Zur Epigenese der Person 9783495813676, 9783495488683


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Inhalt
Vorrede
1. Der Aufbau der Person
2. Enge und Weite
2.1. Enge und Weite im Leib
2.2. Enge und Weite im Raum
2.3. Enge und Weite in der Zeit
2.4. Enge und Weite in der Mannigfaltigkeit
2.5. Leib, Raum, Zeit und Mannigfaltigkeit im Vergleich
2.6. Die Unendlichkeit
3. Leib und leibliche Kommunikation
4. Schmerz
5. Schall und Farbe in Raum und Zeit
6. Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung
6.1. Konfliktfreie habituelle Fixierung
6.2. Habituelle Fixierung mit Konflikt
7. »Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)
8. Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete
9. Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie
Personenregister
Sachregister
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Zur Epigenese der Person
 9783495813676, 9783495488683

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Hermann Schmitz

Zur Epigenese der Person

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813676

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B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Hermann Schmitz Zur Epigenese der Person

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Die Person ist nur Person, indem sie zugleich präpersonal ist, und bringt doch etwas unvorhersehbar Neues auf: ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung durch Selbstzuschreibung als Fall mehrerer Gattungen. Mit ihrem Durchbruch aus der Gefangenschaft in Situationen entsteht die Welt als Antwort auf das menschliche Ansprechen mit satzförmiger Rede, die aus Situationen schöpft. Diese Doppelgesichtigkeit von Verankerung und Neubildung in der Epigenese wird in dem Buch an verschiedenen Themen verfolgt. Dazu gehören u. a. Enge und Weite, Leib und leibliche Kommunikation, Sucht, Intentionalität, Geschichte und Praxis. Am Schluss steht ein Rückblick auf das Abendland. Die antike Philosophie mit Welt- und Menschspaltung, das mittelalterliche Christentum mit Bindung des affektiven Betroffenseins an die Macht als zentrales Thema, die Neuzeit mit dem gegen Situationen und leibliche Kommunikation blinden Weltbild der Naturwissenschaft haben die Menschen vom Einblick in ihr wirkliches Leben abgelenkt. Die noch unverlorene Kraft kritischer Aufklärung lässt einige Hoffnung auf einen Neubeginn des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses im Abendland übrig.

Der Autor: Hermann Schmitz, geboren 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: »Phänomenologie der Zeit« (2014), »Gibt es die Welt?« (2014), »Atmosphären« (2014), »selbst sein« (2015), »Ausgrabungen zum wirklichen Leben« (2016).

https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Hermann Schmitz

Zur Epigenese der Person

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Covermotiv: Kopf einer weiblichen Figur, Marmor, 2800–2300 v. Chr., Museum of Cycladic Art, Athen Photo: Ophelia2/Wikimedia Commons Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48868-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81367-6

https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Inhalt

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der Aufbau der Person . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Enge und Weite

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Leib und leibliche Kommunikation . . . . . . . . . .

64

4. Schmerz

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

5. Schall und Farbe in Zeit und Raum . . . . . . . . . .

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6. Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 7. »Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität) . . . 122 8. Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 9. Praxis in der Neuen Phänomenologie . . . . . . . . 148 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

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Vorrede

Im 18. Jahrhundert kam in der Biologie eine Auseinandersetzung über Präformation und Epigenese in Gang. Präformation liegt vor, wenn das fertige Lebewesen schon im Keim vorgeformt ist; als Epigenese bringt die Entwicklung spontan Neues hervor, aber angewiesen auf die Vorstufen. Meine Auffassung von der Entstehung und Ausbildung der Person – der Bewußthaber mit der Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, die darin besteht, sich als Fall mehrerer Gattungen aufzufassen – kann etwa in diesem Sinn als epigenetisch bezeichnet werden. Ich habe mehrfach und sorgfältig ausgeführt, daß die Person nur bestehen kann, indem sie zugleich präpersonal ist, d. h. aus schon in Vorstufen vorhandenen Quellen des Leibes, des Raumes, der Zeit, der Mannigfaltigkeit schöpft, aber durch Vereinzelung (kraft satzförmiger Rede) und Neutralisierung etwas unableitbar Neues hinzubringt. Diese Vorstellungsweise brauche ich nur ins Gedächtnis zu rufen, aber es gibt Anlaß, sie in wichtigen Hinsichten zu ergänzen und neu zu beleuchten. Dazu dienen die folgenden neun Aufsätze, die in den Jahren 2015 und 2016 als Vortragsvorlagen unabhängig voneinander entstanden sind, wodurch gewisse Wiederholungen unvermeidlich werden. Der erste Aufsatz vergegenwärtigt meine Lehre vom Aufbau der Person, den roten Faden durch das Folgende. Die folgenden Aufsätze sind so angeordnet, daß sie vom Präpersonalen zum Personalen hinüberführen, wobei aber beide Anteile der Person gemischt werden. Der zweite Aufsatz behandelt Enge und Weite, ein Gegensatzpaar, das von mir als zentrale Struktur in Leib, Raum, Zeit und Mannigfaltigkeit aufgefunden und herausgearbeitet wurde. Hier geht es darum, diesen Gegensatz zum über9 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Vorrede

greifenden Vergleich heranzuziehen, um daran die Übereinstimmungen und Unterschiede in den betreffenden speziellen Bereichen zu ermessen. Der dritte Aufsatz behandelt den für die Person unter diesen Bereichen unmittelbar wichtigsten, den spürbaren Leib und die leibliche Kommunikation. Er ist eine gedrängte Wiederholung der entsprechenden Passagen meines Buches Ausgrabungen zum wirklichen Leben (Freiburg 2016). Möge der Hinweis auf leibliche Kommunikation im Titel dem Märchen abhelfen, daß meine Leibtheorie den eigenen Leib des Individuums isoliere! Es folgt ein Aufsatz über den leiblichen Schmerz, eine mir seit 1964 theoretisch besonders angelegene leibliche Regung. Der Schmerz wird der Angst als ein ihr nah verwandter, aber weit komplizierterer innerleiblicher Konflikt von Engung und Weitung gegenübergestellt, als fast unauflösliche Verknotung zweier expansiver, einander hemmender Impulse, die dennoch der Person die einzigartige und für sie unerläßliche Chance der Vereindeutigung in unabwendbarer Konfrontation bringt. Der folgende, fünfte Aufsatz über Schall und Farbe in Zeit und Raum arbeitet an den Brückenqualitäten der Einleibung (des Haupttyps leiblicher Kommunikation), nämlich Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren, den Unterschied zwischen Schall und Farbe in zeitlicher und räumlicher Hinsicht heraus und vertieft damit ähnliche Versuche, die um 1930 in der sogenannten Ästhesiologie, z. B. von Erwin Straus, unternommen wurden. Mit dem folgenden, sechsten Aufsatz wage ich mich auf das heikle, von mir bisher nur gestreifte Gebiet der Sucht. Dieses Wort deckt einen suspekten Mischbegriff aus Phänomenologie und gesellschaftlicher Wertung. Als den phänomenologischen, wertungsfreien Kern schäle ich die habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung heraus. An dieser unterscheide ich fünf Typen, womit ich diesen Kern umfaßt zu haben hoffe. Dabei kommen wichtige Themen meiner Phänomenologie zur Sprache: unspaltbare Verhältnisse, personale Emanzipation und personale Regression, Analyse des Wollens. In diesem Buch bildet dieser Aufsatz das Gelenk, das 10 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Vorrede

die bis dahin überwiegenden schon präpersonalen Themen (hier die einseitige Einleibung) mit den folgenden spezifisch personalen auf das Engste verbindet. Der siebente Aufsatz behandelt die Intentionalität, das zentrale Thema der älteren Phänomenologie (um Brentano, Husserl, Scheler), der ich eine Neue Phänomenologie entgegengesetzt habe. Um mich dafür zu rechtfertigen, empfinde ich eine besondere Verantwortung für gründliche Auseinandersetzung zu diesem Thema, über das bisher von mir erreichte Maß hinaus; diese Stelle scheint mir geeignet dafür. Das Konzept der Intentionalität, in seiner hier herangezogenen klassischen Ausprägung durch Husserl, besteht darin, jedem personalem Bewußthaber ein Bewußtsein zuzuordnen, das von Akten erfüllt ist, die über sich hinaus auf einen Gegenstand (meist der Außenwelt, jenseits des Bewußtseins) gerichtet sind und die übrigen Inhalte des Bewußtseins in dieser Richtung zusammenfassen. Brentano unterschied drei Klassen solcher Akte: Vorstellungen, Urteile, Gefühls- und Willensakte. Husserl folgt ihm darin, läßt aber, im Gegensatz zu seinen Schülern, die Willensakte beiseite. Die Vorstellungen bestehen nur darin, daß der Akt sich einen Gegenstand gibt oder geben läßt, so daß dieser vom Bewußthaber vorgefunden wird. Ich habe an verschiedenen Stellen schon früher betont und führe jetzt genauer aus, daß diese Intentionalität bloßen Vorstellens eines Gegenstandes ersetzt werden muß durch die Explikation einzelner Gegenstände aus Konstellationen, die ihrerseits aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit durch Explikation und Kombination gewonnen sind. Für die Gefühle und das Wollen ist das Konzept der Intentionalität ganz unzulänglich. Es übersieht das affektive Betroffensein. Was einen affektiv betrifft, geht ihm nahe und wartet nicht darauf, von einem vom Subjekt (Bewußtsein) auf das Objekt gerichteten Akt getroffen zu werden. Am Fühlen der Gefühle kann zwar eine persönliche Stellungnahme des Bewußthabers beteiligt sein, aber nicht als Zielen über sich hinaus, sondern als sein persönliches Engagement in Preisgabe oder 11 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Vorrede

Widerstand, und nicht sofort, sondern erst nach einer Anfangsphase bloßer Ergriffenheit. Verhängnisvoll ist die Deutung des Wollens als intentionaler Akt, weil sie dazu verführt, es als Willkürtat nach Art einer Entscheidung oder eines Entschlusses zu verstehen, statt als komplizierte Vermittlung zwischen einer Herausforderung, der eigenen persönlichen Situation zwecks Absichtsbildung, und der Zuwendung des (leiblichen) vitalen Antriebs zu der gebildeten Absicht. Es bleiben die Beurteilungen. Soweit diese, wie die Bewertungen, auf affektivem Betroffensein beruhen, werden sie wie das Wollen ein Abtasten der eigenen persönlichen Situation enthalten, zusätzlich zu der Richtung auf das Beurteilte. Nur für die Bewertung objektiver, neutraler Sachverhalte, Programme und Probleme ohne affektives Betroffensein wird man mit gerichteten intentionalen Akten auskommen. Überhaupt aber empfiehlt es sich, auf die Rede von intentionalen Akten zu verzichten und statt dessen von persönlichen Stellungnahmen zu sprechen, auch um klar zu machen, daß das von Husserl dem Bewußthaber (Subjekt) vorgeschaltete Bewußtsein (gar als »Bewußtseinsstrom«) ganz überflüssig ist und es sich vielmehr um eine Beziehung des Bewußthabers auf etwas, das ihm bewußt ist, handelt. Bewußtsein ist Bewußtgehabtsein für ein Bewußthaben eines Bewußthabers. In demselben Aufsatz wird das Intentionalitätskonzept Husserls und der älteren Phänomenologie in einer weiteren, ontologischen Hinsicht kritisiert. Die Vertreter dieses Konzepts sind (in meiner Ausdrucksweise) Singularisten; sie kennen nur einzelne Gegenstände, auf die sich intentionale Akte richten können. Einzelnes ist nur als Fall einer Gattung möglich. Die Vergegenständlichung fängt aber schon früher an, bei gewissen Halbdingen, denen der Mensch schon standhalten muß, ohne sie noch als etwas begreifen zu können, wie Schmerz, Wind und reißende Schwere. Solche Halbdinge sind zwar schon absolut identisch, aber noch nicht einzeln. Der älteren Phänomenologie fehlen die Begriffe für die elementare Vergegenständlichung im leiblich-affektiven Betroffensein. 12 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Vorrede

Der achte und der neunte Aufsatz gehören miteinander und mit dieser Bemerkung insofern zusammen, als diese einen Einblick in die komplizierte Bedingtheit des menschlichen In-derWelt-seins geben. Der achte Aufsatz behandelt die Herausforderung durch das Unerwartete wegen des Überschusses der offenen Zukunft dessen, was noch möglich ist, über die geschlossene Zukunft, die das enthält, was noch nicht ist, und sich erst im Entstehen aus der offenen Zukunft als das, was noch nicht war, herausschält. Die Kluft zwischen der Macht des Menschen zum Erwarten und der Schwäche, in die ihn die Auslieferung an das Unerwartete und Unvorhersehbare versetzt, wird von ihm durch den Wellenschlag von Situationen und Konstellationen verarbeitet, der der Gang der Geschichte ist. Der neunte Aufsatz bezieht sich auf ein Mißverständnis von Bernhard Irrgang, der der Neuen Phänomenologie eine »solipsistische« und isolierende Verkapselung in der Einstellung auf den eigenen Leib vorhält, weil er die leibliche Kommunikation übersehen hat. Er will an die Stelle solcher Verkapselung eine an Praxis orientierte, extrovertierte Leib- und Subjektivitätsauffassung setzen, die von der besonderen Befähigung des Menschen zum Umgang mit Werkzeugen ausgeht und eine Apologie der Technik ermöglichen soll. Ich halte ihm unter anderem die für einen situationsgerechten Umgang des Menschen mit etwas unerläßliche Bindung der Aktivität an die Empfänglichkeit in der Einleibung entgegen sowie die Bindung des Personseins an den spürbaren Leib, woraus sich die hier kurz dargestellte Theorie der Praxis in der Neuen Phänomenologie ergibt: Auf die leibliche Aktivität des Tieres setzt die Person durch das Wollen das Handeln auf. Am Ende wende ich mich gegen das naive Weltvertrauen, das an ein glattes Zusammenwirken von Phänomenologie und Naturwissenschaft an einer autarken Welt glauben läßt. Die Welt ist nichts als ein Gesicht, das eine Masse von mit Nichtseiendem vermischtes Seiendem dem Menschen als Antwort auf dessen satzförmige Rede zeigt, und zu dieser Weltbildung kommt die Weltgestaltung durch Konstruktion, die der Mensch braucht, um sich – 13 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Vorrede

nach seinem Ausbruch aus der Gefangenschaft in den das Verhalten des Tieres führenden Situationen – das Begegnende so zurechtzulegen, daß er zuverlässig damit umgehen kann. Auf diese lebensnotwendigen Konstruktionen baut die moderne Technik ihren von Bacon und Descartes formulierten Anspruch auf systematische Naturbeherrschung. Ich danke Herrn Andreas Kuhlmann, Kiel, für unentbehrliche Hilfe bei der Fahnenkorrektur sowie für die Erarbeitung der Register, die mir wegen einer Augenerkrankung nicht möglich war. Juni 2016

Hermann Schmitz

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1. Der Aufbau der Person

Eine Person, also ein Mensch, der sich nach dem ersten Lebensjahr normal entwickelt und insbesondere eine Sprache spricht, verfügt in gewissen Grenzen über Selbstbestimmung mit daraus folgender Rechenschaftsfähigkeit und Verantwortung dafür, was er aus sich macht. Dazu befähigt ihn sein Vermögen zur Identifizierung gemäß relativer Identität. Relative Identität ist das Fallen einer Sache unter mehrere Gattungen. Ich mache das an einem Beispiel klar. Ein türkischer Schuster in Kreuzberg versteht sich als Mann, als Schuster, als Berliner, als Türke, als Moslem, als Familienvater, vielleicht auch als Liebhaber schöner Frauen und guten Essens, als Fußballfan, als Lotteriespieler, als Sozialhelfer für Menschen in Not. Er identifiziert sich mit allen diesen Fällen, die durch relative Identität zu einem einzigen Fall verschmelzen. Relative Identität setzt, wie ich bewiesen habe, absolute Identität, selbst zu sein, voraus. Diese besteht in der Verschiedenheitsfähigkeit: Selbst oder absolut identisch ist etwas, wenn es, falls vieles ist, von anderem verschieden ist; damit ist noch nichts über Identität mit etwas vorweggenommen. Das identifizierende Selbstbewußtsein, das sich auf relative Identität stützt, bezeichne ich als Selbstzuschreibung. Diese verläuft in zwei Richtungen, die ich bildhaft als horizontale und vertikale Identifizierung unterscheide. Horizontal ist die Identifizierung der verschiedenen Gattungsfälle zu einem einzigen Fall vieler Gattungen, also etwa des Schusters mit dem Moslem und dem Lotteriespieler. Dank dieser Identifizierung kann sich die Person unter den Fällen wie unter Rollen bewegen, indem sie Akzente des Nachdrucks oder der Nachlässigkeit setzt, die Fälle teils mehr verbindet, teils mehr auseinanderhält, einige hinzunimmt, andere abstößt usw. Dadurch gewinnt sie die personale Selbst15 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Der Aufbau der Person

bestimmung, etwas aus sich zu machen. Unentbehrlich dafür ist aber die andere, vertikale Richtung personaler Selbstzuschreibung. Sie besteht für die Person darin, bewußt zu haben, daß es sich bei allen diesen zu einem einzigen Fall identifizierten Fällen um sie selber handelt, daß sie das Relat dieser Identifizierung ist. Nun ist von grundlegender Bedeutung die Einsicht, daß von der horizontalen Identifizierung kein Schluß auf die vertikale möglich ist. Alle die Bestimmungen, die ein Mensch in horizontaler Identifizierung sich zuschreibt, könnte auch ein anderer haben, sowohl jede einzeln als auch alle zusammen. Wenn z. B. ein Schöpfer wie Gott in der von ihm geschaffenen Welt vorausschauend alle Rollen von Subjekten oder Bewußthabern bis ins Kleinste hinein genau verteilt, ist noch nichts darüber ausgemacht, wer diese oder jene Rolle übernimmt. Das Relat der vertikalen Identifizierung, d. h. das, womit das Ergebnis der horizontalen Identifizierung als Referens (erstes Beziehungsglied) identifiziert werden soll, muß ganz unabhängig von diesem Referens bereitgestellt werden. Dieses Relat kann nicht wiederum, durch Identifizierung von etwas mit ihm beschafft werden, denn dann ergäbe sich ja dieselbe Frage, woher es zu nehmen ist, und man wäre nicht klüger geworden. Es muß sich also bei dem, was als Relat die vertikale Identifizierung in der Selbstzuschreibung ermöglicht, um den Gegenstand eines identifizierungsfreien Sichbewußthabens handeln. Ein solches ist im affektiven Betroffensein gegeben. Um dieses herauszuschälen, gliedere ich die Masse alles dessen, was ein Mensch überhaupt finden kann, in zwei ungefähr gleich große Teile. Der erste Teil ist die Masse des Vorfindbaren, also dessen, was sich dem Finden zum Aufnehmen und Registrieren passiv darbietet, auch wenn es in sich dramatisch bewegt sein sollte. Dabei handelt es sich um objektive oder neutrale Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann; sie enthalten nichts über den Findenden. Der andere Teil des Findbaren ist das affektive Betroffensein durch etwas, das dem Findenden nahe geht, also nicht bloß pas16 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Der Aufbau der Person

siv dem Finden vorliegt, so daß der Findende nicht umhin kann, sich selbst als den, dem das nahe geht, zu spüren. Ich habe gezeigt, daß die Tatsachen des affektiven Betroffenseins für jemand subjektive Tatsachen sind, die höchstens er selbst aussagen kann, obwohl andere so gut wie er darüber sprechen können, und daß sie sich schon durch ihre bloße Tatsächlichkeit, noch unabhängig von ihrem Inhalt, von den objektiven oder neutralen Tatsachen unterscheiden. In jedem affektiven Betroffensein spürt der Betroffene etwas als sich selbst, also als das, was er ist. Wie kann man etwas als sich selbst spüren, ohne es mit sich zu identifizieren? Identifizierung ist eine Beziehung. Beziehungen sind, wegen ihrer Angewiesenheit auf eine bestimmte Stellen- und Teilnehmerzahl, nur zwischen einzelnen Partnern möglich; auf die Einzelheit, die mehr ist als absolute Identität und Voraussetzung der relativen Identität ist, komme ich noch zurück. Es muß eine engere Bindung als die durch Beziehungen möglich sein, die gestattet, etwas Selbes oder absolut Identisches als sich (den Finder) ohne Identifizierung bewußt zu haben. Diese engere Bindung ist das unspaltbare Verhältnis. Ich habe zwei Grundformen des Zusammenhangs, Beziehungen und Verhältnisse, unterschieden und gezeigt, daß alle von etwas zu etwas gerichteten Beziehungen durch Spaltung aus Verhältnissen hervorgehen, daß es aber auch unspaltbare Verhältnisse gibt, die eventuell in spaltbare übergehen können. Etwas, das selbst (absolut identisch) ist, kann ohne Identifizierung in das Sichbewußthaben des Findenden eintreten, wenn es in unspaltbarem Verhältnis mit dessen affektivem Betroffensein, sich zu spüren, vereint ist. Das geschieht in der von mir so genannten primitiven Gegenwart, wenn der plötzliche Andrang des Neuen Dauer zerreißt, indem er Gegenwart aus ihr heraushebt (exponiert) und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein (Nichtmehrsein) verabschiedet. Dann sind die fünf Momente der primitiven Gegenwart – hier, jetzt, Sein (Wirklichkeit), dieses (absolut Identisches), ich (als gespürt im affektiven Betroffensein) – so verschmolzen, daß sie gleichsam eine 17 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Der Aufbau der Person

einzige Spitze bilden, in der sie beziehungslos zusammenfallen, so daß sich der Betroffene hier jetzt, ohne Spielraum dem Sein ausgesetzt, als dieses (absolut identisch) findet, ohne etwas mit sich identifizieren zu müssen. Die primitive Gegenwart nimmt in der von mir ausführlich untersuchten Dynamik des spürbaren Leibes eine Randstellung ein. In der wichtigsten Dimension dieser Dynamik, der von Enge und Weite, besetzt sie den Pol der aus dem vitalen Antrieb abgespaltenen Engung. Im Antrieb konkurrieren Engung und Weitung gegenläufig; wenn die Engung aushakt, wie beim heftigen Schreck, ist der Antrieb erstarrt oder gelähmt, und wenn die Weitung ausläuft, wie beim Einschlafen und Dösen, ist er erschlafft. In reiner Form kreist er in sich, wie beim Atmen; einsetzbar wird er als vitaler Antrieb durch die beiden Oberschichten der Vitalität, seine Reizempfänglichkeit und seine Zuwendbarkeit zu empfangenen Reizen. In der primitiven Gegenwart wird Engung aus dem vitalen Antrieb abgespalten, das ist ein eher seltener Ausnahmezustand. Die Engung im Antrieb ist dieser abgespaltenen Engung aber nicht fremd, sondern als Vorrat für sie offen, so daß sich die primitive Gegenwart als Aussicht oder Möglichkeit im Antrieb abzeichnet oder angedeutet ist. Der Antrieb trägt die Person und überträgt ihr und dem schon präpersonalen affektiven Betroffensein die Möglichkeit zum Sichspüren als identifizierungsfreiem Sichbewußthaben. In dieser Weise hängt die Person von der leiblichen Dynamik ab. Sie kann sich über diese erheben, aber nie von ihr lösen. Damit verlöre sie die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Die Person ist über die leibliche Dynamik auch an deren Erweiterung zur leiblichen Kommunikation gebunden. Deren wichtigste Gestalt, die Einleibung, ist die bloße Fortsetzung des vitalen Antriebs über den einzelnen Leib hinaus zum gemeinsamen Antrieb, der mit Begegnendem verbindet, in der Art eines Dialogs, der in der Konkurrenz von Engung und Weitung als dialogischer Struktur seine Wurzel hat. Die Einleibung ist nicht nur ein Dialog unter Leibern (wie beim Blickwechsel), son18 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Der Aufbau der Person

dern erstreckt sich durch leibnahe Brückenqualitäten, Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere, auch auf Leibloses und nimmt verschiedene Formen an, auf die ich hier nicht eingehe. Durch Einleibung ist die Person, dank ihrer Abhängigkeit von leiblicher Dynamik, von vornherein verstrickt in den gemeinsamen Antrieb mit Begegnendem und nie zurückgezogen als Subjekt in eine einsame Innenwelt, eine Seele oder ein privates Bewußtsein, worin sich eine Außenwelt nur gleichsam spiegelte, so daß man aus dem Spiegel irgendwie herauskommen müßte, um auf die abgespiegelte Umwelt selbst zu treffen. Vielmehr existiert die Person immer zugleich präpersonal in einer höchst erfolgreichen und fruchtbaren Lebensform, die sie mit den Tieren teilt. Ich bezeichne diese Lebensform als das Leben aus primitiver Gegenwart. Dazu gehört erstens das Urkontinuum des absolut konfusen Mannigfaltigen, das uns jeden Augenblick entgegenkommt im Schwanken des intensiven Kontinuums von Helligkeit, Schnelligkeit, Lautstärke, Kraftstärke und Wärme sowie in anderen Gestalten, etwa als durchdöste Frist, ruhiges Wasser, tiefe Dunkelheit usw. Zweitens gehört dazu die primitive Gegenwart, die im Urkontinuum durch Konfrontation mit dem Nichtmehrsein den exponierenden Akzent setzt, wodurch etwas selbst oder absolut identisch werden kann, drittens die leibliche Dynamik und viertens die leibliche Kommunikation. Was in dieser Lebensform noch fehlt oder höchstens sporadisch und rudimentär vorkommt, ist die Einzelheit oder Zahlfähigkeit, d. h. – nach der anschaulichsten Definition – das Vermögen, eine Anzahl um 1 zu vermehren. Dafür entschädigt das Leben aus primitiver Gegenwart durch ein Leben in Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges irgendwelcher Art, das ganzheitlich (d. h. in sich zusammenhängend und nach außen mehr oder weniger abgehoben) zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme und/oder Probleme sind. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle Bedeutungen in ihr einzeln sind. Für die Bedeutsamkeit ist allein schon durch das affektive 19 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Der Aufbau der Person

Betroffensein gesorgt, in dem sich mit der empfangenen Heimsuchung von vornherein eine – zunächst ganz unbeliebige – Stellungnahme verbindet, z. B. als Abwehrhaltung zum Bedrohenden, Unheimlichen, Abstoßenden, als Zuneigung, als Geduld, als Eifer usw. Tiere sind in Situationen gefangen; ihr vitaler Antrieb wird durch seine Reizempfänglichkeit von Programmen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit gesteuert, indem diese Programme die Zuwendung des vitalen Antriebs zu den auserlesenen Reizen veranlassen. Das ist die Aktivität des Tieres, und die Aktivität des Menschen als Person ist zum größten Teil von eben dieser Art. Das gilt namentlich für das Sprechen als Sprach- und Mundgebrauch. Der kompetente Sprecher liest die Regeln seines Sprechens nicht in einzelnen Portionen ab, wie der Koch die Rezepte für sein Kochen aus dem Kochbuch, sondern er greift blind, aber treffsicher in die Sprache hinein, eine zuständliche Situation aus Programmen, nämlich Sätzen, d. h. Regeln für die Formulierung von Sprüchen, die einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme aus der Bedeutsamkeit von Situationen herausheben und zu Netzen oder Konstellationen kombinieren, womit der Sprecher beliebige Zwecke verfolgen mag. Entsprechendes gilt für den Mundgebrauch beim flüssigen Sprechen, der keine Folge einzelner Schritte in den Spuren der artikulatorischen Phonetik ist, sondern ein virtuoser Umgang mit der ganzheitlich verfügbaren Dynamik des Mundes (einschließlich der Lippen) als einer Situation. Entsprechendes gilt für jede flüssige Eigenbewegung, z. B. Gehen und Kauen. Wir wären Stümper und kämen kaum von der Stelle, wenn wir bei jedem Schritt Abstand und Winkel der Füße bedenken müßten, wie der anfangende Tanzlehrling. Vielmehr greifen wir als Könner motorischer Kompetenzen auf das präpersonale Niveau der Tiere zurück, nur in weiter entwickelten Formen. Um zu verstehen, wie die Tiere ihr bewußtes Leben führen, lohnt es sich, zu vergegenwärtigen, wie man selbst beim flüssigen Sprechen zu der Sprache steht, der man für die Formulierung von Sprüchen gehorcht. 20 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Der Aufbau der Person

Bis jetzt habe ich erst den unerläßlichen präpersonalen Unterbau der Person betrachtet. Der entscheidende Schritt aus der tierhaften Gefangenschaft in Situationen besteht für den Menschen in der Vereinzelung, d. h. in der Geburt der Einzelheit zusätzlich zur absoluten Identität. Ich habe gezeigt, daß folgende drei Definitionen der Einzelheit gleichwertig sind: Einzeln ist, was Element einer Menge mit der Zahl 1 ist; einzeln ist, was eine Zahl um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element irgend einer endlichen Menge ist. Eine Menge ist der Umfang einer Gattung, der alle ihre Fälle und nur diese umfaßt, sofern dieser Umfang eine Zahl hat. Gattung ist alles, wovon etwas ein Fall ist. Die Definition beider Begriffe lasse ich hier aus, als zu technisch und kompliziert, ebenso die Definition der endlichen Menge. 1 Eine Zahl (natürliche Zahl oder transfinite Kardinalzahl) ist die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit geeigneter Mengen auf eine Menge. Zwei Mengen (sie können auch dieselbe Menge sein) sind umkehrbar eindeutig auf einander abbildbar, wenn je ein Element der ersten und der zweiten Menge so gepaart werden können, daß jedes Element verbraucht wird und nur einmal auf jeder Seite der Paarung vorkommt. Element einer Menge ist ein Fall der Gattung, deren Umfang sie ist. Die Zahl 1 ist die Zahl jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Jede Gesamtheit einzelner Sachen (d. h. Etwasse, ich sage nur »Sachen«, weil das Wort »etwas« im Deutschen nicht substantiviert wird) ist entweder eine Menge oder ein Komplex, in dem die Teile durch paarende Verbindungen zusammenhängen. Die Zahl der Menge der Teile eines Komplexes kann nur durch eine zusätzliche Einteilung, die nur durch Mengen, aber auf viele Weisen mit entsprechend vielfachen Ergebnissen möglich ist, bestimmt werden. Dagegen ist die Zahl einer Menge eindeutig bestimmt, weil alle ihre Elemente das Merkmal der Gattung besitzen, deren Fälle sie sind und deren Umfang, der alle diese Fälle Dazu von mir: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg 2016, S. 74–81, Fall und Gattung

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Der Aufbau der Person

und nur sie umfaßt, die Menge ist. Deswegen können nur Mengen Zahlen haben und die Teile von Komplexen nur als Elemente von Mengen zahlfähig sein, d. h. zu etwas gehören, das eine eindeutig bestimmte Zahl hat. Andererseits ist alles Einzelne laut Definition zahlfähig. Das zahlfähige, numerische Mannigfaltige ist daher umfanggleich mit dem Einzelnen und den Elementen von Mengen. Die Elemente von Mengen sind zugleich Fälle von Gattungen. Also ist alles Einzelne auch Fall einer Gattung. Man kann den Begriff der Einzelheit demnach auch so bestimmen: Wenn etwas absolut identisch ist und eine Gattung auf es als ihren Fall zutrifft, dann ist es einzeln. Einzeln ist nie etwas von sich aus, sondern nur als etwas, als Fall einer Gattung. Wenn es obendrein Fall mehrerer Gattungen ist, ist es relativ identisch, d. h. identisch mit etwas. Nach diesen begrifflichen Klärungen ergibt sich die nächste Frage, wie es zur Vereinzelung kommt. Die Antwort ist einfach: durch die Sprache, die die Menschen sprechen. Tiere verständigen sich, indem sie heraufbeschwörend, modifizierend oder reagierend gemeinsame Situationen ansprechen, etwa durch Lock-, Alarm- und Klagerufe. Sie können nur mit ganzen Situationen umgehen. Menschen verfügen über Sprachen, die aus Sätzen bestehen, d. h. aus Regeln dafür, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen Sachverhalte, Programme und Probleme einzeln freizulegen und zu Konstellationen zu vernetzen. Unter den Sachverhalten befinden sich gemäß meiner Definition1 die Gattungen, die es gestatten, beliebigen absolut identischen Sachen den Charakter von Fällen und damit die Einzelheit zu verleihen. In den Konstellationen können die Gattungen nach Übereinstimmungen und Unterschieden so untergebracht werden, daß eine Anordnung der aus den Situationen entbundenen Gegenstände ohne Rücksicht auf diese Herkunft möglich wird. Verfügung über relative Identität erlaubt es den Menschen, eine Sache in verschiedenen solchen Netzen unterzubringen, also sie vielseitig zu sehen und zu behandeln. Außerdem schlägt relative Identität die intermomentane und intersubjekti22 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Der Aufbau der Person

ve Brücke vom augenblicklichen Eindruck zu dem, was sich sonst noch ereignet hat oder vielleicht ereignen wird, auch zu dem, was andere Menschen denken, so daß man in der Lage ist, über den Zusammenhang der jeweiligen Situation hinaus etwas als dasselbe wiederzuerkennen. Aus den Konstellationen wachsen neue Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit zusammen, indem sich die Menschen in sie einleben; diese Situationen werden unter den Anpassungsdruck des Entstehens von Neuem wiederum expliziert und zu Konstellationen vernetzt usw.; das ist der Gang der Geschichte im Großen und Kleinen. Der Fluß der Zeit gibt, wie ich anderswo 2 ausgeführt habe, den Menschen Gelegenheit, Verhältnisse in Beziehungen zu spalten, so daß sie sich nicht nur mit dem Gegebenen abfinden, sondern es auch in neue Konfigurationen umdenken können. Dazu gehört allerdings die weitere Fähigkeit, die Form der Einzelheit ins Nichtseiende zu projizieren, wodurch Planung, Erwartung, Furcht, Hoffnung, Wagnis und Phantasie möglich werden, lauter Vermögen, die der Mensch den Tieren voraus hat. Die Vereinzelung von Bedeutungen (d. h. von Sachverhalten, Programmen oder Problemen) könnte auf schmale Schienen beschränkt sein; vielleicht ist das so bei manchen auf ihre Art sprechenden Tieren, etwa im Fall der Tanzsprache der Bienen nach Karl v. Frisch oder bei den Menschenaffen, denen man mit Kunst und List kümmerliche Ansätze des Sprechens beigebracht hat. Vielleicht haben auch Vormenschen, z. B. der Neandertaler, in dieser Weise rudimentär gesprochen. Für die Menschen, vermutlich seit dem Auftreten des homo sapiens, ist dagegen die Entdeckung der Einzelheit der Schlüssel zum Eintritt in ein universelles Feld der versuchten (nicht immer erfolgreichen) Vereinzelung beliebiger Sachen: die Welt. Sie werden mitgezogen in den Aufgang der Welt, den sie nicht gemacht haben. Dieser Aufgang vollzieht sich durch Entfaltung der fünf Seiten oder Momente der primitiven Gegenwart: hier, jetzt, sein, dieses, ich. 2

Z. B. Ausgrabungen zum wirklichen Leben, S. 271 f.

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Das Hier der primitiven Gegenwart entfaltet sich über den von unumkehrbaren Richtungen geprägten Richtungsraum des Lebens aus positiver Gegenwart hinweg zum Ortsraum aus sich gegenseitig durch Lagen und Abstände bestimmenden Orten, wo etwas ist; dabei spielt die Begegnung mit der Fläche, die den unumkehrbaren Richtungen durch umkehrbare Verbindungen zu ergänzen gestattet, eine entscheidende Rolle. Das Jetzt der primitiven Gegenwart entfaltet sich zu den Einschnitten in die Dauer, die die Zeit erst als Modalzeit und dann, nach Entdekkung der Daten, als Lagezeit hervorbringen, so daß es möglich wird, zu sagen, wann etwas ist. 3 Das Sein der primitiven Gegenwart entfaltet sich zum Gegenteil des Nichtseins in voller Breite mit Projizierbarkeit der Einzelheit in das Nichtseiende. Das Dieses der primitiven Gegenwart, die absolute Identität, entfaltet sich zur relativen Identität. Das Ich der primitiven Gegenwart, das im affektiven Betroffensein ohne Identifizierung gespürt wird, entfaltet sich durch Selbstzuschreibung zur Person, indem verschiedene Gattungen, deren Fall es ist, seinem Sichbewußthaben zufallen. Mit dieser fünften Seite der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt, der Seite der Subjektivität, werde ich mich nunmehr beschäftigen. Die Person bedarf, um sich in der Welt zurechtzufinden, außer der Vereinzelung einer weiteren Fähigkeit: der Neutralisierung von Bedeutungen, wodurch sie Abstand vom affektiven Betroffensein gewinnt, das sie dem Geschehen, das ihr nahe geht, ohne Pufferzonen ausliefert. Das ist der Fall in schweren Träumen, in denen dem Menschen von allen Ausrüstungen des Personsseins gerade nur die Neutralisierung fehlt, das Wegschiebenkönnen, das etwas Ergreifendes zum Gegenstand der Reflexion macht. Die Neutralisierung besteht im Abfallen der Subjektivität für den Betroffenen von den subjektiven Bedeutungen, den Tatsachen und sonstigen Sachverhalten, Programmen und Problemen seines affektiven Betroffenseins. Diese 3

Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014

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können in der Neutralisierung aber auch erhalten bleiben, sofern sich neben sie inhaltsgleiche neutrale Bedeutungen stellen, die die Abschälung durchgemacht haben. Solche Neutralisierung gehört zum Erwachsenwerden, das normalerweise etwa im letzten Viertel des ersten Lebensjahres einsetzt. Eine typische und für den Zusammenhang mit der Vereinzelung lehrreiche Erfahrung dieser Art ist die Enttäuschung. Auch das Tier kennt Überraschungen und Enttäuschungen, aber dann bricht eine Situation ab und eine neue schließt sich an, während beim Menschen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der durch Enttäuschung entwerteten Situation einzelne Tatsachen und Programme als durch die Enttäuschung neutralisierte hervortreten und neue Tatsachen und Probleme, die ihm zunächst einzeln und neutral zur Bewältigung durch einzelne Programme entgegentreten, seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wenn der Mensch damit zurechtkommt, bildet sich eine Situation, in der Subjektivität und binnendiffuse Bedeutsamkeit weitgehend zurückkehren, aber er hat durch die Auseinandersetzung mit der Enttäuschung günstigenfalls gelernt, mit Einzelheit und Neutralität von Bedeutungen umzugehen und sachlicher zu denken. Es gibt viele andere Weisen der Vereinzelung und Neutralisierung als gerade nur Enttäuschungen, und sie fallen der Person das ganze Leben hindurch immer wieder zu. Durch Vereinzelung und Neutralisierung bildet sich für die Person eine Sphäre des Eigenen im Gegensatz zum Fremden, das durch Neutralisierung aus dem Eigenen ausgeschieden ist, mit breiten Grauzonen zwischen beiden Sphären, in denen der Gegensatz des Eigenen und Fremden undeutlich wird. Diese Bildung ist personale Emanzipation. Ihr antwortet gegenläufig die personale Regression, die durch Einschmelzung von Einzelnem und Resubjektivierung zur Annäherung an das Leben aus primitiver Gegenwart führt; sie ist für die Person unentbehrlich, um den Anschluß an die Quelle der Selbstzuschreibung, die dieser das Relat liefert, in affektivem Bertoffensein und primitiver Gegenwart aufrechtzuerhalten. Personale Emanzipation und 25 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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personale Regression verlaufen nicht glatt, sondern bilden Stufen oder Niveaus. Wenn es gelingt, die Zuwendung des vitalen Antriebs zu einer Absicht zu gewinnen, so daß der Mensch sich, oft gegen Hemmungen, einen Ruck oder Schwung gibt, der die Zuwendung zum Ziel führt, erhebt er sich auf ein höheres Niveau personaler Emanzipation. In der Akrasie, z. B. beim faulen Bettgenießer, der wohl weiß, daß er aufstehen müßte, aber aus Behaglichkeit liegen bleibt, konkurrieren solche Niveaus mit zwei Absichten, und das niedere setzt sich durch. Ein Niveau personaler Emanzipation ist höher als ein anderes, wenn es mehr Gelegenheit zur Neutralisierung und eine schärfere Abgrenzung des Eigenen vom Fremden liefert. Von jedem höheren Niveau personaler Emanzipation aus ist jedes tiefere ein Niveau personaler Regression. Die Person kann zugleich auf mehreren Stufen dieser Art stehen, wie das Beispiel der Akrasie zeigt. Andere Beispiele sind das Bewerten eigener Affekte von einem höheren Standpunkt aus, z. B. das Belächeln oder Beschämen eigener Scham oder eigenen Zorns, der gespielte Zorn, bei dem jemand trotz seines Aufruhrs ruhig bleibt, die unerschütterte Heiterkeit eines Weisen im Leid eines Unglücks, die Verdrängung eines Ereignisses oder Zustandes aus dem Bewußtsein (d. h. Bewußtgehabtwerden). Das Eigene der Person nimmt zwei Gestalten an, als persönliche Eigenwelt und als persönliche Situation. Zur persönlichen Eigenwelt gehören alle Bedeutungen, die für die Person subjektiv sind, und alle Sachen, für die der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, daß sie existieren, für die Person subjektiv ist, populärer gesprochen: alles, woran die Person mit affektivem Betroffensein in Zuneigung oder Abwehr gleichsam »hängt«, und zwar unmittelbar. Wenn dagegen ein mathematisch uninteressierter Schüler seine mathematischen Schulaufgaben bloß wegen seines Schulerfolgs wichtig nimmt, gehören sie nicht in seine persönliche Eigenwelt, denn zwar »hängt« er mit Abwehr an ihnen, aber nur mittelbar, denn an sich ist ihm Mathematik völlig gleichgültig. Zur persönlichen Fremdwelt einer Person ge26 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Der Aufbau der Person

hören alle Bedeutungen, die für sie neutral geworden sind, und alle Sachen, für die der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, daß sie existieren, von dieser Art ist. Auf untatsächliche Sachverhalte muß hier Rücksicht genommen werden, weil zur persönlichen Welt viele nichtseiende Sachen gehören können, z. B. durch Illusionen, Hoffnungen, Befürchtungen, Phantasien. Zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt gibt es die schon erwähnten Grauzonen, in denen der Gegensatz des Eigenen und Fremden verschwimmt. Die Art der Markierung dieses Gegensatzes unterscheidet die drei Persönlichkeitstypen des Extrovertierten, Introvertierten und Ultrovertierten. Für den Extravertierten ist die Abgrenzung der Eigenwelt von der Fremdwelt schwach; er kann daher das Fremde wie das Eigene nehmen, sowohl durch Aufopferung (altruistisch) wie durch Besitzergreifung (anmaßend), und wird durch Zerstreuung (Ablenkung) gefährdet. Beim Introvertierten ist die Grenze scharf gezogen, und das Hauptgewicht seiner Zuwendung liegt in der Eigenwelt; seine Gefahr ist die Abpanzerung, der soziale Rückzug. Beim Ultrovertierten ist die Grenze ebenso ausgeprägt wie beim Introvertierten, aber das Hauptgewicht seiner Zuwendung liegt auf der persönlichen Fremdwelt (daher »ultro«), wozu es kommen kann, wenn in den Grauzonen die persönliche Eigenwelt weit genug ausgeflossen ist. Ultrovertiert sind z. B. bloße Funktionäre von Parteien und Betrieben (gewisse Managertypen), Spezialisten, die ihren Beruf als rein technische Angelegenheit eifrig betreiben, Machtmenschen wie Napoleon oder der sächsische »Grundtoffel« 4 . Den Ultrovertierten gefährdet die Vernachlässigung des affektiven Betroffenseins. Die zuständliche persönliche Situation einer Person umfaßt alles, was zu ihrer persönlichen Eigenwelt gehört, außer dem, was sie nicht unmittelbar sich selbst zurechnet, also z. B. nicht ihre Freunde und Feinde und nicht die Gegenstände ihrer UmgeVgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV: Die Person, zuerst 1980, S. 406

