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German Pages 188 Year 2005
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 3 HELGE SODAN (Hrsg.)
Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung Vorträge im Rahmen der 3. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 15. und 16. September 2003
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
HELGE SODAN (Hrsg.)
Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 3 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin
HELGE SODAN (Hrsg.)
Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung Vorträge im Rahmen der 3. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 15. und 16. September 2003
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 3-428-11388-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Der vorliegende Band 3 der Schriften zum Gesundheitsrecht beruht auf den Vorträgen, welche im Rahmen der 3. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 15. und 16. September 2003 im Hotel Hilton Berlin gehalten worden sind. Die meisten Beiträge wurden für die Veröffentlichung im Vergleich zu den Vortragsfassungen deutlich erweitert und teilweise aktualisiert. Das Generalthema „Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung“ ist angesichts vieler noch ungelöster Probleme im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung unverändert bedeutsam. Diese Tagung knüpfte an die 1. und 2. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht an, die jeweils kurz zuvor am selben Ort mit den Themen „Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer“ sowie „Krankenkassenreform und Wettbewerb“ stattfanden. Die entsprechenden Vorträge sind in den Bänden 1 und 2 der Schriften zum Gesundheitsrecht veröffentlicht. In Kürze werden im Band 4 dieser Reihe diejenigen Vorträge erscheinen, die im Rahmen der 4. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 25. Oktober 2004 über „Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung“ gehalten wurden. Die Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht führen entsprechend ihrem interdisziplinären Ansatz zu Diskussionen grundlegender Fragen insbesondere aus juristischer, ökonomischer, politischer und heilkundlicher Sicht. Mit fundierter verfassungs- und europarechtlicher Kritik an so genanntem einfachem Gesetzesrecht sowie mit konzeptionellem, interdisziplinärem Denken über die Weiterentwicklung des Gesundheitsrechts sollen Anstöße u. a. für die dringend notwendigen Strukturreformen im Bereich der Krankenversicherung gegeben werden. Auch der Einladung zu den 3. Berliner Gesprächen zum Gesundheitsrecht sind viele herausragende Experten gefolgt. Unter den Teilnehmern dieser Tagung befanden sich Mitglieder des Deutschen Bundestages, ein Vertreter des Bundesversicherungsamtes, Richter aus der Verfassungs- und Sozialgerichtsbarkeit, Rechtswissenschaftler, Vertreter der Medien, zahlreiche Repräsentanten zahnärztlicher Organisationen des öffentlichen sowie privaten Rechts, Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung, Repräsentanten der pharmazeutischen Industrie und Rechtsanwälte. Für Unterstützung bei der Konzeption, Vorbereitung und Durchführung der Tagung danke ich besonders meinem langjährigen wissenschaftlichen Mitarbei-
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Vorwort
ter Olaf Gast. Ein herzlicher Dank für organisatorische Hilfe gebührt ferner meiner Sekretärin Astrid Tüzel und meiner Mitarbeiterin Sophia Rogall, letzterer überdies für die redaktionelle Bearbeitung des vorliegenden Tagungsbandes. Berlin, im Dezember 2004
Helge Sodan
Inhaltsverzeichnis Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung – eine Einführung Von Helge Sodan, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zukunftsperspektiven der zahnärztlichen Versorgung. Verfassungsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten des Sozialgesetzgebers unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Zahnmedizin Von Thomas Muschallik, Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Aktuelle Rechtsfragen der Gesundheitsreform in Bezug auf die vertragszahnärztliche Versorgung Von Ruth Schimmelpfeng-Schütte, Celle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Kostenerstattung oder Sachleistung als Gestaltungselement in der vertragszahnärztlichen Versorgung Von Günther Schneider, Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Auswirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die (vertrags)zahnärztliche Versorgung Von Burkhard Tiemann, Köln/Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Mut zur Verantwortung – für ein freiheitliches Gesundheitswesen Von Detlef Parr, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Verfasserverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung – eine Einführung Von Helge Sodan I. Freier Beruf und Berufsfreiheit Bekanntlich lautet ein verbreitetes (Vor-)Urteil: Politiker sagten eher selten, was sie wirklich denken. Ob Volkes Meinung in dieser allgemeinen Form zutrifft, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls gibt es auch Ausnahmen. Dazu zählt eine Äußerung der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 21.07.2003. Im Rahmen einer Pressekonferenz der SPD im WillyBrandt-Haus in Berlin führte sie bei der Vorstellung der „Eckpunkte der Konsensverhandlungen zur Gesundheitsreform“1 wörtlich aus: Man müsse „endlich Schluss machen mit der Ideologie der Freiberuflichkeit“. Das Zitat zeigt deutlich, auf welchem geistigen Nährboden das so genannte Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) vom 14.11.20032 erwachsen ist. Die Bemerkung der Bundesministerin, mit der offensichtlich besonders die beruflichen Rahmenbedingungen für Vertrags(zahn)ärzte gemeint waren, bringt eine Herabsetzung des Freien Berufs an sich zum Ausdruck. Sie missachtet zugleich die große Bedeutung, welche die Tätigkeiten von Freiberuflern als klassischen Mittelständlern für unser Gemeinwesen besitzen. Freie Berufe sind als eigenständige Berufsgruppe im frühliberalen Staat entstanden.3 In diesem waren Staat und Gesellschaft konzeptionell getrennt und der wirtschaftspolitische Grundsatz des laissez faire bestimmend. Die Forderung nach „Freiheit vom Staatszwang“ ist als Reaktion auf die gesteigerte staatliche Inpflichtnahme insbesondere der Berufe der Ärzte und Rechtsanwälte zu Ende 1 Siehe dazu Sodan, Helge, „Gesundheitsreform“ ohne Systemwechsel – wie lange noch?, in: NJW 2003, 2581 ff. 2 BGBl. I, 2190. 3 Siehe dazu BVerfGE 10, 354 (364 f.); Taupitz, Jochen, Die Standesordnungen der freien Berufe. Geschichtliche Entwicklung, Funktionen, Stellung im Rechtssystem, 1991, S. 111, 121, 148; Sodan, Helge, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Ein verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Beitrag zum Umbau des Sozialstaates, 1997, S. 22 ff.
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des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zu verstehen.4 Der seinerzeitige Kampf um die „Freiheit vom Staatszwang“ ist heute im Gesundheitswesen aktueller denn je. Mit ihrer Forderung, endlich Schluss zu machen mit der Ideologie der Freiberuflichkeit, wollte die Bundesministerin offenbar die immer stärkere Inpflichtnahme Freier Berufe durch das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) rechtfertigen. Die stetige Zunahme der Restriktionen zu Lasten insbesondere von Vertrags(zahn)ärzten steht naturgemäß in einem Spannungsverhältnis zur Freiberuflichkeit. Dabei ist weiterhin in § 98 Abs. 2 Nr. 13 SGB V in Bezug auf Vertragsärzte ausdrücklich von „Grundsätzen der Ausübung eines freien Berufes“ die Rede. Wird die Freiberuflichkeit geopfert, so scheint der Weg frei zur vollständigen Sozialisierung vertrags(zahn)ärztlicher Tätigkeit. Hier liegt das grundsätzliche Problem, mit dem niedergelassene Ärzte und Zahnärzte konfrontiert werden, die ihre Leistungen im Rahmen der GKV erbringen. Typische Merkmale des Freien Berufs sind insbesondere der persönliche Einsatz bei der Berufsausübung, die Erwartung altruistischer Berufseinstellung, das besondere Vertrauensverhältnis zum Patienten, die Eigenverantwortung bei der Berufsausübung und die wirtschaftliche Selbständigkeit in der Berufsstellung.5 Dabei handelt es sich um Tugenden, die ansonsten in wirtschaftspolitischen Sonntagsreden gerne als Leitbilder genannt werden. Im Jahr 1980 etwa hatte der Deutsche Bundestag in einer einstimmig angenommenen Entschließung formuliert, die Freien Berufe erbrächten „unentbehrliche Dienstleistungen für den einzelnen Bürger und die Volkswirtschaft“ und trügen „so wesentlich zur Erhaltung und Sicherung des Freiheitsraumes und damit auch zur Lebensqualität des einzelnen bei“6. Gerade die Vertrags(zahn)ärzte sehen sich jedoch in ihrer durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit seit langem bedroht. Immer neue GKV-Kostendämpfungsgesetze haben über die Jahre zu immer stärkeren Reglementierungen (zahn)ärztlicher Tätigkeit geführt. Zur Rechtfertigung der damit verbundenen Grundrechtseingriffe bezog sich der Gesetzgeber – entweder ausdrücklich oder zumindest der Sache nach – stets auf die Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV. Dieser Aspekt hat auch Eingang in zahlreiche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gefunden. Der Erste Senat dieses Gerichts hat in 4
Siehe näher Sodan (Fn. 3), S. 19 ff. Siehe dazu im Einzelnen Sodan (Fn. 3), S. 66 ff. 6 Siehe BT-Plenarprotokoll 8/220, S. 17778 (D) sowie Beschlußempfehlung und Bericht des BT-Ausschusses für Wirtschaft vom 22.05.1980 zum Bericht der Bundesregierung über die Lage der freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland (BTDrucks. 8/3139) und zum Entschließungsantrag der Abgeordneten Hauser (Krefeld) sowie anderer und der Fraktion der CDU/CSU zu der Beratung des Berichts der Bundesregierung über die Lage der freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland (BTDrucks. 8/3276), BT-Drucks. 8/4154 (neu), S. 2 f. Nr. I 2 und 7. 5
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einem Beschluss aus dem Jahr 1984 die „Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung“ – allerdings ohne Begründung – als „eine Gemeinwohlaufgabe“ bezeichnet, „welche der Gesetzgeber nicht nur verfolgen darf, sondern der er sich nicht einmal entziehen dürfte“; ihr diene die Kostendämpfung im Gesundheitswesen7. Damit rechtfertigte das Gericht in dieser Entscheidung konkret die Herabsetzung von Vergütungen für zahntechnische Leistungen. In neueren Senats- und Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts findet sich die Formel von der „Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung“ als einem „Gemeinwohlbelang von hinreichendem Gewicht“8. Diese stereotyp wiederholte, nie näher begründete Formel diente zur Rechtfertigung erheblicher Grundrechtseingriffe zu Lasten von Leistungserbringern: Ob es – um nur zwei Beispiele zu nennen – um die Rechtfertigung einer Altersgrenze für den Zugang zur vertragsärztlichen Tätigkeit9 oder die vom Gesetzgeber wiedereingeführten Zulassungsbeschränkungen für Vertragsärzte wegen vermeintlicher Überversorgung10 ging – stets zogen die bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen die Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV als entscheidendes Argument für die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Vorschriften heran. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit der GKV ist damit geradezu zum Drehund Angelpunkt der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Eingriffen in Grundrechte der Leistungserbringer geworden. Mit dem diesbezüglichen Spannungsverhältnis beschäftigten sich eingehend die 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht.11 Der Hauptkritikpunkt an der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht in folgendem Hinweis: Mit der Verabsolutierung der Bedeutung der Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der GKV sowie der Zuerkennung eines Vorrangs gegenüber insbesondere dem Grundrecht der Berufsfreiheit von Leistungserbringern wird der GKV faktisch ein Verfassungsrang zuerkannt. Dieser aber besteht eindeutig nicht. Sogar die frühere Bundesverfassungsrichterin Renate Jaeger, die als Berichterstatterin für Fragen des Berufsrechts über viele Jahre die Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts nachhaltig beeinflusst hat, räumte in einem
7 BVerfGE 68, 193 (218). Vgl. etwa auch BVerfG (Kammerbeschl.), NJW 2000, 1871. 8 Siehe etwa BVerfGE 103, 172 (184); BVerfG (Kammerbeschl.), DVBl. 2002, 400 (401). 9 Siehe BVerfGE 103, 172 (184 ff.). 10 Siehe BVerfG (Kammerbeschl.), DVBl. 2002, 400 (401). 11 Siehe Sodan, Helge (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer. Vorträge im Rahmen der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 16. und 17. Juni 2003, 2004.
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Vortrag im Rahmen einer Tagung der Bertelsmann Stiftung und der Freien Universität Berlin im Jahr 2002 ein: „Das Grundgesetz schützt kein System der gesetzlichen Krankenversicherung. Die gesetzliche Krankenversicherung ist kein Institut mit Verfassungsrang“.12 Diese Feststellung entspricht einer allgemeinen rechtswissenschaftlichen Auffassung. Daraus folgt aber zugleich, dass das gegenwärtige System der GKV nur eine „einfachgesetzliche“ Absicherung hat.13 Es beruht also auf Rechtsvorschriften, die im Rang unterhalb der Normen des Grundgesetzes und damit der Verfassung stehen. Mit sozialpolitischen Regelungen insbesondere des SGB V trägt der parlamentarische Gesetzgeber zur Verwirklichung des so genannten Sozialstaatsprinzips bei, wie es in Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG zum Ausdruck kommt. Dieses Prinzip ist ein der konkreten Ausgestaltung in hohem Maße fähiges und bedürftiges Prinzip, welches eben durch Gesetze verwirklicht wird.14 Es ist jedoch gerade auch im Rahmen der Grundrechtsordnung zu entfalten. Es befreit den Gesetzgeber damit keinesfalls von der im Grundgesetz festgelegten strikten Bindung an die Grundrechte, also auch der Berufsfreiheit. II. Zur Ausgliederung der Versorgung mit Zahnersatz aus der GKV Ein Beitrag zur finanziellen Stabilisierung der GKV wird teilweise in der Ausgliederung von Leistungsbereichen aus der GKV gesehen.15 Anschauungsmaterial liefern insoweit die Regelungen der Versorgung mit Zahnersatz, welche das GMG enthielt16 und die kurz vor ihrem für den 01.01.2005 vorgesehenen Wirksamwerden vom Gesetzgeber aufgehoben wurden17. Nach der Ausgliederung des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog der GKV sollten die gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten eine Zahnersatzversicherung als obligatorische Satzungsleistung anbieten, welche die Mitglieder allein hätten finanzieren müssen.18 Gesetzlich Versicherte hätten für den Fall des Vorliegens 12 Jaeger, Renate, Welches System der gesetzlichen Krankenversicherung wird durch das Grundgesetz geschützt?, in: Empter/Sodan (Hrsg.), Markt und Regulierung. Rechtliche Perspektiven für eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, S. 15. 13 Sodan, Helge, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: VVDStRL 64 (2005), 144 (166). 14 Vgl. etwa BVerfGE 1, 97 (105); 65, 182 (193); 82, 60 (80); 100, 271 (284). 15 Vgl. dazu Sodan, Helge, Zur Verfassungsmäßigkeit der Ausgliederung von Leistungsbereichen aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Dargestellt am Beispiel der Versorgung mit Zahnersatz, in: NZS 2003, 393 ff. 16 Siehe Art. 1 Nr. 17 und 36 i. V. m. Art. 37 Abs. 8 GMG. 17 Siehe Art. 1 des Gesetzes zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz vom 15.12.2004 (BGBl. I, 3445).
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eines vergleichbaren Versicherungsschutzes für Zahnersatz eine Wahlmöglichkeit zur privaten Krankenversicherung (PKV) erhalten. Die im GMG vorgesehene Ausgliederung des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog der GKV spricht dafür, dass es sich insoweit um Leistungen handelt, bei denen ein soziales Schutzbedürfnis nicht den Verbleib im Leistungskatalog der GKV gebietet. Die Leistungen sollten vielmehr der Vorsorge durch den Einzelnen überantwortet werden. Das Angebot einer eigenständigen Zahnersatzversicherung würde in Anwendung der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Maßstäbe19 demgemäß eine wirtschaftliche Tätigkeit der gesetzlichen Krankenkassen darstellen, welche insoweit als Unternehmen i. S. d. europäischen Gemeinschaftsrechts handelten. Es ist jedoch sehr zweifelhaft, ob es in Bezug auf die Versorgung mit Zahnersatz zu einem fairen Wettbewerb zwischen GKV und PKV gekommen wäre. Die gesetzlichen Krankenkassen verfügen aufgrund ihres Sozialversicherungsmonopols über Mechanismen, durch die sie ihre Versicherten auch im Hinblick auf eine Zahnersatz-Zusatzversicherung an sich binden können, ohne sich in einem Leistungswettbewerb durchsetzen zu müssen.20 Wettbewerbsvorteile gegenüber der PKV entstehen zugunsten der GKV ohnehin schon dadurch, dass die Krankenkassen aufgrund von Verträgen ihrer Verbände mit Kassenzahnärztlichen Vereinigungen Sachleistungen zu günstigeren Konditionen erbringen können als private Krankenversicherungsunternehmen. Die Wettbewerbsvorteile der GKV werden noch erheblich verstärkt durch die einseitige Steuerfinanzierung so genannter krankenversicherungsfremder Leistungen zugunsten der GKV. Der durch das GMG eingefügte § 221 Abs. 1 SGB V bestimmt, dass der Bund zur pauschalen Abgeltung der Aufwendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde Leistungen für das Jahr 2004 eine Milliarde Euro, für 2005 2,5 Milliarden Euro und ab 2006 4,2 Milliarden Euro über das Bundesversicherungsamt an die gesetzlichen Krankenkassen leistet. Die vom Jahr 2006 an vorgesehene Höhe der Zahlungen entspricht etwa 20 Prozent der gegenwärtigen Jahresumsätze der privaten Krankenversicherungsunternehmen. Gemäß § 220 Abs. 4 S. 1 SGB V sind ab 01.01.2004 die durch § 221 SGB V bewirkten Einsparungen in vollem Umfang für Beitragssatzsenkungen zu verwenden. Sinn dieser Bestim18
Siehe näher § 55 SGB V i. d. F. von Art. 1 Nr. 36 GMG. Siehe dazu etwa EuGH, Urt. v. 24.10.2002 – Rs. C-82/01 P (Aéroports de Paris), Slg. 2002, I-9297, Rn. 79 m. w. N.; Sodan, Helge, Europäisches Gemeinschaftsrecht und deutsches Krankenversicherungsrecht – Zugleich eine Besprechung des „Festbetragsurteils“ des Europäischen Gerichtshofes vom 16.3.2004, in: GesR 2005, 145 (146 ff.). 20 Vgl. Baron von Maydell, Bernd, Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung unter besonderer Berücksichtigung des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Sodan (Hrsg.), Krankenkassenreform und Wettbewerb. Vorträge im Rahmen der 2. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 3. und 4. Juli 2003, 2005, S. 67 (74). 19
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mung ist ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs, dass die Bundeszuweisungen „nicht zur Auffüllung der Rücklagen und zum Schuldenabbau verwendet werden“21. Damit sind die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet, den vollen Umfang dieser Bundeszuschüsse unmittelbar auf den Beitragssatz umzulegen, der entsprechend verringert werden muss. Damit entsteht direkt ein Beitragssatz-Gefälle zwischen gesetzlichen und privaten Krankenversicherungsträgern. Ein Ermessensspielraum der gesetzlichen Krankenkassen zur Verwendung dieser Bundeszuschüsse existiert insoweit nicht. Dies führt jedoch dazu, dass die steuerfinanzierten Bundeszuschüsse unmittelbar und vollumfänglich den Wettbewerb zwischen gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungsunternehmen hinsichtlich des Beitragssatzes beeinflussen.22 Von einer Chancengleichheit in einem Wettbewerb zwischen GKV und PKV hinsichtlich der Versorgung mit Zahnersatz konnte also schwerlich ausgegangen werden. Der Europäische Gerichtshof betont aber in ständiger Rechtsprechung, dass ein System unverfälschten Wettbewerbs, wie es der EGV vorsieht, nur gewährleistet werden kann, wenn die Chancengleichheit der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer sichergestellt ist. Mit der Verpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen zum Angebot einer Zahnersatzversicherung als obligatorischer Satzungsleistung an ihre Versicherten wäre infolge des den gesetzlichen Krankenkassen eingeräumten Sozialversicherungsmonopols eine Lage geschaffen worden, in der diese Kassen ihre marktbeherrschende Stellung missbräuchlich hätten ausnutzen können. Davon wären auch private Versicherungsgesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten betroffen gewesen, welche sich in Deutschland betätigen. Als Folgen hätten sich Verstöße gegen Art. 86 Abs. 1 und Art. 82 EGV ergeben. Eine Ausnahme der Anwendung des Wettbewerbsrechts gemäß Art. 86 Abs. 2 EGV ließe sich hier nicht begründen: Es ist nicht ersichtlich, inwiefern im Hinblick auf die Zahnersatzversicherung durch die Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts auf die GKV die Erfüllung der den gesetzlichen Krankenkassen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert werden könnte. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Anträge der beiden Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag aus dem Jahr 2003 vorsahen, nach einer Ausgliederung der Versorgung mit Zahnersatz aus der GKV im Hinblick auf das Zahnersatzrisiko eine private Pflichtversicherung zu regeln.23 Deren Realisierung hätte für Vertragszahnärzte im Hin21
BT-Drucks. 15/1525, S. 138. Siehe zu den verfassungsrechtlichen Einwänden Sodan, Helge, Die gesetzliche Krankenversicherung nach dem GKV-Modernisierungsgesetz – Zehn Thesen zur Gesundheitsreform, in: GesR 2004, 305 (308). 23 Siehe den Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, Andreas Storm, Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU „Für ein freiheitliches, humanes Gesundheitswesen – Gesundheitspolitik neu denken und gestalten“ vom 17.06.2003, BT-Drucks. 15/1174, S. 9 f., sowie den Antrag der Abgeordneten Dieter Thomae, Detlef Parr, Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Frak22
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blick auf ihre Einbindung als Leistungserbringer in die GKV wohl den „Einstieg in den Ausstieg“ bedeutet. III. Zur Rechtfertigung des Sachleistungsprinzips Für die zukünftige Entwicklung der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung von erheblicher Bedeutung ist auch die Grundsatzfrage nach Kostenerstattung oder Sachleistung als Gestaltungselement. Das Sachleistungsprinzip wird „als tragende Säule, als Ursache für das Entstehen von Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Kassen“ angesehen.24 Es stellt in diesem Verständnis eine notwendige Bedingung für die Existenz des Vertrags(zahn)arztrechts an sich dar. Nach den einschlägigen sozialgesetzlichen Bestimmungen25 müssen die Krankenkassen den Versicherten (zahn)ärztliche Behandlung zur Verfügung stellen; insoweit hat der Gesetzgeber eine staatliche Aufgabe begründet.26 Die Krankenkassen sind nur ausnahmsweise zur Erbringung ärztlicher Eigenleistungen ermächtigt (vgl. § 76 Abs. 1 S. 1 und § 140 SGB V). Sie bedienen sich damit regelmäßig zur Erfüllung ihrer Verschaffungspflicht der Vertrags(zahn)ärzte als Freiberufler. Dieser Umstand führt zu einem „Vertrags(zahn)arztsystem“, welches die Beziehungen der Krankenkassen zu Ärzten sowie Zahnärzten und damit u. a. deren Verpflichtung zur Teilnahme an der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung regelt. Das Sachleistungsprinzip hat auf diese Weise insbesondere Regelungen der Berufsausübung von Ärzten und Zahnärzten mit teilweise erheblicher Wirkungsintensität zur Folge. Besonders schwerwiegend unter dem Gesichtspunkt der Berufsfreiheit ist das Erfordernis einer eigenständigen Zulassung als Vertrags(zahn)arzt (vgl. § 95 SGB V). Dieses wirkt sich für einen niedergelassenen Arzt oder Zahnarzt regelmäßig wie eine zur Approbation hinzutretende zweite Berufszulassung aus. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung sind nämlich in den Versicherungsschutz durch die GKV einbezogen.27 Das Sachleistungsprinzip bedarf aus den genannten verfassungsrechtlichen Gründen einer Rechtfertigung. Es muss erforderlich sein, um der Verfassung gerecht zu werden.
tion der FDP „Mut zur Verantwortung – für ein freiheitliches Gesundheitswesen“ vom 18.06.2003, BT-Drucks. 15/1175, S. 4. 24 So Schneider, Günther, Handbuch des Kassenarztrechts, 1994, Rn. 1171. 25 Siehe § 2 Abs. 1 S. 1, § 11 Abs. 1 Nr. 4, § 13 Abs. 1, § 27 Abs. 1 S. 1 und 2 sowie § 28 SGB V. 26 Sodan (Fn. 3), S. 131 ff. 27 Siehe die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung veröffentlichte Monatsstatistik der gesetzlichen Krankenversicherung über Mitglieder, mitversicherte Angehörige, Beitragssätze und Krankenstand für Dezember 2004, www. bmgs.bund.de/downloads/KM1_Juli_Dez_04.pdf.
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Bei der Untersuchung der Frage nach der Erforderlichkeit des Sachleistungsprinzips ist als Alternative das so genannte Kostenerstattungsprinzip zu erörtern, welches für die PKV charakteristisch ist. Danach schuldet die Krankenversicherung den Versicherten lediglich die Erstattung der durch die Inanspruchnahme (zahn)ärztlicher Behandlung entstandenen Kosten. Eine generelle Anwendung des Kostenerstattungsprinzips auf die GKV hätte zur Folge, dass die Krankenkassen die (zahn)ärztliche Behandlung ihren Versicherten nicht mehr zur Verfügung zu stellen hätten; insoweit bestünde dann keine staatliche Aufgabe mehr. Aufgrund des GMG regelt nunmehr § 13 Abs. 2 S. 1 SGB V, dass Versicherte anstelle der Sach- oder Dienstleistungen Kostenerstattung wählen können. § 13 Abs. 2 S. 2 SGB V schreibt allerdings vor, dass die jeweilige gesetzliche Krankenkasse ihre Versicherten vor ihrer Wahl zu beraten hat. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erahnen, welchen Rat die Krankenkasse erteilen wird. Erhebliche Zweifel daran, dass die Versicherten in nennenswerter Zahl von dieser Wahlmöglichkeit Gebrauch machen werden, bestehen auch aus folgendem Grund: Die Nutzung des Sachleistungssystems ermöglicht einem sozialversicherten Patienten die Inanspruchnahme vertrags(zahn)ärztlicher Behandlung schon mit der Aushändigung der Krankenversichertenkarte und der Entrichtung der so genannten Praxisgebühr. An der Abrechnung der durch seine Behandlung entstandenen Kosten ist der Patient dann nicht mehr beteiligt. Bei seiner Krankenkasse muss er keinen Erstattungsanspruch stellen. Eine solche Verfahrensweise dürfte von den meisten Versicherten als bequem und damit dem Erstattungsprinzip vorzugswürdig empfunden werden. Diese Annahme wird durch Ergebnisse früherer Erprobungsregelungen gestützt. Es ist sehr zweifelhaft, ob die in Rechtsprechung und Literatur zugunsten des Sachleistungsprinzips angeführten Ziele als Rechtfertigung dienen können. Sie dürften sich mindestens ebenso wirksam durch ein System der Kostenerstattung verfolgen lassen. So mag das Ziel, den Versicherten eine ausreichende Zahl von Ärzten und Zahnärzten sämtlicher Fachrichtungen zur Verfügung zu stellen,28 in früheren Entwicklungsphasen der GKV ein berechtigtes Anliegen zur Rechtfertigung des Sachleistungsprinzips gewesen sein. Unter der heutigen Geltung der so genannten Bedarfszulassung von Vertrags(zahn)ärzten29 wird man davon nicht mehr ausgehen können. Ebensowenig zeitgemäß ist der Gesichtspunkt, durch die „Unmittelbarkeit der Bedarfsbefriedigung“30 die angebliche „Hemmschwelle“ von Versicherten her28 So Natter, Eberhard, Der Arztvertrag mit dem sozialversicherten Patienten. Zugleich ein Beitrag zum Naturalleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1987, S. 66. 29 Siehe dazu näher Sodan (Fn. 3), S. 221 ff. 30 So BSGE 55, 188 (193); Zacher, Hans F./Friedrich-Marczyk, Marion, Krankenkassen oder nationaler Gesundheitsdienst?, 1980, S. 28 f. Vgl. auch BGHZ 82, 375 (386).
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abzusetzen, versicherungsmäßige Leistungen überhaupt in Anspruch zu nehmen31. Wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vor einigen Jahren zutreffend feststellte, hat sich das Armutsproblem im Vergleich zum ausgehenden 19. Jahrhundert „grundlegend geändert, der Wohlstand und das durchschnittliche Bildungsniveau sind gestiegen“32. Im Bereich der PKV ist es üblich, dass die Versicherungsunternehmen ihre Erstattungen auch auf bereits unbezahlte Rechnungen von Ärzten und Zahnärzten leisten. Diese Rechnungen werden von den versicherten Mitgliedern regelmäßig erst nach Eingang der Erstattungsbeträge beglichen. Eine entsprechende Vorschusspflicht der gesetzlichen Krankenkasse ließe sich gesetzlich ebenso regeln wie eine Pflicht zur Kostenübernahme im Falle aufwendiger Behandlungen, wie sie vor allem zumeist mit einer Krankenhauseinweisung verbunden sind.33 Zum Schutz einkommensschwacher Bevölkerungsteile vor unangemessen hoher finanzieller Vorleistung ist das Sachleistungsprinzip also nicht geboten. Der Hauptgrund für das Festhalten am Sachleistungsprinzip dürfte allerdings staatlicherseits in der Zielsetzung liegen, den finanziellen Aufwand für die GKV durch unmittelbare Einflussnahme der Krankenkassen auf die Festlegung zu gewährender Leistungen und die diesbezüglichen Vergütungen zu steuern.34 Entgegen einer verbreiteten Auffassung bedarf es aber zur Kostensteuerung nicht des Sachleistungsprinzips. Dieses gefährdet vielmehr gerade die Finanzierbarkeit der GKV. Es muss sogar als wesentliche Ursache für deren Probleme angesehen werden. Es bietet nämlich den Versicherten keine wesentlichen Anreize für eine sparsame Inanspruchnahme der Leistungen. Vielmehr fördert es die Bereitschaft der Versicherten zu der aus ihrer Sicht optimalen Nutzung der – vielfach hohen – Versicherungsbeiträge. Die generelle Einführung des Kostenerstattungsprinzips aufgrund von Rechnungen der Leistungserbringer in Verbindung mit Sparsamkeitsanreizen wie der Regelung von Selbstbehalten der Versicherten (§ 53 SGB V) und Beitragsrückzahlungen (§ 54 SGB V) vermag der durch das Sachleistungsprinzip begünstigten „Null-Tarif-Mentalität“ vieler Versicherter entgegenzuwirken. Damit kann die Verwirklichung der Zielsetzung in § 1 S. 2 SGB V gefördert werden: Danach sollen die Versicherten u. a. „durch eine gesundheitsbewußte Lebensführung“ dazu beitragen, „den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden“. „Wer sein Leben nicht gesundheitsbewußt führt, wird seiner Eigenverantwortung nicht gerecht.“35 31 Siehe dazu BSGE 42, 117 (119), unter Bezugnahme auf das Reichsversicherungsamt, AN 1914, 379 (380). 32 Siehe das Jahresgutachten 1992/93, BT-Drucks. 12/3774, S. 226 (Nr. 388). 33 Vgl. dazu Hertwig, Stefan, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, 1989, S. 127; Schulin, Bertram, Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Probleme, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1994, § 6 Rn. 110. 34 Vgl. etwa BSGE 69, 170 (176).
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Das Kostenerstattungsprinzips hat im Übrigen auch den Vorteil, dass die Versicherten durch den Erhalt von Rechnungen eine gewisse Kontrolle ausüben können, ob die abgerechneten Leistungen auch erbracht worden sind. Eine wesentliche Schwäche des Sachleistungsprinzips liegt hingegen gerade darin, dass der einzelne Versicherte regelmäßig von dem ihn betreffenden Abrechnungsvorgang keine Kenntnis erlangt. Nach den vorangegangenen Überlegungen dürfte also eine Rechtfertigung für das im 19. Jahrhundert zugunsten eines engen Kreises Schutzbedürftiger36 geschaffene Sachleistungsprinzip in der GKV jedenfalls heute nicht mehr bestehen. Damit erweist sich auch die Aufrechterhaltung der diesbezüglichen staatlichen Aufgabe als nicht erforderlich. Infolgedessen ist die vom Bundessozialgericht aufgestellte These verfehlt, das Sachleistungsprinzip sei „gleichsam“ ein „übernormatives Grundprinzip“ des Rechts der GKV37. Die Existenz dieser Sozialversicherung hängt nicht vom Sachleistungsgrundsatz ab. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings das Sachleistungsprinzip bislang verfassungsrechtlich nicht in Frage gestellt. In seinem Urteil aus dem Jahr 2002 zu den Festbeträgen für Arzneimittel formuliert der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sogar: „Eine Abkehr vom Sachleistungsprinzip wäre von so erheblicher Tragweite für das System der gesetzlichen Krankenversicherung, dass nur der Gesetzgeber selbst sie verantworten könnte.“38 Noch aber stößt die Beseitigung des Sachleistungsprinzips auf massiven ideologischen Widerstand. Dabei müsste die Abschaffung dieses Prinzips zwangsläufig zu einer umfangreichen Deregulierung führen – und zwar in einem Rechtsgebiet, das angesichts der „Vielfalt der Normsetzungsorgane, Regelungsarten und Regelungskompetenzen“ schon längst durch Chaos39 und nicht mehr durch ein System gekennzeichnet ist. Mit der Deregulierung ginge zugleich eine Liberalisierung einher. Ärztliche und zahnärztliche Freiberuflichkeit hätte wieder eine Chance.
35 Borchert, Günter, Die Rolle der Patienten und Versicherten im neustrukturierten GKV-System, in: Heinze/Schmitt (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Gitter zum 65. Geburtstag, 1995, S. 133 (135). 36 Siehe dazu Sodan (Fn. 3), S. 323; ders., Die „Bürgerversicherung“ als Bürgerzwangsversicherung, in: ZRP 2004, 217 (218 f.). 37 So BSGE 69, 170 (173). 38 BVerfGE 106, 275 (309). 39 So Schulin, Bertram, Anm. zum Urt. des BSG v. 01.10.1990 – 6 RKa 30/89 (= BSGE 67, 256 ff.), in: JZ 1992, 419.
Zukunftsperspektiven der zahnärztlichen Versorgung Verfassungsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten des Sozialgesetzgebers unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Zahnmedizin Von Thomas Muschallik I. Problemstellung In der Begründung zum GKV-Gesundheitsreformgesetz 20001 finden sich folgende Ausführungen: „Aus der Gesamtheit dieser strukturell wirksamen Maßnahmen ergeben sich Einsparpotentiale, die sich mittelfristig schrittweise auf eine Größenordnung von mehreren Milliarden DM aufbauen können. Durch die Erschließung dieser Einsparpotentiale können auch die Mehrbelastungen, die mit dem demographischen Wandel und dem medizinisch-technischen Fortschritt verbunden sind, bei stabilem Beitragssatzniveau aufgefangen werden.“ Diese Zuversicht des seinerzeitigen Sozialgesetzgebers hat sich allerdings nicht in vollem Umfange als berechtigt herausgestellt, denn bereits am 16.06. 20032 wurde ein weiterer Gesetzentwurf zur Novellierung des Rechtes der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), diesmal unter dem Namen „Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz (GMG)“, in den Deutschen Bundestag eingebracht. Zur Begründung dieses Gesetzentwurfes wurde unter anderem ausgeführt: „Der medizinische Fortschritt, der sich für viele Menschen positiv auswirken kann, wird tendenziell die Kosten weiter nach oben treiben. Auch die demographische Entwicklung stellt die gesetzliche Krankenversicherung vor große Herausforderungen: Die Zahl der älteren Bürgerinnen und Bürger steigt weiter an, die im Durchschnitt weniger einzahlen und mehr Leistungen in Anspruch nehmen müssen.“
1 Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 15.12.1999, BT-Drucks. 14/2369. 2 BT-Drucks. 15/1170.
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Diese Entwicklung stellt innerhalb des Sozialrechtes allerdings kein Novum, sondern vielmehr die Fortsetzung einer inzwischen bereits traditionellen Entwicklung dar, bei der die mit großen Hoffnungen verabschiedeten Reformgesetze in der Regel die darin formulierten Zielsetzungen deutlich verfehlen und daher bereits nach wenigen Jahren oder sogar Monaten durch weitere Maßnahmen zur „Gesundheitsreform“ ergänzt oder ersetzt werden müssen. Infolge dieser Entwicklung sind lediglich in der Zeit nach der Zusammenfassung des Rechtes der GKV im SGB V durch das Gesundheits-Reformgesetz (GRG) vom 20.12.19883 folgende grundlegende Reformgesetze in Kraft getreten: – Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz, GSG) vom 21.12.19924; – Gesetz zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (Beitragsentlastungsgesetz, BeitrEntlG) vom 01.11.19965; – Achtes Gesetz zur Änderung des SGB V (Achtes SGB V-Änderungsgesetz, 8. SGB V-ÄndG) vom 01.11.19966; – Erstes Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (1. GKV-Neuordnungsgesetz, 1. NOG) vom 23.06.19977; – Zweites Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (2. GKV-Neuordnungsgesetz, 2. NOG) vom 23.06.19978; – Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz, GKV-SolG) vom 19.12.19989; – Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000) vom 22.12.199910; – Gesetz zur Rechtsangleichung in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 22.12.199911. Primäres Ziel des Sozialgesetzgebers war es dabei jeweils, durch die verschiedenen Maßnahmen eine überproportionale Steigerung der Ausgaben der GKV und damit einhergehend Beitragssatzsteigerungen sowie die damit verbun3
BGBl. I, 2477. BGBl. I, 2266. 5 BGBl. I, 1631. 6 BGBl. I, 1559. 7 BGBl. I, 1518. 8 BGBl. I, 1520. 9 BGBl. I, 3853. 10 BGBl. I, 2626. 11 BGBl. I, 2657. 4
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dene Belastung des Arbeitsmarktes durch eine Erhöhung der Lohnnebenkosten zu verhindern. Nicht zu Unrecht wurden die entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen zu Beginn dieser Entwicklung auch offen als „Kostendämpfungsgesetze“ bezeichnet, während sich später euphemistischere Namensfindungen eingebürgert haben. Ursache des zunehmenden Kostendrucks der GKV war aber nicht nur die oben bereits angesprochene demographische Entwicklung und Mehrausgaben infolge des medizinischen Fortschritts, sondern auch Maßnahmen des Sozialgesetzgebers selber, indem dieser den Leistungsumfang der GKV schrittweise immer mehr ausgedehnt hat. Dies trifft auch auf den hier in Frage stehenden Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung zu. Während sich zunächst die Leistungen der GKV in diesem Bereich im Wesentlichen auf konservierend-chirurgische Maßnahmen beschränkten, wurde auf der Grundlage einer entsprechenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, nach der das Fehlen eines Zahnes eine im Rahmen der GKV behandlungsbedürftige Erkrankung darstellt12 sowie zum Krankheitswert von Zahn- oder Kieferfehlstellungen13, die Versorgung mit Kronen, Brücken und herausnehmbaren Prothesen sowie die kieferorthopädischen Behandlungen in den Leistungsumfang der GKV aufgenommen14. Schrittweise erfolgten anschließend weitere Leistungsausweitungen z. B. hinsichtlich der gruppen- und individualprophylaktischen Leistungen15, der Einbeziehung besonders aufwendiger Zahnfüllungen (z. B. Goldinlays) in eine Mehrkostenregelung16 und schließlich sogar eine Einbeziehung der besonders aufwendigen implantologischen Leistungen sowie der darauf aufbauenden Suprakonstruktionen in bestimmten Ausnahmeindikationen bzw. Ausnahmefällen17. 1. Bisherige Maßnahmen des Gesetzgebers Die Maßnahmen des Sozialgesetzgebers zur Verhinderung von Beitragssatzsteigerungen zielen dabei traditionell im Wesentlichen auf eine Begrenzung bzw. Absenkung der Vergütungen der Leistungserbringer bei unverändertem oder sogar gesteigertem Leistungsniveau18. Dies führte zunächst in den Jahren 1981 und 1986 zu zwei so genannten „Umstrukturierungen“ des Einheitlichen 12 Breithaupt 1974, 653; vgl. dazu Hasselwander, Norbert, Versorgung mit Zahnersatz als Vertragsgegenstand zwischen kassenzahnärztlicher Vereinigung und Krankenkasse, in: NJW 1974, 1447; Maunz, Theodor, Rechtsgutachten über Rechtsfragen des Bundesmantelvertrages Zahnärzte (1962 und 1974), in: ZM 1977, 615, 667. 13 BSGE 35, 10. 14 §§ 29, 55 SGB V. 15 §§ 21, 22 SGB V. 16 § 28 Abs. 2 SGB V. 17 § 28 Abs. 2, § 30 Abs. 1 S. 5 SGB V a. F.
