eine Art unmittelbar gelebte Erfahrung, oft verbunden mit der Interpretation des Körpers: eine Narbe, ein Mal, eine Falte, die auf diese Orte verweisen.
Alterisierung des Selbst Dieser Prozess ist kein alles umfassender Abstumpfungsprozess, kein „Rette sich, wer kann“, bei dem sich die Individualität der Person in einer schreckenerregenden Vereinsamung verliert. Er ist auch kein Dialog, der bloß im Inneren der Person hin und her ginge. Dieser Dialog setzt voraus, dass man sich als Teil von konkreten historischen Interaktionen und Kontexten fühlt und denkt. Da dieses Denken des
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Selbst immer situationsgebunden ist, muss es der Forscher im Augenblick seines Entstehens erfassen, im Gedankenaustausch zwischen diesen Menschen und ihm oder zwischen ihnen und den anderen, im Alltagshandeln. Diese Totalisierung impliziert also die Anwesenheit des anderen. Ich konnte oft beobachten, wie sich diese Menschen den Sozialarbeitern anschlossen und versuchten, eine hyper-persönliche Beziehung aufzubauen, um so der institutionellen Anonymisierung zu entgehen. Was die Institution erwartet oder sich wünscht, ist ein auf eine isolierte Verantwortlichkeit (die vielgepriesene Eigenverantwortung) beschränktes Individuum, und die obdachlosen Menschen haben das sehr wohl begriffen; sie setzen ihm ein relationales Individuum entgegen, das ein Ganzes erst durch die Erweiterung hin zu den anderen wird, durch ein buchstäbliches Sich-Binden an die anderen. „Ja, ich bin ein anderer, der nicht derselbe ist wie der andere“ – mit diesem Wortspiel, das ein Anderssein in Bezug auf sich selbst wie in Bezug auf den anderen zum Ausdruck bringen soll, erheben diese Menschen Anspruch auf beides, die Alterisierung des Selbst und die Einzigartigkeit gegenüber dem Anderen. Sie wollen mit ihrem Vornamen oder Beinamen angesprochen werden, keinesfalls aber mit dem Nachnamen, der sie sozusagen amtlich auf eine Herkunft festlegen würde, die nicht mehr aktuell ist, während sie doch ein Teil der sozialen Welt sein wollen, nicht um „wie die anderen“, sondern um einer unter anderen zu sein. Auf die gleiche Weise konfrontieren die Obdachlosen die Institutionen mit einer biografischen Zeitlichkeit, die nie einer eindimensionalen und kontinuierlichen Logik folgt. In ihrer Logik werden vielmehr selbständige, nicht unbedingt zusammengehörige, das Selbst in seiner Vielfalt kennzeichnende biografische Bruchstücke aneinandergereiht, um zu verhindern, dass die Geschichte des Unglücks sich ihrer gesamten Biografie bemächtigt. Eine solche, aus Bruchstücken zusammengesetzte Narration kann immer wieder neu angeordnet und interpretiert werden und als Gedächtnisstütze dienen, damit man nicht vergisst, was geschehen ist, was man war, was man wird. Ihren vollendetsten Ausdruck findet diese lebenswichtige Alterisierung und Totalisierung des Selbst in der Freundschaftsbeziehung mit dem Peer und Gefährten, eine Freundschaft, die immer zugleich grundlegend für das materielle Überleben und für den seelischen Halt ist. Diese Menschen sind oft als Zweiergespann unterwegs. Die Beziehung hilft ihnen, aus dem befangenen Blick auf sich selbst herauszukommen und sich mit Hilfe eines Blicks, der ihnen nicht mehr nur das Bild eines negativen Individuums widerspiegelt, anders zu sehen. Sie bietet ihnen eine echte Zuflucht, denn sie ist eine soziale Bindung. Sie gibt ihnen das Gefühl einer gemeinsamen, auf einer geteilten Erfahrung beruhenden Zugehörigkeit und zugleich das Gefühl einer Zugehörigkeit, die es, weil sie so extrem ist, noch nie gab und von der nur sie allein Zeugnis ablegen können. Gleichzeitig vermittelt ihnen diese Beziehung auch ein Gefühl von der sozialen Welt, vom Zusammenleben mit anderen, die anders sind: Dieser Freund verbindet sie, mehr als die Institutionen, mehr als die Peergruppe, mit dem Kollektiv, wenn sie schon erschöpft aufgeben wollen. In diesem Freund ist die Erinnerung an den anderen aufbewahrt, und umgekehrt. Eine der Hauptsorgen dieser Menschen ist, dass der andere immer über
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das Geschehen auf dem Laufenden ist, denn dieser andere wird einmal Zeugnis von ihrem Leben ablegen und für die Kontinuität ihres Seins über einen Tod hinaus einstehen, der überall, und oft viel zu früh, auf sie wartet.13 Mit ihm wird es einen Zeugen geben, der das Wort über ihr Dasein auf der Welt und über ihr extremes Leben weitertragen kann. Freunde, sagt Agamben14, teilen nicht unbedingt „etwas“, aber sie teilen mit Sicherheit das Leben selbst. In einem extremen Leben, in dem es keine Besitztümer zu teilen gibt, wird dies zur wesentlichen Größe. *** Das Leben in einer Extremsituation wie jener, in der sich obdachlose Menschen befinden, lässt sich nicht auf eine passive, nur noch auf das bloße Weiterleben bedachte Existenz reduzieren, auf etwas, das nur noch in der Anstrengung des Überlebens bestünde; es ist im Grunde ein Kampf um (und für) das Leben. Und dieser Kampf ist der harte Kern und die eigentliche Voraussetzung des Subjektivierungsprozesses von obdachlosen Menschen. Ein Prozess auf der Grundlage einer unauflöslichen, aber strukturgebenden Spannung zwischen Notwendigkeit und Identität/Subjektivität, zwischen Körper und Seele, Materialität und Person, Elend und intensiver Soziabilität, lauter Begriffe, die ineinander übergehen und alle Barrieren niederreißen, um ein Sein zu konstruieren, das Dimensionen, die uns immer als antithetisch darstellt wurden, in einem Totalisierungsprozess zusammenbringt. Das extreme Leben, könnte man sagen, bringt einen dazu, diese Antithesen nicht mehr als solche zu begreifen oder nicht mehr für unüberwindlich zu halten. Zu der den obdachlosen Menschen aufgezwungenen Extremsituation, die wir im Anschluss an Van Gennep15 eine – erlittene oder auferlegte – „Schwellenphase“ oder Liminalität nennen könnten, kommt eine von der Person „konstruierte“ Liminalität hinzu, verzahnt sich mit ihr, besteht konkurrierend neben und im Dialog mit ihr. Eine „positive“ Liminalität nach dem Verständnis von Victor Turner16 oder eine aufgezwungene Liminalität im Sinne Spinozas, die die Quellen einer konstruierten Liminalität in sich trägt. Aus diesen beiden Dimensionen der Liminalität setzt sich eine in ständiger Bewegung befindliche Subjektivität zusammen, die somit nichts anderes ist als eine aktive, aber niemals den Wesenskern berührende 13 Daniel Terrolle, „La mort des SDF à Paris : un révélateur social implacable“, in: Études sur la mortThanatologie, n°122, 2002. 14 Giorgio Agamben, L amitié, Paris, Paris 2007. 15 Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt/New York/Paris 1986. Ein Übergangs- oder Schwellenzustand nach diversen Statusverlusten (hier der Status eines Arbeiters, Familienvaters, usw.), den Arnold Van Gennep als eine Gefahrenzone betrachtet, in der das Verhalten der Menschen antisozial wird. 16 Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/New York 1989 (engl. Originalausgabe: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, New York 1969). Turner geht von Van Genneps Begriff der Schwellenphase aus und erweitert ihn, indem er seine positive Dimension betont: als Befreiung von den Einschränkungen durch die vorgeschriebenen sozialen Rollen und damit als die Möglichkeit einer kreativen Sicht der Welt und einer Neuklassifikation der Wirklichkeit, die die Menschen zum Handeln und Nachdenken anregt.