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bung, an denen sie affektiv hängt. Alle für die Person subjektiven Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) gehören jeweils dazu. Die persönliche Situation setzt ein mit der personalen Emanzipation und verwandelt sich lebenslang durch Prozesse der personalen Emanzipation (Neutralisierung), personalen Regression (Resubjektivierung), Explikation und Implikation. Die Explikation besteht in Vereinzelung, die Implikation im Versinken in den Hintergrund der Situation, wobei das Versinkende gewöhnlich seine Einzelheit einbüßt und in ein unspaltbares Verhältnis mit den anderen Inhalten der persönlichen Situation eintritt, so daß es nicht mehr für gerichtete Beziehungen zur Verfügung steht, wohl aber im Ganzen der persönlichen Situation weiterwirkt und durch Spaltung des Verhältnisses wieder zum Vorschein kommen kann; diesen Wechsel des Mannigfaltigkeits- und Zusammenhangstyps bezeichnet man wenig passend als Vergessen. Sowohl personale Emanzipation als auch personale Regression können explizieren und implizieren. Jene expliziert durch Vereinzelung und impliziert durch Vernachlässigung von affektivem Betroffensein; diese expliziert durch Erschütterungen, in denen der Mensch auf etwas gestoßen wird (nicht notwendig leidvoll), und impliziert durch Enteinzelung und Einebnung der Trennung des Eigenen vom Fremden. Die persönliche Situation umfaßt viele partielle Situationen, die in ihr wie zähflüssige Massen in einer zähflüssigen Masse gleiten und sich reiben. Um eine Übersicht zu gewinnen, gliedere ich sie in retrospektive Situationen (Kristallisationskerne der Erinnerung), prospektive Situationen (worauf die Person hinaus und wovon sie weg will) und präsentische Situationen, die jederzeit zum Einsatz aufgerufen werden können; dazu gehören die Standpunkte der Person (soweit sie nicht bloß einzelne trockene Maximen sind), ihre Lebenstechnik (die habituelle Weise des Umgangs mit Problemen der Lebensführung), die Fassung (die man verliert, wenn man die Fassung verliert), die Gesinnung (als aktive Seite des affektiven Betroffenseins, sich auf das Betreffende einzulassen), der individuelle Sprachschatz, die habi28 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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tuellen Interessen. Alle diese partiellen Situationen sind ganz oder teilweise in unspaltbarem Verhältnis mit einander und mit der persönlichen Situation verbunden. Besonders gilt das für die prospektiven Situationen, die meist schwer hebbar sind, namentlich auf Grund ihrer Abhängigkeit von den retrospektiven Situationen, mit denen sie in unspaltbarem Verhältnis reagieren. Die präsentischen Situationen sind dagegen meist an der Oberfläche abrufbar, im Kern aber tief versenkt in die persönliche Situation; das trifft deutlich auf die Fassung, die Gesinnung, die habituellen Interessen zu, während die eigene Lebenstechnik der Person häufig verborgen bleibt. Die Person wird ihre persönliche Situation nicht los, taucht aber in personaler Regression unter sie ins Leben aus primitiver Gegenwart ab. Sie wird nicht nur von ihrer persönlichen Situation umschlossen, sondern steht dieser auch wie einer unbekannten Landschaft gegenüber, wenn sie ihr im Zuge des Wollens eine einheitliche Stellungnahme zu einer Herausforderung abgewinnen muß, in Gestalt einer Absicht, die die oft dissonanten Stimmen partieller Situationen zu einem einstimmigen Programm zusammenfaßt. Aufdringlich wird dieses Verhältnis bei schwierigen Lebensentscheidungen, wenn die Person ihre persönliche Situation wie ein Orakel befragt und dafür ein Hin und Her der Überlegung einsetzt, das eigentlich ein Kneten der persönlichen Situation ist, bis diese zu erkennen gibt, was bezüglich der zur Entscheidung anstehenden Alternative zu ihr paßt. Dann ist die Entscheidung gefallen, und die Überlegung wird abgebrochen. Unter den partiellen Situationen in der persönlichen Situation nimmt die Fassung die Sonderstellung ein, nach mehreren Richtungen die Person zu stützen. Die Person legt sich eine Fassung zu, indem sie sich spielerisch (aber deswegen nicht schon verspielt) mit etwas identifiziert, das eindeutiger ist als sie selbst, wie sich daran zeigt, daß sie die Fassung verlieren und je nach der Umgebung wechseln kann. Die Fassung besteht, außer der Prägung durch die Berufs- und Familienrolle, aus der von dem Psychiater Jürg Zutt thematisierten inneren Haltung; diese 29 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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ist gleichsam die Geste, mit der die Person allen Zumutungen, die an sie herankommen, entgegentritt. Hauptaufgabe der Fassung ist die Stabilisierung der Person angesichts der Gegenläufigkeit der Tendenzen von personaler Emanzipation und personaler Regression; sie leistet damit einen Beitrag zur Integration der Person wie die von Natur gekonnten Verläufe Lachen und Weinen gemäß meinen einschlägigen Analysen. Außerdem stützt die Fassung die Person in den Grauzonen des Auslaufens der persönlichen Eigenwelt in die persönliche Fremdwelt, indem sie ihr – gern in Anlehnung an interindividuelle Leitbilder – eine objektivierte, entfremdete Form gibt, in der dennoch die Person sich wiederfinden kann. Mit der dritten Figur der Stützung sichert sich die Person gegen die Überlegenheit ab, die der Blick des Mitmenschen auf sie ihr gegenüber dadurch besitzt, daß der Mitmensch analytisch, von seinem ersten vielsagenden Eindruck der ganzen Persönlichkeit des anderen Menschen aus, diese Persönlichkeit (alias persönliche Situation) erforschen kann, während die Person selbst nur synthetisch, durch fragmentarische Erfahrungen mit sich, zu dieser Zugang gewinnt, da man von sich selbst keinen vielsagenden Eindruck haben kann. Um diese Überlegenheit auszugleichen, hält die Person dem Mitmenschen ihre Fassung als ein Ganzes von sich entgegen. Die Fassung ist im Kern unwillkürlich, an der dann meist leicht durchschaubaren Oberfläche aber oft willkürlich inszeniert, jedenfalls aber der Person unentbehrlich. Die persönliche Situation wird unterfüttert durch eine persönliche leibliche Disposition, die für den Einsatz und die Belastbarkeit der Person die Kraftreserve bereitstellt und auf Stil und Dosierung dieses Einsatzes Einfluß nimmt. Sie wird hauptsächlich durch die Stärke und Bindungsform des vitalen Antriebs, d. h. die Art der Bindung seiner konkurrierenden Komponenten Engung und Weitung, bestimmt. Diese Bindung kann kompakt sein, so daß beide zäh an einander haften, oder rhythmisch schwingend, mit fluktuierendem Übergewicht von Engung und Weitung, oder so locker, daß sich aus der Engung im vitalen 30 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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Antrieb leicht privative Engung und aus der Weitung im vitalen Antrieb leicht privative Weitung abspalten läßt. Die drei Typen, die sich auf diese Weise herausstellen, lassen sich gut in Anlehnung an die Konstitutionstypen von Kretschmer mit partieller Weiterbildung durch Veit 5 benennen, wenn man auf den vagen Konstitutionsbegriff verzichtet und nur auf die leibliche Disposition achtet. Es handelt sich um die Typen der Bathmothymiker (Stufenmutigen), der Zyklothymiker (Kreismutigen) und der Schizothymiker (Spaltmutigen). Die Bathmothymiker sind wegen des zähen Haftens von Engung und Weitung, die sich in ihrem Antrieb nur schwer gegen einander verschieben lassen, lange Zeit gleichmäßig belastbar, bis die Belastung schließlich zu groß wird. Dann können sie weder durch Schwingung noch durch Spaltung ausweichen, sondern nur ruckartig die Energiestufe wechseln, was im Extremfall zu Explosion oder Zusammenbruch führt. Sie sind teils durch überwiegende Engung Phlegmatiker, die schwer in Bewegung zu setzen sind, teils durch überwiegende Weitung Dynamiker, die schwer anzuhalten sind. Die Zyklothymiker schwingen zwischen Einengung bis an den Rand der Depression und Ausweitung bis an den Rand der Manie, nicht nur mit dem Gefühl, sondern in erster Linie mit der Einsatzfähigkeit des vitalen Antriebs, seiner Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit. Die Schizothymiker sind den Bathmothymikern entgegengesetzt; sie haben es leicht, den vitalen Antrieb aufzubinden. Zur Engung hin geraten sie dabei leicht in Bestürzung. Diesen Nachteil können sie aber durch privative Weitung kompensieren, indem sie sich über die aktuelle Situation stellen und sich z. B. schwärmerisch, ironisch, zartfühlend Abstand nehmend oder kaltblütig strategisch planend damit abfinden. Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter, 21./22. Auflage Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; Hans Veit: »Die energetische Proportion der Athletikertemperamente«, in: Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre 35, 1960, 303–319; »Das soziale Verhalten der »bathmothymen« Athletikertemperamente«, in: ebd. 36, 1961, 98–107

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2. Enge und Weite

Das nächstliegende Verständnis von Enge und Weite zielt auf geringe bzw. beträchtliche räumliche Ausdehnung. In Grimms Wörterbuch lese ich zu »eng: Enge«: »Alle bedeutungen gehen vom raum aus und empfangen dann noch abstracte anwendung.« 6 Zu »weit«: »Weit bezeichnet von haus aus erhebliche räumliche ausdehnungen, doch auch an sich geringere, wenn sie (…) als verhältnismäszig grosz gedacht werden.« 7 Diese Charakteristik übersieht das Spezifische des Wortsinns. Man braucht beide Worte nicht, um einen (absolut oder relativ) großen oder kleinen Raumabschnitt zu bezeichnen, wofür, je nach den Raumdimensionen, die Wortpaare lang – kurz, breit – schmal, tief – flach zur Verfügung stehen. Was das Paar eng – weit hinzubringt, ist eine dynamische, qualitative Nuance. Zu »Enge« passen Assoziationen wie Spannung, Anspannung, Zusammenziehung, Verdichtung, Bedrängnis, zu »Weite« Entspannung, Lockerung, Entfaltung, Freisein von Hemmungen. Faust, der in der ersten Szene von Goethes Tragödie sein enges Studierzimmer als Kerker, dumpfes Mauerloch, beschimpft, verweist sich auf den Ausbruch ins Weite: »Flieh! auf! hinaus ins weite Land!« 8 Was er dabei als Weite ersehnt, ist nicht so sehr eine große Strecke, sondern, wie er als Anrede an den Mond, den er nicht mehr nur durch das Fenster in sein Zimmer scheinen sehen will, formuliert: Ach! könnt ich doch auf Bergeshöhn In deinem lieben Lichte gehn, (…) 6 7 8

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Band 3 Spalte 469 Band 28, Spalte 1230 Vers 415

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Enge und Weite

Auf Wiesen in deinem Dämmer weben, Von allem Wissensqualm entladen In deinem Tau gesund mich baden! 9 Was er sich von dem weiten Land verspricht, ist also die Befreiung von der Bedrängnis seiner Lebenskraft, die sich in der Weite zu ungehemmter Empfänglichkeit entfalten soll. Er will offen, aufgeschlossen werden. Einen ähnlichen Effekt erfährt jeder Mensch, wenn er aus stickiger, überfüllter Stube tief aufatmend an die frische Luft ins Freie tritt: Die Enge fällt von ihm ab, er ist schlagartig in eine unmittelbar erfahrene Weite getreten, in der er sich entfalten und lockern kann. Eine beträchtlich – auch nur verhältnismäßig große – räumliche Ausdehnung gehört nicht dazu. Die Weite ist ihm ein nah umhüllendes Element, in dem er der Enge erst einmal ledig ist. Wenn die Enge nicht mehr hemmt, sondern als gut eingerichtete Häuslichkeit auf knappem Raum, »wo Leben sich zum Leben freundlich regt«, den zur Entfaltung nötigen Spielraum bereitstellt, kann sie die einladenden Züge der Weite annehmen. In diesem Sinn schließt Goethe, von einer militärischen Expedition im Gefolge der Französischen Revolution heimkehrend, seinen Reisebericht mit den letzten Zeilen der Schlußstrophe: Wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke, Der Enge zu, die uns allein beglücke. 10 Solche Enge ist ein knapper Raum, der zum behaglichen Leben weit genug ist. Das Spezifische der Enge und Weite liegt nicht am Unterschied des räumlichen Quantums, sondern an einer Qualität, die erst im Spüren der Beengung und der Erweiterung am eigenen Leib deutlich zum Vorschein kommt. Deswegen habe ich in meinen Studien zur leiblichen Dynamik als deren wichtigste Dimension die von Enge und Weite, erfüllt von gegenläufigen, 9 10

Vers 393–397 Goethe, Kampagne in Frankreich, Schlußworte

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Enge und Weite

aber zum Antrieb verschränkten Tendenzen der Engung und Weitung, herausgearbeitet. Eben diese Dimension prägt aber das Geschehen in weit umfangreicheren Zusammenhängen. Dazu gehören der Raum, die Zeit und die Mannigfaltigkeit, aus deren Konfusion durch Engung das Selbstsein abgewonnen wird. Dagegen ist das Gefühl nur weit, nicht eng, engt und weitet aber als ergreifende Macht den Leib. Die leibliche Dynamik erweist sich so als Fundament, das ausstrahlend die Strukturen der Wirklichkeit bestimmt. Die dabei entstehenden Analogien der Struktur will ich nun durch die verschiedenen Gebiete hindurch verfolgen.

2.1. Enge und Weite im Leib Wenn ich vom Leib spreche, dürfte aus meinen Schriften bekannt sein, was ich meine. Mir geht es nicht um den lebendigen Leib (»corps vivant«) im Gegensatz zum bloß naturwissenschaftlichen Körperkonstrukt, sondern um den spürbaren Leib. Das Schlagwort »lebendiger Leib« geht wohl auf die zuerst von Kurt Goldstein 11 breit entfaltete Idee des lebendigen Organismus zurück. Das ist zunächst der menschliche Körper, wie er, ausgehend vom Augenschein, von der Naturwissenschaft und der ihr folgenden modernen Medizin objektiviert wird. Diesem Körper wird als Lebendigkeit alles zugesetzt, was man als Verhalten des Menschen kennt, also z. B. das vom Gefühl und der Absicht gesteuerte Ausdrucksverhalten, das Verhalten im Gespräch, bei der Überlegung usw. Dieses Verhalten wird nicht in der Weise der Naturwissenschaft behaviouristisch und messend aufgenommen, sondern in der Einstellung der verstehenden, Anteil nehmenden Psychologie, die den unverkürzten Eindruck des Begegnenden aufnimmt und analysiert. So will man von der Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus, zuerst Den Haag 1934, revidierte und kommentierte Neuausgabe Paderborn 2014

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Sicht der Naturwissenschaft aus den ersehnten anthropologischen Monismus als Bild des »ganzen« Menschen erreichen, um den Preis einer überzogenen und dadurch verschwimmenden Vorstellung vom Verhalten. Für Goldstein, der sein wissenschaftliches Leben den Hirnverletzten widmete, lag es nahe, die unmittelbaren Reaktionen auf die optische und taktile Wahrnehmung, die man vorher als Reflexe aufgefaßt hatte, aus dieser naturwissenschaftlichen Sicht in eine ganzheitliche, verstehende zu überführen und damit den Aufbau des lebendigen Organismus im angegebenen Sinn einzuleiten, aber wenn er am Schluß seiner Bücher Leben und Geist (9. Kapitel) sowie Erkennen und Handeln (11. Kapitel) als höhere Stufen solchen Verhaltens (ziemlich lakonisch) einführt, greift er weiter aus, als sein Konzept zuläßt. Gleichartige Versuche, vom naturwissenschaftlichen Körper her durch Aufstockung des menschlichen Verhaltens in der Sicht der verstehenden Psychologie den »ganzen Menschen« als »lebendigen Organismus« einzuholen, sind seither oft und mit starker Ausstrahlung unternommen worden, insbesondere in Frankreich durch Merleau-Ponty (im Anschluß an Goldstein) und neuerdings in Deutschland durch Thomas Fuchs. Sie ähneln übrigens dem Menschenbild, das Aristoteles in De anima entwirft. Über den Bruch zwischen dem rein biologisch registrierbaren Verhalten und den übrigen Äußerungen des Menschen setzt sich Aristoteles hinweg, indem er diese privativ, durch ein Fehlen, charakterisiert, nämlich einem zu Gunsten universeller Aufgeschlossenheit selbst wesenlosen Geist zuschreibt. Die Idee des lebendigen Organismus oder corps vivant geht auf die antike Zerlegung des Menschen in Körper und Seele zurück und besteht in dem Versuch, im Zeichen der Herrschaft des naturwissenschaftlichen Weltbildes dieses durch alle Formen des mit Anteil nehmendem Verstehen aufgefaßten menschlichen Verhalten zu ergänzen und dadurch zu überholen, ohne auf die Seele zurückzugreifen. Ich habe dagegen darauf hingewiesen, daß auf diese Weise derselbe Fehler wie in der Antike 35 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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wiederholt wird, nämlich über dem Verhalten (wie damals über der Seele) das dem Verhalten vorgeordnete Spüren am eigenen Leibe zu unterschlagen, das allen Menschen das Nächste ist; es umfaßt alles das, was Menschen von sich selbst, als sich zugehörig, in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) ihres Körpers spüren, ohne sich der fünf Sinne und des aus deren Erfahrungen abgeleiteten perzeptiven Körperschemas zu bedienen. Dazu gehören leibliche Regungen wie Hunger, Durst, Schmerz, Wollust, Frische, Müdigkeit, ferner das Fühlen als leibliches Ergriffensein von Gefühlen, die gespürte Motorik und unumkehrbare leibliche Regungen wie der Blick. Ich habe gezeigt, daß der so umschriebene Leib eine Ausdehnungsweise (in einem flächenlosen Raum, mit absoluten Orten, unumkehrbaren Richtungen und dynamischem, aber nicht dreidimensionalem Volumen) und eine Dynamik hat, die mit den entsprechenden Eigenschaften des sichtbaren und tastbaren Körpers unverträglich sind. Deswegen darf man ihn nicht, wie etwa Thomas Fuchs, als Kehrseite des naturwissenschaftlich erforschbaren Körpers auffassen, denn eine Kehrseite müßte dieselben Inhalte wie die Vorderseite, nur etwa in einer durch Drehung veränderten Anordnung, enthalten, während die Auffassung des Lebens als umgedrehter Körper dem Versuch gleicht, einen Gesang (im flächenlosen Raum des Schalls) als umgedrehten Stimmapparat des Sängers (im flächenhaltigen Raum des Körpers) auszugeben, weil er aus diesem hervorgeht. Vielmehr muß der Leib als zum Teil mit dem Körper im Lokal übereinstimmender Gegenstand eigener Art betrachtet werden, der ohne Widerspruch aus dem Körper auswandern könnte und das, wenigstens zum Teil, auch tut. Ein ihm zugewandtes Studium verdient dieser spürbare Leib auch wegen seiner unerläßlichen Wichtigkeit für das Personsein und zuvor die absolute Identität (d. h. Verschiedenheitsfähigkeit), als Resonanzboden für das affektive Betroffensein von Gefühlen und vielsagenden Eindrücken, als Stifter aller Kontakte in leiblicher Kommunikation. Ein radikales Mißverständnis, dem meine Theorie des Leibes manchmal, neuerdings von Bernhard Irr36 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Enge und Weite

gang, ausgesetzt ist, besteht in dem Vorwurf, daß ich den Leib nur solipsistisch introvertiert als den eigenen und nicht in Gemeinschaftlichkeit zum Thema machte. Nur zur Beobachtung der Grundformen der leiblichen Räumlichkeit und Dynamik benötige ich die Konzentration auf den eigenen Leib. Aus der leiblichen Dynamik entwickle ich die Theorie der leiblichen Kommunikation als unentbehrliche und gleichberechtigte Ergänzung meiner Ergebnisse über den eigenen Leib. In meiner ersten Darstellung des Leibes 1965/66 (System der Philosophie Band II) war diese Theorie freilich nur im Keim enthalten, aber seither habe ich sie breit ausgeführt. Ich habe gezeigt, daß die Dynamik des spürbaren Leibes in zwei Dimensionen verläuft: in der Dimension von Enge und Weite und in der Dimension von protopathischer und epikritischer Tendenz. Jetzt kommen nur Enge und Weite in Betracht. Sie sind dynamisch nicht gleichwertig. In der Weite löst sich die Spannung, die Kraft läuft aus und kann sich nicht mehr stauen, so daß sie in einer Gleichverteilung ohne Akzente verschwindet. So etwas erlebt man am eigenen Leib auch im Einschlafen vor Müdigkeit, im Dösen in der Versunkenheit, im erschlaffenden Rausch nach dem Orgasmus, auch wenn man dann nur die Nähe der reinen Weite spürt, weil die Spannung sich erst in sie ergießt. Im Gegensatz dazu ist die Enge nur dadurch eng, daß sie beengt. Sie hat die Dynamik einer unterdrückenden Kraft. Diese kann aber nur dadurch einschränken, daß sich etwas gegen sie wehrt. Sonst wäre nichts Beschränkbares da. Was sich wehrt, ist verlorene Weite. Der Verlust kann einen Rest von Weite übrig lassen oder so weit gehen, daß nur noch Enge übrig bleibt und Weite nur noch als verloren spürbar ist. Auf jeden Fall aber ist in der Enge ein Konflikt vorhanden oder jedenfalls angelegt. Es handelt sich um den Konflikt zweier dynamischer Tendenzen, der Engung und der Weitung. Nur als Engung und Weitung werden Enge und Weite spürbar. Jeder Zustand des spürbaren Leibes einschließlich der leiblichen Kommunikation (Einleibung oder Ausleibung) hat seinen Platz an einer Stelle der Dimension 37 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Enge und Weite

des Überwiegens von Enge oder Weite durch das Zusammenwirken oder Auseinandertreten der beiden dynamischen Tendenzen, einschließlich der beiden Randzustände, in denen der Konflikt nicht aktuell, sondern nur als Fehlen oder Vermissen der anderen Seite spürbar ist; es ist aber nicht ganz klar zu entscheiden, ob diese Ränder reiner Enge und reiner Weite wirklich spürend durchgemacht werden oder sich nur durch ihren Sog in unmittelbarer Nähe präsentieren. Jedenfalls ergibt sich aus dem Gesagten, warum nur die Weitung, der Durchbruch aus der Engung, als Erlösung und Befreiung ersehnt und gefeiert wird, nicht umgekehrt auch die Engung als Erlösung aus der Weite. Die Weite ist an sich konfliktlos, während in der Enge ein Konflikt angelegt ist, der nach Lösung ruft. Die leibliche Dynamik kommt dadurch zustande, daß aus der Weite hervor oder in sie hinein eine Engung gesetzt wird, in der ein Konflikt zwischen Engung und zurückschlagender Weitung angelegt ist. Engung und Weitung sind Bewegungssuggestionen. Ich habe die Bewegungssuggestionen neben den synästhetischen Charakteren als die Brückenqualitäten ausgezeichnet, die es möglich machen, daß auch Leibloses in die Einleibung (die leibliche Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs) eintritt, indem sie auf beiden Seiten, im eigenleiblichen Spüren und an Gestalten aller Art, so übereinstimmen, daß über die Brücke der Übereinstimmung Übertragung von Antrieb möglich wird. Bewegungssuggestionen sind Vorzeichnungen von Bewegung, gleich, ob solche stattfindet oder nicht, an ruhenden und bewegten Gestalten und an Bewegungen, sofern sie, falls Bewegung stattfindet, über deren Ausmaß hinausgehen. So empfängt etwa jede Gebärde ihren Gebärdesinn durch eine Bewegungssuggestion. Es gilt als unschicklich, mit dem Finger auf Nahestehende zu zeigen, weil die harmlose kleine Bewegung des ausgestreckten Zeigefingers mit einer Bewegungssuggestion beladen ist, die wie ein Dolch den Gezeigten aufspießt. Dieser bedrohliche Gebärdesinn, der als Geste der Beschämung eines von Umstehenden umzingelten Menschen besonders aufdring38 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Enge und Weite

lich wird, verschwindet aber, sobald der Finger den Gezeigten berührt, weil die Bewegungssuggestion Gelegenheit haben muß, über das Ausmaß der ausgeführten Bewegung hinauszugehen, und dazu ein Abstand erforderlich ist. In diesem Fall handelt es sich um eine Bewegungssuggestion erlittener Engung, wie beim Getroffenwerden von einem tückischen (»bösen«) Blick. Der Beschämte wird von Fingern oder Blicken nicht nur getroffen, sondern durchbohrt, als sollte er versinken vor Scham. In solcher Weise sind Engung und Weitung auch sonst Bewegungssuggestionen. Ihr Stand im Stärkevergleich markiert den Platz jeder leiblichen Regung in der zwischen Enge und Weite aufgespannten Dimension, aber sie bleiben nicht an einer solchen Stelle stehen, sondern gehen dazu als dynamische Tendenzen darüber hinaus mit einer Neigung zum Extrem, als Engung zur reinen Enge hin, als Weitung zur reinen Weite. Daher hat jede Engung etwas Beschwerendes, wie ein Gewicht, das weiter zieht, wenn sie nicht durch Weitung abgefangen wird, und jede Weitung eine Tendenz zum Durchbruch, zum Ausweg aus der Enge. Engung und Weitung neigen dazu, sich in Konkurrenz (gegenläufiger Verschränkung) zu verbinden, können sich aber auch von einander lösen. In der Verschränkung zum vitalen Antrieb – »vital«, weil er, an sich ziellos, durch seine Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit zu Reizen zur vollen Vitalität, d. h. Einsatzfähigkeit, ergänzt wird – hemmen und treiben sie einander: hemmend als Konkurrenten und treibend, weil in der Engung schon die Weitung als Widerstand steckt, den sie engend anfacht, und die Weitung die sie zurückhaltende Engung herausfordert und ihrer bedarf, um nicht in gestaltlose Weite zu verströmen. In der Verschränkung unterscheiden sich Engung und Weitung durch ihren Stärkegrad und ihre Bindungsform, die entweder kompakt oder rhythmisch (mit Fluktuieren des Übergewichts, wobei im Ganzen eine von beiden Tendenzen vorwiegt) ist. Angst und Schmerz sind Gestalten des vitalen Antriebs mit einem Konflikt durch Übergewicht der Engung über die Weitung, wobei die Bindungsform beim Schmerz kompakt, 39 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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bei der Angst rhythmisch ist. Kraftanstrengung wie bei Heben, Ziehen, Ringen enthält einen hauptsächlich kompakten Antrieb mit ungefährem Gleichgewicht von Engung und Weitung. Bei Wollust und Zorn (verstanden als leibliches Zürnen) überwiegt die Weitung schwellend die spannende Engung, ohne sie abwerfen zu können; die Bindungsform ist bei Wollust rhythmisch, bei Zorn (außer, wenn er gehemmt ist) kompakt. Diese Neigung zur Verschränkung hindert aber nicht das Auseinanderstreben von Engung und Weitung, wobei der Gegenspieler entweder noch nachwirkt, also nicht ganz ausgeschaltet ist, oder wenigstens vermißt wird; wenn nicht einmal das mehr stattfindet, ist kein Bewußtsein möglich. Im heftigen Schreck ist der Antrieb erstarrt oder gelähmt, weil sich die Engung aus der Weitung gelöst hat. Eine andere Form solcher privativen Engung liegt bei Beklommenheit und Depression vor, wenn die Engung der Weitung keinen Spielraum mehr (außer etwa in diffuser Unruhe) läßt. Die umgekehrte privative Weitung findet etwa in Erleichterung und wohltätiger Müdigkeit statt, oder im Rausch des Versinkens vom Gipfel des Orgasmus in der geschlechtlichen Ekstase, oder auch in der Ausleibung als leiblicher Kommunikation im Kanal privativer Weitung, etwa als Versunkenheit in Glanz, Duft und Wärme eines heiteren Sommertages oder dann, wenn der Blick in die Tiefe des Raumes ausläuft und die Enge mitnimmt, so daß der Autofahrer auf glatten, geraden, monotonen Straßen die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert. Ich habe mich so eingehend über diese leiblichen Zustände in der Dimension von Enge und Weite geäußert, daß ich mich hier mit dieser dürftigen Andeutung zur Erinnerung begnüge.

2.2. Enge und Weite im Raum Der Leib ist zum Raum hin offen, in der Weise, daß die leibliche Weite, in die er in der Weitung hervortritt, dieselbe Weite wie die räumliche ist. Das zeigt, sich in den versunkenen Zuständen 40 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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der Ausleibung, wenn sich der Blick in die Tiefe des Raumes (oder in Glanz) verliert und die Enge mitnimmt, so daß der Bewußthaber den Rückhalt und festen Standpunkt in der Weite verliert. Die Weite, an die er ihn preisgibt, ist ebenso die leibliche Weite privativer Weitung wie die räumliche Weite, in der der Leib versinkt. Ebenso stimmen die leiblichen Richtungen mit räumlichen überein. Man braucht nur den Kopf zu drehen, die Arme zu heben, sich zu räkeln (d. h. zu recken und zu dehnen), dann spürt man am eigenen Leib Richtungen, die die Weite als Bewegungssuggestionen in Gegenden gliedern, ohne darin Orte zu finden, gleich dem ziellos schweifenden Blick. Richtung im hier gemeinten, nicht im geometrischen, Sinn ist eine sowohl leibliche als räumliche Kategorie. Immer handelt es sich dabei um unumkehrbare und unzerlegbare Richtungen, die aus der Enge in die Weite führen. Die leiblichen Richtungen sind Formen leiblicher Weitung, die das Besondere haben, Engung mitnehmen zu können, ohne sich ihr entgegenzusetzen, wie der Blick als konzentrierter, fokussierender und das Ausatmen als stoßendes. Sie unterscheiden sich damit von der schwellenden Weitung, die sich im vitalen Antrieb der engenden Spannung entgegensetzt, und von der privativen Weitung, die sich von der Engung ablöst. Als räumliche Richtungen gliedern sie die Weite des Raumes in Gegenden, ohne diese mit (relativen) Orten zu besetzen. Sie gehören zu den unumkehrbaren Richtungen des motorischen Körperschemas, als erste Orientierung des Menschen (oder Tieres) im Raum. Ihnen entgegen strahlen die gleichfalls unumkehrbaren Bewegungssuggestionen begegnender Gestalten. Aus dem Konzert beider Richtungstypen ergibt sich die motorische Eindrucksverarbeitung und Selbstbehauptung bei Mensch und Tier. Ein gutes Beispiel ist das geschickte Ausweichen vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse. Der Blick als leibliche Regung heftet sich in leiblicher Kommunikation vom Typ der einseitigen antagonistischen Einleibung an die Masse und übernimmt von ihr die Richtung ihrer Bewegungssuggestion, die er dem motorischen Körper41 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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schema mitteilt, das die geschickte Anpassung des gerade erforderlichen Ausweichens bewirkt. Auf dem naheliegenden Weg, durch Bemessung der Lage und des Abstandes des eigenen Körpers zu dem drohenden Objekt und Abschätzung von dessen Bahn ist das nicht möglich, da der Bedrohte den eigenen Körper dann gar nicht (oder nur unmaßgeblich) sieht, also auch dessen Position nicht feststellen kann. Außer den leiblichen Richtungen und den Richtungen der Bewegungssuggestion begegnender Objekte gibt es im Richtungsraum abgründige Richtungen ohne erkennbare Quellen ihrer Herkunft, wie die Richtungen des Windes und der reißenden Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt, sowie die Richtungen der Gefühle. Die Enge kommt in den Raum als absoluter Ort. Die Orte im üblichen Sinn, die zu bestimmen gestatten, wo etwas ist, sind relative Orte, die sich durch Lagen und Abstände an ihnen befindlicher Objekte gegenseitig identifizierbar machen. 12 Ein absoluter Ort ist dagegen unmittelbar hier, ohne räumliche Orientierung durch Lagen und Abstände als dieser bestimmt. Wer unerwartet plötzlich mit dem eigenen Namen angerufen wird, neigt dazu, leiblich spürbar zusammenzufahren und dabei sich räumlich hier zu spüren, ohne von seinem relativen Ort im Verhältnis zu anderen Objekten Notiz zu nehmen; das Zusammenfahren ist die räumliche Engung, die den absoluten Ort zugänglich macht. Ein anderes Beispiel ist die diffuse Bedrohung. Dazu gehört etwas Bedrohendes, das normalerweise durch Lage und Abstand zu dem Bedrohten mindestens ungefähr bestimmt ist; im Fall direkter Bedrohung muß es z. B. ziemlich nahe sein, in geringem Abstand. Bei diffuser Bedrohung wird das Bedrohende dagegen nicht durch Lage und Abstand charakterisiert erlebt, also nicht in einem Verhältnis von dort nach hier, von einem Ich habe mehrfach (seit 1967) eine Begriffsbestimmung der relativen Orte angegeben, zuletzt in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, Freiburg 2016, S. 269.

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relativen Ort zu einem anderen, sondern es trifft den Bedrohten, gleichsam schwebend über solcher räumlichen Orientierung, an einem absoluten Ort, wo er keine Gelegenheit hat, diesen mit einem anderen relativen Ort zu tauschen und auszuweichen. Ich habe einige Beispiele dieser Art unter dem Titel »Gegenstandsloses Grauen« gesammelt. 13 In diesen Fällen ist der ganze Leib mit einem Schlag an einem absoluten Ort. Es gibt aber auch absolute Orte einzelner Leibesinseln, womit ich mich auf meine Feststellung beziehe, daß der spürbare Leib gewöhnlich diskret in ein Gewoge verschwommener Inseln gegliedert ist. Ich zeige deren absoluten Ort gern am Beispiel vom Insektenstich. Wenn ein Jucken oder Brennen auf der Haut unerwünschten Besuch anzuzeigen scheint, fährt die dominante Hand blitzschnell an die gereizte Stelle, um den Störenfried zu vertreiben oder zu zerquetschen. Sie braucht an keinem relativen Ort aufgesucht zu werden und trifft den Ort der juckenden oder brennenden Leibesinsel, selbst wenn dieser im perzeptiven Körperschema noch gar nicht verzeichnet war, mit unfehlbarer Sicherheit, ohne sich um die richtige Lage bemühen zu müssen. Lediglich die Richtung zwischen zwei absoluten Orten, dem der Hand und dem der gereizten Stelle, weist ihr den Weg. Solche Beobachtungen veranlassen mich zu der Hypothese, daß das motorische Körperschema durch Richtungen zwischen absoluten Orten vermittelt. Der Richtungsraum kommt mit Weite, Enge (in Gestalt von absoluten Orten) und unumkehrbaren Richtungen aus, ohne Orte, die genauer zu bestimmen gestatten, wo etwas ist. Für Menschen und Tiere ist er unentbehrlich, für Tiere vielleicht der einzige Lebensraum. Dem Menschen dient er – außer in prägnanten Sonderfällen wie beim Balancieren zum Abfangen eines drohenden Sturzes – ganz allgemein als Medium flüssiger Bewegung. Diese wäre unmöglich, wenn sich z. B. die Füße beim Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II, Teil 2: Der Gefühlsraum, zuerst Bonn 1969, S. 290–293

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Gehen, die Zunge beim Sprechen an Lagen (Winkel) und Abstände halten müßten, um ihrer Funktion gerecht zu werden; nach jedem Schritt, jeder Zungenstellung müßte mühsam gesucht werden. Der Richtungsraum ist flächenlos; daher bewegen sich Tänzer und marschierende oder kämpfende Soldaten motorisch (nicht optisch) in einem flächenlosen Raum, und nur der registrierende Beobachter überträgt ihn in einen flächenhaltigen. Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib, denn am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren. Die Fläche entlastet den Menschen vom Druck der Einleibung und gibt Gelegenheit, durch Einzeichnung von Strecken (ursprünglich Kanten) und Punkten (ursprünglich Ecken) die unumkehrbaren Richtungen zu umkehrbaren Verbindungen zu ergänzen. Dadurch werden Lagen und Abstände möglich, die auf umkehrbare Verbindungen, an denen sie abgelesen werden können, angewiesen sind, weil sie mit den Zahlenfolgen, die nach ihrer Zerlegung zur Messung unentbehrlich sind, selbst umkehrbar werden. Über den Lagen und Abständen kann ein System relativer Orte konstruiert werden, das im Wechsel der Lagen und Abstände konstant bleibt und deren Wechsel zu registrieren gestattet, damit auch die Zeitmessung; viele solche Systeme (Ortsräume) können zusammengestellt und verschachtelt werden. Mit Hilfe von Flächen und Strecken kann der Raum als dreidimensional konstruiert werden; das dynamische Volumen wird durch das dreidimensionale abgelöst. So entsteht das geläufige, von Geometrie und Naturwissenschaft eingeführte Leitbild des Raumes. Der Ortsraum setzt aber nicht nur genetisch, sondern auch logisch den Richtungsraum voraus, wie ich gezeigt habe. 14 Nur bei wenigen Gelegenheiten wird die reine Weite im Raum ohne Überformung durch den Richtungsraum zugänglich. Ein solcher ist das unauffällige Rückfeld, das jeder Mensch durch kleine Bewegungen des Aufrichtens, Biegens, Dehnens und Streckens unaufhörlich vertrauensvoll in Anspruch nimmt. 14

Wie Anmerkung 12, S. 267–269

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Pathologisch auffällig wird die Weite in der reinen Weiteangst (Platzangst, Agoraphobie), wenn sie für den Betroffenen so aufdringlich durch die erhaltene ortsräumliche Organisation der Umgebung durchbricht, daß der von ihr geengte spürbare Leib sich ihr gegenüber in seiner Enge, an seinem absoluten Ort, nicht mehr behaupten kann. 15

2.3. Enge und Weite in der Zeit Die Dauer ist die Weite in der Zeit, aber als gebrochene Weite. Im Leib und im Raum stehen sich Enge und Weite als Pole gegenüber, mit vermittelnden Gliedern zwischen ihnen, die im Leib die Mischungen von Engung und Weitung sind, im Raum die unumkehrbaren und unzerlegbaren leiblichen Richtungen. In der Zeit greift dagegen die Engung die Weite an, als der Andrang des Neuen, der im Entstehen aus der Weite, die dadurch zur Dauer wird, Gegenwart abreißt und exponiert, wodurch er die Dauer zerreißt und als zerrissene ins Vorbeisein (Nichtmehrsein) verabschiedet; auf diese Weise entspricht dem Entstehen das Vergehen. Unter dem Druck des Neuen zerreißt die Dauer aber nicht ganz, sondern der zerrissenen Dauer gesellt sich unzerrissen gebliebene bei, die reine Weite wäre, wenn sie nicht der Riß des Abschieds ins Vorbeisein an die zerrissene Dauer bände. Dieser Riß muß plötzlich sein, damit die Gegenwart aus der zur Dauer gewordenen Weite markant herausgehoben werden kann. Die Plötzlichkeit des Risses in der Dauer – der primitiven Gegenwart, wie ich nachher sagen werde – wird aber zugedeckt durch die unzerrissen gebliebene Dauer, die über den Riß hinweg nachquillt und den Riß dadurch zu heilen scheint, daß es gleich weiergeht. So entsteht aus der primitiven Gegenwart, dem zeitlichen Riß in der Weite durch den Gegenwart exHermann Schmitz, System der Philosophie, Band III, Teil 1: Der leibliche Raum, zuerst 1967, S. 136–144

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ponierenden Andrang des Neuen, die zeitliche Gegenwart als Kompromiß von zerrissener und unzerrissener Dauer. Sie kann länger und kürzer sein, länger bei langsamerer, kürzer bei schnellerer Veränderung (z. B. Bewegung). Besonders langsam vergeht sie als Zeit der zuständlichen Situationen; dann kann sie als zeitliche Gegenwart ein ganzes Zeitalter umfassen. Andererseits vergeht sie ganz schnell, wenn von Augenblick zu Augenblick etwas Neues geschieht. Niemals aber wird die zeitliche Gegenwart zum bloßen Zeitpunkt. Dieser ist ein fiktives Konstrukt zur präzisen Grenzziehung bei Abmessung der Zeitabstände in einer zu extensiver Größe umgedeuteten Dauer. Die Person, wie auch das Tier, gewinnt einen engen Platz (einen Standpunkt) in der Zeit nur dadurch, daß zwischen dem Nochnichtsein vor dem Entstehen und dem Nichtmehrsein nach dem Vergehen die Gegenwart herausgehoben ist, als die schmale Mitte des Seienden, durch die unablässig Nichtseiendes in Nichtseiendes umgeschaufelt wird. Diese Mitte kann sich dehnen und schrumpfen, je nachdem, ob sie sich dem Riß des Abschieds, dem plötzlichen Rand des Nichtmehrseins, nähert oder diesen mit unzerrissener Dauer zudeckt. Im ersten Fall wird die Dauer unter dem gesteigerten Andrang des Neuen dichter, gedrängter, im zweiten Fall lockerer, entspannter, weiter gedehnt. Derselbe Gegensatz, der auf der Gewichtsverschiebung von Engung und Weitung beruht, findet sich im synästhetischen Charakter der Töne, Vokale und sonstigen Geräusche: Der dunkle Schall klingt locker, weich, schwerfällig, weit ausladend, dumpf im Gegensatz zum beweglichen, dichten, spitzen, kompakten, dabei zarterem Wesen des hellen, hohen Schalls. Derselbe Gegensatz besteht am eigenen Leibe zwischen Frische und Müdigkeit. Die Dauer verteilt sich daher auf die beiden Seiten oder Dimensionen der gedrängten, verdichteten, schneller beweglicheren und flüchtigeren Dauer am Abgrund des Vergehens und der lockeren, weicheren, in die Länge gezogenen Dauer zur Weite hin. Sie gleicht damit anderen intensiven Größen mit Verteilung in hell und dunkel, schnell und langsam, warm und kalt, 46 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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laut und leise. Das Entkommen der Gegenwart aus der Enge des Plötzlichen, Gedrängten und Flüchtigen in unzerrissenes Verweilen kann als Glück empfunden werden wie von Rousseau: »Aber wenn es einen Zustand gibt, worin die Seele eine genügend feste Haltung findet, um sich ganz darin auszuruhen und ihr ganzes Sein zu sammeln, ohne Bedürfnis, die Vergangenheit zurückzurufen oder auf die Zukunft auszugreifen, wo die Zeit nichts für sie ist, wo die Gegenwart immer dauert, ohne doch ihr Dauern hervortreten zu lassen (…) – solange dieser Zustand dauert, kann sich, wer sich darin findet, glücklich nennen (…). So ist der Zustand, in dem ich mich auf der St. PetersInsel oft in meinen einsamen Träumereien gefunden habe, teils gelagert in meinem Kahn, den ich treiben ließ, wie das Wasser wollte, teils an den Ufern des unruhigen Sees sitzend, oder auch am Rand eines hübschen Flüßchens oder eines Baches, der über den Kies plätscherte.« 16 Diese gelungene Verdrängung des Risses aus der Gegenwart ist ein isolierter Extremzustand, dem die gedrängte Enge des anderen Extrems so sehr fehlt, daß er in Gefahr einer faden Gleichgültigkeit ist, die unter dem Druck unruhiger Erwartung des Neuen selbst wieder zur Engung wird; dann ergibt sich Langeweile. Die Dauer ist an sich eine intensive Größe wie die Wärme, die man nicht wie die Quecksilbersäule im Thermometer in einzelne Stücke zerlegen und aus diesen wieder zusammensetzen kann. Husserl hat diesen Unterschied exemplarisch übersehen, als er die Retention am Beispiel eines anhaltenden Tones beschrieb. Retention ist die langsame Abschwächung der Phasen, die, indem sie in die Vergangenheit absinken, gerade noch in der Gegenwart gehalten werden. Husserl wollte die Phasen des Nachklingens in einer mehrdimensionalen Struktur des Nachklingens, des Nachklingens des Nachklingens, des Nachklingens des Nachklingens des Nachklingens usw. nach einander anordJean-Jacques Rousseau, Les Rêveries du promeneur solitaire, ed. Rodier (Classiques Garnier), Paris 1960, S. 70 f., 5. Promenade