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Bewertungsmaßstabes für die zahnärztlichen Leistungen (BEMA) mit der erklärten Zielsetzung und dem Ergebnis einer Reduzierung der Vergütungen insbesondere in den zuvor neu eingeführten Leistungsbereichen der zahnprothetischen und der kieferorthopädischen Versorgung19. Durch das Gesundheitsstrukturgesetz des Jahres 1992 wurde mit dem ausdrücklichen Ziel einer „Sofortbremsung“ im Bereich der GKV20, in § 85 Abs. 3a bis c SGB V eine so genannte „Budgetierung“ der vertrags(zahn)ärztlichen Gesamtvergütungen vorgenommen21. Ferner wurden in den §§ 101 ff. SGB V die Bestimmungen zu den bereits bisher bestehenden Zulassungsbeschränkungen für Vertrags(zahn-)ärzte wesentlich verschärft und in diesem Zusammenhang in § 95 Abs. 7 SGB V eine absolute Altersgrenze von 68 Jahren für die vertrags(zahn)ärztliche Tätigkeit eingeführt22. In § 85 Abs. 2b SGB V wurden die Vergütungen für zahnärztliche Leistungen bei Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und kieferorthopädischer Behandlung um 10% abgesenkt23 und in § 85 Abs. 2 S. 6 SGB V a. F. die vertraglich vereinbarte Vergütung für die Aufstellung eines zahnprothetischen Heil- und Kostenplanes schlicht ausgeschlossen. Speziell für den Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung wurde in § 85 Abs. 4b bis f SGB V ein so genannter „degressiver Punktwert“ eingeführt, der den Vergütungsanspruch des Vertragszahnarztes bei der Überschreitung bestimmter Punktmengengrenzen um 20% bis 40% reduziert24. Die generelle Budgetierung der Gesamt18 Zur grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit solcher Maßnahmen vgl. z. B. BVerfGE 70, 1. 19 Vgl. dazu Liebold, Rolf/Raff, Alexander/Raff, Horst/Wissing, Karl-Heinz, Kommentar zum Bema-Z, 2002 ff., Bd. I, Einführung 2.3, 2.4. 20 Vgl. zum GSG insgesamt z. B. Zipperer, Manfred, Wichtige strukturelle Änderungen für Ärzte, Zahnärzte und Versicherte im Gesundheitsstrukturgesetz, in: NZS 1993, 95; Wigge, Peter, Juristische Aspekte der Neu- und Umgestaltung des Kassenarztrechts durch das GSG, in: SGb 1993, 158; Tiemann, Burkhard, Wandel vom Kassenarzt zum Vertragsarzt – Definition oder Statusänderung?, in: VSSR 1994, 405; Funk, Winfried, Auswirkungen des GSG – Die angemessene Vergütung ärztlicher Leistungen – Quadratur des Kreises?, in: MedR 1994, 314. 21 Vgl. dazu BSG, SozR 3-2500 § 85 Nr. 17. 22 Vgl. dazu z. B. BSG, NJW 1998, 1776; BVerfG, NZS 1998, 285; Rieger, HansJürgen, Fortführung der Arztpraxis nach GSG – verfassungsrechtliche Aspekte, Zulassungsverfahren, Verkehrswert der Praxis und Altersbegrenzung im Lichte der Berufsfreiheit, in: MedR 1994, 213; Pitschas, Rainer, Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Kassen- und Vertragsarztrecht, in: Wissing/Umbach (Hrsg.), 40 Jahre Landessozialgerichtsbarkeit, 1994, S. 217; Schiller, Herbert, Altersgrenze für das Enden der Zulassung als Vertragsarzt, in: MedR 1998, 288. 23 BSG, SGb 1996, 537; BSGE 78, 185; BSG, SozR 3-2500 § 75 Nr. 9; Dudda, Frank, Vergütungsanpassungen bei Zahnersatz und kieferorthopädischer Behandlung unter Berücksichtigung vorgreiflicher vertraglicher Regelungen, in: NZS 1996, 211; Flossmann, R./Baumert, B., Vergütungsanpassungen bei Zahnersatz und kieferorthopädischer Behandlung unter Berücksichtigung vorgreiflicher vertraglicher Regelungen, in: NZS 1996, 421. 24 Vgl. hierzu z. B. BSGE 80, 223; BSG, USK 98151; MedR 2000, 49; NZS 2003, 333; Urt. v. 21.05.2003, B 6 KA 24/02 R; BVerfG, Beschl. v. 21.06.2001, 1 BvR
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vergütungen wurde zunächst in Art. 15 GKV-SolG25 fortgeführt. Durch die Neufassung der Bestimmungen zur Beitragssatzstabilität in § 71 SGB V durch das GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 ist zwischenzeitlich der absolute Vorrang des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität vor allen anderen Kriterien der Vergütungsbemessung im Sinne von § 72 Abs. 2 SGB V festgeschrieben, womit nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die Verpflichtung der Gesamtvertragspartner verbunden ist, unabhängig von dem jeweiligen Vergütungssystem in jedem Falle eine feste Obergrenze für die Gesamtvergütungen zu vereinbaren26. In den zurückliegenden Diskussionen sozialpolitischer Reformen haben demgegenüber effektive Eingrenzungen des Leistungskataloges der GKV, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung finden sich zwar teilweise leistungseingrenzende Bestimmungen im SGB V27, wobei diese aber keine Zurücknahme des zuvor ausweitend gesetzlich geregelten Leistungsumfanges darstellen, sondern im Wesentlichen eine klarstellende Reaktion des Gesetzgebers auf Leistungsgewährungen der gesetzlichen Krankenkassen über den gesetzlich geregelten Leistungsumfang hinaus darstellen. In den Konsensverhandlungen zwischen der Regierungskoalition und den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP im Deutschen Bundestag hinsichtlich eines GMG sind allerdings vor dem Hintergrund der Zielsetzung einer Kostenentlastung der GKV im Jahre 2004 um ca. 20 Milliarden Euro durchaus auch nicht unerhebliche Leistungseingrenzungen in der GKV in Betracht gezogen worden. In der Diskussion war dabei unter anderem eine Überführung des bisherigen Leistungsbereiches der zahnmedizinischen Behandlung bzw. zumindest der zahnprothetischen Versorgung in eine privatrechtlich abzusichernde Eigenverantwortung des Versicherten. Diese Zielsetzungen sind aber in der am 01.01.2004 in seinen wesentlichen Teilen in Kraft getretenen Fassung des GMG nicht erreicht worden. Ausweislich der Einschätzung der damit verbundenen finanziellen Auswirkungen28 werden auf dieser Grundlage im Jahre 2004 lediglich Einsparungen in Höhe von ca. 10 Milliarden Euro erwartet. Die Neuregelung der Bestimmungen zur Versorgung mit Zahnersatz in den §§ 55 ff. SGB V 1762/00; Wigge, Peter, Der degressive Punktwert in der vertragszahnärztlichen Versorgung, in: NZS 1995, 529; Dahm, Franz-Josef, Gesetzliche Grundlagen der Honorarverteilung – Verhältnis zur Bedarfsplanung, in: MedR 96, 148. 25 SG Frankfurt a. M., Urt. v. 30.01.2002, S 27 KA 4456/00; SG Düsseldorf, Urt. v. 20.03.2002, 2 KA 145/00. 26 BSG, SGb 2001, 679 mit Anmerkung von Daubenbüchel, Rainer, SGb 2001, 689 ff.; Liebold/Raff/Raff/Wissing (Fn. 19), A. 10.9. 27 So z. B. in § 28 Abs. 2 S. 2 und 3, 8 und 9 SGB V hinsichtlich der ausreichenden und zweckmäßigen Versorgung mit Zahnfüllungen, hinsichtlich funktionanalytischer und funktionstherapeutischer Maßnahmen sowie implantologischer Leistungen. 28 BT-Drucks. 15/1525, S. 171.
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in der ab 01.01.2005 nach dem GMG geltenden Fassung sehen auch weiterhin einen im Wesentlichen unveränderten Leistungsanspruch der Versicherten im Rahmen eines befundbezogenen Festzuschusssystems vor, die die Krankenkassen als Satzungsleistung vorzusehen haben, auf die aber im Wesentlichen weiterhin die Regularien der vertragszahnärztlichen Versorgung anzuwenden sind und für die gemäß § 58 Abs. 1 SGB V a. F. die Mitglieder den Beitrag alleine zu tragen haben. Im Übrigen beschränkt sich das GMG bei den Leistungseinschränkungen auf vergleichsweise geringfügige Einschränkungen des Leistungskataloges z. B. hinsichtlich der Begrenzung des Leistungsanspruches bei Sehhilfen in § 33 Abs. 1 SGB V und hinsichtlich der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel in § 34 Abs. 1 SGB V. 2. Position der Zahnärzteschaft In der zurückliegenden Reformdebatte hat die Zahnärzteschaft insofern eine Sonderposition eingenommen, als diese niemals die Forderung erhoben hat, dauerhaft eine Beibehaltung oder sogar eine Ausweitung des Leistungsumfanges der GKV innerhalb eines Systems der vertragszahnärztlichen Versorgung dadurch zu ermöglichen, dass Beitragssatzerhöhungen oder entsprechende Steigerungen von Zuzahlungen der Versicherten in Kauf genommen würden. Vielmehr ist insbesondere von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) bereits im Jahre 198329 in Grundsätzen zur Gesundheits- und Sozialpolitik unter anderem die Forderung erhoben worden, den Leistungskatalog für den zahnärztlichen Bereich auf eine Grundsicherung zu beziehen, wobei eine über die Grundversorgung hinausgehende Zusatzversorgung vom Versicherten im Einzelfalle privat abgesichert werden sollte. Diese Forderungen sind im Jahre 1990 durch einen Beschluss der Vertreterversammlung der KZBV zur Weiterentwicklung der GKV30 erneuert und konkretisiert worden. Im Jahre 1995 hat die Vertreterversammlung der KZBV ein eigenes Konzept der Vertrags- und Wahlleistungen vorgelegt31, das im Rahmen der Vertragsleistungen feste Zuschüsse der Krankenkassen vorsah, die dem Versicherten auch bei der Inanspruchnahme von Wahlleistungen ungeschmälert zustehen sollten. Dieses Konzept wurde durch Beschlüsse der Vertreterversammlung der KZBV im Jahre 2000 zum „Selbstbestimmungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversi-
29 KZBV, Grundsätze der Kassenzahnärztlichen Bundesregierung zur Gesundheitsund Sozialpolitik, in: ZM 1983, 218; dazu Tiemann, Burkhard, KZBV-Grundsätze als Signal für die Wende, in: ZM 1983, 211. 30 KZBV, Weiterentwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: ZM 1990, 2434. 31 KZBV/BZÄK/FVDZ, Zum Reformkonzept Vertrags- und Wahlleistungen – Festzuschußmodell der KZBV bei der Versorgung mit Zahnersatz und Zahnkronen, in: ZM 1995, 458.
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cherung“32 und zur Einführung befundorientierter Festzuschüsse mit Kostenerstattung im Jahre 200233 weiter konkretisiert und verfeinert. Bei diesem eigenen Reformansatz ist die Zahnärzteschaft davon ausgegangen, dass auch dann, wenn der GKV weitere finanzielle Ressourcen zugeführt werden sollten, angesichts des medizinischen Fortschrittes und der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung dauerhaft der augenblickliche Leistungsanspruch der GKV, dem Versicherten für die insgesamt budgetierten Gesamtvergütungen einen unbegrenzten Leistungsanspruch unter Gewährleistung einer maximalen Qualität zur Verfügung zu stellen, nicht aufrecht erhalten werden kann. Vielmehr führt danach die Beibehaltung dieses Axioms bei tatsächlich steigendem Behandlungsbedarf und zumindest unterproportional steigenden finanziellen Ressourcen der GKV zu einer allein ökonomisch, nicht aber medizinisch orientierten Systemsteuerung, die zu unerwünschten und ungesteuerten Rationierungsmaßnahmen der Vertragszahnärzte führen muss. Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass jedenfalls im Bereich des Zahnersatzes eine teilweise finanzielle Eigenbeteiligung des Versicherten auf der Grundlage eines unterschiedlich ausgeprägten Kostenerstattungssystems seit langem bekannt und akzeptiert ist34, bietet sich eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes durch die Einführung eines generellen Kostenerstattungssystems auf der Grundlage befundorientierter Festzuschüsse in diesem Bereich besonders an. Dies auch deshalb, weil gerade der Bereich der zahnmedizinischen Behandlung gegenüber den übrigen, bisher zum Leistungsumfang der GKV zählenden Leistungsbereiche durch eine Reihe von Sonderentwicklungen geprägt ist, die eine differenzierte Bewertung nicht nur erlauben, sondern geradezu fordern. II. Zur Sondersituation der zahnmedizinischen Behandlung 1. Behandlungsanlässe in der zahnmedizinischen Versorgung Bereits berufsrechtlich35 beschränkt sich die Tätigkeit des Zahnarztes auf die Diagnostik und Therapie von Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen. Das Schwergewicht der im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung erbrachten Leistungen entfällt dabei auf die konservierend-chirurgischen Behandlungen, die im Jahre 2001 ca. 50% der Ausgaben der GKV für die zahnärztliche Be32 KZBV, Das Selbstbestimmungsprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: ZM 2000, 2832. 33 KZBV, Dringende Mahnung zu echten Reformen, in: ZM 2002, 2560. 34 Vgl. z. B. BSGE 25, 116; 35, 105; 45, 212; BSG, SozR 3-5555 § 12 Nr. 3; Bongen, Wolfgang/Kremer, Ralf, Zum Vergütungsanspruch des Kassenarztes bei Zahnersatz nach dem Gesundheits-Reformgesetz, in: NJW 1992, 723. 35 Vgl. § 1 Abs. 1 der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer i. d. F. vom 26.06.2002.
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handlung ausmachten, sowie auf den Bereich des Zahnersatzes, auf den etwa 30% der Gesamtausgaben in diesem Bereich entfielen.36 Auf die Parodontalbehandlung entfielen knapp 4% der Gesamtausgaben. Bei den therapierten Krankheitsbildern steht der Verlust von Zahnhartsubstanz infolge von Karieserkrankungen sowie die Behandlung entzündlicher Erkrankungen des Parodontiums, d. h. des Zahnhalteapparates, die ebenfalls zu Zahnverlusten führen können, im Vordergrund. Der Erhaltung oraler Strukturen kommt dabei eine zentrale Bedeutung für die damit im Zusammenhang stehenden Kau-, Sprech- und Schluckfunktionen zu. Zudem sind diese auch für die psychomentale Gesundheit von Bedeutung, da einem optisch ansprechenden Gebiss eine soziale Indikatorwirkung zukommt. Ohne diese Aspekte zu vernachlässigen kann jedoch konstatiert werden, dass sowohl Karies- als auch Parodontalerkrankungen in der Regel keine unmittelbar lebensbedrohenden Auswirkungen auf den Gesamtorganismus entfalten und in der Regel auch nicht in derartige Verlaufsformen münden. Zwar können auch Erkrankungen im Zahn-, Mund- und Kieferbereich einen lebensbedrohenden Verlauf nehmen. Dies gilt insbesondere für Neubildungen in diesem Bereich, die gegebenenfalls im Rahmen einer zahnärztlichen Untersuchung rechtzeitig erkannt und einer Behandlung zugeleitet werden können. Dabei handelt es sich jedoch um vergleichsweise seltene Ausnahmefälle, die nicht das Schwergewicht der vertragszahnärztlichen Versorgung bilden. Zudem sind gerade bei derart aggressiven Erkrankungsformen die Behandlungs- und Heilungschancen naturgemäß von einer möglichst frühzeitigen Erkennung der Erkrankung abhängig. Für eine frühzeitige Erkennung ist aber nicht ein möglichst umfassender Leistungskatalog der GKV im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung entscheidend, sondern vielmehr eine regelmäßige Inanspruchnahme präventiver Leistungsangebote durch den Versicherten. Die besonders im Bereich der Zahnmedizin allgemein anerkannte gesundheitspolitische Bedeutung präventiver Maßnahmen rechtfertigt daher noch nicht für sich alleine das augenblickliche, umfassende Leistungsniveau der GKV und das damit verbundene Ausgabenvolumen. Vielmehr eröffnet die vergleichsweise geringe Inzidenz schwerwiegender oder gar lebensbedrohlicher Erkrankungen im Zahn-, Mundund Kieferbereich dem Sozialgesetzgeber bei der Konzentration der begrenzten finanziellen Ressourcen der GKV auf die Absicherung von schwerwiegenden Risiken einen weiteren Gestaltungsspielraum als in vielen anderen Versorgungsbereichen. 2. Besondere Verhaltensabhängigkeit des Erkrankungseintrittes Bisher wird im Allgemeinen hinsichtlich des Leistungsanspruches des GKVVersicherten nicht danach differenziert, ob sich die jeweiligen GKV-Leistungen 36
KZBV-Jahrbuch 2002, Abb. 2.11, 2.12.
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auf die Behandlung von Erkrankungen beziehen, die schicksalhaft eingetreten sind (z. B. in der Folge einer genetischen Determinierung), bzw. die mit einem bestimmten Verhalten des Versicherten im Zusammenhang stehen. Weder erfolgt eine Förderung eines besonders präventiven Verhaltens, z. B. durch die Gewährung von Beitragsnachlässen,37 noch wird ein besonders risikoreiches Verhalten durch entsprechende Risikozuschläge bei der Beitragsbemessung berücksichtigt, wie dies im Bereich der privaten Krankenversicherung (PKV) z. B. bei bekannten Vorerkrankungen seit langem der Fall ist.38 Im Bereich der Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen ist ein enger Zusammenhang zwischen dem Erkrankungseintritt und dem Ernährungs- und Mundhygieneverhalten des Einzelnen nachweisbar. Dies gilt insbesondere hinsichtlich einer mangelhaften Mundhygiene, einem erhöhten Zuckerkonsum und dem Eintritt von Karieserkrankungen. Karies, also der fäulnisbedingte Verlust von Zahnhartsubstanz tritt in der Regel nicht schicksalhaft ein, sondern setzt eine längerfristige, erhebliche Schädigung der Zahnhartsubstanz durch Säureeinwirkungen voraus. Diese ergibt sich in der Regel nicht durch die normale Nahrungsaufnahme, sondern als Stoffwechselprodukt bei einer längerfristigen bakteriellen Besiedelung des Mundbereiches. Diese ist wiederum in erheblichem Umfange nur dann möglich, wenn sich auf den Zahnoberflächen über einen längeren Zeitraum ein entsprechender Nährboden in Form von Zahnbelag (Plaque) befindet. Dieser wiederum kann sich nur bilden, wenn längere Zeit keine manuelle Säuberung der Zahnoberflächen erfolgt ist. In diesem Zusammenhang kommt auch dem ständigen Zuführen von Fluoriden zur Remineralisierung der Zahnhartsubstanz eine wesentliche Bedeutung zu. Der Erkrankungseintritt kann durch die Zuführung von Fluoriden in geeigneter Form, sei es durch Tabletten, Bestandteil von Zahnpasten oder -gelees, bzw. durch professionelle, lokale Fluoridierungsmaßnahmen (z. B. durch Fluorid-Lacke) verhindert bzw. in ihrer Inzidenz deutlich reduziert werden. Auch diese Maßnahmen setzen jedoch ein entsprechendes präventives Verhalten des Einzelnen, sei es in der Form einer individuellen Mundhygiene oder der Inanspruchnahme prophylaktischer Leistungen durch den Zahnarzt, voraus. Anders als in der weit überwiegenden Mehrzahl aller übrigen Erkrankungen lässt sich im Bereich von Karies und Parodontalerkrankungen ein unmittelbarer, kausaler Zusammenhang zwischen einem Risikoverhalten des Einzelnen im Sinne einer mangelhaften Prävention und dem Eintritt bzw. der weiteren Ent37 Im Rahmen der Diskussion über eine Strukturreform der GKV im Jahre 2003 wurde aber bereits von einzelnen Krankenkassen die Einführung entsprechender Beitragsprämien z. B. für Versicherte, die ihr Übergewicht abbauen oder das Rauchen nachweislich einstellen, in Erwägung gezogen. 38 Für den Bereich der GKV sind in der Vergangenheit aber verschiedentlich Forderungen laut geworden, z. B. Leistungen, die in der Folge von Unfällen in Risikosportarten erforderlich werden, aus dem Versicherungsschutz auszugliedern.
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wicklung einer Erkrankung feststellen. Diese Erkrankungsformen können daher in der Regel als vermeidbar und bei ihrem Eintritt in der Regel als verhaltensbedingt qualifiziert werden. Diese Zusammenhänge sind in den letzten Jahrzehnten nicht nur wissenschaftlich anerkannt, sondern durch geeignete Aufklärungsmaßnahmen auch den GKV-Versicherten verdeutlicht worden. Während sich die Leistungen der GKV zunächst wesentlich auf den kurativen Bereich beschränkt haben, sind in der Vergangenheit vermehrt auch präventive Leistungen in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen worden. Im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung gilt dies insbesondere für die Maßnahmen der Gruppen- und Individualprophylaxe in den §§ 21, 22 SGB V. Diese Bestimmungen wurden durch das Gesundheits-Reformgesetz (GRG)39 im Jahre 1989 erstmalig in das SGB V aufgenommen. Ausweislich der diesbezüglichen Begründung des Gesetzentwurfes40 sollte dadurch die Mundhygiene bei Kindern und Jugendlichen gefördert, Zahnerkrankungen wie Karies und Zahnbetterkrankungen verhütet und die rechtzeitige Durchführung zahnerhaltender Maßnahmen gefördert werden. Diese Maßnahmen sind in der Folgezeit schrittweise weiter ausgebaut worden. So wurden die gruppenprophylaktischen Maßnahmen gemäß § 21 Abs. 1 SGB V, die ursprünglich gemäß S. 1 lediglich für Versicherte zur Verfügung standen, die das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, durch das GKVSolG41 in § 21 Abs. 1 S. 3 SGB V in Schulen und Behinderteneinrichtungen, in denen das durchschnittliche Kariesrisiko der Schüler überproportional hoch ist, auf Versicherte bis zum 16. Lebensjahr ausgeweitet. Individualprophylaktische Leistungen gemäß § 22 SGB V, die ursprünglich von Versicherten in Anspruch genommen werden konnten, die das 12., aber noch nicht das 20. Lebensjahr vollendet hatten, sind durch das 2. GKV-Neuordnungsgesetz (2. GKV-NOG)42 auf Versicherte ausgeweitet worden, die das 6., aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben. In § 22 Abs. 3 SGB V wurde durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG)43 zusätzlich ein Anspruch auf Fissurenversiegelungen der Molaren eingeführt. Dieses neue Leistungsangebot der GKV ist von den Versicherten in der Folgezeit in zunehmendem Umfange in Anspruch genommen worden.44 Die damit verbundene bessere Versorgung der GKV-Versicherten mit gruppen- und individualprophylaktischen Leistungen, insbesondere die wesentlich verbesserte Information und Motivation hinsichtlich der Erfordernisse einer präventionsgerechten 39
BGBl. I, 2477 vom 29.12.1988. BT-Drucks. 11/2237, 11/2493. 41 BGBl. I, 2626 vom 22.12.1999. 42 BGBl. I, 1520 vom 23.06.1997. 43 BGBl. I, 2266 vom 21.12.1992. 44 Siehe zur Entwicklung KZBV-Jahrbuch 1995–2002, Frequenzstatistik Tabellen 4.5 und 4. 40
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Ernährung und Zahnhygiene haben den Gesetzgeber des Beitragsentlastungsgesetzes (BeitrEntlG)45 veranlasst, in § 30 Abs. 1 sowie Abs. 1a SGB V den Anspruch der Versicherten auf Versorgung mit Zahnersatz auf solche zu beschränken, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Regelung bereits das 18. Lebensjahr vollendet hatten. Auch wenn diese Bestimmungen durch das GKV-SolG des Jahres 1999 wieder beseitigt worden sind, verdeutlichen sie die zutreffende zahnmedizinische Bewertung durch den Gesetzgeber, dass eine so weitgehende Vermeidbarkeit von Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen besteht, dass anders als bei einer Vielzahl anderer Behandlungen eine sozialpolitische Notwendigkeit für die Absicherung dieses Krankheitsrisikos durch die Solidargemeinschaft der GKV jedenfalls nicht zwingend gefordert ist. Dieser sachlich nach wie vor zutreffende Befund kann vor dem Hintergrund der augenblicklichen sozialpolitischen Diskussion über eine mögliche Konzentration der begrenzten finanziellen Ressourcen der GKV auf sachlich besonders dringliche Maßnahmen wiederum nutzbar gemacht werden. Aus zahnmedizinischer Sicht würde es sich in diesem Zusammenhang anbieten, die GKV-Leistungen im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung insbesondere auf präventionsorientierte Leistungen zu konzentrieren, um damit den Eintritt von Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen und damit den Eintritt einer Behandlungsbedürftigkeit der Versicherten nach Möglichkeit von vornherein zu vermeiden.46 In der Diskussion über eine erneute Strukturreform der GKV wurde generell, aber auch für den Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung der Förderung der Prävention eine besondere Bedeutung beigemessen. Dabei wird allerdings zum Teil die Auffassung vertreten, durch verstärkte präventive Maßnahmen ließen sich die Ausgaben der GKV insgesamt reduzieren und dies gegebenenfalls sogar mittel- bis kurzfristig.47 Dieser Ansatz erscheint auf den ersten Blick auch plausibel, da präventive Maßnahmen des Versicherten selbst für die GKV kostenneutral sind und solche des Vertrags(zahn)arztes in der Regel wesentlich weniger aufwendig sind als kurative. Zudem können durch die Verhinderung eines Krankheitseintrittes zunehmend aufwendigere und damit kostenintensivere Behandlungsmaßnahmen eventuell in weitem Umfange vermieden werden, was entsprechende Kosteneinsparungen für die GKV plausibel erscheinen lässt. 45
BGBl. I, 1631 vom 01.11.1996. Zur Gesundheitsökonomie der Prävention am Beispiel Kariesprophylaxe Strippel, Harald, Prävention – Eine „gegentendenzielle Politik“ ist erforderlich, in: BKK 2003, 4; Replik dazu Klingenberger, David/Oesterreich, Dietmar, Bei der Kariesprophylaxe ist eine Gesamtstrategie wichtig – Replik zu „Gesundheitsökonomie der Prävention“, in: BKK 2003, 130. 47 Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Bd. I, 2000/2001, S. 125; a. A. Strippel (Fn. 46), 7. 46
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3. Gesundheitspolitische und ökonomische Auswirkungen einer präventionsorientierten Zahnheilkunde Allgemein wurde zunächst in der Bevölkerung und darauf aufbauend auch in der Gesundheitspolitik von der Annahme ausgegangen, dass eine zunehmende Langlebigkeit unausweichlich mit einer sich zunehmend verschlechternden Gesundheit und mehr Gebrechlichkeit der älteren Bevölkerung einhergehen müsste. Daher seien zur Behandlung der zunehmenden Erkrankungen und Gesundheitsbeeinträchtigungen unausweichlich auch höhere Gesundheitsausgaben erforderlich.48 Aufgrund neuerer Erkenntnisse internationaler Langzeitbeobachtungen wird demgegenüber zur Zeit aber davon ausgegangen, dass durch ein entsprechend präventives Verhalten sowohl medizinisch nicht heilbare chronische Beeinträchtigungen als auch die Einschränkungen normaler Alterungsprozesse zeitlich hinausgeschoben und auf wenige Jahre vor dem Tod konzentriert werden können. Das Modell einer „Kompression der Morbidität“49 ist zwischenzeitlich weitgehend akzeptiert und lässt zumindest eine relative Komprimierung der Krankheits- und Behinderungslast auf einen kürzeren Abschnitt bei einem insgesamt verlängerten Leben erwarten.50 Dieser Ansatz ist für das Individuum zwar sicherlich bedeutsam, da es ihm die Möglichkeit eröffnet, durch eigenes Verhalten über einen längeren Zeitraum eine bessere Gesundheit und damit eine höhere Lebensqualität zu erhalten. Damit ist naturgemäß aber noch keine Aussage über die daraus resultierenden Aufwendungen sowie die Kosten-NutzenRelation für das Individuum und für die Gemeinschaft, im vorliegenden Falle die GKV, verbunden. Zudem stellt sich die Frage, ob durch präventive Maßnahmen bzw. durch die Förderung eines präventiven Verhaltens Behandlungsmaßnahmen im Übrigen in einem Umfange eingespart werden könnten, dass dadurch eventuelle Mehrausgaben der GKV für präventive Maßnahmen zumindest kompensiert werden könnten. Zur Überprüfung dieser Fragestellung sind die demographischen Prognosen aus der 9. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes51 mit den Ergebnissen der Dritten bevölkerungsrepräsentativen Mundgesundheitsstudie (DMS III)52 verknüpft worden. Aus den Daten der verschiedenen Altersgruppen wurde eine Zahnverlustquote erstellt, die die durchschnittliche Zahl der 48 Schwartz, Friedrich Wilhelm, Präventionspolitische Aspekte im Alter, in: Ziller/ Micheelis, Kostenexplosion durch Prävention? 2002, S. 40. 49 Fries, J. F./Green, F. L. W./Levene, S., Health promotion and the compression of morbidity, in: The lancet 1989, 481. 50 Kruse, Andreas, Prävention sorgt für mehr Mundgesundheit im Alter, in: ZM 2003, 688. 51 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis zum Jahre 2050, Ergebnisse der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, 2000.
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in der jeweiligen Altersgruppe verlorenen Zähne angibt. Diese, den status quo widerspiegelnde Zahnverlustkurve wurde sodann in drei Szenarien zukünftigen Alternativentwicklungen gegenübergestellt, wobei unterschiedliche Annahmen für ein zukünftig präventionsorientierteres Verhalten der Versicherten zugrunde gelegt wurden.53 In Szenario 1 wurde davon ausgegangen, dass durch die positiven Effekte der Kariesprävention bei Kindern die heute 12-jährigen mit kariesfreien Gebissen auch in ihrem späteren Leben niemals an Karies erkranken werden. Für die übrigen Kinder wurden die Prävalenzen von 1997 im demographischen Modell belassen. In einem Szenario 2 wurde vorausgesetzt, dass es durch geeignete Präventionsstrategien gelingt, die gesamte Bevölkerung zu einem kontrollorientierten Inanspruchnahmeverhalten zahnärztlicher Leistungen zu bewegen. In einem Szenario 3 wurde demgegenüber davon ausgegangen, dass sich zukünftig die 20% der Bevölkerung mit der schlechtesten Mundhygiene im Jahre 2020 auch so verhalten werden, wie die heute 80% mit besserer Mundhygiene. Damit wurde zur Darstellung eines maximal erzielbaren Effektes angenommen, dass sämtliche Hochrisikogruppen ihr Mundhygieneverhalten komplett umorientieren. Die sich aus den verschiedenen Szenarien ergebenden Zahnverlustraten wurden mit denjenigen verglichen, die sich in den Jahren 1997 bis 2020 unter der Annahme eines unveränderten Mundgesundheitsverhaltens der Bevölkerung alleine aufgrund der demographischen Entwicklung ergeben werden. Danach ist davon auszugehen, dass bei unverändertem Mundgesundheitsverhalten bis zum Jahre 2020 die Zahnverlustzahlen gegenüber denen des Jahres 1997 um ca. 19% ansteigen werden. Auch bei einem Erhalt der naturgesunden Gebisse gemäß Szenario 1 würde sich ein Anstieg der Zahnverlustzahlen um ca. 14% ergeben. Eine durchgängig kontrollorientierte Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen gemäß Szenario 2 würde demgegenüber zu einem Anstieg der Zahnverlustzahlen um etwa 3% führen, und lediglich das als unrealistisch-optimistisch bezeichnete Szenario 3 würde zu einer Reduzierung der Zahnverlustzahlen auf etwa 91% im Jahre 2020 führen.54 Alleine die projektierten Entwicklungen der Zahnverlustraten sagen jedoch noch nichts über den damit verbundenen Behandlungsbedarf der GKV-Versicherten aus. Dabei ist gemäß der grundlegenden Rechtsprechung des Bundes52 Micheelis, Wolfgang/Reich, Elmar, Dritte deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS III), Gesamtbearbeitung, 1999. 53 Biffar, Reiner, Orale Gesundheit – Verschiebungen im Behandlungsbedarf durch Prävention, in: Ziller/Micheelis (Fn. 48), S. 49, 58 ff. 54 Biffar (Fn. 53), S. 61, Abb. 6–7.
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sozialgerichts55 von dem Grundsatz auszugehen, dass im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung jede weitgehende Schädigung der Zahnhartsubstanz und jeder Zahnverlust als eine behandlungsbedürftige Krankheit zu bewerten ist, die zahnprothetische Maßnahmen (Versorgung mit Kronen oder herausnehmbarem oder festsitzendem Zahnersatz) erforderlich macht. Daher machen auch eventuell reduzierte Zahnverlustzahlen zahnmedizinische Behandlungen, insbesondere auch zahnprothetische Versorgungen nicht überflüssig, sondern führen zu einer Verschiebung innerhalb der erforderlichen Versorgungsformen. Hinsichtlich der prothetischen Versorgungen führen die oben dargestellten Szenarien danach bis zum Jahre 2020 nicht zu einer Reduzierung der Ausgaben der GKV in diesem Leistungsbereich. Auch bei dem, als realistisch-optimistisch charakterisierten Szenario 2 (kontrollorientiertes Inanspruchnahmeverhalten) erfolgt trotz einer reduzierten Zahnverlustquote dadurch keine Reduzierung des prothetischen Versorgungsbedarfes insgesamt, sondern lediglich eine Verschiebung innerhalb der verschiedenen Versorgungsformen. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass auch bei einer völligen Vermeidung von Karieserkrankungen durch entsprechende präventive Maßnahmen ein zahnärztlicher Interventionsbedarf nicht in jedem Falle ausgeschlossen werden kann. Normale Abnutzungserscheinungen wie z. B. Abrasionen von Zähnen, dadurch bedingte Okklusionsveränderungen, Funktionsstörungen oder auch Traumata bzw. Parodontopatien können einen Behandlungsbedarf auch in diesem Szenario verursachen. Zudem können naturgemäß bereits entstandene Zahnschäden bei solchen Altersgruppen, die in ihrer Jugend nicht von einer entsprechenden Präventionsorientierung profitieren konnten, durch derartige Maßnahmen nicht mehr rückwirkend beseitigt werden. In der Gesamtpopulation nimmt aber die Zahl der Personen mit nur noch wenigen Zähnen bzw. mit völliger Zahnlosigkeit kontinuierlich ab. Daher werden auch für derartige Befundsituationen primär geeignete Versorgungsformen mit herausnehmbarem Zahnersatz entsprechend reduziert. Infolge der allgemeinen demographischen Entwicklung wächst aber in gleicher Weise die Zahl der Personen mit einem relativ geringer geschädigten bzw. reduzierten Lückengebiss. Diese Befundsituationen werden regelmäßig mit festsitzendem Zahnersatz (Kronen, Brücken) versorgt, so dass diese Versorgungsformen relativ zunehmen. Dabei handelt es sich aber gegenüber den herausnehmbaren Versorgungsformen regelmäßig um aufwendigere und damit auch kostenintensivere Behandlungen. Konkret bedeutet dies für das oben dargestellte Szenario 2, dass bis zum Jahre 2020 der Bestand an herausnehmbarem Zahnersatz, der bei einem unveränderten Mundhygieneverhalten um ca. 26% ansteigen würde, lediglich einen Anstieg um 3% erfahren wird.56 Infolge der größeren Zahl der erhaltenen 55 56
BSG, Breithaupt 1973, 604. Biffar (Fn. 53), S. 62 f., Abb. 6–8.