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historische Erfahrung, in der es grundlegend und immer zugleich um das materielle und das seelische Überleben der betroffenen Menschen geht. Es geht um eine Erfahrung, die dem Forscher viel Aufmerksamkeit abverlangt: Er muss sich ihr in den vielen verschiedenen Formen, in denen sie auftritt oder zu deren Erforschung sie einlädt, nähern, muss sie erkunden, beschreiben und analysieren. Denn wie jede menschliche und soziale Erfahrung, erst recht aber die Erfahrung einer extremen Lebenssituation, fügt sie der Welt notwendigerweise etwas Neues hinzu. Aus dem Französischen übersetzt von Hella Beister
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Eine Topo-Technologie der Gefährlichkeit Digitale Einsperrtechniken, Subjektivierung und sozialer Raum I. Die Digitalisierung bringt traditionelle Raumsemantiken durcheinander, sorgt aber auch dafür, dass das praktische, das erlebte und politische Gewicht von als virtuell klassifizierten Räumen steigt. Mit Computern lässt sich nicht nur spielen. Vielmehr kann man auf virtueller Basis mit sehr realen Folgen Stahlkonstruktionen, Körpergewebe, Bewegungsspuren, Stimmprofile „kartieren“ und nach Meinung mancher sogar die Entstehungsorte des freien Willens. Im Folgenden konzentriere ich mich auf solche digitalen Aufzeichnungstechniken, die dem Umgang mit der einem einzelnen Menschen zugeschriebenen Gefährlichkeit dienen, genauer: dem Umgang mit verurteilten Straftätern. Ob „Subjektivierung“ ein geeignetes Stichwort ist, um die Probleme zu treffen, um die es gehen soll, will ich offenhalten. Digital-räumliche Technologien ermöglichen aber eine Sonderbehandlungen von Individuen, die als gefährlich gelten. Neue Formen einer anthropotechnischen Kartierung lösen das – vordergründig bewegungsfreie – Individuum aus dem gemeinsamen Raum heraus. Auf diese raumtechnische und zugleich sozialräumliche Perspektive kommt es mir an. Üblich und naheliegend ist es, elektronisches Monitoring von Personen als Problem des Datenschutzes zu diskutieren: Grenzen der Privatheit stehen in Frage. Daneben kann man es auch in den Zusammenhang der Überwachung stellen, Stichworte lauten dann „Panoptismus“ und „Kontrollgesellschaft“. In der ersten Perspektive geht es um persönliche Abwehrrechte. In der zweiten geht um ein Regime der Blicke, das in die Person regelrecht eindringt, denn wie wir seit Foucault wissen, ist es nicht zuletzt ein auf sich selbst angewandter Überwachungsblick, durch welchen sich das moderne Subjekt konstituiert – ähnlich einem Gefangenen in einer transparenten Zelle. Ich möchte einen anderen Ansatz wählen. Ich betrachte digitale, spezifisch auf den mobilen Körper zugeschnittene Einsperrtechniken nicht als Datengewinnungstechniken und auch nicht als Überwachungs- oder Selbstüberwachungstechniken, sondern als sozialräumliche Techniken. Sie manipulieren die in einem zu bestimmenden Sinne allgemeine, weil nämlich von allen gleichermaßen physisch geteilte wie auch physisch gleichermaßen geteilte Wirklichkeit des öffentlichen Raumes. Von daher meine These: Neuartige „Topo-Technologien“ der individuell zugeschriebenen Gefährlichkeit bringen körper-, technik- und raumpolitische Momente so zusammen, dass sie jenseits eines Bruchs der Privatheit oder eines entfesselten
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Überwachungsstaates den körperlich teilbaren Raum, einen neuartigen Angriff darstellen auf die physische Seite unserer öffentlichen Existenz. Was diese Technologien in Frage stellen, ist möglicherweise sogar überhaupt – in einer bestimmten körperräumlichen Hinsicht – das soziale Band.
II. Zu erzählen sind zunächst, ganz knapp, zwei untrennbare Geschichten: Die eine betrifft das Verbrechen, die andere neue, digitale Technologien. In den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten hat sich in den westlichen Ländern ein strafrechtspolitischer Wandel vollzogen – hin zu verschärften Tatbeständen, höheren Strafen und unter Präventionsgesichtspunkten entgrenztem Vollzug. Es passt zu dem, was man gern das politische Klima nennt, dass dieser Wandel bis heute wenig Beachtung findet. Der Soziologe Loïc Wacquant hat ihn als eine globale Welle beschrieben, die von den USA ausging und Europa schnell erfasste1, wobei die Medienberichterstattung – also die Vermarktung spektakulärer Fallgeschichten mit hohem Gruselfaktor – eine zentrale Rolle spielte. Deutsche Studien bestätigen das, in Deutschland bildet die Einführung des Privatfernsehens in den 1980er Jahren einen messbaren Einschnitt.2 Trotz seit den 1970er Jahren kontinuierlich sinkender Kriminalitätsraten fühlen sich die Öffentlichkeiten westlicher Zweidrittelgesellschaften heutiger Prägung zunehmend von Verbrechern umstellt. Politiker und Sicherheitsindustrien wissen das zu nutzen. Zero-tolerance Strategien werden ausgebracht und breit befürwortet. Das Ziel einer integrationsorientierten (Re)Sozialisierung verblasst. In den Vordergrund tritt die Idee eines „Kriegs“ – nicht nur gegen das Verbrechen, sondern schon gegen die bloße Abweichung sowie zunehmend auch die vermutete bloße Disposition zu Verbrechen. Paradigmatisch sind dabei Gewalt- und Sexualverbrechen, nicht etwa Wirtschaftsdelikte, die juristisch ebenfalls Verbrechen sind. In Deutschland steigen so seit Mitte der 1980er Jahre die Zahl der Inhaftierungen, die Länge der qua Urteil verhängten Haftzeiten und die Zahl der erst zum sogenannten Endstrafenzeitpunkt vorgenommenen Entlassungen. Sichtbares Zeichen einer geradezu dramatischen Veränderung auch der Rechtslage selbst ist die bundesgesetzliche Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Juli 2004.3 Allein aufgrund von Gefährlichkeitsprognosen so kann die zeitlich un1 Loïc Wacquant, Elend hinter Gittern, Konstanz 2000. 2 Vgl. Michael Windzio, Julia Simonson, Christian Pfeiffer, Matthias Kleimann, Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität in der Bevölkerung – Welche Rolle spielen die Massenmedien? Ergebnisse der Befragung zur Kriminalitätswahrnehmung und Strafeinstellung 2004 und 2007, Hannover 2007. http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb103.pdf [Stand: 4. August 2012] 3 Das Gesetz wurde veranlasst durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das diesbezügliche Ländergesetze für verfassungswidrig erklärte, den Bund aber zu einer bundesgesetzlichen Regelung autorisierte; vgl. BVerfG, 2 BvR 834/02 vom 10.2.2004, Absatz-Nr. (1-210) http://www. bverfg.de/entscheidungen/rs20040210_2bvr083402.html [Stand: 4. August 2012].
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beschränkte Fortsetzung einer Haftzeit angeordnet werden. Die Straftat also solche muss nicht mehr der Grund dafür sein. Erst nach einer Verurteilung, also etwa im Strafvollzug aufgetauchte Verdachtsmomente reichen aus. Das Recht „technisiert“ hier gleichsam den Umgang mit dem delinquenten Individuum: Sofern der Strafvollzug immer mehr Befugnisse erhält, verliert das richterliche Urteil an Gewicht. Es funktioniert nur mehr als Einstieg in potenziell unüberschaubare Prozeduren, bei denen Anstalten und Vollzugskammern das Sagen haben. Foucault hat eine vergleichbare Tendenz für das 19. Jahrhundert untersucht. Er sprach von einer „Rache des Gefängnisses“, also von Polizei- und Vollzug, „an der Justiz“.4 Auf öffentliche Bedenken stieß die nachträgliche Sicherungsverwahrung als für die deutsche Rechtsgeschichte beispiellose Hinwendung zu einem nicht mehr auf Taten, sondern auf psychologische Prognosen gestützten Täter-Einsperrungsrecht bis heute nicht. Der EU-Menschenrechtsgerichtshof hat die deutsche VerwahrPraxis im Jahr 2009 als menschenrechtswidrig beanstandet.5 Ein öffentliches Innehalten war nicht die Folge – wohl auch, weil der Bürger und die Bürgerin sich für Details rund um das von Kanzler Schröder seinerzeit pauschal geforderte „Wegsperren“ nicht interessieren. Die Gefährlichen, das sind immer die anderen. Was die Medien heute bewegt ist, dass im Gefolge des EU-Urteils und eines Verfassungsgerichtsentscheides6 einige Verwahrte auf freien Fuß gesetzt werden „mussten“: Lokale Verantwortungsträger reagierten mit einer 24-Stunden-Bewachung der Entlassenen durch mehrköpfige Polizeiteams. Die Wut des Steuerzahlers richtet sich in dieser Lage – paradox, wenngleich erwartbar – gegen die Straftäter und gegen das EU-Urteil, nicht aber gegen die Strafpolitik im eigenen Land. Das Recht gehorcht, so kann man bilanzieren, den pragmatischen Imperativen einer Mehrheitsgesellschaft, die sich zunehmend weniger auf Auseinandersetzung mit abweichendem Verhalten einstellen will. Stattdessen wird schnell und möglichst ohne Umstände Sicherheit „produziert“. Dabei regiert die gefühlte, nicht die statistisch objektivierte Gefahr. Entsprechend niedrig ist heute die Schwelle zur Ersetzung von Sozialprozessen durch – im weitesten Sinne – Geräte. Anders als die pädagogisch komplexe Vision der Wiedereingliederung eines Haftentlassenen steht das auf Aussonderung beruhende Motiv der Sicherung gefährlicher Individuen sehr viel unmittelbarer der Technisierung offen. Integration ist aufwendig und scheint stets Restrisiken zu bergen. Markierung und Absonderung – flankiert durch leicht umsetzbare Formen der Pathologisierung7 – eröffnen Szenarien anderen Typs. 4 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976, S. 328. 5 EMGR 19359/04 – M. vs. Germany – Urteil vom 17.12.2009, http://hudoc.echr.coe.int/sites/ eng/pages/search.aspx?i=001-96389 [Stand: 4. August 2012] 6 BVerfG, 2 BvR 2029/01 vom 5.2.2004, Absatz-Nr. (1-202), http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20040205_2bvr202901.html [Stand: 4. August 2012] 7 In diesem Zusammenhang fallen heute insbesondere Aussagen auf, die Neuroforschung wolle und solle sich der Gewalttäter annehmen. Gesichert weiß man über eventuelle Zusammenhänge von Hirn und Tat heute kaum mehr als vor einem Jahrhundert. Allerdings wird mittels sog.