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nen. Er verkannte sie als extensive Größen. Die Retention ist aber die intensive Dauer eines allmählich auslaufenden Zwischenzustandes des Hängens am Abgrund des Untergangs in das Nichtmehrsein der Vergangenheit. Jede intensive Größe enthält eine Fülle von Momenten oder Phasen, die nicht nur nicht einzeln sind, sondern sogar nicht selbst im Sinne der Verschiedenheitsfähigkeit: Etwas ist selbst, wenn es, falls vieles ist, von anderem verschieden ist. Es wäre sinnlos, in einer steigenden Wärme, die an Fülle zunimmt, nach Teilwärmen, die voneinander verschieden wären, zu suchen. Zur Einzelheit ergänzt sich absolute Identität (Selbstsein), wenn etwas, das selbst ist, von einer Gattung als ihr Fall getroffen wird; Gattung ist alles, wovon etwas ein Fall ist. Ich komme bald darauf zurück, während ich hier Einzelheit nur streife und nicht einmal eine Definition angebe. Extensive und intensive Größen haben viele Inhalte, die bei den extensiven einzelne Teile sind, bei den intensiven nicht einmal selbst (absolut identisch) sind. Dazu gehört die Dauer. Man kann sie nicht zerlegen, z. B. in der Musik. Eine getragene Phrase eines gregorianischen Chorals klingt anders als eine Lachsalve Ha-Ha-Ha-Ha; man kann sie nicht stottern. Wohl mißt man die Töne der Länge nach, aber dazu bedarf es entweder einer Uhr oder wenigstens der gedanklichen Zerlegung durch Übertragung aus dem flächenlosen Raum des Schalls in den flächenhaltigen der Anschauung, wo es Punkte (Zeitpunkte) und Strecken (Zeitstrecken) gibt. Durch Übertragung der intensiven Dauer in den Raum kommt die Extensivierung und Egalisierung der Dauer zu Stande. Der Mensch hat ein lebenswichtiges Interesse an dieser Übertragung, weil er nicht mehr wie das Tier durch den Nomos (den Programmgehalt) aktueller und zuständlicher Situation geführt wird, sondern sein eigenes Leben führen und sich in der Welt zurechtfinden muß. Dazu bedarf er der Zeitmessung und Zeiteinteilung und für diese eine Dauer, die sich messen und einteilen läßt. Zu diesen Zwecken bedient sich der Mensch der als gleichförmig imponierenden Bewegung einer (natürlichen 48 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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oder künstlichen) Uhr. Sie mißt die Geschwindigkeit einer Veränderung als Quotient von Weg durch Zeit (d. h. Dauer), wobei das Maß der Zeit vom Maß der Wegstrecke der Uhr während einer kreisförmigen oder eines bestimmten Abschnittes einer geradlinigen Bewegung genommen wird. An der Geschwindigkeit sollen die Unterschiede der Schnelligkeit und Langsamkeit bestimmt und aus diesen die extensivierte und egalisierte Dauer, die bei schnellerer Bewegung kürzer, bei langsamerer länger ist, errechnet werden. Was aber ist gleichförmige Bewegung? Sie ist eine Bewegung, die nicht schneller oder langsamer wird. Diese einfache Überlegung zeigt, daß die Dauer begrifflich nicht so eingeführt werden kann, ohne in die Falle eines Zirkels zu geraten: Mit Hilfe der Begriffe von Schnelligkeit und Langsamkeit (zur Einführung der Gleichförmigkeit) sollen Schnelligkeit und Langsamkeit eingeführt werden. Vielmehr muß man, um die Geschwindigkeit meßgerecht zu machen, von einer Vorkenntnis des Schnellen und Langsamen als intensiver Größen ausgehen und diese dann in der angegebenen Weise mit Hilfe einer Uhr in den Raum übertragen, wobei die Dauer in eine Zeitstrecke (analog zur Wegstrecke) umgedeutet wird. Das Schnelle ist die Modifikation der Dauer zur Enge hin, als gedrängte, flüchtige, dem Vergehen geneigte Dauer, das Langsame die Modifikation der Dauer zum Pol der Weite hin, die lockere, entspannte, wenig oder nicht zerrissene Dauer. Die Weite wird in der Zeit durch den Andrang des Neuen zur teils zerrissenen, teils dieser anhaftenden unzerrissenen Dauer, als Umschichtung des Nichtseienden in Nichtseiendes über die schmale Mitte des als Gegenwart exponierten Seienden durch Entstehen und Vergehen. Dieser Wechsel von Sein und Nichtsein als Modalitäten ergibt die Modalzeit des Entstehens und Vergehens mit der Gegenwart als absolut identischem Akzent und dem Fluß der Zeit, daß die Vergangenheit (die Masse dessen, was nicht mehr ist) wächst, die Zukunft (die Masse dessen, was noch nicht ist – die geschlossene Zukunft in meiner Terminologie) schrumpft und die Gegenwart (die Masse dessen, was 49 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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ist in der Weite, nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr zu sein) wechselt. Der Riß, den der Andrang des Neuen zum Entstehen in die dadurch zeitlich zur Dauer gewordene Weite setzt, wird gewöhnlich dadurch überspielt, daß das Leben weitergeht, indem die Wendung zu dem in unzerrissene Dauer wieder eindringenden Neuen von der Katastrophe des Abschieds ablenkt. Das Unglück einer depressiven Erkrankung besteht zu einem großen, vielleicht dem größten Teil darin, daß dieser Trost ausfällt: Das Leben geht nicht mehr weiter, da die Modalzeit in eine öde, vom Neuen entblößte Zukunft und ein haltloses Vergehen auf der anderen Seite zerfällt. Bis hierhin kommt die Modalzeit ohne Einzelheit aus. Die Gegenwart als Akzent bringt zwar schon absolute Identität, aber nicht notwendig Einzelheit mit sich. So mag die Zeit der Tiere und der kleinen Kinder beschaffen sein, und bei Personen die Zeit in ekstatischen und fassungslosen Zuständen. Sowie aber die Einzelheit zur Durchgestaltung der Zeit benutzt werden kann, ergänzt sich die Modalzeit durch die Lagezeit als die Anordnung von Zeitinhalten gemäß dem Früheren, Späteren und Gleichzeitigen. Modalzeit und Lagezeit schließen sich zur modalen Lagezeit zusammen. Für alles Nähere verweise ich auf meine einschlägigen Veröffentlichungen. 17

2.4. Enge und Weite in der Mannigfaltigkeit Die Weite hat in der Mannigfaltigkeit den Charakter der Selbstlosigkeit, der grenzenlosen Offenheit, der chaotischen Verschwommenheit, in der nichts hervortritt, nichts sich aus der Fülle abhebt. Enge tritt in diese Weite zuerst als Selbstheit im Sinne der Verschiedenheitsfähigkeit ein: Selbst ist, was, wenn vieles ist, von anderem verschieden ist. Damit taucht ein Akzent Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, kurz zusammengefaßt in: Ausgrabungen (wie Anmerkung 12), S. 270–292

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auf, der die grenzenlose Offenheit auf etwas zusammenzieht. Das ist absolute Identität. Sie verschärft sich durch die Zahl zur Einzelheit. Einzeln ist, was zahlfähig ist, als Element einer Menge, die eine Zahl hat. Das Mannigfaltige wird numerisch; damit entsteht eine neue Zusammenhangsform: Wo zuvor nur unspaltbares, ungerichtetes Verhältnis als Zusammenhang möglich war, können nun Verhältnisse in Beziehungen, die nur zwischen einzelnen Gliedern möglich sind, aufgespalten werden. Dem chaotischen Mannigfaltigen des Anfangs, das durch diese Zuspitzungen nicht aufgelöst worden ist, wird auf diese Weise eine gliedernde und zugleich (durch Spaltbarkeit der Verhältnisse) bewegliche und umformbare Decke übergeworfen, die der Einengung des Verschwimmenden auf das Bestimmte dient. Am Ende dieser Engungsgeschichte steht die relative Identität (von etwas mit etwas) als Instrument der Bündelung: Fälle verschiedener Gattungen werden zu einem einzigen Fall vieler Gattungen zusammengefaßt. Auf dieser Engung durch relative Identität beruht unter anderem die Möglichkeit der Person. Diese aus der ganz weiten Mannigfaltigkeit aufsteigende Engungsgeschichte des Mannigfaltigen will ich nun skizzenhaft nachzeichnen. Das ganz chaotische Mannigfaltige ohne jede Spur von Identität und Verschiedenheit hat die Gestalt von gleichmäßigen (homogenen) und ungleichmäßigen (heterogenen) Kontinuen. Homogene Kontinuen sind z. B. tiefe Nacht wie das Augengrau, das man bei geschlossenen Augen sieht, ruhiges Wasser für den Schwimmer, eine durchdöste Frist. Interessanter sind die ungleichmäßigen Kontinuen intensiver Schwankung, wenn z. B. etwas Kaltes wärmer, etwas Leises lauter, etwas Schwaches stärker, etwas Dunkles heller, etwas Langsames schneller wird oder die umgekehrte Verminderung eintritt. Eine Fülle vieler Inhalte nimmt dann zu oder ab, aber man kann das Ganze nicht in Stükke schneiden; eine große Hitze enthält nicht viele mildere Wärmen, die so über einander geschichtet wären wie die Striche im vermeintlich die Wärme messenden Thermometer. Damit ent51 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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steht die Frage, wie anders die Hinzufügung gedacht werden kann. Die mittelalterlichen Scholastiker sind an diesem Problem gescheitert, das sich ihnen zunächst am Beispiel der Quantifizierung der von Gott dem Menschen gnadenhaft eingegossenen Liebe (caritas) aufdrängte. Auf Grund ihrer Option für das Einzelne (das numerische Mannigfaltige) konnten sie sich Hinzufügung nur als Zugabe einzelner Stücke vorstellen, obwohl sie einsahen, daß dieses Modell hier nicht greift. 18 Die Inhalte eines intensiven Quantums sind aber nicht nur nicht einzeln, sondern nicht einmal (absolut) identisch. Ich will den Unterschied an einem Schwimmer in ruhigem Wasser verdeutlichen. Er darf seine Glieder und sonstigen Körperteile, deren er sich bedient, nicht zu sehr vereinzeln (als einzelne vorstellen), weil ihn das am flüssigen Schwimmen hindern würde, aber erst recht darf er sie nicht verwechseln, weil er dann untergehen würde; er muß also mit ihrer Verschiedenheit vertraut sein, so daß sie für ihn absolut identisch sind. Das viele Wasser, das er durchschwimmt, gibt ihm keine Gelegenheit, viele Portionen darin als diese selben, verschieden von anderen, zu identifizieren, es ist ihm einfach nur viel Wasser mit vielen Inhalten, die keiner Verwechslung ausgesetzt sind. Ebenso verhält es sich mit den vielen Wärmen, die eine starke Wärme aufbauen und dann, wenn diese noch wärmer oder weniger warm wird, hinzukommen oder wegfallen: Sowie sie hinzukommen, gehen sie im Ganzen des jeweiligen Quantums Wärme unter, ohne sie selbst gegen andere zu sein. Aus solchen Inhalten besteht ein intensives Quantum, an ihnen kann es wachsen, ohne daß je von ihnen auch nur ein Zipfel möglicher Isolierung zum Vorschein käme, während aus dem Wasser, das der Schwimmer durchschwimmt, immerhin Portionen abgeschöpft werden können. Wenn das Selbstlose demnach augenscheinlich vorkommt, wird man fragen dürfen, wie es trotzdem zur Selbstheit kommt, Remissio/intensio formarum, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 8, Basel/Darmstadt 1982, Spalte 780–783 (von G. Krieger)

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da diese offenbar nicht selbstverständlich ist. Die nächstliegende Antwort dürfte sein: Die Selbstheit wird dann dem ohne sie Selbstlosen als eine weitere Eigenschaft neben seinen sonstigen Eigenschaften (wie die Wärme dem Warmen) verliehen. Aber das ist unmöglich. Die Verleihung würde, damit sie eine Adresse hätte, schon die Selbstheit des Adressaten voraussetzen. Das Gegenteil eines Zusatzes ist für die Selbstheit erforderlich, nämlich ein Bruch oder Riß im Seienden, der diesem die für Selbstlosigkeit bezeichnende Gleichgültigkeit und Gleichförmigkeit nimmt, damit etwas heraustreten und sich von anderem abheben kann. Das Seiende, das nicht selbst ist, hat nur sein Sein zu bieten, an dem es getroffen werden kann. Wenn solches Sein unterbrochen und dem Nichtsein überantwortet wird, kann dem Gleichmaß etwas abgewonnen werden, das selbst hervortritt. Das ist der Ursprung der Zeit im Andrang des Neuen, der die unter diesem Andrang zur Dauer gewordene Weite zerreißt und als zerrissen ins Nichtsein dadurch verabschiedet, daß er Gegenwart aus ihr abreißt und im Kontinuum exponiert. Dieser Übergang ist kein bloßes Gleiten wie im Fall der Retention nach Husserl. Schon die Fülle des Selbstlosen gleitet im Wachsen und Schrumpfen intensiver Größen. Um das Gleichmaß des gleitenden Selbstlosen zu durchbrechen, bedarf es des Plötzlichen, wie eines heftigen Schrecks oder Rucks, einer Erschütterung. Dadurch wird der Übergang gepreßt. Er wird zum Ereignis extremer Engung, das ich als die primitive Gegenwart bezeichne. Was die primitive Gegenwart ist, kann man sich beispielhalber an einem plötzlich erschütternden Anruf oder Geräusch, einem Schlag vor den Kopf, einem unvermittelten Aufschrecken aus dem Schlaf, einem Ausrutschen mit Sturzgefahr klar machen. Man bemerkt, daß dann fünf Seiten oder Momente, die aber erst im Rückblick unterscheidbar werden, in unspaltbarem Verhältnis – vor jeder Beziehung zu einander – zusammenhängen: das Hier als absoluter Ort des bedrängenden Zusammenfahrens, das Jetzt als absoluter Augenblick des Plötzlichen, das Dieses als absolute Identität, selbst und von anderen verschieden 53 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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zu sein, das Ich als das affektive Betroffensein, einem Betroffenen nahe zu gehen, und schließlich das Sein (die Wirklichkeit), das als einziges der fünf Momente nicht erst diesem Geschehen – dem Gegenwart abreißenden und exponierenden Andrang des entstehenden Neuen – den Ursprung verdankt, wohl aber die Gedrängtheit und Aufdringlichkeit, durch die es spielraumlos wird, so daß man von der Wirklichkeit gestellt wird, wie das Wild von den Hunden, der Verbrecher von der Polizei, und nicht mehr ausweichen kann. Die so verstandene primitive Gegenwart schöpft aus der durch den Abbruch der Dauer ins Nichtmehrsein entstandenen Lücke den Akzent des Selbstseins. Dafür ist das Ich-Moment, die Subjektivität des affektiven Betroffenseins, unentbehrlich, weil nur diese Seite der primitiven Gegenwart zusätzlich zu der Auslieferung an das Geschehen eine aktive Seite hat, nämlich das Herangehen an das Betreffende (d. h. betroffen Machende), das darin besteht, sich darauf einzulassen, es mit einer Stellungnahme aufzunehmen, z. B. das Bedrohliche mit dem Impuls der Abwehr, ohne den es zur Tönung von etwas als bedrohlich gar nicht käme. Wenn alles Betroffensein nur ein Geschehenlassen, ein passives Mitmachen wäre, würde alles im selben Strom mitschwimmen und nichts sich selbst aus ihm abheben. Daher gehört die Subjektivität dazu, die absolute Identität des Hier und Jetzt mit Inhalt zu füllen. Man ersieht aus dem Gesagten, daß die Verschiedenheitsfähigkeit keine bloß logische, zeitlose Gegebenheit ist, sondern auf ein zeitgebendes Ereignis extremer Engung zurückgeht. Dieses ist ein relativ seltener Ausnahmezustand. Er wird aber vorgezeichnet oder angedeutet durch die mit Weitung verschränkte Engung im vitalen Antrieb, die, wie ich gezeigt habe, eine Bewegungssuggestion ist, die über das Maß der jeweils erreichten Engung suggestiv hinausführt und so in der Lage ist, die primitive Gegenwart als latente Aussicht vorzuhalten. Vom vitalen Antrieb des eigenen Leibes pflanzt sich dieses Vermögen fort in den gemeinsamen Antrieb der Einleibung, der leiblichen Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs; auf diese Weise 54 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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wird alles, woran die Einleibung andockt, in den Radius des Selbstseins eingeholt. Wie man sieht, ist die leibliche Dynamik der Engung unentbehrlich für die Entstehung und Fortpflanzung der absoluten Identität. Mit dem Verfügen über absolute Identität wird eine reichhaltig organisierte Lebensform möglich, die ich als Leben aus primitiver Gegenwart bezeichne. In ihr ist der Leib mit leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation enthalten, auf dem Hintergrund der Kontinuen und der primitiven Gegenwart. Zu ihr gehört der Richtungsraum und die Modalzeit. Statt in Beziehungen besteht der Zusammenhang in unspaltbaren Verhältnissen. Diese können hochstufige Ordnungen ungefähr ebenso annehmen wie die Beziehungen, hinter denen sie durch mehr Starrheit (geringere Umformbarkeit) zurückstehen. Die Hauptform des Zusammenhangs im Leben aus primitiver Gegenwart ist die (aktuelle oder zuständliche) Situation, in der Mannigfaltiges durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen, Problemen) ganzheitlich zusammengehalten wird. Ein solches Leben dürften im Wesentlichen die Tiere und die Menschen in Routine (z. B. beim Sprach- und Mundgebrauch im flüssigen Sprechen) führen, wohl auch die Säuglinge, wenn auch anfangs in sehr unreifem Zustand. Die nächsthöhere Stufe der Engung der Mannigfaltigkeit beruht auf Geburt und Entfaltung der Einzelheit, sofern damit die Gelegenheit auftaucht, über alles Mannigfaltige ein zusammenhängendes Netz zu werfen. Ich habe gezeigt, daß folgende drei Definitionen der Einzelheit gleichwertig sind: Einzeln ist, was Element einer Menge mit der Zahl 1 ist; einzeln ist, was eine Zahl um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element irgend einer endlichen Menge ist. Zur Verdeutlichung gebe ich einige Erläuterungen. Eine Menge ist der Umfang einer Gattung, sofern er eine Zahl hat. Was eine Gattung ist, habe ich anderswo ausgeführt 19 ; es wäre technisch zu kompliziert, das hier zu wieder19

Ausgrabungen … (wie Anmerkung 12), S. 74–81: Fall und Gattung

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holen. Gattung ist alles, wovon etwas ein Fall ist. Eine Zahl ist die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit einer Menge auf eine Menge, die beide auch zusammenfallen oder sich überschneiden dürfen. Eine umkehrbar eindeutige Abbildung ist eine Paarung, wobei jedes Element beider Mengen verbraucht wird und jedes auf jeder Seite der Paarung nur einmal vorkommt. Jede Menge hat eine und nur eine Zahl, weil die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit eine Äquivalenzisolation (symmetrisch und transitiv) ist. Die Zahl 1 ist die Zahl jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Nur Mengen können von sich aus Zahlen haben, weil die Gattung zugleich ihre Fälle und ihren Umfang, der diese Fälle und nur sie enthält, bestimmt. Komplexe dagegen, die durch Zusammensetzung entstehen, erhalten eine Zahl ihrer Teile nur durch eine zusätzliche Einteilung, die nur durch Mengen möglich ist. Alles Einzelne ist Element einer Menge und damit Fall einer Gattung. Obendrein muß es absolut identisch (verschiedenheitsfähig) sein. Daher kann man Einzelheit auch so bestimmen: Einzeln ist etwas absolut Identisches, wenn es als dieses Selbe Fall einer Gattung ist. Man darf aber nicht einfach sagen: Einzeln ist, was absolut identisch und Fall einer Gattung ist. Im Leben aus primitiver Gegenwart kommt vieles vor, was absolut identisch und Fall einer Gattung ist, aber nicht als dieses, sondern nur zusammen mit unzählichem anderen, aus dem es sich nicht als dieser besondere Fall abhebt. Damit etwas einzeln sein kann, müssen also zunächst Gattungen zur Verfügung stehen. Gattungen sind eine Art von Sachverhalten, also Bedeutungen. Diese müssen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen hervorgeholt (expliziert) werden, um für die Subsumtion der Fälle zur Verfügung zu stehen; dafür brauchen sie selbst nicht gleich einzeln zu werden, sondern ihre Vereinzelung ist ein Prozeß mit Übergängen. Die Vereinzelung der Gattungen wie auch aller übrigen Bedeutungen, die aus Situationen expliziert werden, ist nur durch die satzförmige Rede des Menschen möglich. Sie gibt den Anstoß dazu, daß sich über dem Einzelnen durch Entfaltung der primiti56 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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ven Gegenwart nach ihren fünf Seiten eine Welt als das Feld oder der Rahmen aufbaut, in dem sich alles Mannigfaltige zur Vereinzelung darbietet, wenn auch diese nie zu Ende geführt werden kann. Der Mensch wird in diesen Prozeß, den er mit seiner satzförmigen Rede angestiftet hat, hineingezogen, indem er zur einzelnen Person mit persönlicher Eigenwelt und persönlicher Situation wird. Die Vereinzelung gibt dem Menschen die Fähigkeit zur Spaltung der bis dahin unspaltbaren Verhältnisse (oder vielmehr eines Teiles davon) in Beziehungen. Eine gerichtete Beziehung ist, anders als ein ungerichtetes Verhältnis, nur zwischen einzelnen Gliedern möglich, weil jede Beziehung einer Stellenzahl sowie einer Teilnehmerzahl bedarf und nur das Einzelne zahlfähig ist, als Element einer Menge, die eine Zahl hat. Die Tötung eines Feindes hat die Stellen- und Teilnehmerzahl 2, die Selbsttötung die Stellenzahl 2 und die Teilnehmerzahl 1, die Aufforderung zur Selbsttötung die Stellenzahl 3 und die Teilnehmerzahl 2. Durch Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen wird das diskursive Denken beweglich; der Mensch kann analysieren, umdenken, planen, phantasieren, wagen. Dabei hilft ihm sein Vermögen, phantasierend und planend ins Nichtseiende auszugreifen. Diese Beweglichkeit stellt der Engung, die der Straffung seiner Weltanschauung durch Einordnung des vereinzelten Mannigfaltigen in stabile Netze von Gattungen zuteil wird, in neuer Weise einen Spielraum der Weitung zur Seite. Ihre Spitze erreicht die konzentrierende Engung des anfänglichen Kontinuums auf dem Weg über absolute Identität und Einzelheit in der relativen Identität von etwas mit etwas, die gewöhnlich allein den Namen »Identität« führt. Für die Vereinzelung genügt das Fallen unter eine Gattung; relative Identität verlangt das Fallen unter mehrere Gattungen und faßt deren Fälle zu einem einzigen Fall vieler Gattungen zusammen. Wie mächtig diese Errungenschaft ist, zeigt sich an der Person, da deren Fähigkeit zur Selbstbestimmung auf ihr beruht. Ich zeige das an einem Beispiel. Ein türkischer Schuster in Kreuzberg ver57 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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steht sich als Schuster, als Mann, als Türke, als Berliner, als Familienvater, als Moslem, vielleicht noch als Lotteriespieler und Fußballfan und auf viele andere Weisen, d. h. als Fall aller dieser Gattungen. Dieses vielseitige Verständnis gibt ihm Gelegenheit, zwischen diesen Fällen wie zwischen Rollen zu wählen, einige zu bevorzugen, andere zurückzustellen, sie auf verschiedene Weisen zu verbinden oder auseinanderzuhalten, einige abzuschaffen, andere hinzuzunehmen. So gewinnt er ein Maß an Verfügung über sich, das ihn von einem Automaten im Dienst einer einzigen Aufgabe unterscheidet, und die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen; das macht ihn zur Person. In entsprechender Weise werden auch alle anderen Sachen, mit denen ein Mensch sich beschäftigt, für ihn vielseitig, so daß er nicht nur einen Zugang zu ihnen hat, sondern die Hinsicht wechseln kann. Fundamentale Wichtigkeit besitzt die relative Identität ferner als Ermöglichung des Wiedererkennens von etwas als dasselbe über alle Grenzen in Raum, Zeit und zwischen den Individuen. Die bündelnde, zusammenziehende Kraft der relativen Identität ist ein entscheidender Beitrag zur Engung des Mannigfaltigen, die dieses nach dem durch satzförmige Rede ermöglichten Austritt aus Situationen zusammenhält. Andererseits gewährt diese Engung der Person eine Chance der Weitung als Spielraum der Selbstbestimmung beim Umgang mit den gebündelten Gattungen, als deren Fall die Person sich versteht, und entlastet diese dadurch vom Druck der Enge.

2.5. Leib, Raum, Zeit und Mannigfaltigkeit im Vergleich Die durchgehende Polarität von Enge und Weite gibt dem Leib, dem Raum, der Zeit und der Mannigfaltigkeit verwandte Züge. Besonders stark wirkt sie auf die Zeit ein, indem die Enge als engender Andrang des entstehenden Neuen die Weite zur Dauer verformt. In der leiblichen Dynamik stehen sich Enge und Weite gegenüber in einer Dimension, die durch Gewichtsverteilung 58 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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zwischen Engung und Weitung nach Übergewicht beider Seiten gegliedert ist, aber auch die Abspaltung von Engung und von Weitung aus ihrer Verschränkung (dem vitalen Antrieb) gestattet. Im Raum werden Enge und Weite nicht durch ein Mehr oder Weniger von Enge oder Weite vermittelt, sondern durch leibliche Richtung als Übergang aus der Enge des absoluten Ortes, eines Übergangs, der die Weite in Gegenden gliedert. Ihr Zusammentreffen in der reinen räumlichen Weiteangst (Agoraphobie) ist ein unvermittelter Schock. In der Mannigfaltigkeit ist Weite die verschwommene Ergossenheit des homogenen und heterogenen Kontinuums, der Enge durch zunehmende Konzentration angetan wird. Deren erster Schritt ist die Verdichtung und Akzentuierung des Kontinuums durch Selbstheit (Verschiedenheitsfähigkeit); sie stimmt überein mit dem Einbruch der Zeit in die Weite, die zur Dauer wird, als der plötzlich engende Andrang des entstehenden Neuen, der die primitive Gegenwart exponiert. Dieses Ereignis gehört also ebenso der Mannigfaltigkeit wie der Zeit wie der leiblichen Dynamik (als extreme privative, aus dem vitalen Antrieb sich abspaltende Engung) an. Leib, Zeit und Formung der Mannigfaltigkeit zum Selbstsein gehören also auch genetisch eng zusammen. Eine Sonderstellung nimmt der Raum ein. In ihn greifen Enge und Weite nicht so intensiv in einander, daß die Engung der Weite gefährlich wird. Die Weite des Raumes übersteht ungehindert die Konfrontation mit dem absoluten Ort, der als Enge in sie eingesetzt wird. Sie erleidet aber die Gliederung in Gegenden durch die von der Enge ausstrahlenden unumkehrbaren und unzerlegbaren leiblichen Richtungen. Dieses Verhältnis ähnelt in gewisser Weise dem vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung durch Verschränkung in Kontakt sind, dabei aber auch beiden Seiten die Chancen der Abspaltung zur Enge und zur Weite hin lassen. Mithin entspricht in der leiblichen Dynamik dem Ursprung der Zeit die privative Engung, der Konfrontation von Enge und Weite im Raum eher der vitale Antrieb. Die Erschütterung durch den Andrang des Neuen scheint in Gestalt 59 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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des Raumes nur so weit zu gehen, daß in die Weite eine Enge als absoluter Ort eingesetzt wird und mit ihr in Verbindung tritt, aber nicht so weit, daß die Weite selbst angefochten und als zerrissene Dauer dem Nichtmehrsein überliefert wird.

2.6. Die Unendlichkeit Wie sehr Weite und Enge in der traditionellen kulturtypischen Vorstellung des Unendlichen (mindestens bis zu Dedekind 1887) mitschwingen, kann man Zeugnissen der Klassiker von ihrem Schauder beim Blick in den unermeßlichen Sternhimmel entnehmen, wie Pascals berühmtem Satz: »Das ewige Schweigen der unendlichen Räume läßt mich schaudern!« 20 Hegel bedichtet in seiner Hölderlin gewidmeten Elegie Eleusis die Rückkehr aus der Versunkenheit in den nächtlichen Sternhimmel: Dem wiederkehrenden Gedanken fremdet, Ihm graut vor dem Unendlichen, und staunend faßt Er dieses Anschauens Tiefe nicht. Einen tieferen Einblick gibt Goethe im 10. Kapitel des 1. Buches von Wilhelm Meisters Wanderjahre, wo er die Erschütterung Wilhelms beim Anblick des klaren Nachthimmels beschreibt: »Ergriffen und erstaunt hielt er sich beide Augen zu. Das Ungeheure hört auf, erhaben zu sein, es überreicht unsere Fassungskraft, es droht, uns zu vernichten. Was bin ich denn gegen das All? Sprach er zu seinem Geiste; wie kann ich ihm gegenüber, wie kann ich in seiner Mitte stehen? Nach einem kurzen Überdenken jedoch fuhr er fort: Das Resultat unseres heutigen Abends löst ja auch das Rätsel des gegenwärtigen Augenblicks. Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten versammelt (…).« Die 20

Pascal, Pensées, Nr. 206 in der Zählung von Brunschvicg

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ungeheure Weite des als unendlich erscheinenden Sternenalls wirkt also paradox als bedrängende Engung, gegen die sich der Mensch, um ihr standzuhalten, mit eigener Engung auf seine innerste Tiefe konzentrieren muß. Der Motor dieser Umkehrung von Weite in Enge scheint mir mit den Worten vom Stehen in der Mitte des Alls, vom sich Stellen gegen das Unendliche, ausgedrückt zu sein. Die Weite als bloße Größe des Universums tut dem Menschen nichts an, aber als Weite raubt sie ihm den Stand, da sie durch ihre Grenzenlosigkeit in die reine Weite der Kontinuen übergeht, in denen nichts sich abhebt, ehe die primitive Gegenwart den Akzent absoluter Identität setzt. Dieses Bedenken hat auch Kepler getroffen, als er über die von Giordano Bruno behauptete Unendlichkeit des Universums nachdachte: »Dieser bloße Gedanke birgt in sich ich weiß nicht welchen geheimen Schauder, wenn jemand sich vorstellt, in diesem Unermeßlichen herumzuirren, in dem es keine Grenzen, daher auch keine Mitte und keine bestimmten Orte geben soll.« 21 Ich habe diesen chaotischen Urzustand formloser Weite vorhin an den Schwankungen intensiver Größen belegt, und als solche führt Platon (Philebos 24a-25a) das Unendliche oder Endlose (apeiron) vor. Mit der unheimlichen Entsicherung des Selbstseins im Unendlichen als reiner Weite verbindet sich eine scheinbare Unbegreiflichkeit des Unendlichen, die Leibniz so beirrt hat, daß er sich weigerte, das von ihm anerkannte Unendliche zu Einheiten unendlicher Mengen zusammenzufassen, und den Gedanken einer Zusammensetzung des Kontinuums aus Punkten als undurchdringliches Labyrinth verwarf. 22 Im Unendlichen scheint, entgegen dem anerkannten Axiom, das Ganze nicht größer als seine Teile zu sein. Man kann sich das am einfachsten an konJohannes Kepler, De stella nova in pede Serpentarii, Kapitel 21 (Opera omnia ed. Ch. Frisch, vol. II, Frankfurt/Erlangen 1859, S. 689) 22 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie, Band II, Freiburg 2007, S. 292 f. 21

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zentrischen Kreisen deutlich machen: Der gemeinsame Radius sorgt dafür, daß jedem Punkt des größeren Kreises genau ein Punkt des kleineren entspricht, und dennoch scheint der größere Kreis mehr Punkte haben zu müssen, so daß die Punkte des kleineren Kreises in ihm als bloße Teile der seinigen unterkommen könnten. Ein anderes Beispiel, auch von Leibniz, ist die Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung der Menge aller natürlichen Zahlen auf die Hälfte von ihnen, die Menge aller geraden Zahlen. Später hat Bolzano in seiner nachgelassenen Schrift Die Paradoxie des Unendlichen solche Bedenken wieder vorgebracht. Es war ein kühner Schlag des Mathematikers Richard Dedekind, 1887 in seiner Schrift Was sind und was sollen die Zahlen? gerade diese paradoxe Eigenschaft zur Definition der unendlichen Menge zu nützen: Eine Menge ist unendlich, wenn sie auf eine echte Teilmenge von sich umkehrbar eindeutig abgebildet werden kann. Ein großes kulturgeschichtliches Verdienst dieser Wendung, ganz abgesehen von ihrer mathematischen Brauchbarkeit, besteht darin, die klassische Vorstellung vom Unendlichen in ihre beiden Bestandteile, die überendliche Größe und die Schauder erregende formlose Weite, auseinanderzunehmen und nur die erste Komponente zurückzuhalten. Zwar erwähnt Dedekind nicht einmal die überendliche Größe, aber er ersetzt sie durch ein gleichwertiges qualitatives Merkmal, die Möglichkeit einer Operation an Mengen, an der nichts Schauderhaftes zu bemerken ist. Diese Befreiungstat der Ernüchterung des Unendlichen hat zwar in der Mathematik breite Anerkennung gefunden, aber nicht verhindern können, daß das alte Bedenken doch wieder einmal auftaucht. Detlef D. Spalt wendet in seiner sonst – soweit ich mir ein Urteil erlauben darf – vorzüglichen Begriffsgeschichte der Infinitesimalrechnung gegen Dedekinds Auffassung, ohne diese ganz verwerfen zu wollen, ein, nach der Definition gelte der Satz: »Es gibt mathematische Gegenstände, die ebenso groß sind wie ein echter Teil von ihnen.« Angewandt auf die umkehrbare eindeutige Abbil62 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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dung der Menge der natürlichen Zahlen auf die Menge der geraden Zahlen unter ihnen könne man aber mit gleichem Recht behaupten, einerseits: »Es gibt genauso viele ohne Rest durch 2 teilbare Zahlen wie natürliche Zahlen.« Andererseits das Gegenteil: »Es gibt halb so viele ohne Rest durch 2 teilbare Zahlen wie natürliche Zahlen.« 23 Er merkt nicht, daß er die Worte »ebenso groß« und »genauso viele« doppelsinnig verwendet: sowohl für das gleiche Quantum als auch für die gleiche Zahl. Das Besondere der unendlichen Mengen besteht darin, daß das Quantum variieren kann, ohne die Zahl – im Sinne meiner Definition: als umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit auf eine Menge – nach sich zu ziehen. Die Zahl ist ein zu grobes Maß für das Quantum im Unendlichen. Man kann das leicht mit dem scherzhaften, hier aber ernsthaft als Argument einzusetzenden Beispiel von Hilberts Hotel beweisen. Ein gewöhnliches Hotel hat nur endlich viele Betten. Wenn alle Zimmer belegt sind, müssen Nachzügler abgewiesen werden. Hilberts Hotel hat dagegen (abzählbar) unendlich viele Betten und Zimmer. Wenn alle belegt sind und noch 20 Nachzügler kommen, brauchen diese nicht abgewiesen zu werden. Der Portier muß lediglich mit unendlicher Schallgeschwindigkeit durchrufen: »Alle Gäste sollen 20 Zimmer weiter ziehen.« Wenn die ihm den Gefallen tun, stehen die ersten zwanzig Zimmer leer, und die Nachzügler können aufgenommen werden. Das Quantum der Gäste hat sich also um 20 vermehrt, aber ihre Zahl ist gleich geblieben. Jedes Zimmer hat seine Nummer, und alle natürlichen Zahlen werden für die Nummerierung gebraucht, jede nur einmal, vorher ebenso wie nachher. In beiden Fällen stimmt also, trotz Vermehrung des Quantums, die Zahl überein, als umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit auf die Menge der natürlichen Zahlen.

Detlef D. Spalt, Die Analysis im Wandel und im Widerstreit. Eine Formierungsgeschichte ihrer Grundbegriffe, Freiburg/München 2015, S. 677

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3. Leib und leibliche Kommunikation

Im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert ereignet sich in Griechenland der folgenreichste, später auch das Christentum und danach die Naturwissenschaft beherrschende Paradigmenwechsel der abendländischen Intellektualkultur. Im Interesse der personalen Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen wurde jedem Bewußthaber eine private Innenwelt, die sogenannte Seele (Psyche) zugesprochen, mit seinem gesamten Erleben als Innenwelt, wie ein Haus, in dem er als Vernunft Herr über seine unwillkürlichen Regungen sein sollte; die empirische Außenwelt zwischen den Innenwelten wurde von allen ergreifenden Mächten gereinigt und zu diesem Zweck bis auf wenige geschickt gewählte Merkmalsorten und deren erdachte Träger (Atome, Substanzen) abgeschliffen: Der Abfall der Abschleifung wurde in den Seelen abgelegt oder übersehen und dann doch in verwandelter Gestalt in den Seelen wiedergefunden. Der Mensch wurde in Seele und Körper zerlegt. Bei dem Transport in die Seele wurden wichtige Massen der Lebenserfahrung vergessen. Zu ihnen gehört der spürbare Leib, der zwischen Körper und Seele wie in einer Gletscherspalte verschwand. Dabei ist er das Nächste von allem, das den Menschen ununterbrochen zustößt. Jeder kennt Kopf- und Bauchschmerzen, Hunger, Durst, Wollust, Ekel, Frische und Müdigkeit, Zorn ist schon einmal in ihm aufgestiegen, Kummer hat ihn niedergedrückt, Freude ihn erleichtert. Solche Erfahrungen geben dem Menschen die Gewähr, daß er selbst es ist, dem sie widerfahren. Diese Gewißheit wird aber dadurch in den Hintergrund gedrängt, daß solche Ereignisse und Zustände oft an Orten vorkommen, wo der Mensch Teile seines Körpers vorfindet oder vermutet. Sie werden, weil sie am Körper stattfinden, in den 64 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Leib und leibliche Kommunikation

Körper verlegt. Dadurch werden sie der unmittelbaren Gewißheit entrückt; denn von seinem Körper kann der Mensch sich distanzieren, ihn wie einen Fremdkörper in Augenschein nehmen und erforschen, ihn benützen und zurechtmachen, während er seinen Hunger, seinen Schmerz, seine Erleichterung wirklich selbst erleiden muß. Wir Deutschen haben es durch die beiden Wörter »Leib« und »Körper« leicht, den spürbaren Leib vom sichtbaren und tastbaren Körper zu unterscheiden. Andere Sprachen müssen sich mit mühsamen Umschreibungen behelfen. Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich den Inbegriff alles dessen, was er von sich selbst (als zu sich gehörig) in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne und des aus ihren Erfahrungen (besonders denen des Sehens und Tastens) gewonnenen perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen. Ich gliedere diesen Inbegriff in vier Typen leiblicher Regungen: An erster Stelle stehen die bloßen leiblichen Regungen wie Schreck, Angst, Schmerz, Beklommenheit, Jucken, Kitzel, Ekel, Wollust, Erleichterung, Hunger, Durst, Frische, Müdigkeit, animalisches Behagen. Die zweite Gruppe wird von den leiblichen Regungen gebildet, durch die Gefühle den affektiv Betroffenen ergreifen, so daß sie zu seinen eigenen, von ihm gefühlten Gefühlen werden. In diesem Sinn unterscheidet sich z. B. vom Zorn als impulsiv ergreifender Macht das Zürnen als leibliche Regung, womit der Zorn dem Zornigen seine erstaunliche Gebärdensicherheit (die blitzenden Augen, die geballten Fäuste, die schneidende Stimme usw.) eingibt. Solches Fühlen braucht nicht in der leiblichen Regung aufzugehen, sondern kann auch persönliche Stellungnahmen zur Ergriffenheit in Preisgabe oder Widerstand enthalten. Diese beiden Gruppen fallen in das affektive Betroffensein. Die beiden folgenden Gruppen habe ich unter die leiblichen Regungen aufgenommen, weil sie sowohl der räumlichen Ausdehnung als auch der Dynamik und leiblichen Kommunikation nach, wovon noch zu sprechen 65 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Leib und leibliche Kommunikation

sein wird, dazu gehören, obwohl sie auch ohne nennenswertes affektives Betroffensein vorkommen. An dritter Stelle handelt es sich um die gespürte Motorik, sowohl die willkürliche wie die unwillkürliche bei Zittern, Zucken, Niesen. Dazu kommen viertens die unumkehrbaren leiblichen Richtungen, teils an Bewegungen gebunden wie das Ausatmen, das Schlucken, die Bahnen des motorischen Körperschemas, teils ohne Bewegung, möglich wie der Blick. Es ist ein Irrtum, die leiblichen Regungen als empfundene Körperzustände aufzufassen. Dabei übersieht man den Unterschied in der Art der räumlichen Ausdehnung. Der Körper eines Menschen oder Tieres ist stetig ausgedehnt, von Flächen begrenzt und durch Flächen schneidbar, mit bestimmten Lagen und Abständen seiner Teile. Alles Leibliche dagegen ist flächenlos. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie am eigenen Körper besehen und betasten kann. Leicht macht man sich den Unterschied am Kopfschmerz klar. Er teilt sein Lokal mit dem Kopf, einer festen, durch Schnitte zerlegbaren, dreidimensionalen Masse. Der Kopfschmerz ist auf andere Weise räumlich ausgedehnt, als eine verschwommene, engende und geengte Masse, unscharf begrenzt, zwar von dynamischen Akzenten (Pochen, Hämmern, Klopfen) durchsetzt, aber nirgends schneidbar, daher auch nicht in Teile zerlegbar. Der Raum des Leibes ist ein flächenloser Raum wie der Raum des Schalls mit seinen raumgreifenden Bewegungssuggestionen, die auf tanzende und marschierende Leiber überspringen, mit Nähe, Ferne und Richtungen, mit ausladenden und spitzen Formen, aber ohne Punkte, Strecken, Flächen. Ebenso flächenlos ausgedehnt sind die Räume der einprägsamen (feierlichen, drückenden oder morgendlich zarten) Stille, des Wetters, des unauffälligen Rückfeldes, das man ständig durch kleine Bewegungen nach hinten in Anspruch nimmt, der Raum des auftreffenden Windes mit einer Bewegung ohne Ortswechsel, die man an der Richtung seiner Herkunft merkt, solange man ihn nicht