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Zähne wird jedoch bei festsitzendem Zahnersatz und Kronen ein gegenläufiger Trend entstehen. Danach ist damit zu rechnen, dass der Bestand an festsitzendem Zahnersatz bis zum Jahre 2020 um 16% und für Kronen um 19% ansteigen wird, während bei einem unveränderten Mundhygieneverhalten lediglich mit einer entsprechenden Entwicklung von 5% bzw. 2% zu rechnen wäre.57 Es ist davon auszugehen, dass sich dieser Effekt im weiteren Zeitablauf umso mehr verstärkt, als weitere Altersgruppen bereits von ihrer Jugend an von präventionsorientierten Maßnahmen profitiert haben. Dann werden zahnprothetische Versorgungen aber auch längere Funktionsperioden als bisher erfüllen müssen und umfangreichere Versorgungsformen werden sich zunehmend in spätere Lebensabschnitte verschieben und sich für den Behandler z. B. wegen spezifischer Einflüsse von Allgemeinerkrankungen und somatischen und/oder kognitiv-emotionalen Anpassungsschwierigkeiten des alternden Patienten komplexer darstellen.58 Dieser unterschiedlichen Entwicklung der verschiedenen zahnprothetischen Versorgungsformen werden die damit verbundenen Kostenentwicklungen entsprechend folgen. Die Ausgaben für herausnehmbaren Zahnersatz werden sinken, diejenigen für festsitzenden Zahnersatz ansteigen. Trotz verbesserter Zahngesundheit und reduzierter Zahnverlustzahlen ist damit aber infolge der aufwendigeren Gestaltung und damit höheren Kostenbelastung bei festsitzendem Zahnersatz insgesamt tendenziell eher eine Ausgabenerhöhung verbunden. Infolge der demographischen Entwicklung ist davon auszugehen, dass bei unverändertem Mundgesundheitsverhalten der Gesamtumsatz für sämtliche prothetische Leistungen im Zeitraum zwischen 1998 und 2020 zunächst leicht ansteigt, bis 2005 auf das Niveau von 1998 zurückgeht und gegenüber dem Ausgangswert im Jahre 2020 etwa um 6% reduziert wird. Wird demgegenüber von einem verbesserten Mundgesundheitsverhalten entsprechend dem oben dargestellten Szenario 2 ausgegangen, so ist mit einem Ansteigen des Prothetikumsatzes bis 2012 auf etwa 4% über dem Ausgangsniveau zu rechnen, wobei allerdings bis zum Jahre 2020 wieder eine Ausgabenreduzierung bis auf einen Anstieg von etwa 2,5% gegenüber dem Ausgangswert von 1998 eintritt.59 Neben den zahnprothetischen Versorgungen sind natürlich auch die Leistungsausgaben in den anderen vertragszahnärztlichen Leistungsbereichen, so insbesondere im Bereich der konservierend-chirurgischen Behandlungen und dort bei den Füllungsleistungen, den Extraktionen und den Wurzelkanalbehandlungen zu berücksichtigen. Auch insofern ist zumindest langfristig infolge eines 57
Biffar (Fn. 53), S. 62 f., Abb. 6–9. Biffar (Fn. 53), S. 65; Schneller, Thomas/Bauer, Rieke/Micheelis, Wolfgang, Psychologische Aspekte bei der zahnprothetischen Versorgung, 1992, S. 17. 59 Schroeder, Ernst, Bedarfsermittlung für prothetische Leistungen in der Zahnheilkunde bis zum Jahre 2020, 2001, S. 79 ff., Abb. 22, 23. 58
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verbesserten Mundgesundheitsverhaltens der Bevölkerung mit rückläufigen Leistungszahlen zu rechnen.60 Über alle Leistungssektoren hinweg betrachtet ist allerdings davon auszugehen, dass ein verbessertes Mundgesundheitsverhalten insgesamt zunächst zu einem Ansteigen des Honorarumsatzes im zahnärztlichen Versorgungsbereich führen würde und dass gegenüber einem unveränderten Mundgesundheitsverhaltens erst in zehn bis zwanzig Jahren mit Einsparungen zu rechnen ist. Hierbei sind die konkreten Veränderungsraten naturgemäß von der konkreten Ausprägung der Veränderung des Mundgesundheitsverhaltens, insbesondere dem Wirkungsgrad prophylaktischer zahnärztlicher Leistungen und deren Inanspruchnahme durch die Versicherten abhängig.61 Festzuhalten bleibt somit, dass der zur Zeit sozialpolitisch diskutierte Ansatz, kurz- bis mittelfristig seien innerhalb der GKV erhebliche Einsparungen durch eine verbesserte präventive Versorgung der GKV-Versicherten bzw. durch eine Verbesserung des präventiven Verhaltens der Versicherten zu erreichen, jedenfalls für den vertragszahnärztlichen Versorgungsbereich nicht nachzuweisen ist. Im Gegenteil ist bei einer Verbesserung des Mundgesundheitsverhaltens der Versicherten mittelfristig zunächst mit einem Ansteigen der GKV-Ausgaben zu rechnen. Dies gilt jedenfalls unter der Voraussetzung, dass der Leistungskatalog der GKV in diesem Zusammenhang unverändert bleibt und insbesondere auch weiterhin sowohl herausnehmbaren als auch festsitzenden Zahnersatz umfasst. Durch entsprechende Maßnahmen wären somit durchaus gesundheitspolitische Erfolge im Sinne einer Verbesserung der Zahngesundheit der Bevölkerung zu erreichen. Die im Bereich der Sozialpolitik in den letzten Jahrzehnten demgegenüber primär verfolgten Ziele einer Begrenzung bzw. Reduzierung der Ausgaben der GKV ließen sich demgegenüber mit derartigen Ansätzen aber voraussichtlich nicht erreichen. 4. Weitgehende Befundabhängigkeit zahnmedizinischer Behandlungen Anders als bei vielen anderen Erkrankungen, die z. B. zunächst einer differenzialdiagnostischen Abklärung bedürfen und im Anschluss daran in verschiedener Form (z. B. durch Arzneimittel, chirurgische Eingriffe, Bestrahlungen, usw.) behandelt werden können, richtet sich die Therapie bei Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen in aller Regel unmittelbar nach dem Befund und ist durch diesen zumeist eindeutig determiniert. Es kommt hinzu, dass dann, wenn zahnärztliche Behandlungsmaßnahmen erforderlich sind, diese für den Patienten bereits deshalb invasiven Charakter ha60 Kaufhold, Ralph/Biene-Dietrich, Peter/Hofmann, Uwe/Micheelis, Wolfgang/ Scheibe, Lothar/Schneider, Markus, Ökonomische Effekte der Individualprophylaxe, 1999, S. 86, Abb. 31. 61 Kaufhold/Biene-Dietrich/Hofmann/Micheelis/Scheibe/Schneider (Fn. 60), S. 91, Abb. 33.
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ben, da diese notwendigerweise in der Mundhöhle durchgeführt werden müssen. Wegen der oftmals als zumindest unangenehm, wenn nicht als schmerzhaft erlebten und zum Teil auch angstbesetzten Behandlungsmaßnahmen wird die Konsultation eines Zahnarztes zumeist nicht als angenehm oder zumindest als allenfalls geringfügig belastend erlebt. Dementsprechend verdeutlichen auch die oben dargestellten Defizite in der Bevölkerung bei einer kontrollorientierten Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen, dass tatsächlich in weiten Kreisen der Bevölkerung nach wie vor eine symptomorientierte Inanspruchnahme vorherrscht, mit anderen Worten, dass ein Zahnarzt lediglich dann aufgesucht wird, wenn Schmerzen im Mund- und Kieferbereich hierzu akute Veranlassung geben. Diese Tatsachen hat noch das Bundesverfassungsgericht62 in seiner grundlegenden Entscheidung zur Unvereinbarkeit der seinerzeitigen Bedarfsplanungsbestimmungen in § 368a Abs. 1 RVO a. F. mit Art. 12 Abs. 1 GG dadurch anerkannt, dass es ausgeführt hat, dass auch bei einer Erhöhung der Zahl der Kassenzahnärzte mit einem erheblichen Ansteigen der zahnärztlichen Gesamtleistungen nicht zu rechnen sei. Dem wirkten nämlich bereits die tatsächlichen Umstände entgegen. Der Zahnarzt werde in der Regel nur dann aufgesucht, wenn es notwendig sei. Bei der Gewährung von Zahnersatz hätten die Versicherten einen erheblichen Teil der Kosten selbst zu tragen, da die Kassen ihn nicht als Sachleistung gewährten, sondern nur Zuschüsse in verschiedener Höhe geben würden.63 Demgegenüber wird in der aktuellen sozialpolitischen Diskussion jedenfalls im Zusammenhang mit vertragsärztlichen Leistungen weitgehend unbestritten von dem Theorem der so genannten „angebotsinduzierten Nachfrage“ ausgegangen, wonach Art und Menge der von den GKV-Versicherten nachgefragten ärztlichen Leistungen von den Vertragsärzten selber bestimmt und dabei in zunehmendem Maße auch zumindest unwirtschaftliche, wenn nicht sogar medizinisch nicht indizierte Leistungen erbracht würden.64 Dieser Ansatz wird zwischenzeitlich sowohl generell als auch hinsichtlich der vertragszahnärztlichen Versorgung zumindest als vertretbar qualifiziert65, sofern sie nicht sogar als überzeugend bewertet wird.66 Ausführlich begründet findet sich diese Bewertung gerade hinsichtlich vertragszahnärztlicher Leistungen im Beschluss des 6. Senats des Bun62
BVerfGE 12, 144 (150). Zur vergleichbaren Situation in der kassenärztlichen Versorgung vgl. BVerfGE 11, 30. 64 Vgl. z. B. Schirmer, Horst-Dieter, Steuerung der ärztlichen Überversorgung durch Zulassungsbeschränkungen – Eine Erläuterung des Gesetzes zu Verbesserung der kassenärztlichen Bedarfsplanung vom 19.12.1986, in: BKK 1987, 48; Begründung zu § 102 SGB V i. d. F. des GSG, BT-Drucks. 12/3608, S. 98. 65 Z. B. BVerfG, MedR 2001, 639; LSG Hessen, Urt. v. 31.10.2001, L 7 KA 896/00. 66 Z. B. LSG Nordrhein-Westfalen, MedR 1998, 282 m. Anm. von Schiller (Fn. 22), 288. 63
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dessozialgerichts vom 08.05.199667, durch den der Vorlagebeschluss des seinerzeit zuständigen 14a-Senats des Bundessozialgerichts vom 16.06.199368 hinsichtlich der Altersgrenze von 55 Jahren für die Zulassung zur vertragszahnärztlichen Versorgung in § 25 ZV-Z aufgehoben worden ist. Unter Hinweis auf frühere Entscheidungen zu einer entsprechenden Altersgrenze im vertragsärztlichen Bereich69 und diesbezüglicher Literaturstimmen 70 führt der Senat folgendes aus: „Zugleich wird auch im Rahmen der zahnärztlichen Versorgung angenommen, daß hier ebenso wie im ärztlichen Bereich aufgrund anbieterinduzierter Nachfrage ein enger Zusammenhang zwischen steigenden Zahnärztezahlen und steigenden Leistungsausgaben besteht.71 Gleichwohl von der KZBV und dem Bundesverband der Deutschen Zahnärzte (BDZ) gegen diese Einschätzung vorgebrachte Einwendungen hat der Sachverständigenrat in einer ausführlichen Stellungnahme vom 19. März 1987 zurückgewiesen72 und diese Position im Sondergutachten 1991 erneut bekräftigt.73 Nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür, daß dieser Zusammenhang in der zahnärztlichen Versorgung ,offensichtlich unzutreffend‘ sei, sind für den Senat nicht ersichtlich. Auch wenn die allgemeine Überlegung zutreffen mag, daß kein Patient ohne aktuellen Anlass eine Zahnarztpraxis aufsuchen wird, um unnötigerweise eine als unangenehm oder schmerzhaft empfundene Behandlung auf sich zu nehmen74, so entscheidet mit Aufnahme der Behandlung doch der Zahnarzt über Art und Umfang der zu erbringenden Leistungen, während der Patient regelmäßig nicht in der Lage ist, die Erforderlichkeit der Leistungen zu beurteilen oder deren Erbringung zu beeinflussen. Die Annahme, daß auch 67
BSG, MedR 1997, 134. BSG, SGb 1994, 332; vgl. dazu Wigge, Peter, Zur Verfassungsmäßigkeit der Altersgrenze von 55 Jahren im Vertrags(zahn)arztrecht bei erstmaliger Zulassung, in: SGb 1994, 310. 69 BSGE 73, 223; BSG, Soz-R 3-2500 § 98 Nr. 3. 70 Manssen, Gerrit, Das Kassenarztzulassungsrecht des SGB V – Einfachrechtliche Ausgestaltung durch das GSG und verfassungsrechtliche Problemstellung, in: ZfSH/ SGb 1994, 1 (16 f.); Hess, Rainer, Sozialrecht im Spannungsfeld zwischen Besitzstand und Konsolidierungszwang – Übergangsrecht im Kassenarztrecht (Teil 1), in: NZS 1994, 97. 71 Vgl. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG), Medizinische und ökonomische Orientierung, Jahresgutachten 1987, Ziffer 351; ebenso bereits Hanedoes, auf dem Symposion der KZBV im Jahr 1985, vgl. Bericht S. 72; in diese Richtung auch der damalige Hauptgeschäftsführer der KZBV, Burkhard Tiemann: „Steigende Ärzte- bzw. Zahnärztezahlen produzieren höhere Kosten für die Versicherungssysteme“ (ebenda S. 111). 72 Abgedruckt in Anlage 3 des Jahresgutachtens (Fn. 71), 1988, S. 461, 474 f. 73 Ziffer 26, abgedruckt als Anlage zum Jahresgutachten 1992, S. 273, 281; zu den gesundheitsökonomischen Erklärungsmodellen für das Phänomen der angebotsinduzierten Nachfrage vgl. Hofmann, Jürgen, Die zukünftigen Aufgaben kassenärztlicher Bedarfsplanung aus gesundheitsökonomischer Sicht, in: ZSR 1992, 342. 74 Vgl. BVerfGE 12, 144 (150). 68
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Zahnärzte den Umfang der von ihnen erbrachten Leistungen in einer bedeutsamen Größenordnung losgelöst von den medizinisch indizierten Notwendigkeiten selbst bestimmen können, wird im Übrigen bestätigt durch die von Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung her bekannte erhebliche Streuung der statistischen Abrechnungswerte von Vertragszahnärzten je Behandlungsfall. Daß – wie vereinzelt vertreten wird75 – der Zusammenhang zwischen einer steigenden Zahl von Leistungserbringern und steigenden Kosten bei der zahnärztlichen Versorgung ganz grundsätzlich weniger eng sei als im ärztlichen Bereich, hält der Senat für nicht überzeugend. Bei von Maydell/Pietzcker76 wird dies nur als möglicherweise zu bedenkende Hypothese angesprochen, letztlich aber offengelassen. Dagegen wird im Endbericht der Enquete-Kommission ,Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung‘ festgestellt: ,Aufgrund der immer noch wachsenden Zahnarztzahlen und zusätzlich behandelbarer Krankheiten (Parodontose) sind Ausgabensteigerungen auch in Zukunft zu erwarten‘77, sowie: ,Die Steuerung der Leistungsarten und -menge vollzieht sich überwiegend durch den Zahnarzt‘.78 Daraus läßt sich nicht herleiten, daß im vertragszahnärztlichen Bereich die abgerechnete Leistungsmenge nur in zu vernachlässigender Größenordnung von der Zahl der zugelassenen Leistungserbringer beeinflußt wird.“ Diese Bewertung muss jedoch zunächst generell insofern überraschen, als ein wissenschaftlich fundierter Konsens über die Existenz einer derartigen „angebotsinduzierten Nachfrage“ bereits nicht feststellbar ist. Dies gilt umso mehr hinsichtlich Art und Umfang der zugrunde liegenden Wirkungsmechanismen.79 Demgegenüber hat sich die neuere gesundheitsökonomische Forschung dieses Themas nur noch vereinzelt angenommen80, wobei aber keine eindeutigen empirischen Ergebnisse erzielt werden konnten.81 Dies hat zum Teil zu der Bewertung geführt, die deutsche Diskussion vermittele eher den Eindruck, als be-
75
Vgl. Wigge (Fn. 68), 316. Maydell, Bernd/Pietzcker, Jost, Begrenzung der Kassenarztzulassung, 1993, S. 48. 77 BT-Drucks. 11/6380, S. 83 Nr. 24. 78 BT-Drucks (Fn. 77), S. 86 Nr. 48. 79 Vgl. die zusammenfassende Darstellung des Standes der empirischen Forschung von Andersen, Hanfried/Schwarze, Johannes, Angebotsinduzierte Nachfrage bei zunehmendem Wettbewerb?, 1997, S. 3 ff. unter Hinweis auf Labelle, R./Stoddart, G./Rice, T., Re-Examination of the Meaning and Importants of Suplier – induced demand, in: Journal of Health Economics 13, 347. 80 Schulenburg, J.-Matthias v. d., Selbstbeteiligung – theoretische und empirische Konzepte für die Analyse ihrer Allokations- und Verteilungswirkung, 1987; Pohlmeier, Ulrich, Econometric Modell of the two-part decicion making process in the demand of Health care, in: The Journal of Human Ressources, 2, 339; Cassel, Dieter/Wilke, Thomas, Das Saysche Gesetz im Gesundheitswesen: Schafft sich das ärztliche Leistungsangebot seine eigene Nachfrage?, in: ZfGW 2001, 331. 81 Vgl. Cassel/Wilke (Fn. 80), 335 m. w. N. 76
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stünde Konsens über den Stand der theoretischen Diskussion und der empirischen Befunde; über theoretische Kontroversen werde dann auch nicht mehr diskutiert.82 Die These von der angebotsinduzierten Nachfrage hat danach den Status einer Lehrbuchweisheit angenommen.83 Wenn es somit an einer Evidenz der Annahme einer „angebotsinduzierten Nachfrage“ bereits fehlt, so können unter Berücksichtigung der oben dargestellten tatsächlichen Verhältnisse jedenfalls im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung auch die oben dargestellten Erwägungen des 6. Senats des Bundessozialgerichts nicht überzeugen. Die insofern vom Bundessozialgericht herangezogenen Literaturstimmen beziehen sich ebenso wie die von ihm dargestellten Veränderungen der Verhältniszahl Zahnarzt zu Einwohner lediglich auf die Entwicklung der Zahl der niedergelassenen Vertragszahnärzte, nicht aber auf die Menge der von diesen erbrachten vertragszahnärztlichen Leistungen. Die bloße Tatsache, dass im Zeitablauf eine größere Zahl von Vertragszahnärzten zugelassen war und dass sich dadurch auch eine Verschiebung der Relation zur Zahl der Einwohner ergeben hat, sagt ebenso wenig wie die Tatsache, dass diese Entwicklung aus dem Bereich der Vertragszahnärzteschaft als problematisch dargestellt worden ist, etwas zu der Fragestellung aus, ob gerade deswegen auch eine Leistungsmengensteigerung eingetreten ist und ob und inwieweit diese sich auch gerade auf tatsächlich zahnmedizinisch nicht indizierte Leistungen bezieht. Die weiteren vom Bundessozialgericht herangezogenen Literaturstimmen beziehen sich bereits nach der Diktion des Beschlusses nicht auf einen Nachweis dieses Phänomens, sondern beziehen sich auf bloße Annahmen. Im Weiteren sieht auch das Bundessozialgericht die grundsätzliche Bewertung des Bundesverfassungsgerichts84 als eventuell zutreffend an, wonach kein Patient ohne aktuellen Anlass eine Zahnarztpraxis aufsuchen wird, um unnötigerweise eine als unangenehm oder schmerzhaft empfundene Behandlung auf sich zu nehmen, stellt diesem aber die nicht näher begründete Bewertung entgegen, mit Aufnahme der Behandlung entscheide doch der Zahnarzt über Art und Umfang der zu erbringenden Leistungen, während der Patient regelmäßig nicht in der Lage sei, die Erforderlichkeit der Leistung zu beurteilen oder deren Erbringung zu beeinflussen. Dieser bewertenden Darstellung des Bundessozialgerichts ist zunächst entgegenzuhalten, dass diese offenbar nicht derjenigen des Gesetzgebers des SGB V entspricht. Denn dieser hat in den §§ 29 und 30 SGB V für die Leistungsbereiche der kieferorthopädischen und zahnprothetischen Versorgungen einen Eigenanteil der Versicherten an den Behandlungskosten unter anderem deshalb vorgesehen, weil dadurch einerseits ein Interesse des Ver82 83 84
Andersen/Schwarze (Fn. 79), S. 4. Breyer, Friedrich/Zweifel, Peter/Kifmann, Mathias, Gesundheitsökonomie, 1997. BVerfGE 12, 144 (150).
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sicherten an der Inanspruchnahme möglichst wirtschaftlicher Versorgungsformen begründet wird und andererseits ein ebenfalls wirtschaftlich bestimmtes Interesse des Versicherten besteht, die Behandlung auch im vorgesehenen Umfange tatsächlich zum Abschluss bringen zu lassen.85 Wäre der apodiktische Ansatz des 6. Senats des Bundessozialgerichts zutreffend, wären zudem die weiteren Bestimmungen in § 28 Abs. 2 S. 2 bis 5 und § 30 Abs. 3 SGB V, womit in den Leistungsbereichen der Füllungstherapie und der zahnprothetischen Versorgung Mehrkostenvereinbarungen für solche Leistungen, die den Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung übersteigen, ermöglicht worden sind, unverständlich. Auch im Übrigen belegen praktische Erfahrungen, dass jedenfalls im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung durchaus eine erhebliche Zahl von Versicherten in der Lage ist, eine eigene Bewertung der durchzuführenden zahnmedizinischen Behandlungen vorzunehmen und diese auch gegenüber dem behandelnden Zahnarzt durchzusetzen. Dies verdeutlichen insbesondere die bereits seit Jahrzehnten geführten Auseinandersetzungen über die angebliche Toxizität des Füllungswerkstoffes Amalgam. Dabei handelt es sich um ein zunächst plastisches, nach der Einbringung in die Zahnkavität im Munde aushärtendes Füllungsmaterial, das aus einer Legierung (im Wesentlichen aus Silber, Zinn und anderen Zusatzmetallen) besteht, welche in der Zahnarztpraxis mit Quecksilber vermischt das plastische Füllungsmaterial ergibt.86 Wegen der bekannten Toxizität des Elementes Quecksilber steht auch die Amalgamlegierung wegen ihres Quecksilberanteiles seit langem in dem Verdacht unter anderem toxischer Nebenwirkungen.87 Obwohl Amalgame weltweit seit vielen Jahren eingesetzt werden, ohne dass in diesem Zusammenhang Vergiftungserscheinungen bekannt geworden wären, finden sich immer wieder Stimmen, die auf die Ausscheidung von Quecksilberdampf aus Amalgamfüllungen hinweisen, der im Speichel gelöst verschluckt werde, sich im Körper anreichern und damit zu Vergiftungserscheinungen führen könne. Entsprechende wissenschaftliche Publikationen, in der jüngeren Vergangenheit insbesondere das so genannte „Kieler Amalgam-Gutachten 1995“88, die zum Teil auch in der Publikumspresse breite Resonanz finden, haben verschiedentlich zur Ablehnung der Verwendung von Amalgam durch die Patienten und zur Forderung nach alternativen Füllungswerkstoffen geführt. Dies galt insbeson85
Vgl. Liebold/Raff/Raff/Wissing (Fn. 19), I/15. Riethe, in: IDZ (Hrsg.) Amalgam – Pro und Contra, 1988, S. 221 ff. 87 Z. B. Stock, Alfred, Die Gefährlichkeit des Quecksilbers und der Amalgam-Zahnfüllungen, in: Zeitschrift für angewandte Chemie (Sonderdruck), 1928, 663; zu der diesbezüglichen wissenschaftlichen Diskussion im Weiteren vgl. IDZ (Fn. 86). 88 Vgl. dazu Halbach, Stefan/Hickel, Reinhard/Meiners, Hermann/Ott, Klaus/ Reichl, Franz/Schiele, Rainer/Schmalz, Gottfried/Staehle, Hans Jörg, Amalgam im Spiegel kritischer Auseinandersetzungen, 1999. 86
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dere auch im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung, da nach den Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kassenzahnärztliche Versorgung89 bei der Füllungstherapie die üblichen und erprobten plastischen Füllungsmaterialien verwendet werden sollten, wobei bei Molaren und Prämolaren in der Regel Amalgam als angezeigtes Füllungsmaterial definiert wurde. Auf der Grundlage der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse ist zwischenzeitlich auch sowohl hinsichtlich der zahnmedizinischen Behandlung insgesamt als auch hinsichtlich speziell der vertragszahnärztlichen Versorgung sowohl durch die ordentliche Gerichtsbarkeit90 als auch durch die Sozialgerichtsbarkeit91 anerkannt, dass nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand keine hinreichenden Belege für eine generelle gesundheitliche Beeinträchtigung durch Amalgamfüllungen existieren und daher grundsätzlich auch kein Anspruch auf Austausch intakter Amalgamfüllungen und auf die Ersetzung durch Füllungen unter Verwendung anderer Füllungsmaterialien besteht. Lediglich das LSG Niedersachsen92 hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1997 unter Bezugnahme auf das „Kieler Amalgam-Gutachten 1995“ ausgeführt, aufgrund dieses Gutachtens stehe fest, dass Zahnamalgam auch bei bestimmungsgemäßen Gebrauch generell geeignet sei, in einer relevanten Zahl von Fällen die Gesundheit von Amalgamträgern zu schädigen und zwar durch Hervorrufen der für eine chronische Quecksilbervergiftung typischen Beschwerden. Auch dann, wenn eine Kausalität der vorhandenen Amalgamfüllungen für vorhandene Erkrankungen nicht nachweisbar sei, genüge dann die gute Möglichkeit eines Erfolges der in Aussicht genommenen Behandlung in Form eines Austausches der Amalgamfüllungen. Diese Bewertung ist allerdings nachfolgend vom Bundessozialgericht93 nicht geteilt worden. Das Bundessozialgericht hat in dieser Entscheidung deutlich gemacht, dass bei nicht objektivierbaren Beschwerden nicht alleine daraus, dass diese für eine chronische Amalgamvergiftung typisch sein sollen, auf das tat89
In der am 24.06.1981 geänderten und ab 17.09.1981 gültigen Fassung, B. 4. Z. B. BGH, Urt. v. 07.11.1989, VI ZR 81/89; OLG Hamm, VersR 2002, 312; OLG Koblenz, MedR 1999, 464; OLG Schleswig-Holstein, Urt. v. 14.10.1998, 4 U 89/95; LG Augsburg, VersR 1994, 1478. 91 Z. B. BSG, SGb 2000, 14; BSGE 76, 40; LSG Bayern, Urt. v. 28.06.2001, L 4 KR 32/99; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 23.07.1998, L 5 K 13/96; LSG SchleswigHolstein, SozSich 1995, 72; LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1993, 374; SG Lüneburg, Urt. v. 28.07.1994, S 9 Kr 70/93. 92 LSG Niedersachsen, Breithaupt 1998, 482; dazu Koch, Wolfgang Heinrich/Weitz, Martin, Amalgam – Toxikologische Unbedenklichkeit des Füllungswerkstoffes von Gerichten widerlegt, in: MedR 1998, 551. 93 BSGE 85, 56 mit zustimmender Anmerkung von Spieß, Hans-Jürgen, Krankenversicherung – keine Kostenübernahme eines Amalgamaustausches wegen unklarer gesundheitlicher Beschwerden, in: SGb 2000, 489. 90
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sächliche Vorliegen einer solchen Erkrankung geschlossen werden könne. Der Leistungsumfang der GKV beziehe sich nämlich nur auf solche Maßnahmen, die eine hinreichende Sicherheit für den Heilerfolg bieten.94 Hierfür ist es danach grundsätzlich erforderlich, dass sich die Behandlung in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Fällen als erfolgreich erwiesen hat und dies durch wissenschaftlich einwandfrei geführte Statistiken belegt ist. Die eventuelle Wirksamkeit im konkreten Einzelfall ist demgegenüber irrelevant. Hinsichtlich der Wirksamkeit einer Entfernung von Amalgamfüllungen gingen die diesbezüglichen Erkenntnisse aber nicht über mehr oder weniger fundierte Hypothesen hinaus. Die Auswirkungen der verschiedenen Erscheinungsformen von Quecksilber und seinen Verbindungen sei noch ebenso umstritten wie die diesbezüglich als tolerabel zu bewertenden Grenzwerte. Bei diesem Stand der Diskussion könne nur davon ausgegangen werden, dass eine Amalgamentfernung nicht mehr als die gute Möglichkeit einer Besserung des Gesundheitszustandes biete. Ungeachtet dieser im Wesentlichen einheitlichen Beurteilung der Amalgamproblematik im fachwissenschaftlichen Schrifttum und der darauf aufbauenden, ebenfalls einheitlichen Rechtsprechung hat das Bundessozialgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 199395 hinsichtlich der Definition des Amalgams als in der Regel indizierten plastischen Füllungsmaterials in den Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen ausgeführt, durch diese dürfe der Anspruch des Versicherten auf eine notwendige und zweckmäßige ärztliche Behandlung in den Grenzen des Wirtschaftlichkeitsgebotes nicht eingeschränkt werden. Dabei müsse aber dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der Therapiefreiheit des Arztes, soweit sie in höherrangigem Recht gewährleistet werden, Rechnung getragen werden. Die Ablehnung der Verwendung des Füllungsmateriales Amalgam habe den Stellenwert einer besonderen Therapierichtung im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 2 SGB V. Dabei sei für die Bewertung maßgeblich eine Vergleichbarkeit der totalen Amalgamablehnung mit der Naturheilkunde. Sie komme zum Ausdruck im naturheilkundlichen Ansatz der gegen Amalgam erhobenen Bedenken, dem Umfang der aus dieser Sicht drohenden Gesundheitsschäden, in der Bedeutung, die die erhobenen Einwände in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung erlangt hätten und in der Überzeugungskraft der Argumente. In dieser Situation könne der Vertragszahnarzt durch die Richtlinien nicht verpflichtet werden, entgegen seiner Überzeugung Amalgam zu verwenden. Die diesbezüglichen Bestimmungen der Richtlinien seien daher insofern unwirksam, als sie die Verwendung von Kunststoffen im 94
BSGE 70, 24; 76, 194; 81, 54; 82, 158; 84, 90. BSG, SozR 3-2500 § 2 Nr. 2; dazu Anmerkung von Plagemann, Hermann, in: SGb 1994, 532; Besprechung von Pohl, Heribert, in: ZM 1994, Nr. 3, 24; Schlenker, Rolf-Ulrich, Die besonderen Therapierichtungen und die Naturheilkunde im Amalgam-Urteil des BSG, in: BKK 1994, 284. 95
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Seitenzahnbereich auch für den Fall ausschließen, dass der Versicherte nach ordnungsgemäßer Beratung Amalgam ablehne. Dabei sei der Vertragszahnarzt aber verpflichtet, angesichts der eindeutigen Auffassung, dass Amalgamfüllungen im Seitenzahnbereich wegen überlegener Materialeigenschaften im Durchschnitt eine erheblich höhere Haltbarkeitsdauer als Kunststofffüllungen hätten, den Patienten auf mögliche Folgen der Verwendung von Kunststoffen hinzuweisen. Infolge dieser Entscheidung sind zunächst die betroffenen Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen in B 4. dahingehend geändert worden, dass nur anerkannte und erprobte plastische Füllungsmaterialien (z. B. Amalgam, Komposites) gemäß ihrer medizinischen Indikation verwendet werden sollen. Die aktuellen Gebrauchs- und Fachinformationen und Aufbereitungsmonographien sollen berücksichtigt werden. Weiterhin sind durch Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses für die zahnärztlichen Leistungen vom 17.04. 1996 in den Bewertungsmaßstab für die zahnärztlichen Leistungen zusätzliche Gebührennummern für Komposite-Füllungen im Seitenzahnbereich in den Gebührennummern 13e bis g Bema aufgenommen worden. Diese wurden dabei auf solche Komposite-Füllungen begrenzt, die entsprechend der Adhäsivtechnik erbracht wurden und die in solchen Fallgestaltungen zum Einsatz kommen, in denen eine Amalgamfüllung absolut kontraindiziert ist. In einer diesbezüglichen Protokollnotiz hat der Erweiterte Bewertungsausschuss zum Ausdruck gebracht, dass eine Kontraindikation nur dann vorliegt, wenn der Nachweis einer Allergie gegenüber Amalgam bzw. dessen Bestandteilen gemäß den Kriterien der Kontaktallergiegruppe der Deutschen Gesellschaft für Dermatologie erbracht wurde bzw. wenn bei Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz neue Füllungen gelegt werden müssen.96 Ergänzend ist durch das 8. SGB V-Änderungsgesetz vom 31.10.199697 in § 28 Abs. 2 S. 2 bis 5 SGB V eine generelle Mehrkostenregelung auch hinsichtlich der Versorgung mit Zahnfüllungen aufgenommen worden. Damit hat der Gesetzgeber auf den vielfältigen Wunsch der Versicherten reagiert, über den Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung hinausgehende, aufwendigere Füllungstherapien (z. B. in der Form von Keramik- oder Goldinlays) in Anspruch zu nehmen, was in der Vergangenheit zur Folge hatte, dass er hierfür seitens seiner Krankenkasse keinen Zuschuss erhalten konnte, vielmehr auch der Beträge verlustig ging, die bei Inanspruchnahme einer Füllung im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung von den Krankenkassen für diese Leistung an die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen ausgezahlt worden wäre.98 96 Vgl. dazu SG Köln, Beschl. v. 08.07.1996, S 19 KA 38/96; LSG NRW, Beschl. v. 16.12.1996, L 11 KA 59/96; SG Köln, Urt. v. 11.11.1998, S 19 KA 63/97. 97 BGBl. I, 1559.