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Die Herstellung von Sicherheit lässt sich vor allem dann als technisches Projekt abarbeiten, wenn man die Frage des zivilen Miteinanders räumlich angeht. Von Maximen der Absperrung, Lokalisierung und Fixierung lebt bereits die Erfindung des Gefängnisses – als gebaute, fluchtsichere Anstalt. Hier wird nicht länger ausgeschlossen, sondern eingeschlossen, wen oder was die Gesellschaft loswerden will. Es entstehen Sonderräume. Ob in ihnen Arbeits- oder Forschungsprojekte, Erziehungs- oder Verwahrprogramme das Bild bestimmen, ist eine Frage, die vergleichsweise kleine Entscheiderkreise bewegt, aber massenmedialen Aushandlungsprozessen unterliegt. Verschärfungen von Strafe und Strafvollzug sind Wahlkampfthemen. Gebaute Anstalten gibt es noch – und zwar zahlreiche. Auch in Deutschland ist die Tendenz steigend, aktuell bauen mehrere JVAs gesonderte Trakte für Sicherungsverwahrte an. Dennoch scheint sich das Dispositiv der Sicherheit von der architektonischen Einsperrung zunehmend auch abzulösen. Vielleicht sollte man von einem gesamtgesellschaftlichen „security-engineering“ sprechen8, welches das alte Thema des Verteilens und einer möglichst subtilen, kontrollierenden Lenkung der bewegten Körper im Raum auf neue Weise entdeckt. Dabei spielt auch Zeit, nämlich die prognostische und präventive Perspektive eine Rolle. Denn die Lenkung gilt insbesondere der raumzeitlichen Disziplinierung von Individuen, die als „gefährlich“ erachtet werden – oder genauer: die zu einem bestimmten Zeitpunkt aktenkundig für „gefährlich“ erklärt worden sind.
III. Damit zur zweiten Geschichte – derjenigen mobiler digitaler Personen-Sicherungstechnologien. Sie begann mit der Verbesserung der Erfassung von Ausweispapieren, aber auch mit der Ausweitung der visuellen Kamera-Überwachung. Durch den zusätzlichen Einsatz von Bewegungsmeldern, digitaler Bildaufzeichnung und digibildgebender Verfahren Grundlagenforschung betrieben. Dafür, solche explorativen Visualisierungen künftig auch zur Diagnostik und zur Rückfallprognostik zu verwenden, treten einzelne Neuroforscher lautstark ein. Sie adressieren Forderungen an die Rechtspolitik. Zunächst wurde mit dem Hinweis, Tätern fehle (wie letztlich jedem Menschen) der freie Wille, die Schuldstrafe attackiert. Inzwischen lautet das Argument, es sei humaner, beides – Schuldstrafe wie auch Sicherungsverwahrung – durch hirnphysiologische Diagnostik und am Hirn einsetzende Therapien zu ersetzen, vgl. Grischa Merkel/Gerhard Roth, „Langzeitverwahrung von Gewalttätern. Rechts- und neurowissenschaftliche Kritik am Straf- und Maßregelrecht“, in: Humboldt Forum Recht 17/2010, S. 251-279; http://www.humboldt-forum-recht.de/deutsch/17-2010/index.html [Stand: 4. August 2012]. Was, vorausgesetzt, man spricht Tätern Willen und Einsichtsfähigkeit sowieso auf Dauer ab, im Einzelfall eine Hirn-Therapie noch begrenzen würde (wie Therapie überhaupt aussähe) bleibt das Geheimnis der Beteiligten. Letztlich geht es wohl vor allem darum, welche Disziplin die hoheitliche Rolle übernimmt – und mit den Neuroforschern erhielten dann auch in puncto Gefährlichkeitsprognostik allein Geräte und ein naturalistisches Paradigma das Wort. Man kann nur hoffen, dass das Strafrecht hier weiterhin zögert. 8 Der Ausdruck existiert – zwar nicht als gesellschaftsdiagnostischer Terminus, aber als Stichwort, mit dem die Sicherheitsbranche ihr eigenes Tun beschreibt.
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talen Bilderkennungstechnologien sind hier im Laufe von wenigen Jahren gigantische Recherchemöglichkeiten entstanden. Maßgebliche Bildauswertungsschritte sind inzwischen teilautomatisiert möglich. Anstelle des menschlichen Auges wartet also am Ende der Kamera ein Datenspeicher, mit dem man arbeiten kann, das heißt: Bilddaten vergleichen, korrelieren, rastern und anderswie explorieren. Nicht mit der Aufzeichnung, sondern mit den Lesemöglichkeiten wird Überwachung ein flächendeckendes Phänomen. Die Macht hat ein „Auge“, sie ist „panoptisch“. Dieses eingangs schon erwähnte Stichwort Michel Foucaults hat die Debatte über Video-Überwachung über Jahre geprägt. Allerdings funktionierte das von Jeremy Bentham propagierte Panopticon als Prototyp eines Überwachungsbaus, technisch gesprochen, noch „analog“, und auch die von Foucault analysierte disziplinierende Wirkung durch das virtuelle – nämlich nur möglicherweise gerade vorhandene – Auge lebte von der Sichtbarkeit im wörtlichen Sinn: Ein Menschenblick ist auf den Delinquenten gerichtet. Dieser Blick prüft, forscht und repräsentiert ein moralisches Urteil oder auch eine psychosoziale Prognose. Als Blick registriert er, aber er tut auch, was nur Menschenblicke können: Er fordert Besserung, Selbstunterwerfung, Scham. Diese sowohl beobachtende als auch fordernde Disziplinierung formt das Subjekt.9 Ein halb misstrauischer, halb das Subjekt herausfordernder Panoptismus ist nach Foucault typisch für die Disziplinarmacht des 19. Jahrhunderts.10 Es liegt nahe, diese Befunde auf die Jetztzeit zu übertragen, denn verschwunden ist der Panoptismus nicht. Digitale Überwachung etwa von Gefängnis-Innenräumen lebt auch heute noch von direkt optischen Momenten. Der Formungs- und Besserungsaspekt scheint allerdings einem Moment der beschämenden Demütigung gewichen. Dies wird etwa an der US-amerikanischen Praxis deutlich, die Videoüberwachung von Gefangenen als Reality-Show im Fernsehen und Internet zu inszenieren.11 Ihre Entsprechung haben solche telemedialen Darbietungen in den visuellen Exzessen bei Gruppenspielen unter Jugendlichen und an Kriegsfronten – wobei die sadistisch-barocke Eigenkreativität privater Kameraführung nichts mehr gemein hat mit dem Benthamschen Blick, der idealer Weise die Strenge des demokratischen Gesetzgebers behält und weder bloß unterhaltend noch zur Abschreckung die Schaulust bedient. Betrachten wir aber Szenarien, in welchen sich digitale Monitoring-Technik gar nicht mehr primär ans Auge wendet. Gefängnismauern können inzwischen ersetzt werden durch mobile, unsichtbare Mechanismen. Überwachungskomponenten schaffen neue Formen eines Einsperrens, bei welchem nicht nur der Kontrollblick, sondern auch der Einsperrmechanismus selbst individuell angepasst 9 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 318 ff. 10 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 268: „Der Panoptismus ist das allgemeine Prinzip einer neuen ‚politischen Anatomie‘, die es nicht mit dem Verhältnis der Souveränität, sondern mit den Beziehungen der Disziplin zu tun hat.“ 11 Vgl. Harun Farocki, „Controlling Observation“, in: Thomas Y. Levin, Ursula Frohne, Peter Weibel (Hg.), Ctrl + Space. Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother, Karlsruhe 2002, S. 102-107.
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wird und sich mit dem Individuum aufs Engste verbindet. Dabei vergrößert sich der Bewegungsspielraum, die Verhaltensfreiheit aber kann womöglich umso gezielter eingeschränkt werden. Man mag die Entwicklung – wie die Gefängnisstrafe, welche die Marter ablöste – als Humanisierung werten. Richtig ist: Die Mauern fallen weg. Die Zugriffschärfe aber und die verhaltenskörperliche Spezifik des Einsperrens erreichen ein neues Maß. Die Sache ist nicht nur individuell bedeutsam, denn die neuen Techniken refigurieren auch weitergehend das Verhältnis von Körper und Raum. Wie interagieren unsichtbare Einsperrungen – und Aussperrungen – mit dem öffentlichen, mit anderen auch physisch in einem vorbehaltlosen Sinne geteilten Raum? Diese Frage erscheint mir auch deshalb wichtig, weil der Umgang mit Haftentlassenen möglicherweise nur der Einstieg ist in einen Wandel des alltagsräumlichen Miteinanders, in welchem es eine Fülle von potenziellen Einsatzgebieten für individualisierte Monitoring-Techniken gibt. Raumtechnische Überwachung lässt sich auch jenseits der „Gefährlichkeit“ beispielsweise durch Gefährdetheit begründen, durch vermutete Potenziale der „Störung“ oder einfach unter dem Gesichtspunkt, dass man jemanden noch nicht kennt. Umgekehrt kann individuelle Überwachung zur exklusiven Nutzungsbedingung werden – etwa am Arbeitsplatz oder in der Krankenbehandlung: nur wer sich dem Monitoring unterzieht, darf in den Kassenraum, ins Lager, ins Labor. Ich komme auf sozialräumliche und raumpolitische Fragen zurück, zunächst aber zu den durch digitale Optionen veränderten Technologien. Es handelt sich um Darstellungs-, Kartierungs- und vielleicht auch Subjektivierungstechnologien.