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Leib und leibliche Kommunikation

in bewegte Luft umdeutet, und der Raum des Wassers für den Schwimmer, der sich vorwärts kämpft oder ruhig tragen läßt. Flächenlose Räume haben keine geometrischen Dimensionen, da solche nur im Auf- oder Abstieg von der Fläche aus zugänglich sind. Wohl aber haben sie dynamisches Volumen auf Grund der Verschränkung von Engung und Weitung in einander, wovon noch die Rede sein wird. Das zeigt sich am Schall durch den Unterschied der tiefen, dunklen Töne und Geräusche, die weit ausladen, schwerfällig, aber locker sind, von den dichten, engen, spitzen, hellen, hohen. Im spürbaren Leib handelt es sich um das Volumen der Leibesinseln. Der Leib entfaltet sich gewöhnlich zu einem Gewoge verschwommener Inseln, von denen einige konstant sind, während die meisten kommen und gehen. Eine davon ist die Ateminsel, die sich bei jedem Atemzug bildet und wieder auflöst. Dabei führt zunächst die weitende Schwellung, die sich allmählich, aber in Sekundenschnelle zu einem Übergewicht engender Spannung verschiebt, bis diese unerträglich zu werden droht und durch die unumkehrbare leibliche Richtung des Ausatmens in die Weite abgeführt wird. In ähnlicher Weise ist das Volumen der Stille und des Wassers für den Schwimmer dynamisch. Ein anderes Beispiel ist der Kopfschmerz, als enge, drückende und dennoch verschwommene Leibesinsel. In flächenlosen Räumen kann es keine relativen Orte geben, die sich durch Lagen und Abstände gegenseitig bestimmen und zu sagen gestatten, wo etwas ist. Das liegt daran, daß Lagen und Abstände nur an umkehrbaren Verbindungen, die nur durch Flächen möglich sind, abgelesen werden können. Wohl können flächenlose Räume sekundär in ein System relativer Orte übertragen werden, der Schall an den Schallquellen, das Wasser für den Schwimmer durch optische Vergegenwärtigung seiner Lage, die Leibesinseln durch Eintrag in Körperorte mit Hilfe des perzeptiven Körperschemas. Von sich aus bringen die flächenlosen Räume aber keine relativen Orte mit. Für deren Fehlen entschädigt der Raum des Leibes durch absolute Orte, die ohne Bezie67 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Leib und leibliche Kommunikation

hungen der Lage und des Abstandes in sich (als diese) bestimmt sind. Einen solchen absoluten Ort erfährt man im Zusammenfahren bei Schreck oder auf einen unerwarteten Anruf hin. Ohne sich an einem absoluten Ort zu finden, könnte man nicht geschickt ausweichen, wenn sich eine wuchtige Masse sichtbar drohend nähert, und sei es nur ein Schneeball. Man sieht dann nicht den eigenen Körper, kann ihn also auch nicht der Lage und dem Abstand nach auf die Gefahr einstellen; vielmehr heftet sich der Blick, eine unumkehrbare leibliche Richtung, an die Bewegungssuggestion, die den bevorstehenden Kurs des nahenden Objekts anzeigt, und überträgt diese Information in das motorische Körperschema, das die geschickte Anpassung dirigiert. Das kann er nur, weil der Betroffene sich hier weiß, an einem absoluten Ort. Es gibt auch absolute Orte einzelner Leibesinseln. Ich zeige das am Beispiel vom Insektenstich. Wenn ein Jucken oder Brennen die Gegenwart eines Parasiten an einer Hautstelle zu verraten scheint, fährt die dominante Hand blitzschnell und zielsicher an die gereizte Stelle, um den Störenfried zu vertreiben oder zu zerquetschen. Sie braucht an keinem relativen Ort aufgesucht zu werden und findet ihr Ziel, auch wenn dieses im perzeptiven Körperschema noch nicht verzeichnet war. Diese Beobachtung weist darauf hin, daß es ein ursprünglicheres, jederzeit einsetzbares System der Orientierung am eigenen Körper gibt als das perzeptive Körperschema: das motorische Körperschema, das durch unumkehrbare Richtungen zwischen absoluten Orten vermittelt. Es vollbringt eine höchst komplizierte Meisterleistung beim Balancieren zum Abfangen eines drohenden Sturzes und ist für flüssige Bewegungen unerläßlich. Mit dem motorischen Körperschema dirigiert der Leib auf für uns undurchsichtige Weise den Körper. Das perzeptive Körperschema verführt dazu, aus dem Umstand, daß die leiblichen Regungen meist (nicht immer) an einer Körperstelle angesiedelt sind, den falschen Schluß zu ziehen, daß sie sich auch im Körper ereigneten, als bloß eigenartig empfundene Ereignisse in diesem. Das wäre so, als ob der Schall einer 68 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Leib und leibliche Kommunikation

Singstimme ein Ereignis im Stimmapparat des Sängers oder der Sängerin wäre und nicht etwas unvergleichbar anderes, das aus den Bewegungen dieses Stimmapparates hervorgeht. Die Kluft zwischen verschiedenen Raumstrukturen wird durch solche Fehlschlüsse übersprungen. Die Eigenart des spürbaren Leibes im Unterschied vom sichtbaren und tastbaren Körper des Menschen betrifft aber nicht nur die Raumstruktur, sondern auch die leibliche Dynamik und die aus dieser sich ergebende leibliche Kommunikation. Diesen Themen wende ich mich nun zu. Die leibliche Dynamik verläuft in zwei Dimensionen, der Dimension von Enge und Weite und der Dimension von protopathischer und epikritischer Tendenz. Wichtiger im gegenwärtigen Zusammenhang, besonders für die leibliche Kommunikation, ist die Dimension von Enge und Weite. Alle leiblichen Regungen finden einen Platz in ihr. Weite ist an sich nicht dynamisch; dagegen wird in jeder Enge das Wirken einer engenden, einschränkenden Kraft mit gespürt, der sich eine Tendenz zur Rückkehr in die Weite widersetzt. Dadurch entsteht eine Konkurrenz von Engung und Weitung, die in ihrer Verschränkung, einander zugleich hemmend und anstachelnd, den vitalen Antrieb bilden. Wenn die Engung aus dem Verband aushakt, wie beim heftigen Schreck, ist der Antrieb erstarrt oder gelähmt; wenn die Weitung aus dem Verband ausläuft, wie beim Einschlafen, beim Dösen oder nach der Ejakulation, ist er erschlafft; daran zeigt sich, daß er in der Verschränkung beider Impulse besteht. »Vital« nenne ich ihn, weil er in seiner Grundschicht, die etwa am Einatmen beobachtet werden kann, zwar ziellos ist, aber durch seine Reizempfänglichkeit und seine von ihr geführte Zuwendung zu empfangenen Reizen zur vollen Vitalität, zur aktiven zielgerichteten Einsetzbarkeit, ergänzt wird. Im Verband des vitalen Antriebs bezeichne ich die Engung als Spannung, die Weitung als Schwellung, um für das Zurückhaltende der Engung, das Drängende der Weitung passende Namen zu haben. Engung und Weitung können sich teilweise aus der Verschränkung lösen; ich bezeichne sie dann als privative Engung 69 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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bzw. privative Weitung. Wenn die Lösung aber total wird, schwindet das Bewußtsein, das vom vitalen Antrieb wachgehalten wird. Im vitalen Antrieb lassen sich die leiblichen Regungen in drei Hinsichten unterscheiden: nach der Stärke, nach der Gewichtsverteilung und nach der Bindungsform von Spannung und Schwellung. Die Bindungsform kann kompakt oder rhythmisch sein: kompakt, so daß Spannung und Schwellung zäh an einander haften, oder rhythmisch, so daß sich überwiegende Spannung und überwiegende Schwellung kurzfristig abwechseln, während der ganzen Regung doch einer der beiden konkurrierenden Impulse das Gepräge geben kann. Ich markiere nun kurz den Spielraum von Engung und Weitung in der Dimension leiblicher Enge und Weite durch einige prominente Beispiele leiblicher Regung. Angst und Schmerz sind nah verwandt als Konflikte von Spannung und Schwellung mit starkem Übergewicht der Spannung. Sie sind expansive Impulse, die von überwältigender Hemmung abgefangen werden, ich spreche von einem aufgehaltenen Impuls »Weg!«. Die Angst ist weniger verwickelt als der Schmerz. Sie besteht in der Suche nach einem Ausweg aus leiblich engender Bedrängnis. Dabei hat der Impuls »Weg!« den Erfolg, daß es der Angst gelingt, sich wirklich auf den Weg zu machen und dabei die Bedrängnis mitzunehmen, z. B. in panischer Flucht, nicht weniger aber in der sogenannten Tatstellreaktion, wenn man vor Angst starr wird und dann zwar nicht vom relativen Ort weg will, aber vom absoluten Ort, indem man die ganze Situation mit ihm in der Mitte durch Abschalten oder Ausklinken aus ihr unterläuft. Das Entsprechende ist beim Schmerz unmöglich. Sein expansiver Impuls kann sich nur symbolisch entladen, im Schrei, der statt des Gepeinigten in die Weite entkommt, und im Aufbäumen, das sofort zusammenbricht. In der Angst kann man aufgehen wie in Zorn und Eifer, aber nicht im Schmerz; er konfrontiert. Schmerz ist nämlich sowohl eigener Zustand, dem man entkommen will, als auch zudringlicher Widersacher, mit dem man sich auseinandersetzen 70 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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muß. Das Doppelgesicht des Schmerzes spiegelt sich in der Gegensätzlichkeit der teils engenden, teils weitenden Schmerzgesten: Schrei, Stöhnen, Aufbäumen sind Versuche des Entkommens in Weite, Ballen der Fäuste, Zusammenpressen der Zähne und der Lippen dagegen engende Einstellungen auf Abwehr des Schmerzes im Nahkampf. Beides paßt nicht zusammen: Man kann einem Widersacher nicht entkommen, indem man ihm nahetritt. Die Bindungsform von Spannung und Schwellung ist bei Angst rhythmisch, beim Schmerz kompakt. Deswegen keucht der Geängstigte: Die Schwellung setzt beim Atmen ein, bricht an hemmender Spannung ab und setzt erneut ein. Niemand keucht vor Schmerz. Die Bedrängnis durch den Schmerz als Widersacher ist zu massiv für das elastische Schwingen des Rhythmus. Angst und Schmerz sind als Konflikte von Spannung und Schwellung im vitalen Antrieb qualvoll. Sie unterscheiden sich damit vom Schreck, der ihnen durch das Übergewicht der Engung über die Weitung gleicht. Beim Schreck ist dieses Übergewicht aber so stark, daß der vitale Antrieb, als Band von Engung und Weitung in privativer Engung, zur Enge hin, reißt. Vor Schreck wird man daher antriebslos, nicht vor Angst oder Schmerz. Peinlich oder lästig ist der Schreck als Unterbrechung des vitalen Antriebs, der neu geknüpft werden muß, nicht als Reibung gegenläufiger Tendenzen. Ein ungefähres Gleichgewicht von Spannung und Schwellung im vitalen Antrieb besteht bei Kraftanstrengung wie Heben, Ziehen, Klettern; die Bindungsform ist dann kompakt. Übergewicht der Schwellung über die Spannung ist das Merkmal von Wollust und Zorn. Wollust ist lustvolles Überwiegen der Schwellung, solange sie dabei ist, sich gegen einen Widerstand hemmender Spannung durchzusetzen. Ihr markantester Typ ist die geschlechtliche Wollust, doch hat Wollust auch viele ungeschlechtliche Formen, z. B. als milde Wollust bei sanften Hautreizungen oder bei Recken und Dehnen, als heftigere Wollust des Kampfes mit den Elementen und des Ringkampfes, noch 71 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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mehr als Wollust des Saugens und Schlürfens aus gierigem Durst und des Kratzens einer stark juckenden Hautstelle. Mit zunehmender Stärke wird die Bindungsform der Wollust rhythmisch, indem sich die Schwellung immer neu ihres Übergewichts über die hemmende Spannung versichert. Daher kann sie leicht mit dem gleichfalls rhythmisch gebundenen vitalen Antrieb der Angst zur wollüstigen Angstlust verschmelzen, z. B. beim Gruseln (thrill) und beim Karussellfahren, z. B. auf der Achterbahn. Als Aktivierung des vitalen Antriebs mit Übergewicht der Schwellung gleicht der Wollust der Zorn oder besser das leibliche Zürnen, nur daß es nicht so lustvoll ist und die Bindungsform von Spannung und Schwellung nicht rhythmisch, sondern kompakt ist, außer manchmal bei gehemmtem Zorn. Wollust und Zorn streben einem Gipfel zu, wo das Übergewicht der Schwellung den Widerstand der Spannung durchbricht und in freies Strömen übergeht. Bei geschlechtlicher Wollust handelt es sich um den Orgasmus, z. B. im Geschlechtsakt, bei Zorn um den Racheakt. Auf diesem Gipfel schlägt die Schwellung in privative Weitung um, in ein rauschhaftes Sichergießen mit Erschlaffung und Erleichterung. Erleichterung, etwa auch von einer schweren Sorge, verhält sich als Abspaltung aus dem vitalen Antrieb zu Wollust und Zürnen wie Schreck zu Angst und Schmerz, nur in umgekehrter Richtung, zur Weite hin. Ein anderes Beispiel privativer Weitung ist die wohltätige Müdigkeit. Eine zusätzliche Klammer, außer dem vitalen Antrieb, verbindet Enge und Weite des Leibes in Gestalt der leiblichen Richtung, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt, dabei aber Engung mitnehmen kann, etwa als Blick, als Ausatmen, das das Übergewicht der Spannung am Ende des Einatmens durch Zuführung von Weite ausgleicht, und als Schlucken. Das körperliche Schlucken befördert Speisen und Getränke nebst anderen Körpern auf einem engen und kurzen Weg vom Mund in den Magen. Das leibliche Schlucken gleicht dem Atmen abzüg72 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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lich der Phase überwiegender Schwellung am Beginn des Einatmens: Auf eine kräftig spannende Engung folgt der Ausgang leiblicher Richtung in die Weite, hier als räumliche Tiefe eines flächenlosen Raumes. Ein konstantes Netz leiblicher Richtungen überzieht den Körper und führt, z. B. in den Bahnen der Gebärden, darüber hinaus in Gestalt des schon erwähnten motorischen Körperschemas. Daß diese Richtungen, mit denen der Leib über Leibesinseln den Körper dirigiert, unumkehrbar sind, sieht man so ein: Um den ganzen Körper zweckmäßig einsetzen zu können, ist eine ihn umspannende, konstante Ordnung erforderlich, die festlegt, daß die rechte Hand immer die rechte ist, der rechte Fuß immer der rechte und weiter unten als das Knie usw. für alle übrigen beweglichen Teile. Eine Verwechslung könnte üble Folgen haben. Zu der Ordnung gehört eine Bezugsstelle, von wo aus etwas rechts oder links, mehr oder weniger unten usw. ist. Von der Bezugsstelle aus können die beweglichen Körperteile mühelos an ihrem Platz gefunden und aufgerufen werden, aber es ist unmöglich, durch bloße Umkehrung dieser Richtung von den Gliedern aus die Bezugsstelle zu finden, während es im perzeptiven Körperschema gar keine Mühe macht, die Verbindung von Kopf zum Fuß in die Verbindung des Fußes zum Kopf umzukehren. Mit einem kurzen Seitenblick begnüge ich mich für die zweite Dimension leiblicher Dynamik, die von protopathischer und epikritischer Tendenz. Die Ausdrücke habe ich von dem englischen Neurologen Henry Head übernommen. Protopathisch ist die Tendenz zum Dumpfen, Verschwommenen, diffus Ausstrahlenden, epikritisch die Tendenz zum Spitzen, Scharfen, zur Pointe. Der Leib als Gewoge verschwommener Inseln und der vitale Antrieb in seiner ziellosen Grundform sind protopathisch, während die Oberstufen der Vitalität, Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit des Antriebs, für ihre Auslesefähigkeit epikritische Tendenz benötigen. Beim Schmerz ist der dumpfe Eingeweideschmerz protopathisch, der helle Zahnschmerz epikritisch. Die milde Wollust zarter Hautreizungen ist protopathisch, das 73 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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feine Stechen, das in der wollüstigen Angst des Gruselns den Rücken hinabrieselt, eher epikritisch. Hunger ist protopathische Engung, ebenso der benommene Kopf nach zu reichlichem Alkoholgenuß; epikritische Weitung beflügelt dagegen das muntere, freie Ausschreiten am Morgen mit leichtem, flottem Schritt. Obwohl protopathische Tendenz mehr zur Weitung, epikritische Tendenz mehr zur Engung neigt, gibt es demnach auch die entgegengesetzten Paarungen. Beide Dimensionen müssen also unterschieden werden. Von der leiblichen Dynamik des einzelnen Leibes komme ich nun zur leiblichen Kommunikation, mit der die leibliche Dynamik den je eigenen Leib eines Individuums mehr oder weniger überschreitet. Die leibliche Dynamik ist von vornherein kommunikativ, denn der vitale Antrieb verschränkt die gegenläufigen Impulse Engung und Weitung zu einer Art von Dialog. Dieser Dialog wird zur partnerschaftlichen Auseinandersetzung bereits im Schmerz, der als eindringender Widersacher den expansiv schwellenden Impuls »Weg!« aufhält und konfrontiert. Der Schmerz ist nicht nur Eindringling in den Leib, sondern auch dessen eigener Zustand; bloß noch eindringende Widersacher, die aber ebenso wie der Schmerz nur am eigenen Leib und nicht als äußere Gegenstände merklich sind, sind der Wind und die reißende Schwere, wenn man stürzt oder sich gerade noch fängt. Schmerz, Wind und reißende Schwere sind wie die Stimme und vielerlei anderes Halbdinge, die sich von gewöhnlichen Dingen auf zwei Weisen unterscheiden: Sie kommen, gehen und kommen wieder, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wie sie die Zwischenzeit verbracht haben, und sie wirken unmittelbar, ohne Unterschied zwischen Ursache und Einwirkung. Diese Unmittelbarkeit gibt ihnen eine Zudringlichkeit, wodurch sie sich in den vitalen Antrieb eindrängen. So entsteht ein gemeinsamer Antrieb, wie unter Partnern, die an einem Strang ziehen, oft in entgegengesetzter Richtung, in Übereinstimmung oder in kämpferischem Gegensatz. Diese leibliche Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs bezeichne ich als Einleibung. Sie 74 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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kommt als antagonistische Einleibung vor, wenn mindestens ein Partner sich dem oder den anderen zuwendet, und als solidarische Einleibung, wenn ein gemeinsamer Antrieb viele Leiber ohne solche Zuwendung erfaßt, wie beim gemeinsamen Singen oder Sägen oder in panischer Massenflucht, wenn ein gemeinsamer Fluchtimpuls die Menschen so blind für Zuwendung macht, daß einer den anderen wie einen toten Gegenstand beiseite schiebt oder gar zu Tode trampelt. Einleibung in Halbdinge ist die primitivste Form antagonistischer Einleibung. Diese kommt aber auch als Einleibung in Gestalten aller Art vor, sogar in Probleme, an denen man grübelt, zunächst aber als Einleibung in andere Leiber von Menschen oder Tieren. Eine wichtige Gestalt solcher Einleibung ist der Blickwechsel. Der Blick des anderen trifft mich engend, ich werfe weitend den meinen zurück, der den anderen engt, und so spielt sich ein gemeinsamer Antrieb von Spannung und Schwellung ein. Wegen seiner antagonistischen Struktur ist der Blickwechsel immer ein Ringen um Dominanz, auch ohne jede Herrschsucht, ganz im Gegenteil: Die unterwürfigsten Blicke, der liebevolle und der demütige, sind die dominantesten, weil sie rühren und der Gerührte sich nicht mehr wehren kann, da er durch die Rührung den Stand verliert. Tiere, wie Großkatzen und Affen, unterwerfen sich dem Blick des Menschen oder werden böse, wenn dieser Blick sie trifft, weil er ihrem Imponierbedürfnis in die Quere kommt. So wirksam ist die leibliche Dynamik in der optischen Kommunikation ohne physische Einwirkung. Antagonistische Einleibung kann einseitig und wechselseitig sein. Der Unterschied betrifft die Verteilung der dominanten Rolle im gemeinsamen Antrieb. Diese hat immer der Inhaber der Enge, das Zentrum der Engung, weil davon die leiblichen Richtungen der Einleibung ausgehen, womit die Partner gleichsam eingefangen werden können. Wenn diese dominante, engende, konzentrierende Rolle immer auf einer Seite bleibt, ist die Einleibung einseitig. Das ist der Fall, wenn Menschen von 75 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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etwas gefesselt werden, von dem sie nicht loskommen, wenn z. B. etwas ihren Blick bannt, wie ein Drahtseilakt oder ein Fußballspiel oder, im vorhin erwähnten Beispiel, die in drohender Näherung gesehene wuchtige Masse, an die der Blick sich hängt; so hängt auch der Grübler in einseitiger Einleibung an seinem Problem. Wechselseitig wird antagonistische Einleibung, wenn die Dominanz zwischen den Partnern fluktuiert, wie beim Blickwechsel im Gespräch. Der gemeinsame Antrieb hat dann die rhythmische Bindungsform von Spannung und Schwellung wie bei Angst und Wollust. Diese Bindung steigert sich zum gegenseitigen Hochschaukeln in dem von mir nach einer Stelle aus Goethes Drama Die natürliche Tochter so genannten Eugenie-Effekt, wenn die Partner im Wechsel ihrer Rollen den gemeinsamen Antrieb in die Höhe treiben und dabei symbiotisch zu einem zweieinigen leiblichen Wesen in Ich-Du-Beziehung verwachsen, so Reiter und Pferd (im Fall von Goethes Eugenie), aber auch Fahrer und Motorrad bzw. Auto. Dabei entzündet sich – oft illusionär, wie man sieht – die von Konrad Lorenz so genannte Du-Evidenz, mit einem anderen seines gleichen, einem anderen Bewußthaber, zu tun zu haben. Diese Du-Evidenz hat man bisher immer durch eine Projektion erklärt, wobei derjenige, der glaubt, ein Du vor sich zu haben, in einen Gegenstand etwas von sich hineinlegt oder überträgt, sei es durch Analogieschluß von sich auf den anderen, sei es mehr unwillkürlich durch Einfühlung (Lipps) oder Apperzeption (Auffassung als etwas auf Grund von Anzeichen, Husserl). Diese Projektionstheorien sind ebenso oft mit Recht angegriffen worden. Die Analogieschlußtheorie, an deren Widerlegung ich mich beteiligt habe, scheitert ganz einfach schon daran, daß die Du-Evidenz ebenso gut wie zwischen Menschen auch zwischen Mensch und Tier eintritt, wo die Analogie viel weniger Stütze hat als zwischen Menschen. Die Apperzeptionstheorie kann die Überzeugung vom wirklichen Dasein eines anderen Bewußthabers nicht verständlich machen. Man kann den Schauspieler als die gespürte Figur apperzipieren, aber wird deshalb doch 76 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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nicht glauben, diese gespielte Figur, etwa aus dem Altertum, sei wirklich da. Tatsächlich entspringt die Du-Evidenz nicht einer Projektion von mir in das Du, sondern einer Betroffenheit in der Weise, daß mir etwas angetan wird, nämlich durch Verstrikkung in den gemeinsamen Antrieb wechselseitiger Einleibung, in der die Partner sich mit gleichem Einsatz aus Spannung und Schwellung begegnen. Das gilt aber nur für die ursprüngliche Gewißheit, einen anderen Bewußthaber als Partner vor sich zu haben; diese Gewißheit kann trügen, und zur kritischen Prüfung können dann auch Analogieschluß, Einfühlung und Apperzeption eingesetzt werden. Bisher habe ich die antagonistische Einleibung fast nur als Verhältnis zwischen leiblichen Wesen, Menschen und Tieren, behandelt; sie reicht aber weiter und erstreckt sich auf alles, was ausdruckshaltig ist, in der Weise, daß es den Betroffenen spontan anspricht, als vielsagender Eindruck, der ihm etwas zu verstehen gibt. Diese Ausweitung der Einleibung auch auf Leibloses wird vermittelt durch leibnahe Brückenqualitäten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an Gegenständen wahrgenommen werden können. Es handelt sich um Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere. Bewegungssuggestionen sind Vorzeichnungen von Bewegung, die über das Maß der ausgeführten Bewegung, falls eine solche überhaupt stattfindet, hinausgehen, an ruhenden und bewegten Gestalten und an Bewegungen. Synästhetische Charaktere sind intermodale – quer über die Gegenstandsgebiete verschiedener Sinne verbreitete – Eigenschaften, die oft, aber nicht immer, den Namen spezifischer Sinnesqualitäten tragen, aber auch ohne solche Qualitäten vorkommen, etwa als Weite, Gewicht und Dichte einprägsamer Stille. Ein Beispiel dafür, wie solche Brückenqualitäten ebenso an wahrgenommenen Gegenständen vorkommen wie am eigenem Leib eines Menschen von diesem gespürt werden, ist der Gang. Er kann flink, flott, beschwingt oder im Gegenteil behäbig, schleifend, schleppend und dann entweder schlaff oder wuchtig sein. Im ersten Fall (flink, flott, beschwingt) 77 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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drücken sich darin Spannung und privative Weitung aus, die durch leibliche Richtung als Übergang aus Enge in Weite zusammengehalten und durch epikritische Züge bereichert werden; im anderen Fall des behäbigen Ganges handelt es sich um einen protopathischen, kompakten vitalen Antrieb, der bei Schlaffheit schwach, bei Wucht stark ist. Diese leibliche Dynamik wird ebenso von dem Gehenden gespürt wie an Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren seines Ganges von anderen wahrgenommen. Bewegungssuggestionen geben Gebärden den Gebärdesinn, wodurch z. B. ein Augenaufschlag zur Gebärde der Bitte, der Verführung, der Ergebenheit oder der Ironie wird, ein Zeigen auf Nahestehende zu einer Art von Dolch, der den Gezeigten aufspießt; ein geringes Zurückwerfen des Kopfes wird durch seine Bewegungssuggestion eine ausladende Gebärde des Stolzes. Rhythmus ist die Bewegungssuggestion einer Reihenfolge als solcher, eventuell beladen mit weiteren, z. B. tonalen, Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren; daher werden Gedichte, die »unter die Haut« gehen, d. h. leiblich spürbar packen sollen, eher in (zusätzlich oft gereimten) Versen als in der minder rhythmischen Prosa verfaßt. Der Rhythmus übersteht die Übersetzung aus dem optischen ins akustische und ins leibliche Medium ohne Einbuße. Eine Domäne der Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charaktere, in der sie sich besonders stark entfalten können, ist das akustische Medium, speziell die Musik zusammen mit rhythmischen Geräuschen wie Rufen, Klatschen, Trommeln. Daher besitzt dieses Medium eine besonders starke Wirksamkeit auf die Integration solidarischer Einleibung, im Singen, Tanzen, Marschieren und in Massenekstasen. Synästhetische Charaktere sind z. B. das Sanfte, das Harte, das Weiche. Sanft kann die Frühlingsluft ebenso wie der Tonfall einer Stimme sein, protopathisch mit geringer Spannung und etwas mehr Schwellung. »Hart« klingt hart, »weich« klingt weich, ohne daß ein äußerer Grund für die Übertragung aus dem taktilen Bereich in den akustischen ersichtlich wäre; das 78 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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Übereinstimmende ist vielmehr die epikritische bzw. protopathische Tendenz der leiblichen Dynamik. Synästhetische Charaktere von Geschmacks- und Geruchsqualitäten transportieren Konstellationen leiblicher Dynamik, die die Haltung, ja die Lebensform von Menschen, deren Zu- oder Abneigungen, bestimmen können und sich z. B. beim Wählen aus der Speisekarte im Restaurant auswirken: Das Weiche, Süße, Fette ist protopathisch und spannungsarm, das Bittere, Körnige, Raue epikritisch mit betonter Spannung. Mozarts Musik ist epikritisch und geprägt von Spannung und privativer Weitung, die durch leibliche Richtung vermittelt werden, wie beim beschwingten Gang. Im synästhetischen Charakter entspricht sie der Farbe Gelb und dem Vokal i, während Beethovens Musik mit protopathischer Schwellung eher dem Rot verwandt ist. Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere können auch, wie ich in meinem Buch Atmosphären gezeigt habe, die Atmosphäre einer Stadt bestimmen. Bisher habe ich die leibliche Kommunikation nur als Einleibung behandelt. Zum Schluß werfe ich noch einen kurzen Blick auf die andere Form, deren Kanal nicht der vitale Antrieb, sondern die privative Weitung des Leibes ist. Es handelt sich um die Ausleibung. Sie ist ein Trancezustand, in dem die Enge des Leibes mehr oder weniger an formlose Weite preisgegeben wird, so daß kein Gegenstandsbezug mehr stattfindet, sondern ein Versinken in etwas. Diese Versunkenheit wird produktiv, wenn sie nach Entdifferenzierung des Details der Umstände durch Verbindung mit einseitiger Einleibung zur Begegnung mit reinen Arten (wie Ton, Licht, Duft, Wärme) führt, zur unverhüllten Darbietung elementarer Eindrücke, die in der Komplikation des täglichen Betriebs nur oberflächlich anklingen oder untergehen.

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4. Schmerz

Eine phänomenologisch angemessene Würdigung des Schmerzes ist nur auf der Grundlage des Studiums der leiblichen Dynamik möglich. Die traditionelle Schmerzforschung hat dafür keine Begriffe. Sie zerlegt den Schmerz in eine körperliche und eine seelische, dem Bewußtsein angehörige Seite, auf die der Schmerz selbst, so wie er in Erscheinung tritt, untergebracht wird, gelangt dabei aber nur zu so nichtssagender Charakteristik wie der des Schmerzes als unangenehmer Empfindung oder Gefühl, allerdings mit näher beschriebenen Unterarten. Was aber den Schmerz überhaupt angeht, wird nicht einmal gefragt, worin das Unangenehme der Empfindung besteht, woran es liegt. Es muß sich doch wohl um eine Schwierigkeit, einen Konflikt, einen Zwiespalt handeln, woran Anstoß genommen wird; statt danach zu fahnden, verläßt man sich darauf, daß jeder weiß, was gemeint ist, und kümmert sich gleich um die Behandlung des Schmerzes. Jedoch führt schon das vage Merkmal des Unangenehmen das Nachdenken zum Suchen nach einer Dynamik, einem Konflikt von Kräften, die sich auseinandersetzen. Welche es sind, läßt sich erst sinnvoll ermitteln, nachdem die Neue Phänomenologie die Eigenart des spürbaren Leibes herausgearbeitet und gegen die Menschspaltung in Körper und Seele oder Bewußtsein abgesetzt hat. Der spürbare Leib, so stellt sich heraus, ist sowohl seiner räumlichen Ausdehnung als auch seiner Dynamik nach so verschieden vom sichtbaren und tastbaren Körper, mit dem er weitgehend das Lokal teilt, und von dessen naturwissenschaftlich konstruierten Weiterungen, daß der Gedanke, ihn vom Körper zu lösen, keinen logischen Widerspruch enthält, wie es der Fall wäre, wenn man den Leib, etwa nach Husserl oder Merleau-Ponty, nur als lebendigen oder gar beseel80 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Schmerz

ten Körper mit Muskeln, Sehnen, Haut und Knochen versteht. Erst nachdem die Eigenart des spürbaren Leibes – alles dessen, was jemand von sich selbst in der Gegend seines Körpers spürt, ohne sich der fünf Sinne und des perzeptiven Körperschemas zu bedienen – herausgearbeitet ist, kann man zu bestimmen versuchen, was das Schwierige am Schmerz ist, das ihn unangenehm macht. Der Einstieg in die Antwort auf diese Frage ist nicht schwer. Eine grundlegende Dimension der leiblichen Dynamik ist die von Enge und Weite, besetzt mit gegenläufigen Tendenzen der Engung und Weitung, die sich in antagonistischer Konkurrenz zum vitalen Antrieb verschränken, sich aber auch teilweise aus dieser Verschränkung zur Enge oder zur Weite hin lösen können; verbunden werden sie, außer durch die Verschränkung, durch die leibliche Richtung, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt, dabei aber Enge mitnehmen kann, etwa als fixierender, nicht träumerisch schweifender Blick oder als stoßendes Ausatmen. Alle leiblichen Regungen haben in der Dimension von Enge und Weite wie auf einer Skala ihren Platz, angefangen von extremer Engung ohne Kontakt mit Weite im heftigen Schreck über die Verschränkung im vitalen Antrieb mit Übergewicht der Engung, mit ungefährem Gleichgewicht von Engung und Weitung und überwiegender Weitung bis hin zum Auslaufen der Weitung aus der Verschränkung in Erleichterung, Müdigkeit, Entspannung bis hin zum Dösen, Einschlafen oder erschlaffendem Rausch nach der geschlechtlichen Entladung. An der Stelle der Skala, wo die Engung im vitalen Antrieb so stark wird, daß dieser bei wachsender Stärke der Regung zur Enge hin zu reißen droht, haben Angst und Schmerz ihren Platz. Beide Regungen gleichen sich als Konflikte eines expansiven Impulses – ich spreche vom Impuls »Weg!« – mit einer engenden Hemmung, die ihn übermächtig abfängt, so daß sich ein Übergewicht der Engung über die Weitung im vitalen Antrieb ergibt. Dabei ist die Angst in der Struktur sehr viel einfacher als der Schmerz, so daß es sich empfiehlt, erst die Angst als einen 81 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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Konflikt von Engung und Weitung zu betrachten und dann den Schmerz als komplizierteren Konflikt von ihr abzuheben. Der Impuls »Weg!« kommt in der Angst in zwei Gestalten vor: als mobilisierender Impuls in motorischer Unruhe bis hin zur panischen Flucht und als immobilisierender Impuls bis zur Erstarrung (bei Tieren: Totstellreaktion); die Griechen unterschieden entsprechend Phobos und Deimos. 24 Man kann paradox finden, daß auch der starre Stillstand eine Äußerung des Impulses »Weg!« sein soll. Das ergibt sich aber aus der Räumlichkeit des Leibes, die absolute Orte enthält, d. h. solche, die sich nicht wie relative Orte, die zu sagen gestatten, wo etwas ist, durch Lagen und Abstände gegenseitig bestimmen, sondern ohne weiteres an sich bestimmt sind. Einen solchen absoluten Ort erfährt man im Zusammenfahren bei heftigem Schreck oder auf einen unerwarteten Anruf hin. Ein anderes Beispiel ist das geschickte Ausweichen vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse, das nur gelingen kann, weil man den eigenen Ort kennt und auf die Bewegungssuggestion der Masse beziehen kann, aber nicht der Lage und dem Abstand nach, weil man den eigenen Körper dann gar nicht sieht, um ihn entsprechend zu vergleichen. Die immobilisierende Reaktion der Angst auf die Bedrohung strebt nicht weg vom relativen Ort des Körpers, sondern vom absoluten Ort des Leibes, indem der Geängstete versucht, durch Abschalten gleichsam unter die gesamte Situation, in deren Mitte dieser absolute Ort steht, abzutauchen. Dagegen will der angstvolle Flüchtende auch weg vom relativen Ort, und das gelingt ihm, aber dadurch wird er an seinem absoluten Ort die Angst nicht los; vielmehr ist sein Fluchtimpuls der einer leiblichen Richtung, eines unumkehrbaren Übergangs in die Weite, und es wurde schon gesagt, daß dabei die Engung, hier die Angst, mitgenommen werden kann. Die Angst ist eine leibliche Regung, die als primitive Reaktion Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II, Teil 1: Der Leib, zuerst 1965, S. 456–459

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auf irgend eine Bedrohung oder auch gegenstandslos – etwa bei manchen Herzkrankheiten 25 – vorkommt, oft jedoch als Ergriffenheit von einer Atmosphäre, die ein Gefühl ist, insbesondere dann, wenn die Atmosphäre unheimlich ist. Furcht wird mit Angst gefühlt, wenn die Ergriffenheit von ihr einen dramatischen Zug der Unruhe, etwa als Zittern, annimmt. Das Zittern sowie das Keuchen, bei dem der schwellende Atemzug brüsk an einer Hemmung abbricht und dann wieder einsetzt, bezeugen die rhythmische Form der Bindung von Engung und Weitung im vitalen Antrieb der Angst. Beide Komponenten des Antriebs können entweder kompakt, d. h. zäh an einander haftend, oder rhythmisch (in schwingender Abwechslung) verbunden sein. Für die Angst ist die rhythmische Bindungsform typisch; sie teilt sie mit der Wollust, und das erklärt die leichte Legierbarkeit beider Regungsformen, die doch konträr sind, weil im vitalen Antrieb der Angst die Engung, im vitalen Antrieb der Wollust die Weitung überwiegt. Angst und Wollust können durch bloßen Wechsel der Gewichtsverteilung, der durch die rhythmische Bindungsform erleichtert wird, auf einander eingehen und verschmelzen, etwa beim Gruseln, beim Nervenkitzel (thrill), im Karussellfahren auf der Achterbahn, beim Kind, das in die Höhe geschwenkt wird. Die Angst hat bei der Ausführung des Impulses »Weg!« den Erfolg, daß sie den Weg zum Entkommen tatsächlich einschlagen kann, wenn auch ohne die überwiegende Engung los zu werden, es sei denn, es gelänge, die Bedrohung auszuschalten. Sie hat diesen Erfolg in Gestalt der Flucht, auf andere Weise auch durch Abtauchen in die Totstellreaktion. Das liegt daran, daß die Hemmung des expansiven Impulses der Angst im Übergewicht der Engung im vitalen Antrieb besteht, in einem eigenen leiblichen Zustand des Geängsteten, keineswegs darin, daß die Angst selbst als hemmende Macht ihm entgegentritt. Darin Johannes Lindner, Herz und Angst, medizinische Dissertation Heidelberg 1956

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unterscheidet sich die Angst vom Schmerz. Dieser hat es schwerer. Sein expansiver Impuls kann sich nicht wirklich auf den Weg machen, sondern nur symbolisch, im Schmerzensschrei, der in die Weite entkommt, während der Gequälte hinter ihm zurückbleibt, und im Aufbäumen vor Schmerz, das schnell zurückfällt, ohne etwas an der Lage zu ändern. Das liegt daran, daß der Schmerz selbst als Widersacher dem Gepeinigten entgegentritt. Schmerz konfrontiert, anders als die Angst. In der Angst kann man aufgehen wie in Wollust und Zorn, nicht im Schmerz. Ihm muß man sich stellen, oder richtiger: Von ihm wird man gestellt, so wie die Hunde das gejagte Wild stellen und die Polizei den Verbrecher stellt. Schmerz ist in paradoxer Doppelrolle sowohl ein eigener Zustand des Gepeinigten, eine Konstellation seines vitalen Antriebs, als auch ein auf ihn eindringender Widersacher. In dieser zweiten Rolle ist er ein Halbding. Ich muß erklären, was ich darunter verstehe. Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen (von Dingen im Vollsinn) auf zwei Weisen: 1. Ihre Dauer ist unterbrechbar. Sie kommen, gehen und können wiederkommen, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wie und wo sie die Zwischenzeit verbracht haben. 2. Die Kausalität der Halbdinge ist unmittelbar. Sie sind nicht als Ursachen, die in vielen Fällen nur gelegentlich wirken, von ihrer Einwirkung verschieden, wie der Stein vom Stoß, indem er das Glas zertrümmert oder verschiebt, sondern fallen dem Effekt gegenüber mit der Einwirkung zusammen. Von bloßen momentanen Sinnesdaten unterscheiden sie sich entweder durch einen im Wechsel ihres Gesichts beharrenden Charakter oder wenigstens dadurch, daß sie Macht ausüben. Macht ist Steuerungsfähigkeit, d. h. das Vermögen, einen Vorrat beweglicher (im ganz weiten Sinn, d. h. veränderlicher) Sachen in Bewegung (Veränderung) zu versetzen, die Bewegung im Verlauf zu führen und anzuhalten. Ein exemplarisches Halbding ist die Stimme. Sie erschallt, schweigt und kehrt wieder, aber es wäre töricht, zu fragen, wo sie zwischendurch gelegen hat oder gewandert ist. Man wird von ihr getroffen; sobald sie erschallt, 84 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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wirkt sie auch schon ein, ohne Unterschied von dieser Einwirkung. Daß die Naturwissenschaft lauter Zwischenstufen einsetzt, tut phänomenologisch nichts zur Sache. Von einem Sinnesdatum unterscheidet sich die Stimme durch ihren im Wechsel der akustischen Daten, in denen sie sich äußert, beharrenden Charakter: Die Schallfolge wächst, die Stimme nicht. Andere Halbdinge sind der Wind, der einen trifft, sofern er nicht in bewegte Luft umgedeutet wird, der elektrische Schlag, die reißende Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt, Geräusche wie schrille Pfiffe und stechender Lärm, Probleme, an denen einer andauernd grübelt, auch solche der Lebensführung, Sorgen und Wünsche, die jemand nicht loslassen, Melodien, die ihm immer wieder durch die Kopf gehen, Gefühle wie Zorn, Scham und Bitterkeit, die wieder aufsteigen können, brütende Hitze, schneidende Kälte, die Nacht und die Zeit, wenn sie in Langeweile oder in gespannter Erwartung unerträglich lang wird. Wegen ihrer unmittelbaren Kausalität sind die Halbdinge zudringlich. Sie halten nicht Abstand wie ein Ding, das man schon im Ruhezustand beobachten kann, ehe es als Ursache zu wirken beginnt, sondern greifen leiblich spürbar an, sobald sie auftreten, wie etwa auch ein tiefer oder bohrender Blick, abermals ein Halbding. Deshalb hören Schizophrene als Menschen, die in besonderer Weise die Distanzierungsfähigkeit verloren haben, in erster Linie halluzinierte Stimmen, während Visionen bei ihnen zurücktreten. Wegen ihrer Zudringlichkeit sind Halbdinge die nächsten Kandidaten für Einleibung, die leibliche Kommunikation im Kanal eines gemeinsamen vitalen Antriebs, der Leiber und andere, aber durch leibverwandte Brückenqualitäten (Bewegungssuggestion und synästhetische Charaktere) leibverwandte Gegenstände zusammenschließt. Ein solches Halbding ist auch der Schmerz. Der chronische Schmerz ist wie ein alter Bekannter, der mit Unterbrechungen immer wieder auftaucht, aber auch der akute Schmerz ist ein Halbding, zu dessen Natur ja nur die Fähigkeit einer Unterbrechung der Dauer gehört, nicht das tatsächliche Benützen dieser 85 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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Fähigkeit. Der Schmerz ist ein Halbding schon dadurch, daß er eine Macht ist, die den Betroffenen zur Auseinandersetzung zwingt. Diese führt dem Schmerz gegenüber jedoch in ein Dilemma, wodurch sie sich selbst vereitelt. Der expansive Impuls »Weg«! treibt zur Flucht vor dem Schmerz. Dieser stellt sich aber als zudringliches Halbding der Flucht entgegen. Statt ihm zu entkommen, muß der Betroffene nun dem Widersacher standhalten. Beides paßt nicht zusammen. Die Flucht verlangt, sich von dem Bedrohenden zu entfernen, das Standhalten dagegen die Auseinandersetzung im Nahkampf. Man kann aber nicht zugleich von einer Sache sich entfernen und sich ihr annähern. Die Auseinandersetzung mit dem Schmerz vereitelt also sich selbst. Dieser Widerspruch zeigt sich sinnfällig am Gegensatz der einerseits weitenden, andererseits engenden Schmerzgesten. Weitende Gesten sind der Schrei, das Stöhnen und das Aufbäumen als Versuche, der Bedrängnis in die Weite zu entkommen. Engende Gesten sind das Ballen der Fäuste, das Zusammenpressen der Zähne und der Lippen. Durch die Konkurrenz beider Reaktionen wird der Kampf mit dem Schmerz zum Zweifrontenkrieg, wobei jeder Erfolg an einer Front mit einer Niederlage an der anderen verbunden ist und das Ergebnis unentschieden bleibt. Während der Angst ein Weg zur Entladung des Impulses »Weg!« mit dem Ziel der Befreiung von der Bedrängnis vorgezeichnet ist, bleibt der Schmerz ein Gefängnis, in dem der Gepeinigte sich selbst den Ausweg versperrt und abwarten muß, ob die Mauern einbrechen, indem der Schmerz von selbst verschwindet. Man könnte meinen, daß ich die Lage unter dem Druck des Schmerzes zu dramatisch zeichne, weil es banale Situationen gibt, in denen ein ähnlicher Konflikt besteht, ohne Anlaß zu besonderer Aufregung zu geben. Man ist dann in Auseinandersetzung mit einem Widerstand verwickelt, dem man einerseits zu entkommen versucht, während man ihn andererseits nicht abschütteln kann. Ich denke etwa an eine unbequeme Lagerung auf einer Unterlage, mit oder ohne eine Fessel, woraus man sich 86 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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vergebens zu befreien sucht. Auch dann verstrickt sich ein Impuls zum Entkommen in einen aufgezwungenen Impuls zum Bleiben im Nahkampf mit dem Widerstand. Der Unterschied eines solchen banalen Dilemmas, das über eine lästige und ärgerliche Beschwerlichkeit nicht hinaus kommt, vom Dilemma der Auseinandersetzung mit dem Schmerz besteht darin, daß in diesem Fall der Impuls »Weg!« unvergleichlich elementarer ist als in jenem. Wer bloß seinen Körper aus einer unbequemen Lage befreien will, ohne ernstlich Schmerzen zu haben, wird kaum zu schreien beginnen, während der Schrei des von starken Schmerzen Gefolterten sich diesem wie von selbst entringt. Die Selbstvereitelung der Auseinandersetzung mit dem Schmerz ist deswegen nicht mehr banal, weil hinter dem Impuls »Weg«! ein viel stärkerer, elementar erschütternder Druck steht als im Fall der bloßen Lästigkeit. Der wesentliche Unterschied, der dem Dilemma der Auseinandersetzung im Fall des Schmerzes eine größere Dringlichkeit verleiht als im Fall bloßer Unbequemlichkeit, besteht darin, daß der Schmerz eine Macht im angegebenen Sinn, also mit Steuerungsfähigkeit ist, die dem Betroffenen wie beim Match im Tennis gewisse Reaktionen aufzwingt und dabei allerdings auch einen Spielraum für die Erwiderung läßt, während im Fall der unbequemen Lagerung der Widerstand, an dem der um Veränderung Bemühte sich abarbeitet, lediglich ein passives Objekt seiner mehr oder weniger vergeblichen Befreiungsversuche bleibt. Schmerz ist nicht bloß eine Hemmung, sondern etwas, das bei hinlänglicher Stärke erschütternd auf den Gepeinigten eindringt und ihn zu zerreißen droht, so daß der Impuls »Weg!«, anders als im banalen Fall, einer Not entspringt. Der Schmerz als zudringliches Halbding überkreuzt sich mit dem Fluchtimpuls des von ihm Gepeinigten dadurch, daß er selbst gleichfalls ein expansiver Impuls ist, so daß zwei solche Impulse verwirrend in einander greifen. Die Sprache drückt diesen Drangcharakter des Schmerzes durch Beiwörter aus, die ihn als aktiven Beweger darstellen, etwa als stechenden, beißenden, 87 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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bohrenden, brennenden, schneidenden oder – im Fall dumpfer Eingeweideschmerzen – wühlenden Schmerz. Man kann die Lage des Gepeinigten, der unter solchem expansiven Druck steht, mit der eines Menschen vergleichen, der von einem dauernden heftigen Wind, der ihn umzublasen droht und starken Regen mit sich bringt, getroffen wird. Der Getroffene wird zum Standhalten gezwungen, hat aber zugleich ein unwiderstehliches Bedürfnis, vor der dynamisch eindringenden Nässe zu fliehen, und vereinigt damit die beiden unverträglichen Reaktionen, die ich an den Schmerzgesten abgelesen habe. Dieser Vergleich ist aber noch zu harmlos für das Ausgesetztsein an den Schmerz. Der Wind und erst recht die reißende Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt, sind Halbdinge, die nur am eigenen Leib des Getroffenen gespürt werden, aber nicht als sein eigener Zustand, sondern als durchaus fremde Mächte, die steuernd (nämlich richtunggebend) in den eigenen Leib und Körper eingreifen und damit eine widerstehende Reaktion herausfordern. Den Wind kann man sich mit sinnvoller und erfolgreicher Umdeutung noch als bewegte Luft zurechtlegen, als ein Vollding, dessen von der Ursache unterschiedene Einwirkung der Wind ist, aber vor der reißenden Schwere versagt die entsprechende Umdeutung. Hier hat man es mit einer nackten, nach unten steuernden Macht zu tun, die mit ihrer Einwirkung auf den Körper zusammenfällt, so daß sich dieser der ihm angetanen Gewalt allenfalls mit Hilfe des Leibes, nämlich des motorischen Körperschemas, durch Balancieren entziehen kann. Diese Macht bleibt fremd. Dagegen ist der Schmerz in paradoxer Doppelrolle nicht nur ein eindringender Widersacher wie der Wind und die reißende Schwere, sondern auch ein eigener leiblicher Zustand des Gepeinigten, eine Konstellation seines vitalen Antriebs mit starkem Übergewicht der Engung über die Weitung. Der Kampf gegen den Schmerz ist also zugleich ein Kampf gegen sich selbst mit Zuwendung des vitalen Antriebs, also mit eben dem Mittel, das als Widersacher, als Schmerz, bekämpft wird. Der vitale Antrieb wird von dieser paradoxen Selbstver88 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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strickung, diesem Leiden an sich selbst in der Auseinandersetzung mit sich selbst, so gestaucht und zusammengepreßt, daß er nicht der Entfaltung in rhythmischem Schwingen fähig ist: seine Bindungsform, die Form des Zusammenhangs von Engung und Weitung, ist bei Schmerz nicht wie bei Angst rhythmisch, sondern kompakt. Niemand keucht oder zittert vor Schmerz. Eine solche paradoxe Selbstentzweiung wie der Schmerz weckt den Verdacht, ihm könne ein Mißverständnis, eine Fehlsteuerung zu Grunde liegen, wie ich so etwas in anderer Form an der Zwangsneurose aufgedeckt habe, wobei ein schon in die persönliche Fremdwelt entlassenes Programm in die persönliche Eigenwelt zurückkehrt. 26 Man sollte vermuten, die beiden entzweiten und gegen einander ausgespielten Dränge, der Drang des Schmerzes, der zum Standhalten zwingt, und der Drang weg vom Schmerz sollten sich vereinigen können, da sie demselben vitalen Antrieb aufgeladen sind. Diese Hoffnung ist nicht völlig aussichtlos. Es könnte eine Möglichkeit geben, sich mit dem Schmerz zu befreunden und ihm dadurch seinen Stachel zu nehmen. Eine Bekannte von mir verweigert jede Betäubung bei schmerzhafter zahnärztlicher Behandlung und erträgt ohne unzumutbares Leiden den Schmerz, indem sie sich auf ihn einläßt. Als einmal der Zahnarzt an einem verabredeten Termin eine solche Operation, das Ziehen eines Zahnes, aus medizinischem Grund zu verschieben vorschlug, bestand sie darauf, da sie gerade jetzt auf den Schmerz vorbereitet sei. Dieselbe Frau ist allerdings anderen starken Schmerzen, auf die sie sich nicht so vorbereiten kann, ohne Befreundung ausgesetzt. Es gibt auch kein Rezept für die Befreundung, das man zur Verallgemeinerung des Einzelfalls heranziehen könnte. Wenn es nicht gelingt, die beiden im Schmerz entzweiten expansiven Impulse des vitalen Antriebs harmonisch zu vereinigen, bleiben noch zwei MögHermann Schmitz, System der Philosophie, Band II: Die Person, zuerst Bonn 1980, S. 408–412: Anankasmus; Ders., selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität, Freiburg 2015, S. 101