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Gerade diese Entwicklung verdeutlicht, dass jedenfalls im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung die Versicherten durchaus in der Lage sind, eine eigene Bewertung vertragszahnärztlicher Leistungen vorzunehmen. Auch dann, wenn dabei durchaus subjektive Bewertungen erfolgen, die sich nicht auf einen zahnmedizinisch-wissenschaftlichen Konsens oder eine diesbezügliche sozialgerichtliche Rechtsprechung stützen können, kann ein derartiger öffentlicher Druck entstehen, dass sogar entgegen des sonst allgemein sozialpolitisch verfolgten Grundsatzes der Beitragssatzstabilität zusätzliche Leistungen in den Bewertungsmaßstab für die zahnärztlichen Leistungen aufgenommen werden und eine Ausdehnung der gesetzlichen Bestimmungen zu Mehrkostenvereinbarungen im SGB V erfolgen. Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls der generelle Ansatz, der Versicherte sei tatsächlich hinsichtlich Art und Umfang der im Einzelfall zu erbringenden vertragszahnärztlichen Leistungen dem Vertragszahnarzt ohne Einflussmöglichkeit ausgeliefert, nicht aufrecht erhalten bleiben. Dem kann schließlich auch nicht das eigentlich tragende Argument in der angesprochenen Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 08.05.199699 entgegengehalten werden, die Annahme, dass auch Zahnärzte den Umfang der von ihnen erbrachten Leistungen in einer bedeutsamen Größenordnung losgelöst von den medizinisch indizierten Notwendigkeiten selbst bestimmen können, werde im Übrigen bestätigt durch die von Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung her bekannte erhebliche Streuung der statistischen Abrechnungswerte von Vertragszahnärzten je Behandlungsfall. Denn gerade derart komplexe Leistungsabläufe wie die Erbringung unterschiedlichster vertragszahnärztlicher Leistungen in Orientierung an den jeweiligen Befunden verschiedenster GKV-Versicherter durch die jeweiligen Vertragszahnärzte ist mit einer derartigen Vielzahl von Einflussvariablen versehen, dass sich eine auch nur annähernd gleichmäßige Verteilung der Leistungserbringung auf alle Vertragszahnärzte nicht erwarten lässt. Im Gegenteil ist in einer solchen Situation die Annäherung an eine Zufallsverteilung sowohl der Leistungsmenge als auch der Leistungen selber auf alle Vertragszahnärzte zu erwarten. Gerade diese wird auch im Grundsatz der vom Bundessozialgericht in diesem Zusammenhang hier angesprochenen statistischen Vergleichsprüfung im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren gemäß § 106 SGB V zugrunde gelegt.100 Nach dieser Rechtsprechung hat eine Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsmaßnahmen des Vertragszahnarztes in Form einer statistischen Vergleichsprüfung zu erfolgen, wobei die durchschnittlichen Fallkosten des jeweiligen Vertragszahnarztes denjenigen aller 98
Vgl. zu den Einzelheiten Liebold/Raff/Raff/Wissing (Fn. 19), Nr. 8. BSG, MedR 1997, 134. 100 Z. B. BSG, SozR 2200 § 368 n RVO Nr. 31; ArztR 1985, 40; BSGE 62, 24; dazu Pohl, Heribert, Fragen der Wirtschaftlichkeitsprüfung – Es bleibt beim Vorrang der Einzelprüfung, in: ZM 1988, 496; Schneider, Günther, Zum statistischen Kostenvergleich bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung, in: SGb 1988, 553. 99
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Vertragszahnärzte des jeweiligen KZV-Bezirkes bzw. einer im Einzelfall enger zu definierenden Vergleichsgruppe gegenübergestellt werden. Auch wenn das Bundessozialgericht es dabei bisher nicht als erforderlich angesehen hat, einem solchen Prüfungsverfahren stets den arithmetischen Durchschnitt der jeweiligen Arztgruppe, auf der Grundlage der so genannten „Gauß’schen Normalverteilung“ zugrunde zu legen, geht es dabei doch von der grundsätzlichen Annahme aus, dass die Vertragszahnärzte im Allgemeinen das Wirtschaftlichkeitsgebot beachten und folgert daraus, dass der durchschnittliche Behandlungsaufwand einer Vertragszahnarztgruppe jedenfalls grundsätzlich einen geeigneten Maßstab für die Wirtschaftlichkeitsprüfung eines Angehörigen gerade dieser Gruppe bildet. In diesem Zusammenhang wird vom Bundessozialgericht aber auch in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass die innerhalb der statistischen Vergleichsprüfung zu findende Streubreite der Fallkosten auf unterschiedliche Einflussfaktoren zurückzuführen ist. Zu diesen Faktoren zählt auch, jedoch nicht ausschließlich, das konkrete Behandlungsverhalten des jeweiligen Vertragszahnarztes. Weiterhin sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aber auch die so genannten „Praxisbesonderheiten“ im Sinne einer Betrachtung der speziellen Rahmenbedingungen bei der Leistungserbringung, wie z. B. die Lage der vertragszahnärztlichen Praxis, deren Größe, Einzugsbereich und die Strukturierung der GKV-versicherten Bevölkerung in dieser Region zu berücksichtigen.101 Gerade als Folge der Existenz dieser Vielzahl unterschiedlichster Einflussfaktoren, die im Rahmen einer reinen statistischen Vergleichsbetrachtung nicht ausreichend berücksichtigt werden können, hat das Bundessozialgericht auch in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass sich daraus eine gewisse Varianz der Fallkosten im Sinne einer statistischen Streubreite ergeben kann, die noch nicht von vornherein die Annahme eines unwirtschaftlichen Verhaltens des jeweiligen Vertragszahnarztes zu rechtfertigen vermag. Vielmehr ist danach ein unwirtschaftliches Verhalten erst dann anzunehmen, wenn die Fallkosten des einzelnen Vertragszahnarztes in einem so erheblichen Umfange vom jeweiligen Fachgruppendurchschnitt abweichen, dass ein so genanntes „offensichtliches Missverhältnis“ angenommen werden kann.102 Soweit die Abweichungen der Abrechungswerte des Vertragszahnarztes zwischen dem Bereich einer normalen Streuung und demjenigen eines offensichtlichen Missverhältnisses in einer Übergangszone liegen, ist danach ergänzend eine so genannte „intellektuelle Prüfung“ durchzuführen. In diesem Zusammenhang hat das Bundessozialgericht auch ausdrücklich anerkannt, dass eine Verkürzung der Wirtschaftlichkeitsprüfung auf eine ausschließlich statistische Untersuchung durch die Eigenart des Prüfungsgegenstandes ausgeschlossen ist. Ob 101
Z. B. BSG, SozR 3-2500 § 106 Nrn. 27, 31, 41, 43, 50. Z. B. BSG, SozR 2200 § 368 n Nr. 31; USK 85190; BSG, SozR 1200 § 368 n Nr. 57. 102
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die zur Abrechung kommenden vertragszahnärztlichen Leistungen notwendig und wirtschaftlich waren, könne letztlich nur nach zahnmedizinisch-ärztlichen Gesichtspunkten beurteilt werden. Der Aussagewert statistischer Untersuchungen sei in dieser Hinsicht begrenzt. Sie könnten lediglich Informationen darüber liefern, an welcher Stelle der Bandbreite zahnärztlichen Behandlungsumfanges die Tätigkeit des geprüften Zahnarztes nach der Zahl der von ihm erbrachten Leistungen einzuordnen sei. Die wesentlichen Kriterien, wie das Behandlungsverhalten und die unterschiedlichen Behandlungsweisen innerhalb der Zahnarztgruppe sowie die bei dem geprüften Zahnarzt vorhandenen Praxisbesonderheiten, denen bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise das entscheidende Gewicht zukomme, würden bei der statistischen Betrachtung nur teilweise oder gar nicht berücksichtigt. Daher hat die Rechtsprechung auch wiederholt betont, dass die Prüfung nach Durchschnittswerten zwar auf einem statistischen Kostenvergleich aufbaut, die statistische Betrachtung aber nur einen Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausmacht und durch eine intellektuelle Prüfung und Entscheidung ergänzt werden muss, bei der die für die Frage der Wirtschaftlichkeit relevanten medizinisch-ärztlichen Gesichtspunkte in Rechnung zu stellen sind.103 Gegenüber diesen, für die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit vertragsärztlicher Behandlungs- und Verordnungsweise entwickelten Grundsätzen hat das Bundessozialgericht ursprünglich im Hinblick auf die Besonderheiten der vertragszahnärztlichen Leistungserbringung und die diesbezüglichen gesamt- und mantelvertraglichen Vereinbarungen104 anerkannt, dass sich gerade auf dem Gebiet der Zahnheilkunde Fälle denken lassen, in denen eine nachträgliche Überprüfung einzelner Behandlungsmaßnahmen (z. B. Extraktionen, Füllungen) ohne Weiteres möglich ist und weder besondere Schwierigkeiten noch unverhältnismäßige Aufwendungen verursacht. In Fällen dieser Art werde daher die Befugnis der Prüfungsinstanzen, die Wirtschaftlichkeit der zahnärztlichen Behandlung anhand einzelner Behandlungsfälle zu überprüfen, im Hinblick auf den Zweck einer ordnungsgemäßen Rechnungsprüfung grundsätzlich zugleich als eine Pflicht anzusehen sein.105 Demgegenüber ist zwischenzeitlich aber auch und gerade bei der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit solcher Leistungen, wie z. B. die Erbringung von Zahnfüllungen, die nachträglich im Mund des Patienten konkret nachgeprüft werden können, ausgeführt worden, dass auch insofern eine statistische Vergleichsprüfung durchzuführen ist.106 Die grundsätzlich mög103
BSGE 76, 53; BSG, NZS 2002, 613. Z. B. sieht § 2 der Anlage 4 zum BMV-Z vor, dass grundsätzlich eine Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung anhand einzelner Behandlungsfälle zu erfolgen hat, sofern eine solche Prüfung ohne unverhältnismäßige Schwierigkeiten und Aufwendungen durchgeführt werden kann. 105 BSGE 11, 102 (113); BSG, SozR 2200 § 368 n RVO Nrn. 33 und 48. 106 BSG, SozR 2200 § 368 n RVO Nr. 33; BSGE 62, 18. 104
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liche Alternative einer konkreten Überprüfung der Behandlung im einzelnen Behandlungsfall wurde dabei deswegen als nachrangig qualifiziert, weil diese die direkte Feststellung der medizinisch indizierten Leistungen durch die Vergegenwärtigung der konkreten Erkrankung des Patienten voraussetze, wofür die objektiven Befundunterlagen alleine nicht ausreichend seien, da diese keinen unmittelbaren Aufschluss zu dieser Frage geben könnten und zudem nicht unterstellt werden könne, dass die darin enthaltenen Angaben wahrheitsgemäß gemacht worden seien. Demgegenüber führe die statistische Vergleichsprüfung zu objektiven Ergebnissen, da der Vertragszahnarzt einer entsprechend homogenen Vergleichsgruppe gegenübergestellt werden könne. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum absoluten Vorrang der statistischen Vergleichsprüfung im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren begegnet unter anderem bereits deshalb grundsätzlicher Kritik, da sie sich alleine an den durchschnittlichen Abrechnungswerten einer Fachgruppe orientiert und es damit letztlich den in dieser Fachgruppe zusammengefassten Vertragszahnärzten selber überlässt, durch ihr konkretes Abrechnungsverhalten den Rahmen und den Standard der Wirtschaftlichkeit zu bestimmen. In einem abgestimmten Verhalten, das durch den zunehmenden Einsatz von EDV-Anlagen in der vertragszahnärztlichen Praxis noch zusätzlich erleichtert wird, könnte daher gerade unter Zugrundelegung des vom Bundessozialgerichts im anderen Zusammenhang vertretenen Ansatzes der „angebotsinduzierten Nachfrage“ eine willkürliche, permanente Erhöhung des durchschnittlichen Behandlungsvolumens und dadurch notwendigerweise zugleich eine Anhebung des statistischen Durchschnittswertes und des im Rahmen der statistischen Vergleichsprüfung als wirtschaftlich anzuerkennenden Behandlungsumfanges erfolgen.107 Im Zusammenhang mit der konkreten Rechtsprechung zum Vorrang der statistischen Vergleichsprüfung auch bei konkret nachprüfbaren Leistungen, wie z. B. im Rahmen der Füllungstherapie, steht darüber hinaus die konkrete Bewertung der Befund- und Behandlungsdokumentation des Zahnarztes als von vornherein unglaubwürdig und daher im Ergebnis ohne wesentlichen Beweiswert im krassen Widerspruch zur ständigen, zivilrechtlichen Rechtsprechung im Rahmen von Arzthaftungsverfahren. Dort wird nämlich der zahnärztlichen Dokumentation im Gegenteil ein besonderer Beweiswert zuerkannt. Es wird dabei grundsätzlich von einer angemessenen, vollständigen und in nahem zeitlichen Zusammenhang mit der Leistungserbringung erstellten Dokumentation ausgegangen, so dass die tatsächliche Erbringung der dokumentierten Leistungen in der Regel als erwiesen anzusehen ist.108
107 Z. B. Schneider (Fn. 100), 553; Herder-Dorneich, Philipp, Gesetzliche Krankenversicherung heute – Erfahrungen aus der Kostenexplosion und Steuerungsaufgaben in den achtziger Jahren, 1983, S. 197; Narr, Helmut, Kassenarztrechtliche Probleme beim Einsatz eines Computers in der Praxis eines Kassenarztes, in: MedR 1984, 207.
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Diese Problematik kann vorliegend jedoch im Ergebnis dahingestellt bleiben, da jedenfalls auch hinsichtlich vertragszahnärztlicher Leistungen vom Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannt ist, dass allein aus der Tatsache, dass auch bei Vertragszahnärzten unterschiedliche Leistungen in unterschiedlicher Anzahl abgerechnet werden, noch nicht von vornherein auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise und in diesem Zusammenhang insbesondere auch auf eine eventuell zielgerichtete Steuerung des Behandlungsvolumens durch den einzelnen Vertragszahnarzt geschlossen werden kann. Vielmehr hat das Bundessozialgericht auch in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Relevanz von Praxisbesonderheiten, die sich den Beeinflussungsmöglichkeiten des Vertragszahnarztes entziehen, für Art und Umfang der von ihm zu erbringenden Leistungen anerkannt. Wenn dies aber richtig ist, kann nicht in einem Umkehrschluss aus der bloßen Existenz unterschiedlicher Leistungsmengen darauf geschlossen werden, dass diese gerade durch ein zielgerichtetes Verhalten des Vertragszahnarztes im Sinne einer „angebotsinduzierten Nachfrage“ gesteuert würden. 5. Weitgehendes Fehlen veranlasster Leistungen Die Ausführungen oben haben ergeben, dass Art und Inhalt der zahnmedizinischen Behandlung sich im Wesentlichen in der Weise aus den zahnmedizinischen Befunden ergeben, dass zwar zum Teil eine erhebliche Varianz in den konkreten Behandlungsmaßnahmen existiert, die Behandlungsbedürftigkeit und die möglichen Formen der Behandlung aber im Wesentlichen bereits unmittelbar durch die Befunde determiniert sind. Dabei beschränkt sich die Tätigkeit des Zahnarztes sowohl berufsrechtlich109 als auch zulassungsrechtlich110 auf eine Behandlung von Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen. Dabei stehen konservierende Maßnahmen, insbesondere die verschiedenen Formen der Füllungstherapie mit den dazugehörigen Begleitleistungen, chirurgische Behandlungen, so z. B. auch bei der Behandlung von Parodontalerkrankungen sowie prothetische Versorgungsformen im Vordergrund. Alle diese Behandlungsmaßnahmen beziehen sich unmittelbar auf den Zahn-, Mund- und Kieferbereich. Dies gilt ebenso für den Bereich der Kieferorthopädie, in dem bei Kindern und Jugendlichen bis zu 18 Jahren111 Zahnfehlstellungen beseitigt werden. Dabei ist der Anspruch gemäß § 29 Abs. 1 SGB V auf die Behandlung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt 108 BGH, NJW 1972, 1520; NJW 1981, 2002; NJW 1988, 2949; MedR 1989, 195; NJW 1993, 2375. 109 § 1 Abs. 3 Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer vom 29.06.2002. 110 § 3 ZV-Z. 111 § 28 Abs. 2 S. 6 SGB V.
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oder zu beeinträchtigen droht, gemäß den Festsetzungen in den diesbezüglichen Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen gemäß § 29 Abs. 4 SGB V112 beschränkt. Die kieferorthopädische Behandlung dient der Herstellung oder Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Gebisses, wobei dieser durch die damit einhergehende Verbesserung der Okklusionsverhältnisse und der Hygienefähigkeit ein prophylaktischer Effekt zukommt. Zu der räumlichen Beschränkung der Behandlungstätigkeit des Zahnarztes auf den Zahn-, Mund- und Kieferbereich tritt die besondere Genese der von ihm dabei im Wesentlichen zu behandelnden Erkrankungen. Mit Ausnahme der durch Traumata (Zahnverlust, Kieferbruch, usw.) sowie durch Zahnfehlstellungen bedingten Behandlungsbedürftigkeit, ergibt sich eine solche nämlich regelmäßig als unmittelbare oder mittelbare Folge von entzündlichen Erkrankungen des Parodontiums bzw. durch Karieserkrankungen. Aus dem jeweiligen Befund ergeben sich somit nicht nur unmittelbar die Behandlungsbedürftigkeit und die zur Behandlung grundsätzlich zur Verfügung stehenden Behandlungsmaßnahmen, sondern auch regelmäßig die jeweilige Behandlungsgenese. Daher sind in der Regel differenzialdiagnostische Maßnahmen ebenso wenig erforderlich wie die Einschaltung anderer Fachgebiete zur differenzialdiagnostischen Abklärung. So sind z. B. die im medizinischen Bereich im Übrigen zur Differenzialdiagnostik häufigen und zum Teil kostenaufwendigen Laboruntersuchungen im zahnmedizinischen Bereich die Ausnahme, z. B. im Bereich der bakteriologischen Untersuchungen bei Parodontalerkrankungen. Im Übrigen werden Zahn-, Mundund Kiefererkrankungen in aller Regel ambulant durch den Zahnarzt selbst versorgt. Zusammenarbeiten finden sich in erheblichem Umfange lediglich im Bereich der zahnprothetischen Versorgungen, da hierfür neben den rein zahnärztlichen Leistungen in der Regel in erheblichem Umfange auch zahntechnische Leistungen erforderlich sind, die wiederum zu einem erheblichen Teil von gewerblichen zahntechnischen Laboratorien erbracht werden.113 Demgegenüber stellt die Zusammenarbeit zwischen Zahnärzten und Ärzten bei der Behandlung die seltene Ausnahme dar. Derartige Fallgestaltungen sind z. B. bei der zahnmedizinischen Behandlung von Behinderten denkbar, die in der Zahnarztpraxis in Vollnarkose unter Hinzuziehung eines Anästhesisten erfolgen. Es kommt hinzu, dass im Gegensatz zur Ärzteschaft die Zahnärzteschaft nicht in eine Vielzahl unterschiedlicher Fachgruppen aufgespalten ist. Nach Maßgabe des landesspezifischen Weiterbildungsrechtes existieren bundesweit 112 Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kieferorthopädische Versorgung i. d. F. vom 22.09.1998. 113 Im Jahre 2001 entfielen in den alten Bundesländern von den Gesamtausgaben der Krankenkassen zuzüglich der Versichertenanteile für Zahnersatzversorgungen etwa 38% auf das zahnärztliche Honorar, ca. 62% auf die Material- und Laborkosten (KZBV-Jahrbuch 2002, Tab. 3.20).
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neben dem (grundsätzlich alle Leistungsbereiche abdeckenden) Zahnarzt lediglich die besonderen Fachgruppen des Kieferorthopäden und des Oralchirurgen. Daneben sind in wenigen Kammerbereichen auch Fachzahnärzte für Parodontologie anerkannt. Zudem ist in den Weiterbildungsordnungen der Zahnärztekammern regelmäßig und insofern im Gegensatz zu denjenigen der Ärztekammern nicht bestimmt, dass sich der Fachzahnarzt im Wesentlichen auf seinen Leistungsbereich zu beschränken hat. Dies hat in der weit überwiegenden Zahl der Fälle zur Folge, dass ein Zahnarzt zwar berechtigt eine Fachgebietsbezeichnung führt, dadurch aber weder berufsrechtlich noch zulassungsrechtlich gehindert ist, zahnärztliche Leistungen auch anderer Fachgebiete und daher im Ergebnis sämtliche zahnärztlichen Leistungen zu erbringen. Die vielfältigen, aus dem Bereich der vertragsärztlichen Versorgung bekannten Auseinandersetzungen über die Abrechenbarkeit bestimmter Leistungen in Abhängigkeit von deren Zuordnung zu bestimmten Fachgebieten114 bzw. zur Bindung der Abrechenbarkeit bestimmter Leistungen an einen Fachkundenachweis im Sinne von § 135 Abs. 2 S. 1 SGB V115 spielen im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung daher keine Rolle. Dementsprechend ist es z. B. bis heute auch nicht zur Vereinbarung entsprechender Fachkundenachweise durch die Partner der Bundesmantelverträge gekommen. Infolge dieser, im Wesentlichen einheitlichen Ausgestaltung des Berufsrechtes für Zahnärzte stellen auch Kooperationen von Zahnärzten in der Behandlung eines Patienten die Ausnahme dar. In der Regel wird die Behandlung vielmehr von einem Zahnarzt in vollem Umfange geplant und durchgeführt. Konsultationen anderer Zahnärzte beschränken sich im Wesentlichen auf die Durchführung von Ausgleichsextraktionen nicht durch Kieferorthopäden, sondern durch Zahnärzte bzw. die Durchführung komplexer oralchirurgischer Operationen durch Oralchirurgen. Aus den genannten Gründen sind auch stationäre Behandlungen von Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen ebenso die seltene Ausnahme wie eine diesbezügliche Kooperation zwischen dem stationären und dem ambulanten Versorgungssektor, z. B. im Rahmen einer ambulanten Nachsorge. Angesichts dieser gravierenden Unterschiede im Tätigkeitsgebiet sowie im Berufsrecht der Zahnärzte gegenüber den Ärzten haben sich im zahnärztlichen Bereich bisher auch Netzwerkstrukturen, wie sie sich im ärztlichen Bereich zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Fachgebiete, zum Teil auch unter Einbeziehung von Krankenhäusern für stationäre Versorgungen gebildet haben, nicht entwickelt. Dementsprechend ist es im vertragszahnärztlichen Bereich bisher auch nicht zur Durchführung von Modellvorhaben im Sinne der §§ 63 ff. SGB V unter Zugrundelegung derartiger Strukturen gekommen. Infolge des tat114 Z. B. BSGE 23, 97; BSG, NJW 1975, 2479; SozR 3-2500 § 95 Nr. 9; USK 73164; SozR 3-2500 § 72 Nr. 8; SGb 2002, 440. 115 Z. B. BSGE 82, 55; BSG, USK 99159; SozR 3-2500 § 87 Nr. 24; SozR 3-2500 § 135 Nr. 15.
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sächlichen Fehlens einer weitgehenden Kooperation von Zahnärzten mit Mitgliedern anderer Leistungssektoren fehlt es somit auch an einem Substrat für die Einbeziehung von Vertragszahnärzten in integrierte Versorgungen gemäß den §§ 140a ff. SGB V. Dementsprechend ist es bis heute auch insofern nicht zu diesbezüglichen Vertragsschlüssen und auch nicht zur Vereinbarung einer diesbezüglichen Rahmenvereinbarung der Bundesmantelvertragspartner gemäß § 140 d SGB V gekommen.116 Selbst soweit der Gesetzgeber des SGB V spezielle Regelungen hinsichtlich von Gruppenverträgen zwischen Zahnärzten und Krankenkassen getroffen hat, haben diese vor dem Hintergrund der gegenüber der vertragsärztlichen Versorgung abweichenden tatsächlichen Gestaltung der vertragszahnärztlichen Tätigkeit keine Relevanz erhalten. Dementsprechend sind z. B. bis heute keine längeren Gewährleistungsfristen zwischen Kassenzahnärztlichen Vereinigungen und den Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen bzw. entsprechende Einzel- oder Gruppenverträge zwischen Zahnärzten und Krankenkassen hinsichtlich längerer Gewährleistungsfristen für Füllungen und die Versorgung mit Zahnersatz gemäß § 136b Abs. 2 S. 7 SGB V geschlossen worden.117 Infolge des im Allgemeinen klar definierten und in seinen Auswirkungen begrenzten Krankheitsbildes im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung, das im Regelfalle durch ambulante Maßnahmen unmittelbar behandelt werden kann, spielen auch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen über einen längeren Zeitraum in diesem Bereich keine bedeutende Rolle. Dies trifft ebenso hinsichtlich der im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung erfolgenden Arzneimittelverordnungen zu, die im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung in den letzten Jahren einen wesentlichen Kostenfaktor darstellten und den Sozialgesetzgeber verschiedentlich zu Interventionen mit dem Ziel der Begrenzung der Arzneimittelausgaben veranlasst haben.118 Im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung beschränken sich Arzneimittelverordnungen im Wesentlichen auf Schmerzmittel und Antibiotika im Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen. 6. Befundabhängige Behandlungsalternativen Ein besonderes Charakteristikum gerade der zahnärztlichen Behandlung besteht darin, dass bei einem vorgegebenen Befund oftmals ein bestimmtes Behandlungsergebnis unter Verwendung unterschiedlicher Behandlungsmöglichkeiten erzielt werden kann. Diese Behandlungsalternativen unterscheiden sich da116
Vgl. hierzu Liebold/Raff/Raff/Wissing (Fn. 19), 10.20. Vgl. zu den Grenzen der dadurch eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten der Krankenkassen LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 22.05.1996, L 11 KA 61/95. 118 Vgl. insbesondere §§ 31, 33a bis 35a SGB V, zur verfassungsrechtlichen Einordnung der Festbetragsregelungen vgl. BVerfG, NZS 2003, 144. 117
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bei zum Teil erheblich hinsichtlich der damit verbundenen Aufwendungen und Kosten. Das jeweilige therapeutische Ziel ist beim Einsatz aller dieser unterschiedlichen Behandlungsmethoden dabei jeweils identisch. Unterschiede bestehen demgegenüber in dem jeweiligen Behandlungsverfahren und, was für den Patienten oft entscheidend ist, im optischen Ergebnis bzw. im Komfort nach Behandlungsabschluss. Infolgedessen besteht zum Teil ein erhebliches Interesse auch des GKV-Versicherten, aufwendigere Versorgungsformen auch dann in Anspruch zu nehmen, wenn diese – z. B. unter dem Gesichtspunkt einer Beschränkung der GKV-Versorgung auf das Ausreichende, Zweckmäßige und Wirtschaftliche gemäß § 12 SGB V – nicht zum Leistungskatalog der GKV zählen. Auf diese Interessenlage des GKV-Versicherten gerade im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung hat der Sozialgesetzgeber bisher allerdings nur teilweise reagiert. Lediglich beispielhaft kann dabei auf die Behandlungsalternativen bei zahnprothetischen Versorgungsformen verwiesen werden. Seit der Aufnahme von zahnprothetischen Versorgungen in den Leistungskatalog der GKV im Nachgang der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24.01.1974119 hat der Gesetzgeber der Tatsache Rechnung getragen, dass dieser Leistungskatalog nicht alle zahnmedizinisch anerkannten Versorgungsformen umfasst, da diese nicht alle dem Wirtschaftlichkeitsgebot Rechnung tragen. Bereits in § 182c Abs. 5 RVO a. F. war daher vorgesehen, dass die Versicherten auch aufwendigere Versorgungsformen in Anspruch nehmen können, dann aber die dadurch verursachten Mehrkosten selbst zu tragen haben. Eine entsprechende Regelung findet sich noch heute in § 30 Abs. 3 S. 2 SGB V. Mit diesen Bestimmungen hat der Gesetzgeber auf die Tatsache reagiert, dass sich im Rahmen der zahnprothetischen Versorgung das jeweilige Versorgungsziel, nämlich der Ersatz von verloren gegangener Zahnhartsubstanz, bzw. der Ersatz von verloren gegangenen Zähnen mit unterschiedlich aufwendigen Versorgungsformen erreichen lässt. Bei der Versorgung mit Zahnkronen kommen z. B. in Abhängigkeit vom Umfang der verlustig gegangenen Zahnhartsubstanz Teil- oder Vollkronen zum Einsatz. Diese können aus unterschiedlichen Materialien, so insbesondere verschiedene Dentallegierungen in verschiedenen Herstellungsverfahren zahntechnisch produziert werden. Bei der Präparation der diese Kronenkonstruktionen tragenden Zahnstümpfe durch den Zahnarzt kommen unterschiedliche Präparationsarten zum Einsatz. Die Kronen können entweder als so genannte „Vollgusskronen“ ausgeführt sein, d. h. vollständig aus Dentallegierungen bestehen oder ganz oder teilweise zahnfarben verblendet werden, wobei wiederum unterschiedliche Verblendungsmaterialien aus Kunststoff oder Keramik zum Einsatz kommen.120 Je nach der Ausdehnung der Restauration im Kauflächenbereich sind Kronenversorgungen zudem von Inlays, Onlays bzw. 119
BSGE 37, 74.
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Overlays abzugrenzen, bei denen, wie bei Füllungen, lediglich eine Ersetzung der Zahnsubstanz im Bereich eines begrenzten Defektes erfolgt.121 Hinsichtlich der vertragszahnärztlichen Leistungen sind die verschiedenen Kronenarten im Bewertungsmaßstab lediglich hinsichtlich ihrer Präparationsart in den Nummern 20a bis c Bema berücksichtigt. Die Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung mit Zahnersatz und Zahnkronen in der ab 24.03.2001 geltenden Fassung beinhalten unter III. verschiedene Bestimmungen hinsichtlich der Versorgung mit Zahnkronen, die allerdings nicht ausdrücklich hinsichtlich der verschiedenen Kronenarten differenzieren, sondern lediglich Aussagen hinsichtlich der allgemeinen Indikation von Kronenversorgungen, solchen hinsichtlich der Verwendung von konfektionierten Kronen sowie hinsichtlich der Verblendungen enthalten. Neben den bei der Abfassung der Richtlinien des Bundesausschusses bzw. der Leistungsbeschreibungen der Nrn. 20a bis c Bema bekannten und bewährten Versorgungsformen sind in der Vergangenheit aber auch eine Vielzahl neuer Kronentechniken entwickelt worden. Diese unterfallen nach der übereinstimmenden Bewertung der Bundesmantelvertragspartner den Bestimmungen des § 135 Abs. 1 SGB V, so dass diese erst dann im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung erbracht werden dürfen, wenn der Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen in Richtlinien Empfehlungen über deren Anerkennung abgegeben hat. Der Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen hat sich bis heute unter Zugrundelegung seiner Richtlinien über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und die Überprüfung erbrachter vertragszahnärztlicher Leistungen in der ab 01.03.2000 gültigen Fassung mit einem derartigen neuen Kronenverfahren befasst. Er hat diesbezüglich aber keine Empfehlung gemäß § 135 Abs. 1 S. SGB V abgegeben. Dabei sah sich der Bundesausschuss unter anderem der Problematik gegenüber, dass Unterlagen zum Nachweis des Nutzens der neuen Methode sowie deren Risiken und zum Vergleich des Nutzens dieser Methode zu anderen Methoden gleicher Zielsetzung in einer höheren Evidenzstufe bereits deshalb nur schwer zu erlangen sind, da wegen der regelmäßig langen Verweildauer prothetischer Versorgungsformen Verlaufskontrollen über einen Zeitraum von ca. 10 Jahren erforderlich sind, die naturgemäß kurzfristig nicht vorgelegt werden können. Dabei ist noch zusätzlich danach zu differenzieren, ob die Kronen als Einzelkronen oder als Brückenanker Verwendung finden sollen. Die obigen Ausführungen zu den Kronenversorgungen sind daher entsprechend auch auf den Ersatz fehlender Zähne durch Brückenkonstruktionen zu übertragen.122
120 Vgl. zur Abgrenzung der einzelnen Kronenarten Liebold/Raff/Raff/Wissing (Fn. 19), Bd. II, S. 1, Bd. III, S. 404 ff. 121 Liebold/Raff/Raff/Wissing (Fn. 19), Bd. III, S. 404 ff.
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Vor diesem Hintergrund haben die Spitzenverbände der Krankenkassen und die KZBV bereits am 11.03.1999 eine gemeinsame Erklärung zur Handhabung der Mehrkostenregelung gemäß § 30 Abs. 3 SGB V in Form einer übergangsweisen Verfahrensabsprache hinsichtlich solcher Kronen und Brücken, die nach neuen Verfahren hergestellt werden, für die der Bundesausschuss aber noch keine Empfehlung gemäß § 135 Abs. 1 SGB V abgegeben hat, als auch für Verblendungen außerhalb der Verblendgrenzen der Zahnersatzrichtlinien sowie aufwendige Versorgungsformen, die über den in § 30 Abs. 1 SGB V beschriebenen Umfang der vertragszahnärztlichen Versorgung hinausgehen, abgegeben. Auch beim Ersatz fehlender Zähne bestehen sowohl innerhalb als auch außerhalb der vertragszahnärztlichen Versorgung verschiedene Versorgungsmöglichkeiten. So können fehlende Zähne grundsätzlich in Abhängigkeit vom Restzahnbestand durch einen herausnehmbaren, klammergetragenen Zahnersatz, eine Modellgussprothese, eine Brückenkonstruktion oder durch einen implantatgetragenen Zahnersatz in der Form einer Kronen- bzw. Brückenversorgung ersetzt werden. Da es sich hierbei in der Regel um größere und komplexere Versorgungsformen handelt als bei der Versorgung eines Zahnes mit einer Einzelkrone, existiert insofern noch eine wesentlich größere Bandbreite möglicher Versorgungsalternativen. Ebenso wie im Bereich der Kronenversorgungen können auch hierbei unterschiedliche Materialien (insbesondere verschiedene Dentallegierungen bzw. Kunststoffe) zum Einsatz kommen, und es sind bei Brückenkonstruktionen solche mit und ohne Verblendungen möglich. Hinzu kommt eine erhebliche Varianz hinsichtlich Anzahl und Ausführung der Verbindungselemente des Zahnersatzes am Restzahnbestand. Insbesondere in einer Befundsituation, in der mehrere Zähne in einem Kiefer zu ersetzen sind, stellt sich zudem die grundsätzliche Frage, ob die fehlenden Zähne durch eine einheitliche Prothese ersetzt werden sollen oder ob eine Ersetzung einzelner fehlender Zähne bzw. Zahngruppen durch getrennte oder verbundene Brückenkonstruktionen erfolgen soll. Durch alle genannten Versorgungsformen wird jeweils ein identisches Therapieziel, nämlich der Ersatz eines oder mehrerer verloren gegangener Zähne unter Berücksichtigung eines unauffälligen Erscheinungsbildes, einer Wiederherstellung der Kaufunktion und dem Erhalt einer Hygienefähigkeit erreicht. Mit den verschiedenen Versorgungsformen sind zum Teil erheblich unterschiedliche Aufwendungen und damit naturgemäß auch Kosten sowohl hinsichtlich der zahnärztlichen, insbesondere aber hinsichtlich der zahntechnischen Leistungen verbunden. Unter den Aspekten einer möglichst komfortablen und ästhetisch unauffälligen Versorgung wird von den Patienten in der Regel ein festsitzender, in vollem Umfange verblendeter und damit zahnfarbener Zahnersatz bevorzugt, 122 Vgl. hierzu die Gebühren-Nrn. 91a bis d und die diesbezügliche Kommentierung bei Liebold/Raff/Raff/Wissing (Fn. 19), Bd. III, S. 417 ff.
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da dieser von außen in der Regel nicht als solcher erkennbar ist, er im Munde – weniger als herausnehmbarer Zahnersatz – als Fremdkörper empfunden wird und er zudem hinsichtlich der Mundhygiene keine wesentlich anderen Maßnahmen erfordert als die natürlichen Zähne. Unter der Geltung des allgemeinen Wirtschaftlichkeitsprinzips des § 12 Abs. 1 SGB V muss demgegenüber im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung grundsätzlich eine Beschränkung auf solche Versorgungsformen erfolgen, die ein vorgegebenes Therapieziel erreichen, dabei aber eine möglichst geringe finanzielle Belastung der Versichertengemeinschaft bewirken. Hinsichtlich der Zahnersatzversorgungen ist das allgemeine Wirtschaftlichkeitsprinzip in § 30 Abs. 1 SGB V zusätzlich näher dahingehend konkretisiert worden, dass bestimmte aufwendige Versorgungsformen, so insbesondere große Brücken und aufwendige Kombinationsversorgungen in § 30 Abs. 1, 3 und 4 SGB V aus dem Leistungskatalog der GKV ausgegrenzt worden sind. Für implantatgetragenen Zahnersatz besteht gemäß § 30 Abs. 1 S. 5 SGB V ein Anspruch lediglich in den vom Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 festzulegenden Ausnahmefällen.123 Das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot ist hinsichtlich der zahnprothetischen Versorgung zudem in den Zahnersatzrichtlinien des Bundesausschusses in Nr. 7 dahingehend konkretisiert worden, dass dann, wenn es verschiedene, den gleichen Erfolg versprechende Arten des Zahnersatzes gibt, der Zahnarzt diejenige vorsehen soll, die auf Dauer am wirtschaftlichsten ist. Die bei vorgegebener Befundsituation zum Teil erheblich unterschiedlichen Kosten der verschiedenen zahnmedizinisch möglichen Versorgungsformen führen im Zusammenwirken mit der Kostenbeteiligung der Krankenkasse gemäß § 30 Abs. 2 SGB V in Höhe von 50 bis 65% der Versorgungskosten in Abhängigkeit vom Präventionsverhalten des Versicherten gemäß § 30 Abs. 2 S. 3 bis 5 SGB V zu der Konsequenz, dass ein Versicherter, der eine aufwendigere Versorgungsform im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung in Anspruch nimmt, hierfür einen absolut höheren Kostenbeitrag der GKV in Anspruch nehmen kann als derjenige, der sich auf eine kostengünstigere Versorgungsform beschränkt. Dies gilt gemäß § 30 Abs. 3 SGB V auch dann, wenn der Versicherte auf der Grundlage einer Mehrkostenvereinbarung eine Versorgungsform wählt, die über den Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung hinausgeht. Denn auch insofern erhält der Versicherte weiterhin gemäß § 30 Abs. 3 S. 1 SGB V die Leistungen der GKV für eine zahnprothetische Versorgung im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung und hat gemäß § 30 Abs. 3 S. 2 SGB V le123 Vgl. dazu die vom Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen durch Beschluss vom 15.12.2000 als Nrn. 38 bis 41 in die Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung mit Zahnersatz und Zahnkronen aufgenommenen Ausnahmefälle.
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diglich die Mehrkosten der zusätzlichen, über die vertragszahnärztliche Versorgung hinausgehenden Leistungen in vollem Umfange selbst zu tragen. Diesen Umstand hat der Gesetzgeber des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes (2. NOG) vom 23.06.1997124 zum Anlass genommen, das prozentuale Zuschusssystem für Zahnersatz in den §§ 30, 30a SGB V a. F. durch ein Festzuschusssystem zu ersetzen, in dem der Versicherte unabhängig von der von ihm konkret gewählten Versorgungsform einen Anspruch auf Auszahlung eines bestimmten Festzuschusses hatte, der auf standardisierte und typisierte Versorgungsfälle und nicht auf den konkreten Leistungsumfang im Einzelfall abstellte. In den diesbezüglichen Begründungen des Gesetzentwurfes125 wird insofern ausgeführt, die Umstellung des bisherigen prozentualen Zuschusssystems auf Festzuschüsse sei notwendig, weil die im geltenden Recht vorgeschriebene prozentuale Bezuschussung einen Anreiz dafür bilde, besonders aufwendige Versorgungsformen zu wählen.126 Der damit insgesamt zu treffende Befund, dass im Bereich der zahnmedizinischen Behandlung tatsächlich Unterschiede in einem Umfange existieren, die eine differenzierte Behandlung durch den Gesetzgeber auch und gerade im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung rechtfertigen, besagt allerdings noch nicht, dass eine solche Praxis, z. B. in Form der oben angegebenen Reformmodelle der Zahnärzteschaft oder in Form einer Ausgliederung einzelner Leistungen oder Leistungsbereiche, auch verfassungsrechtlich als zulässig qualifiziert werden könnte. III. Verfassungsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten des Sozialgesetzgebers 1. Mögliche Grenzziehung durch den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 GG Soweit der Gesetzgeber grundlegende oder auch nur punktuelle Modifikationen am bisherigen System der GKV vornehmen sollte, wären diese auch an den Kriterien des allgemeinen Gleichheitssatzes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierzu ist es danach dem Gesetzgeber verboten, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders zu behandeln, obwohl zwischen bei124
BGBl. I, 1520. BT-Drucks. 13/6087. 126 Vgl. zu den verschiedenen Versorgungsformen und den hierzu erfolgten Festsetzungen der Festzuschüsse durch den Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen gemäß § 30a SGB V i. d. F. des 2. NOG, KZBV (Hrsg.) Kostenerstattung und Festzuschüsse, Hinweise und Berechnungsbeispiele für die prothetische Versorgung ab Januar 1998, 1997. 125
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den Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen.127 Dies verbietet es, tatsächliche Gleichheiten bzw. Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu vernachlässigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen.128 Allerdings ist auch insofern ein weiterer Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers anerkannt worden.129 Dies gilt danach auch und gerade hinsichtlich der Ausgestaltung seiner Verpflichtungen aus dem Sozialstaatsprinzip130. Die sich daraus ergebende allgemeine Schutzpflicht im Sinne einer Garantie der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein muss danach zwar im Grundsatz dem jeweils vorhandenen Bedarf an sozialer Hilfe entsprechen, für deren konkrete Erfüllung bestehen jedoch vielfältige Möglichkeiten. In diesem Rahmen obliegt es grundsätzlich der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, den ihm geeignet erscheinenden Weg zu bestimmen, insbesondere festzulegen, in welchem Umfang soziale Hilfen unter Berücksichtigung der vorhandenen Mittel und anderer gleichrangiger Staatsaufgaben gewährt werden können und sollen. Eine verfassungsrechtliche Grenze ist insofern nur dann erreicht, wenn die vom Gesetzgeber gewählten Ausprägungsformen des sozialen Schutzes nicht mehr fundamentalen Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit entsprechen, sei es dass der Kreis der Empfänger einer bestimmten staatlichen Leistung sachwidrig abgegrenzt wird oder dass bei einer Gesamtbetrachtung der soziale Schutz einer ins Gewicht fallenden Gruppe vernachlässigt wird.131 Dabei bezieht sich die verfassungsrechtliche Überprüfung nicht darauf, ob der Gesetzgeber im konkreten Fall die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gewählt hat.132 Vielmehr ist entscheidend, dass der Gesetzgeber dem ihm zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, insbesondere dass er die in Betracht kommenden Vergleichsfaktoren hinreichend gewürdigt hat und die gefundene Lösung sich im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt.133 Der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers endet danach erst dort, wo eine ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist und mangels einleuchtender Gründe als willkürlich beurteilt werden muss.134 Regelun127 128 129 130 131 132 133 134
Z. B. BVerfGE 79, 87; 79, 223; ebenso z. B. BSGE 68, 31. BVerfGE 60, 113. BVerfGE 49, 280; 71, 66; BVerfG, SozR 3-2200 § 1265 Nr. 5. BVerfGE 5, 85; 35, 202. BVerfGE 40, 121. BVerfGE 4, 144; 71, 255; 81, 108; 83, 395. BVerfGE 44, 1. BVerfGE 39, 148.
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gen, die innerhalb eines vergleichbaren Personenkreises einzelne Gruppen bevorzugen oder benachteiligen, müssen den geregelten Lebensverhältnissen entsprechen, und der Gesetzgeber muss für eine differenzierte Behandlung einzelner Gruppen zumindest irgendeinen sachlich vertretbaren, zureichenden Grund anführen können.135 Ein solcher Anknüpfungspunkt kann sich im Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung, aber auch aus Gründen der Finanzierbarkeit des Systems oder aus einer beschränkten Kapazität der jeweiligen Versorgungssysteme ergeben.136 Im Ergebnis beschränkt sich eine Einschränkung des Handlungsspielraumes des Gesetzgebers in diesem Bereich daher auf einen Willkürschutz, da eine verfassungsrechtliche Überprüfung der vom Gesetzgeber im Einzelnen herangezogenen Gründe weder von ihrer Zielsetzung noch von ihren Inhalten her erfolgt. Dementsprechend hat z. B. auch das Bundessozialgericht in einer Entscheidung aus dem Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung137 hinsichtlich einer vom Gesetzgeber herangezogenen und in umstrittener Form interpretierten Zeitmessstudie ausgeführt, der Gesetzgeber habe mit seiner Orientierung an einer wissenschaftlichen Untersuchung bereits den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gesetzgeberische Prognoseentscheidung genügt. Als verfassungswidrig könne eine derartige Orientierung nur dann qualifiziert werden, wenn Grundrechtseingriffe dabei auf offenkundige Fehleinschätzungen gestützt würden oder der Gesetzgeber weitgehend unbestrittene Feststellungen fachkundiger Gremien oder Personen bewusst ignoriert habe. Da die vom Gesetzgeber in Bezug genommene Studie vorliegend aber lediglich umstritten gewesen sei, stehe dies einer Wirksamkeit seiner Einschätzungsentscheidung nicht entgegen. Bezogen auf eine hier in Frage stehende eventuelle Neustrukturierung des Leistungsumfanges und des Leistungssystems innerhalb der GKV lassen sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz daher keine, über die Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten des Sozialgesetzgebers aus anderen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten heraus weitergehenden Einschränkungen entnehmen, die theoretisch eingegrenzt werden könnten. Vielmehr ist insofern konkret auf die Aspekte abzustellen, die gegebenenfalls vom Sozialgesetzgeber für die im Einzelnen ergriffenen Maßnahmen herangezogen werden. Dabei hat die zu eventuellen Einschränkungen der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG ergangene Rechtsprechung138 ergeben, dass jedenfalls unter diesem Aspekt dem Grundsatz der finanziellen Stabilität der GKV damit ein so dominierendes Gewicht beigemessen worden ist, dass hierdurch auch weitgehende Grundrechtseingriffe gerechtfertigt werden können, so dass alleine unter diesem Gesichtspunkt nicht von 135 136 137 138
BVerfGE 33, 44; 38, 187; 75, 108; 83, 1. BVerfGE 40, 121, ebenso BSGE 68, 31. BSGE 78, 135. BVerfGE 68, 193; 70, 1; BSGE 68, 291; BSG, SozR 3-5533 Nr. 763.