IV. Seit mehr als zehn Jahren werden in zahlreichen Ländern – USA, Japan, England, Österreich, besonders früh auch im deutschen Bundesland Hessen – Straftäter im offenen Vollzug oder noch darüber hinaus einem electronic monitoring ihres Aufenthaltsortes unterworfen. Hierzulande hat sich der Name „elektronische Fußfessel“ für die technischen Lösungen eingebürgert, die verwendet werden. Das deklarierte Ziel des in Hessen als Bedingung für eine Bewährungsstrafe mit dem/der Betroffenen vereinbarten Geräteeinsatzes war zunächst ein doppeltes: Die haftbedingte Trennung von Familien und Bekanntenkreis und also soziale Entwurzelung sollte vermieden werden, zugleich erhoffte man sich eine Senkung der Vollzugskosten.12 Hinzu kommt inzwischen offen eingeräumt ein auch empirisch belegter Vorbeu12 So betonte der zuständige Minister zum zehnjährigen Jubiläum der hessischen Lösung: „Der Eingriff in die Freiheit ist für den Einzelnen mit der EFF geringer als bei einer Inhaftierung. Da die Probanden in jedem Fall vor der Alternative der Haft stehen, haben wir hier eine Möglichkeit geschaffen, das Einsperren zugunsten einer sozialpädagogischen Maßnahme mit elektronischer Überwachung zu vermeiden.“ Hessisches Ministerium der Justiz, „Zehn Jahre elektronische Fußfessel“, Pressemitteilung vom 31.5.2010 http://www.hessen.de/irj/HMdJ_Internet?cid=b6d1e2e 95101f5c316b8bcb01546b4de [Stand: 4. August 2012].
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gungseffekt bei Korrelation von Ort und Tat. Das Instrument gilt (gute Prognose vorausgesetzt) als erfolgreich gerade auch bei Formen der an typische Situationen oder „Räume“ gebundenen Gewaltkriminalität.13 Wer vor allem nachts in Kneipen rückfällig wird oder immer nach dem Spiel am Stadion ausrastet, auf den passt die Arbeitsweise des Geräts. Mit der durch die europäische Rechtsprechung erzwungenen Reform der Sicherungsverwahrung kommt zu den Bewährungsfällen (also Monitoring während der Strafe) eine neue, völlig andere Zielgruppe hinzu. Seit 2012 wird die elektronische Fußfessel auch im Rahmen der sogenannten Führungsaufsicht eigesetzt, das heißt zur Überwachung von Auflagen, die schweren Straftätern nach der Verbüßung einer Langstrafe gemacht werden, also allein aus präventiven Gründen. Die dazugehörigen Ziele lauten: Opferschutz sowie Abschreckung. Durch die Technik besteht die Chance, neuerliche Straftaten wenn nicht zu verhüten, so doch sofort nachweisbar zu machen. Begünstigt wird gerade dieses neue Einsatzszenario durch verfeinerte Technologie. Die frühe Version der Fußfessel ähnelt einer Armbanduhr, wird tatsächlich am Hand- oder am Fußgelenk getragen und sendet in kurzen Intervallen Signale. Bei unerlaubtem Entfernen sowie bei schwacher Batterie oder bei Durchtrennen des Fußbandes erfolgt Alarm. In den ersten Jahren reichte die drahtlose Verbindung nur bis zu einer in der Wohnung des Betroffenen fest installierten Bodenstation, die dann ihrerseits über das Telefonnetz mit den im Verstoßfall zu alarmierenden Institutionen Verbindung hielt. Eine solche station based-Anlage leistet somit nicht die permanente Lokalisierung, sondern nur die Ortung zuhause. Es handelt sich um eine digitale Anwesenheits- oder aber Heimkehrkontrolle. Hierfür etabliert die Steuerungseinheit der Fußfessel ein scharfes Regime. Der Betroffene erhält „In“ und „Out“-Zeiten zugeteilt, abends besteht Heimkehrpflicht, zu anderen Zeiten (etwa denjenigen einer regelmäßigen Ausbildung oder Arbeit) darf man nicht zuhause sein. Ein Wechselspiel von Einsperrung und Aussperrung durchherrscht also den Tag. Die zeitlichen Toleranzspielräume sind gering, in Hessen erfolgte der Alarm nach fünf Minuten. Vor allem leere Batterien verursachen Fehlermeldungen, ansonsten aber wird das Arrangement, Untersuchungen zufolge, von den Betroffenen als technisch zuverlässig erlebt.14 Anders gesagt: Das System entfaltet vom Körper aus, an dem es sitzt, zwingend seine Macht. Spielräume beginnen erst nach dem Alarmfall: Mit der Aufsicht am anderen Ende des Telefons kann nach dem Eingang des Alarms noch verhandelt werden.
13 Vgl. Markus Mayer, Modellprojekt elektronische Fußfessel. Wissenschaftliche Befunde zur Modellphase des hessischen Projekts, Freiburg 2004 (Reihe forschung aktuell – research in brief des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Nr. 23). 14 Vgl. als Ethnographie zum Projekt elektronische Fußfessel Sven Bergmann, „Training des bürgerlichen Normalzustandes“. Magisterarbeit, Universität Frankfurt am Main 2004. http://www. copyriot.com/electronic-monitoring/ [Stand: 4. August 2012].
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Im Jahr 2011 wurde für den erweiterten Betrieb der deutschen „Fußfessel“ eine länderübergreifende Zentralbehörde geschaffen.15 Dazu sind seit 2012 die digitalen Komponenten optimiert. Endete bisher das eigentliche Monitoring (wie bei anderen frühen Systemen16) an der Haustür, so wird nun – nachdem es hinreichend kleine und leichte Batterie-Lösungen gibt17 – GPS-Technik eingesetzt, also satellitenbasierte globale Ortung. Dazu kommt das Mobiltelefonnetz: Fällt GPS aus, springt LBS ein, also Ortung wie bei einem Handy. Damit erweitert sich der Überwachungsraum enorm. Er umfasst Innen- wie Außenräume gleichermaßen und die Beobachtung funktioniert theoretisch nahezu global.18 Weiterhin lassen sich individualisierte Abwesenheits- und Rückkehrpflichten einstellen. Hinzu kommen aber präzise räumliche Vorgaben auf der digitalen Karte: ein Stadtplan bzw. eine Landkarte mit Gebots- oder Verbotszonen werden individuell definiert. In der Überwachungsstelle gehen die Fortbewegungsdaten des Überwachten kontinuierlich ein und können jederzeit abgerufen, um sie mittels einer digitalen Navigationskarte zu visualisieren. Der Alarm – jetzt in Echtzeit und auf den Meter genau – adressiert die Überwachungsbehörde, mit welcher der Überwachte seinerseits über ein gesondertes Mobiltelefon Kontakt zu halten hat. Weiterhin funktioniert das System im Grunde als doppelte Fessel, denn in der Regel wird im Alarmfall von der telefonischen Nachfrage abhängen, ob ein Polizeieinsatz erforderlich ist. Der am Körper festgeschnallte Sender und das obligatorische Handy formen also ein zweifaches Band. Das Ergebnis ist eine lückenlose räumlich-zeitliche Bindung, die sich in das private Raumschema des betroffenen Individuums einpasst, aber auch einen mehrfachen Kontrollraum schafft. Zeitraster und Verbots-Topologie, Alarmsystem, Überwachungskommunikation funktionieren somit bemerkenswert diskret. Das scheint einer Stigmatisierung vorzubauen. Dennoch zeigt die perfektionierte Anlage alle Merkmale einer ausge15 Die zentrale Koordinationsstelle der Länder (GÜL) wurde 2011 mit dem Rang einer Bundesbehörde geschaffen und hat 2012 im hessischen Bad Vilbel ihre Arbeit aufgenommen. Vgl. Hessisches Ministerium der Justiz, Zentrale für Aufenthaltsüberwachung elektronischer Fußfesseln bundesweit, Pressemitteilung vom 26. Januar 2012 http://www.hessen.de/irj/hessen_Internet?c id=b9b58e121157d8bfaa95cba2e85eb698 [Stand: 4. August 2012]. Die öffentliche Berichterstattung registrierte die neue Zentralbehörde erst, als ein Überwachter erneut straffällig wurde, vgl. aber Christian Rath, „Täter getürmt – oder Batterie leer?“, in: die tageszeitung vom 19.7.2011 http://www.taz.de/!74773/ [Stand: 4. August 2012]. 16 So verwendet etwa ein privates Gefängnis in Japan offenbar kabellose, von den Gefangenen in der Kleidung getragene Sender (die auf dem gesamten Gefängnisgelände zu orten sind) zur Reduzierung des Wachpersonals. Vgl. redaktionelle Meldung unter „In aller Kürze“, Frankfurter Rundschau vom 7. Oktober 2006. 17 Stabile und zumutbar dauerhafte Stromversorgung war tatsächlich über Jahre der Engpass der Technologie In Österreich wurde Anfang 2007 ein Feldversuch mit einer GPS-gestützten Fußfessel wegen permanenter Verbindungsunterbrechungen (und also) Fehlalarme abgebrochen. Vgl. „Mobile elektronische Fußfessel in Österreich gescheitert“, In: Heise Online News 17.01.2007 http://www.heise.de/newsticker/meldung/Mobile-elektronische-Fussfessel-in-oesterreich-gescheitert-135623.html [4. August 2012]. Die aktuell in Deutschland eingesetzten Akkus haben die Größe eine Taschenlampe und senden 11 bis 18 Stunden am Stück. 18 Praktisch stehen dem nach mündlicher Auskunft der GÜL bislang rechtliche Grenzen im Wege und auch Kostengrenzen, denn es werden die Dienste gewerblicher Netzanbieter genutzt.
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klügelten Disziplinierung. Rein technisch wäre die Totalaufzeichnung und die lückenlose Beobachtung von Bewegungsprofil, Aufenthalten etc. auch derjenigen Fesselträger, die eigentlich Haftentlassene und also freie Menschen sind, möglich. Eine Barriere bildet allein das Recht. Nur im Alarmfall darf die Überwachungsbehörde den Bildschirm mit der Überwachungsgrafik öffnen.