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lichkeiten für den besänftigenden Umgang mit dem Schmerz, nämlich daß jeweils einer von beiden Impulsen dem anderen das Feld räumt. Die eine Möglichkeit besteht in der Zurücknahme des Impulses »Weg!« durch Entspannung, so daß der Drang des Schmerzes keinen Widerstand mehr findet und nicht mehr weh tut, weil der Konflikt entfällt. Die andere Möglichkeit besteht darin, den expansiven Impuls des Schmerzes durch einen expansiven Impuls anderer Art so zu überspielen, daß jener unmerklich wird und nicht mehr stört. So etwas leistet der Eifer des Gefechts, in dem der Soldat den Schmerz seiner Wunde nicht spürt, oder ein Eifer anderer Art, in den sich der Betroffene so verbissen hat, daß er auf seinen Schmerz nicht achtet. Außer solchen leiblichen Wegen der Schmerzersparung – und mit weit verbreitetem Vorzug vor ihnen bei der Wahl des Mittels – gibt es die pharmakologischen und chirurgischen Verfahren, die beim Körper ansetzen und den spürbaren Leib ignorieren. Alle diese Methoden sind zu begrüßen, wenn sie schwer erträgliche Leiden erträglicher machen, aber es wäre voreilig, den Schmerz bloß anzuklagen und seine Ausrottung zu verlangen, als sei er ein entbehrliches Übel, wie der französische Chirurg Leriche seinen Feldzug gegen den Schmerz begründete. 27 Ich habe einer solchen Unterschätzung des Schmerzes schon 1965 eindringlich widersprochen, indem ich auf die Unentbehrlichkeit eines Pols überwiegender Engung im vitalen Antrieb – wie auch des anderen Pols überwiegender Weitung – hinwies und den Schmerz als einen Prototyp solcher Engung auszeichnete 28 ; meine späteren Publikationen haben diese Perspektive erheblich vertieft. Damals gab ich aber Schmerz und Angst als gleichwertige Repräsentanten überwiegender Engung aus, die für einander eintreten könnten. Das möchte ich jetzt korrigieRené Leriche, Chirurgie des Schmerzes, aus dem Französischen von E. Forster, Leipzig 1958 28 Wie Anmerkung 1, S. 336–340: Wollust, Angst und Schmerz in teleologischer Hinsicht 27

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ren. Ich halte den Schmerz inzwischen für einen unentbehrlichen Erzieher des Menschen. Vor anderen Weisen überwiegender Engung im vitalen Antrieb, wie der Angst und der Beklommenheit oder auch der konzentrierten Disziplin (im Sinne des Aufrufs: »Nimm dich zusammen!«), zeichnet der Schmerz sich dadurch aus, daß er dem Betroffenen keinen Spielraum läßt. Er konfrontiert in ausgezeichneter Weise. Man muß sich mit ihm auseinandersetzen, weil man nicht in ihm aufgehen kann wie in der Angst, in die man sich fallen läßt, z. B. in panischer Flucht. Der Schmerz zwingt den Menschen, zu sich selbst zu stehen angesichts einer Macht, die ihn an der elementaren Wurzel seines affektiven Betroffenseins angreift und dort zu vernichten droht. So zwingt der Schmerz den Menschen zu einer Eindeutigkeit, die anders nicht zu erreichen ist.

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5. Schall und Farbe in Raum und Zeit

Schall und Farbe, die spezifischen Sinnesqualitäten des Hörens und des Sehens, sind Antipoden. In diesem Beitrag möchte ich den Gegensatz zwischen der Aggressivität und Antriebsstärke des Schalls, der Passivität und Dienlichkeit der Farbe herausarbeiten, gemessen an dem Verhältnis der beiden Qualitäten zu Zeit und Raum. Ich beginne mit der Zeit. Der Philosoph Edmund Husserl hat die Retention entdeckt und studiert, die allmählich sich abschwächende Nachhaltigkeit eines frischen Eindrucks, ehe er in der nur noch erinnerbaren Vergangenheit angekommen ist. 29 Sein Beispiel ist ein einziger Ton, der sich während einer Dauer durch die Frischerinnerung mit einer Fülle von Nuancen auflädt, die ihn umso stärker prägen, je länger er dauert. Den Fehler Husserls, daß er die Retention als extensive, in Stücke und sogar Momente zerlegbare Größe statt als intensive auffaßte, kann man korrigieren; dann hält seine Beobachtung stand. Aber sein akustisches Beispiel ist nicht zufällig. Bei der Farbe hätte er keinen Erfolg gehabt. Farben haben keine Retention. Wenn am Morgen eine rote Fahne aufgezogen wird, ist sie abends noch genau so rot, abgesehen vom Wechsel der Beleuchtung. Die Zeit geht spurlos an ihr vorbei. Dagegen wird ein auffälliges Geräusch, je länger es dauert, zunächst immer auffälliger. Es saugt sich mit Dauer voll; es wird langgezogen, wie eine Farbe nie (zeitlich) langgezogen sein kann. In diesem Sinn ist der Schall, im Gegensatz zur Farbe, geschichtlich; er nimmt seine Geschichte mit. Diese besteht Husserliana, Band X, hg. v. Rudolf Boehm, Haag 1963: Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins; vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, S. 71–73, 241–246

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Schall und Farbe in Raum und Zeit

nicht nur in der intensiven Abschwächung durch Retention, sondern die Geschichte hat auch, wie das Beispiel zeigt, die Kraft, den Schall zu verstärken. Beides zusammen, die Nachhaltigkeit und die Zudringlichkeit des dauernden Schalls, ermöglicht der Musik die Durchführung von Themen und Motiven in komplizierten Kompositionen, in deren Verlauf sie durch Retention beständig wirksam bleiben, auch wenn sie in Zwischenspielen aus der Klangerscheinung zurücktreten, so daß der kompetente Hörer sie begrüßt, wenn sie endlich wie im Triumph wieder hervortreten. Mit Farben kann man nicht so komponieren, weil sie geschichtslos sind. Die Verstärkung der Retention in der Dauer des Schalls besteht in der Aufladung mit Bewegungssuggestionen. Es handelt sich um Vorzeichnungen von Bewegung, die nicht daran gebunden sind, daß wirkliche Bewegung stattfindet, aber, wenn sie einer Bewegung eingeschrieben sind, über deren Ausmaß hinausgehen. Sie kommen ebenso an ruhenden und bewegten Gestalten vor, wie sie am eigenen Leib gespürt werden und auf ihn übergehen können; sie bilden also eine Brücke gegenseitiger Übersetzbarkeit zwischen dem Leib des Menschen und dem, was dieser wahrnimmt oder anschaulich vorstellt. Ein Beispiel möge das Genannte deutlich machen: »Das Gefühl einer allseitigen Ausdehnung haben wir u. a. dann, wenn wir mit befreiendem Aufatmen einen Hochwald betreten oder einen unerwartet schönen Saal. Unwillkürlich weiten wir die Brust und machen uns größer, gerade als wollten wir uns der imponierenden Umgebung anpassen und würdig erweisen. Indem wir uns solchermaßen dehnen und strecken, haben wir das Erlebnis des Raumeroberns und der Machterweiterung.« 30 Der Hochwald und der Saal ruhen, aber sie zeichnen eine Bewegung (etwa aufstrebender Wölbung) vor, die als ausgeführte nur ein kleiner Ruck ist, als vorgezeichnete aber bis zur Raumeroberung und Machterweiterung darüber hinausgeht. Bewegungssuggestionen sind 30

Hermann Strehle, Mienen, Gesten und Gebärden, München 1954, S. 45

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Schall und Farbe in Raum und Zeit

allen Gebärden eigen und geben ihnen den spezifischen Gebärdesinn, einem Augenaufschlag je nach dem den Sinn der Bitte, der Ergebenheit, der Verführung oder der Ironie. Das Zeigen mit dem Finger auf Nahestehende gilt als unschicklich, weil die harmlose kleine Bewegung mit einer Bewegungssuggestion beladen ist, die wie ein Dolch den, auf den gezeigt wird, aufspießt, aber nur, wenn der Finger diesen nicht berührt, damit die vorgezeichnete Bewegung Gelegenheit hat, über das Maß der ausgeführten hinauszugehen. Bewegungssuggestionen können in viele Medien, z. B. vom Bild in das Wort des Dichters 31, übersetzt werden, aber unter allen Medien eignet dem Schall die größte Eindringlichkeit und Leibnähe der Bewegungssuggestionen. Das gilt zunächst für den Rhythmus, die einer Reihenfolge bloß als solcher eingegebene Bewegungssuggestion. Weil er von Schall unmittelbar auf den eigenen Leib des Hörenden übergeht, werden Gedichte, die dem Hörer »unter die Haut« gehen, d. h. sein leiblich-affektives Betroffensein ansprechen sollen, eher in Versen, vorzugsweise mit Reimen, als in der minder rhythmischen Prosa verfaßt. Rhythmisches Rufen, Klatschen und Trommeln können Menschengruppen zu einem einzigen Leib mit gemeinsamer Aktion zusammenschließen; ich spreche dann von solidarischer Einleibung. Unerschöpfliches Material zum Studium der akustischen Bewegungssuggestionen liefert die Musik. Sie bewegt sich nur, wenn sie sich entfernt oder nähert oder aus anderer Richtung kommt; was man ihr sonst an Bewegtheit anhören kann, sind Bewegungssuggestionen, z. B. das Steigen und Fallen in der Kadenz. Es sind Klanggebärden des Aufstrebens und Versinkens, des Vorwärtsdrängens, der Drehung, des Ausweichens, der Zusammenziehung usw. Sie fahren den tanzenden und marschierenden Menschen in die Glieder und lassen sie Bewegungen ausführen, die der Schall nur vorzeichnet. Ein gutes Beispiel ist das Gedicht Der römische Brunnen von Conrad Ferdinand Meyer.

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Ich habe den spürbaren Leib (im Gegensatz zum sichtbaren und tastbaren Körper) seiner Räumlichkeit und Dynamik sowie der aus dieser sich ergebenden leiblichen Kommunikation nach auf Begriffe gebracht 32 und als eine besonders wichtige Dimension dieser Dynamik die von Enge und Weite hingewiesen, besetzt mit Tendenzen (Bewegungssuggestionen) der Engung und Weitung, die sich mit wechselnder Gewichtsverteilung und Bindungsform gegenläufig zum vitalen Antrieb verschränken, aber auch teilweise als privative Engung bzw. privative Weitung aus der Verschränkung lösen können. Der Dialog von Engung und Weitung im vitalen Antrieb spreizt sich gleichsam in der Begegnung zum gemeinsamen Antrieb auf, einer Hauptform leiblicher Kommunikation, die ich als Einleibung bezeichnet und nach Arten differenziert habe. Sie verbindet Leiber nicht nur mit Leibern, sondern auch mit leiblosen Sachen, die dadurch ausdrucksvoll werden, durch leibnahe Brückenqualitäten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an Begegnendem wahrgenommen werden können. Dabei handelt es sich um die schon besprochenen Bewegungssuggestionen und die synästhetischen Charaktere. Diese sind intermodale (über verschiedene Sinnesgebiete verbreitete) Qualitäten, die meist, aber nicht immer, den Namen spezifischer Sinnesqualitäten tragen, gelegentlich aber auch ohne solche vorkommen, wie Weite, Gewicht und Dichte einprägsamer Stille. Ich gebe einige Beispiele: das Scharfe, Grelle, Sanfte, Spitze, Helle, Harte, Weiche, Warme, Kalte, Schwere, Massige, Zarte, Dichte, Glatte, Raue der Farben, Klänge, Gerüche, des Schalls und der Stille, des hüpfenden und schleppenden Ganges, der Freude, des Eifers, der Schwermut, der Frische und Müdigkeit. Diese Weitgespanntheit des Siedlungsgebietes synästhetischer Charaktere ergibt sich aus der Schlüsselstellung der leiblichen Dynamik, deren Grundformen oder Kategorien sich in allen diesen Gebieten durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere darstellen. Diese 32

Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 1–53

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Grundformen gehören teils mit Engung, Weitung und unumkehrbarer Richtung in die Dimension von Enge und Weite, teils in die Dimension von protopathischer und epikritischer Tendenz. Protopathisch ist das Dumpfe, Diffuse, ohne Umriß Ausstrahlende, epikritisch das Spitze, Scharfe; abstrakter, in meiner Begriffssprache gesagt: Protopathisch ist die leibliche Tendenz zum konfusen Mannigfaltigen, epikritisch die Tendenz zu absoluter Identität. Neben der Einleibung im Kanal des vitalen Antriebs hat die leibliche Kommunikation als Ausleibung einen anderen Kanal in der privativen Weitung, die sich von der Enge löst als Versinken oder Aufgehen in etwas, z. B. in der Tiefe des Raumes oder in absoluten Eindrücken reiner Arten wie Licht, Luft, Wärme, Düfte. Diese kurze Anleihe bei der Theorie des spürbaren Leibes soll jetzt benützt werden, um Schall und Farbe hinsichtlich ihrer Antriebsstärke zu vergleichen. Der Schall besitzt, wie sich gezeigt hat, solche Antriebsstärke durch die Aufladung seiner Retention mit Bewegungssuggestionen, die sich in seiner Geschichte gleichsam stauen und verflechten. Wodurch erlangen sie beim Schall ihre besondere Durchschlagskraft und Mächtigkeit? Ich antworte: Sie beruhen darauf, daß die akustischen Gestalten weitgehend Halbdinge sind. Halbdinge sind z. B. die Stimme, der Wind, der elektrische Schlag, die reißende Schwere, der Schmerz, schrille Pfiffe, stechender Lärm, ein bohrender oder in anderer Weise eindringlicher Blick, Probleme, Sorgen, Wünsche oder Melodien, die einen nicht loslassen, Gefühle wie Zorn, Scham und Bitterkeit, die immer wieder einmal aufsteigen, brütende Hitze und schneidende Kälte, die Nacht und die Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung unerträglich lang wird. Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen (Dingen im gewöhnlichen Sinn) auf zwei Weisen: 1. Unterbrechbare Dauer: Sie kommen, gehen und kommen wieder, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo und wie sie die Zwischenzeit verbracht haben. 2. Unmittelbare Kausalität: Ursache und Einwirkung fallen bei Halbdingen, dem Effekt gegenüber, zusam96 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Schall und Farbe in Raum und Zeit

men, während sich bei Volldingen Ursache (z. B. fallender Stein), Einwirkung (z. B. Stoß) und Effekt (z. B. Zertrümmerung oder Verrückung des gestoßenen Gegenstandes) unterscheiden lassen. Menschen haben, um planen zu können, ein zwingendes Bedürfnis, die Ursache schon vor ihrer Einwirkung zu beurteilen, und neigen deswegen dazu, Halbdinge in Volldinge umzudeuten, z. B. den Wind in bewegte Luft. Von bloßen momentanen Sinnesdaten unterscheiden sich Halbdinge entweder durch ihren im Wechsel ihres Gewichts beharrenden Charakter – die Schallfolge wächst, die Stimme nicht – oder dadurch, daß sie Macht, d. h. Steuerungsfähigkeit, ausüben, wie der Schmerz, der elektrische Schlag, die reißende Schwere. Zur Halbdinglicheit gehört nicht die tatsächlich unterbrochene Dauer, auf die ich bei der Auswahl der Beispiele Rücksicht genommen habe, sondern nur die unterbrechbare, so daß es auch Halbdinge geben kann, die zufällig nur einmal vorkommen. Die akustischen Ereignisse und Komplexe sind überwiegend Halbdinge oder neigen dazu. Halbdinge sind die Klanggebärden, aus denen die Musik sich aufbaut, die Motive, Themen und Melodien, und ebenso die meisten, namentlich die störenden Geräusche, wie Stimmen, Pfiffe, stechender Lärm, das rhythmische Tropfen des Wasserhahns, das am Einschlafen hindert. Das Sehen hat zur Distanzierung den Blick zur Verfügung, der mit dem Erblickten zugleich die Rückmeldung leistet, wie weit man selbst (ungefähr) davon entfernt ist, und also die hörbare Entfernung zum umkehrbaren Abstand verdoppelt. Der Blick kann daher eine zusammenhängende Gegenstandswelt aus lauter Volldingen aufbauen, aus deren Anblick man abschätzen kann, unter welchen Umständen und wie sie einwirken werden. Vom Schall muß man sich dagegen abholen lassen. Der Hörende hat als solcher keinen Blick zur Verfügung. Er wird vom Schall getroffen wie von einem eindringlichen, unerwarteten Blick. Wegen ihrer unmittelbaren Kausalität haben die Halbdinge eine nicht-distanzierbare Zudringlichkeit, die sich wie der Wind, der Schmerz, die reißende Schwere, die schneidende Kälte und brü97 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Schall und Farbe in Raum und Zeit

tende Hitze dem spürbaren Leib aufdrängt und ihn in einen gemeinsamen Antrieb hineinzwängt, der keineswegs einstimmig sein muß, sondern entsprechend der gegenläufigen Verschränkung von Engung und Weitung oft aggressiv und defensiv ist. In der Zudringlichkeit stimmen die Schallereignisse mit den Halbdingen überein, oder sie werden selbst zu Halbdingen. Aus dem gemeinsamen Antrieb der Einleibung schöpfen die Bewegungssuggestionen des Schalls ihre ausgezeichnete Antriebsstärke und ihre Eindringlichkeit in das leiblich-affektive Betroffensein. Eine dem Schall entsprechende Aufladung der Farben durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere ist so dürftig, daß sie kaum ins Gewicht fällt. Bewegungssuggestionen fehlen nicht ganz. Blau entzieht sich in die Ferne, Rot hat eine breit ausstrahlende expansive Tendenz, Gelb hat etwas Stechendes. Etwas ergiebiger ist die Suche nach synästhetischen Charakteren. Warme und kalte, harte und weiche Farben sind geläufig. Die Abbildung auf Grundzüge der leiblichen Dynamik, die wegen der Brückenfunktion der synästhetischen Charaktere für leibliche Kommunikation zu erwarten ist, führt bei einigen Farben zum Erfolg. Rot ist protopathisch und schwellend (d. h. weitend im vitalen Antrieb), Schwarz ist protopathisch und spannend (d. h. engend im vitalen Antrieb), Blau ist protopathisch und privativ weitend, Gelb ist epikritisch und spannend sowie privativ weitend; es gleicht im synästhetischen Charakter dem Vokal i. Beim Grün endet die Suche in Verlegenheit. Zwar ist Grün keineswegs leiblich charakterlos wie Weiß, aber seine Rolle als Brückenqualität leiblicher Kommunikation ist unentschieden; es hält sich gleichsam alle Möglichkeiten offen, die sofort mit Differenzierung hervortreten, wenn das reine Grün ins Blaue oder Gelbe hinüber schillert. Als reines Grün wirkt es beruhigend, weil es für alle leiblichen Regungen Platz hat und keine exponiert. Solche Indifferenz oder höchstens schwache Anregbarkeit der Farben für Brückenqualitäten leiblicher Kommunikation ist dadurch begründbar, daß Farben keine Halbdinge sind; es fehlt ihnen deren Zudringlichkeit und damit der unmit98 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Schall und Farbe in Raum und Zeit

telbare Zugang zum Leib. Dadurch erklärt sich auch ihre Ungeschichtlichkeit; denn alle geschichtlichen Schicksale, wie sie der Schall (etwa in musikalischen Kompositionen) in eminentem Maße durchmacht, haben ihre Wurzel in leiblicher Engung und deren Auseinandersetzung mit Weitung im vitalen Antrieb. 33 Damit beende ich den Vergleich von Schall und Farbe im Hinblick auf die Zeit und wende mich zu dem entsprechenden Vergleich im Hinblick auf den Raum. Bei der Zeit als Vergleichsmedium standen im Vordergrund Bewegungssuggestionen und Halbdinge, wodurch sich der Schall mit geschichtlichen Schicksalen auflädt, die an der Farbe ausfallen, weil solche Merkmale bei ihr eher zurücktreten. Im Raum hat dagegen die Farbe vor dem Schall Vorteile, die auf den Blick und der Fläche beruhen. Der spürbare Leib ist wie der Schall in einem flächenlosen Raum ausgedehnt, in dem es keine Punkte, Strecken und dreidimensionale Volumina gibt, wohl aber Richtungen und dynamisches Volumen wie das der Schwellung (der Weitung im vitalen Antrieb) etwa beim Einatmen und das Schallvolumen der weit ausladenden, schwerfälligen tiefen, dunklen Klänge und Geräusche, das dichte, feste, spitze, zarte Volumen der hellen und hohen. Flächenlos mit dynamischem Volumen ist z. B. auch der Raum des Wassers für den Schwimmer, der sich ohne optische Vergegenwärtigung vorwärts kämpft oder ruhig, auf dem Rücken liegend, tragen läßt, ferner der Raum der einprägsamen (feierlich weiten und dichten, drückenden oder morgendlich zarten und lockeren) Stille, der Raum des Windes, dem man an der Richtung seiner Herkunft noch eine Bewegung ohne Ortswechsel anmerkt, solange man nicht das Halbding in ein Vollding (bewegte Luft) umdeutet, sowie (freilich ohne Volumen) der Raum des unauffälligen Rückfeldes, das man durch kleine Bewegungen nach hinten unaufhörlich in Anspruch nimmt. Am 33

Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Kapitel 2, 3.6 und 5

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Schall und Farbe in Raum und Zeit

eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie am eigenen Körper besehen und betasten kann. Der Leib gleicht darin dem Schall, aber auch darin, daß beide sekundär in flächenhaltigen Räumen verankert werden können: der Schall durch Anbindung an die Schallquelle, vor der man aber auch (z. B. im hingegebenen Musikgenuß) weghören kann, der Leib durch das perzeptive, aus den Erfahrungen des Sehens und Tastens geschöpfte Körperschema, das die verschwommenen wogenden Leibesinseln, in die er sich gewöhnlich gliedert, mehr oder weniger im Körper lokalisiert, ohne den Leib ganz in diesen einzufangen, da er mindestens in den unumkehrbaren leiblichen Richtungen (dem Blick, dem Ausatmen, dem Schlucken) über den Körper und die Lokalisierbarkeit hinausgeht. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren. Mit den flächenhaltigen Räumen beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib. Dadurch werden Punkte, Strecken und dreidimensionale Volumina möglich, sowie umkehrbare Lagen und Abstände und über diesen, aus ihnen konstruierbar, Systeme relativer, sich gegenseitig durch Lage und Abstand bestimmender Orte, die (nach Art eines Koordinatennetzes) zu sagen gestatten, wo etwas ist. Den Menschen entlastet die Fläche vom Druck der auf ihn eindringenden Bewegungssuggestionen begegnender Dinge und Halbdinge und gibt ihm Gelegenheit, seinen unumkehrbaren Blick in der Vorstellung zu reflektieren, so daß er seinen Leib im Abstand von einer Fläche finden und mit Hilfe des perzeptiven Körperschemas an einem relativen Ort hinlänglich unterbringen kann. So lernt er, sich zu objektivieren. Dieses Geschenk der Fläche bleibt dem Hören versagt, weil es keinen Blick hat. Schon vor der Begegnung mit der Fläche leistet der Blick wichtige Beiträge zur motorischen Selbstbehauptung. Wenn sich eine wuchtige Masse drohend sichtbar nähert, springt man nach Möglichkeit geschickt zur Seite oder dreht den Kopf weg usw. Das gelingt, obwohl man den eigenen Körper dann nicht sieht, also auch nicht der Lage und dem Abstand nach auf die Bedrohung einstellen kann, weil der Blick, in einseitiger 100 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Schall und Farbe in Raum und Zeit

Einleibung an den Anblick des Objektes gefesselt, diesem die Bewegungssuggestion, die den bevorstehenden Kurs anzeigt, entnimmt und an das motorische, aus unumkehrbaren Richtungen gebildete Körperschema übermittelt, das mit Hilfe des ihm angehörigen Blickes und der absoluten Orte von Leibesinseln die erforderliche Anpassung übernimmt. Eine entsprechende Leistung ist dem Hören unmöglich, weil es keinen Blick hat. Wenn man die wuchtige Masse nicht herankommen sieht, sondern nur hört, kann man nicht angepaßt ausweichen, sondern sich nur unspezifisch ducken, damit die Angriffsfläche möglichst klein wird. Den eigenen Blick kann man zurückwerfen, wenn man vom fremden Blick getroffen wird; dem Hören fehlt die entsprechende Möglichkeit der Retorsion, wenn es vom Schall getroffen wird, da es keinen Blick hat. Solche Leistungen des schon tierischen Blickes gehen seiner Begegnung mit der Fläche voraus. Wenn ihm diese zuteil wird, wächst seine Gestaltungsfähigkeit unvergleichlich. Anhand der Fläche kann er nun eine zusammenhängende dreidimensionale Dingwelt aufbauen, indem er der Fläche an Kanten Strecken und an Ecken Punkte abgewinnt und mit deren Hilfe über die Fläche zum dreidimensionalen Volumen aufsteigt – und zu einem von solchem Volumen erfüllten oder freigelassenem Raum, um mit Hilfe von Lagen und Abständen, die an den Strecken als umkehrbare Verbindungen zwischen Punkten abgelesen werden können, diesem Raum ein Netz von relativen Orten überzuwerfen. Dann ist der blickende Mensch nicht mehr der isolierten und unberechenbaren Zudringlichkeit von Bewegungssuggestionen und Halbdingen ausgesetzt, sondern kann das, was ihm geschieht, in einen übersichtlichen Zusammenhang des mehr oder weniger Erwartbaren, das er je nach dem provozieren oder abwenden kann, einordnen. Für diesen Erfolg leistet ihm die Farbe einen unscheinbaren, aber unentbehrlichen Dienst. Ohne Farbe, sei sie bunt oder unbunt, könnte man nichts sehen und der Blick kein Ziel finden. Der Schlüssel zum zusammenhängenden Aufbau der Dingwelt ist die Begegnung des Blickes 101 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Schall und Farbe in Raum und Zeit

mit der Fläche, und genau an dieser Stelle kommt dem Blick die Farbe zu Hilfe, indem sie sich als Oberflächenfarbe ohne Störung der Fläche einfügt. Das ist keineswegs ihre ursprüngliche und vollständige Eigenart. Neben der treu der Fläche eingeschmiegten Oberflächenfarbe gibt es ebenso die flächenlose Farbe, die von David Katz richtig beschrieben, aber unbegreiflicherweise mit dem irreführenden Namen »Flächenfarbe« versehen wurde. 34 Es handelt sich um flächenlose Farben, die keiner der drei Dimensionen des Raumes eindeutig zugeordnet werden können. Beispiele sind die Farben des Feuers, des Rauches, des Nebels, des Dunstes, des blauen Himmels, der ins Verschwommene entgleitenden Ferne; die moderne Technik bringt in Leuchtreklamen und Verkehrsampeln ständig solche flächenlosen Farben in der Nähe zum Vorschein. Ein Raum, der nur von flächenlosen Farben erfüllt wäre, wäre ein flächenloser Raum wie der Raum des Schalls, der Stille oder des Wassers für den Schwimmer. Der Blick könnte in ihm träumerisch schweifen, ohne Halt zu finden; er fiele dem Trancezustand der Ausleibung anheim, der leiblichen Kommunikation im Kanal der privativen Weitung. 35 In dem Raum, der sich ihm öffnet, sind flächenhaltige und flächenlose Farben gemischt, so daß der Blick die Wahl hat, sich scharf auf Oberflächen und ihre Farben einzustellen oder in ekstatischer Versunkenheit träumerisch in die Ferne zu schweifen. Die Farbe zwingt ihm keine Einstellung auf. Sie stellt sich geduldig als Oberflächenfarbe neben sich selbst als flächenlose Farbe. Statt wie der Schall zudringlich in die leibliche Dynamik einzutreten, stellt die Farbe dem Menschen über den Blick demnach geduldig und zwanglos die Möglichkeiten seiner Selbstentfaltung, die über das tierische Niveau hinausführen, zur Verfügung. Sie bleibt dabei eigentümlich passiv, anpassungsfähig und schmiegsam. Diese Passivität besteht nicht nur gegenüber 34 35

David Katz, Die Erscheinungsweise der Farben, Leipzig 1911 Wie Anmerkung 2, S. 50–53

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dem Blick, sondern ist die Wurzel der Farbe selbst, insofern diese der ständig neuen Geburt durch das Licht bedarf. Ohne Licht, ohne Beleuchtung, keine Farbe. Das Licht erfüllt die beiden Bedingungen für ein Halbding; es besitzt unterbrechbare Dauer und unmittelbare Kausalität, da es mit seiner leuchtenden und Farbe erzeugenden Einwirkung zusammenfällt. Unter den Halbdingen fällt es aber durch die Sonderstellung auf, daß ihm Zudringlichkeit nicht wesentlich ist. Es gibt zwar grelles Licht, das sich aufdrängt, aber das ist ein Sonderfall. Leibverwandt ist das Licht durch synästhetische Charaktere; es gibt warmes und kaltes, hartes und weiches Licht. Licht trägt protopathische und epikritische Tendenz. In gewisser Weise ist das Licht sogar selbst ein synästhetischer Charakter, der auch am eigenem Leibe gespürt werden kann, etwa als helle Freude 36 oder von Goethes Faust, wenn er ausruft: »Mir wird so licht!« 37 Dieser synästhetische Charakter hat sich zum Halbding verselbständigt.

36 37

Eduard Mörike, Verborgenheit Faust, Vers 439

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6. Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

Über Sucht spreche ich nicht gern. Das hat zwei Gründe. Der erste ist meine mangelnde Kompetenz. Ich halte mich nicht für süchtig. Ich habe nie einen Süchtigen beobachtet und auch keine Spezialstudien zum Thema unternommen. Nur das Drängen meiner Freunde lockt mich aus der Reserve. Der zweite Grund betrifft den Titel. »Sucht« ist ein Modewort aus gesellschaftlichem Bedarf nach Abwertung vermeintlicher Fehlhaltungen und ihrer gemeingefährlichen Weiterungen; er wird über sehr unterschiedliche Phänomenklassen ohne scharfe Abgrenzung ausgestreut. Während man aus den Phänomenen heraus solchen Worten wie »Schmerz« und »Angst« trotz unzähliger Varianten sehr wohl einen klaren Sinn abgewinnen kann, ist das bei Sucht unmöglich. Meine Absicht besteht für das Folgende darin, durch eine übersichtliche phänomenologische Klassifizierung eine übersichtliche Ordnung bereitzustellen, in der dann die Plätze für die Bewertung eines Verhaltens als Sucht nach gesellschaftlichem Bedürfnis ausgewählt werden können. Um das Unternehmen beginnen zu können, ist es erforderlich, den unzuverlässigen Obertitel »Die Sucht« durch einen phänomenologisch besser faßbaren und doch genügend umfassenden zu ersetzen. Dafür wähle ich den Ausdruck »habituelle Fixierung«. Mit »habituell« meine ich, daß die Fixierung nicht bloß momentan, sondern auf Wiederholung angelegt ist. Im Folgenden werde ich mich also um eine Klassifizierung der Typen habitueller Fixierung bemühen. Das Wort »Fixierung« ist aber noch zu ungenau. Man spricht von einer Fixierung der Aufmerksamkeit, z. B. des Blickes. Es gibt viele Berufe, die eine habituelle, auf Wiederholung angelegte Fixierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Gegenstände erfordern. So etwas ist hier 104 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

nicht gemeint und steht in keinem einsichtigen Zusammenhang mit Sucht. Für diese kommt nur eine wesentlich intensivere Bindung als Fixierung in Betracht. Sie besteht in einer Fixierung des affektiven Betroffenseins an etwas, das den Betroffenen fesselt, an dem er hängt, von dem er nicht loskommt. Dabei handelt es sich, gemäß der von mir entwickelten Terminologie für leibliche Kommunikation, um einseitige Einleibung. Genau besehen wird im Folgenden also präziser von habitueller einseitiger Einleibung die Rede sein. Um das Anspruchsniveau nicht zu hoch zu setzen, spreche ich aber weiter von habitueller Fixierung, die also immer als habituelle einseitige Einleibung zu verstehen ist. Zunächst erkläre ich kurz, was unter einseitiger Einleibung zu verstehen ist. Genauer kann man sich darüber z. B. in meiner kurzen Monographie Der Leib (Berlin 2011) informieren. Mit »Leib« ist hier der spürbare Leib gemeint, spürbar etwa in Hunger, Durst und Zürnen und auf unzählige andere Weisen, im Unterschied vom sichtbaren und tastbaren Körper. Dieser Leib hat außer einer eigentümlichen, z. B. flächenlosen, Ausdehnung eine eigentümliche Dynamik in zwei Dimensionen, von denen die zweite (von protopathischer und epikritischer Tendenz) hier nicht berücksichtigt zu werden braucht. Die erste dynamische Dimension des Leibes ist die von Enge und Weite, durchzogen von gegenläufigen Tendenzen der Engung zur Enge und der Weitung zur Weite hin. Diese Tendenzen können sich, bei erhaltenem Bewußtsein aber nur teilweise, von einander lösen; im Übrigen sind sie gegenläufig verschränkt zum vitalen Antrieb, den ich »vital« nenne, weil er zwar selbstgenügsam in sich schwingen kann, aber durch seine Reizempfänglichkeit und seine Zuwendbarkeit zu Reizen zur vollen Vitalität ergänzt wird. Im vitalen Antrieb sind Engung und Weitung bestrebt, einander in Schach zu halten, d. h. zu unterdrücken, und eben dadurch anzustacheln, d. h. sekundär zu verstärken. Um dieser antagonistischen Dynamik gerecht zu werden, bezeichne ich die Engung im vitalen Antrieb als Spannung, die Weitung im vitalen Antrieb als Schwellung (d. h. Anschwellen gegen die Spannung). 105 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

Der vitale Antrieb wird primär am eigenen Leib zugänglich, ist aber nicht auf diesen beschränkt, sondern gleichsam gespreizt als gemeinsamer Antrieb, der den Leib mit vielerlei Gestalten und Eindrücken zusammenschließt, darunter zunächst mit den von mir charakterisierten Halbdingen, auf die ich hier nicht eingehen will. Das Eingehen des Leibes in einen gemeinsamen Antrieb bezeichne ich als leibliche Kommunikation vom Typ der Einleibung. Man kann sie leicht z. B. am Blickwechsel und am geschickten Ausweichen (z. B. auf bevölkerten Gehwegen) beobachten. Sie funktioniert aber ebenso im Verhältnis zu leiblosen Gegenständen, sofern diese durch leibnahe Brückenqualitäten, nämlich Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere, die sowohl am eigenen Leib gespürt wie an Gegenständen wahrgenommen werden, zum Eintritt in die leibliche Kommunikation befähigt sind. Der vitale Antrieb eignet sich zur Spreizung, weil er als antagonistische Verschränkung von Engung und Weitung dialogisch ist, und zwar unvermeidlich mit einer Tendenz zur Dominanz auf beiden Seiten, auch ohne eine Beherrschungsabsicht. In der Einleibung ist immer einer von beiden Polen dominant. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Die dominante Rolle bleibt immer auf einer Seite, oder sie wechselt zwischen beiden Polen fluktuierend ab. Im ersten Fall spreche ich von einseitiger im zweiten Fall von wechselseitiger Einleibung. Die Dominanz liegt immer bei dem Pol, der im gemeinsamen vitalen Antrieb die kontrahierende, engende Rolle der überwiegenden Enge hat. Aus der Enge gehen nämlich die unumkehrbaren leiblichen Richtungen in die Weite (wie der Blick) hervor, mit denen der Engepol den Partner wie in einem Netz einfangen kann. Objekt einseitiger Einleibung kann jeder beliebige Gegenstand sein, doch nicht in gleichsam nackter Isolierung, sondern eingehüllt in eine Situation, durch die er ausdrucksvoll wird, indem er dem abhängigen Partner etwas zu sagen hat, das diesen fesselt. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das ganzheitlich (d. h. 106 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

nach außen mehr oder weniger abgehoben und in sich zusammenhängend) zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen; binnendiffus ist die Bedeutsamkeit weil nicht alle Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme), sehr oft gar keine, in ihr einzeln ist. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, wobei 1 die Anzahl jeder Menge ist, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Einzelheit muß, was man bisher leider immer versäumt hat, von der primitiveren Selbstheit oder absoluten Identität unterschieden werden. Selbst ist, was, wenn vieles ist, von anderem verschieden ist. Dieses andere braucht nicht ein Zweites zu sein, das die Anzahl des Ersten um 1 vermehrt, dann nämlich nicht, wenn es pränumerisch (nicht einzeln) ist. Gegenstand einseitiger Einleibung ist also in erster Linie eine Situation, zunächst eine aktuelle, die von Augenblick zu Augenblick sich verändern kann; sie kann aber mit zuständlichen Situationen beladen sein, die – außer in extremen Katastrophen – nur allmählicher Veränderung fähig sind. Solche Situationen, die sich für Einleibung anbieten, nenne ich »Reize«. Menschliche Personen können aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) herausholen und vereinzeln; ich spreche dann von Themen, die sich ebenso zu einseitiger Einleibung eignen. Deren Objekte sind demnach Reize oder Themen. Nachdem klargestellt ist, was ich in diesem Zusammenhang »habituelle Fixierung« nenne, kann ich mit der Klassifikation beginnen. Ich unterscheide zwei Haupttypen, nämlich konfliktfreie und konfliktbeladene (zwiespältige) habituelle Fixierung. Den ersten Typ gliedere ich in zwei, den zweiten in drei Unterarten.