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einer wesentlichen Einschränkung des Gestaltungsspielraumes des Sozialgesetzgebers auch durch den allgemeinen Gleichheitssatz ausgegangen werden kann. Dem kann auch nicht mit Wenner139 entgegengehalten werden, die Fähigkeit feste Nahrung aufnehmen und zerkleinern zu können, sei jedenfalls in unserem Kulturkreis eine elementare Kompetenz und daher sei es jedenfalls dann, wenn bewährte Behandlungsverfahren existieren würden, verfassungsrechtlich geboten, durch eine entsprechende soziale Absicherung den Einzelnen vor Risiken zu schützen, die ihn wirtschaftlich überfordern könnten. Eine solche Bewertung ist sicherlich sozialpolitisch wünschenswert, steht allerdings nicht im Einklang mit der oben dargestellten verfassungs- und sozialgerichtlichen Rechtsprechung140. 2. Mögliche Grenzziehung durch die allgemeine Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG Ausgehend von der grundlegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts141, wonach Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit im Sinne von Art. 12 GG auch dann durch das überragend wichtige Gemeinschaftsgut der finanziellen Stabilität der GKV gerechtfertigt sind, wenn sie nachweislich zur Existenzvernichtung einer größeren Zahl der Betroffenen führt und der darauf aufbauenden ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts142, wonach entsprechende Reduzierungen der Vergütungen für die Leistungserbringer innerhalb der GKV unter diesem Gesichtspunkt jedenfalls solange als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen werden, als die im Rahmen einer Tätigkeit in dem jeweiligen Leistungssystem zu erzielenden Gesamteinnahmen sich so gestalten, dass sich noch eine, für eine hinreichend ausgestaltete medizinische Versorgung der Gesamtbevölkerung ausreichende Zahl von Leistungserbringern bereit findet, innerhalb dieses Leistungssystems tätig zu werden, hat der Gesetzgeber verschiedentlich Einschnitte in die Vergütungsstrukturen auch innerhalb der vertragszahnärztlichen Versorgung vorgenommen. So erfolgten z. B. in den Jahren 1981 und 1986 zwei durch den Gesetzgeber determinierte so genannte „Umstrukturierungen“ des einheitlichen Bewertungsmaßstabes für die zahnärztlichen 139 Wenner, Ulrich, Schwachstellen und Reformbedarf im Leistungs- und Leistungserbringerrecht der Krankenversicherung – Trennung der Versorgungsbereiche und Leistungsansprüche, in: GesR 2003, 129. 140 Vgl. dazu auch Jaeger, Renate, Die Reformen in der gesetzlichen Sozialversicherung im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: NZS 2003, 225; Hänlein, Andreas, Festlegung der Grenzen der Leistungspflicht der Krankenkassen, in: SGb 2003, 301. 141 BVerfGE 68, 193; 70, 1; 106, 351 (359, 369). 142 BSGE 68, 291; 75, 187; BSG, SozR 3-5533 Nr. 763; vgl. dazu Peikert, Peter/ Kroel, Mark, Ist der Vertragsarzt verpflichtet bestimmte (nicht kostendeckende) Leistungen zu erbringen?, in: SGb 2001, 662.
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Leistungen mit der Zielsetzung und dem Ergebnis einer Reduzierung der Vergütungen insbesondere in den zuvor auf der Grundlage einer entsprechenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts neu in den Bema aufgenommenen Leistungsbereiche der zahnprothetischen und kieferorthopädischen Versorgung.143 In diesen Leistungsbereichen folgte im Jahre 1993 zusätzlich eine Reduzierung der diesbezüglichen Punktwerte um 10% in § 85 Abs. 2b SGB V.144 Ergänzend erfolgte in § 85 Abs. 3a, b und c SGB V für die Jahre 1993, 1994 und 1995 eine gesetzliche Ankoppelung der Entwicklung der Gesamtvergütungen an die Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder aller Krankenkassen. Auch eine solche so genannte „Budgetierung“ der Gesamtvergütungen ist von der Rechtsprechung unter dem oben angesprochenen Grundsatz einer Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV als gerechtfertigt qualifiziert worden.145 Dementsprechend wurde eine solche Begrenzung der Gesamtvergütungen durch den Gesetzgeber im Jahre 1999 durch Art. 15 GKV-SolG erneut aufgegriffen.146 Unter diesem Gesichtspunkt ist ferner die zusätzliche Einführung eines so genannten „degressiven Punktwertes“ speziell für den Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung in § 85 Abs. 4b bis f SGB V als verfassungsrechtlich unbedenklich qualifiziert worden, durch den eine gesetzliche Reduzierung der Punktwerte für vertragszahnärztliche Leistungen beim Überschreiten bestimmter Punktmengengrenzen durch den einzelnen Vertragszahnarzt gesetzlich geregelt worden ist.147 Dies ist auch insofern als zulässig qualifiziert worden, als diese Bestimmungen auch für solche Vertragszahnärzte Anwendung finden, die in einem unterversorgten Gebiet tätig sind und daher einem bereits bedarfsplanungsrechtlich feststehenden Nachfrageüberhang gegenüberstehen.148 Dies gilt danach auch dann, wenn die sich daraus ergebenden Vergütungsreduzierungen mit solchen zusammentreffen, die sich bereits aus einer allgemeinen Budgetierung der Gesamtvergütungen ergeben.149 Gerade durch diese unterschiedslose Geltung derartiger Bestimmungen zur Vergütungsbegrenzung bzw. -reduzierung auch für solche Zahnärzte, die in einem unterversorgten Gebiet tätig sind und daher gegebenenfalls durch einen besonders großen Leistungsumfang lediglich eine bereits bedarfsplanungsrechtlich festgestellte Nachfrage befriedigen und von daher 143
Vgl. dazu Liebold/Raff/Raff/Wissing (Fn. 19), Bd. I, Einführung 2.3, 2.4. Zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit derartiger Eingriffe BSG, SGb 1996, 375, 537. 145 BSG, SozR 3-2500 § 85 Nr. 17. 146 Dazu SG Frankfurt a. M., Urt. v. 30.01.2002, S 27 KA 4456/00; SG Düsseldorf, Urt. v. 20.03.2002, 2 KA 145/00. 147 BSGE 89, 223; BSG, USK 97155; USK 98151; BVerfG, Beschl. v. 21.06.2001, 1 BvR 1762/00. 148 BSG, MedR 2000, 49. 149 BSG, USK 96150. 144
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nicht dem Verdacht einer willkürlichen, allein erwerbswirtschaftlich orientierten Leistungssteuerung im Sinne einer „angebotsinduzierten Nachfrage“150 unterliegen, verdeutlicht die weitgehende Orientierung des Gesetzgebers und mit ihm der Sozialgerichtsbarkeit an einer möglichst umfassenden und damit sicheren Begrenzung bzw. Reduzierung der Gesamtausgaben der GKV im jeweiligen Leistungsbereich, wobei auf die Besonderheiten des Einzelfalles keine Rücksicht genommen wird. Dies verdeutlicht ferner die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 72 Abs. 2 SGB V (früher § 368g Abs. 1 Halbs. 2 RVO a. F.). Danach ist die vertragszahnärztliche Versorgung durch schriftliche Verträge der Kassenzahnärztlichen Vereinigungen mit den Verbänden der Krankenkassen unter anderem so zu regeln, dass die zahnärztlichen Leistungen „angemessen vergütet werden.“ Hierzu ist von der Rechtsprechung stets die Auffassung vertreten worden, dass es sich dabei nicht nur um eine unverbindliche Programmvorgabe, sondern um ein zwingendes gesetzliches Verbot handelt.151 Dessen tatsächlicher Inhalt wurde zunächst aber nicht deutlich abgegrenzt.152 Aus verschiedenen Verfahren zur Angemessenheit der Vergütung für einzelne Leistungen wurde nicht deutlich, ob sich nach der Bewertung des Bundessozialgerichts dieses gesetzliche Verbot auf die, jeweils für die einzelne Leistung an den betreffenden Leistungserbringer gezahlte Vergütung oder aber auf die Höhe der Gesamtvergütungen insgesamt bzw. den Anteil des einzelnen Leistungserbringers an diesen bezieht.153 Zwischenzeitlich ist aber in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass sich das Gebot der angemessenen Vergütung vertragszahnärztlicher Leistungen nicht auf die Vergütung einer bestimmten einzelnen Leistung an den einzelnen Vertragszahnarzt bezieht. Das gesetzliche Gebot bezieht sich somit nicht auf den einzelnen Leistungserbringer, sondern auf die Vergütung der Leistungen insgesamt. Sein Sinn und Zweck ist nicht die Angemessenheit der Vergütung einzelner Leistungen oder eines einzelnen Leistungserbringers, sondern die Zielsetzung, über die Gewährung einer angemessenen Vergütung insgesamt die im öffentlichen Interesse liegende Sicherstellung der vertragszahnärztlichen Versorgung zu erreichen.154 Dem einzelnen Leistungserbringer kann danach bereits deshalb kein Anspruch auf eine in jedem Leistungsfall und bezogen auf jede einzelne Leistung zumindest kostendeckende Vergütung zustehen, weil deren Höhe sehr wesentlich von der betriebswirtschaftlichen Situation der einzelnen 150 Zum fehlenden Nachweis eines solchen Phänomens zumindest im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung Tadsen, Holger, Die Zahnarztdichte beeinflusst die Ausgaben nicht, in: ZM 1997, 216. 151 BSGE 20, 73; 68, 291. 152 Vgl. hierzu die Übersicht von Funk (Fn. 20), 314. 153 Vgl. z. B. BSGE 46, 140; 68, 291; 70, 240. 154 BSGE 68, 291; 75, 187; Schimmelpfeng-Schütte, Ruth, Zur Konkurrentenklage im Kassenarztrecht, in: SGb 1992, 320.
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Praxis abhängen würde, die sich durchaus unterschiedlich darstellen kann. Das damit verbundene unternehmerische Risiko wird dem einzelnen Leistungserbringer auch innerhalb des Systems der GKV nicht abgenommen, sondern es wird ihm lediglich eine Teilnahme an diesem System mit den damit verbundenen Erwerbschancen ermöglicht.155 Auch das System der vertragszahnärztlichen Vergütungen beruht danach auf einer Mischkalkulation156, durch die lediglich sichergestellt werden soll, dass die vertragszahnärztlichen Leistungen relationsgerecht in einem Umfange vergütet werden, dass für die Leistungserbringer insgesamt mit einer Teilnahme an dem System der GKV Einnahmen zu erzielen sind, die weiterhin hinreichenden Anlass dazu bieten, sich an diesem System zu beteiligen.157 Solange ein solcher Anreiz in dem Sinne im ausreichenden Umfange besteht, als sich weiterhin zumindest so viele Leistungserbringer bereit finden, zu diesen Konditionen im System der GKV tätig zu werden, dass Unterversorgungen im erheblichen Umfange verhindert werden können, kommt dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität gemäß § 71 Abs. 1 SGB V gegenüber allen übrigen Kriterien zur Festsetzung der Höhe der Gesamtvergütungen, insbesondere auch demjenigen der Angemessenheit der Vergütung der Leistungen der Leistungserbringer absolute Priorität zu.158 Lediglich unterhalb dieser, dadurch von vornherein fixierten Obergrenze für die Gesamtvergütungen ist bei deren Verteilung auf die verschiedenen Leistungserbringer bzw. deren Gruppen und auf eventuell unterschiedliche Kostensätze jedenfalls insofern Rücksicht zu nehmen, als gravierende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass diese nicht nur vorübergehend deutlich von den Ansätzen abweichen, die zuvor einer Festlegung von Bewertungsrelationen in den Bewertungsmaßstäben zugrunde gelegt worden sind.159 Bereits diese exemplarische Darstellung insbesondere der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Bereich der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung verdeutlicht, dass dem Sozialgesetzgeber insofern ein besonders weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt wird. Insbesondere die oben dargestellte Rechtsprechung160, wonach ein Anspruch auf Seiten der Leistungserbringer auf eine angemessene Vergütung ihrer Leistungen nur in dem Sinne besteht, dass durch die 155
BVerfG, NZS 2003, 144. BSG, MedR 2002, 47 mit Anmerkung von Steinhilper, Gernot/Schiller, Herbert, in: SGb 2002, S. 105 mit diesbzgl. Besprechungsaufsatz von Francke, Robert/Schnitzler, Jörg, Die Behandlungspflicht des Vertragsarztes bei begrenzten Finanzmitteln – Zur Unzulässigkeit der Verweigerung unrentabler Leistungen, in: SGb 2002, 84; BSG, Breithaupt 2001, 868 mit Entscheidungsbesprechung von Peikert/Kroel (Fn. 142), 662. 157 BSGE 68, 291; 75, 187; BSG, SozR. 3-5533 Nr. 763. 158 BSG, SGb 2000, 362; 2001, 679 mit Anmerkung von Daubenbüchel (Fn. 26). 159 BSG, GesR 2002, 56. 160 BSGE 68, 291; 75, 187; BSG, SozR 3-5533 Nr. 763. 156
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Gesamtvergütungen insgesamt ein hinreichender wirtschaftlicher Anreiz gegeben sein muss, dass sich Leistungserbringer in einer Zahl an dem System beteiligen, dass dadurch eine noch ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet wird, verdeutlicht die absolute Priorität, die vom Bundessozialgericht dem Aspekt der finanziellen Stabilität der GKV im Zusammenhang mit eventuellen Eingriffen in die Grundrechte der Leistungserbringer gemäß Art. 12 GG eingeräumt wird.161 Tatsächlich führt diese Rechtsprechung dazu, dass jedenfalls im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung ein relevanter Schutzbereich des Art. 12 GG nicht mehr erkennbar ist. Denn die, insofern nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts verfassungsrechtlich zu ziehende Grenze des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers orientiert sich gerade nicht an Grundrechten der Leistungserbringer, sondern wiederum nur an dem Aspekt einer Sicherung der – gegebenenfalls auch reduzierten – Leistungsfähigkeit der GKV. Nach dieser Rechtsprechung würde für sich alleine genommen auch der tatsächliche Ausschluss einer Berufstätigkeit von Ärzten oder Zahnärzten innerhalb eines Sozialversicherungssystems im Zusammenhang mit Art. 12 GG irrelevant sein. Diese Bewertung kann sich danach nur dann ändern, wenn infolgedessen eine Gefährdung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung im Rahmen der GKV eintreten würde. Gegen die damit faktisch erfolgte Reduzierung des Grundrechtsschutzes in diesem Zusammenhang auf Null ist in der Literatur bereits verschiedentlich deutliche Kritik geübt worden.162 Insbesondere die inzwischen formelhafte Verwendung des Begriffes der „finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung“ durch das Bundessozialgericht lässt es als zumindest zweifelhaft erscheinen, ob eine darauf reduzierte Überprüfung der Erforderlichkeit und Geeignetheit der jeweiligen Eingriffe in die Berufsausübungs- bzw. -wahlfreiheit der Betroffenen tatsächlich noch in jedem Falle der Wechselwirkung der jeweils verfassungsrechtlich zulässigerweise verfolgten Zielsetzungen entspricht. Selbst wenn dem weitgehenden Ansatz des Bundessozialgerichts insofern aber gefolgt wird, ist damit zwar sicherlich ein besonders weitgehender Gestaltungsspielraum des Sozialgesetzgebers begründet, da jedenfalls im Bereich der GKV für diese Grundrechte der Leistungserbringer lediglich noch eine praktische irrelevante Randerscheinung darstellen. Die damit praktisch verbundene Einräumung einer Blankettermächtigung gegenüber dem Gesetzgeber kann diesen allerdings dazu verleiten, von dieser tatsächlich auch Gebrauch zu machen 161 Zur Kritik an dieser prioritären Orientierung Tiemann, Burkhard/Tiemann, Susanne, Kassenarztrecht im Wandel, 1983, S. 518. 162 Sodan, Helge, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, S. 246 f.; Tiemann, Susanne, Zur Bedeutung des Faktors „Beitragssatzstabilität“ im System der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: SGb 1998, 141, (146); Sodan, Helge/Gast, Olaf, Die Relativität des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität nach SGB V, Verfassungs- und Europarecht, in: NZS 1998, 497 (505 m. w. N.).
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und die Belastungsfähigkeit des Systems der Leistungserbringung in der GKV, wie bereits in den vergangenen Jahren, weiter auszutesten. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wäre dabei auch die Einschränkung der Tätigkeit bzw. das massenhafte Verlassen dieses Systems durch die in diesem nicht mehr wirtschaftlich überlebensfähigen Leistungserbringer verfassungsrechtlich irrelevant. Eine solche Akzeptanz und damit verbundene, zumindest indirekte Provokation einer „Sozialpolitik auf Risiko“, die gegebenenfalls auch weitgehende Einschränkungen der gesundheitlichen Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten und damit zur Zeit ca. 95% der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik billigend in Kauf nimmt, stellt sich aber zumindest als nicht ungefährlich dar. Dies unter anderem auch deshalb, weil in einem derartigen Szenario nicht nur die Berufsfreiheit des Einzelnen, sondern gegebenenfalls diejenige ganzer Berufsgruppen in Frage steht. Bei den Leistungserbringern in der GKV handelt es sich regelmäßig um Angehörige hochqualifizierter freier Berufe, die für ihre Berufsausübung eine langjährige und aufwendige Ausbildung benötigen. Infolge der in den letzten Jahrzehnten zunehmenden Technisierung der Medizin setzt deren Berufsausübung zudem in der Regel nicht unerhebliche Investitionen voraus163, die wirtschaftlich nur dann getragen werden können, wenn eine zumindest langfristige Amortisationsaussicht besteht. Die Existenz entsprechend ausgebildeter, motivierter und ausgerüsteter Leistungserbringer in ausreichender Zahl, Qualifikation und Lokalisation kann vom Sozialgesetzgeber daher langfristig nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Eine Sozialpolitik, die auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch ein massenhaftes Ausscheiden dieser Leistungserbringer aus dem System der GKV akzeptieren würde, könnte daher nicht von vornherein davon ausgehen, dass diese bei einer akuten Gefährdung der medizinischen Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten zu veränderten Konditionen sofort wiederum im ausreichenden Maße zur Verfügung stünden. Die aktuelle Situation in der GKV ist von einem derartigen Szenario glücklicherweise noch weit entfernt. So kann sich auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die zur Zeit nur theoretischen Charakter hat, erklären. Es erscheint jedoch äußerst zweifelhaft, ob die dieser zugrunde liegende Bewertung auch dann noch aufrechterhalten würde, wenn sich die damit verbundenen Risiken zu realisieren drohen.
163 So belief sich das Investitionsvolumen für die Neugründung einer zahnärztlichen Einzelpraxis in den alten Bundesländern im Jahre 2001 auf durchschnittlich 322.000 A, IDZ-Information Nr. 3/2002.
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3. Mögliche Grenzziehung durch die Eigentumsgarantie gemäß Art. 14 GG In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Einbeziehung sozialversicherungsrechtlicher Positionen des Einzelnen in den Schutz der Eigentumsgarantie ist zunächst ein solcher hinsichtlich der Regelleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt worden.164 Dies gilt danach nicht nur für einen bereits zu einem Vollrecht erstarkten Anspruch, sondern auch für Anwartschaften, die nicht alleine durch Erfüllung weiterer Voraussetzungen, wie etwa des Ablaufes einer Wartezeit oder des Eintrittes des Versicherungsfalles zum Vollrecht erstarken können. Ausgeschlossen sind danach lediglich solche Rechtspositionen, bei denen die Leistung vom Ermessen eines Versicherungsträgers abhängt, oder auf die nach der jeweiligen Gesetzeslage lediglich eine Aussicht besteht.165 Ob auch weitere sozialversicherungsrechtliche Positionen dem Eigentumsschutz des Grundgesetzes unterfallen, blieb demgegenüber zunächst unentschieden.166 Dies galt z. B. hinsichtlich der Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung167, der Heiratsabfindung einer Witwe im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung168 oder bezüglich der Anpassung von Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung169. Als Abgrenzungskriterium ist dabei wesentlich auf den Zweck und die Funktion der Eigentumsgarantie unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge der Verfassung abgestellt worden.170 Durch die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG soll dem Einzelnen danach ein Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich eingeräumt und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens ermöglicht werden.171 Hinsichtlich sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche ist es danach erforderlich, dass diese ebenfalls eine vermögenswerte Rechtsposition des Anspruchsinhabers repräsentieren. Diese muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts172 nach Art eines Ausschließlichkeitsrechtes dem Rechtsträgers als privatnützig zugeordnet sein. Ferner muss der Anspruch auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruhen und zudem der Sicherung seiner Existenz dienen. Der Annahme einer nicht unerheblichen Eigenleistung steht es dabei nicht entgegen, wenn die Rechtsposition auch oder sogar überwiegend auf staatlicher Gewährung beruht. Ausgeschlossen sind danach nur solche Sozialleis164 165 166 167 168 169 170 171 172
Z. B. BVerfGE 40, 65. BVerfGE 53, 257; 63, 152. BVerfGE 53, 257. BVerfGE 42, 176. BVerfGE 55, 114. BVerfGE 64, 87. BVerfGE 36, 281; 42, 263. BVerfGE 40, 65; 42, 263; 50, 290; 68, 193. BVerfGE 69, 272.
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tungen, die ausschließlich auf einer staatlichen Gewährung in Erfüllung einer Fürsorgepflicht beruhen.173 Als eigene Leistungen des Versicherten sollen in diesem Zusammenhang aber nicht nur die von ihm selbst bezahlten Sozialversicherungsbeiträge, sondern auch solche berücksichtigt werden, die von Dritten zu seinen Gunsten dem jeweiligen Träger der Sozialversicherung zugeflossen sind. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Arbeitgeberanteile im Bereich der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung, die danach den eigentumsrelevanten Eigenleistungen des Arbeitnehmers zuzurechnen sind.174 Das Bundesverfassungsgericht hat dabei sehr wesentlich auf die historische Entwicklung abgestellt, nach der in der Bundesrepublik seit langer Zeit ein umfassendes und ständig ausgeweitetes System sozialrechtlicher, überwiegend sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften existiert, die der langfristigen Existenzsicherung des Einzelnen dienen. Damit ist jedenfalls in der Vergangenheit der sozialpolitische Anspruch verknüpft worden, grundsätzlich jedermann mit diesen Sozialversicherungssystemen einen zumindest ausreichenden Schutz vor den allgemeinen Daseinrisiken bieten zu können. Weite Bevölkerungskreise haben daher die weitere Existenz der Ansprüche und Anwartschaften gegenüber diesen Sozialversicherungssystemen bei ihrer Lebensplanung berücksichtigt und dieser zugrunde gelegt. Dies war nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch sozialpolitisch beabsichtigt, da eine große Mehrzahl der Staatsbürger ihre wirtschaftliche Existenzsicherung heutzutage weniger durch privates Sachvermögen, als durch den Arbeitsertrag und die daran anknüpfende solidarisch getragene Daseinsvorsorge erlange.175 Dabei wird zutreffend darauf hingewiesen, dass sowohl die eigenen Beiträge als auch diejenigen Dritter, z. B. derjenigen der Arbeitgeber, zu den verschiedenen Sozialversicherungssystemen die Funktion einer staatlich determinierten Eigenvorsorge des Einzelnen erfüllen. Die Sozialversicherungssysteme sind vom Ansatz her gerade deswegen eingeführt worden, weil der Sozialstaat davon ausging, dass der Einzelne nicht bereits aus eigenem Antrieb heraus eine hinreichende Eigenvorsorge zur Absicherung der Daseinsrisiken treffen würde, bzw. hierfür nicht über die erforderlichen Mittel verfüge und daher auf eine zusätzliche Absicherung im Rahmen einer größeren Solidargemeinschaft angewiesen sei. Im Rahmen der Sozialversicherungssysteme ist dem Einzelnen die Entscheidung darüber abgenommen, ob und in welchem Umfang er persönlich einen finanziellen Beitrag zur Absicherung der jeweiligen Daseinsrisiken leisten möchte. Die dem zugrunde liegende, gesetzliche Festlegung von Zwangsbeiträgen in den jeweiligen Versicherungssystemen wäre dann obsolet, wenn der Sozialgesetzgeber davon ausgehen könnte, dass der Einzelne im ausreichenden 173 174 175
BVerfGE 16, 94; 18, 392; 53, 257. BVerfGE 69, 272. BVerfGE 40, 65.
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Umfange willens und in der Lage wäre, eigenständig eine private Absicherung, sei es durch einen entsprechenden Vermögensaufbau, sei es durch den Abschluss eigener Versicherungsverträge, vorzunehmen. Dies verdeutlicht auch die seit Jahren andauernde Diskussion über die alternative Möglichkeit der Auszahlung des Arbeitgeberanteiles an den Sozialversicherungsbeiträgen an den Arbeitnehmer, verbunden mit einer entsprechenden Versicherungspflicht. Dies gilt ebenso hinsichtlich der Erwägungen des Sozialgesetzgebers, die zur Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung geführt haben176, wonach zumindest zu diesem Zeitpunkt weiterhin davon ausgegangen wurde, dass weite Teile der Bevölkerung nicht bereit oder in der Lage sind, sich freiwillig gegen ein bestimmtes Daseinsrisiko, seinerzeit das Risiko der Pflegebedürftigkeit, privat abzusichern. Die geringe Zahl von Personen, die vor In-Kraft-Treten des SGB XI freiwillig eine Pflegeversicherung abgeschlossen hatten und die daraus ersichtlich werdende mangelnde Bereitschaft zur entsprechenden Eigenvorsorge, stellte für den Sozialgesetzgeber danach auch einen verfassungsrechtlich ausreichenden Grund dar, eine breite Absicherung des Pflegerisikos auf gesetzlicher Grundlage vorzunehmen, da der Bevölkerung offenbar das gebotene Risikobewusstsein fehlte und sie keinen „Versicherungsdruck“ verspürte.177 Dies unter anderem auch deshalb, weil die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Entwicklungen eine unentgeltliche Pflege durch Dritte, insbesondere durch Ehepartner und Kinder, nicht allgemein als wahrscheinlich erscheinen ließen.178 Jedenfalls hinsichtlich rentenversicherungsrechtlicher Anwartschaften und Ansprüche ist ein Eigentumsschutz ungeachtet der Tatsache anerkannt, dass eine Beitragsäquivalenz jedenfalls nicht in vollem Umfange gegeben ist.179 Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der hier in Frage stehenden krankenversicherungsrechtlichen Ansprüche sind allerdings Unterschiede zu den rentenversicherungsrechtlichen Anwartschaften und den Renten zu berücksichtigen. Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung werden regelmäßig über einen langen Zeitraum gezahlt, ohne dass dabei konkrete Leistungsansprüche als kurzfristig relevant vorausgesetzt werden. Die Beiträge dienen vielmehr einer langfristigen Absicherung des Risikos eines fehlenden Einkommens im Alter. Dabei wird zwar, anders als in einer privaten Rentenversicherung, kein Kapitalstock aufgebaut, der dem einzelnen Beitragszahler eigentumsrechtlich zugeordnet wäre und aus dem spätere Rentenzahlungen finanziert werden können, sondern es entsteht lediglich eine Anwartschaft auf eine Teilnahme an Rentenzahlungen im jeweils gesetzlich geregelten Umfange. Von der Zielsetzung und der Funktion her treten die Rentenversicherungsbeiträge aber zumindest teilweise an die Stelle ansons176
BT-Drucks. 12/5262, S. 71. BVerfGE 103, 197. 178 BVerfGE 103, 242. 179 Hierzu z. B. Papier, Hans-Jürgen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 1994, Art. 14 Rn. 136 m. w. N. 177
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ten vom Einzelnen vorzunehmenden Maßnahmen der entsprechenden Daseinsvorsorge, z. B. in Form des Aufbaus eines eigenen Kapitalstocks. Demgegenüber zielt die hier in Frage stehende GKV nicht auf einen, voraussichtlich erst in fernerer Zukunft eintretenden Versicherungsfall, sondern auf die unmittelbare Absicherung vor dem allgegenwärtigen Daseinsrisiko einer, gegebenenfalls auch plötzlich eintretenden Erkrankung und den damit verbundenen Behandlungskosten. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass auch dann, wenn sozialversicherungsrechtliche Anwartschaften und Ansprüche dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG unterfallen, dadurch keine verfassungsrechtliche Garantie der Unveränderbarkeit des jeweiligen Sozialversicherungssystems und der daraus im Einzelfall erwachsenen Anwaltschaften und Ansprüche begründet wird.180 Ebenso wie unter dem Gesichtspunkt einer Garantiefunktion des Sozialstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 1 GG ist dem Sozialgesetzgeber vielmehr auch insofern ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt, der dann besonders groß ist, wenn gesetzgeberische Maßnahmen dazu dienen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern oder veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Sofern die jeweiligen Maßnahmen in diesem Sinne den Zwecken des Gemeinwohles dienen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, ist es dem Gesetzgeber dabei grundsätzlich auch nicht verwehrt, bereits gewährte Leistungen einzuschränken oder zu kürzen, den Umfang von Ansprüchen oder Anwartschaften zu vermindern oder diese inhaltlich umzugestalten.181 Insbesondere ist der Gesetzgeber durch einmal begründete Leistungsansprüche nicht daran gehindert, den Belangen derjenigen, die noch keine Ansprüche erworben haben, zukünftig in einer dem Sozialstaatsgebot entsprechenden Weise Rechnung zu tragen.182 Auch wenn somit im Hinblick auf die nicht unerheblichen Eigenleistungen der Beitragszahler und die grundsätzlich existenzsichernde Funktion eines Krankenversicherungsschutzes von einer Einbeziehung auch krankenversicherungsrechtlicher Ansprüche in den Eigentumsschutz des Art. 14 GG auszugehen ist, so kann sich dieser nicht auf jeden einzelnen in diesem Rahmen zunächst begründeten Leistungsanspruch beziehen. Insbesondere dann, wenn, wie vorliegend, im Hinblick auf die vertragszahnärztlichen Leistungen nicht eine völlige Beseitigung der bisherigen Absicherung vor dem Erkrankungsrisiko, sondern lediglich eine Beschränkung dessen Schutzbereiches auf bestimmte Erkran180
BVerfG, SozR 3-8570 § 10 Nr. 3, S. 53; USK 87114. Z. B. BVerfGE 53, 257; 40, 65; 97, 378; BVerfG, SozR 3-2500 § 47 Nr. 8 mit Anmerkung von Becker, Ulrich, Absenkung des Krankengeldes im Rahmen des BeitrEntlG, in: FamRZ 1997, 1397. 182 BVerfGE 69, 272. 181
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kungsformen in Frage steht, ist jedenfalls dann, wenn derartige Einschränkungen durch vernünftige Erwägungen des Gesetzgebers, insbesondere im Hinblick auf eine Absicherung der weiteren Finanzierbarkeit eines insgesamt ausreichenden Schutzes der Versichertengemeinschaft, begründet werden können, nicht von einer Verletzung verfassungsrechtlicher Eigentumsrechte des Versicherten auszugehen. 4. Mögliche Grenzziehung durch das Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 GG Bei dem allgemeinen Auftrag des Grundgesetzes zum Aufbau und Erhalt eines sozial geprägten Gemeinwesens handelt es sich nach allgemeiner Bewertung um ein generelles Grundprinzip, dem jedoch bereits nach seiner weiten und inhaltlich nicht näher definierten Fassung alleine keine unmittelbaren, konkreten Rechte und Pflichten zu entnehmen sind. Insbesondere sind danach Art. 20 Abs. 1 GG keine detaillierten Strukturvorgaben für den Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme zu entnehmen.183 Vielmehr handelt es sich dabei um eine allgemeine Richtschnur, die der Konkretisierung insbesondere durch den Gesetzgeber bedarf, dieser aber auch zugänglich ist.184 Das Sozialstaatsprinzip zielt in seinem Ursprung zunächst auf einen Schutz und die Fürsorge für besonders Hilfsbedürftige, die sich in einer persönlichen Notlage befinden.185 Damit ist allerdings keine Verpflichtung zu einer umfassenden staatlichen Fürsorge verbunden, sondern nur eine solche zur Sicherstellung der Mindestvoraussetzung eines menschenwürdigen Daseins.186 Darüber hinaus wird dem Sozialstaatsprinzip aber auch ein Auftrag zur Schaffung sozialer Sicherungssysteme gegen die Wechselfälle des Lebens entnommen.187 Nicht nur für von vornherein sozial besonders Schutzbedürftige, sondern für jedermann188 muss daher z. B. für den Fall des Eintrittes einer Erkrankung ein soziales Sicherungssystem vorhanden sein.189 Mit dieser allgemeinen Verpflichtung sind aber keine konkreten, subjektiven Rechte des Einzelnen auf eine ganz konkrete Ausgestaltung eines derartigen Sicherungssystems und insbesondere nicht die Gewährung bestimmter Leistungen in bestimmten Erbringungsformen verbunden.190 Dem Gesetzgeber ist dabei somit ein besonders weiter Gestaltungs183 Schnapp, Friedrich, Die Sozialstaatsklausel – Beschwörungsformel oder Rechtsprinzip?, in: SGb 2000, 341. 184 BVerfGE 65, 182; 71, 66. 185 BVerfGE 35, 202; 40, 121; 43, 13; 44, 353. 186 BVerfGE 40, 121. 187 BVerfGE 28, 324; 45, 376; 68, 193. 188 BVerfGE 11, 105; 28, 324; 75, 108. 189 BVerfGE 57, 70.
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spielraum eröffnet worden.191 Daher ist mit dem Sozialstaatsprinzip auch keine Garantie des Fortbestandes einer konkreten Ausformung sozialer Sicherungssysteme durch den Gesetzgeber in der Vergangenheit verbunden. Insbesondere besteht im hier interessierenden Zusammenhang somit keine verfassungsrechtliche Garantie der konkreten Ausprägung des sozialen Schutzsystems vor dem Risiko einer Erkrankung.192 Dies betrifft sowohl die Organisation des Leistungssystems als auch die Leistungsinhalte im Einzelnen. Insbesondere ist dann, wenn sich jedenfalls alleine aus dem Sozialstaatsprinzip keine unmittelbaren Pflichten des Gesetzgebers zur Gewährung bestimmter Leistungen ergeben193, auch ein Abbau von früher gewährten Sozialleistungen in erheblichem Umfange möglich.194 Der Gesetzgeber muss und kann daher bei der konkreten Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme auf veränderte Rahmenbedingungen, so z. B. auf eine veränderte Risikostruktur oder eine Veränderung der Leistungsfähigkeit der Gemeinschaft, reagieren. Von dieser Regelungskompetenz hat der Gesetzgeber in der Vergangenheit auch vielfältig Gebrauch gemacht. Auch hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Leistungsanspruches der Versicherten hat der Sozialgesetzgeber verschiedentlich Modifikationen vorgenommen. So hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Ausgleiches von Schäden, die bei der Besetzung deutschen Gebietes im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit entstanden sind (Besatzungsschäden)195 ausgeführt, das Sozialstaatsprinzip verlange, dass die staatliche Gemeinschaft in der Regel Lasten mitträgt, die aus einem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal, namentlich durch Eingriffe von außen entstanden sind und mehr oder weniger zufällig nur einige Bürger oder bestimmte Gruppen getroffen haben. Dies bedeute aber keine automatische Abwälzung solcher Lasten auf den Staat mit der Wirkung, dass dieser den Betroffenen unmittelbar zum vollen Ausgleich verpflichtet wäre. Vielmehr besteht danach lediglich eine Pflicht zu einer Lastenverteilung, mithin zu einem innerstaatlichen Ausgleich der Belastung nach Maßgabe einer näheren gesetzlichen Regelung. Wie diese auszugestalten sei, hänge von den jeweiligen Umständen ab, besonders von Art und Umfang der Sonderbelastung und davon, in welchem Ausmaß eine Beteiligung der Gesamtheit durch die soziale Gerechtigkeit gefordert werde und im Gesamtinteresse vertretbar er190
BVerfGE 27, 253; 41, 126; 57, 70; 68, 193; 82, 60; BSGE 54, 206. BVerfGE 70, 278; zum entsprechenden Gestaltungsspielraum der Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung in der vertragszahnärztlichen Versorgung vgl. Ziermann, Karin, Abgrenzung der Normsetzungskompetenzen des Bundesausschusses und des (erweiterten) Bewertungsausschusses im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung, in: VSSR 2003, 175 (185 ff.). 192 BVerfGE 77, 340. 193 BVerfGE 52, 283; 82, 60. 194 BSG, NJW 1987, 463. 195 BVerfGE 27, 253. 191
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scheine. Die Beurteilung dieser Faktoren ist danach in weitem Maße dem Gesetzgeber überlassen. Im Zusammenhang mit Heiratsklauseln bei den Waisenrenten in der sozialen Rentenversicherung hat das Bundesverfassungsgericht196 ausgeführt, die Sozialversicherung insgesamt und damit auch die hier in Frage stehende Hinterbliebenenversorgung diene nicht nur der sozialen Sicherung, sondern ihr komme darüber hinaus auch eine soziale Ausgleichsfunktion zu. In Ausprägung des Sozialstaatsprinzips sei sie dabei nicht mehr, wie ursprünglich, auf die Abwehr ausgesprochener Notlagen und die Vorsorge für die sozial schwächsten Bevölkerungskreise beschränkt. Art und Umfang der Leistungen sind dadurch aber nicht von vornherein determiniert. Diese unterliegen vielmehr von vornherein der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, der sie aus sozialpolitischen oder finanziellen Erwägungen heraus auch nachträglich einschränken kann.197 Im Zusammenhang mit Entscheidungen zur Verrechnung von Altersruhegeld und Arbeitslosengeld198 und zur Abschmelzung eines Knappschaftsruhegeldes199 hat das Bundesverfassungsgericht sogar ein Interesse der Allgemeinheit an entsprechenden Leistungsreduzierungen anerkannt, wenn dadurch z. B. sozialpolitisch unerwünschte Doppelbezüge oder unverhältnismäßig hohe Bezüge abgebaut werden sollen, dies insbesondere dann, wenn die jeweiligen Sozialversicherungsträger sich in einer angespannten Finanzlage befinden. Ähnlich wie sich dies in der Entwicklung des Leistungsrechtes innerhalb der vertragszahnärztlichen Versorgung dokumentiert, kann der Sozialgesetzgeber daher Art und Umfang der sozialversicherungsrechtlichen Leistungen im gewissen Maße auch an der finanziellen Leistungsfähigkeit der jeweiligen Sozialversicherungssysteme orientieren. Im Zusammenhang mit der Einführung einer Pflegeversicherung hat das Bundesverfassungsgericht200 ausgeführt, in Verfolgung des Sozialstaatsprinzips stelle es ein legitimes Konzept des zur sozialpolitischen Gestaltung berufenen Gesetzgebers dar, die erforderlichen Mittel auf der Grundlage einer Pflichtversicherung sicherzustellen201, die im Grundsatz alle Bürger als Volksversiche196 BVerfGE 28, 324, mit Anmerkung von Sieg, Karl, Zur Wirksamkeit der Heiratsklauseln bei Waisenrenten, in: SGb 1970, 335. 197 BVerfGE 36, 73; 40, 65 mit Anmerkung von Rohwer-Kahlmann, Harry, in: SGb 1976, 270. 198 BVerfGE 31, 185. 199 BVerfGE 36, 73. 200 BVerfGE 103, 197; dazu Ruland, Franz, Zur Verfassungsmäßigkeit der Pflegeversicherung, Rechtsprechungsübersicht, in: JuS 2001, 906; Ebsen, Ingwer, Die gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI) auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts, in: Jura 2002, 401; Ritze, Klaus, Zur vom BVerfG geforderten Reduzierung des Beitrags zur sozialen Pflegeversicherung für Kindererziehende, SGB XI – Forderung nach unterschiedlichen Pflichtversicherungsbeiträgen, in: SozVers 2002, 143. 201 Ebenso BVerfGE 44, 70; 48, 227; 52, 264.