V. Eine gänzlich andere Lage entsteht überall dort, wo digitale Technologien eingesetzt werden, um der Forderung nachzukommen, die „Gefährlichkeit“ eines Individuums öffentlich möglichst transparent zu machen. Hier gibt es in den USA Realitäten, die in Europa kaum denkbar wären. In etlichen US-Bundesstaaten existieren nicht nur archaische Kennzeichnungssysteme – namentlich für entlassene Sexualstraftäter: Warnschilder müssen im Vorgarten postiert werden, am Auto, an der Kleidung.19 Vielmehr werden auch Personendaten, die Namen, Adressen und Fotos entlassener Straftäter über das Internet öffentlich zugänglich gemacht. Und die Dienste von Kartenanbietern und Google-Earth kommt hinzu: Im Stadtplan wie auf dem Satellitenbild können die Wohnsitze der Betroffenen geortet werden.20 Zum Zweck der Überwachung wird auf diese Weise die Öffentlichkeit im Ganzen mobilisiert. Schutzbedürfnis, Panik, Rache, Selbstjustiz: Digitale Massenmedien bedienen all dies gleichermaßen. Im digital erschlossenen Raum nimmt eine – massemedial entsprechend angeleitete21 – Öffentlichkeit die Sache gleichsam „selbst in die Hand“ und tritt dem Haftentlassenen in eigener Sache entgegen. Aus den USA werden Verfolgungsszenen berichtet bis hin zum Mord.22 Die Gesellschaft verfolgt hier nicht nur den Einzelnen, sie macht ihm sehr grundsätzlich den gemeinsamen Raum streitig oder sie besteht zumindest darauf, die Legalität von dessen Anwesenheit im topographischen Raum, durch sogenannte Megan’s-LawGesetze an Bedingungen geknüpft23, permanent zu kontrollieren. Überlegungen, welche in der deutschen GÜL in Bad Vilbel die Experten anstellen, werden in der Öffentlichkeit des Internets zu Gedankenspielen aller. Wie weit von Wohnsitz oder Arbeitsplatz ist der nächste Kindergarten entfernt? Welche Wege führen nah am Wohnort der gefährlichen Person vorbei? Hat die Person einen nachvollziehbaren „Grund“, sich hier oder dorthin zu bewegen? Sollten Sperr19 Vgl. Katja Gelinsky, „Hier wohnt ein Kinderschänder“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11. Februar 2007. 20 In der Diskussion häufig genannt: Kalifornien, Georgia, Delaware, New Jersey, Virginia, Texas. 21 Vgl. Lars-Marten Nagel, „Das Netz. Weil ihre Daten in den USA öffentlich gemacht werden, entstand ein besonderer Sexualstraftäter-Journalismus“, in: Süddeutsche Zeitung vom 30./31. Dezember 2007/1. Januar 2008. 22 Im April 2006 wurden William Elliot aus Maine und ein weiterer Mann erschossen. Der Mörder trug eine Liste von insgesamt 29 entlassenen Sexualstraftätern bei sich, deren Namen und Adressen er sich im Internet besorgt hatte. 23 „Megan’s Law“ wird das US-amerikanisches Bundesgesetz von 1996 genannt, das den Einzelstaaten die Information der Bürger über Sexualstraftäter in ihrer näheren Umgebung auferlegt.
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zonen womöglich durch Nachbarn oder Bürgervereine netzgestützt kontrolliert werden? Für Personen, die eine solche technikgestützte Wand des Misstrauens umfängt, wird die Teilhabe am öffentlichen Raum auf eine Weise begrenzt, die genauerer Betrachtung bedarf. Aus dem geteilten Raum aller sind hier Zonen der Apartheid herausgeschnitten, welche die Tatsache der Haftentlassung, also die de jure wiedererlangte Freiheit, Lügen strafen. Statt Einsperrung herrscht Ausschluss – wobei das lokale Aufenthaltsverbot verschärft wird durch eine Entblößung, die es nicht einmal mehr erlaubt, von Ausschluss zu reden. Denn das Draußen ist von überall einsehbar. Die Frage, wo ein z.B. als sexual offender verdächtiges Individuum sich hinbewegt, kann potentiell überall und immer zum Gegenstand des geballten Mißtrauens aller Rechtschaffenen werden. Es gibt kein Vor-den-Toren der Stadt, wo der Raum der Verbreitung digitaler Informationen gar kein Außen mehr kennt. Nicht Disziplinierung, sondern Schutz und Abwehr stehen im Zentrum dieser öffentlich entgrenzten Topologie. Die Anthropologie, die hiermit korrespondiert, unterstellt nicht Einsicht oder Erziehbarkeit, sondern einen Naturalismus der Gefährlichkeit. Perfektioniert eine Technologie wie die Fußfessel vor allem das institutionalisierte Sanktionswesen, so kommt die internetgestützte Entblößung von Haftentlassenen einer Verstoßung gleich. Sie eröffnet einem potentiell unbegrenzten Publikum die Möglichkeit der Hetze, der Schaulust und der Jagd.
VI. Vom Szenario der „Fußfessel“ und dem Szenario der durch Karten und Lokalisierungsoptionen sich bewaffnenden Internetöffentlichkeit noch jeweils kurz zu zwei weiteren Szenarien einer Permanent-Überwachung, die nicht mehr „im“ Raum, sondern tatsächlich mit digitalen Mitteln den sich bewegenden Körpern lesen. Ein naheliegender Schritt ist die Kopplung von Daten eines räumlichen Monitorings – (GPS-Daten oder die eines Mobilfunk-Gerätes), also – vermeintlich harmlos – die Vernetzung. Das räumliche Szenario verwandelt sich so in eine primär operative, nämlich aus digital erfassten und vernetzten Ereignissen zusammengesetzte Kartographie. Auch das kennen wir alle: Schon Mobiltelefone sind DatenVerknüpfungsmaschinen: Sie bieten einerseits Gesprächsinhalte, andererseits Aufenthaltsorte und Wege des Handynutzers, dazu präzise Zeitangaben und außerdem ökonomische Daten. Ähnliches gilt für individualisierte Datensätze aus Kartenzahlungs-, Bank- und Ticketautomaten, aus Überwachungskameras und sowieso aus Personalcomputern. Der neue technische Pfad des RFID-Produktweg-Monitoring lässt sich ebenfalls zum räumlichen Tracking von Kunden nutzen, ergibt aber auch andere Informationen: Was wurde in einem Geschäft gekauft und was nicht? Zu welchen Gelegenheiten wurden die markierten Schuhe oder Kleidungsstücke getragen? Was wurde wann gekauft, abgerufen oder kopiert? „Räume“ können in der Digitalwelt auch operative Schnittfelder, Koordinatensysteme für abstrakte Suchbilder sein – insofern gehen Topo-Technologien mit
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anderen digitalen Suchverfahren zahlreiche Verbindungen ein. Der Gesichtspunkt der Gefährlichkeit rechtfertigt neben Strategien der Gewinnung und Auswertung gerade auch solche der Verknüpfung von Daten. Öffentlich legitimiert erscheint der Einsatz von digitalen Verknüpfungsalgorithmen und data mining insbesondere dort, wo es um die vorbeugende Zerschlagung krimineller Gruppen geht oder wo international vorbereitete terroristische Straftaten verhindert werden sollen. Wie weit virtuelle Phantombilder des Gefährlichen künftig einsatzreif sein werden, ist schwer auszumachen – rasch scheint Naheliegendes doch wohl Science Fiction.24 Rein technisch jedenfalls gehen Spracherkennung und Bilderkennung sowie Verfahren, die im engeren Sinne „räumliche“ Daten auswerten, gehen – will man sie auf einer nächsthöheren Ebene zum Beispiel zum Zweck der Suche verknüpfen – immer irgendwie zusammen. Eine noch einmal anders geschnittene Digitaltechnik bietet hier einen bisher noch unbekannten Zugriffspfad. Sie verdankt sich den Möglichkeiten der Sensorik und setzt nicht mehr auf eine Kartographie des Aufenthalts und der Bewegung innerhalb von physischen Räumen sondern auf eine Interpretation der Körperbewegungen selbst. Nicht der Raum wird abgebildet oder der Körper im Raum lokalisiert, sondern allein der Körper wird betrachtet, um dann von diesen aus zurückzuschließen – auf eine (auch raumzeitliche) „Kartierung“ der Handlungen und der dazugehörigen Handlungsfelder des Individuums. Eine frühe Form dieser nicht Überwachung, sondern „Erkennung“ von Aktivitäten im Raum sind Verfahren der automatisierten Bilderkennung, die etwa (in Überwachungsvideos) nicht mehr auf Lokalisierung abzielen, sondern allein auf ungewöhnliche Bewegungsmuster „achten“. Die Echtzeit-Entschlüsselung von menschlichen Aktivitäten geht direkt an den Körper heran und arbeitet differenzierter. Sie benötigt nicht Kamerabilder, sondern setzt verteilte Lesegeräte voraus, die am Körper angebracht sind.25 Gewonnen werden Bewegungsdaten, aber auch beispielsweise akustische oder medizinische Messungen – etwa des Hautwiderstands als beliebtem Indikator für „Emotionen“26 – werden abgenommen und verrechnet. Ziel von Experimenten, die insbesondere die automatisierte Auswertung der anfallenden Sensordaten vorantreiben sollen, ist es, aus Echtzeit-Datenprofilen rechnerisch gleichsam „mitlaufend“ herauszuinterpretieren, was die überwachte Person gerade tut und womöglich empfindet. 24 Aktuellen Szenarien bemerkenswert nah kommt – auf einer Vorlage von 1956 beruhend – der von Steven Spielbergh gedrehte Film Minority Report (2002). Spricht das für den Realismus der Fiktion oder doch dafür, dass den Techniken eine letztlich fiktive Zielstellung innewohnt? 25 Im letzteren Fall dann auch RFID-Lesegeräte, die im Raum verteilt sind. Vgl. als frühe rechtliche Einschätzung solcher sogenannter RTAMP Szenarios Viola Schmid: Mastering the Legal Challenges. In: Claus Heinrich (Hg.): RFID and Beyond. Growing your Business through Real World Awareness. Indianapolis: Wiley 2005, S. 193-207. Ein aktueller Überblick über umstrittene Privacy-Fragen rund um RFID findet sich unter https://www.foebud.org. 26 Im Indoor-Bereich der Haft scheint dergleichen bereits in Erprobung, vgl. den BBC-Bericht vom 19.1.2006 über eine neben anderem mit digitaler „Emotionserkennung“ ausgestattete Haftanstalt in den Lelystad in den Niederlanden http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/4628186.stm. [14.2.2007]
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Als Einsatzgebiet für solche Lösungen nennt man zumeist die Altenpflege oder die Unterstützung von Behinderten im Alltag. Es liegt aber auf der Hand, wie ungeheuer das Anwendungsfeld für „intelligente“ Signalgebersysteme und automatisierte Auswertungsverfahren wäre. Bewegungsmuster ließen sich regelrecht „lesen“, ihr Sinn ließe sich also von innen her erschließen: Man erkennt nicht nur, dass ein Individuum den Arm hebt, man weiß, was es vermutlich gerade für eine Handlung ausführt – oder aber welche nur anders vollführbaren Handlungen gerade nicht. Selektiver Alarm und allerlei andere automatische Interventionen wären möglich, würde man eine solche Aktivitätenerkennung zur Überwachung oder Verhaltenskontrolle einsetzen. Dazu hätte man im Nachhinein nicht nur ein Bewegungsprofil, sondern die Aktivitäten des Betroffenen protokolliert. Mit einer nochmals erhöhten Tiefenschärfe entstünden Karten von Person und Leben.