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6.1. Konfliktfreie habituelle Fixierung An erster Stelle betrachte ich habituelle Fixierungen, die dem ganzen Leben die Richtung eines einstimmigen Wollens geben. Wenn diese Richtung dem Betroffenen nach seiner Meinung von einer übergeordneten, z. B. religiösen Instanz auferlegt wird, spricht man von einer Berufung. Als Beispiel wähle ich den Sokrates der platonischen Apologie. Durch kühne Interpretation eines delphischen Orakelspruchs glaubt er sich vom Gott zu einer anhaltenden Tätigkeit berufen, mit der er seinen Mitmenschen auf die Nerven geht. Er prüft nämlich irgend welche Personen, die glauben, sich auf etwas zu verstehen, durch bohrende Fragen, in deren Verlauf sich herausstellt, daß sie genauso wenig Bescheid wissen wie er selbst, der nur dadurch klüger als sie ist, daß er um sein eigenes Nichtwissen weiß. Er kündigt an, mit dieser Methode des Philosophierens nicht aufhören zu wollen, um den Leuten zur Tugend zu verhelfen, indem er ihre falschen Einbildungen auf sich entlarvt (29d). Als er deswegen zum Tode verurteilt worden ist, freut er sich auf die Unterwelt, wo er die mythischen Heroen (Agamemnon, Odysseus, Sisyphos) in gleicher Weise prüfen will, um festzustellen, ob sie wirklich weise sind oder es bloß glauben, aber nicht sind; davon verspricht er sich für sich unermeßliches Glück (41c). Nach den üblichen Maßstäben könnte man den Sokrates wegen dieser Lebensführung und (postmortalen) Planung für süchtig halten, doch würde die damit verbundene Abwertung dem Urteil Platons widersprechen, der seinen Sokrates als untadeligen Heros hinstellt, und damit den von Platon weitgehend geprägten Einschätzungen in der Geschichte. Ein anderes Beispiel konfliktloser habitueller Fixierung auf einer mit einstimmigem Wollen verfolgten Richtlinie der Lebensführung ist Kleists Michael Kohlhaas, für den Vergeltung als Sachwalter des gekränkten Rechts das Thema seines Lebens und der Gegenstand seiner einseitigen Einleibung ist, die in die-

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sem Fall also nicht in einer Situation (wiederholter Prüfung), sondern in einem Thema (Programm) ihren Anker hat. Zu diesem Typ gehört wohl auch die Magersucht (Anaroxia nervosa). Von ganz anderer Art ist der zweite Typ konfliktfreier habitueller Fixierung. Dabei geht es nicht um das konsequente Wollen einer Lebenslinie, sondern um das Hüpfen zwischen Höhepunkten, die so starke Ausstrahlungskraft besitzen, daß unbegrenzte Wiederholung durch einseitige Einleibung gesucht wird. Die Reizwirkung des Höhepunktes entsteht durch Ausnützen der Unterwerfung unter den dominanten Partner, der als Inhaber der Enge des gemeinsamen Antriebs der Einleibung einen konzentrierenden Sog ausübt, in den sich der abhängige Partner bis zur Selbstaufgabe und Versunkenheit fallen läßt, so daß alle Breite des Bewußtseins in eine Spitze ekstatischer Intensität zusammengefaßt wird. Diese Zusammenfassung erzeugt ein Glücksgefühl ekstatischer Steigerung. Ein optimales Beispiel ist der von Znoj 38 vorzüglich beschriebene Bewegungsrausch (»flow«) des Motorradfahrers. »Der flow ist dadurch charakterisiert, (…) daß die Selbstbewußtheit, die normalerweise das menschliche Handeln begleitet, in der Handlung völlig aufgeht, sich buchstäblich darin auflöst (…), kritische Situationen, die in normalen Zuständen Angst auslösen, werden im flow noch lange toleriert. Rutscht der Hinterreifen aus der Kurve – kein Problem, im Gegenteil, jetzt fängt der allerhöchste Genuß an, den nur der Könner schätzen und verstehen kann. Wie gesagt, etwas Überraschung ist notwendig für das Spitzenglück! Und so wird die nächste Kurve mindestens ebenso scharf angegangen und das Gas noch früher aufgerissen. Denn jetzt ist der Meister in seinem Element – endlich, endlich ist es wieder so weit, das wahre Motorradfahren ist da! Wenn noch etwas von einer DepressiHansjörg Znoj, Die Psychologie des Motorrads, Bern 2011, im Folgenden zitiert mit Seitenzahlen

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on vorhanden war, es ist wie weggeblasen.« (70) »Das Glücksmoment ist so stark, daß es immer wieder nach Wiederholung schreit.« (69) Einen extremen Höhepunkt dieser Art durchlebte Znoj bei einer Wettfahrt in den Pyrenäen mit drei ihm dort zufällig begegneten französischen Motorradfahrern, seine spätere Frau hinter ihm auf dem Soziussitz: »Ich war hoch konzentriert, eigentlich ging’s auch nicht mehr um die drei anderen; immer mehr verschmolz ich mit dem Motorrad. Ich hatte auf einmal das Gefühl, ein ganz inniges Verhältnis zu meinem Motorrad aufzubauen, und auch den hinteren Pneu spürte ich plötzlich ganz deutlich. Ich war plötzlich ein Teil der Verbindung zwischen Reifen und Straße geworden, wobei ich deutlich das Gefühl der Klebrigkeit des Bodens wahrnahm als ob ich selbst das Gummi wäre. Alles andere war wie weggeblasen, die Franzosen, meine Sozia, die prachtvolle Landschaft. Die Umgebung bestand nur noch aus der Straßenoberfläche, Krümmung, Neigung und Körnung.« (71) »Im flow kann sich der Bewußtseinszustand des erweiterten Selbst einstellen; der flow ist ein Trancezustand, der durch höchste Konzentration in den Gegenstand erreicht wird und daher viel Denkkapazität bindet.« (78) Erfahrungen gleicher Art scheinen den süchtig wirkenden Eifer auch beim Ausüben anderer Sportarten zu motivieren. Gugutzer 39 teilt aus einer Serie von Interviews, die im Zuge von Studien zur Sportsucht erhoben wurden, folgende Äußerung einer einschlägig qualifizierten Frau mit, die sich unter anderen am Mountainbike (einem für schnelle Gebirgsfahrten ausgerüsteten Fahrrad) und beim Krafttraining betätigt hatte: »Beim Mountainbiken war noch viel mehr als beim Laufen das Gefühl, also der Kopf ist nur noch leer. (…) Beim Krafttraining muß man sich auf die Muskelgruppen konzentrieren und man Ich zitiere aus dem Text eines noch nicht gedruckten Vortrags, den Martin Gugutzer unter dem Titel »Leiblichkeit und Personalität in der Sportsucht« auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie im April 2015 in Rostock gehalten hat.

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spürt dann natürlich diesen einzelnen Muskel, man spürt die Durchblutung, man spürt, wie die Anspannung steigt. Man kann in der Tat nichts anderes denken. Aber beim Mountainbiken geht das auch, und zwar sowohl bergauf als bergab.« Das schnelle Radfahren bergauf und bergab gibt dem Bewegungsrausch eine ähnliche Chance wie das Motorrad, aber beim Krafttraining ist das Erlebnis von ganz anderer Art, und doch gleichen sich beide Übungen nach Aussage der Frau in dem, was sie »Leere im Kopf« nennt, in der ausschließlichen Konzentration auf den Fokus einseitiger Einleibung, und sei es der eigene Körper. Einer klärenden Erörterung bedarf das die habituelle Fixierung dieses Typs motivierende Aufgehen des Sichbewußthabens im Gegenstand, die Quelle des nach Wiederholung schreienden Glücks. Ist der Eingeleibte wirklich im dominanter Partner seiner Einleibung aufgegangen, oder täuscht er sich durch Übertreibung? Beides ist nicht annehmbar, denn weder ist er selbst verschwunden, noch darf man sich über sein glaubwürdig bekundetes Erleben hinwegsetzen. Das Rätsel läßt sich lösen, wenn man den vorhin schon angemerkten Unterschied zwischen absoluter Identität (gleich Selbstheit) und Einzelheit berücksichtigt. Was selbst ist also, wenn vieles ist, von anderem verschieden, braucht nicht einzeln zu sein, d. h. als Element einer Menge, die eine Anzahl hat, diese Anzahl (wenigstens im Fall einer endlichen Menge) um 1 zu vermehren. Es gibt nämlich auch pränumerisches Mannigfaltiges, das keine Anzahl hat und nicht aus Einzelnem besteht; im Verhältnis zu den Inhalten eines solchen Mannigfaltigen wird keine Anzahl um 1 vermehrt. Ich habe die Typen des Mannigfaltigen klassifiziert und zwei Formen des Zusammenhangs unterschieden: Beziehungen und Verhältnisse. Beziehungen sind von etwas, das sich bezieht, auf etwas, worauf es sich bezieht, gerichtet; ihre Glieder müssen einzeln sein, wegen der Angewiesenheit der Beziehungen auf eine bestimmte Teilnehmerzahl und Stellenzahl. Ihnen liegen ungerichtete Verhältnisse zugrunde, die teils in Beziehungen 111 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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spaltbar, teils zu gegebener Zeit unspaltbar sind. Unspaltbare Verhältnisse benötigen nicht einzelne, namentlich nicht sämtlich einzelne Teilnehmer, wie ich besonders an den Ekstasen, von denen die Höhepunkte habitueller einseitiger Einleibung (z. B. im Bewegungsrausch auf dem Motorrad oder Mountainbike) nur eine Art sind. In solchen Ekstasen, zu denen auch die entspannte sinnliche Ekstase des hingegebenen Genusses von Sonne, Wind und Duft und die mystische Ekstase der Meditation und der Vereinigung mit dem Göttlichen gehören, schwindet im unspaltbaren Verhältnis beziehungsloser Hingabe die Einzelheit dessen, der sich hingibt, so daß z. B. der Fahrer und sein Motorrad nicht mehr zwei (in numerischer Mannigfaltigkeit) sind, aber die Selbstheit, die absolute Identität, bleibt erhalten. Znoj in den Pyrenäen war noch selbst, aber er war nicht mehr ein Einzelner in Beziehung auf sein Motorrad, bis er aus der Ekstase erwachte.

6.2. Habituelle Fixierung mit Konflikt Beim ersten Typ dieser Art geht es nicht, wie im vorigen Fall, um das Auskosten eines Höhepunktes der Selbstvergessenheit, sondern um das Auskosten eines Konfliktes als Motiv für die Habitualisierung der einseitigen Einleibung, aber das Verlangen nach Auskosten einer fesselnden Situation ist beiden Typen gemeinsam. Es handelt sich nun um die habituelle Fixierung vom Kitzeltypus; ihr Motiv ist der Nervenkitzel des Spielens mit der Gefahr. Solche Einstellungen sind unter dem Titel spezieller Süchte geläufig. Ein Beispiel ist die Spielsucht, der Dostojewski verfallen war, worüber er einen Roman schrieb (Der Spieler) wie Stefan Zweig eine Novelle. Der Spieler setzt sich dem Wagnis von Gewinn oder Verlust im Glücksspiel aus und genießt dieses Wagnis mit immer größerem Einsatz. Ein anderes Beispiel ist die Stehlsucht, in der das Wagnis der Beschämung bei Ertapptwerden im Konflikt mit der Hoffnung auf Erfolg durch ei112 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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gene Geschicklichkeit mehr Reiz ausübt als der Wert der zu stehlenden Ware. Man kann auch an den süchtig machenden Reiz von Extremsportarten denken. Ich habe kürzlich gelesen, daß in Deutschland »Kletterhallen wie Pilze aus dem Boden schießen«, deren künstliche Wände nur zum gefährlichen Hochklettern bestimmt sind, wobei der Kletterer manchmal ein Halteseil mitnimmt, das er erst im Klettern selbst befestigt (»Vorstieg«-klettern). 40 Dann kommt wohl bloß noch das Risiko als Reiz in Frage. Hierhin gehört auch, mit einer hübschen Formulierung von Muchow, das »Balancieren an echten und eingebildeten Abgründen« in der Pubertät 41 , mit Mutproben und abenteuerlichen Extravaganzen der Jugendlichen. Einen Prototyp dieser habituellen Fixierung vom Kitzeltyp hat Gabriel 42 in Gestalt einer Frau beobachtet, die erst in falschen Verdacht gerät und dann auf den »fabelhaften Nervenkitzel« des Stehlens kommt. Sie zieht ihrem schlafenden Mann die Brieftasche unter dem Kopfkissen weg und legt sie wieder zurück, bloß um die mit der Gefahr des Ertapptwerdens verbundene Hochspannung zu genießen. In ihrer Jugend hat sie sich gern vom Sprungbrett ins Wasser gleiten lassen, von der Kante herabgleitend, »um den Moment noch recht auszukosten«. Sie hatte das herrliche Gefühl, »sich in das Ungewiß fallen zu lassen«. Mit dieser Einstellung gibt sie sich dem Trinken und dem Geschlechtsverkehr sowie dem »rasenden Vorwärtsschießen der Maschine« beim Motorradfahren auf dem Soziussitz hemmungslos hin und unternimmt Selbstmordversuche. Ihr Bewegungsrausch ist von anderer Art als der von Znoj als flow des Motorradfahrers beschriebene, der sich vom Hochgefühl zu angstfreiem Leichtsinn Ute Ewald: »Vertikale Erlebnisse. Ein erweitertes Raumverständnis, aufgezeigt am Beispiel des Hallenkletterns«, in: Leib, Ort, Gefühl, hg. v. M. Großheim, A. K. Hild, C. Lagemann, N. Trčka, Freiburg 2015, S. 345– 368 41 Hans Friedrich Muchow, Flegeljahre, Ravensburg 1960, S. 47 f. 42 Horst Gabriel, Die Süchtigkeit, Hamburg 1962, S. 227 f., von mir zitiert in: System der Philosophie, Band IV: Die Person, zuerst Bonn 1980, S. 107 40

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verführen läßt, während die Frau auf dem Soziussitz gerade das Wagnis und damit die Angst genießt. Der Konflikt, an dem sich als Spiel mit ihm die habituelle Fixierung vom Kitzeltyp entzündet, ist der Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression, der wesentlich zum Personsein gehört. Eine Person ist ein Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, die darin besteht, sich als Fall mehrerer Gattungen zu verstehen, auf die sie Akzente der Zuund Abwendung verteilen und die sie vielfältig verbinden oder trennen kann, so daß sie einen Spielraum beweglicher Selbstbestimmung und Stellungnahme gewinnt. Ich habe bewiesen, daß diese Selbstzuschreibung, ein identifizierendes Sichbewußthaben, nur durch ein vorgängiges nicht-identifizierndes Sichbewußthaben möglich ist und daß dieses Erfordernis die Person auf ihr affektives Betroffensein und den spürbaren Leib anweist, und zwar ursprünglich auf einen Zustand extremer Engung, die von mir so genannte primitive Gegenwart, in der Selbstheit und die Subjektivität des affektiven Betroffenseins in unspaltbarem Verhältnis zusammenhängen, so daß ein elementares Sichbewußthaben im Betroffenwerden gelingt, während ein beziehendes Identifizieren überflüssig und ausgeschlossen ist. Das Erbe dieser Quelle der beziehungslosen Vorkenntnis von sich übernimmt die Spannungskomponente als mit Weitung verschränkte Engung im vitalen Antrieb. In diesem Bereich muß die Person zurücksteigen, um zur Selbstzuschreibung fähig zu sein. Das ist personale Regression. Sie muß aber auch darüber hinaus kommen und durch Vereinzelung und Neutralisierung für sie subjektiver Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) über die tier- und säuglingshafte Gefangenschaft in Situationen hinauswachsen; dabei bildet sich um die Selbstzuschreibung eine Sphäre des Eigenen als persönliche Situation und persönliche Eigenwelt, im Gegensatz zu dem Fremden, das durch Neutralisierung aus dem Eigenen entlassen worden ist. Dieser Prozess ist die personale Emanzipation, die um so stärker ist, je deutlicher durch Vereinzelung und Neutralisierung das 114 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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Eigene sich vom Fremden abhebt, während die personale Regression resubjektiviert und enteinzelt. Die Gegenläufigkeit dieser Tendenzen macht die Person labil und stellt sie vor die beständige Integrationsaufgabe, ihren Zusammenhalt abzusichern. Dafür gibt es zwei natürliche Mechanismen, Lachen und Weinen. Diese genügen aber nicht. Um sich zu stabilisieren, muß sich die Person eine Fassung geben, indem sie sich in spielerischer, aber normalerweise keineswegs verspielter, Identifizierung darauf festlegt, etwas zu sein, das eindeutiger ist als sie wirklich ist. Der Hauptanteil dieser Fassung, abgesehen von der gleichfalls beteiligten Berufs- und Familienrolle, ist die sogenannte innere Haltung, gleichsam die Geste, mit der die Person alle Herausforderungen und Zumutungen, die an sie herantreten, aufnimmt, indem sie ihnen z. B. liebenswürdig oder behäbig, mißtrauisch, jovial, sanft oder derb begegnet; die Fassung kann auch wechseln, häufig nach Maßgabe der jeweiligen Lebenskreise und Umfelder. Die habituelle Fixierung vom Kitzeltyp sucht den Spielraum der Labilität zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression auf und spielt mit ihm. Das mit dem Wagnis verbundene Selbstvertrauen, das Hoffen auf das eigene Vermögen, die kritische Lage zu meistern, ist der Ausdruck personaler Emanzipation, die mit dem Risiko verbundene Angst dagegen der Anteil personaler Regression an dieser Einstellung. Der Versuch, die kritische Lage zu meistern, ist zugleich ein Versuch der Meisterung personaler Integration gegen die Gegenläufigkeit der beiden Tendenzen Emanzipation und Regression. Er dient zum Einspielen einer Fassung, mit der die Person sich stabilisieren kann, durch das Experiment mit der Gefahr. Das ist eine ebenso reizvolle wie für das Personsein sinnvolle Aufgabe, die Anlaß zum Verständnis dafür gibt, daß auf diesem Wege habituelle Fixierung an der Situation des personalen Grundkonflikts gesucht wird und erfolgt. Das gilt besonders für die Ausschläge des Nervenkitzels in der Pubertät, in der die labilisierte Person ganz besonders auf Integration angewiesen ist. Daß dabei Rei115 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

bungen entstehen, die – wie etwa im Fall der Stehlsucht – im Interesse der gesellschaftlichen Sicherheit und Ordnung unerwünscht sind, steht auf einem anderen Blatt. An nächster Stelle, nach dem habituellen Spielen mit der Gefahr, behandle ich die Form habitueller Fixierung, an die man gewöhnlich denkt, wenn von Sucht die Rede ist, nämlich die ohne eigenen Einsatz hinfällig erlittene Fixierung, die der Betroffene sich als Schwäche anrechnet oder von seinen Mitmenschen sich anrechnen läßt; ihr Konfliktgehalt besteht im Leiden an der Unterwerfung in einseitiger Einleibung, oft mit Schuldvorwürfen an die eigene Adresse verbunden. Hierhin gehört das Verfallen an aufstachelnde oder beruhigende Drogen, wie Alkohol, Tabak oder Pharmaka. Der Fixierte, der durch seinen Konsum früher oder später in eine elende Lage gerät, aus der er sich durch Enthaltsamkeit befreien möchte, sagt sich und hört sich sagen, er müsse sich dort einfach nur einen Ruck geben, um sich seiner Fessel zu entledigen. Diese Zumutung beruht auf einer irreführenden, phänomenologisch blinden Auffassung der Natur des Wollens. Demokrit und Platon haben den Menschen eine Ideologie eingepflanzt, die sie glauben läßt, sie verfügten über eine souveräne Instanz, genannt »Vernunft« oder »freier Wille«, mit der sie ihren unwillkürlichen Regungen wirksam gebieten könnten, wenn sie nur wollten. In Wirklichkeit ist das Wollen für die wollende Person eine komplizierte Vermittlungsaufgabe zwischen drei Instanzen: einer Herausforderung, auf die mit dem Wollen reagiert wird, der persönlichen Situation, die zur Einstimmung in ein Programm zur Erwiderung der Herausforderung gewonnen werden muß, und dem vitalen Antrieb, der zur Realisierung des Programms gewonnen werden muß. Die zuständliche persönliche Situation einer Person umfaßt viele partielle Situationen, die in ihr wie zähflüssige Massen gleiten und sich reiben, meist in unspaltbarem Verhältnis, aber auch einzeln hervortretend durch Selbstbesinnung, Erschütterung oder assoziative Weckung. Dazu gehören die retrospektiven Kri116 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

stallisationskerne der Erinnerung, die prospektiven Situationen, in deren binnendiffuser Bedeutsamkeit mehr oder weniger verborgen liegt, worauf die Person hinaus und wovon sie weg will, und zwischen beiden Massen die Situationen ohne Zeitperspektive, wie die Standpunkte der Person, ihre Fassung, ihre Gesinnung als die Weise, auf das affektive Betroffensein zuzugehen und sich einzulassen, die Lebenstechnik als habituelle Weise des Umgangs mit Problemen der Lebensführung, der Sprachschatz, die habituellen Interessen usw. Der Person, die durch eine Herausforderung zum Wollen aufgefordert ist, obliegt zunächst die manchmal glatt lösbare, in anderen Fällen nur mit komplizierter Diplomatie und geduldigem Kneten zu bewältigende Aufgabe, dem vielstimmigen Konzert diese partiellen Situationen eine einstimmige Antwort abzugewinnen, ein Programm, das dann die jeweilige Absicht ist; wenn das gelingt, weiß die Person, was sie will. Aber das allein ist noch kein Wollen. Zur Realisierung der Absicht, mit oder ohne Körperbewegung, gehört der vitale Antrieb, der zur Zuwendung gewonnen werden muß. Bei glattem Gelingen wird die Zuwendung des Antriebs schon durch seine Reizempfänglichkeit gesteuert, indem diese durch leitende Programme für die zur Auswahl für die Zuwendung erforderliche Auszeichnung geeigneter Reize oder Themen sorgt. Diese leitenden Programme sind entweder, so bei Tieren, der Nomos einer Situation, d. h. der Programmgehalt ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit, oder ein Thema wie im Fall des Wollens die Absicht. Bei dem hinfällig Fixierten versagt diese Steuerung der Zuwendung durch die Reizempfänglichkeit wegen eines Zwiespalts. Einerseits, nämlich leitet ihn der Nomos der Situation, in die er durch seine Hinfälligkeit geraten ist, zur Fortsetzung seiner habituellen Fixierung an; im Gegenteil verlangt andererseits ein leitendes Thema, nämlich seine Absicht, die Abwendung davon, und die nach zwei Seiten gezogene Reizempfänglichkeit gerät in Verwirrung, an der die Zuwendung scheitert. Diese ist nicht ohne weiteres verfügbar; der vitale Antrieb muß ebenso

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Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

zur Zuwendung gewonnen werden wie die persönliche Situation zur einstimmigen Vertretung einer Absicht. Das Wollen kann also an zwei Klippen scheitern, erstens bei der Absichtbildung und zweitens bei der Zuwendung des vitalen Antriebs zur Realisierung der Absicht. Das erste Scheitern ist der Fall Hamlets, dessen vitaler Antrieb zur Zuwendung fähig ist, aber mangels Führung durch eine konsequent in der persönlichen Situation durchgesetzte Absicht in plötzlichen Ausschlägen abreagiert wird. Der zweite Fall tritt ein, wenn trotz erhaltener Absicht die Zuwendung des Antriebs nicht gelingt. Das kann geschehen, wenn die besonders imponierende Erscheinung eines Menschen die ihm gegenüber sich behauptende Absicht niederschlägt. Ich habe einmal von einem Arzt gelesen, der in der Hitlerzeit ein fanatischer Gegner Hitlers war und diesen am liebsten umgebracht hätte; als nun einmal Hitler tatsächlich an ihm vorüberging, mußte der Arzt sich eingestehen, daß er dazu nicht in der Lage gewesen wäre, selbst wenn er die Absicht gehabt hätte. Die Ausstrahlung gebieterischer Entschiedenheit von Hitlers Erscheinung trennte den Antrieb von der Absicht. Ein anderes Beispiel sind Phobien. Manche behaupten, sie könnten kein Blut sehen, und geben deshalb die Absicht auf, Arzt zu werden. Oder die Spinnenfurcht. Die Absicht, die in solchen Fällen durch Blockierung des Antriebs entwaffnet wird, braucht keineswegs zweifelhaft zu werden, wie bei Mutproben, wenn etwa jemand in der Schwimmhalle mit der Absicht, zu springen, auf das Dreimeterbrett gestiegen ist und dort beim Blick in die Tiefe in der Absicht schwankt. So etwas geschieht, wenn jemand glaubt, ein Held zu sein, und beim Ansatz zur Durchführung der darauf gegründeten Absicht merken muß, daß er sich überschätzt hat, weil er mit seiner persönlichen Situation doch nicht voll hinter dem Programm steht. Im Fall des hinfällig an eine Droge Fixierten braucht die Schwäche des Wollens nicht an einer Störung der Absichtbildung zu liegen, sondern entscheidend ist dann die Blockierung des Antriebs durch Verwirrung der Reizempfänglichkeit. Bisweilen gelingt es durch einen zu118 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

sätzlichen Reiz dem blockierten Antrieb den nötigen Schwung zu geben, der die Person auf ein höheres Niveau personaler Emanzipation erhebt, auf dem sie sich aus der Verstrickung befreien kann. Alexander Aljechin, von 1927 bis 1935 Schachweltmeister, verfiel dem Alkohol und wurde daraufhin von Max Euwe besiegt. Beschämt von dieser Niederlage entsagte er dem Alkohol, kaufte eine Kuh und trank nur deren Milch. Nach zwei Jahren war er wieder Weltmeister. An letzter Stelle unter den mit Konflikt beladenen Weisen habitueller Fixierung durch einseitige Einleibung nenne ich die Zwangskrankheit (Anankasmus), die gewöhnlich nicht zu den Süchten gerechnet wird, obwohl sie sich, wie sich gleich zeigen wird, mit solchen des eben besprochenen Typs überschneiden kann. Um der Zwangsstörung näher zu treten, muß ich meine Begriffe der persönlichen Eigenwelt und der persönlichen Fremdwelt einführen. Über die persönliche Situation hinaus, zu der nur gehört, was die Person zu sich selbst rechnet, umfaßt die persönliche Eigenwelt alles, woran die Person mit affektivem Betroffensein gleichsam hängt, sei es in Zuneigung oder Abneigung, Zugriff oder Abwehr. Das sind in erster Linie die für sie subjektiven Tatsachen, die ihr nahe gehen, und die übrigen ebenso subjektiven Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme); deren Besonderheit besteht darin, daß höchstens der Betroffene sie aussagen kann, weil das Nahegehen für das Aussagenkönnen unvertretbar ist. Andere können aber mit Hilfe von Kennzeichnungen und Namen darüber sprechen. Zur persönlichen Eigenwelt einer Person gehören die Bedeutungen, die für sie subjektiv sind, und die Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, daß sie existieren, für die Person subjektiv ist; auf untatsächliche Sachverhalte muß Rücksicht genommen werden, weil zu den persönlichen Eigenwelten viele Illusionen (etwa des Hoffens und Fürchtens) gehören. Zur persönlichen Fremdwelt einer Person gehört, was durch Neutralisierung der Bedeutungen (d. h. Abfall der Subjektivität für sie 119 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

von ihnen) der Person fremd geworden ist. Die Zwangskrankheit entsteht dadurch, daß etwas gleichsam auf der Grenze zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt liegen bleibt, indem es als fremd begegnet, als Inhalt der persönlichen Fremdwelt, andererseits aber doch nicht aus der persönlichen Eigenwelt weggeschafft werden kann. Wenn es sich dabei um eine Norm (ein Programm für möglichen Gehorsam) handelt, übt diese einen tyrannischen Zwang aus; sie ist als fremd nicht verfügbar, als eigen aber nicht distanzierbar, so daß die Person ihr wie einem erratischen Block in ihrer Eigenwelt ausgeliefert ist. Entsprechendes gilt für alle anderen Gegenstände, die sich einerseits in die persönliche Eigenwelt eindrängen, andererseits aber als fremd oder entfremdet aus ihr abgestoßen sind; der Betroffene kann sich ihnen nicht entziehen, über sie in ihrer Fremdheit aber auch nicht verfügen, und so suchen sie ihn ohne Gelegenheit zur Abwehr heim. Damit werden sie zu Gegenständen habituell fixierter einseitiger Einleibung. Ich will ein Beispiel geben, das den Zusammenhang des Anankasmus mit der Drogensucht deutlich macht. Ich denke an die Abwehr des geschlechtlichen Begehrens im Christentum. Der Kirchenvater Augustinus warnt vor kleinen Sünden, die einzeln wenig ins Gewicht fallen, in ihrer Häufung aber einer großen Sünde gleichkommen, die dem Menschen den Weg zur ewigen Seligkeit versperrt und ihn der Verdammnis ausliefert. Als solche kleinen Sünden zählt er auf: Ausdehnung der Wollust im Geschlechtsakt über das zur Kinderzeugung unentbehrliche Maß hinaus; Unterlassung sofortiger (notfalls gewaltsame) Abwendung der Gedanken bei jedem Anflug von Lüsternheit (wenn z. B., auch ohne Absicht, etwas Unschickliches gesehen oder gehört worden ist). 43 Wenn eine Person eine natürliche Neigung zu lüsternen Regungen hat, solche aber unter Leitung kirchlicher Autoritäten wie des Augustinus gewissenhaft, notfalls geAugustinus, Contra Julianum II 81 (40); Sermo 9, 18; 51, 22, 56, 12; 261, 9

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Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung

waltsam, verdrängen will, muß sie auf jede Spur von solchen achten und wird sie daher viel mehr wecken als loswerden, auch wenn sie sich verzweifelt darum bemüht. Sie erliegt dann einer Zwangskrankheit habitueller Fixierung durch einseitige Einleibung an unwillkürliche Regungen, die sie verwünscht und eben dadurch provoziert. Wie bei der erlittenen Einleibung in eine Droge wird sie sich einer Schwäche anklagen und in Konflikt mit sich geraten. Diese Übersicht über die Arten habitueller Fixierung durch einseitige Einleibung macht deutlich, wie unsystematisch die gesellschaftliche Bewertung als Sucht ihre Zensuren über die Phänomene streut. Im Zentrum des gesellschaftlichen Interesses steht die Drogensucht im weitesten Sinne, die man neuerdings, ohne sich im Sprachgebrauch durchsetzen zu können, in (krankhafte) Abhängigkeit umbenannt hat, um dem Süchtigen einen Vorwurf zu ersparen. Was diese Abhängigkeit – ein viel zu allgemeiner Ausdruck – genauer ist, konnte hier wenigstens phänomenologisch präzisiert werden: Es handelt sich um einseitige Einleibung. Deren übrige Gestaltungen werden ohne nähere Unterscheidung als Süchte teils gebrandmarkt (wie Stehlsucht, wohl auch Spielsucht), teils respektiert (wie extreme Sportarten, z. B. in Kletterhallen), und bei Sokrates, wohl auch bei Michael Kohlhaas, pflegt niemand an Sucht zu denken.

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7. »Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

Husserl 44 hat im Anschluß an Brentano die Lehre von der Intentionalität des Bewußtseins so ausgebaut, daß alle späteren Diskussionen des Themas daran anknüpfen. »Der Problemtitel, der die ganze Phänomenologie umspannt, heißt Intentionalität. Er drückt die Grundeigenschaft des Bewußtseins aus.« (III 213) »Jedes Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas, und die Bewußtseinsweisen sind sehr verschieden.« (III 139 f.) »Das Gerichtetsein, die Tendenz ist der Grundcharakter des Bewußtseins in seinem ursprünglichen Wesensbestand.« (XXXIII 38) »(…) in jedem Aktvollzug liegt ein Strahl des Gerichtetseins, den ich nicht anders beschreiben kann als seinen Ausgangspunkt nehmend vom Ich« (IV 97 f.). Aber nicht alle Bewußtseinsinhalte sind von sich aus intentional. Es genügt, daß sie als Empfindungen (»hyletische Daten«) oder potentiell vorbereitete Intentionen eingebunden sind in die Gesamtinstitution eines Aktes. »Ein Bewußtsein von etwas braucht nicht notwendig die ausgezeichnete Form des Gerichtetseins auf dieses Was, auf seine Gegenständlichkeit zu haben. (…) gerichtet ist das Bewußtsein auf Gegenständliches nur dadurch, daß ein aus intentionalen Strahlen vereinigte Gesamtintention aktualisiert ist, während das übrige Gegenstandsbewußtsein im Milieu verbleibt, das je-

Ich zitiere im Folgenden aus der Reihe Husserliana (Schriften Husserls) mit römischem Band- und arabischen Seitenzahlen. Dabei handelt es sich um folgende Bände: III Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, Angabe von Biemel 1950; IV Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 2. Buch; XI Analysen zur passiven Synthesis; XXXIII Bernauer Manuskripte.

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»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

derzeit unter motivierenden Umständen die Form der spezifisch gerichteten Intentionalität annehmen kann.« (XI 364) Soweit Husserl. Für die Gerichtetheit des Bewußtseins auf Gegenständliches, die dessen Inhalte zu einem intentionalen, vom Ich ausgehenden Strahl zusammenfaßt, ist hiernach gesorgt. Es fehlt aber noch eine Angabe darüber, wie diese allgemeine Gerichtetheit ihr bestimmtes Ziel jeweils findet, was gleichsam der Kompass ist, der sie in die richtige Richtung einweist, oder der Rahmen, der ihr die dafür nötige Orientierung gibt. Husserl umgeht die Antwort auf zwei Weisen. In Logische Unterscheidungen (2. Band, 5. Untersuchung) hält er dafür die Materie des Aktes bereit, die als ein Teil von ihm festlegt, worauf er abzielt. Das ist aber nur ein Leertitel, ein Postulat; Husserl sagt nichts über die Beschaffenheit dieser Materie. Später ersetzt er diese durch das Noema, das genaue Spiegelbild des Aktes (der Noesis) auf der Gegenstandsseite, das von dem darüber hinaus liegenden intendierten Gegenstand der Außenwelt oft verschieden ist. Damit setzt er das Problem als gelöst, den unmittelbaren Gegenstand als bereits gefunden voraus. Die Frage bleibt offen, wie er gefunden wird. An dieser Lücke kann man merken, daß diese Theorie der Intentionalität schon in sich – abgesehen von ihrer Anpassung an die Phänomene – unselbständig und ergänzungsbedürftig ist. Ich komme darauf zurück. Wenn Husserl als Grundeigenschaft des Bewußtseins eine vom Ich ausgehende Gerichtetheit auf etwas annimmt, setzt er eine Distanz zum Objekt voraus, als müsse das Ich diese durch Einschlagen einer Richtung erst noch überbrücken. Damit macht er denselben Fehler wie Wittgenstein im Aphorismus 5.631 seiner logisch-philosophischen Abhandlung: »Wenn ich ein Buch schriebe ›Die Welt, wie ich sie vorfand‹, so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht etc., das nämlich ist eine Methode, das Subjekt zu isolieren oder vielmehr zu sagen, daß es in einem wichtigen Sinn kein Subjekt gibt. Von 123 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

dem könnte nämlich in dem Buch nicht die Rede sein.« Beide Autoren ignorieren den Unterschied zwischen dem Vorfinden – wie ich mit dem Ausdruck sagen will, den Wittgenstein von Avenarius übernommen hat – und dem affektiven Betroffensein. Es gibt zwei Weisen, etwas zu finden, nämlich das Vorfinden und das affektive Betroffensein. Sie unterscheiden sich in der Weise, wie dem Finder ein Fund zuteil (oder gegeben) wird. Beim Vorfinden bietet sich dieses Gegebene, auch wenn es in sich dramatisch bewegt sein sollte, passiv zum Registrieren an; im affektiven Betroffensein drängt sich dem Findenden das Begegnende so auf, daß er nicht umhin kann, sich darauf einzulassen und dadurch – auch schon vor jeder Selbstbesinnung und identifizierenden Selbstzuschreibung – sich selbst zu spüren, während er beim bloßen Vorfinden in der Passivität des Gegebenen keinen Anlaß findet, auf sich zurückzusehen. Wittgensteins Fehler, das Subjekt zu isolieren und dann sogar »in einem wichtigen Sinn« fortzuschaffen, bestand also darin, daß er an der falschen Stelle, beim bloßen Vorfinden, gesucht hat. Den entsprechenden Fehler begeht Husserl, indem er den intentionalen Akt als Grundzug des Bewußtseins bloß als Hervorgehen des Ichs zum Gegenstand auffaßt, während für das affektive Betroffensein die umgekehrte Richtung, daß etwas sich unausweichlich bis zum Sichspürenmüssen dem Bewußthaber aufdrängt, der maßgebende Auslöser ist. Allerdings gehört zu der Passivität auch eine antwortende Aktivität; wenn der Bewußthaber bloß teilnahmslos nachgäbe, würde ihm die Anregung fehlen, sich selbst zu spüren. Zum passiven affektiven Betroffensein gehört immer eine aktive Gesinnung, es auf sich zu nehmen; so ist der Eindruck, bedroht zu werden, in Furcht und Angst schon auf primitiver Stufe nur durch die Abwehrhaltung möglich, und mit fortgeschrittener Entwicklung breitet sich der Spielraum der Gesinnung – des Eingehens auf das affektive Betroffensein – aus. Aktivität und Passivität gehören in jedem affektiven Betroffensein unzertrennlich zusammen.

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»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

Diese Einseitigkeit Husserls durch Verkennen der Eigenart des affektiven Betroffenseins rächt sich besonders bei Anwendung der Intentionalität auf die Gefühle. Brentano hatte alle »psychischen Phänomene« durch Intentionalität (»intentionale Inexistenz«) charakterisiert und auf die drei Klassen der Vorstellungen, der Urteile und der Gefühls- und Willensakte verteilt, worüber er folgende Erläuterung gibt: »In der Vorstellung wird etwas vorgestellt, im Urteil etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw.« 45 Er versteht also Gefühle und Willensakte wie Urteile als persönliche Stellungnahmen für oder wider zu einem gegebenen Objekt. Dem schließt sich Husserl an, indem er Gefühle als auf Objekte gerichtete intentionale Akte auffaßt, mit der Verschärfung, daß sie sich ihre Objekte nicht selbst besorgen, sondern dafür auf objektivierende »doxische« Akte (Vorstellungen oder Urteile) angewiesen sind, in denen sie daher ihrem Wesen nach »fundiert« seien; daß er ihnen später ein potentielles, aber kein aktuelles Objektivieren zugestand, macht kaum einen Unterschied. 46 Wie verkehrt diese Auffassung von Anfang an ist, erkennt man, wenn man das affektive Betroffensein von Gefühlen, das ich »Ergriffenheit« nenne, mit dem von bloßen leiblichen Regungen wie Hunger und Durst vergleicht. Während der von bloßen leiblichen Regungen Betroffene im Allgemeinen von vornherein einen ziemlich breiten Spielraum für Stellungnahmen hat, ist der Ergriffene, nicht bloß von einem flüchtigen Anflug des Gefühls Gestreifte, genötigt, sich zunächst in den Dienst des Gefühls zu stellen, indem er dessen Impuls zu seinem eigenen macht, und kann erst nach einer Anfangsphase, die ganz kurz oder länger sein kann, zu dem Gefühl eine Beziehung aufnehmen, in Form einer Stellungnahme der Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, 1. Band, zuerst 1875, wieder hg. v. Oskar Kraus, Leipzig 1924, S. 135 46 Zu dieser Spezialität Husserls vgl. Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 100–102 45

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»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

Preisgabe oder des Widerstandes. Wer z. B. wirklich zürnt, muß erst einmal in Zorn geraten sein, ehe er eine Stellung zu seinem Zorn einnehmen kann. Das Entsprechende gilt für Scham, Liebe, Freude, Trauer, Neid und alle anderen Gefühle. Wer ein Gefühl schon an der Schwelle seines Eintritts mit einer fertigen Stellungnahme begrüßt, wird entweder nur von einem flüchtigen Anflug gestreift oder fühlt nur zum Schein. Die Ergriffenheit von einem Gefühl bedarf auch keiner Fundierung in einem objektivierenden Akt. Mörike bekennt in seinem Gedicht Verborgenheit: Was ich traure, weiß ich nicht: Es ist unbekanntes Wehe; immerdar durch Tränen sehe ich der Sonne liebes Licht. Oft bin ich mir kaum bewußt, und die helle Freude zücket durch die Schwere, so mich drücket, wonniglich in meiner Brust. Von dieser Art sind die Verstimmungen vieler gesunder Zyklothymiker. Hier kann von gar keinem Objekt, auf das das Gefühl sich bezöge, die Rede sein, und doch ist die Struktur der Ergriffenheit genau die angegebene. Ebenso wenig brauchbar ist die Theorie für das Wollen. Dessen Auffassung als vom Ich ausgehender, auf ein Objekt gerichteter Akt führt fast unvermeidlich zur Deutung des Wollens vom Entschluß her, als entscheidender Eingriff des sich ein Ziel setzenden Autors Ich. Mir ist keine nähere Bestimmung des Wollens durch Husserl bekannt, aber seine Schüler und Adepten (Alexander Pfänder, Edith Stein, Roman Ingarden) bekennen sich dazu mit großer Entschiedenheit. 47 Aber manche Menschen entschließen sich und wollen dann doch nicht und andere wolEntsprechende Zeugnisse führe ich an in meinem Buch Bewußtsein, Freiburg 2010, S. 99, Anm. 143.

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»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

len, ohne sich entschlossen zu haben. In Wirklichkeit ist das Wollen die Lösung einer doppelten Vermittlungsaufgabe. 48 Die erste Vermittlung erfordert eher Intelligenz und Spürsinn als Entschlossenheit. Angesichts einer Herausforderung muß die Person die Stimmen in ihrer Persönlichkeit, d. h. ihrer zuständlichen persönlichen Situation, so bündeln, daß sie gemeinsam auf ein einziges Programm hinauslaufen, eine Absicht, die der Herausforderung antwortet; dann weiß sie, was sie will. Dahin zu gelangen ist oft leicht, manchmal sehr schwierig, bei großen und kleinen Entscheidungen, selbst beim Wählen von der Speisekarte im Restaurant; wenn es nicht gelingt, wird der Entschluß schnell brüchig, wie bei Hamlet. Die zweite Aufgabe besteht darin, für die bereits gebildete Absicht die Zuwendung des vitalen Antriebs zur Realisierung der Absicht zu gewinnen. Manchmal versagt der Antrieb durch Schwunglosigkeit, oder etwa eingeschüchtert durch die imponierende oder in anderer Weise entwaffnende Erscheinung eines Menschen oder durch die Aktualisierung einer Phobie. Dann hilft die feste Absicht nicht mehr zum Wollen. Die Person als wollende ist nicht der schlichte Urheber einer Entscheidung, sondern steht vermittelnd zwischen dem für das Wollen maßgebenden Faktoren in der Herausforderung, ihrer persönlichen Situation mit eventuell divergierenden partiellen Situationen, und ihrem vitalen Antrieb. Das Wollen ist eine persönliche Stellungnahme. Ehe ich auf die persönlichen Stellungnahmen eingehe, will ich an Husserls Intentionalität eine andere Schwäche aufzeigen. Husserl bezieht die intentionalen Akte immer auf einzelne Gegenstände, d. h. auf solche, von denen jeder einer ist und mit anderen eine Gruppe von mehreren, so und so vielen Gegenständen bilden kann, ferner gewisse Beschaffenheiten als Fall einer Gattung oder eines Begriffs hat: ein Mensch, eine Färbung, eine Zahl zu sein. Damit setzt er die Schwelle der Gegenständlichkeit für das »BeEbd., S. 95–108, Wollen. Dort werden auch die hier verwendeten Ausdrücke erklärt.