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rung umfasst. Dabei war der Gesetzgeber auch nicht gehalten, die Gesamtbevölkerung oder auch nur die Pflegebedürftigen und die pflegenahen Jahrgänge generell der sozialen Pflegeversicherung zuzuweisen, etwa um niedrigere Prämien für jüngere Versicherte zu ermöglichen. Der Gesetzgeber war danach durch das Sozialstaatsprinzip nicht verpflichtet, seine in diesem Zusammenhang verfolgten Zielsetzungen alleine durch die Schaffung einer sozialen Pflegeversicherung zu verfolgen. Vielmehr konnte er zulässigerweise eine Pflegevolksversicherung in der Gestalt zweier Versicherungszweige schaffen, und er durfte dabei die einzelnen Gruppen dem einen oder anderen Versicherungszweig sachgerecht und unter dem Gesichtspunkt einer ausgewogenen Lastenverteilung zuordnen. Insgesamt kann somit als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass sich aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG für den Sozialgesetzgeber keine konkreten Handlungsaufträge ergeben. Er wird dadurch zwar allgemein zu einer Schaffung sozialer Sicherungssysteme gegen die Wechselfälle des Lebens verpflichtet, wobei sich diese Verpflichtung jedoch auf die Sicherstellung von Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein beschränkt. Subjektive Rechte des Einzelnen auf eine bestimmte Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme oder auf bestimmte von diesen erbrachten Leistungen lassen sich hieraus nicht ableiten. Dem Gesetzgeber ist insofern vielmehr ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt, der es ihm ermöglicht, auf unterschiedliche gesellschaftspolitische, aber auch finanzielle Entwicklungen zu reagieren und auch soziale Ausgleichsfunktionen zu verfolgen. Durch das Sozialstaatsprinzip ist daher weder das augenblickliche System einer Absicherung von Krankheitsrisiken durch eine gegliederte GKV generell noch das System der vertragszahnärztlichen Versorgung im Speziellen verfassungsrechtlich abgesichert. Dies gilt ebenso hinsichtlich der dieses System tragenden öffentlich-rechtlichen Körperschaften. Ebenso wenig ist danach der gegenwärtige Leistungsumfang oder die Organisation der Leistungserbringung innerhalb der GKV verfassungsrechtlich vorgegeben. Jedenfalls soweit sich hierfür im Einzelfall sachliche Gründe anführen ließen, wäre in diesem Rahmen somit sowohl eine Ausdehnung als auch eine Einschränkung des augenblicklichen Versichertenkreises innerhalb der GKV ebenso verfassungsrechtlich zulässig wie eine weitere Ausdehnung, aber auch eine Einschränkung des innerhalb der GKV abgedeckten Leistungsspektrums.202 Dies jedenfalls insofern, als durch Leistungseinschränkungen nicht die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein in Frage gestellt werden. Ebenso steht jedenfalls das Sozialstaatsprinzip auch weitgehenden Organisationsänderungen innerhalb der GKV, z. B. einem völligen oder teilweisen Übergang zu einem Pflichtversicherungssystem, sofern dieses in einer Form
202 Hierzu näher Sodan (Fn. 162), S. 340 f.; ders., Zur Verfassungsmäßigkeit der Ausgliederung von Leistungsbereichen aus der gesetzlichen Krankenversicherung, in: NZS 2003, 393.
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ausgestaltet wird, dass den oben genannten Kriterien Rechnung getragen werden kann, nicht entgegen. 5. Mögliche Grenzziehung durch den allgemeinen Grundsatz des Vertrauensschutzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG Mit jeder Aufhebung, aber auch mit einer Einschränkung der bisherigen Anwartschaften oder Leistungsrechte der Versicherten im Rahmen der GKV ist stets die Problematik verbunden, dass durch die damit verbundene belastende Wirkung eventuell ein Vertauen der Versicherten in den Fortbestand der ihnen bisher zustehenden Ansprüche enttäuscht wird. Insofern ist es grundsätzlich anerkannt, dass das Rechtstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG solchen Eingriffen des Gesetzgebers, die belastend in verfassungsgemäß verbürgte Rechtspositionen eingreifen, enge Grenzen setzt.203 Für die vorliegende Untersuchung kann es dabei dahingestellt bleiben, ob insofern zwischen einer echten und unechten Rückwirkung solcher Eingriffe204 bzw. zwischen einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen und einer tatbestandlichen Rückanknüpfung205 zu unterscheiden ist. Entscheidend ist, dass in beiden Fällen danach differenziert wird, ob durch die entsprechende Regelung in Tatbestände bzw. Ansprüche eingegriffen wird, die in der Vergangenheit nicht nur begonnen, sondern bereits abgeschlossen bzw. begründet worden waren.206 Bei durch öffentlich-rechtliche Normen begründeten Ansprüchen ist hierfür entscheidend darauf abzustellen, ob im Zeitpunkt der Verkündung der Norm die Anspruchsvoraussetzungen nach der bisherigen Rechtslage bereits erfüllt waren, wobei ein konkreter Bewilligungsbescheid hierfür nicht erforderlich ist.207 Demgegenüber wird eine unechte Rückwirkung bzw. eine tatbestandliche Rückanknüpfung allgemein dann angenommen, wenn eine Norm auf gegenwärtige, aber noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt und damit die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet.208 Konkret hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Änderung rentenversicherungsrechtlicher Ansprüche dazu ausgeführt, dass das Interesse der Anspruchsinhaber am Fortbestand eines über lange Zeit bestehenden Rechtzustandes grundsätzlich hoch einzuschätzen sei. Insbesondere führe die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherungen erst langfristig zu Versicherungsleistungen. Daher sei in diesem Bereich ein besonderes Vertrauen auf den Fortbestand gesetzlicher Leistungen begründet.209 203 204 205 206 207 208 209
BVerfGE 63, 343; 67, 1. BVerfGE 51, 356; 57, 361; 68, 287; 69, 272. BVerfGE 72, 200. Z. B. BVerfGE 45, 142; 63, 343; 72, 200. BVerfGE 30, 367. BVerfGE 51, 356; 69, 272; 72, 141. BVerfGE 69, 272; 76, 256.
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Andererseits ist auch insofern ein weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers anerkannt, so dass auch die gesetzliche Rentenversicherung von vornherein auf die Möglichkeit zur Anpassung an geänderte Verhältnisse angelegt ist.210 Jedenfalls soweit nicht konkret entstandene Ansprüche nachträglich beseitigt oder eingeschränkt werden, liegt insofern lediglich eine unechte Rückwirkung vor, wobei ein Vertrauensschutz nur dann verletzt werden kann, wenn der Berechtigte mit dem entwertenden Eingriff nicht zu rechnen brauchte und ihn daher auch bei seinen Dispositionen für die Zukunft nicht berücksichtigen konnte.211 Diese Voraussetzungen liegen dann nicht vor, wenn das Mitglied eines sozialen Sicherungssystems davon ausgehen muss, dass der Gesetzgeber gerade in diesen Bereichen aus Gründen des Allgemeinwohles auch Neuregelungen treffen kann, um damit wechselnden Erfordernissen, insbesondere hinsichtlich der Finanzierbarkeit des jeweiligen Sicherungssystems Rechnung zu tragen. In dieser Situation müssen es die Mitglieder sozialer Sicherungssysteme gegebenenfalls auch hinnehmen, dass der Gesetzgeber eine günstige Versicherungsmöglichkeit unter solchen Gesichtspunkten in eine andere Versicherungsalternative umgestaltet, die eine angemessene Sicherung ermöglicht. Dies jedenfalls insofern, als nicht im Einzelfalle das Vertrauen der Mitglieder eines der betroffenen Sicherungssysteme unter Berücksichtigung der gesamten Umstände billigerweise eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber beanspruchen kann. Es ist daher in diesen Fällen eine Abwägung zwischen dem Ausmaß des Vertrauensschadens des Einzelnen und der Bedeutung des gesetzlichen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit vorzunehmen.212 Insofern ist darauf zu verweisen, dass vom Sozialgesetzgeber gerade im Bereich der GKV in den letzten Jahrzehnten mehrere grundlegende Reformmaßnahmen durchgeführt worden sind. Diese gingen zunächst mit erheblichen Leistungsausweitungen für die Versicherten, in letzter Zeit zunehmend aber auch mit Leistungseinschränkungen einher. Dabei verdeutlicht insbesondere die oben im Einzelnen dargestellte, ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Eingriffen des Gesetzgebers in die Berufsfreiheit der Leistungserbringer gemäß Art. 12 GG, dass dabei dem Aspekt einer Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV eine überragende Bedeutung beigemessen worden ist, mit der Konsequenz, dass damit auch weitgehende Einschränkungen der Berufsausübung und der Berufswahl als gerechtfertigt angesehen worden sind. Zudem ist auch unter dem Gesichtspunkt des Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG in ständiger Rechtsprechung ausgeführt worden, dass das gegenwärtige System einer GKV und die von diesen zur Zeit gewährten Leistungen verfassungsrechtlich nicht garantiert sind, sondern dass dem Gesetzgeber insofern ein weiter Gestaltungs210 211 212
BVerfGE 58, 81; 70, 101. BVerfGE 51, 356; 69, 272. BVerfGE 24, 220; 64, 87; 69, 272.
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spielraum für die Leistungsausweitung, aber auch für eine Reduzierung des Leistungsumfanges, sowie für grundlegende Systemänderungen eingeräumt ist.213 Vor diesem Hintergrund können weder Versicherte noch Leistungserbringer grundsätzlich auf einen unveränderten Fortbestand des jetzigen Systems der GKV bzw. der darin gewährten Leistungen auch für die Zukunft vertrauen. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist somit davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zur Änderung sowohl des Organisations- als auch des Leistungs- und Leistungserbringungsrechtes im Bereich der GKV offen steht. Dies um so mehr, als er bei einer entsprechenden Strukturreform eine Verhältnismäßigkeit der Neuregelungen durch angemessene Übergangsregelungen sicherstellen sollte. Diese können ebenfalls verfassungsrechtlich geboten sein214, wobei dem Gesetzgeber aber auch insofern ein erheblicher Spielraum zur Verfügung steht.215 Jedenfalls soweit sich hinsichtlich zukünftiger Strukturreformmaßnahmen im Bereich der GKV vergleichbare Anknüpfungspunkte ergeben sollten, ist unter der Voraussetzung einer angemessenen Abwägung der Interessen der Allgemeinheit an einer dauerhaften Finanzierbarkeit eines Systems der sozialen Absicherung vor Krankheitsrisiken mit den Interessen der bisherigen GKV-Versicherten an einem Fortbestand des bisherigen Leistungsniveaus von einem weiten Gestaltungsspielraum des Sozialgesetzgebers auszugehen. IV. Die Neuregelung der zahnprothetischen Versorgung im GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14.11.2003 Durch eine Neufassung der §§ 55 ff., 87 SGB V wird durch das GKV-Modernisierungsgesetz mit Wirkung ab dem 01.01.2005 im Bereich der Versorgung mit Zahnersatz und Zahnkronen wiederum ein Festzuschusssystem eingeführt. Der Gesetzgeber kehrt damit im Grundsatz zu einer Regelungsform zurück, die bereits in § 30 i. d. F. des 2. NOG vom 23.06.1997216 existiert hat. Die wiederum auch das GMG mittragende Regierungskoalition im Deutschen Bundestag hatte zu diesem Festzuschusssystem i. d. F. des 2. NOG noch in der Begründung zum GKV-SolG, mit dem diese Regelung zum 01.01.1999 wieder revidiert wurde, Folgendes ausgeführt: „Das bisherige Festzuschußkonzept wird aufgegeben. Die Erfahrung mit Festzuschüssen hat gezeigt, daß die Standardisierung der Festzuschüsse in bestimm213 214 215 216
BVerfGE 27, 253; 41, 126; 57, 70; 68, 193; 70, 278; 82, 60; BSGE 54, 206. Z. B. BVerfGE 21, 173; 58, 300; 67, 1. BVerfGE 43, 242; 76, 256; vgl. dazu z. B. Sodan (Fn. 202), S. 393, 397. BGBl. I, 1520.
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ten Fällen, insbesondere aber bei Härtefällen, zu Problemen führt, die in einem standardisierten Festzuschußmodell nie vollkommen ausgeschlossen werden können. Außerdem hat die Umstellung auf Festzuschüsse in vielen Fällen auch zu einer Erhöhung der Gesamtkosten je Fall geführt. Dies wiederum führte zu unerwünschten zusätzlichen Belastungen der Versicherten. Aufgrund der vielfältigen Rechtsunsicherheiten bei Zahnärzten, Zahntechnikern, Krankenkassen und Versicherten haben sich medizinisch nicht begründbare Leistungseinbrüche bei der Versorgung mit Zahnersatz ergeben. Derartige irrationale Entwicklungen sind weder im Interesse der Leistungserbringer noch der Krankenkassen noch der Versicherten und der Gesamtwirtschaft. Auch der angebliche Vorteil von Festzuschüssen, gerechter zu sein als eine prozentuale Bezuschussung, entfällt, da auch das Festzuschußsystem unterschiedliche Versorgungsformen kennt und damit auch in diesem System derjenige, der die teuerste Versorgungsform wählt, den höchsten Zuschuß von der Krankenkasse erhält.“217 Demgegenüber sieht § 55 Abs. 1 SGB V in der ab dem 01.01.2005 geltenden Fassung nunmehr vor, dass die Krankenkasse in ihrer Satzung befundbezogene Festzuschüsse bei einer medizinisch notwendigen Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen für die Fälle vorzusehen hat, in denen eine zahnprothetische Versorgung notwendig ist und die geplante Versorgung einer Methode entspricht, die gemäß § 135 Abs. 1 SGB V anerkannt ist. Der Versicherte hat danach zukünftig keinen Anspruch mehr auf eine bestimmte, vertragszahnärztliche Leistung beim Zahnersatz, sondern lediglich auf die Auszahlung des jeweiligen Festzuschusses, der ihm grundsätzlich unabhängig davon zusteht, für welche konkrete Versorgungsform er sich entschieden hat. Die Höhe der Festzuschüsse orientiert sich an den Kosten für die zahnärztlichen und zahntechnischen Leistungen hinsichtlich bestimmter, gemäß § 56 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss in Richtlinien zu bestimmenden Befunden. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat dabei den Befunden jeweils eine zahnprothetische Regelversorgung zuzuordnen, die sich an den zahnmedizinisch notwendigen Leistungen orientiert und eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung mit Zahnersatz gewährleisten soll. Allerdings beinhaltet das GMG in § 56 Abs. 2 S. 5 bis 8 SGB V einschränkende Regelungen für den Gemeinsamen Bundesausschuss, die die bisherigen Leistungsgrenzen des § 30 Abs. 1 SGB V übernehmen und zusätzlich die Festlegung beinhalten, dass zumindest bei kleinen Lücken von festsitzendem Zahnersatz auszugehen ist. Von diesen Vorgaben kann der Gemeinsame Bundesausschuss gemäß § 56 Abs. 2 S. 12 SGB V in der ab 01.01.2005 geltenden Fassung allerdings abweichen und die Leistungsbeschreibung fortentwickeln. Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss zu bestimmenden Regelversorgungen müssen sich auch auf 217
BT-Drucks. 14/24.
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Suprakonstruktionen beziehen, die ebenfalls Gegenstand der Festzuschüsse sein werden. Die bisherigen Beschränkungen des Leistungsanspruches bei Suprakonstruktionen auf besondere Ausnahmefälle in § 30 Abs. 1 S. 5 SGB V wird damit entfallen, und die Festzuschüsse können sich auf alle Suprakonstruktionen beziehen, sofern diese vom Gemeinsamen Bundesausschuss für bestimmte Befunde als Regelversorgungen anerkannt werden sollten. Auf der Grundlage der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Festlegung der Befunde und der Regelversorgungen sowie der hierfür erforderlichen Leistungen haben die Bundesmantelvertragspartner gemäß § 57 Abs. 1 SGB V unter Zugrundelegung der Leistungsbeschreibungen und der Punktzahlen des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes bundeseinheitliche Vergütungen zu vereinbaren. Für die, für den entsprechenden Befund vom Gemeinsamen Bundesausschuss festgesetzten zahntechnischen Leistungen werden die Vergütungen gemäß § 57 Abs. 2 SGB V demgegenüber weiterhin auf Landesebene vereinbart. Im Rahmen des Festzuschusssystems steht dem Versicherten der Festzuschuss für den jeweiligen Befund unabhängig davon zu, für welche konkrete prothetische Versorgungsform er sich entscheidet und welche zahnärztlichen und zahntechnischen Leistungen dabei tatsächlich erforderlich sind. Grundsätzlich wird dem Versicherten damit eine Wahlmöglichkeit unter allen befundbezogenen Versorgungsformen eröffnet. Soweit sich der Versicherte für eine Regelversorgung entscheidet, ist diese auf solche Versorgungsformen beschränkt, die gemäß § 135 Abs. 1 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss anerkannt worden sind. Neben der Inanspruchnahme einer Regelversorgung behält der Versicherte gemäß § 55 Abs. 4 SGB V seinen Anspruch auf den jeweiligen Festzuschuss auch dann, wenn er einen so genannten „gleichartigen Zahnersatz“ in Anspruch nimmt. Ein solcher liegt ausweislich der Begründung zum GMG218 dann vor, wenn dieser die Regelversorgung umfasst, jedoch zusätzliche Versorgungselemente, wie z. B. zusätzliche Brückenglieder oder zusätzliche oder andersartige Verankerungs- und Verbindungselemente aufweist. Die Mehrkosten für diese zusätzlichen Leistungen sind nach der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) abzurechnen. Entsprechendes gilt bei der Inanspruchnahme „andersartiger Versorgungsformen“ gemäß § 55 Abs. 5 SGB V. In diesen Fallgestaltungen wählt der Versicherte keine Regelversorgung (z. B. eine Modellgussprothese), sondern eine andere Versorgungsform (z. B. eine Brücke), die ein identisches Therapieziel verfolgt. In diesen Fällen liegt eine Privatbehandlung vor, die vom Zahnarzt in vollem Umfange unter Zugrundelegung der GOZ abzurechnen ist, ohne dass der Versicherte dabei allerdings seinen Anspruch auf Auszahlung des Fest218
BT-Drucks. 15/1525 vom 08.09.2003.
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zuschusses verliert, den er in diesem Falle von seiner Krankenkasse nach näherer Maßgabe der jeweiligen Satzung als Erstattungsleistung erhält. Gemäß § 87 Abs. 1a SGB V ist im Bundesmantelvertrag zu vereinbaren, dass die Kosten für eine Zahnersatzversorgung, soweit diese einer Regelversorgung nach § 56 Abs. 2 SGB V entspricht, gegenüber dem Versicherten abzurechnen sind. Gemäß S. 8 dieser Bestimmung ist allerdings nach Abschluss der Behandlung vom Vertragszahnarzt eine Abrechung der jeweiligen Festzuschüsse gegenüber der Kassenzahnärztlichen Vereinigung vorzunehmen, sofern kein Fall des § 55 Abs. 5 SGB V vorliegt. Insofern definieren die, zukünftig gemäß § 57 Abs. 1 SGB V von den Bundesmantelvertragspartnern bundeseinheitlich zu vereinbarenden Vergütungen für die zahnärztlichen Leistungen nicht nur die Basis für die Festlegung der Festzuschüsse, sondern zugleich auch die Höhe der Vergütungen für die Regelversorgungen. Auch das Festzuschusssystem im Jahre 2005 wird somit wiederum eine Verknüpfung zwischen der Zuschussgewährung der Krankenkasse und dem Vergütungsanspruch des Zahnarztes herstellen. Diese Vergütungen werden allerdings in ihrer Höhe feststehen und auch nicht mehr, wie im augenblicklichen System der prozentualen Bezuschussung, durch eine Einbeziehung in budgetierte Gesamtvergütungen gegebenenfalls einer rückwirkenden Absenkung unterliegen. Hinsichtlich der Fixierung der Vergütungshöhe verweist allerdings § 57 Abs. 1 S. 5 SGB V in der ab 01.01.2005 geltenden Fassung wiederum auf die Bestimmungen zum allgemeinen Vorrang des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität, so dass auch insofern wiederum eine Verknüpfung dieser Vergütungen mit der Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder aller Krankenkassen bestehen wird. Auch dieses Bezuschussungs- und Vergütungssystem wird daher wiederum keine Lösung des grundsätzlichen Problems beinhalten, dass in der GKV dem Versicherten die Inanspruchnahme unbegrenzter Leistungen für begrenzte Beitragszahlungen vorgespiegelt wird. Während der Versicherte zur Zeit auch im Bereich des Zahnersatzes Anspruch auf bestimmte vertragszahnärztliche Leistungen hat, an denen er lediglich einen finanziellen Eigenanteil tragen muss, so dass sich dieses Leistungsgeschehen weiterhin im Rahmen des Sachleistungsprinzips als ein „übernormatives Grundprinzip“ des Rechts der GKV219 abwickelt, steht ihm ab dem 01.01.2005 nur noch ein Anspruch auf Auszahlung eines leistungs- und versorgungsunabhängigen Festzuschusses zu. Daraus ergibt sich zunächst eindeutig, dass der Versicherte zukünftig nicht mehr, wie im bisherigen System, gegenüber seiner Krankenkasse einen Anspruch auf Erbringung ganz bestimmter zahnärztlicher Leistungen hat. Sein Anspruch beschränkt sich demgegenüber auf einen Geldleistungsanspruch in Höhe der jeweiligen befundorientierten Fest219
BSGE 57, 50.
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zuschüsse. Dies ändert jedoch nichts daran, dass sowohl die Vergütungshöhe als auch die Leistungserbringung und -abrechnung sehr weitgehend durch Bestimmungen des Vertragszahnarztrechtes normiert bleiben. So determinieren die, vom Gemeinsamen Bundesausschuss gemäß § 56 SGB V i. d. F. des GMG festzusetzenden Regelversorgungen und die diesbezüglichen Auflistungen der hierfür erforderlichen zahnärztlichen Leistungen gemäß § 56 Abs. 2 S. 11 SGB V sowie die diesbezüglich von den Bundesmantelvertragspartnern gemäß § 57 Abs. 1 SGB V festzusetzenden Vergütungen abschließend die Honoraransprüche der Vertragszahnärzte im Bereich der Regelversorgungen. Gemäß § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a und § 28 Abs. 2 SGB V gehört die Versorgung mit Zahnersatz weiterhin zum Leistungsbestandteil der Krankenkassen. Die Festzuschüsse gemäß § 55 Abs. 1 SGB V i. d. F. des GMG beziehen sich gemäß der eindeutigen Bezugnahme auf § 135 Abs. 1 SGB V in § 55 Abs. 1 S. 1 SGB V i. d. F. des GMG auf Versorgungsformen, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss anerkannt worden sind. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat auch weiterhin gemäß § 136b Abs. 2 SGB V insofern Qualitätskriterien zu beschließen, und die Vergütungen für die Regelversorgungen sind gemäß § 87 Abs. 1a S. 8 SGB V obligatorisch über die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen abzurechnen. Auch ist gemäß § 106 Abs. 2a Nr. 5 SGB V weiterhin eine grundsätzliche Einbeziehung auch dieser Versorgungsformen in die allgemeinen Wirtschaftlichkeitsprüfungen vorgesehen. Gerade diese Aspekte hat das Bundessozialgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1992220 zum Anlass genommen, hinsichtlich der gemäß § 30 SGB V i. d. F. des GRG geltenden Kostenerstattung für Zahnersatz auszuführen, das SGB V gehe insofern lediglich hinsichtlich der Abwicklung des Honoraranspruches vom Kostenerstattungsprinzip aus, während es für die Wirtschaftlichkeitsprüfung und die Qualitätskontrolle weiterhin vom Sachleistungsprinzip im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses ausgehe. Zudem hat das Bundessozialgericht221 weiter ausgeführt, der Unterschied zwischen Sachleistung und Kostenerstattung bestehe darin, dass im Sachleistungssystem der Vergütungsanspruch des Vertragszahnarztes offen sei, wohingegen sich im Kostenerstattungssystem der Vergütungsanspruch allein gegen den Versicherten richte. Neben diesem Vergütungsanspruch stehe dem Vertragszahnarzt in einem Kostenerstattungssystem nicht zugleich ein Anspruch gegen die Krankenkasse als Gesamtschuldner zu, der von der Kassenzahnärztlichen Vereinigung für den Vertragszahnarzt geltend gemacht werden könne. Das Bundessozialgericht hat daraus gefolgert, dass seinerzeit bei einem grundsätzlich weiterbestehenden Sachleistungsprinzip lediglich eine teilweise Eigenbeteiligung des Versicherten normiert worden sei, ohne dass diese Kostenerstattung vom Gesetzgeber als ein 220 221
BSG, Soz-R 3-5555 § 12 Nr. 3. BSGE 66, 284.
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die Zuschussfälle übergreifendes Gegenprinzip zur Sachleistung institutionalisiert worden sei. Es sei daher weiterhin von einer grundsätzlichen Sachleistung auszugehen. Angesichts der Tatsache, dass Versicherte mit Einführung des Festzuschusssystems keinen Anspruch mehr auf die Erbringung bestimmter zahnärztlicher Leistungen beim Zahnersatz, sondern einen Anspruch auf eine Geldleistung in der Form der jeweiligen Festzuschüsse haben, die Versicherten hierfür gemäß § 58 SGB V einen separaten Beitrag an ihre gesetzliche Krankenkasse zu zahlen haben und die Vergütungen für die zahnärztlichen Leistungen als Grundlage für die Berechnung der Festzuschüsse nicht von den Gesamtvertragspartnern, sondern auf Bundesebene von den Mantelvertragspartnern zu vereinbaren sind, sind die Zahlungen der Krankenkassen an die Vertragszahnärzte über die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen in diesem System nicht mehr Bestandteil der Gesamtvergütungen gemäß § 85 Abs. 1 SGB V, sondern diese stehen dem jeweiligen Vertragszahnarzt unabhängig von den tatsächlich erbrachten Leistungen und unabhängig von Maßnahmen der Honorarverteilung gemäß § 85 Abs. 4 SGB V zu. Das Verfahren für die erstmalige Festsetzung der Vergütungen für das Jahr 2005 ist in § 57 Abs. 1 SGB V abschließend vorgegeben worden. Eine Budgetierung oder sonstige Beschränkung des diesbezüglichen Ausgabenvolumens der GKV insgesamt ist dem nicht zu entnehmen. Für die Folgejahre ist allerdings in § 57 Abs. 1 S. 5 SGB V bestimmt, dass insofern § 71 Abs. 1–3 und § 85 Abs. 3 SGB V gelten. Dies ist insofern missverständlich, als die Bezugnahme auf § 85 Abs. 3 SGB V wiederum für eine Vereinbarung der diesbezüglichen Veränderungsraten nicht durch die Bundesmantelvertragspartner, sondern durch die Gesamtvertragspartner auf Landesebene sprechen würde. Angesichts der eindeutigen Fassung von § 57 Abs. 1 S. 1 SGB V, der die Vergütungsvereinbarungen insofern zeitlich unbegrenzt den Bundesmantelvertragspartnern zuweist, und den diesbezüglichen Ausführungen in der Begründung222 kann dies nur so verstanden werden, dass zwar die Kriterien des § 85 Abs. 3 SGB V hinsichtlich der Vereinbarung der Veränderungen der Gesamtvergütungen auf die Vergütungsvereinbarungen gemäß § 57 Abs. 1 SGB V entsprechend anzuwenden sind, ohne dass dadurch etwas an der Vertragskompetenz auf Bundesebene geändert werden soll. Hierfür spricht auch die im gleichen Satz erfolgte Bezugnahme auf § 71 Abs. 1–3 SGB V, der unter Zugrundelegung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität ebenfalls Beschränkungen der Vertragskompetenz der Vertragspartner generell beinhaltet. Aus diesen Bezugnahmen folgt aber insgesamt, dass die Bundesmantelvertragspartner bei den Anschlussvereinbarungen für den Zeitraum nach dem Jahre 222
BT-Drucks (Fn. 218), S. 93.
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2005 ebenso wie die Gesamtvertragspartner hinsichtlich der Gesamtvergütungen dem absoluten Primat des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität unterliegen. Daraus folgt unter Zugrundelegung der einschlägigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den Vereinbarungen der Gesamtvergütungen223 ferner, dass diesem Grundsatz Vorrang gegenüber allen anderen Vergütungskriterien zukommt und dass mit diesem die Verpflichtung der Vertragspartner verbunden ist, auch bei einer weiterhin grundsätzlich zulässigen Vereinbarung einer Einzelleistungsvergütung eine feste Obergrenze des Volumens der von der einzelnen Krankenkasse zu leistenden Gesamtvergütung zu bestimmen. Eine Übertragung dieser Bewertung auf die Vergütungsvereinbarungen gemäß § 57 Abs. 1 SGB V müsste zumindest für den Zeitraum nach dem Jahre 2005 zu einer Beschränkung des hierfür von der GKV zur Verfügung stehenden Gesamtvolumens in Orientierung an den bisherigen Ausgabenvolumina, unter Fortschreibung entsprechend der jeweiligen durchschnittlichen Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einnahmen aller Mitglieder der Krankenkassen führen. Angesichts der Tatsache, dass eine rückwirkende Veränderung der vom Gemeinsamen Bundesausschuss gemäß § 56 Abs. 4 SGB V prospektiv zu veröffentlichenden Festzuschussbeträge und damit verbunden auch eine rückwirkende Veränderung der diesen zugrunde liegenden Vergütungen für zahnärztliche Leistungen nicht möglich ist, kann eine Reaktion auf eine eventuelle Über- oder Unterschreitung des jeweiligen Finanzierungsvolumens nur unter Berücksichtigung eines entsprechenden Ausgleichbetrages bei den jeweiligen Anschlussvereinbarungen erfolgen. Da das medizinisch erforderliche Leistungsniveau vom Gemeinsamen Bundesausschuss befundbezogen ebenso festzulegen ist, wie die hierfür zahnmedizinisch erforderlichen zahnärztlichen Leistungen, können sich Veränderungen des Ausgabenvolumens insofern nur durch eine gesteigerte Inanspruchnahme zahnprothetischer Versorgungen durch die Versichertengemeinschaft ergeben. Insbesondere sind in einem System befundorientierter Festzuschüsse Ausgabensteigerungen der Krankenkassen infolge der Erbringung besonders aufwendiger Leistungen bzw. Versorgungsformen durch die Vertragszahnärzte ausgeschlossen, da die Krankenkasse unabhängig von den tatsächlich erbrachten Leistungen und der gewählten Versorgungsform jeweils nur den entsprechenden, befundorientierten Festzuschussbetrag zu leisten hat. In einem derartigen System muss bei einer Geltung des absoluten Primats des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität auch für diese Ausgaben der Krankenkassen eine steigende Leistungsinanspruchnahme durch die Versicherten schrittweise zu einer Absenkung der Festzuschussbeträge und damit zugleich der Vergütungen für zahnärztliche Leistungen für Regelversorgungen führen. Dieses Phänomen verdeutlicht die Tatsache, dass auch das im GMG vorgesehene Festzuschusssystem nicht in der Lage ist, das Problem einer Erbringung im Prinzip 223
BSGE 86, 126.
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unbegrenzter Leistungen für von vornherein begrenzte Vergütungsvolumina zu lösen. Die auch in diesem System fortbestehende Verknüpfung des Leistungsanspruches des Versicherten und des Vergütungsanspruches des Zahnarztes in Verbindung mit dem absoluten Primat des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität muss demgegenüber zu einer Fortschreibung der bereits seit langem bestehenden Problematik führen, wonach die leistungsmengenunabhängige Orientierung der Vergütungshöhe alleine an den finanziellen Ressourcen der GKV mittelfristig zu nicht mehr angemessenen Vergütungen und zu ungesteuerten Rationierungsmaßnahmen führt. Allerdings ist für den Versicherten in § 58 Abs. 2 SGB V nunmehr eine Wahlmöglichkeit eröffnet, die es ihm ermöglicht, an Stelle der Satzungsleistung einer gesetzlichen Krankenkasse hinsichtlich der Zahnersatzversorgungen eine private Krankenversicherung abzuschließen, die nach Art und Umfang Leistungen beinhaltet, die denen des § 55 Abs. 1 und des § 56 SGB V vergleichbar sind. Die in diesem Zusammenhang im Gesetzgebungsverfahren angesprochene faire Wettbewerbsordnung zwischen GKV und PKV wird durch diese Regelung allerdings nicht erreicht, da beide Bereiche über völlig unterschiedliche Marktzugangsvoraussetzungen und Versicherungskriterien verfügen. Sämtliche potentielle Vertragspartner sind bereits Mitglied einer Krankenkasse, die über eine entsprechende Adressenliste verfügen und zumindest ihre Mitglieder unmittelbar hinsichtlich eines entsprechenden Versicherungsvertrages ansprechen kann. Demgegenüber muss die PKV über allgemeine Werbemaßnahmen versuchen, einen entsprechenden Kundenkreis zu erreichen. Es kommt hinzu, dass §§ 58 f. SGB V für die GKV einen bundeseinheitlichen, durchschnittlichen Beitrag für Zahnersatz innerhalb der GKV vorsehen, der durch einen Finanzausgleich für härtefallbedingte Mehraufwendungen organisiert wird. Demgegenüber ist die PKV nach dem Versicherungsprinzip organisiert und muss daher jeweils risikoäquivalente Prämien kalkulieren. Ein derartiges Angebot kann in der Regel nur für jüngere Versicherte attraktiv sein, so dass realistischer Weise nur diese als potentieller Kundenkreis der PKV in Betracht kommen, sofern diese von deren Angebot überhaupt erfahren. Formal hat der Gesetzgeber mit dem System befundorientierter Festzuschüsse einen Regelungsvorschlag der Zahnärzteschaft aufgegriffen. Dessen Regelungsstruktur bleibt jedoch inhaltlich deutlich gegenüber dem dort beschriebenen Modell zurück. Die seit mehreren Jahren vorliegenden Konzepte der deutschen Zahnärzteschaft gehen von einem flächendeckenden Kostenerstattungssystem aus, wobei sich die Erstattungsbeträge nicht an den konkreten tatsächlichen Behandlungskosten, sondern an standardisierten Versorgungsformen zu orientieren haben, die unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit der Versorgung und den finanziellen Ressourcen der GKV befundorientiert festgesetzt werden.