VII. Abschließend möchte ich die These auf den Punkt bringen und zur Diskussion stellen, die ich eingangs angedeutet habe: Statt der individuellen privacy-Problematik oder der generellen Panoptismus-Diagnose tritt für mich die Frage nach dem sozialen Raum in den Vordergrund. In der Regel werden Diskussionen über Sinn und Grenzen digitaler Überwachung mit diesem Fokus – in Deutschland: als „Datenschutz“-Diskussionen – geführt: Wird eine Privatheit gestört, verletzt? Bis wohin hat der Staat zur Gefahrenabwehr ein Recht, trotz der Verletzung der Privatheit der Betroffenen persönliche Daten zu veröffentlichen oder diese abzunehmen und zu verwerten – etwa zur Gewalt-Prävention? Ich will die Relevanz dieser Form eines bürgerlichen Abwehrrechts, das in Deutschland die besonders starke Fassung eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung besitzt27, in keiner Weise bestreiten. Dennoch denke ich, mit den geschilderten Technologien ist auch die – von solchen Individualrechten und eben auch von der Panoptismus-Kritik noch einmal unterscheidbare – genuin politische Frage nach der Beschaffenheit und der Funktion des fraglos durch uns alle alltäglich geteilten öffentlichen Raumes betroffen. Gefragt werden muss namentlich nach der physischen Bedeutung des öffentlichen Raumes – sofern er nämlich nicht nur „frei“ (im Sinne von zugänglich), sondern auch „frei“ im Sinne physisch anonym geteilter und zwar – jedenfalls was die Wahrnehmung von Absperrungen und Verbotszonen angeht – mit allen geteilten öffentlichen Raums: Räumliche Grenzen müssen öffentliche Grenzen sein. Subtil können schon sichtbare Installationen selektive Grenzwirkungen entfalten. Wie der öffentliche Raum heutiger Metropolen durch Technologien der Ausgrenzung und der gewollten Segregation gefährdet sein kann, hat etwa Mike Davis
27 Ein solches wird durch die Judikatur zum deutschen GG seit 1983 aus Art. 2 Abs. 1 abgeleitet, vgl. BVerfGE 65, 1.
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in City of Quartz am Beispiel von Los Angeles beschrieben.28 Davis beschreibt die Gefahr, die dem heterogenen und was die Raumnutzung angeht: leidlich egalitären Zusammenleben moderner Städte durch Privatisierung droht. Privatstraßen, Nachbarschaftsallianzen – hier genießen Fremde allenfalls ein Gastrecht, das jederzeit entzogen werden kann. Davis beobachtet auch, wie die privaten securitySysteme, mit denen US-amerikanische Reiche sich abschirmen, strukturell dem in Privatisierung begriffenen Gefängnis-Sektor immer ähnlicher werden.29 Vielleicht kann man auch die von mir geschilderten Digitaltechniken zur Straftäterüberwachung interpretieren als eine von unbescholtenen Bürgern geforderte und vorangetriebene kollektive „Erweiterung“ ihres privaten Raums. Dennoch denke ich: Zurückdrängen bzw. Verschwinden des öffentlichen Raumes aufgrund eines Vordringens kontrolliert-kontrollierender Privatheit – eine solche Diagnose mag plausibel wirken, aber sie reicht nicht hin.
VIII. Was verändert sich, wenn die – jedenfalls in Europa – im Alltag ganz selbstverständlich in Anspruch genommene Voraussetzung eines gemeinschaftlich geteilten öffentlichen Raumes nicht mehr für alle gilt? Diese Frage führt auf einen elementaren Zusammenhang zwischen der Sozialität des physischen Raumes und einer auf basale Weise selbstverständlichen Egalität und Reziprozität räumlicher Gegebenheiten, die wir uns wechselseitig zubilligen, sofern wir einen Körper haben – und dieser („subjektivierte“?) Körper ja tatsächlich auch sind. Fassen wir das konkret. Wir leben in der urbanen Rechtstradition Europas in einer Welt genuin öffentlicher Räume. In diesen besteht die Gewissheit, dass man sich außerhalb von bezahltem Wohnraum im Freien aufhalten kann, dass Anonymität toleriert wird, dass Fremde wie Bürger die gleichen Straßen und Plätze benutzen, dass – von der Uhr bis zum Hinweisschild – symbolische Gliederungen zeitlicher und räumlicher Art sich an alle adressieren und vor allem: dass der öffentliche Freiraum allen die gleichen physischen Bedingungen stellt. Wohlgemerkt: Gleich sind nicht die Rollen in diesem konditionierten Raum. Der eine mag eine Parkberechtigung besitzen, der andere keine. Gleich sind auch nicht Aufwände, die es für Individuen bedeutet, sich in diesem Raum zu bewegen. Wer klein ist oder an Krücken geht, hat mit Hindernissen mehr Mühe als andere. Gleich sind auch nicht die bevorzugten Orte. Bis heute tun Frauen in öffentlichen Räumen gut daran, sich Orte des Aufenthalts, des Hinsetzens, Orte für Gespräche etc. jeweils mit Bedacht zu wählen – auch wenn es diesbezüglich de jure keine Unterschiede gibt. Der bürgerlich-geteilte Raum mag also Grenzen haben und
28 Vgl. Mike Davis, City of Quartz. Excavating the Future in Los Angeles, London, New York 22006. 29 Ebd., S. 251.
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er hat auch Zugangsbedingungen.30 Als physisch gemeinsamer Raum ist er kein Kontinuum, und er ist nicht egalitär, denn er kann von Zutrittsverboten, Zäunen, Barrieren etc. „gekerbt“ sein. Womöglich enthält er auch halböffentliche Zonen, in die man erst initiiert werden muss, Gegen-Räume oder – um Foucaults HalbMetapher zu bemühen – „Heterotopien“.31 Gleichwohl tritt uns dieser öffentliche, vielleicht sollte man sagen: republikanische Raum, der uns so selbstverständlich geworden ist, in einem fraglos offenen physischen Modus entgegen. Ich kann davon ausgehen, dass, wenn für Dich eine Barriere existiert, auch ich diese wahrnehmen kann – und dass da, wenn ich nichts wahrnehme, auch für Dich und alle anderen keine Barriere ist. Eine nicht rechtlich oder ästhetisch aber doch körperlich gleichsinnige Welt mit anderen zu teilen – diese gelebte Voraussetzung stiftet die teilbare Wirklichkeit dessen, was wir subjektiv dann unseren ‚eigenen‘ Körper nennen. Dass der dauerhafte Verlust eines physisch als den anderen noch mehr oder weniger „gleich“ unterstellbaren Körperspielraums nicht nur einschränkt, sondern der Realität entfremdet, erklärt die existentielle Schärfe bestimmter Krankheiten. Erkrankungen oder schlimme Behinderungen können jemandem die Grundlage nehmen, den gemeinsamen Raum in der Gewisstheit jener Teilbarkeit und körperlichen Reziprozität der physischen Realität zu bewohnen. Vielleicht kann man daher die am Körper fixierte digitale Monitoring-Schnittstelle der Zufügung einer Körperbehinderung vergleichen. Sie ähneln einer Verstümmelung – mit welcher der Überwachte, obzwar er sich in der öffentlichen Sphäre aufhalten kann, fortan in einem anderen Raum zu leben hat als alle anderen. Dies wäre mein erster Punkt: Die geschilderten Techniken beschränken nicht nur Bewegungsräume. Sie versehren auf elementare Weise die sozialräumliche Seite der Körperlichkeit. Das ist, auch von möglichen Subjektivierungseffekten her betrachtet, nicht harmlos. Mein zweiter Punkt betrifft die Spezifik der virtuellen Barriere. Sie unterminiert die mehr oder weniger selbstverständliche Gewissheit, dass räumliche Einschränkungen des öffentlichen Lebens zwar möglich sind, dann aber ihrerseits „publik“ sein müssen oder zumindest faktisch publik sein werden: weil das Gemeinwesen sie ausflaggt oder spätestens, weil die Bürger sie sehen, hören, wahrnehmen – kurz: weil sie in derselben öffentlichen Topographie leben. In Demokratien gibt es keine Geheimgefängnisse, nicht nur weil diese einer Kontrolle unterliegen sollen, sondern auch, weil ein Staat öffentlich zeigen können muss, wo und was ein Gefängnis ist. So wird nicht nur Rechenschaft über das Einsperren ablegt, sondern der Raum der Einsperrung ist gewissermaßen von dieser Welt.