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»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

wußtsein von etwas« zu hoch an. Etwas kann bewußt sein, ohne solchen Ansprüchen zu genügen. Ich denke an die von mir so genannten Halbdinge. Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen (Dingen im Vollsinn) auf zwei Weisen: erstens dadurch, daß sie kommen, gehen und wiederkommen können, ohne daß es Sinn hat, zu fragen, wo und wie sie die Zwischenzeit verbracht haben (unterbrechbare Dauer); zweitens durch eine unmittelbare Kausalität, in der Ursache und Einwirkung zusammenfallen, während sie bei Volldingen wie Stein und Stoß verschieden sind. Von bloßen Sinnesdaten unterscheiden sie sich entweder durch einen im Wandel ihres Gesichts beharrenden Charakter oder durch die Macht (Steuerungsfähigkeit), die sie ausüben. Das exemplarische Halbding ist die (phänomenale, nicht physikalische rekonstruierte) Stimme (eines Menschen oder einer Tierart). Andere Halbdinge, die unter vielen Arten davon hier besonders in Betracht kommen, sind der (namentlich der wiederkehrende) Schmerz, der Wind (vor Umdeutung zu bewegter Luft), die reißende Schwere, wenn man ausgleitet und abstürzt oder sich gerade noch fängt. Der Schmerz ist ein Halbding, weil er nicht nur ein eigener Zustand des Gepeinigten ist, sondern auch ein auf ihn eindringender Widersacher, mit dem er sich auseinandersetzen muß; man kann im Schmerz nicht aufgehen wie (z. B. in panischer Flucht) in der nicht minder peinlichen Angst. Vom Schmerz, vom Wind, von der reißenden Schwere kann man befallen werden, ohne den mindesten Begriff von ihnen zu haben, ohne sie als einen (einheitlichen) Gegenstand oder einen Haufen vieler Gegenstände zu erfassen, ohne Eigenschaften an ihnen ablesen zu können; man merkt nur, da ist etwas, dem man standhalten muß, und setzt sich danach ein. Dank dieser Auseinandersetzung bei vollem, aber wenig entfaltetem Bewußtsein sind sie für den Betroffenen Gegenstände, aber von anderer Art als die von Husserl genannten Gegenstände intentionaler Akte: So etwas widerfährt schon den Tieren und den kleinen Kindern. Den Mangel, der damit in Husserls Gegenstandsbegriff auf128 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

gedeckt ist, will ich nun begrifflich genauer fassen. 49 Einzeln ist, was einer der drei äquivalenten, also austauschbaren Definitionen genügt: was Element einer Menge mit der Zahl 1 ist; was eine Zahl um 1 vermehrt; was Element einer endlichen Menge ist. Die Zahl 1 ist die Zahl (oder Anzahl) jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Eine Zahl ist die umkehrbar eindeutige Abbildbarkeit gewisser Mengen auf eine Menge. Einzeln kann nur sein, was Element einer Menge und Umfang einer Gattung ist. Gattung ist alles, wovon etwas ein Fall ist. (Die einschlägigen Definitionen sind zu kompliziert, um hier angeführt zu werden.) Numerisch ist das Mannigfaltige, dessen Inhalt nur aus Einzelnem besteht. Vom Einzelnen muß das absolut Identische, das, was selbst ist, unterschieden werden. Etwas ist absolut identisch, wenn es, falls vieles ist, von anderem verschieden ist. Alles Einzelne muß sowohl absolut identisch als auch Fall einer Gattung sein; dagegen kann etwas absolut identisch sein, ohne einzeln zu sein. Aber nicht einmal die absolute Identität ist selbstverständlich. Ein Gegenbeispiel von Seiendem, das weder einzeln noch absolut identisch ist, sind die Teile eines intensiven Quantums. Etwas kann lauter und leiser, heller und dunkler, wärmer und kälter, schneller und langsamer, stärker und schwächer werden. Dann kommen viele Teile hinzu oder gehen weg, so daß die Fülle schwankt, aber es wäre ebenso sinnlos, diese Teile (wie die einer extensiven Größe) vereinzeln zu wollen, wie nach einer Verschiedenheit zwischen ihnen zu suchen. Erst mit der absoluten Identität, noch vor der Einzelheit, fängt die Gegenständlichkeit an. Von dieser Art sind die besprochenen Halbdinge, die den fassungslos Betroffenen zum Standhalten herausfordern. Sie übersah Husserl wegen seines zu eng gefaßten, nur auf das Einzelne bezüglichen GegenstandsbegrifFür das Folgende verweise ich auf meine Bücher Kritische Grundlegung der Mathematik (Freiburg 2013) und Gibt es die Welt? (Freiburg 2014, S. 59–81). Eine gründliche, zusammenfassende Darstellung enthält mein Buch Ausgrabungen zum wirklichen Leben (Freiburg 2016), Kapitel 2: Mannigfaltigkeit.

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fes. Erst nach der absoluten Identität und der Einzelheit kommt die bekanntere relative Identität, die Identität von etwas mit etwas, z. B. mit sich selbst. Sie ist das Fallen von etwas unter mehrere Gattungen, während zur Einzelheit das Fallen unter eine Gattung genügt. Wenn im Umfeld eines absolut identischen Gegenstandes nichts einzeln wäre, müßte das andere, von dem er verschieden ist, pränumerisches Mannigfaltiges sein. Ich habe bewiesen, daß nicht alles Mannigfaltige numerisch sein kann, und die Typen des nicht numerischen Mannigfaltigen durchmustert. Hier kommt, da das zwiespältige Mannigfaltige beiseite gelassen werden kann, das von mir so genannte chaotische Mannigfaltige mit zwei Untertypen in Betracht. Der primitivste ist das konfuse Mannigfaltige, in dem es nicht einmal absolute Identität und Verschiedenheit gibt; als Beispiel habe ich schon die Teile eines intensiven Quantums genannt, und weitere Beispiele unter anderem sind homogene Kontinuen, wie ruhiges Wasser für den Schwimmer, der sich tragen läßt, tiefes Dunkel oder eine durchdöste Frist. Darüber erhebt sich, als zweite Stufe des chaotischen Mannigfaltigen, das diffuse Mannigfaltige, noch ohne Einzelheit, aber besetzt mit absoluter Identität und Verschiedenheit, die sich dadurch verraten, daß man beim Umgang mit diesem Mannigfaltigen normalerweise vor Verwechslungen geschützt ist. Es hat überwiegend die Gestalt von Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das ganzheitlich (d. h. in sich zusammenhängend und nach außen mehr oder weniger abgehoben) zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme und/oder Probleme sind. Binnendiffus (chaotisch mannigfaltig) ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alles in ihr (sehr oft gar nichts) einzeln ist. Mit solchem diffus chaotischen Mannigfaltigen in Form von Situationen sind auch erwachsene Personen in einem fort befaßt; anders könnten sie ihr Leben gar nicht führen. Ein Beispiel ist der Sprachgebrauch und der Mundgebrauch beim flüssigen Sprechen. Der Sprecher hat die ganze Sprache, soweit sie in sei130 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

nem Sprachschatz Platz hat, zur Verfügung. Sie ist eine Situation im angegebenen Sinn, die nur aus Programmen besteht, nämlich aus Regeln (d. h. Programmen für möglichen Gehorsam mit beliebiger Wiederholbarkeit des Gehorsams) für die Formulierung von Sprüchen, die einzelne Sachverhalte, Programme oder Probleme (oft viele auf einmal) herausheben und damit meist weitere Zwecke verfolgen. Diese Regeln sind die Sätze der Sprache. Der flüssige Sprecher durchmustert nicht etwa die einzelnen Sätze, um die für seine Formulierung passenden herauszufinden, wie der Koch die Rezepte für sein Kochen, sondern er greift blind, aber treffsicher, vor Verwechslungen im diffus chaotisch Mannigfaltigen hinreichend geschützt, in die Sprache hinein und holt sich die Sätze heraus, nach denen er seiner Absicht gemäß seine Sprüche formen kann. Dabei bedient er sich in mündlicher Rede der Teile seines Stimmapparates von der Kehle bis zu den Lippen in gleicher Weise wie der Sprache. Er achtet nicht darauf, vorschriftsmäßig seine Zunge zurechtzulegen usw., sondern bedient sich seiner Orientiertheit im Mund als einer ganzheitlichen Situation mit Programmen, auf die er blind, aber treffsicher zugreift wie auf die Sprache. Das Entsprechende gilt für jede flüssige Bewegung der Körperglieder. Wenn man bei jedem einzelnen Schritt auf Abstände und Winkel der Fußstellung achten müßte, käme man nicht weiter. Man muß in ganzheitliche Situationen eingeweiht sein, um, ihrem Programmgehalt (Nomos) folgend, körperlich handeln zu können. Diese begrifflichen Klärungen gestatten nun, der bezeichneten Formel Husserls für die Intentionalität – »Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas« – näher zu treten. Sie ist doppelsinnig. Bewußtsein von etwas ist offensichtlich das Bewußthaben eines Gegenstandes, der insofern jemandem bewußt ist, und setzt damit einen Bewußthaber voraus, dem das bewußt ist. Man kann die Formel so verstehen, daß Bewußtsein nichts anderes als solches Bewußthaben sei, also eine Beziehung von jemand, der etwas bewußt hat, auf das, was ihm in dieser Beziehung bewußt ist. Die andere Lesart besagt, daß das an erster Stelle genannte 131 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

Bewußtsein nicht bloß eine Beziehung ist, sondern ein dem Bewußthaber vorgeschalteter Bereich mit eigenen Inhalten, der zusätzlich die Aufgabe der Intentionalität übernimmt und für den Bewußthaber erfüllt. Und so meint es Husserl. Sein Bewußtsein ist ein Medium zwischen dem erlebenden Subjekt und den von diesem erlebten äußeren Vorgängen. »Die äußeren Vorgänge erleben, daß hieße gewisse auf diese Vorgänge gerichtete Akte des Wahrnehmens, des (wie immer zu bestimmenden) Wissens u. dgl. haben. (…) Es besagt nicht mehr, als dass gewisse Inhalte Bestandteile in einer Bewußtseinseinheit, im phänomenologisch einheitlichen Bewußtseinsstrom eines empirischen Ich sind. Dieser selbst ist ein reelles Ganzes, das sich aus mannigfachen Teilen zusammensetzt.« 50 Mit dieser Verlegung des Erlebtseins in das Innere des Bewußtseins korrigiert Husserl, noch in der revidierten Auflage des 2. Bandes von Logische Untersuchungen, die übliche Rede, man habe z. B. die Kriege von 1866 und 1870 erlebt, und er erstreckt die Korrektur auf jeden Gegenstand, der z. B. in äußerer Wahrnehmung oder namentlich intendiert wird: »›Bezieht sich‹ aber ein Erlebnis auf einen von ihm selbst unterschiedenen Gegenstand (…), so ist dieser Gegenstand in dem hier festzulegenden Sinne nicht erlebt oder bewußt, sondern eben wahrgenommen, genannt.« Um diese Sichtweise Husserls zu prüfen und zwischen den beiden Versionen der berühmten Formel zu entscheiden, muß die Figur des Bewußthabers, wie ich bezeichnender statt des üblichen, aber vieldeutigen Ausdrucks »Subjekt« sage, näher ins Auge gefaßt werden. Es hat sich schon herausgestellt, daß Husserl die Gegenständlichkeit zu hoch, nämlich erst beim Einzelnen ansetzt. Einzeln wird etwas erst als Fall einer Gattung. Es gibt aber im menschlichen Leben viele Zustände, in denen diese Subsumtion nicht stattfindet, das Sichbewußthaben aber erhalEdmund Husserl, Logische Untersuchungen, 2. Band, 1. Teil, 4. Aufl., Halle 1928 (unveränderter Nachdruck d. revidierten 3. Aufl.), S. 352 (5. Untersuchung)

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ten bleibt. In jedem affektiven Betroffensein spürt der Betroffene unvermeidlich sich selbst. Dabei bleibt es auch in Zuständen der Selbstvergessenheit, z. B. in übererregten und versunkenen Zuständen und in Ekstasen aller Art, von denen ich erwähne: den hingegebenen Eifer des Schaffens, den Bewegungsrausch des Motorradfahrers, das automatische Geschick im Eifer des Gefechts und in Bewältigung anderer Gefahren, Höhepunkte der Erotik, die Begeisterung eines Chors, die Hingabe an Licht, Duft und Wärme eines schönen Sommertages. Die Selbstvergessenheit in solchen Zuständen besteht darin, daß der Mensch sich nicht mehr als so und so etwas, als Fall einer Gattung, versteht, obwohl er in affektivem Betroffensein sich spürt und insofern seiner bewußt ist. Er hat dann seine Einzelheit abgelegt, ist aber immer noch ein absolut identischer Gegenstand. Um sich als solcher deutlich zu werden, bedarf er allerdings einer extremen leiblichen Engung unter dem Andrang des Neuen, wie beim Zusammenfahren in heftigem Schreck. Auf diese von mir herausgearbeitete primitive Gegenwart brauche ich hier nicht einzugehen. Ich habe gezeigt, daß das entwickelte personale Selbstbewußtsein mit Identifizierung (im Sinne relativer Identität) und Vereinzelung nur durch ein nicht identifizierendes Sichbewußthaben möglich ist, das auf diese Vorstufe zurückführt. Auf ihr ist das Sichbewußthaben der Säuglinge in der ersten Lebensjahrhälfte und der Tiere angesiedelt. Diese Lebewesen sind in Situationen gefangen, teils aktuellen, die jeden Augenblick sich wandeln können, teils zuständlichen, die sich erst nach längeren Fristen auf Veränderungen abfragen lassen, wie eine Sprache. Deren Nomos (Programmgehalt) bestimmt die Zuwendung ihres vitalen Antriebs; man nennt das davon geleitete Verhalten »instinktiv«. Der Mensch vermag die Situationen aufzubrechen und sich aus Situationen zu befreien. Die Gelegenheit dazu gibt ihm seine satzförmige, d. h. von den Sätzen einer Sprache geleitete, Rede, die ihm erlaubt, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme herauszuholen und zu nach Übereinstimmung 133 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

und Unterschied geordneten Konstellationen zu vernetzen. Unter den Sachverhalten befinden sich die Gattungen, die Gelegenheit geben, irgendwelche absolut identischen Sachen als ihre Fälle zu vereinzeln. Über die spezielle Vereinzelung erhebt sich die Welt als das Feld aller möglichen Vereinzelung. Ich habe ihre Aufspannung nach fünf Seiten verfolgt: Raum, Zeit, Sein, Identität und Subjektivität. Diese fünfte Seite betrifft den Bewußthaber. Durch Selbstzuschreibung, indem er sich als Fall mehrerer Gattungen auffaßt, erhebt er sich aus absoluter Identität zur einzelnen Person, die sich durch Neutralisierung von Bedeutungen zu bloß noch objektiven Sachverhalten, Programmen und Problemen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, den Gegensatz zum Fremden und dadurch eine Sphäre des Eigenen verschafft, in der sich eine persönliche Eigenwelt und eine persönliche Situation (Persönlichkeit) entwickeln. Die Person, der Gefangenschaft in Situationen entronnen, führt ihr Leben über den Situationen zwar in Konstellationen, aber nur, indem sie die Bedeutungen, die sie zu Konstellationen vernetzt, aus Situationen schöpft und durch Kombination und Zerlegung in weitere Bedeutungen umarbeitet. Aus Situationen (aktuellen und zuständlichen) werden Konstellationen, diese wachsen wieder zu Situationen zusammen, die wieder expliziert werden, usw.; das ist der Gang der Geschichte im Großen und im Kleinen. Die Situationen werden ausgebeutet und überspannt von Konstellationen aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, in deren Netzen das Einzelne dank der Subsumtion unter Gattungen, die bestimmte Sachverhalte sind, Halt findet. Dank seiner Einzelheit kann es aus Situationen entnommen werden, während das bloß absolut Identische in diesen befangen bleibt. Die Konstellationen bilden den Hintergrund, aus dem das Einzelne aufscheint. Indem es aufscheint, ist es auch schon intendiert, wenigstens als vorgestellter, bewußt gehabter Gegenstand, und zwar in einem Orientierung gebenden Zusammenhang, der bei Husserl fehlt. Die anfangs von mir aufgeworfene 134 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

Frage nach dem Kompaß, der die Richtung der Intention auf ihr Ziel einweist, ist damit beantwortet und zugleich die Intentionalität einzelner Akte, mindestens teilweise, durch die Explikation von Konstellationen aus Situationen ersetzt. Es bleiben noch die persönlichen Stellungnahmen, z. B. Preisgabe und Widerstand in der Auseinandersetzung mit ergreifenden Gefühlen nach der widerstandslosen Anfangsphase der Ergriffenheit. Soll man sie intentionale Akte nennen? Gewiß, sie sind von der Person auf ein Objekt gerichtet, aber in einer Auseinandersetzung, die dazu dient, mit einer bedrängenden Macht fertig zu werden. Die aktiv-passive Doppelseite des affektiven Betroffenseins, von der vorhin die Rede war, wiederholt sich hier in einer durch personale Emanzipation auseinandergezogenen Weise. Das affektive Betroffensein greift die Person unmittelbar an und zwingt sie, sich selbst zu spüren; die persönliche Stellungnahme ist eine Reaktion darauf. Diese Doppelseitigkeit der Auseinandersetzung fällt unter den Tisch, wenn man, wie Husserl auch in dem zuletzt zitierten Text57, einseitig die Richtung des Aktes auf ein Objekt betont. Das Entsprechende gilt, mutatis mutandis, vor den übrigen persönlichen Stellungnahmen, die Brentano und Husserl als Urteile klassifizieren, also den Beurteilungen und Bewertungen. Zum großen Teil gehören sie noch zum affektiven Betroffensein, und damit gilt das Gesagte ohne weiteres. Die Person verfügt aber auch über das Werkzeug der Neutralisierung, Sachverhalte (darunter Tatsachen) Programme und Probleme der Subjektivität für jemand zu entkleiden, so daß bloß noch objektive Bedeutungen und ihnen subsumierte fremde Sachen übrig bleiben. Sie richtet sich dann in bloß vorfindender Einstellung auf Objekte und gibt ihr Urteil ab. So etwas kann man am ehesten einen intentionalen Akt nennen. Aber die aktiv-passive Grundstruktur, die Konfrontation des Urteils mit einer Herausforderung, bleibt auch dann erhalten und sollte über der Gerichtetheit des Aktes nicht vergessen werden. Wie gefährlich eine solche Einseitigkeit für Verkennung der Phänomene werden kann, hat sich vorhin an der Deutung des Wollens als 135 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

»Bewußtsein von etwas« (Über Intentionalität)

gerichteter Willensakt gezeigt. Das Wollen enthält zwar eine persönliche Stellungnahme, aber von viel komplizierterer Art als ein »geistiger Schlag« (Alexander Pfänder47), mit dem die Person im Wirrwarr der Strebungen zielsetzend Ordnung schaffte. Wie eng oder weit man aber auch den Spielraum intentionaler Akte ziehen mag, so ist doch ihre Einbettung in ein Bewußtsein als Medium, einen Bewußtseinsstrom, in den sich der Bewußthaber erst einordnen müßte, falls er ihn nicht vor seinen Füßen liegen läßt, völlig überflüssig. Die hier skizzierte Genealogie des Bewußtseins oder Bewußthabens genügt. Der Bewußthaber beginnt mit Sichspüren durch affektives Betroffensein in bloßer absoluter Identität, gefangen in Situationen, von deren Nomos er geführt wird, und befreit sich dann mit Hilfe satzförmiger Rede aus dieser Gefangenschaft, indem er sich durch Vereinzelung und Neutralisierung zur Person erhebt, die mit persönlichen Stellungnahmen in die Welt eingreift, dabei aber weder von den Situationen loskommt, aus denen sie Konstellationen schöpfen muß, noch vom affektiven Betroffensein, mit dem sie ihr Personsein und sogar ihre absolute Identität verlöre. Die persönlichen Stellungnahmen werden zwar gespeichert, aber dazu bedarf es keines Bewußtseinsstroms; sie wandern ein in partielle Situationen in der persönlichen Situation, die in dieser normalerweise mit absoluter Identität ohne Einzelheit zusammenhängen, aber jederzeit zur Einzelheit geweckt werden oder aufwachen können. Eines stehenden oder strömenden Bewußtseins mit Akten oder sonstigen Inhalten vor den Augen des Bewußthabers bedarf es nicht. Es ist auch nirgends zu finden. Der Bewußthaber selbst mit seinen Beziehungen des Bewußthabens, abgesehen von den hier gar nicht gestreiften unspaltbaren Verhältnissen als anderer Form des Zusammenhangs, ersetzt vollständig das Medium Bewußtsein. Von den beiden vorgeschlagenen Deutungen der berühmten Formel »Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas« gilt also nur die erste Fassung: Bewußtsein ist Bewußthaben oder – wenn man das Wort »Bewußtsein« festhalten will – Bewußtgehabtwerden. 136 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

8. Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete

Die gewöhnliche Rede von Zukunft verbirgt einen Doppelsinn. Man muß nämlich zwischen geschlossener und offener Zukunft unterscheiden. Die geschlossene Zukunft enthält alles, was noch nicht ist, aber einmal sein wird. Die offene Zukunft enthält alles, was noch möglich ist. Wenn die offene Zukunft keinen Überschuß über die geschlossene hat, ist alles vorherbestimmt. Dann wird genau das eintreten, was jetzt noch nicht ist, ohne Spielraum für Zufall und Freiheit. Das ist aber nicht der Fall. Ich habe bewiesen, daß die offene Zukunft einen Überschuß über die geschlossene Zukunft hat. 51 Der Beweis beruht auf der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung durch den Nachweis, daß ein durchgängig bestimmter Gegenstand, der jede mögliche Bestimmung als etwas entweder besäße oder nicht besäße, vielmehr völlig unbestimmt wäre. Was aber, wie hiernach jeder Gegenstand, nicht durchgängig bestimmt ist, kann auch nicht durchgängig vorherbestimmt sein. Nun fragt sich, wie weit der Überschuß reicht. Ich kenne keine andere präzise Bestimmung der Möglichkeit als durch die Angabe, daß alles möglich ist, was sich widerspruchsfrei denken läßt, in dem Sinn, daß etwas behauptet wird, woraus kein logischer Widerspruch folgt. Wenn man einen engeren Begriff wählt, kann man ihn zurückweisen durch die Erwägung, daß ein kühnerer Ausflug des Denkens weitere Möglichkeiten eröffne. Nur der Widerspruch ist eine absolute Grenze, weil die widersprechenden Sätze einander im Sinn aufheben, so daß gar nichts übrig bleibt, das behauptet wird, erst recht nichts, das der Fall sein könnte. Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg 2016, S. 93–97 und 289– 291

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Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete

Wenn der Begriff aber so weit gefaßt wird, stellt sich heraus, daß die Zukunft schrankenlos offen ist, abgesehen von einigen logischen und analytischen Wahrheiten, die nicht falsch sein können, ohne daß sich ein Widerspruch ergibt. Alle Inhalte der Zukunft, insbesondere alle Ereignisse, kann man nämlich widerspruchsfrei wegdenken; man muß dann nur in dem, was übrig bleibt, mehr oder weniger umräumen. Nicht einmal dann folgt ein Widerspruch, wenn man sich ausmalt, daß die Zukunft selbst irgendwann entfällt. Sowie ein Überschuß der offenen Zukunft über die geschlossene zugegeben wird, gibt es also kein Halten mehr. Für die geschlossene Zukunft ergibt sich daraus, daß sie sozusagen nur nachträglich eintritt, als das, was vom Augenblick des Entstehens her noch nicht gewesen ist. Zwar ist die geschlossene Zukunft in der offenen enthalten, aber was für ein Teil sie ist, steht erst durch das Entstehen fest, durch den Übergang der offenen Zukunft in Gegenwart. Das gilt nicht nur für das menschliche Wissen, als erführe der Mensch erst durch das Entstehen, was im Schoße der Zukunft verborgen lag, sondern auch in Wirklichkeit, ohne Rücksicht auf Wissen oder Nichtwissen, entscheidet erst das Entstehen darüber, was in dem bis dahin Möglichen noch nicht gewesen ist. Diese Entscheidung geschieht auch nicht mit einem Schlag, sondern sukzessive und unaufhörlich, solange die Zeit verstreicht. Selbst wenn es Zeiten geben sollte, in denen sich nichts ereignet, entstünde auch dann etwas, nämlich eine Leere des Geschehens, ein Ausbleiben von Ereignissen. Jeder Augenblick des Entstehens entscheidet hiernach neu darüber, was aus der Zukunft in Gegenwart eintritt. Dadurch kann jederzeit eine neue aktuelle Situation entstehen. Ich erkläre mich kurz darüber, wie ich das meine. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das ganzheitlich – d. h. in sich zusammenhängend und nach außen mehr oder weniger abgehoben – zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. 138 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle (sehr oft keine) Bedeutungen in ihr einzeln sind; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, d. h. um die Anzahl jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Situationen können aktuell, d. h. der Wandlung jeden Augenblick fähig, sein, wie eine zu sofortiger Bewältigung anstehende Gefahr, ein Gespräch oder ein Problem, an dem jemand grübelt, oder zuständlich, so daß sie sich nur allmählich ändern und daher auch nur nach längeren Fristen sinnvoll auf Veränderung geprüft werden können, außer bei Katastrophen, wobei auch sie schnell abreißen oder eine andere Gestalt annehmen können. Zuständliche Situationen sind z. B. eine Sprache, die Persönlichkeit eines Menschen als seine nach der Säuglingszeit sich lebenslang bildende und umbildende persönliche Situation und der im Wandel des Gesichts beharrende Charakter eines Dinges, woraus man es als Ding eines bestimmten Typs oder als genau dieses individuelle Ding (z. B. einen Bekannten) erkennt. Tiere sind in Situationen gefangen, von deren Programmgehalt (dem Nomos der Situation) ihr vitaler Antrieb gesteuert wird. Menschen nach der Säuglingszeit haben Gelegenheit, aus den Situationen, in denen sie leben und mit denen sie an erster Stelle zu tun haben, herauszutreten, indem ihre satzförmige Rede einzelne Bedeutungen, darunter Sachverhalte als Tatsachen und Programme als für sie geltende, herausholt und zu Konstellationen vernetzt. In diesen Netzen können beliebige Sachen durch Subsumtion unter Gattungen untergebracht und so als einzelne aus den Situationen herausgeholt und anders geordnet werden; die Gattungen sind spezielle (partikulär quantifizierte) Sachverhalte in Konstellationen. 52 Durch Anwendung von Konstellationen auf Situationen und Vereinzelung von Sachen unter Gattungen müssen Menschen lernen, sich in Situationen zurechtzufinden; sie können zwar aus diesen aussteigen, aber nie von ihnen loskommen, da sie Situationen als Quelle der Explikation benötigen. Um dabei die 52

Ebd., S. 74–81, Fall und Gattung

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nötige Beweglichkeit zu erlangen, benötigen die Menschen zwei weitere Begabungen: Die eine ist die ihnen vom Fluß der Zeit geschenkte 53 Fähigkeit, ungerichtete Verhältnisse in gerichtete Beziehungen aufzuspalten, wodurch sie zur beweglichen Umgruppierung gegebener Ordnungen befähigt werden; die andere besteht in dem Vermögen, die Form der Einzelheit ins Nichtseiende zu projizieren, wodurch Erwartung und in deren Gefolge Planung, Wagnis, Hoffnung, Furcht sowie – auch unabhängig vom Erwarten – Phantasie möglich werden. Mit dieser Ausrüstung begegnen die Menschen der Herausforderung durch das Entstehen, bei dem sich, was noch nicht war, aus der offenen Zukunft abscheidet und in Gegenwart übertritt. Dabei können sich die Erwartungen erfüllen oder nur geringfügig modifiziert werden; dann kann sich die aktuelle Situation dem Geschehen leicht anpassen und braucht nicht ersetzt zu werden. Sehr oft geschieht aber etwas Unerwartetes, und dann liegt eine neue aktuelle Situation vor, die eine neue Anpassungsleistung der beschriebenen Art verlangt, bestehend aus Explikation von Bedeutungen, Konstellationsbildung, Subsumtion und Vereinzelung von Sachen, Spaltung von Verhältnissen, Projektion ins Nichtseiende. Der Anpassungsdruck der durch überraschendes Entstehen aufscheinenden aktuellen Situationen ist die Hauptform der von Kant bestrittenen 54 Wahrnehmung der Zeit. Dieser Anpassungsdruck wird gebremst durch das Beharren der zuständlichen Situationen, die sich durch die aktuellen hindurch ziehen. Auf die zuständlichen Situationen kann man sich gewöhnlich verlassen und sie in den Dienst der Bewältigung der aktuellen Situationen stellen. Dafür eignen sich besonders die erworbenen Kompetenzen, vom Gehen und Sprechen über das verfügbare Wissen und das soziale Benehmen bis hin zu komplizierten motorischen Kompetenzen wie MaEbd., S. 271 f. Kritik der reinen Vernunft, B 225: »Nun kann die Zeit für sich nicht wahrgenommen werden.«

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schineschreiben, Autofahren, Tanzen, Klavierspielen usw. Kompetenzen sind keine Konstellationen im Sinne einer ein- oder mehrdimensionalen Abfolge von Einzelschritten, sondern bei flüssiger, gekonnter Ausübung Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit. Das flüssige Sprechen ist z. B. keine geordnete Menge von Einzelhandlungen, sondern ein virtuoser, ganzheitlicher, spielerisch aus einem unabsehbaren Vorrat von Möglichkeiten schöpfendender Umgang mit Sprache und Mund, und entsprechendes gilt für alle flüssigen Körperbewegungen; nur der Lehrling und der Stümper beim Tanzen achtet auch auf Abstände und Winkel seiner Füße. Mit Anwendung der Kompetenz als Aktualisierung einer zuständlichen Situation erarbeitet sich der Mensch Konstellationen, mit denen er die Herausforderung durch die neue aktuelle Situation in den Griff bekommt. Die zuständlichen Situationen, auf die er sich dabei stützt, können aber auch in Katastrophen zusammenbrechen. Ein oft eher geringfügiges Beispiel liegt vor, wenn man sich über den im Wechsel des Gesichts beharrenden Charakter eines Dinges, z. B. als dieser Mensch gemäß dem »Bild«, das man sich von ihm macht, oder als Blume oder als gesundes Nahrungsmittel gründlich getäuscht hat und so »aus allen Wolken fällt«, daß die zuständliche Situation nicht mehr weiterhilft, weil der Charakter umgeschlagen ist. Dann muß die Konstellation zur Bewältigung der Herausforderung durch eine aktuelle Situation auch ohne Hilfe der bis dahin leitenden zuständlichen Situation neu aufgebaut werden, was Schlagfertigkeit erfordert. Die Bewältigung der Herausforderung durch die im Entstehen unerwartet neu eintretenden aktuellen Situationen benötigt den Erfolg nach zwei Richtungen der Leistung. 1.

die Situation in den Griff zu nehmen. Dazu gehört der Blick auf das Wesentliche im Interesse der eigenen Zwecksetzung, um der Situation durch Explikation und Vernetzung der Explikate das dafür Erforderliche abzugewinnen. Dafür müssen die betreffenden Zwecksetzungen aber erst einmal 141 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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bereitgestellt werden. Sie richten sich keineswegs nur nach vorgegebenen Einstellungen, sondern hängen ebenso sehr davon ab, wie die Situation den Betroffenen anspricht. Um darauf eine Antwort zu finden, muß oft neu das vielstimmige Konzert der partiellen Situationen in der persönlichen Situation mit ihrem eigenen Nomos zur Einstimmigkeit einer Absicht vermittelt werden. Es genügt auch nicht, sich nur nach der persönlichen Situation zu richten. Diese ist durch leibliche Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs, also durch Einleibung in meinem Sinn, in gemeinsame Situationen eingebettet, die bei Personen, anders als bei Tieren, durch sprachlich vermittelte Verständigung, persönliche Bindungen, Einbindung in Traditionen usw. aufgefüllt werden. Was das Individuum beabsichtigt, hängt weitgehend von diesen gemeinsamen Situationen ab, die angesichts der Herausforderung mit weitgehend gleichen Mitteln wie die herausfordernde aktuelle Situation bearbeitet werden müssen. Eine beträchtliche Bedeutung besitzt dabei zusätzlich die Suggestion, die Überredung, damit der Funke überspringt, der ein gemeinsames Feuer der Absichtsbildung entzündet. Die Absicht allein ist aber noch kein Wollen. Zur Bewältigung der Herausforderung muß die Zuwendung des vitalen Antriebs zur Absicht gewonnen werden, ebenso des individuellen wie des gemeinsamen Antriebs der Einleibung, damit die Absicht Schwung gewinnt. Der Antrieb kann matt oder schwer beweglich (durch engende Spannung gebunden) oder von Reizen überlastet oder durch einen vielsagenden Eindruck, der sich z. B. aus Angst oder Scham oder Unterwürfigkeit aufbaut, blockiert sein, so daß der Ruck zum Einsatz nicht oder unzulänglich zu Stande kommt. Erst wenn alle diese Hindernisse entfallen oder überwunden sind, gelingt es, die Situation in den Griff zu nehmen.

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Zur Bewältigung der Aufgabe, sich zurechtzufinden, die die Befreiung aus der Gefangenschaft in Situationen dem Menschen aufgeladen hat, genügt es aber nicht, daß er die jeweils gegenwärtige Situation in der angegebenen Weise in den Griff nimmt. Vielmehr steht seine Macht, einzelne Ereignisse und sonstige Inhalte in die nichtseiende (noch nicht seiende) Zukunft durch Erwartung zu projizieren, in ständigem Konflikt mit seiner Ohnmacht, der Entscheidung darüber, was noch nicht gewesen ist, in jedem Augenblick des Entstehens ausgesetzt zu sein. Diese Entscheidung kann ebenso für wie gegen die Erwartung ausfallen. Der Mensch kann sich im Verhältnis zu einer gegenwärtigen aktuellen Situation also nur behaupten, indem er zugleich auf künftige Situationen gefaßt ist, die in die gegenwärtige Situation einbrechen und ihm das Heft, mit dem er diese im Griff hält, aus der Hand nehmen könnten. Sein Griff auf die gegenwärtige Situation muß zugleich ein Vorgriff auf künftige Situationen sein. Die geschickte Kombination beider Griffarten ist das eigentliche Meisterstück professioneller Bewältigung des Unerwarteten, der improvisierenden Meisterung von Irritationen. Manche Menschen haben dafür ein intuitives Vorgefühl, eine antizipatorische Ahnung aus der gegenwärtigen Situation, was kommen wird. Ein geschichtenmächtiger Träger dieses Vermögens ist Themistokles, der Urheber des Sieges der Griechen über die Perser, der den Anschlag vereitelte, die eben entstehende abendländische Aufklärungs- und Diskussionskultur gleich in ihren ersten Anfängen zu ersticken. Thukydides sagt von ihm: »Noch im Undurchsichtigen sah er im höchsten Maß voraus, was das Bessere und Schlechtere sein werde. Und überhaupt wurde er durch Macht der Natur und kurz angebundenes Zupacken der Stärkste darin, das Gehörige zu improvisieren.« 55 Ein ähnliches Geschick sagt Heinrich Leo Historiae I 138,3

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dem Philosophen Hegel und dem damaligen Hochschulreferenten im preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten Johannes Schulze nach: »Es liegt in ausgezeichneten Menschen ein Instinkt, der sie ihre Lage oft verstehen und fassen lehrt, wo die Prämissen noch gar nicht deutlich genug vorliegen, um einen mit klarem Bewußtsein auszusprechenden Schluß zu erlauben. Ein solcher Instinkt wirkte wohl in Schulze, ein solcher in Hegel.« 56 Weder dieses Ahnungsvermögen noch der größtmögliche Einsatz von Analyse und Konstruktion können die Kluft schließen, die zwischen der menschlichen Kunst des Erwartens und dem jederzeit möglichen Einbruch des Unerwarteten, der den Einsatz neuer Mittel erfordert, klafft. Dem Menschen bleibt nichts übrig als der Versuch, diese Lücke durch unvollständige Induktion zu schließen, indem er die bisher durch den Erfolg seines Erwartens bestätigten Regeln auf die Zukunft ausdehnt. Für die Rechtfertigung dieser induktiven Schlußweise gibt es keinerlei Begründung außer der Not des Menschen, der sich der automatischen Führung durch den Nomos von Situationen entzogen hat und sich anders nicht zu helfen weiß, um sich in den Situationen, denen er ausgesetzt ist, zu behaupten. Wie wenig gesichert sein Vertrauen auf die Induktion ist, zeigt die Parabel Bertrand Russells vom induktiven Truthahn. Das Tier schließt daraus, daß es 364 Tage lang gut gepflegt worden ist, daß es immer so weitergehen werde, bis ihm am 365. Tag die schreckliche Überraschung zuteil wird, daß es für das britische Weihnachtsfest geschlachtet wird, was von vornherein der Grund der guten Pflege war, wovon es aber nichts wissen konnte. So könnte es allen Anfeindungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes gehen, wenn sie auf die unvollständige Induktion allgemeiner Heinrich Leo, zitiert nach: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hg. v. G. Nicolin, Hamburg 1970, S. 209

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Naturgesetze bauen. Es kann keine allgemeinen Naturgesetze geben, wenn die Zukunft offen ist, wenigstens radikal offen in der angegebenen Weise. Gerade dazu aber, sich in die Zukunft nicht ohne Orientierung vorzutasten, werden Gesetze und Regeln der Naturwissenschaft gebraucht, und diese liefert das Benötigte mit überraschender Zuverlässigkeit und Dichte ihrer Prognosen. Für diese hat sie aber keine andere Bewährungsprobe als die bis zur Gegenwart erstreckbaren vergangenen Erfahrungen, und daher kann jede Bestätigung eines Naturgesetzes ebenso als Bestätigung für irgend ein anderes aufgefaßt werden, in dem Sinn, daß bei gleichen Ausgangsbedingungen zunächst das bisher Erwartete eintritt, von einem gewissen Zeitpunkt an, der frühestens der gegenwärtige ist, aber irgendetwas anderes. Schon diese Überlegung beweist, daß die sogenannten allgemeinen Naturgesetze nur bewährte Regeln provisorischer Prognosen sind. Die Naturwissenschaft wiegt die Menschen in Sicherheit, indem sie ihnen den Glauben zumutet, es sei gelungen, der Natur und der Zukunft ihre Geheimnisse abzulauschen. Daraus schöpft sie zusätzlich den Gewinn, daß sich allgemeine Naturgesetze anders als provisorische Regeln der Prognose auch zur Retrodiktion anwenden lassen und daher der menschlichen Neugierde, zu erfahren, wie es zu dem gekommen ist, was wir hier und jetzt sehen, Befriedigung verschaffen können. Für solche Ansprüche bietet die Naturwissenschaft höchst eindrucksvolle Sicherheiten in Gestalt der überraschenden Bewährungskraft und Dichte ihrer Prognosen, die sich obendrein, auf verschiedenen Wegen gewonnen, oft gegenseitig stützen und bestätigen und mit bewundernswertem Aufwand von Sorgfalt und Scharfsinn immer weiterentwickelt werden. Deswegen wäre es vermessen, den Ergebnissen der Naturwissenschaft den Glauben schlechthin zu verweigern. Sie sind vielmehr höchst plausibel, aber die für sie erhobenen Ansprüche halten gründlicher erkenntnistheoretischer Kritik dennoch nicht stand. Die Grundform der Selbstbehauptung des aus der automatischen Führung durch die Bedeutsamkeit von Situationen aus145 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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getretenen Menschen besteht immer in der Abwechslung von Situationen und Konstellationen. Aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit werden Explikate herausgeholt und vernetzt, einerseits Sachverhalte, die zum Teil als Gattungen Gelegenheit zur Vereinzelung absolut identischer Sachen als deren Fälle geben, andererseits als Programme und Probleme, die vorzeichnen, worauf man hinaus und wovon man weg will. Der Inhalt der Situationen ist vielfach am Druck des Entstehens auf Anpassung durch Explikation und Vernetzung beteiligt, teils wegen der Inkonsistenzen, die in der binnendiffusen Bedeutsamkeit unbemerkt schlummern können und bei Explikation hervortretend die alte Situation sprengen und eine neue entstehen lassen, teils durch Zusammenstoß von Situationen und ihrer Nomoi, wenn anderes Wollen in das eigene eingreift. Immer dann und in vielen anderen Fällen müssen Situationen in Konstellationen überführt werden, um durch Anhalt an einzelnen Sachverhalten, einzelnen Programmen, einzelnen Problemen die Richtlinien für die Anpassung an die neue Lage zu gewinnen. Das ist aber nur eine Übergangsphase, da das menschliche und tierische Leben ständig in Situationen verläuft. Die Konstellationen werden Gewohnheiten, sie wachsen ins Leben ein und bilden wieder Situationen, aktuelle und zuständliche, die unter dem Druck des Entstehens wieder zum Aufbau von Konstellationen treiben, usw. Dieser Wechsel von Situationen und Konstellationen ist der Grundrhythmus der Geschichte. 57 Ich verstehe das Wort in ganz weitem Sinn, der sowohl die Welt- und Kulturgeschichte umfaßt als auch die individuelle Lebensgeschichte oder Episoden aus der Überkreuzung solcher Lebensgeschichten wie die Geschichte einer Liebesbeziehung oder einer Feindschaft. Geschichtliches Gewicht im emphatischen Sinn gewinnt dieser zyklische Wechsel, wenn er in persönliche Schicksale eingreift. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg 2014, S. 200–208: Der Gang der Geschichte

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146 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete

Als persönliches Schicksal bezeichne ich eine Erschütterung nicht unbedingt leidvoller Art, z. B. durch Entsetzen, Enttäuschung, Konfrontation mit Überraschungen, wobei sich dem Individuum etwas in seiner persönlichen Situation herausstellt, das ihm vorher verborgen oder fremd war. Die personale Regression wirkt dann also als Explikation. Dieser Explikation schließt sich in einem persönlichen Schicksal eine Implikation in die persönliche Situation an, indem das, worauf die personale Regression des Menschen gestoßen hat, als partielle Situation in seine persönliche Situation gleichsam einheilt, in dem Sinn, daß es sich mit anderen partiellen Situationen in unspaltbarem Verhältnis verbindet, daraus aber wieder durch Vereinzelung und Spaltung des Verhältnisses in Beziehungen hervortreten kann. Wenn solche persönlichen Schicksale, über die man nicht einfach hinweg leben kann, in den Rhythmus von Situationen und Konstellationen eingemischt sind, wird dieser Prozeß in prägnantem Sinn geschichtlich, als Heimstätte geschichtlicher Ereignisse. Was ihn anstößt, ist immer der Druck des Entstehens, bei dem sich entscheidet, was noch nicht war, und nun teilweise als geschlossene (gewesene) Zukunft aus der offenen heraustritt. Den Anstoß gibt dabei das Unerwartete. Insofern ist Geschichte in allen ihren Formen die Herausforderung durch das Unerwartete.

147 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

9. Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

Bernhard Irrgang hält die Theorie des Leibes in der Neuen Phänomenologie für überholt und will sie durch eine pragmatische Phänomenologie oder »Postphänomenologie« des Leibes ersetzen, die diesen als Subjektivität und diese als »Interpretationskonstrukt« für das Zusammenwirken von Kompetenzen auffaßt, die den Menschen von den Tieren durch seine Fähigkeit zum Umgang mit der Sprache und mit Werkzeugen auszeichnen. 58 Folgende Lesefrüchte mögen zeigen, wie er das meint: »Umgangswissen teilt der Mensch durchaus bis zu einem gewissen Grad mit Tieren. Dort handelt es sich gemäß Darwins Evolutionstheorie um Anpassungsleistungen. Doch sowohl die menschliche Feinmotorik in der Fingerfertigkeit wie in der verbalen Sprachkompetenz zeigen, daß Umgangswissen, implizites Wissen und Kompetenzen im Umgehen Können mit anderen bereits im Bereich der Sensumotorik Grade erreicht, die bei anderen biologischen Organismen nicht im Bereich des Möglichen liegen. Es ist also nicht nur seine Vernunft, die den Menschen von den Tieren unterscheidet, sondern bereits die andere Struktur des Umgehen Könnens wie des impliziten Wissens selbst.« (134) »Der Ursprung der Sprache und des Werkzeuggebrauchs hängen eng miteinander zusammen und liegen in der Umgangskompetenz des menschlichen Leibes als Subjektivität. Subjektivität ist im postphänomenologischen Sinn als empirisch-tran-

Bernhard Irrgang: »Menschlicher Leib, personales Wissen, Praxis. Zur Kritik der Leibkonzeption der Neuen Phänomenologie; Der Leib als Homo Faber«, in: »Leib« in der neueren deutschen Philosophie, hg. v. Bernhard Irrgang und Thomas Rentsch, Würzburg 2016, S. 75–103 und 125–150. Die folgenden Zitate bloß mit Seitenzahlen beziehen sich auf diese Texte.