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Das zum 01.01.2005 in Kraft tretende Festzuschusssystem orientiert sich zwar auch an bestimmten zahnmedizinischen Befunden, § 56 Abs. 2 SGB V beinhaltet jedoch so weitgehende inhaltliche Vorgaben des Gesetzgebers an den Gemeinsamen Bundesausschuss hinsichtlich der im Einzelfall zu berücksichtigenden Versorgungsformen und den hierfür erforderlichen Leistungen, dass tatsächlich doch wieder weitgehend ein therapiebezogenes Festzuschusssystem festgeschrieben worden ist. Es wird sich in diesem Zusammenhang noch erweisen müssen, inwieweit der Gemeinsame Bundesausschuss von der diesbezüglichen Öffnungsklausel in § 56 Abs. 2 S. 11 SGB V Gebrauch machen wird, und inwieweit darauf eventuell aufbauende Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses von der Aufsichtsbehörde gemäß § 56 Abs. 5 i. V. m. § 94 SGB V unter fiskalpolitischen Gesichtspunkten akzeptiert werden. Ein wesentliches Defizit des nunmehr im SGB V vorgesehenen Festzuschusssystems ist zudem die fortbestehende Verknüpfung zwischen der Zuschussgewährung der Krankenkasse einerseits und dem Vergütungsanspruch des Zahnarztes andererseits. Jedenfalls soweit sich die Leistungen auf Regelversorgungen im Sinne von § 55 Abs. 1 SGB V beziehen, ergeben sich aus den Festsetzungen des Gemeinsamen Bundesausschusses hinsichtlich der hierfür erforderlichen Leistungen und den hierzu von den Bundesmantelvertragspartnern gemäß § 57 Abs. 1 SGB V vereinbarten Beträgen gleichzeitig die Vergütungen für den behandelnden Zahnarzt. Auch wenn diese Vergütungen im jeweiligen Abrechungszeitraum feststehen und daher nicht mehr, wie im augenblicklichen System, der prozentualen Bezuschussung durch eine Einbeziehung in budgetierte Gesamtvergütungen gegebenenfalls einer rückwirkenden Modifikation unterliegen, ist durch die in § 57 Abs. 1 S. 5 SGB V enthaltene Bezugnahme auf den Grundsatz der Beitragssatzstabilität wiederum eine Verknüpfung dieser Vergütungen mit der Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder aller Krankenkassen gegeben, so dass auch in diesem System eine Lösung des eigentlichen Finanzierungsproblems der gesetzlichen Krankenkassen nicht erfolgt ist. V. Zusammenfassung Verfassungsrechtlich ist dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme, so auch eines solchen gegen das Risiko einer Erkrankung, grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet. Er ist zwar allgemein zu einer Schaffung sozialer Sicherungssysteme gegen die Wechselfälle des Lebens verpflichtet, wobei sich diese Verpflichtung jedoch auf die Sicherstellung von Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein beschränkt. Daraus folgen im Grundsatz keine subjektiven Rechte des Einzelnen auf die Gewährung ganz bestimmter Leistungen in bestimmten Fallgestaltungen oder auf die Ausgestaltung eines ganz bestimmten Systems der sozialen Sicherung. Daher
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folgt auch aus der historischen Entwicklung eines Systems der GKV in Deutschland keine verfassungsrechtliche Garantie insoweit. Ebenso wenig verhindert die historische Ausprägung eines, in der Vergangenheit zunehmend ausgeweiteten Leistungsumfanges dieses GKV-Systems zugleich auch einen verfassungsrechtlichen Ausschluss einer Reduzierung dieses Leistungsumfanges z. B. unter gesundheitspolitischen Aspekten oder um veränderten Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen. Primäres Ziel der Sozialgesetzgebung der zurückliegenden Jahrzehnte war die Erhaltung der Beitragssatzstabilität. Tragendes Element zur Gewährleistung dieser Beitragssatzstabilität war vor dem Hintergrund steigender Leistungsausgaben bisher im Wesentlichen eine Reduzierung bzw. Begrenzung der Vergütungen für die Leistungserbringer, zuletzt in der Form eines absoluten Primats des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität vor allen anderen Vergütungskriterien. Ohne eine Beschränkung der Leistungsinhalte und des Leistungsumfanges insgesamt, erfolgte daher bisher im Wesentlichen eine Orientierung der Vergütungshöhe an der Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder aller Krankenkassen. Dieses Vorgehen ist von der einschlägigen verfassungs- und sozialgerichtlichen Rechtsprechung auch als zumindest solange rechtmäßig qualifiziert worden, als im System der GKV noch eine Vergütung ausgekehrt wird, die einer hinreichenden Zahl von Leistungserbringern Veranlassung gibt, an diesem System teilzunehmen. Vor dem Hintergrund einer zunehmend alternden Bevölkerung in der Bundesrepublik, die durch einen Anstieg der Leistungsnachfrage einerseits und einen Rückgang der Zahl der aktiven Beitragszahler andererseits charakterisiert wird, stellt sich zunehmend die sozialpolitische Frage, inwieweit dieses Konzept auch zukünftig verfolgt werden kann. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Bereich der zahnmedizinischen Behandlung gegenüber allen anderen Leistungsbereichen durch eine Reihe von tatsächlichen Besonderheiten geprägt ist. So sind die zahnmedizinischen Behandlungen in der Regel nicht vital indiziert, das Phänomen der so genannten „angebotsinduzierten Nachfrage“ ist in diesem Bereich nicht nachweisbar, es finden kaum Kooperationen mit anderen Leistungsbereichen oder die Veranlassung von Leistungen aus anderen Leistungsbereichen statt, und es bestehen in weiten Bereichen Behandlungsalternativen mit erheblich unterschiedlichen Kostenbelastungen, die eine individuelle Wahlentscheidung des Patienten ermöglichen und voraussetzen. Zudem lassen sich Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen in weitem Umfange durch ein präventionsorientiertes Verhalten des Einzelnen und eine entsprechende präventive, zahnmedizinische Versorgung verhindern. Daher bietet sich gerade in diesem Leistungsbereich eine Konzentration der beschränkten finanziellen Ressourcen der GKV auf eine präventionsorientierte Zahnheilkunde ebenso an, wie darüber hinausgehend eine Konzentration auf unbedingt erforderliche Grundleistungen. Gerade der Sonderaspekt der Präventionsabhängigkeit
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des Erkrankungseintrittes rechtfertigt zudem auch eine weitgehende Ausgliederung von Leistungen oder Leistungsbereichen aus dem Regelungsspektrum des Sozialrechts. Die Zahnärzteschaft hat bereits seit langem ein umfassendes Konzept zur Begrenzung der Ausgaben der GKV im Bereich der vertragszahnärztlichen Versorgung auf der Grundlage eines Systems befundorientierter Festzuschüsse vorgelegt. Die zum 01.01.2005 in Kraft tretenden Bestimmungen im SGB V zu einem System befundorientierter Festzuschüsse bei der Versorgung mit Zahnersatz greift dieses Konzept im Grundsatz auf, lässt aber die damit verbundenen Steuerungsmöglichkeiten und die Chancen einer dauerhaften Reduzierung der Beitragssätze in der GKV weitgehend ungenutzt. Auch nach dem In-Kraft-Treten des GMG wird somit die diesbezügliche sozial- und rechtspolitische Diskussion weitergeführt werden müssen.
Aktuelle Rechtsfragen der Gesundheitsreform in Bezug auf die vertragszahnärztliche Versorgung Von Ruth Schimmelpfeng-Schütte I. Einleitung Seit den Siebzigerjahren versuchen die Politiker, die Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in den Griff zu bekommen. Die Zahl der Gesetzesänderungen ist beachtlich. Die Vorschriften nehmen stetig an Umfang zu. Aber sie werden nicht klarer. Allein § 85 SGB V z. B. nimmt in der Textsammlung des „Aichberger“ 5 Seiten ein – seit 1989 eine Zunahme um fast das Doppelte. Doch die Aktivitäten des Gesetzgebers schlagen im Jahr 2003 in Sachen Gesundheitsreform alle bisherigen Rekorde. Unüberschaubar ist die Zahl der Vorschläge von Politikern, Kommissionen, Sachverständigen, Funktionären etc. zur Gesundheitsreform. Die Vielfalt der Ideen erstaunt. Wir sind Zeugen einer überaus schwierigen Geburt. Die Wehen der Gesundheitsreform dauern lange, wie ein gedrängter Rückblick auf das Jahr 2003 belegt. Heute – am 15.09.2003 – ist es noch keine neun Monate her, dass am 01.01.2003 das Beitragssatzsicherungsgesetz1 in Kraft getreten ist. Es verbietet den Krankenkassen, in diesem Jahr die Beiträge zu erhöhen. Der Gesetzgeber meinte, dadurch Einsparungen von 2,8 Milliarden Euro erzielen zu können. Doch schon bei Inkrafttreten des Gesetzes zeigt sich, dass das gesteckte Ziel allein durch das Einfrieren von Beiträgen nicht erreicht werden kann. Schon am 14.03.2003 kündigt Bundeskanzler Gerhard Schröder gravierende Einsparungen im Gesundheitsbereich an. Die Ausgliederung des Krankengeldes aus der GKV ist nur einer von zahlreichen Plänen, die zu Lasten der Versicherten Geld in die Kassen bringen sollen. Nach peinlichem Hin und Her in der so genannten Rürup-Kommission schlägt Gesundheitsministerin Ulla Schmidt neben anderem vor, zur Entlastung der Krankenkassen die Tabaksteuer zu erhöhen. Schließlich verständigen sich die Spitzen der Regierungskoalition im Mai 2003 auf Eckpunkte einer Gesundheitsreform 2004. Auch durch sie werden vor allem die Versicherten belastet, und zwar in Milliardenhöhe. Wenig später – am 28.05. 1 Gesetz zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 23.12.2002, BGBl. I, 4637.
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2003 – beschließt das Bundeskabinett die „Formulierungshilfe für einen Gesetzesentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitssystems (Gesundheitssystemmodernisierungesetz – GMG)“. Die Opposition (CDU/CSU) setzt dagegen. Mitte Juni 2003 einigt sie sich nach langem internen Streit auf ein eigenes Reformkonzept. Durch den Druck der Öffentlichkeit nimmt die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Angela Merkel, schließlich das Angebot der SPD-Bundestagsfraktion an, ein gemeinsames Prozedere in Sachen Gesundheitsreform zu suchen. Insgesamt achtzehn Politiker nehmen daraufhin am 04.07.2003 die so genannten Konsensgespräche auf. Die Konsensrunde besteht aus Vertretern der Bundestagsfraktionen SPD, CDU/CSU (mit Verhandlungsführer Horst Seehofer), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherheit Ulla Schmidt sowie Vertretern der Bundesländer. Das Ergebnis der Konsensgespräche wird am 21.07.2003 der Öffentlichkeit präsentiert. Es führt zu heftigen Reaktionen. Schließlich legen die Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 08.09.2003 den „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKVModernisierungsgesetz – GMG-Entwurf)“ vor. Schon diese kurze Rückschau zeigt, wie mühsam der GMG-Entwurf vom 08.09.2003 (derzeitiger GMG-Entwurf) zustande gekommen ist. Er ist weit davon entfernt, ein Gesetzeswerk zu sein, das den Namen „Reform“ verdient. Die Struktur der GKV bleibt unverändert. Es werden vor allem Maßnahmen ergriffen, die mehr Geld in die Kassen bringen sollen. Doch das wird die GKV nachhaltig nicht sanieren. Ohne eine echte Strukturreform werden die Defizite bleiben. Die GKV wird durch den derzeitigen GMG-Entwurf nicht gesunden. Sie wird nach wie vor Patient bleiben, wie alle, die tagtäglich mit der GKV zu tun haben. Sie werden auch in Zukunft im Umgang mit der GKV die Eigenschaften eines Patienten benötigen: Geduld, Ertragen, Ausdauer, Abhärtung, Genügsamkeit. Mit dem derzeitigen GMG-Entwurf haben es die Politiker nicht nur versäumt, die GKV neu zu strukturieren. Sie haben auch die Chance verpasst, die GKV transparent zu machen. Zwar beteuert die Begründung des derzeitigen GMGEntwurfs immer wieder, die GKV sei nun transparent und versichertenfreundlich geworden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Entgegen allen Beteuerungen wird die GKV durch den derzeitigen GMG-Entwurf nicht klarer, sondern noch undurchsichtiger. Selbst die verantwortlichen Politiker scheinen nicht mehr durchzuschauen, wie ein Bericht der Süddeutschen Zeitung belegt. Sie schreibt in ihrer Ausgabe vom 26.08.2003, dass der Kabinettsbericht von Ulla Schmidt zur Pflegeversicherung vom Bundeskanzler mit den Worten bedacht wurde: „Danke, Ulla, das hat jetzt wieder keiner verstanden.“ Wenn aber ein Reformwerk selbst für seine Wegbereiter undurchsichtig bleibt, wie soll es dann von den Adressaten – den Versicherten, den Leistungserbringern, den Krankenkas-
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sen – verstanden werden? Doch ein Rechtssystem, das von den Bürgern nicht akzeptiert werden kann, weil es undurchsichtig bleibt, trägt nicht. Basis eines Rechtsstaats sind Transparenz und Verständlichkeit der Gesetze. II. Geplante Neuregelungen Der derzeitige GMG-Entwurf wirft eine Fülle von Rechtsfragen auf, von denen ich hier nur einige herausgreifen kann: – Ausgliederung des Zahnersatzes aus der vertragszahnärztlichen Versorgung (Änderung § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB V), – Einführung einer so genannten Praxisgebühr für die Inanspruchnahme (zahn)ärztlicher Behandlung (Einfügung § 28 Abs. 4 SGB V), – Abschlagszahlung für Verwaltungskosten und fehlende Wirtschaftlichkeitsprüfung bei ambulanter Behandlung im EU-Ausland (Einfügung § 13 Abs. 4 SGB V), – Errichtung eines Gemeinsamen Bundesausschusses (Änderung § 91 SGB V), – Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (Einfügung §§ 139a ff. SGB V), – Fortbildungsverpflichtung der Zahn/Ärzte (Einfügung § 95d SGB V). III. Rechtlicher Prüfmaßstab An welchen rechtlichen Vorgaben sind diese Neuregelungen zu prüfen? Die Antwort erscheint einfach: natürlich vor allem an unserer Verfassung. Doch das Grundgesetz gibt auf Einzelfragen des Gesundheitswesens keine schnellen Antworten. Es garantiert weder eine bestimmte Form einer GKV, noch sind gar die Rechtsbeziehungen der Betroffenen im Einzelnen geregelt. Das ist juristisches Allgemeingut und soll hier nicht vertieft werden. Vielmehr kann auf die Arbeiten von Thomas Muschallik und Karin Ziermann2 zurückgegriffen werden. Sie haben die Regelungsoptionen des Gesetzgebers ausführlich und übersichtlich dargestellt. Für alle Fragestellungen in diesem Zusammenhang gilt: Aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ergeben sich keine konkreten Handlungsaufträge an den Gesetzgeber. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet ihn zwar zur Errichtung sozialer Sicherungssysteme gegen die Wechselfälle des Lebens. Subjektive Rechte des Bürgers auf eine bestimmte Ausgestaltung sozialer Siche2 Muschallik, Thomas/Ziermann, Karin, Zukunftsperspektiven der vertragszahnärztlichen Versorgung, 2003.
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rungssysteme oder auf bestimmte Leistungen ergeben sich aus Art. 20 Abs. 1 GG aber nicht. Das gilt für das Leistungsrecht ebenso wie für das Leistungserbringungsrecht.3 Der Gesetzgeber hat somit einen weiten Gestaltungsspielraum. Dieser Gestaltungsspielraum endet an den vom Grundgesetz geschützten Rechtspositionen. Prüfungsmaßstab sind also vornehmlich die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG), die Freiheit der Berufswahl und der Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG), das Eigentum (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Die verfassungsrechtliche Überprüfung einer gesetzlichen Regelung wird in den meisten Fällen ergeben, dass mehrere Schutzgüter betoffen sind, d. h. dass mehrere verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen miteinander in Widerstreit liegen. Das erfordert eine Abwägung konkurrierender Rechtspositionen. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – d. h. dem rechten Maß der Mitte – kommt hierbei die entscheidende Rolle zu. Lassen Sie mich vor diesem Hintergrund einige der geplanten Neuregelungen beleuchten. IV. Ausgliederung des Zahnersatzes aus der vertragszahnärztlichen Versorgung (Änderung § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB V) Die Ausgliederung des Zahnersatzes aus der GKV hat zu heftigen Diskussionen geführt. Thema ist zum einen der Tatbestand der Ausgliederung des Zahnersatzes als solcher. Zum anderen geht es um Fragen der Konkurrenz von privater Krankenversicherung (PKV) und GKV bei der obligatorischen Absicherung des Risikos „Zahnersatz“ und um die Modalitäten der zahnärztlichen Abrechnungsmöglichkeiten. Zur Verfassungsmäßigkeit der Ausgliederung des Zahnersatzes aus der GKV möchte ich die Darstellung von Helge Sodan4 empfehlen und verzichte aus Zeitgründen auf weitere Ausführungen.
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Muschallik/Ziermann (Fn. 2), S. 79 f. Sodan, Helge, Zur Verfassungsmäßigkeit der Ausgliederung von Leistungsbereichen aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Dargestellt am Beispiel der Versorgung mit Zahnersatz, in: NZS 2003, 393 ff. 4
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V. So genannte Praxisgebühr für die Inanspruchnahme zahn/ärztlicher Behandlung (Einfügung § 28 Abs. 4 SGB V) Die Absicht des Entwurfs „Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz“ – des Vorgängers zum derzeitigen GMG-Entwurf – war es, § 28 SGB V um einen Absatz 4 zu ergänzen, dessen Satz 1 lauten sollte: „Die Versicherten zahlen für jede erste Inanspruchnahme eines an der fachärztlichen Versorgung teilnehmenden Arztes, die nicht auf Überweisung erfolgt, 15 A je Kalendervierteljahr an den Arzt.“ Der derzeitige GMG-Entwurf zu § 28 Abs. 4 S. 1 SGB V lautet: „Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, leisten je Kalendervierteljahr für jede erste Inanspruchnahme eines an der ambulanten ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringers, die nicht auf Überweisung aus demselben Kalendervierteljahr erfolgt, als Zuzahlung den sich nach § 61 Satz 2 ergebenden Betrag an den Leistungserbringer.“ Aus der schlichten Formulierung: – die Versicherten „zahlen“ an den Arzt – ist mit dem derzeitigen GMG-Entwurf also eine „Zuzahlung“ geworden. Das ist rechtspolitisch interessant. Denn offensichtlich ist dem Gesetzgeber im Laufe der Beratungen klar geworden, dass die Normierung einer völlig neuen Abgabepflicht rechtlichen Bedenken begegnen könnte. Mit der Bezeichnung „Zuzahlung“ soll daher wohl der Anschein erweckt werden, es handele sich bei der neuen Zahlungspflicht lediglich um eine Erweiterung des Katalogs der bisherigen Zuzahlungen. Doch auch das neue Etikett enthebt nicht der Prüfung, ob die Normierung der neuen Abgabe rechtlich zulässig ist. Daher stellt sich zunächst die Frage, ob die neue Abgabe ihrer Rechtsnatur nach tatsächlich eine Zuzahlung ist. Wird das verneint, ist zu prüfen, ob die neue Zahlungspflicht als Gebühr oder als zusätzlicher Beitrag rechtlich zulässig sein könnte. Entfällt auch das, dürfte § 28 Abs. 4 S. 1 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf verfassungswidrig sein. Denn die Maßnahmen des Gesetzgebers, die Versicherten der GKV mit zusätzlichen Zahlungspflichten zu belasten, müssen sich an Art. 14 GG messen lassen. Wie ausgeführt, bezeichnet der Wortlaut des derzeitigen GMG-Entwurfs die neue Zahlungspflicht in § 28 Abs. 4 als „Zuzahlung“. Doch in der Gesetzesbegründung wird von der neuen Zahlungspflicht als einer „sog. Praxisgebühr“ gesprochen. Es heißt dort zu § 28 Abs. 4 SGB V unter anderem: „Durch die Neuregelung wird eine Rechtsgrundlage für die Erhebung einer so genannten Praxisgebühr geschaffen. Ziel der Regelung ist es, die Eigenverantwortung des Versicherten zu stärken. Die Praxisgebühr ist sozial abgefedert, da sie zusammen mit weiteren Zuzahlungen 2%, bei chronisch Kranken 1% des Bruttoeinkommens nicht überschreiten darf. Mit der Gebühr wird ein Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherung geleistet.“ Nicht nur die Entstehungsgeschichte des § 28 Abs. 4 S. 1 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf, sondern auch die Begründung des derzeitigen GMG-Entwurfs
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sprechen also gegen die Einordnung der so genannten Praxisgebühr als echte Zuzahlung im Sinne des SGB V. Dieses Ergebnis wird durch den Sinn und Zweck der neuen Zahlungspflicht gestützt. Das SGB V in seiner heute geltenden Fassung enthält zahlreiche Vorschriften über Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen, z. B. bei Arzneien, Heil- und Hilfsmitteln, bei Zahnersatz oder für Fahrkosten. Mit diesen Zuzahlungen kommt der Versicherte für einen Teil der Kosten der Leistungen auf, die ihm die Krankenkasse schuldet. Kennzeichen einer echten Zuzahlung ist es, dass sich ihre Höhe an einer individuellen, konkreten (zahn)ärztlichen Leistung bemisst. Die echte Zuzahlung im Sinne des SGB V ist eine partielle Selbstbeteiligung. Sie ist eine teilweise Gegenleistung für eine dem Versicherten bestimmte, konkret gewährte Leistung. Das ist bei der neuen Zahlungspflicht nach § 28 Abs. 4 SGB V – so genannte Praxisgebühr – jedoch nicht der Fall. Hier soll der Versicherte ganz pauschal und ohne jeden Bezug zu einer konkreten Leistung 10 Euro an den Arzt bzw. Zahnarzt bezahlen, wenn er ihn erstmals in einem Kalendervierteljahr ohne Überweisung in Anspruch nimmt. Für eine Bewertung als echte Zuzahlung fehlt der so genannten Praxisgebühr die unmittelbare Verknüpfung mit der konkreten (zahn)ärztlichen Leistung. Daran ändert auch § 43b Abs. 2 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf nichts. Gemäß § 43b Abs. 2 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf hat der Vertrags(zahn)arzt die Zahlungen nach § 28 Abs. 4 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf einzubehalten; sein Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse oder der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung verringert sich entsprechend. Auch § 43b Abs. 2 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf gibt also keine Antwort auf die Frage, auf welchen konkreten (zahn)ärztlichen Honoraranspruch die so genannte Praxisgebühr anzurechnen ist. Offensichtlich sollen die so genannten Zuzahlungen der Versicherten pauschal vom Arzt- bzw. Zahnarzthonorar abgezogen werden. Für die Qualifizierung der so genannten Praxisgebühr als echte Zuzahlung bleibt es also dabei: Weil der notwendige Bezug zu einer konkreten (zahn)ärztlichen Leistung fehlt, ist sie keine Zuzahlung. Die neue Abgabe ist jedoch auch keine Gebühr im Rechtssinne. Zwar wird sie in der Gesetzesbegründung als Gebühr – als so genannte Praxisgebühr – bezeichnet. Aber sie erfüllt nicht die rechtlichen Voraussetzungen einer Gebühr. Eine Gebühr kann von der öffentlichen Hand für die unmittelbare Inanspruchnahme einer Leistung erhoben werden. Kennzeichen der Gebühr ist also die unmittelbare Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung. Die so genannte Praxisgebühr stellt aber keine Gegenleistung für eine bestimmte, d. h. konkrete, vertrags(zahn)ärztliche Gegenleistung aus der GKV dar. Mit der so genannten Praxisgebühr soll der Versicherte vielmehr dafür bezahlen, dass er in diesem Quartal überhaupt Zugang zur GKV erhält. Die so genannte Praxisgebühr soll
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ihm lediglich die Möglichkeit verschaffen, überhaupt irgendeine vertrags(zahn)ärztliche Behandlungsmaßnahme in Anspruch nehmen zu dürfen. Dieses Recht steht ihm aber bereits aufgrund seiner Beitragszahlungen zu. Nach allgemeiner Definition wird ein Beitrag zur Deckung des Aufwandes einer öffentlichen Einrichtung von dem erhoben, dem die Einrichtung einen Vorteil bietet. Beiträge sichern also die potentielle Inanspruchnahme von Leistungen. Die GKV ist beitragsfinanziert. Die Versicherten zahlen Krankenversicherungsbeiträge und eröffnen sich damit die Chance, im Krankheitsfall (zahn)ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen zu können. Mit der so genannten Praxisgebühr wird dasselbe Ziel verfolgt. Sie soll dem Versicherten die Tür zur (zahn)ärztlichen Behandlung öffnen. Denn nur, wenn er bei der ersten Inanspruchnahme eines Arztes bzw. Zahnarztes die Praxisgebühr entrichtet, erhält er Zugang zur (zahn)ärztlichen Behandlung. Doch für diese Möglichkeit hat er Monat für Monat bereits hohe Beiträge entrichtet. Die Zahlung der so genannten Praxisgebühr ist also eine doppelte Zahlung für dieselbe Leistung. Möglicherweise hat der Gesetzgeber die so genannte Praxisgebühr aber auch als Beugemittel, d. h. als Zwangsgeld gedacht. Für diese Annahme könnte der Hinweis in der Gesetzesbegründung sprechen: „Ziel der Regelung ist es, die Eigenverantwortung des Versicherten zu stärken.“ Eine der mit der so genannten Praxisgebühr verbundenen Absichten des Gesetzgebers ist es offensichtlich, die Versicherten dazu anzuhalten, vor der Inanspruchnahme eines Facharztes den Hausarzt zu konsultieren. Doch der Versicherte muss die so genannte Praxisgebühr stets entrichten, also auch dann, wenn er ohnedies nur den Hausarzt konsultiert hätte und sich damit so verhält, wie es der Gesetzgeber wünscht. Welchen Sinn hat in Fällen dieser Art die Erhebung eines Zwangsgeldes? Damit wird klar, dass die sogenannte Praxisgebühr von ihrer Zielsetzung her daher schlicht ein Eintrittsgeld ist. Sie bietet dem zahlungspflichtigen Versicherten keinerlei zusätzlichen Vorteil, der ihm nicht schon mit der Beitragszahlung zustünde. Der Versicherte bezahlt mit der Praxisgebühr zweimal für dieselbe Leistung, und zwar für die Chance, (zahn)ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen zu können. Damit ist das eigentliche Ziel der Praxisgebühr eindeutig: Es soll ganz einfach mehr Geld in die Kassen kommen. Das wird durch die Gesetzesmaterialien belegt. Hier heißt es unverblümt: „Mit der Gebühr wird ein Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung geleistet.“ Die Belastung der Versicherten durch die so genannte Praxisgebühr überschreitet das zulässige Maß; sie ist übermäßig. Mit ihr wird den Versicherten eine Doppelbelastung für dieselbe Leistung – nämlich für die Möglichkeit der Behandlung im Krankheitsfall – aufgebürdet. Zwar hat der Gesetzgeber bei der Gestaltung der von ihm errichteten Sozialversicherungssysteme einen weiten Gestaltungsspielraum. Seine Gestaltungsmöglichkeiten sind aber nicht unbegrenzt. Er hat sich für eine GKV in der
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Form einer Pflichtversicherung entschieden. Die pflichtversicherten Mitglieder dieser GKV sind also Zwangsmitglieder. Sie haben keine Chance, diese Zwangsversicherung zu verlassen. Das bedeutet, dass sie auch die finanziellen Belastungen durch die GKV hinnehmen müssen, ohne eine Alternative zu haben. Diese Schutzlosigkeit der Versicherten erfordert es, neue zusätzliche finanzielle Verpflichtungen, die der Gesetzgeber den Versicherten aufbürdet, besonders sorgfältig an Art. 14 Abs. 1 GG zu messen. Wie im Einzelnen erläutert, ist die so genannte Praxisgebühr weder eine (weitere) Zuzahlung, noch ist sie eine Gebühr, ein (zusätzlicher) Beitrag oder ein zulässiges Beugemittel. Sie ist vielmehr eine neue Form der Belastung der Versicherten – gewissermaßen ein zusätzliches Eintrittsgeld – für den Fall, dass sie von ihrem Recht auf ambulante Krankenbehandlung Gebrauch machen und sich in vertrags(zahn)ärztliche Behandlung begeben. Mit Einführung der so genannten Praxisgebühr legt der Gesetzgeber den Versicherten ein Sonderopfer auf. Er zwingt sie zu einer neuen finanziellen Abgabe, für deren Gegenwert sie durch ihre Beiträge bereits gezahlt haben. Damit überschreitet der Gesetzgeber seine Gestaltungsmöglichkeiten. Die so genannte Praxisgebühr verstößt als übermäßige Belastung der Versicherten gegen Art. 14 Abs. 1 GG. VI. Abschlagszahlung für Verwaltungskosten und fehlende Wirtschaftlichkeitsprüfung bei ambulanter Behandlung im EU-Ausland (Einfügung § 13 Abs. 4 S. 5 SGB V) Für die vertragszahnärztliche Versorgung ist die in § 13 Abs. 4 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf vorgesehene Regelung von besonderem Interesse. Denn der Medizintourismus kann im Bereich der Zahnversorgung der Natur der Sache nach einfacher praktiziert werden als im ärztlichen Bereich. Die zahnärztliche Versorgung ist sozusagen „europakompatibler“ als die ärztliche Versorgung. § 13 Abs. 4 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf bestimmt, dass die Versicherten zur ambulanten Versorgung auch Leistungserbringer in anderen Staaten des Geltungsbereichs des EG-Vertrages in Anspruch nehmen dürfen. Diese Regelung beruht nicht auf der Einsicht der Regierungsfraktionen. Sie ist – wie auch in der Begründung ausgeführt – vorgegeben durch das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen Müller-Fauré und van Riet vom 31.05.20035. § 13 Abs. 4 SGB derzeitiger GMG-Entwurf bestimmt dann aber weiter, dass die Krankenkassen-Satzung das Verfahren der Kostenerstattung zu regeln und dabei ausreichende Abschläge vom Erstattungsbetrag für Verwaltungskosten und fehlende Wirtschaftlichkeitsprüfungen vorzusehen hat. Der Versicherte, der sich zulässiger Weise in einem anderen EU-Mitgliedstaat ambu5
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lant behandeln lässt, soll also für die Inanspruchnahme der europäischen Dienstund Warenverkehrsfreiheit Abschläge hinnehmen. Mit anderen Worten: Weil er das deutsche Sachleistungsprinzip verlässt, fallen für ihn zusätzliche Kosten an. Aus der Sicht des Versicherten stellen diese Abschlagszahlungen ein Beugemittel, gewissermaßen ein Zwangsgeld, dar, das ihn von der Inanspruchnahme ausländischer Leistungen abhalten soll. Weil die europäische Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit bei der ambulanten Behandlung aber auch für den deutschen Versicherten gilt, dürfen an die Wahrnehmung dieser Freiheiten keine Sanktionen geknüpft werden. Eine Abgabe dafür, dass das deutsche Sachleistungsprinzip mit seinen Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei einer Auslandsbehandlung nicht realisiert werden kann, behindert die Inanspruchnahme europäischer Rechte. Sie dürfte europarechtswidrig sein. Denn sie signalisiert den Versicherten: Geh’ nicht zum Arzt, schon gar nicht im EU-Ausland. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch auf Folgendes hinweisen: Die Regelung in § 13 Abs. 4 derzeitiger GMG-Entwurf müßte deutsche Vertrags(zahn)ärzte nachdenklich machen: Warum eigentlich sind sie dem komplizierten und in Europa wohl einmalig engen deutschen Vertrags(zahn)arztrecht unterworfen, wenn ihre Kollegen in den anderen europäischen Mitgliedstaaten deutsche Versicherte auch ohne dieses deutsche Korsett ambulant behandeln dürfen? Zwar hat der Europäische Gerichtshof stets betont, dass die Mitgliedstaaten ihre Sozialversicherungssysteme selbst regeln können. Dennoch könnte das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen Müller-Fauré und van Riet6 das deutsche Sachleistungsprinzip in ernste Verlegenheiten bringen. VII. Errichtung eines Gemeinsamen Bundesausschusses (Änderung § 91 SGB V) Nach dem derzeitigen GMG-Entwurf soll an die Stelle des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen, des Ausschusses Krankenhaus und des Koordinierungsausschusses ein Gemeinsamer Bundesausschuss treten. Er bildet Unterausschüsse für Fragen der ärztlichen, zahnärztlichen und stationären Versorgung. Wie allseits bekannt, ist die Rechtsstellung der bisherigen Bundesausschüsse in Rechtsprechung und Rechtslehre nach wie vor höchst umstritten. Zwar hat das Bundessozialgericht den Bundesausschüssen in Bezug auf neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden wiederholt Normsetzungsbefugnis nicht nur gegenüber den Krankenkassen und den Vertrags(zahn)ärzten zuerkannt, sondern auch gegenüber den Versicherten.7 Insbesondere der 4. Senat des Landessozial-
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gerichts Niedersachsen-Bremen hat sich in zahlreichen Urteilen gegen diese Auffassung gewandt.8 Nach seiner überzeugenden Ansicht stehen den Bundesausschüssen aus demokratischen und rechtsstaatlichen Gründen keinerlei Normsetzungsbefugnisse gegenüber den Versicherten zu. Das Bundessozialgericht ist anderer Ansicht. Doch seine Argumente vermögen nicht zu überzeugen, zumal die Begründungen der zuständigen Senate des Bundessozialgerichts weit auseinander gehen und sogar innerhalb eines Senats nicht konsequent sind. Während der 6. Senat seine Ansicht zunächst mit verbindlichem Satzungsrecht des Bundesausschusses begründet hat, hat der 1. Senat die Normvertragslehre entwickelt und dem 6. Senat damit nur im Ergebnis zugestimmt.9 Der 6. Senat hat sich in einer späteren Entscheidung im Gegensatz zu seiner früheren Rechtsprechung vor allem auf die Legitimation des Bundesausschusses zur Normsetzung gegenüber den Versicherten auf die ununterbrochene Legitimationskette gestützt.10 Schon dieser kurze Abriss macht deutlich, wie fragwürdig die Richtlinienkompetenz des Bundesausschusses war und auch geblieben ist. Die Frage wird vom Bundesverfassungsgericht geklärt werden. Dort ist eine Verfassungsbeschwerde11 gegen das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16.09.1997 anhängig, mit dem ein Urteil des 4. Senats des Landessozialgerichts NiedersachsenBremen zu dieser Frage aufgehoben worden ist. Nach meinem Dafürhalten war den Politikern beim Aushandeln des derzeitigen GMG-Entwurfs das Fehlen einer Normsetzungsbefugnis des Bundesausschusses gegenüber den Versicherten durchaus bewusst. Ihnen war wohlbekannt, dass sich Normsetzungsbefugnisse an der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts messen lassen müssen. Nach der Wesentlichkeitstheorie ist die Regelung wesentlicher Entscheidungen für wesentliche Lebensbereiche dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten. Nun will § 34 Abs. 1 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf unter anderem Arzneimittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion ausschließen. Das aber hat der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bereits in Nr. 17.1f seiner Arzneimittel-Richtlinien 12 getan. Offensichtlich glauben die Politiker selbst nicht daran, dass diese Entscheidung 8
Vgl. z. B. LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 23.02.2000 – L 4 KR 130/98. Vgl. hierzu im Einzelnen Schimmelpfeng-Schütte, Ruth, Richtliniengebung durch den Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen und demokratische Legitimation, in: NZS 1999, 530 ff. 10 BSG, Urt. v. 18.03.1998 – B 6 KA 78/96 R. 11 1 BvR 347/98. 12 Nr. 17.1f Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung vom 03.08. 1998, gültig ab 30.09.1998, BAnz. Nr. 182, 14491. Mit Urt. v. 16.07.2003 hat das LSG Niedersachsen-Bremen entschieden, dass diese Richtlinie nichtig ist (L 4 KR 162/01, noch nicht veröffentlicht). 9
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des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen rechtswirksam sein kann, sonst hätte ein Ausschluss der Arzneimittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion nicht noch per Gesetz erfolgen müssen. Es scheint, dass der Gesetzgeber einen Ausschluss der Arzneimittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion durch den Bundesausschuss nicht für ausreichend erachtet und vorsichtshalber noch selbst tätig geworden ist. Wenn aber die Politiker selbst die Rechtssetzungskompetenz des Bundesausschusses für zweifelhaft halten, wäre statt der Errichtung eines Gemeinsamen Bundesausschusses eine strukturelle Neuordnung geboten gewesen. Die Macht der bisherigen Bundesausschüsse hat sich durch ihre Zusammenfassung in einem Gemeinsamen Bundesausschuss noch mehr verdichtet. In einer Patt-Situation werden nun sämtliche Fragen des ambulanten und des stationären, des ärztlichen und des zahnärztlichen Bereichs der GKV von einem Mann allein, dem Vorsitzenden (eine Frau wird nach der bisherigen Funktionärslandschaft mit diesem Amt sicherlich nicht betraut werden), entschieden werden. Bei dem Gemeinsamen Bundesausschuss wird sich die Entscheidungsmacht der GKV konzentrieren. Ja, der Gemeinsame Bundesausschuss wird das Machtzentrum der GKV schlechthin sein. Kann es ein, dass der Gesetzgeber dieses Ergebnis ganz bewusst erzielen will und sich gerne hinter einem Bundesausschuss versteckt und ihn die politisch umstrittenen und brisanten Fragen entscheiden lässt? Schiebt der Gesetzgeber mit dem Blick auf die Wählergunst die Regelungsverantwortung mit voller Absicht auf den Bundesausschuss? VIII. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (Einfügung §§ 139a ff. SGB V) Mit den §§ 139a ff. des Entwurfs „Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz“ sollte ein „Deutsches Zentrum für Qualität in der Medizin“ als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts errichtet werden. Das hat heftigen Widerstand ausgelöst. Nun will der derzeitige GMG-Entwurf statt dessen ein „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“13 ins Leben rufen. Während das Konsens-Papier noch den Partnern der gemeinsamen Selbstverwaltung die Gründungsaufgabe einer unabhängigen Stiftung für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zuwies, die ihrerseits das fachlich unabhängige wissenschaftliche Qualitätsinstitut ins Leben rufen sollte, soll nun der Gemeinsame Bundesausschuss allein verantwortlich sein. Seine Aufgabe ist es, ein fachlich unabhängiges, rechtsfähiges wissenschaftliches Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen als Stiftung des privaten Rechts zu errichten. 13
Im Folgenden Qualitätsinstitut genannt.