30 In Zeiten des Nationalstaats ist dies etwa die Frage nach der Staatsangehörigkeit. Das Problem des Aufenthalts und des Gastrechtes hat eine lange Tradition in der Diskussion über „bürgerliche“ Freiheit. Die Fraglosigkeit, auf die ich abziele, spiegelt sich in dem auf die Aufklärung zurückgehenden Verbot, jemandem die einzige Staatsangehörigkeit zu entziehen, die er besitzt, ihn also staatenlos zu machen: vogelfrei und ohne legale Teilhabe am Raum. 31 Vgl. zu den gekerbten Räumen Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992; zu den Heterotopien Michel Foucault, „Von anderen Räumen“ , in: Schriften Bd. 4. Frankfurt am Main 2005, S. 931-942 (Nr. 360).
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Etwas allgemeiner ausgedrückt gehört zum geteilten Raum des physischen Miteinanders die soziale Teilbarkeit der Wahrnehmung – und in diesem Sinne die „Realität“ – seiner Grenzen. Der geteilte Raum ist derjenige, in dem es eine gemeinsame Sichtbarkeit von Schranken, gemeinsame Landmarken und daher nicht für jeden einen Einzelplan, sondern eben gemeinsame Landkarten gibt. Auch Symbole, die den öffentlichen Raum teilen, müssen eine Materialität besitzen – nicht weil der soziale Raum mit dem physikalischen identisch wäre, sondern weil der soziale Raum kein esoterischer Raum sein kann. Grenzen, die nur ich und wenige andere kennen, haben kein im vollen Wortsinne reales Gewicht. So scheint die materielle, die fraglos auch für die anderen als materiell erlebbare Seite unserer leiblichen Realität Bestandteil unseres Kontrakts über das zu sein, was wir „räumliche“ Wirklichkeit nennen. Es gibt einen Sozialvertrag, demzufolge wir zwar nicht alle gleiche Körper haben, aber doch alle davon ausgehen dürfen, dass „freie“ Räume solche sind, in denen wir de jure an eine Gleichheit der Körper glauben dürfen – so dass, wo diese Gleichheit fehlt, sie hergestellt werden muss. Die durch die Behindertenbewegung energisch vorangebrachte Forderung einer Barrierefreiheit öffentlicher Räume folgt nicht nur aus vielen einzelnen Individualrechten. Sie folgt auch aus dem hier umschriebenen sozialräumlichen Sosein des öffentlichen Feldes – wobei gemeinsame Räume auch nicht einfach so etwas wie Gemeinschaftseigentum sind, denn es geht nicht um Eigentum oder property, sondern um eine Teilhabe, die bereits mit der physischen Existenz beginnt. Im Blick auf die neuen Möglichkeiten dauerhafter elektronischer Aufenthaltsreglementierung möchte ich ergänzen: Besonders wichtig scheint mit der Etablierung virtueller Hafträume nun die Frage der Grenzen und Grenzmarkierungen zu werden. Gerade individualisierte Grenzen müssten eigentlich öffentlich wahrnehmbare sein, nicht um den Betroffen zu stigmatisieren, sondern um zu zeigen, welchem Regime man ihn unterwirft. Andres gesagt: Wäre das Fußfessel-Arrangement sichtbar, würde sich die Frage der Vereinbarkeit dieser technischen Lösung mit Grundrechten und mit unserem demokratischen Zusammenleben vermutlich sehr viel schärfer stellen. Die Topologie des Sozialen und der bürgerlichen Freiheit sind archaisch mit unserem Glauben an unsere Wahrnehmung verbunden. Und das ist gut so. Wir vertrauen darauf, dass der frei ist, der sich frei bewegt. „Geheime“ oder nur für wenige sichtbaren Stadt- oder Landesgrenzen gibt es ebensowenig wie einen Freiheitsbegriff, der mit der Idee einer Teilzugänglichkeit der öffentlichen Sphäre vereinbar wäre. So sind vereinzelnde Sperren, die nicht auf einem für alle gleichermaßen existierenden Hindernis beruhen, sondern den Körper mit technischen Mitteln speziell beschränken, nicht nur ein Angriff auf das Individuum, sondern auch auf den öffentlichen Raum.
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IX. Digitalen Sonderzonen richten vergleichbar einem Phantomglied eine entfremdete Räumlichkeit am Körper des Betroffenen ein. Funksignale, Steuerungssoftware, Stadtpläne, Entfernungsangaben – ganze virtuelle Topographien müssen „eingekörpert“ werden, ähnlich wie nach Foucaults Analyse im Panoptikcon der Blick des Bewachers verinnerlicht wird. Die Machtwirkung zielt dabei womöglich noch tiefer als das Stichwort „Subjektivierung“ benennen kann. Das für gefährlich erklärte Individuum wird nicht mit einem Selbstblick, sondern mit einem Sonderkörper geschlagen. Und das räumliche Regime wird nicht allein verhängt über den Einzelnen. Es wird in einer Weise verhängt, die zugleich das Regime als solches der allgemeinen Wahrnehmung entzieht – und der durch die physische Öffentlichkeit materieller Zeichen geteilten Welt. Aus Sicht von Strafvollzugsbehörden hat die elektronische Fußfessel Vorteile. Unternehmen, die an ganz andere Zielgruppen denken, interessieren sich für den rechtlichen Rahmen des Systems. Fußfesselträger/innen akzeptieren – die Einsperrung vor Augen – die Maßnahme als kleineres Übel. Meine These lautet dennoch, dass auch die Fußfessel, wenngleich vermittelt, auf physische Weise einsperrt. Die digitalen Technologien einer unsichtbar „eingekörperten“ Sperrzone errichten ein neues, auf elementare Weise dissoziierendes Körperschema. Sie zerreißen das physische Doppelband – zu jenem politisch einen Raum und zugleich jenem unterstellten einen Sozialen, die gemeinsam als Matrix von Subjektivierung fungieren. Seit Europa sich von Körperstrafen verabschiedet hat, wird respektiert, dass die körperliche Erfahrbarkeit dieses Raumes mit dem korrespondiert, was wir Freiheit nennen. Freiheit wiederum bedarf teilbarer, mitteilbarer, genuin öffentlichkeitsfähiger Formen – und eben auch des Glaubenkönnens an das Prinzip physischer Gleichräumigkeit.
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Zu den Autorinnen und Autoren THOMAS ALKEMEYER ist Professor für Soziologie und Sportsoziologie sowie Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ausgewählte Publikationen: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013 (Herausgabe mit Gunilla Budde und Dagmar Freist); Bewegen und Mit-Bewegen. Zeigen und Sich-Zeigen-Lassen als soziale Körperpraxis. In: Schmidt, Robert/Stock, Wiebke-Marie/Volbers, Jörg (Hg.): Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit, Weilerswist 2011, S. 44-72; Ordnung in Bewegung – Choreographien des Sozialen, 2009 (Herausgabe mit Kristina Brümmer, Rea Kodalle und Thomas Pille). ULRICH BRÖCKLING ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ausgewählte Publikationen: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007; Governmentality. Current Issues and Future Challenges (Herausgabe mit Susanne Krasmann und Thomas Lemke), New York/London 2011 (Routledge Studies in Social and Political Thought, Vol. 71); Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld 2010 (Herausgabe mit Robert Feustel). STEFANIE DUTTWEILER ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sportwissenschaften der Universität Frankfurt. Ausgewählte Publikationen: Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie, Konstanz 2007; Fragen Sie Dr. Sex. Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen, Berlin 2010 (Herausgabe mit Philipp Sarasin u.a.); „Die Beziehung von Geschlecht, Körper und Identität als rekursive Reponsivität. Eine Skizze, in: Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien 1/2013 JOSEF FRÜCHTL ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Kunst- und Kulturphilosophie an der Universität von Amsterdam (UvA). Ausgewählte Veröffentlichungen: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, Frankfurt/M. 1996; Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens (Herausgabe mit Jörg Zimmermann), Frankfurt a. M. 2001; Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 2004 (engl. Übers. The Impertinent Self. A Heroic History of Modernity, Stanford University Press 2009). PETRA GEHRING ist Professorin für Philosophie am philosophischen Institut der TU Darmstadt. Ausgewählte Publikationen: Theorien des Todes. Zur Einführung. Hamburg 2010, 2. Aufl. 2011; Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung. Frankfurt am Main, New York 2008; Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt a. M./New York 2006; Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit, Zürich/Berlin 2012 (Herausgabe mit Andreas Gelhard).