58

148 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

szendentale Struktur und als Interpretationskonstrukt zu verstehen.« (97) »Die Neue Phänomenologie stellt den Begriff der ursprünglichen Natur des Menschen in den Vordergrund, das leibliche Fühlen. Die pragmatische Phänomenologie geht dagegen von der Umgangsthese, letztendlich also von der LeibUmwelt-Relation aus, die nicht den isolierten menschlichen Leib in den Mittelpunkt stellt. (…) Die Neue Phänomenologie hatte wie Husserl ein eher solipistisches Leibverständnis.« (100) »Daher möchte ich in diesem Aufsatz Leiblichkeit als Grundlage des Technischen herausarbeiten, um das verengte Leibverständnis der Neuen Phänomenologie überwinden zu können« (125); das zielt auf »die neue Leiblichkeit der Umgangsthese« (ebd.) in folgendem Sinn: »Leibliches Spüren impliziert beim Menschen das Umgehen Können und umgekehrt. Wir Menschen sind im leiblichen Spüren immer schon über unser körperliches Spüren hinaus. Insofern ist die traditionelle Leibphilosophie phänomenologischer Art nicht geeignet, um dem Ansatzpunkt des Umgehen Könnens ›gerecht zu werden.‹« (133) Zu diesen Einwänden will ich im Folgenden vom Standpunkt der Neuen Phänomenologie aus Stellung nehmen, wobei ich von Begriffen und Thesen Gebrauch machen werde, die von mir an anderer Stelle bereits gründlich eingeführt und begründet worden sind, ohne die betreffenden Ausführungen explizit zu wiederholen. Alles Nötige findet man z. B. in meinem Buch Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz (Freiburg 2016). Durch diesen Verweis erspare ich ausholendes Weitschweifiges über das zur Stellungnahme erforderliche Maß hinaus. Ein totales und radikales Mißverständnis liegt dem Vorwurf eines solipsistischen Leibverständnisses zu Grunde, das isolierend nur den einzelnen eigenen Leib ins Auge faßt. Irrgang unterschlägt damit eine der tragenden Säulen meiner Leibtheorie, die Theorie der leiblichen Kommunikation, die sich mit gleichem Rang und gleicher analytischen Schärfe meiner Theorie der leiblichen Dynamik anschließt und aus dieser, die von vorn149 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

herein kommunikativ ist, entwickelt ist. 59 Den Vorwurf introvertierten Rückzugs in die Innerlichkeit des bloß eigenleiblichen Spürens habe ich selbst gegen Michel Henry erhoben. 60 Irrgangs Ausspielen des technisch-motorischen Umgangs des Menschen mit Werkzeugen gegen die Phänomenologie des spürbaren Leibes beruht auf einer verkürzten Sicht solchen Umgangs. Dieser ist keineswegs ein rücksichtloses Draufgängertum, mit dem der Mensch zu seinen Zwecken Hand an Dinge legt, sondern wie jede menschliche initiative Reaktion auf die Herausforderung durch Situationen. Eine Situation im hier genannten Sinn ist – gemäß meiner ständigen Begriffsbestimmung – Mannigfaltiges, das ganzheitlich (d. h. in sich zusammenhängend und nach außen mehr oder weniger abgehoben) zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle Bedeutungen in ihr einzeln sind; meine Definitionen, was Einzelheit ist und was deren Voraussetzungen sind, lasse ich hier aus. Situationen sind teils aktuell, teils zuständlich. Aktuelle Situationen können sich jeden Augenblick ändern; zuständliche Situation kann man sinnvoll erst nach längeren Fristen auf Veränderungen abfragen, außer in Katastrophenfällen. Situationen bilden sich in leiblicher Kommunikation und werden durch solche aufgefaßt und beantwortet, hauptsächlich durch antagoHermann Schmitz, Der Leib (Berlin 2011) S. 29–53; Ausgrabungen zum wirklichen Leben (Freiburg 2016) S. 183–216. Ein Grund für das Mißverständnis von Irrgang könnte darin liegen, daß er das Buch von 2011 übersehen hat; er führt es in seinem Literaturverzeichnis nicht an, sondern statt dessen das zuerst 1965 erschienene Buch Der Leib, 1. Teil. Damals war meine Theorie der leiblichen Kommunikation erst im Keim vorhanden, mit Andeutung späterer Ausführung. Diese erfolgte zuerst in meinem Aufsatz »Über leibliche Kommunikation« (in: Zeitschrift für klinische Psychologie und Psychotherapie 20, 1972, S. 4–32, abgedruckt in meinem Buch Leib und Gefühl, 3. Auflage Bielefeld/Locarno 2008, S. 175–217). 60 »Immanenz als Falle des Lebens«, in: Philosophische Rundschau 42, 1995, S. 69–75; Der Leib, Berlin 2011, S. 167 f. 59

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Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

nistische Einleibung im von mir erklärten Sinn. Die Einleibung nimmt Maß an den Situationen bei Mensch und Tier, worauf beim Menschen die Verarbeitung der Situation durch Vereinzelung zu Konstellationen als Netzen einzelner Knoten folgt. Ohne Maßgabe der Situationen läuft der Umgang des Menschen mit Dingen ins Leere. Um Erfolg zu haben, muß sich der Mensch im Umgang auf die Situation einstellen und sich ihr mit Zu- oder Abwendung anpassen, um die Ansatzpunkte zu ihrer Bewältigung oder auch planenden Überholung zu finden. Diese Anpassung geschieht in leiblicher Kommunikation, in der die Situation auf den ihr sich öffnenden Leib des Menschen zurückschlägt, in dessen Dynamik spürbar eingreifend. Daher hat man Anlaß, dem Menschen für den erfolgreichen Umgang mit den Dingen die Bekanntschaft mit seinem spürbaren Leib nahezulegen, die ihm, sofern er nicht schon intuitiv kundig ist, die Neue Phänomenologie zugänglich macht. Ohne leibliches Verstehen 61 wird ein noch so hohes Niveau angeborener Feinmotorik dem Menschen beim Umgang mit den Dingen wenig Vorteil bringen. Diese Wichtigkeit des Leibes im Sinne der Neuen Phänomenologie für den erfolgreichen Umgang des Menschen tritt besonders hervor, wenn man einem logischen Mangel der Umgangsthese von Irrgang nachgeht. Der Ausgang von dieser These, den Irrgang in dem angeführten Text proklamiert, stößt an die Schwierigkeit, daß der Umgang mit Werkzeugen deren Herstellung, die noch kein solcher Umgang ist, voraussetzt, also nicht ursprünglich sein kann. Dessen scheint sich Irrgang auch bewußt zu sein; wenigstens spricht er auf S. 97 vom »Erfinden im Sinne der Kreativität«, die also zum bloßen Umgang hinzukommen muß, aber es bleibt bei dem Wort ohne Erklärung und Analyse. Was aber ist Kreativität? Doch wohl die UmstrukHermann Schmitz, selbst sein: Über Identität, Subjektivität und Personalität, Freiburg 2015, S. 209–225 Leibliches Verstehen, S. 226–237: Erfahrung als leibliches Verstehen

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151 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

turierung einer Situation in der Weise, daß die Bedeutsamkeit (im angegebenen Sinn) wechselt, während der übrige Inhalt der Situation weitgehend bleibt; man kennt solche Umstrukturierung ohne Kreativität als Umschlag der Auffassung doppelsinniger Bilder (Rubin’sche Becher, Hase oder Ente, meine Frau oder meine Schwiegermutter, Napoleon auf St. Helena) oder des Charakters von Dingen bei Entlarvung von Verkennungen. Während der Umgang mit Dingen die Bedeutsamkeit der Situation festhält und deren übrigen Inhalt modifiziert, ist das Geschehen der Umstrukturierung gerade auf die Bedeutsamkeit gerichtet. Wenn es sich um eine Erfindung, etwa von Werkzeugen, wie einem nach einem neuen Prinzip arbeitenden Motor, handelt, pflegt eine Vorgeschichte typisch zu sein, die sich in Kategorien der leiblichen Dynamik auflösen läßt: Auf eine intensive Anspannung, d. h. ein Hochfahren der Verschränkung von Spannung und Schwellung, folgt eine Phase des Aussetzens und der Entspannung (privative Weitung), in der der rettende Einfall kommt, der mit plötzlichem Auslaufen der Spannung in privative Weitung (Aha!-Erlebnis) quittiert wird. Die Umgangsthese von Irrgang greift aus der Einleibung, der leiblichen Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs, nur die Seite der Aktivität heraus, das Herangehen eines Subjekts an ein Objekt, mit dem es sich zu schaffen macht. Tatsächlich halten sich in der Einleibung als vollständiger Konkretion des Umgangs Aktivität und Passivität (das Pathische), Zugriff und Empfänglichkeit gegenseitig in Schwung, indem Spannung und Schwellung des gemeinsamen Antriebs von einander deren Rollen übernehmen. Es ist wie wenn beide Seiten, Subjekt und Objekt oder vielmehr die Situation, in der sich dieses abzeichnet, an einem Strang, aber gegen einander, zögen. Man könnte dies als Wechselwirkung bezeichnen, bliebe aber dabei im Bild zweier gegenläufiger Beziehungen befangen. In Wirklichkeit ist der Zusammenhang inniger. Ich habe von den gerichteten Beziehungen, die von etwas, das sich bezieht, auf etwas, worauf es sich bezieht, gerichtet sind, die ihnen zu Grunde liegenden un152 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

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gerichteten Verhältnisse unterschieden und diese in spaltbare und zu gegebener Zeit unspaltbare, die aber manchmal zu anderer Zeit in spaltbare übergehen können, aufgeteilt. Aktivität und Passivität stehen beim Umgang in unspaltbarem Verhältnis. Die Unerläßlichkeit des Leibes in meinem (von Irrgang als überholt angefochtenen) Sinn für personales Menschsein will ich nun in anderer Perspektive beleuchten. Irrgang stützt sich für die Unterscheidung des Menschen vom Tier auf die angeblich feinmotorisch überlegene Umgangsweise des Menschen, gepaart mit unklar aus der traditionellen Psychologie entlehnten Begriffen wie Vernunft, Geist, Sprachgebrauch, Kreativität als zusätzliche Kompetenzen, die er mit der Feinmotorik zum »Interpretationskonstrukt« Subjektivität verbindet. Deutlich faßbar wird, was er meint, nur bei der Feinmotorik. Ein Mensch mit feinmotorisch geschliffener Umgangsweise könnte wie ein Automat geschient sein. Zur Person gehört dagegen ein Spielraum für Selbstbestimmung und entsprechende Verantwortlichkeit. Dieser Spielraum beruht auf einem Verhältnis der menschlichen Person zu sich, das ich als Selbstzuschreibung bezeichne. Es besteht in dem Vermögen, sich als Fall mehrerer Gattungen zu verstehen. Ich gebe ein Beispiel: Ein türkischer Schuster in Kreuzberg versteht sich als Schuster, als Mann, als Familienvater, als Moslem, als Türke, als Berliner, vielleicht auch als Lotteriespieler, als Fußballfan usw. Dieses Selbstverständnis gibt ihm Gelegenheit, über die Rollen als Fall dieser oder jener Gattung hin Akzente zu setzen, sie mehr oder weniger zu trennen oder zu verbinden, einige abzuschaffen, andere hinzuzunehmen usw. Das gibt ihm die personale Selbstbestimmung, was für einer er sein will. Die Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Sichbewußthaben (gewöhnlich »Selbstbewußtsein« genannt). Genau besehen, handelt es sich um eine doppelte Identifizierung, nämlich die »horizontale« der verschiedenen Gattungsfälle zu einem einzigen Fall verschiedener Gattungen und die »vertikale« dieses Falles mit dem Bewußthaber (Subjekt) durch diesen selbst. In 153 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

allen Gestalten der horizontalen Identifizierung, wie weit sie auch ausgedehnt wird, ist kein Grund für die vertikale Identifizierung enthalten, denn dieselben Merkmale, die sich durch jene ergeben, könnte auch ein anderer Bewußthaber haben. Daher bedarf es für die vertikale Identifizierung einer identifizierungsfreien Vorbekanntschaft des Bewußthabers mit sich; wäre auch diese auf Identifizierung angewiesen, würde sich dasselbe Problem wiederholen. Das gesuchte identifizierungsfreie Sichbewußthaben ist im affektiven Betroffensein gegeben. Dieses liegt vor, wenn etwas dem Betroffenen so nahe geht, daß er nicht umhin kann, sich selbst zu spüren. Dafür ist nicht nötig, daß er sich Merkmale zuschreibt. Nun ist aber zu fragen, wie ein solches identifizierungsfreies Sichbewußthaben möglich ist. Die Frage drängt sich auf, weil es den Anschein hat, daß eine Identifizierung vorliegt, wenn jemand etwas als sich selbst erfaßt. Es muß also nach einem engeren Zusammenhang als dem durch Identifizierung möglichen gesucht werden. Identifizierung ist eine dreistellige Beziehung: Ein Gegenstand a wird von einem Bewußthaber b mit einem Gegenstand c identifiziert. Auf dem Grund gerichteter Beziehungen gibt es, wie schon erwähnt, die ungerichteten Verhältnisse, die teils in Beziehungen spaltbar, teils unspaltbar sind. Spaltbare Verhältnisse sind meist vom diskursiven Denken gespalten oder stehen dafür zur Verfügung und kommen daher jetzt nicht in Betracht. Ein unspaltbares Verhältnis wäre dagegen ein so inniger Zusammenhang, daß Identifizierung überflüssig wird. Ein solcher Zusammenhang liegt vor, wenn der plötzliche Andrang des Neuen Dauer zerreißt, indem er Gegenwart aus ihr abreißt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein (Nichtsein) abscheidet. Ich spreche dann von primitiver Gegenwart, die in der leiblichen Dynamik ein Zustand privativer Engung ist, etwa im Schreck oder im Erstickungsanfall. In der primitiven Gegenwart sind die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses, ich in unspaltbarem Verhältnis verschmolzen. Dieser unspaltbare Zusammenhang des im affektiven Betroffensein enthaltenen Spürens seiner selbst (»ich«) mit einem absolut 154 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

identischen Gegenstand (»dieses«), im Sinn meiner Definition absoluter Identität, erübrigt die – in primitiver Gegenwart übrigens unmögliche – Identifizierung. Das Erbe dieses Zusammenhangs pflanzt sich aus der primitiven Gegenwart fort in die Engungskomponente des aus Engung (Spannung) und Weitung (Schwellung) durch Verschränkung gebildeten vitalen Antriebs, da die Engung als Bewegungssuggestion (in meinem Sinn) über das jeweils erreichte Maß hinaus weist und damit die primitive Gegenwart anzielt oder andeutet. Mit privativer Engung (primitive Gegenwart) und vitalem Antrieb findet der spürbare Leib daher die Möglichkeit des identifizierungsfreien Sichfindens im affektiven Betroffensein und daher die Möglichkeit der vertikalen Identifizierung, die zur Selbstzuschreibung als Voraussetzung jeder Selbstbestimmung der Person gehört. Ohne die von mir analysierte leibliche Dynamik könnte kein Mensch eine nicht-automatische Person sein, wie gut es auch um seine Feinmotorik bestellt sein mag. Dem vorschnell gegen den spürbaren Leib für den extravertierten Umgang plädierenden Verständnis menschlicher Praxis bei Irrgang will ich nun das Praxisverständnis der Neuen Phänomenologie gegenüberstellen. Es umfaßt zwei Stufen, nämlich erstens die tierische und quasitierische routinierter menschlicher Tätigkeiten (etwa zweckmäßiger Primitivreaktionen in Schrecksekunden und automatische flüssige Bewegungen) und zweitens die personaler Praxis. Tiere und nicht selten Menschen sind in Situationen gefangen. Deren Programmgehalt – ich nenne ihn »Nomos« – steuert ihre Vitalität. Diese beruht auf dem vitalen Antrieb, der Verschränkung von Engung und Weitung (als Spannung und Schwellung), die ineinander hemmen und antreiben. Der Antrieb ist an sich ziellos und protopathisch; so kann man ihn am Atemgeschehen betrachten. Einsetzbar wird er durch die beiden Oberschichten der Vitalität, seine Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit zu empfangenen Reizen. Diese bedürfen als Instanzen der Auslese epikritischer Tendenz. Die Auslese in der Reizempfänglichkeit weist der Zuwendung den 155 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

Weg und folgt dem Nomos der maßgebenden (aktuellen oder zuständlichen) Situationen. Die Aktivierung der Zuwendbarkeit kann durch Schwunglosigkeit, Sperrung (aus überwiegender Engung im Antrieb) oder Einschüchterung blockiert sein, aber auch durch Zerstreuung oder expansive Wucht ihr Ziel verfehlen und bedarf daher einer weiteren präzisierenden Auslese. Wenn die drei Schichten leiblicher Vitalität ungestört zusammenwirken, ergibt sich Aktivität als Grundform der Praxis. Die Übergabe der leiblichen Aktivität an ausführende Körperbewegungen obliegt dem motorischen Körperschema, das nicht wie die perzeptive an Lagen und Abständen orientiert ist, sondern durch unumkehrbare leibliche Richtungen zwischen absoluten Orten dirigiert wird. Diese einfache Struktur der präpersonalen Aktivität wird dadurch kompliziert, daß die Person das Wollen hineinbringt, wodurch die Aktivität zum Handeln wird. Um zu erklären, worum es sich dabei handelt, muß ich etwas zum Aufbau der Person sagen. Aus dem präpersonalen Leben erhebt sich die Person durch die beiden Geschehnisse der Vereinzelung und der Neutralisierung. Die Vereinzelung besteht darin, daß etwas absolut Identisches (d. h. Verschiedenheitsfähiges) zum Fall einer Gattung und damit zum Element einer Menge mit der Anzahl 1 (oder Anzahl jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist) wird. Die Neutralisierung besteht im Abfallen der Subjektivität für jemand von subjektiven Tatsachen (und sonstigen Bedeutungen: untatsächlichen Sachverhalten, Programmen und Problemen) des affektiven Betroffenseins, so daß von diesen nur noch objektive oder neutrale Tatsachen (bzw. Bedeutungen) übrig bleiben, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, die aber keinem Gelegenheit geben, sich selbst zu spüren. Eine Sache wird einem Bewußthaber fremd, wenn der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, daß sie existiert, für ihn in dieser Weise neutral (objektiv) wird. Den für jemand neutralen Bedeutungen und fremden Sachen gegenüber behauptet sich der Bereich der für ihn subjektiven 156 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

Bedeutungen und nicht durch Objektivierung (im angegebenen Sinn) entfremdeter Sachen als die Sphäre des ihm Eigenen, als seine persönliche Eigenwelt im Gegensatz zu seiner persönlichen Fremdwelt, mit mehr oder weniger breiten Grauzonen zwischen beiden Teilwelten. Die genauen Definitionen von persönlicher Eigen- und Fremdwelt lasse ich hier weg. Innerhalb der persönlichen Eigenwelt bildet sich mit lebenslanger Umund Weiterbildung eine zuständliche persönliche Situation der Person, zu der alles gehört, was die Person in der persönlichen Eigenwelt sich selbst zuschreibt. In der persönlichen Situation schieben und reiben sich viele partielle Situationen, mehr oder weniger in unspaltbarem Verhältnis mit einander, aber auch fähig, durch Spaltung des Verhältnisses einzeln hervorzutreten und Beziehungen zu einander aufzunehmen, ganz oder in Ausschnitten. Nach dieser äußerst knappen Skizze des Aufbaus der Person kann ich auf Wollen und Handeln kommen. Traditionell wird das Wollen meist nach dem Modell des Entschlusses eingeschätzt, als ein Willkürakt, mit dem die Person ihren Neigungen und Trieben gebietet oder nachgibt. Das ist verkehrt. Manche entschließen sich und wollen dann doch nicht; andere wollen unbeirrt, ohne sich je entschlossen zu haben. Der Entschluß ist für das Wollen nicht maßgebend. Vielmehr ist das Wollen die Bewältigung einer mehrseitigen Vermittlungsaufgabe angesichts einer Herausforderung. Um wollen zu können, muß die Person wissen, was sie will. Dazu muß sie die vielfältigen, eventuell dissonanten Stimmen aus den partiellen Situationen in ihrer persönlichen Situation zu einem Programm, in dem diese zusammenpassen, bündeln; das ist die Absichtbildung. Manchen gelingt dieses leicht (Willensleichtigkeit nach Ludwig Klages); andere scheitern daran wie Hamlet; wenn die Bündelung und Passung – manchmal fast die Leistung eines Diplomaten – nicht gelingt, und sei es nur beim Wählen von der Speisekarte, wird der Entschluß schnell brüchig. Die gebildete Absicht ist aber noch kein Wollen. Dieses bedarf eines zweiten Vermittlungs157 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

erfolges, der Gewinnung des vitalen Antriebs zur Zuwendung an die Absicht im Dienst ihrer Realisierung. Der vitale Antrieb kann, wie schon gesagt, durch Schwunglosigkeit, Sperrung oder Einschüchterung blockiert sein; er kann sich auch wehren und eigene Wege gehen, wenn ihm etwas gegen seine Natur abverlangt wird. 62 Wenn die Zuwendung des vitalen Antriebs erlangt wird, ist das Wollen vollständig, und die Handlung dann, wenn keine Körperbewegung erforderlich ist, wie bei den Handlungen des Kopfrechnens oder der Vergegenwärtigung eines komplizierten Beweises; sonst muß das motorische Körperschema dem Wollen über den Antrieb den Weg zum zweckmäßigen Einsatz der Körperteile weisen. Bei der Ausführung des Wollens wird der von Irrgang in den Vordergrund gestellte körperliche Umgang mit etwas wichtig. Irrgang scheint vor allem an den Umgang mit Werkzeugen als Schule der Technik zu denken; vielmehr aber sind die erworbenen motorischen Kompetenzen hauptsächlich Kompetenzen des Umgangs mit den eigenen Gliedern, z. B. als Kompetenzen des Stehens und Gehens, des Tanzens und Schwimmens, des Klavierspielens, Autofahrens und Maschineschreibens. Das Werkzeug ist wie ein Turngerät nur Instrument der Ausübung und Erprobung eines Könnens beim Umgang mit dem eigenen Körper. Der Erwerb einer motorischen Kompetenz pflegt sich in zwei Stufen abzuspielen. Die erste Stufe ist eine Probierphase, die nach Erwerb des Personseins durch das Kind konstellationistische Züge trägt, als Netzwerk von Einzelschritten im dreidimensionalen flächenhaltigen Ortsraum, orientiert an Lagen (d. h. Winkeln) und Abständen der Arme, Füße usw. Wenn diese Übung Erfolg hat und über das Stadium des stümperhaften Anfängers hinausführt, kippt sie um in die Kompetenz für eine Situation (mit binnendiffuser Bedeutsamkeit) flüssiger Bewegung, die nicht mehr in einem Ortsraum nach Art eines KoorVgl. von mir: »Fettsucht als Vergeltung des Leibes«, in: Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg 2005, S. 156–167

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Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

dinatennetzes verläuft, sondern in einem flächenlosen Raum die erforderliche Gestalt wie von selbst, ohne Sorge um das Einzelne, annimmt. Das ist die zweite Stufe des kompetenten Musters. Das motorische Körperschema frißt sich gleichsam in das Werkzeug hinein, so daß dieses zu einem verlängerten Körperglied wird, an dessen Spitze die Beschaffenheit des Objekts der Behandlung gespürt werden kann. Beim Sprechenlernen fehlt der entsprechende Übergang, das plötzliche Umkippen vom Anfängerstadium in die Könnerschaft des Meisters. Ihm scheint eine Sonderstellung beim Erwerb motorischer Kompetenzen zuzukommen. Diese kurze Skizze möge gezeigt haben, daß die Berufung auf eine mit unklaren psychologischen Begriffen aufgefüllte feinmotorische Umgangskompetenz in der Ausstattung des Menschen zu schlicht ist, um den Phänomenen menschlicher Praxis gerecht zu werden. Diese Berufung beruht obendrein auf einer grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Naivität, die Welt – gleichsam als Ding an sich – so zu nehmen, wie sie sich der alltäglichen Weltanschauung zeigt, als ein Angebot zu gleichberechtigten, sich ergänzenden Explorationen von verschiedenen Seiten, etwa phänomenologisch und naturwissenschaftlich. Der ursprüngliche Fehler, der dieses naive erkenntnistheoretische Weltvertrauen verschuldet, ist der Singularismus, der Glaube, daß alles ohne weiteres einzeln ist und daher Stück für Stück, so wie es sich als dieses Einzelne präsentiert, genauer untersucht und mit dieser oder jener Methode erforscht werden kann. Ich habe gezeigt, daß die beiden Annahmen, daß alles einzeln ist und irgendein Gegenstand durchgängig bestimmt sein kann, sich gegenseitig implizieren und mit einander falsch sind. Einzelheit kann, wie ich gezeigt habe, durch jede der drei äquivalenten Bedingungen definiert werden: (1) Element einer Menge mit der Anzahl 1 zu sein, (2) eine Anzahl um 1 zu vermehren, (3) Element irgend einer endlichen Menge zu sein. Sie setzt die auch nicht selbstverständliche absolute Identität voraus, die in 159 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

Verschiedenheitsfähigkeit besteht: Wenn vieles ist, ist das, was selbst oder absolut identisch ist, von anderem verschieden. Die absolute Identität wird zur Einzelheit ergänzt, indem eine Gattung etwas absolut Identisches als ihren Fall einholt; wenn das mehreren Gattungen gelingt, ergibt sich relative Identität von etwas mit etwas. Dafür müssen aber die Gattungen als gewisse Sachverhalte bereitgestellt, d. h. aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden. Das ist nur durch satzförmige menschliche Rede möglich. Ohne diese bricht die Welt mangels Vereinzelung zusammen. Sie ist eine Erscheinung, die eine Masse von unzertrennlich mit Nichtseiendem vermischten Seiendem dem Menschen zeigt, der diese Masse mit satzförmiger Rede anspricht. Wenn dieser Anspruch ausbleibt, bleibt der Weltstoff übrig, aber ohne die Form der Einzelheit, also bestenfalls in der Form, die die Tiere kennen, als Gefangenschaft in Situationen. Der Mensch kann aus dieser Gefangenschaft aussteigen, ohne die Bindung an die Situationen ablegen zu können, da er aus diesen die Gattungen schöpfen muß, mit denen er etwas als dieses Einzelne erhalten kann. Da er nach seiner Befreiung aus der gefangenen tierischen Existenz nicht mehr eindeutig vom Nomos von Situationen geführt wird, muß er sich selbst zurechtfinden und, um sich vorausschauend orientieren zu können, eine kausal durchgeordnete Welt von Dingen zurechtmachen, in der er absehen kann, worauf er sich verlassen darf und wovor er sich hüten muß. Zu diesen seinen lebensnotwendigen Konstruktionen gehört die Ergänzung von Halbdingen im von mir definierten und mit vielen Beispielen belegten Sinn zu Volldingen (Dingen im gewöhnlichen Vollsinn), z. B. des Windes zu bewegter Luft, ferner die Umdeutung der ursprünglich intensiven Dauer in eine homogene extensive Größe zwecks Zeitmessung und Zeiteinteilung und die Überformung des Richtungsraumes durch einen dreidimensionalen Ortsraum mit durch Lagen und Abstand bestimmte relativen Orten, die zu sagen gestatten, wo etwas ist. Von der Weltbildung im Zuge der von satzförmiger Rede ermöglichten Vereinzelung 160 https://doi.org/10.5771/9783495813676 .

Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie

ist also die Weltgestaltung zu unterscheiden, die dem auf sich gestellten, sonst führungslosen Menschen die Lebensführung möglich macht. Weltbildung und Weltgestaltung werden von der Naturwissenschaft vorausgesetzt, während die Phänomenologie mit Hilfe der allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, die hinter das numerische Mannigfaltige aus Einzelnem zurückgeht, diese Voraussetzungen unterlaufen kann. Die Naturwissenschaft, als Wissenschaft der schematischen Prognostizierbarkeit auf einer schmalen Datenbasis aus geschickt gewählten Merkmalsorten höchst erfolgreich, stilisiert die zunächst lebensnotwendige Weltgestaltung zu einer Kunst der Naturbeherrschung durch Technik, indem sie die Welt wie ein riesiges Netzwerk auffaßt, das dazu bestimmt sei, vom Menschen nach seinem Bedürfnis und Belieben umgeknüpft zu werden. Dadurch hat sie auf der Grundlage zügig verbesserter prognostischer Erfolge ein imponierendes Gedankengebäude errichtet, das aber, wenn es als Weltbehausung und Welterklärung aufgefaßt wird, erkenntnistheoretisch auf schwachen Füßen (Fundamenten) steht. 63

Vgl. Ausgrabungen (wie Anmerkung 2), S. 306–312: Das naturwissenschaftliche Weltbild

63

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Personenregister

Aljechin, Alexander 119 Aristoteles 35 Augustinus, Aurelius 120 Avenarius, Richard 124 Bolzano, Bernhard 62 Brentano, Franz 122,125 Bruno, Giordano 61 Dedekind, Richard 62 Demokrit 116 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 112 Ewald, Ute 113 Frisch, Karl von 23 Fuchs, Thomas 35, 36 Gabriel, Horst 113 Goethe, Johann Wolfgang von 103 Goldstein, Karl 34 Gugutzer, Robert 110 Head, Henry 73 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 144 Henry, Michel 150 Husserl, Edmund 47, 53, 76, 80, 92, 122, 126 ff. Ingarden, Roman 126 Irrgang, Bernhard 36 f., 148 Katz, David 102 Kepler, Johannes 61 Klages, Ludwig 157 Kleist, Heinrich von 108

Kretschmer, Ernst 31 Leibniz, Gottfried Wilhelm 61 f. Leo, Heinrich 143 f. Leriche, René 90 Lindner, Johannes 83 Lipps, Theodor 76 Lorenz, Konrad 76 Merleau-Ponty, Maurice 35, 80 Meyer, Conrad Ferdinand 94 Mörike, Eduard 103, 126 Muchow, Hans Friedrich 113 Pfänder, Alexander 126, 136 Platon 61, 116 Rentsch, Thomas 148 Rousseau, Jean-Jacques 47 Russell, Bertrand 144 Schulze, Johannes 144 Sokrates 108 Spalt, Detlef D. 62 Stein, Edith 126 Strauß, Erwin 10 Strehle, Hermann 93 Themistokles 143 Thukydides 143 Veit, Hans 31 Wittgenstein, Ludwig 124 Znoij, Hansjörg 109, 112 Zutt, Jürg 29 Zweig, Stefan 112

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Sachregister Von Andreas Kuhlmann

Absicht 29 Abstand 44 Agoraphobie 45, 59 Akrasie 26 Akt, intentionaler 125, 127 Analogieschluß 77 Analogieschlußtheorie 76 Anankasmus 119–221 Angst 39, 70, 81–84 Angstlust, wollüstige 72 Anpassungsdruck 140 Antrieb, blockierter 118 f. Antrieb, vitaler 18, 20, 26, 30 f., 39, 54, 59, 69 f., 72, 81, 85, 88 f., 95, 105 f., 117 f., 127 Antriebsstärke 96 Anzahl 107 Apperzeption 76 f. Atemzug 67 Atmosphäre 83 Augenblick, absoluter 53 Ausatmen 41 Ausdehnung, räumliche 66 Ausleibung 37, 40 f., 79 Außenwelt, empirische 64 Bathmothymiker 31 Bedeutsamkeit, binnendiffuse 19 f., 22 f., 56, 107, 117, 130 Bedeutung 19, 24 f., 27 f.,56 Bedeutung, Explikation von 140 Bestimmung, durchgängige 137 Betroffensein, affektives 16–20, 24, 26, 36, 54, 65, 124

Betroffensein, leiblich-affektives 98 Bewegungssuggestion 19, 38 f., 41, 54, 66, 68, 77 f., 93 f. Bewegungssuggestion, akustische 94 Bewußthaber 16, 64, 77, 114, 131 f. Beziehung 17, 23, 51, 55, 57 Beziehung, gerichtete 140 Bild, doppelsinniges 152 Bindungsform 39 Bindungsform, kompakte 39, 70 Bindungsform, rhythmische 40, 70, 76, 83 Blick 41, 68 Blickwechsel 75 f., 106 Brückenqualität, leibnahe 77 Charakter, synästhetischer 19, 38, 46, 77 f. Dauer 24, 45, 47, 49, 53 f., 58 f. Dauer, intensive 48 Dauer, unzerrissene 45 f., 49 Dauer, zerrissene 45 f., 49 Disposition, leibliche 30 f. Du-Evidenz 76 Durst 64 f. Dynamik, leibliche 18 f., 33 f., 55, 58 f., 69, 78 f., 81 Eigenbewegung 20 Eigene, das 25 f. Eigenschaft, intermodale 77 Eigenwelt, persönliche 26 f., 30, 57, 89, 114, 119 f. Einfühlung 77

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Sachregister

Eingeweideschmerz 73 Einleibung 18 f., 37, 44, 54 f., 74, 85, 95, 106 Einleibung, antagonistische 75 Einleibung, einseitige 100, 121 Einleibung, einseitige antagonistische 41, 75 Einleibung, einseitige habituelle 105 Einleibung, solidarische 75, 78, 94 Einleibung, wechselseitige antagonistische 75 Einschlafen 69, 81 Einzelheit 17, 19 f., 22–25, 48, 50 f., 55–57 Einzelne, das 129 Ekstase, geschlechtliche 40 Element 21 f. Emanzipation, personale 25 f., 28, 30, 114 Enge 18, 32 f., 37 f., 41 f., 47, 49 f., 58–61, 69, 78, 81, 95 f., 105 Engung 18, 30, 34, 37– 40, 45, 51, 53–55, 59, 61, 67, 69, 81, 95 f., 105 Engung, privative 31, 40, 59, 69 Engung, protopathische 74 Engung, spannende 73 Entscheidung 29 Entstehen 45 f., 50 Enttäuschung 24 Erkrankung, depressive 50 Erwachsenwerden 24 Explikation 28, 147 Extrovertierter 27 Fahrer und Motorrad 76 Farbe 92 Farbe, flächenlose 102 Fassung 29 f. Fixierung, habituelle 104, 108, 111 Fixierung, konfliktbeladene habituelle 107

Fixierung, konfliktfreie habituelle 107 Fläche 24, 44, 66 flow 109 f. Fluß der Zeit 49 Fremde, das 25 f., 114 Fremdwelt, persönliche 27, 30, 89, 119 f. Frühlingsluft 78 Gang, menschlicher 77 Gattung 15, 21 f., 24, 51, 55–57, 129 Gebärde 38 Gefühl 34, 42 Gegend 59 Gegenwart 45, 140 Gegenwart, primitive 17–19, 23 f., 45, 53 f., 59, 61 Gegenwart, zeitliche 46 Geschichte 23 Geschichte, Grundrhythmus der 146 Geschwindigkeit 49 Geste, engende 86 Geste, weitende 86 Grauzone 27 Größe, extensive 48, 92 Größe, intensive 46–48, 92 Halbding 74 f., 84 f., 87 f., 96–98, 103, 128 f. Haltung, innere 29, 115 Harte, das 95 Hemmung, engende 81 Hunger 64 f., 74 Identifizierung 15 f. Identifizierung, doppelte 153 Identifizierung, spielerische 115 Identität, absolute 15, 17, 21, 24, 36, 48, 50 f., 53, 55, 57, 61, 107 Identität, relative 15, 17, 22, 24, 51, 57 f., 130 Implikation 28, 147

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Impuls, expansiver 70, 84, 90 Innenwelt, private 64 Insektenstich 43 Intellektualkultur, abendländische 64 Intentionalität 122, 125 Introvertierter 27 Kind 50, 158 Kommunikation, leibliche 18 f., 36 f., 74, 85, 95 Komplex 21, 56 Konstellation 20, 22 f., 134, 139, 141 Konstellationsbildung 140 Kontinuum 51, 53, 59, 61 Kontinuum, homogenes 130 Kopfschmerz 66 f. Körper 34, 36, 42 Körper, tastbarer 65, 69 Körperschema, motorisches 41, 43, 66, 68, 101 Körperschema, perzeptives 36, 43, 65, 67 f., 73 Kristallisationskerne der Erinnerung 117 Kritik, erkenntnistheoretische 145 Lachen 30 Lage 44 Lagezeit 24, 50 Lagezeit, modale 50 Langeweile 47 Langsamkeit 49 Leben aus primitiver Gegenwart 19, 24 f., 29, 55 f. Lebensentscheidung 29 Lebenstechnik 117 Leib 18, 34 f., 37, 40, 44 f., 65, 67 Leib, spürbarer 64 f., 67, 69, 80, 98, 105 Leibesinsel 43, 67 f., 73 Leibesverständnis, solipsistisches 149

Leibtheorie 149 Licht 103 Macht 84, 87 Mannigfaltiges 106 Mannigfaltiges, chaotisches 51, 130 Mannigfaltiges, diffuses 130 Mannigfaltiges, konfuses 19, 96 Mannigfaltiges, numerisches 22, 52 Mannigfaltiges, pränumerisches 111 Mannigfaltigkeit 34, 59 Menge 21 f., 55 f., 62, 107, 129 Mensch 23, 43, 48, 55, 57 Menschsein, personales 153 Menschspaltung 80 Modalzeit 24, 49, 50, 55 Müdigkeit 40 Mundgebrauch 20 Musik 93 Naturgesetz, allgemeines 145 Naturwissenschaft 34 f. Nervenkitzel 115 Neue, das 45–47, 49 f., 53 f.,58 f. Neutralisierung 24–26, 135 Neutralität 25 Nichtmehrsein 45, 54 Nichtseiende, das 46, 140 Nichtsein 24, 53 Niveau 26 Nomos 48, 117, 133, 136 Oberflächenfarbe 102 Ort, absoluter 36, 42 f., 53, 59, 67 f., 70, 82 Ort, relativer 42–44, 67, 70, 82 Ortsraum 24, 44 Paradigmenwechsel 64 Paradoxie des Unendlichen 62 Person 15, 18 f., 24, 51, 57 f., 114, 153 Person, Aufbau der 156 Persönlichkeit 134 Phobie 118

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pränumerisch 107 Praxis, personale 155 Praxis, tierische 155 Probierphase 158 Problem 19 Programm 19 f. Projektion 76 Projektionstheorie 76 Psychologie, verstehende 35 Qualität, intermodale 95 Quantum, intensives 52, 129 Raum 34, 40, 44 f., 48, 59, 99 Raum, flächenhaltiger 48, 100 Raum, flächenloser 36, 48, 66 f., 73, 99 Raumstrukturen 69 Räumlichkeit des Leibes 82 Rede, satzförmige 56 Regression, personale 25 f., 29 f., 115 Regung, leibliche 36, 39, 65 f., 69, 81 f. Regung, unwillkürliche 64 Reiter und Pferd 76 Reiz 20 Reizempfänglichkeit 18, 20, 31 Retention 47 f., 53, 92 f. Rhythmus 94 Richtung 41, 43 Richtung, abgründige 42 Richtung, leibliche 42, 45, 59, 72, 78, 82 Richtung, unumkehrbare 36 Richtung, unumkehrbare leibliche 66–68, 100 Richtungsraum 24, 43 f., 55 Rückfeld 44, 66, 99 Sachverhalt 19, 56 Satz 22 Schall 66, 92 Scharfe, das 95 Schauder 60

Schicksal, persönliches 146 f. Schizothymiker 31 Schlucken, leibliches 72 Schmerz 39, 70 f., 74, 80 f., 84 f. Schmerz, Kampf gegen den 88 Schnelligkeit 49 Scholastiker 52 Schreck 40, 53 Schwankung, intensive 51 Schwellung 69–72, 105 Schwellung, protopathische 79 Schwellung, Übergewicht der 71 Schwellung, weitende 67 Schwere, reißende 74, 85 Seiendes 46 Sein 24, 53 Selbstbestimmung 15, 57 f. Selbstbestimmung, Spielraum für 153 Selbstbewußtsein 15 Selbstermächtigung, personale 64 Selbstheit 52 f., 59 Selbstvergessenheit 133 Selbstverstrickung, paradoxe 88 f. Selbstzuschreibung 15 f., 24 f., 114, 153 Sichbewußthaben 16, 18 Sichbewußthaben, identifizierendes 153 Sichbewußthaben, identifizierungsfreies 154 Singen, gemeinsames 75 Sinnesdatum 85 Situation 19 f., 23, 25, 28, 48, 55 f., 106, 130 Situation, aktuelle 141 Situation, Gefangenschaft in 143 Situation, gemeinsame 22 Situation, künftige 143 Situation, partielle 28 f. Situation, persönliche 26–29, 57, 114

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Situation, präsentische 28 Situation, prospektive 28, 117 Situation, retrospektive 28 Situation, zuständliche 20, 46, 107, 139 Situation, zuständliche persönliche 116 Spannung 69 f., 71 f., 78, 105 Spannung, hemmende 71 Spielsucht 112 Spitze, das 95 Sprache 15, 20, 22 Sprachgebrauch 20, 55 Stehlsucht 112 Stellungnahme, persönliche 135 Stimme 84 f. Subjektivität 54 Sucht 104 Tatsache, neutrale 16 f. Tatsache, objektive 16 f. Tatsache, subjektive 17, 119 Tendenz, epikritische 37, 69, 73, 79, 96 Tendenz, protopathische 37, 69, 73, 79, 96 Tier 19 f., 22 f., 25, 43, 50, 55, 75 Trancezustand 79 Uhr 49 Ultrovertierter 27 Umgang, körperlicher 158 Unendliche, das 60 f. Urkontinuum 19 Verbindung, umkehrbare 67 Vereinzelung 25 Vereinzelung, Feld aller möglichen 134 Vergehen 45 f. Verhalten 34–36 Verhältnis 23, 51 Verhältnis, ungerichtetes 111, 140 Verhältnis, unspaltbares 17, 28 f., 53, 55, 57, 112

Verschiedenheit 52 Verschiedenheitsfähigkeit 50, 54 Verschränkung, antagonistische 106 Verschwommenheit, chaotische 50 Verstehen, leibliches 151 Vitalität 18, 39 Volumen, dreidimensionales 44 Volumen, dynamisches 36, 44, 67, 99 Weiche, das 95 Weinen 30 Weite 18, 32 f., 37 f., 40 f., 45, 49 f., 58–61, 69, 78, 81, 95 f., 105 Weiteangst 59 Weitung 18, 30, 34, 37–40, 45, 54, 57, 59, 67, 69, 81, 95 f., 105 Weitung, epikritische 74 Weitung, privative 31, 40, 70, 72, 78 f. Welt 23, 57 Weltbildung 160 f. Weltgestaltung 161 Widerspruch 137 f. Willensakt 125 Wind 74 Wirklichkeit 54 Wollen, das 127, 136, 157 Wollust 40, 64 f., 71 Zahl 21, 55–57, 62 f., 129 Zahlfähigkeit 19 Zahnschmerz 73 Zeit 23 f., 34, 53, 58 f. Zeitmessung 44 Zeitpunkt 46 Zorn 40, 64 f., 70 Zukunft, geschlossene 137 f. Zukunft, offene 137 Zuwendbarkeit 18, 31 Zyklothymiker 31

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