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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN
ANDREAS GELHARD ist wissenschaftlicher Leiter des Forum interdisziplinäre Forschung und wissenschaftlicher Mitarbeiter am philosophischen Institut der TU Darmstadt. Ausgewählte Publikationen: Kritik der Kompetenz, Zürich/Berlin: diaphanes 2011; Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit, Zürich/Berlin: diaphanes 2012 (Herausgabe mit Petra Gehring); „Das Dispositiv der Eignung. Elemente einer Geschichte der Prüfungstechniken“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1/2012, S. 44-60. CLAUDIA GIROLA ist Maître de Conférences de Sociologie et Anthropologie an der Universität Paris-Diderot (Paris 7) und Forschungsmitglied am Centre de Sociologie des Pratiques et des Représentations Politiques (CSPRP). Letzte Publikationen: Vivre sans abri. De la mémoire des lieux à l’affirmation du soi, Paris: Éditions rue d’Ulm 2011; „Du don à la transaction : le cas des personnes sans abri“, in L. Fontaine et F. Weber (Hg.), Les paradoxes de l’économie informelle. A qui profitent les règles ?, is:Pa Karthala 2011; Paris refuge. Habiter les interstices, Paris: Éditions du Croquant 2011, (mit M.Agier, F.Bouillon, A.Vallet und S.Kassa). RUBEN HACKLER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich und Doktorand am Zentrum „Geschichte des Wissens“ (ETH | Universität Zürich). Ausgewählte Publikationen: „Wahrhaftigkeit“, in: Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch, Ute Frietsch/Jörg Rogge (Hg.), Bielefeld 2013 (im Erscheinen); „Die Allianz von Recht und Medizin um 1903. Eine Fallstudie zu Daniel Paul Schrebers Selbstbehauptungsstrategien im Rechtsstreit um seine ‚Geschäftstüchtigkeit‘“, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1/2010, S. 114-126. BRITTA HOFFARTH ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich „Allgemeine Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Bildungstheorie und kulturwissenschaftlichen Bildungsforschung“ an der Philosophischen Fakultät III der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ausgewählte Publikationen: Performativität als medienpädagogische Perspektive. Bielefeld 2009; Differenz unter Bedingungen von Differenz. Reflexionen zu Lehre an der Hochschule, Wiesbaden 2013 (Herausgabe mit Susann Fegter, Birte Klingler, Claudia Machold, Paul Mecheril, Margarete Menz, Melanie Plößer, und Nadine Rose); Dispositivforschung. Analytische Einsätze zu Raum, Bildung, Politik Wiesbaden 2013 (Herausgabe mit Joannah Caborn-Wengler und Lukasz Kumiega). ANDREAS KAMINSKI ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Ausgewählte Publikationen: Technik als Erwartung. Grundzüge einer allgemeinen Technikphilosophie. Bielefeld: Transcript, 2010; „Prüfungen um 1900. Zur Genese einer Subjektivierungsform“, in: Historische Anthropologie, 2/2011, S. 331–353; „Psychotechnik und Intelligenzforschung: 1903-1933“, in: Coenen, Christopher/Gammel, Stefan/Heil, Reinhard/Woyke, Andreas (Hg.): Die Debatte
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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN
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über „Human Enhancement“. Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen. Bielefeld: Transcript, 2010, S. 117–142. MARTIN KNÖLL ist wissenschaftlicher Leiter der UNICO-Forschungsgruppe „Urban Health Games“, die an den Fachbereichen Architektur bzw. Elektro- und Informationstechnik der TU Darmstadt angesiedelt ist. Ausgewählte Veröffentlichungen: Martin Knöll, Magnus Moar und Stephen Boyd Davis, „Spontaneous Interventions for Health“, in: Serious Games, Alternative Realities, and Play Therapy, Berlin 2013. Martin Knöll, Urban Health Games. Collaborative, Expressive & Reflective. Dissertation, Universität Stuttgart 2012. Martin Knöll und Magnus Moar, „The Space of Digital Health Games“, in: International Journal of Computer Science in Sport, XI (2012). KÄTE MEYER-DRAWE ist Professorin für Allgemeine Pädagogik im Institut für Erziehungswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ausgewählte Publikationen: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München: E. Kirchheim 22000; Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München: Fink 2 2007; Diskurse des Lernens. München: Fink 22012. MATTHIAS MICHAELER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Soziologie und Sportsoziologie des Instituts für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er arbeitet zur Zeit an einer empirischen Studie zum Teambuilding im Volleyball. Ausgewählte Publikationen: „Starke und schwache Verfahren“ (zusammen mit Thomas Scheffer und Jan Schank), in Zeitschrift für Soziologie Jg. 37, Heft 5, 2008; „Die Realität medialer Berichterstattung“ (zusammen mit Steffen Albrecht, Jan Schank, Thomas Scheffer, Rixta Wundrak), in: Soziale Welt 61, Heft 2, 2010 JAN MÜLLER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am philosophischen Institut der TU Darmstadt. Ausgewählte Publikationen: „Begriffliches Sprechen. Zur sprachphilosophischen Grundkonstellation der frühen Kritischen Theorie“, in: Völk, M./ Schreull, S. et al. (Hg.), „wenn die Stunde es zulässt.“ Zur Traditionalität und Aktualität kritischer Theorie, Bielefeld 2012, S. 173-202; „Das Handeln und die Eule der Minerva. Oder: Wie provisorische Moral und Ironie zusammenhängen“, in: Fischer, P./Luckner, A./Ramming, U. (Hg.), Die Reflexion des Möglichen. Zur Dialektik von Erkennen, Handeln und Werten, Berlin 2012, S. 87-101; „‚Erinnern‘ und ‚erinnert werden‘. Zur logischen Grammatik einer Wissensform“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 3/2009, S. 271-282. NUMA MURARD ist Professor für Soziologie an der Universität Paris-Diderot (Paris 7) und Directeur de laboratoire am Centre de Sociologie des Pratiques et des Représentations Politiques (CSPRP). Letzte Publikationen: Deux générations dans la débine, Enquête dans la pauvreté ouvrière, Paris: Bayard 2012; „La pauvreté entre l’assistance et le travail“, in: Robert Castel, Claude Martin (Hg.), Changement et
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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN
pensées du changement, Paris: La découverte 2012, S.145-155; „Rotorno su une ricerca. Etnografia di une cita operaia. Elbeuf 1980-2010“, in: Sociologia Urbana e Rurale, N°95, 2011, Anno XXXIII, Milano: Franco Angeli, S.18-44. SABINE REH ist Professorin für Historische Bildungsforschung an der HumboldtUniversität zu Berlin und Leiterin der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung). Ausgewählte Publikationen: „Das Konzept der Adressierung. Zur Methodologie einer qualitativ-empirischen Erforschung von Subjektivation“, in: Miethe, Ingrid/ Müller, Hans-Rüdiger (Hg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 35-56 (zusammen mit Norbert Ricken); Aufmerksamkeit. Geschichte – Theorie – Empirie (Herausgabe mit Kathrin Berdelmann und Jörg Dinkelaker). Wiesbaden: Springer VS 2013 (im Erscheinen); „Learning Spaces without Boundaries? Territories, power and how schools regulate learning“, in: Social and Cultural Geography. Special Issue Embodied Dimensions and Dynamics of Education Spaces, Vol. 12, No. 1, 2011, pp. 83-98. NORBERT RICKEN ist Hochschullehrer für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Bremen. Ausgewählte Publikationen: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006; Judith Butler: Pädagogische Lektüren (Herausgabe mit Nicole Balzer), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012; „Das Konzept der Adressierung. Zur Methodologie einer qualitativ-empirischen Erforschung von Subjektivation“ (mit Sabine Reh), in: Miethe, Ingrid/Müller, Hans-Rüdiger (Hg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie. Opladen/ Farmington Hills: Barbara Budrich 2012, S. 35–56. MARTIN SAAR ist Privatdozent am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und vertritt dort gerade die Professur für Politische Theorie und Philosophie. Ausgewählte Publikationen: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main/New York 2007; Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt/M. 2009 (Herausgabe mit Rainer Forst, Martin Hartmann und Rahel Jaeggi); Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Berlin 2013. ROBERT SCHMIDT ist z. Zt. Vertretungsprofessor für Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Ausgewählte Publikationen: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin: Suhrkamp 2012; „Siting Praxeology. The Methodological Significance of ‚Public‘ in Theories of Social Practices“ (mit Jörg Volbers), in: Journal for the Theory of Social Behaviour 41(2011), S. 419-440; Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu (Herausgabe mit Volker Woltersdorff ), Konstanz (UVK) 2008.
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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN
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CHRISTIANE THOMPSON ist Professorin für „Allgemeine Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Bildungstheorie und kulturwissenschaftlichen Bildungsforschung“ an der Philosophischen Fakultät III der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Ausgewählte Publikationen: Wissen, Paderborn 2011 (Herausgabe mit Alfred Schäfer); Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik, Opladen 2012 (Herausgabe mit Werner Thole, Sabine Reh u. a.); Inszenierung und Optimierung des Selbst. Wiesbaden 2013 (Herausgabe mit Ralf Mayer und Michael Wimmer). KAI VAN EIKELS ist Privatdozent an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind dynamische Kollektivformen wie „Schwärme“ oder „Smart Mobs“, Virtuosität und postfordistische Arbeitskulturen, Politiken der Partizipation, transdisziplinäre Performance Studies. Aktuelle Publikationen: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn: Fink 2013; Prekäre Exzellenz: Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen (Herausgabe mit Gabriele Brandstetter und Bettina Brandl-Risi), Freiburg i.Br.: Rombach 2012; Performance Research Journal 16:3 „On Participation and Synchronization“ (Herausgabe mit Bettina Brandl-Risi), London u.a.: Routledge 2011. FRIEDER VOGELMANN ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) der Universität Bremen. Ausgewählte Publikationen: „Foucaults Praktiken“, in: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte 3.2 (2012), S. 275-299; „Neosocial market economy“, in: Foucault Studies 14 (2012), S. 115–137; „Foucaults parrhesia – Philosophie als Politik der Wahrheit“, in: Petra Gehring und Andreas Gelhard (Hg.), Parrhesia. Foucaults letzte Vorlesungen – philosophisch, philologisch, politisch, Zürich/Berlin 2012, S. 203–229.
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