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Das Qualitätsinstitut wird zu Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für die Qualität und Wirtschaftlichkeit insbesondere auf folgenden Gebieten tätig: – Recherche, Darstellung und Bewertung des aktuellen medizinischen Wissensstandes zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren bei ausgewählten Krankheiten, – Erstellung von wissenschaftlichen Ausarbeitungen, Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Qualität und Wirtschaftlichkeit der im Rahmen der GKV erbrachten Leistungen unter Berücksichtigung alters-, geschlechts- und lebenslagenspezifischer Besonderheiten, – Bewertung evidenzbasierter Leitlinien für die epidemiologisch wichtigsten Krankheiten, – Abgabe von Empfehlungen zu Disease-Management-Programmen, – Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln, – Bereitstellung von für alle Bürgerinnen und Bürger verständlichen allgemeinen Informationen zur Qualität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung. Das Qualitätsinstitut wird eine reiche Fundgrube sein für Fragen an Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, für juristische Diskussionen, Tagungen und Aufsätze. Die Probleme fangen schon bei der Gründung des Qualitätsinstituts an, für die eine Stiftung des privaten Rechts errichtet werden kann (§ 139a Abs. 1 S. 2 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf). Fragen nach der Rechtsform des Qualitätsinstituts schließen sich an. Auch die Beziehung des Qualitätsinstituts zum Gemeinsamen Bundesausschuss ist problematisch. Welche Aufgabe hat das Qualitätsinstitut in Bezug auf die Richtlinienkompetenz des Gemeinsamen Bundesausschusses? Das Qualitätsinstitut soll Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für die Qualität und Wirtschaftlichkeit der in der GKV erbrachten Leistungen bearbeiten. Welche Bindungswirkung haben seine Recherchen, Darstellungen und Bewertungen? Nach § 139b Abs. 4 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf leitet das Qualitätsinstitut seine Arbeitsergebnisse dem Gemeinsamen Bundesausschuss als Empfehlungen zu. Der Gemeinsame Bundesausschuss „hat“ – so heißt es in dem § 139b Abs. 2 S. 2 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf – diese Empfehlungen zu berücksichtigen. Falls das bedeuten soll, dass der Gemeinsame Bundesausschuss an die Empfehlungen des Qualitätsinstituts zwingend gebunden ist, hätte das nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts weitreichende Konsequenzen. Folgt man nämlich der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Normsetzungsbefugnis des Bundesausschusses im Rahmen des § 135 SGB V, dann ist Entscheidungsträger in Zukunft tatsächlich nicht mehr der Bundesausschuss, sondern das Qualitätsinstitut. Denn das Qualitätsinstitut entscheidet über die Qualität und Wirtschaftlichkeit einer neuen Untersuchungs- und Behand-
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lungsmethode; hieran wäre der Bundesausschuss gebunden. Ergebnis wäre, dass ein durch eine private Stiftung gegründetes Institut Normsetzungsmacht hätte. Das wäre eine wirklich abenteuerliche Vorstellung. Soll das Qualitätsinstitut dem Bundesausschuss aber nur zuarbeiten, ohne dass eine Bindungswirkung besteht, stellt sich die Frage nach dem Sinn eines solchen Qualitätsinstituts. Denn für erforderliche Vorarbeiten haben die Bundesausschüsse bereits heute so genannte Arbeitsausschüsse gebildet. Ganz offensichtlich soll das Qualitätsinstitut aber nicht nur Einfluss auf die Richtlinien des Bundesausschusses haben. Mit dem Qualitätsinstitut soll nach dem derzeitigen GMG-Entwurf zugleich die Möglichkeit zum Erlass vertrags(zahn)ärztlicher Leitlinien geschaffen werden. § 139a Abs. 3 Nr. 3 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf bestimmt, dass das Qualitätsinstitut Bewertungen evidenzbasierter Leitlinien für die epidemiologisch wichtigsten Krankheiten vornehmen soll. Diese Absicht befremdet. Es stellt sich die Rechtsfrage, ob ein von einer privaten Stiftung gegründetes Institut den Rahmen vorgeben kann, wie medizinische Behandlung in Deutschland für knapp 90% der Bevölkerung auszusehen hat. Sicherlich kann und muss auch die eigentliche (zahn)ärztliche Tätigkeit der Vertrag(zahn)ärzte bestimmten Regelungen unterworfen werden. Bisher aber hat sich der Gesetzgeber hier zurückgehalten und die Ausgestaltung der (zahn-) ärztlichen Tätigkeit – also die Frage, was eine Behandlung lege artis erfordert – dem (zahn)ärztlichen Berufsstand selbst überlassen. Die Ärzte und Zahnärzte haben bisher in eigener Kompetenz und Verantwortung medizinischen Standard definiert und danach behandelt. Wie weit kann diese berufsständische Kompetenz eingeschränkt werden? Und welches Gremium ist nach unserer Verfassung legitimiert, die Einschränkungen zu normieren? Auch die Leitlinien-Kompetenz eines Qualitätsinstituts begegnet erheblichen Bedenken. Denn sie führt dazu, dass wir in Deutschland in Zukunft zwei gegebenenfalls unterschiedliche medizinische Standards haben werden: einen Standard für die PKV, einen für die GKV. Ich gehe davon aus, dass die (zahn)ärztlichen Fachgesellschaften ihre berufsrechtlichen Kompetenzen keinesfalls an das Qualitätsinstitut abgeben werden, sondern nach wie vor ihrerseits Leitlinien aufstellen. Das werden sie schon deshalb tun, weil medizinischer Standard eine Handlungsvorgabe ist, die steter Veränderung unterliegt, sich in medizinischer Erfahrung und Anwendung fortentwickelt und immer wieder neu definiert werden muss. Die Ärzte und Zahnärzte werden es nicht verantworten wollen, sich insoweit auf ein Qualitätsinstitut zu verlassen, das von seiner Natur her eher wie eine Behörde agieren wird. Ich erwarte, dass die Stiftung und das Qualitätsinstitut noch Gegenstand eingehender verfassungsrechtlicher und standespolitischer Erörterungen sein werden.
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Rechtsfragen werden sich insoweit auch aus europarechtlicher Sicht ergeben. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil Müller-Fauré und van Riet14 vom 13.05.2003 ausgeführt, dass es bei der Behandlung auch im Rahmen der deutschen GKV auf den internationalen Standard ankommt, also nicht auf einen Standard, den irgendein Institut nach den Maßstäben eines Mitgliedstaates festschreibt. Das bedeutet konkret Folgendes: Bleibt der vom zukünftigen deutschen Qualitätsinstitut festgesetzte Standard hinter dem internationalen Standard zurück, werden die Versicherten auf das EU-Ausland ausweichen. Sie können sich schon heute ohne Genehmigung ihrer Krankenkassen im EU-Ausland ambulant behandeln lassen. Bleibt der medizinische Standard der GKV hinter dem internationalen Standard zurück, so werden sich die Versicherten die Chance einer EU-Auslandsbehandlung auf Kosten ihrer deutschen gesetzlichen Krankenkassen sicherlich nicht entgehen lassen. Auch nach deutschem Recht ist die Festsetzung des medizinischen Standards durch ein Qualitätsinstitut aus rechtsstaatlicher Sicht höchst zweifelhaft. Bereits heute hat der Vertrags(zahn)arzt bei der vertrags(zahn)ärztlichen Behandlung die Vorgaben der Bundesausschüsse zu beachten. Er ist strikt an deren Richtlinien gebunden und hat keinen eigenen Spielraum. Seine Therapiefreiheit ist insoweit ebenso eingeschränkt wie das Selbstbestimmungsrecht des Versicherten. Der Vertrags(zahn)arzt unterliegt jedoch zugleich auch dem bürgerlich-rechtlichen Arzthaftungsrecht. Nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte muss er zur Vermeidung von Haftung in eigener Verantwortung entscheiden, wie er behandeln will. Dazu muss er selbst beurteilen und entscheiden, welches der derzeitige medizinische Standard ist. Das bringt ihn in eine Zwickmühle: Das Vertrags(zahn)arztrecht verbietet eine Entscheidung in eigener Verantwortung, das Haftungsrecht verlangt sie. Schon heute steht der Vertrags(zahn)arzt also im Spannungsfeld der Inkompatibilität des öffentlichen Rechts der GKV einerseits und des bürgerlich-rechtlichen Arzthaftungsrechts andererseits.15 Eine Leitlinienkompetenz eines Qualitätsinstituts baut dieses – wie ich meine – rechtsstaatswidrige Spannungsverhältnis nicht ab, sondern intensiviert es. Darüber hinaus werden sich – da bin ich sicher – Kompetenzprobleme zwischen Bundesausschuss einerseits und Qualitätsinstitut andererseits ergeben. Was geschieht, wenn sich der Bundesausschuss nicht an die Empfehlungen des Qualitätszentrums hält? Wer schlichtet? Wer entscheidet? Alles offene Fragen.
14
C-385/99. Vgl. hierzu: Schimmelpfeng-Schütte, Ruth, Der Arzt im Spannungsfeld der Inkompatibilität der Rechtssysteme, in: MedR 2002, 286 ff. 15
Aktuelle Rechtsfragen der Gesundheitsreform
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IX. Fortbildungsverpflichtung der Zahnärzte (Einfügung § 95d SGB V) § 95d SGB V derzeitiger GMG-Entwurf normiert für die Vertrags(zahn)ärzte eine Pflicht zur fachlichen Fortbildung und orientiert sich an einem Fünfjahreszeitraum. Das dürfte nicht zu beanstanden sein, wenn die Fortbildungsanforderungen sachlich angemessen sind und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Der Entwurf „Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz“ wollte in Bezug auf die vertrags(zahn)ärztliche Fortbildung vor allem zwei Neuerungen einführen: Zum einen die Kompetenz des Bundesausschusses zur Festlegung des Inhalts sowie des zeitlichen Umfangs der Fortbildungsmaßnahmen, zum anderen die Möglichkeit des Entzugs der vertrags(zahn)ärztlichen Zulassung bei Verletzung der Fortbildungspflicht. Beide Punkte hat der derzeitige GMG-Entwurf geändert. Die fragwürdige Regelungsbefugnis des Bundesausschusses in vertrags(zahn)ärztlichen Fortbildungsangelegenheiten ist zu Recht gestrichen worden. Der mögliche Entzug der Zulassung bei Verletzung der Fortbildungspflicht wurde erheblich abgeschwächt. Das ist nur richtig. Denn zu den wesentlichen Fragen der Berufsfreiheit zählt der Entzug der Zulassung als Vertrags(zahn)arzt. Sie betrifft nicht nur das Grundrecht der Berufsausübung. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung kommt sie in ihrer Wirkung vielmehr der Beschränkung der Berufswahl nahe.16 Erbringt ein Vertrags(zahn)arzt den Fortbildungsnachweis nicht spätestens 2 Jahre nach Ablauf des Fünfjahreszeitraumes, soll die Kassen(zahn)ärztliche Vereinigung unverzüglich gegenüber dem Zulassungsausschuss einen Antrag auf Zulassungsentziehung stellen (§ 95d Abs. 3 S. 7 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf). Für die Entziehung selbst dürfte dann § 95 Abs. 6 SGB V in der unverändert geltenden Fassung einschlägig sein. Er verlangt für die Zulassungsentziehung unter anderem die gröbliche Verletzung der vertrags(zahn)ärztlichen Pflichten. Allerdings ist auch § 95d SGB V derzeitiger GMG-Entwurf in seinen Einzelregelungen problematisch. So bedürfen die vorgesehenen Honorarkürzungen bei Verletzung der Fortbildungsnachweispflicht einer sorgfältigen Prüfung am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG. Auch dürfte fraglich sein, ob die Regelung verfassungsgemäß ist, wonach eine versäumte Fortbildung nachzuholen ist und diese nachgeholte Fortbildung auf den folgenden Fünfjahreszeitraum nicht angerechnet wird (§ 95d Abs. 3 S. 5 SGB V derzeitiger GMG-Entwurf). Denn eine Fortbildungsmaßnahme dient der Vermittlung von Wissen, und es erscheint zweifelhaft, ob sie gewissermaßen als Straf- bzw. Ordnungsmittel für die zuvor versäumte Fortbildung verhängt werden kann. 16
BVerfGE 69, 233 ff.
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X. Ausblick Es bedarf keiner hellseherischen Gaben zur Vorhersage, dass die Arbeit mit dem neuen Reformgesetz schwierig werden wird. Das belegt schon dieser kurze Abriss über einige wenige Vorschriften des neuen Gesetzes. Es verlangt von allen Beteiligten Umstellungen und Einschränkungen, ohne dass damit zukunftsweisende Strukturänderungen geschaffen würden. Damit werden Ressourcen verbraucht, die dringend für echte Reformen benötigt würden. Das ist um so mehr zu bedauern, als zugleich das Vertrauen der Versicherten in die Verlässlichkeit der GKV schwindet.
Kostenerstattung oder Sachleistung als Gestaltungselement in der vertragszahnärztlichen Versorgung Von Günther Schneider I. Einleitung Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) hat die Grenzen des Machbaren erreicht. Bekanntlich haben die Beitragssätze bei den gesetzlichen Krankenkassen ein Niveau erreicht, das mit Blick auf die Lohnnebenkosten als nicht mehr hinnehmbar erscheint. Tatsächlich hat die weitgehend beschäftigungsorientiert ausgerichtete Finanzierung der GKV mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das zu einer erheblichen Belastung des Arbeitsmarktes führt. Der medizinisch-wissenschaftliche Fortschritt, die Alterung der Gesellschaft und insgesamt die Veränderung der demographischen Datenlage haben längst dazu geführt, dass in der GKV ein erheblicher Reformbedarf allseits anerkannt ist. Diese mit wenigen Worten umrissene Ausgangslage, die im Übrigen keineswegs allein auf die GKV begrenzt ist, kennzeichnet das Feld der Gesetzgebung nachhaltig. Die GKV war seit Mitte der Siebzigerjahre mehrfach Gegenstand eines grundsätzlichen Tätigwerdens des Gesetzgebers. Folgerichtig und mit zunehmendem Gewicht beklagen nicht zuletzt die beteiligten Akteure, dass die vom Gesetzgeber getroffenen Maßnahmen weithin kurzatmig seien und sich in ihrer „Halbwertszeit“ von zunehmenden „Verfallsdaten“ auszeichneten. II. Zum rechtspolitischen Herangehen – insbesondere: die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Die Frage, ob Kostenerstattung oder Sachleistung als Gestaltungselement in der vertragszahnärztlichen Versorgung in Betracht zu ziehen sind, zeigt tief greifende Unterschiede im rechtspolitischen Herangehen. Namentlich das Bundessozialgericht sieht den Sachleistungsgrundsatz ausweislich seiner bisherigen Rechtsprechung als die GKV „prägendes“ Prinzip an. In der Entscheidung vom 07.08.19911 ist das Sachleistungsprinzip als „ein über1
Vgl. BSGE 69, 170 (173); vgl. auch BSG USK 8777.
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greifend geltender Grundsatz des Leistungsrechts für alle Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen“ bezeichnet. Bereits nach dem im früheren 2. Buch der Reichsversicherungsordnung enthaltenen Recht der GKV habe das Sachleistungsprinzip, obgleich darin kein ausdrücklicher Vorrang geregelt gewesen sei, gleichsam als „übernormatives Grundprinzip des Rechts der GKV . . . völlig unbestritten“ gegolten. Weitere Entscheidungen des Bundessozialgerichts lauten ähnlich: In seiner ständigen Rechtsprechung erachtet dieses Gericht das „System der deutschen sozialen Krankenversicherung als vom Sachleistungsprinzip geprägt oder getragen“2. Es sei „ein wesentlicher Grundsatz der GKV“3 und unterscheide diese dadurch von der privaten Krankenversicherung (PKV), die weitgehend auf dem Erstattungsprinzip beruhe. In seiner Entscheidung vom 10.02.19934 ergänzt das Bundessozialgericht, dass die GKV nicht vom Kostenerstattungs-, sondern vom Sachleistungsprinzip „konstitutiv“ geprägt werde mit der Folge, dass der für den Sachleistungsanspruch vorgesehene Weg der Realisierung von Leistungen, nämlich die Behandlung auf Krankenschein bei zugelassenen Kassen- bzw. Vertragsärzten, von dem Versicherten im Regelfall einzuhalten sei. In der weiteren Entscheidung vom 10.05.1995 beruft sich das Bundessozialgericht auf den im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willen: Hiernach sei das Sachleistungsprinzip ein „grundsätzliches Strukturelement der sozialen Krankenversicherung“5. Ein völlig anders gelagertes Verständnis zeigt sich demgegenüber beispielsweise in der Zahnärzteschaft. So hat die Vertreterversammlung der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung auf der Sitzung ihrer Vertreterversammlung in Dresden am 11.11.2000 eine Konzeption von „Vertrags- und Wahlleistungen“ als Gegenpol zu dem Ende 1998 eingetretenen rechtspolitischen Koordinatenwechsel beschlossen. Mit Recht beklagen die Zahnärzte weitgehend planwirtschaftliche Strukturen des Systems, mit denen eine weitgehende Verdrängung freiheitlicher Strukturen einhergeht. Als Voraussetzung für die Schaffung eines freiheitlichen Gesundheitswesens fordert die Zahnärzteschaft die Abkehr vom System der Sachleistung. Freiheitliche Strukturen sieht sie mithin in der Einführung des Systems der Kostenerstattung im System der GKV. Nachfolgend soll der Versuch einer Bewertung zu der Frage unternommen werden, ob die Kostenerstattung tatsächlich eine „Zukunftsperspektive in der vertragszahnärztlichen Versorgung“ im Besonderen und in der GKV im Allgemeinen hat.
2 Vgl. etwa BSGE 42, 117 (119); BSG USK 78160; SozR 2200 § 184 Nr. 13; USK 79213; USK 8002. 3 So BSGE 46, 179 (181); BSG SozR 2200 § 182 Nr. 74. 4 BSG SozR 3-2200 § 182 Nr. 15 unter Hinweis auf BSGE 69, 170. 5 BSG SozR 3-2500 § 13 Nr. 7 unter Hinweis auf die amtliche Begründung des GSG (BT-Drucks. 12/3608, S. 76 zu Nr. 5).
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Die damit zutage tretenden gegensätzlichen Auffassungen bedürfen der Durchdringung, und zwar in erster Linie der historischen Beleuchtung. Ebenso bleibt aus der Sicht des Verfassungsrechts zu prüfen, ob dem Grundgesetz tatsächlich – was die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nach ihrer Diktion nahe legt – ein Verständnis der Rechts der GKV immanent ist, das die Leistungserbringung tatsächlich allein im Wege der Sachleistung vorsieht. Bejahendenfalls wäre für die Kostenerstattung von Verfassungs wegen kein Raum. III. Historische Grundlagen Kostenerstattung und Sachleistung erscheinen bei erster Betrachtung – ebenso wie PKV und Sozialversicherung – als Antipoden. Ebenso wie die PKV vom System der Kostenerstattung getragen ist, scheint die GKV aus dem historischen Blickwinkel ausschließlich vom System der Naturalleistung beherrscht zu sein, die eine andere Art und Weise der Gegenleistung seitens der Sozialversicherungsträger ausschließt. Das heute gebräuchliche Wort der „Leistungserbringung“ scheint diesen ersten Befund, der durch § 2, § 13 Abs. 1 und die §§ 69 ff. SGB V systematisch gestärkt ist, zu bestätigen. Tatsächlich hat der Gesetzgeber das Sachleistungsprinzip zwar mit der Errichtung der GKV normativ verankert. Allerdings zeigt eine Reihe von Beispielen, dass die GKV auf das Sachleistungsprinzip nicht unabänderlich festgelegt ist. Das „Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ (KVG) vom 15.06.18836 veränderte unter anderem mit der Regelung des § 6 KVG die bisherige persönliche Rechtsbeziehung zwischen Arzt und Patient in ein Dreiecksverhältnis. Mit dieser Neuregelung verpflichtete der Gesetzgeber die Krankenkassen nicht nur dem bis dahin völlig neuartigen7 Sachleistungsprinzip, sondern schob sie zwischen Arzt (Zahnarzt) und Patient, da die Kassen, um der ihnen auferlegten Pflicht zur Gewährung von Krankenunterstützung nachzukommen, gezwungen waren, zu Ärzten und Zahnärzten in unmittelbare Rechtsbeziehungen zu treten: Der Patient zahlte die ärztliche Behandlung fortan nicht mehr selbst, sondern besaß wegen seiner Zwangsmitgliedschaft bei der Krankenkasse gegen diese einen gesetzlichen Anspruch auf ärztliche Versorgung. Der Arzt – dasselbe galt für den Zahnarzt – wiederum musste seinen Honoraranspruch nunmehr gegenüber der Kasse und nicht dem Patient geltend machen. Damit entfiel zugleich das bisher das Arztsystem beherrschende Regulativ der freien Abrede zwischen Arzt und Patient.
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RGBl., 73. Sauerborn, Max, Die Entwicklung des Kassenarztrechts, in: DOK 1953, 293 ff. Zum folgenden historischen Kontext vgl. näher Schneider, Günther, Handbuch des Kassenarztrechts, 1994, Rn. 30 ff. m. w. N. 7
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Bereits die Ursprungsfassung der Reichsversicherungsordnung, und zwar § 370 RVO 1911, hätte den Kassen das Recht verliehen, mit Ermächtigung des jeweiligen Oberversicherungsamtes den Versicherten anstelle der ärztlichen Behandlung eine bare Leistung bis zu zwei Dritteln des Durchschnittsbetrages ihres gesetzlichen Krankengeldes zu gewähren, falls „die ärztliche Versorgung dadurch ernstlich gefährdet würde“, dass die Kassen keinen Vertrag zu angemessenen Bedingungen mit einer ausreichenden Zahl von Ärzten schließen könnten oder die Ärzte den Vertrag nicht einhielten. Obgleich jene Vorschrift das Entwurfsstadium nicht verlassen hat8, ist im thematischen Zusammenhang von Belang, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit der Kostenerstattung bereits frühzeitig in Betracht gezogen hat. Sah der Gesetzgeber indessen tatsächlich noch von der Einführung der Kostenerstattung im Arztsystem der GKV ab, so gab er seine Zurückhaltung bald auf. Die nach 1918 einsetzende Geldentwertung9, der wirtschaftliche Niedergang nach dem 1. Weltkrieg und vor allem später der Beginn der Weltwirtschaftskrise10 fanden jeweils in grundlegenden Neuregelungen Ausdruck. § 370 RVO 192411 und schärfer noch § 370 RVO 193012 räumten den Kassen gegenüber den Versicherten unter bestimmten Voraussetzungen das Recht zu baren 8 Zum Inkrafttreten dieser Vorschrift kam es nicht, weil die Ärzteschaft am 26.10.1913 auf einem außerordentlichen deutschen Ärztetag einen allgemeinen Streik ab dem 01.01.1914, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Reichsversicherungsordnung, beschloss. Am Ende der hierauf aufgenommenen erneuten Verhandlungen (Ärzteschaft, Kassen, Reichsregierung) stand das so genannte „Berliner Abkommen“ vom 23.12.1913. 9 Da ein Arzt erst am Quartalsende abrechnete, war das ihm zustehende Honorar durch die fortschreitende Inflation im Wert so gemindert, dass es kein adäquates Entgelt für das tatsächlich Geleistete darstellen konnte. Ähnlich erging es den Krankenkassen im Hinblick auf die eingenommenen Beitragszahlungen. Zum Ganzen anschaulich Sauerborn (Fn. 7), 296; vgl. auch Albrecht, Georg, Über den Ausgangspunkt der Beziehungen der Ärzte zu den Krankenkassen, in: ZfS 1975, 139 (142 ff.). 10 Binnen kurzer Zeit wuchs die Arbeitslosenziffer in Millionenhöhe. Das Reich war aber nur in der Lage, 800.000 Arbeitslose zu versorgen. Durch die Weltwirtschaftskrise wurde diese Zahl binnen kürzester Zeit weit überschritten. Gleichzeitig sah man sich mit einer Verringerung der Sozialversicherungsbeiträge konfrontiert. Da der Wirtschaft eine Erhöhung der Beiträge nicht zugemutet werden konnte, blieb nur der Weg der Verringerung der Ausgaben im Krankenversicherungswesen sowie der Absenkung der Krankenkassenbeiträge, um die Arbeitslosenversicherung finanzieren zu können; vgl. Sauerborn (Fn. 7), 298. 11 § 370 RVO i. d. F. der Verordnung über Ärzte und Krankenkassen vom 30.10.1923 (RGBl. I, 1051). Die Verordnung über Ärzte und Krankenkassen wurde mit der Bekanntmachung vom 05.12.1924 (RGBl. I, 779) in die Reichsversicherungsordnung innerhalb der §§ 368a bis 368 t eingefügt. Sie beruhte auf dem Ermächtigungsgesetz vom 13.10.1923 (RGBl. I, 943). 12 § 370 RVO i. d. F. der vom Reichspräsidenten aufgrund der in Art. 48 Abs. 2 Weimarer Reichsverfassung zustehenden Notgesetzgebungsbefugnis erlassenen „Verordnung zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände“ vom 26.07.1930 (RGBl. I, 311).
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Ersatzleistungen ein. Damit war die Kostenerstattung als rechtliche Gestaltungsmöglichkeit „hoffähig“. Unter der Geltung des Grundgesetzes bis in die Zeit vor Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes existierte die Kostenerstattung als Gegenleistungselement nur rudimentär. Zu nennen ist vorrangig die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den „unaufschiebbaren Leistungen“, namentlich im Zusammenhang auch mit den so genannten „Außenseitermethoden“13. Zu nennen ist ferner die ursprünglich – vor Inkrafttreten des GRG – nur den Ersatzkassen vorbehaltene Möglichkeit, bestimmten Mitgliedern die Möglichkeit der Kostenerstattung zu eröffnen14. Einen erneuten gesetzlichen Niederschlag fand die Kostenerstattung erst im Rahmen des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG): Nach § 2 Abs. 2 i. V. m. § 13 Abs. 1 SGB V zementierte der Gesetzgeber zwar die Sachleistung, sah allerdings ausdrücklich die Möglichkeit der Kostenerstattung vor: Sachleistung als Regelfall, Kostenerstattung als Ausnahme: Art. 61 GRG beließ denjenigen Kassen, „die auf Grund ihrer Satzung und in rechtlich zulässiger Weise Kostenerstattung durchführ(t)en“, die Kostenerstattung auch zukünftig. Diese Regelung wurde abgelöst durch § 13 Abs. 2 i. d. F. des Gesundheitsstrukturgesetzes15, der die Kostenerstattung auf sämtliche freiwillig Versicherten erstreckte. § 13 Abs. 3 SGB V knüpfte die Kostenerstattung tatbestandlich an den weiteren Fall der unaufschiebbaren oder seitens der Kasse zu Unrecht abgelehnten Leistung16. Das 2. GKV-Neuordnungsgesetz brachte mit der Neufassung des § 13 Abs. 2 SGB V eine Regelung mit sich, die den Schluss auf eine nur „rudimentäre“ Bedeutung der Kostenerstattung nicht mehr zuließ. Seiner Regelungskonzeption lag – schlagwortartig skizziert – eine umfassende „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“17 zugrunde, die in eine Strategie von Kostenerstattung, Selbstbehalt und Beitragsrückgewähr mündete und damit namentlich Konkurrenz auch und gerade im Verhältnis zwischen GKV und PKV erzeugte18. § 13 Abs. 2 SGB V n. F. eröffnete sämtlichen Versicherten die Wahl zwischen Sachleistung und 13 Vgl. BSG SozR 2200 § 368n Nr. 23; SozR 3-2500 § 13 Nr. 2 m. w. N.; SozR 32500 § 13 Nr. 7 = SGb 1996, 226 m. Anm. Günther Schneider; SozR 3-2500 § 13 Nr. 9. 14 Dazu Schulin, Bertram, Rechtliche Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Probleme, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 6 Rn. 118 ff. m. w. N. 15 Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz) vom 21.12.1992 (BGBl. I, 2266). 16 Zu den weiteren Fallgestaltungen vgl. § 14, § 17 Abs. 2, § 18 sowie §§ 29 f. SGB V i. d. F. des GRG. 17 So ausdrücklich die amtliche Begründung; vgl. BT-Drucks. 13/6087, S. 16 ff. 18 Vgl. die Ausführungen im Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss); vgl. BT-Drucks. 13/7264, S. 67. Zu den Beratungen im Ausschuss vgl. BTDrucks. 13/7264, S. 66 ff.
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Kostenerstattung. Obgleich nach der gesetzlichen Ausgangslage das zwischen Sachleistung und Kostenerstattung bestehende Regel/Ausnahme-Verhältnis fortbestand19, war den Versicherten damit eine freie Wahl zwischen beiden Formen der Leistungserbringung eröffnet. Das Wahlrecht sollte „die gesetzliche Krankenversicherung auch im Vergleich zu der privaten Krankenversicherung attraktiver (machen) und . . . nicht zuletzt den Krankenkassen weitere Wettbewerbsparameter (eröffnen)“20. Nennenswerte tatsächliche Erkenntnisse konnten sich im Rahmen des § 13 Abs. 2 SGB V i. d. F. des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes nicht ergeben. Der im Herbst 1998 eingetretene Regierungswechsel hat, motiviert durch ein zwischen Regierung und Opposition grundlegend verschiedenes rechtspolitisches Verständnis über das der Sozialversicherung zukommende Aufgabenfeld, zu einer erheblichen Verschiebung der für die GKV maßgeblichen Koordinaten geführt. Die im September 1998 gewählte Bundesregierung hat mit dem „Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz – GKV-SolG)“ vom 19.12.199821 eine grundsätzliche gesundheitspolitische Wende eingeleitet. Ihr konzeptionelles gesundheitspolitisches Verständnis hat sich bereits im „Sofortprogramm zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in den Krankenkassen“ gezeigt, das die SPD-Fraktion im Verlauf der 13. Legislaturperiode vorgelegt hat22. Danach setzte die SPD – jedenfalls auf der Grundlage ihrer damaligen rechtspolitischen Haltung – auf die Instrumente, die seinerzeit im Gesundheitsstrukturgesetz in die GKV implantiert worden waren, namentlich auf das Modell der Budgetierung. Bereits die zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen getroffene Koalitionsvereinbarung23 hat, bezogen auf die GKV, das Ziel verfolgt, ein „leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem für alle“ zu erreichen. Die neue Bundesregierung sei einer sozial gerechten Gesundheitspolitik verpflichtet, die auf dem Solidar- und Sachleistungsprinzip beruhe; dazu gehöre eine paritätisch finanzierte Krankenversicherung. Die neue Bundesregierung werde dafür sorgen, dass Gesundheit für alle bezahlbar bleibe und jeder den gleichen Anspruch auf eine qualitativ hochstehende medizinische Versorgung habe. Ziel der neuen Bundesregierung sei es, den Anstieg der Krankenversicherungsbeiträge zu stoppen und die Beiträge dauerhaft zu stabilisieren; dazu werde „in einem ersten Schritt“ noch 1998 ein Vorschaltgesetz verabschiedet werden. Eckpunkte dieses Gesetzes seien: Vorläufige Ausgabenbegrenzung; Zahnersatzleistungen 19
§ 2 Abs. 2 und § 13 Abs. 1 SGB V waren durch die Änderung nicht berührt. So ausdrücklich BT-Drucks. 13/7264, S. 67. 21 BGBl. I, 3853. 22 Vgl. BT-Drucks. 13/5726. 23 Vgl. Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert, Manuskript, hrsg. von den Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, 1998. 20
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für alle als Sachleistung (auch für nach 1978 Geborene); Modifizierung der Krankenversicherungskarte (Arztwechsel); Entlastung chronisch Kranker und älterer Patienten von Arzneimittelzuzahlungen; Aufhebung von Regelungen, die höhere oder neue Zuzahlungen der Patienten vorsehen. Damit würden „die Voraussetzungen zur Durchführung einer Strukturreform zum 1. Januar 2000, die für mehr Wettbewerb um Qualität, Wirtschaftlichkeit und effizientere Versorgungsstrukturen sorgen soll“, geschaffen. Diese politischen Absichtserklärungen haben die Regierungsfraktionen mit Hilfe des GKV-Solidaritätsstärkungsgesetzes, mit welchem die neue Bundesregierung eine „Kehrtwende“ in der Gesundheitspolitik einleiten will, umgesetzt24. Von der mit den Neuordnungsgesetzen eingeleiteten Entwicklungen war damit nahezu vollständig Abstand genommen worden. Unter anderem sind die Zuzahlungsregelungen der Rechtslage vor Erlass der Neuordnungsgesetze angepasst, die Möglichkeit weiterer Zuzahlungsanhebungen verhindert, das so genannte „Krankenhausnotopfer“ ausgesetzt, die Wiedereinführung von Zahnersatzansprüchen für Kinder und Jugendliche beschlossen und im ganzen „Elemente der privaten Versicherungswirtschaft“, z. B. Wahlrecht auf Kostenerstattung, beseitigt worden. Hierauf aufbauend trat am 01.01.2000 das „Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000)“ vom 22.12.199925 in Kraft. Weite Teile des Gesetzentwurfes fielen indessen dem Gesetzgebungsverfahren zum Opfer. Im Ganzen sah sich die Bundesregierung wegen der im Bundesrat bestehenden Mehrheitsverhältnisse gehalten, das Gesamtvorhaben aufzuschnüren und im Bundesrat ein nicht zustimmungspflichtiges Gesetz einzubringen. Mit dem Gesetz, das im Wesentlichen aus den zustimmungsfreien Teilen des Entwurfes besteht, hatte sich der Vermittlungsausschuss am 15.12.1999 zu befassen. Am 16.12.1999 wurde das Gesetz vom Bundestag mit der erforderlichen Mehrheit verabschiedet und trat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, am 01.01.2000 in Kraft. Als „großer Wurf“ in der Gesundheitsgesetzgebung konnten die damit verbundenen gesetzlichen Maßnahmen indessen nicht bezeichnet werden26. Die nach 1998 verantwortliche Ge24 Zum Gesetzgebungsverfahren vgl. BT-Drucks. 14/24 (amtliche Begründung) und BT-Drucks. 14/157 (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit). 25 BGBl. I, 2626. Im Ganzen sah sich die Bundesregierung wegen der im Bundesrat bestehenden Mehrheitsverhältnisse gehalten, das Gesamtvorhaben aufzuschnüren und im Bundesrat ein nicht zustimmungspflichtiges Gesetz einzubringen. Mit dem Gesetz, das im Wesentlichen aus den zustimmungsfreien Teilen des Entwurfes besteht, hatte sich der Vermittlungsausschuss am 15.12.1999 zu befassen. Am 16.12.1999 wurde das Gesetz vom Bundestag mit der erforderlichen Mehrheit verabschiedet und trat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, am 01.01.2000 in Kraft. 26 Weite Teile des Gesetzentwurfes fielen dem Gesetzgebungsverfahren zum Opfer. Nach wie vor bestand Regelungsbedarf in den zentralen Leistungsbereichen, etwa der stationären Versorgung. Die Einführung der sog. integrierten Versorgung harrt – nach wie vor – nicht zuletzt deshalb des Vollzugs, weil den §§ 140a ff. SGB V i. d. F. des
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setzgebung hat sich vielmehr gegen die Eigenverantwortung der Versicherten entschieden, wie gerade und vor allem die Beseitigung der den Versicherten zugewiesenen Option zwischen Kostenerstattung und Sachleistung i. S. d. § 13 Abs. 2 SGB V i. d. F. des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes belegt. Das im Wesentlichen am 01.01.2004 in Kraft getretene „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG)“ vom 14.11.200327 stellt eine erneute Wegmarke in der Rechtsentwicklung dar. Hinsichtlich seines Zustandekommens zeigen sich im Blick auf das 1993 in Kraft getretene Gesundheitsstrukturgesetz deutliche Parallelen: Der von den Regierungsfraktionen in den Deutschen Bundestag eingebrachte „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitssystems (Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz – GMG)“ vom 16.06.200328 fiel den unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zum Opfer. An seine Stelle trat der – auch hinsichtlich der Namensgebung abgeänderte – interfraktionelle „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG)“ vom 08.09.200329. Im Blick auf die Themenstellung zeigt sich zwischen beiden Entwürfen ein grundlegender Unterschied: Während die Regierungskoalition ausweislich des Entwurfs vom 16.06.2003 hinsichtlich des Sachleistungsprinzips keine Abänderung vorgesehen hatte30, weist der interfraktionelle Gesetzentwurf vom 08.09.2003 die durch Abänderung von § 13 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB V erneute Einführung des Versichertenwahlrechts zwischen Sachleistung und Kostenerstattung auf31. Diese Bestimmung ist im sich anschließenden Gesetzgebungsverfahren unverändert geblieben und Inhalt des GKV-Modernisierungsgesetzes vom 14.11.2003 geworden32. GKV-GRG 2000 einerseits die inhaltliche Konsistenz fehlt und andererseits das Interesse der beteiligten „Akteure“ an der Schaffung einer Integrationsversorgung bislang nur sehr bescheiden ausgeprägt ist. Nach wie vor fehlen strukturellen Regelungen, die eine Effektuierung der stationären Versorgung ermöglichen. Die Einführung der monistischen Finanzierung musste im Gesetzgebungsverfahren aufgegeben werden. Die Einführung der Positivliste blieb gerade im Blick auf das qualitative Versorgungsniveau der Versicherten mit Arzneimitteln umstritten. Völlig unbeachtet geblieben ist vor allem die tatsächliche Entwicklung. Es ist nicht zu ersehen, dass und in welchem Umfang die GKV der zunehmend ungünstiger werdenden demographischen Entwicklung angepasst werden kann. 27 BGBl. I, 2190 (im Folgenden zitiert als GMG). 28 BT-Drucks. 15/1170. 29 BT-Drucks. 15/1525. Dasselbe rechtspolitische Schicksal erfuhr der von den damaligen Regierungsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P eingebrachte Gesetzentwurf eines Gesundheitsstrukturgesetzes (vgl. BT-Drucks. 11/2229), der dem interfraktionellen Entwurf wich (vgl. BT-Drucks. 11/2237). 30 Insoweit war in § 13 SGB V ausschließlich die Anfügung der Absätze 4 ff. vorgesehen, die keine grundsätzliche Einführung der Kostenerstattung vorsahen. Vgl. § 13 SGB V i. d. F. von Art. 1 Nr. 1 des Entwurfs vom 16.06.2003 (BT-Drucks. 15/1170). 31 Vgl. § 13 Abs. 2 SGB V i. d. F. von Art. 1 Nr. 4a des GMG-Fraktionsentwurfs vom 08.09.2003 (BT-Drucks. 15/1525).
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All dies zeigt: Bei historischer Betrachtung ergibt sich der Befund, dass die Kostenerstattung als Gestaltungsform der Leistungsvermittlung der GKV keineswegs grundsätzlich ausschied. Gerade im historischen Rückblick wird vielmehr deutlich, dass der Gesetzgeber wiederholt zwischen Sachleistung und Kostenerstattung als Gestaltungsformen abgewogen hat. Dies gilt für nahezu sämtliche Epochen des Rechts der GKV. Unter diesem Blickwinkel erscheinen die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung getroffenen Feststellungen, denen zufolge das Sachleistungsprinzip „ein übergreifend geltender Grundsatz des Leistungsrechts“ und „völlig unbestritten“ ein „übernormatives Grundprinzip des Rechts der GKV“ sei, nicht von rechtlicher Substanz, sondern vielmehr allenfalls Ausdruck einer bloßen rechtspolitischen Sicht. Dasselbe gilt für die weitere Feststellung, dass das System der deutschen sozialen Krankenversicherung vom Sachleistungsprinzip „konstitutiv“ geprägt oder getragen sei. IV. Verfassungsrechtliche Fundierung Im Blick auf die genannte höchstrichterliche Rechtsprechung ergibt sich die notwendige Frage nach der verfassungsrechtlichen Relevanz des Sachleistungsprinzips. Die vom Bundessozialgericht getroffene Feststellung, das Sachleistungsprinzip sei „ein übergreifend geltender Grundsatz des Leistungsrechts“ und „völlig unbestritten“ ein „übernormatives Grundprinzip des Rechts der GKV“, nötigt zu der Frage, ob dem Grundgesetz tatsächlich eine auf die Leistungsvermittlung in der Sozialversicherung diesbezüglich immanente Gestaltungsform eigen ist. Insoweit ergeben sich sowohl kompetenzrechtliche als auch grundrechtliche Ansatzpunkte. 1. Kompetenzrechtliche Überlegungen a) Institutionelle Garantie des bestehenden Systems der GKV? Die Einführung der Kostenerstattung als ausschließliches oder im Verhältnis zur Sachleistung gleichberechtigt zulässiges Instrument33 der Leistungserbringung seitens der Krankenkasse könnte auf kompetenzrechtliche Bedenken stoßen. Sollte das Grundgesetz eine bestimmte institutionelle Garantie der GKV gewährleisten, wäre dem Gesetzgeber jede Systemänderung verwehrt. Legt man den Ausgangspunkt zugrunde, dass die Sachleistung „ein übergreifend geltender Grundsatz des Leistungsrechts für alle Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen“34 ist, könnte sie dies tatsächlich als „Wesenselement“ der GKV erschei-
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Vgl. Art. 1 Nr. 4a GMG. Vgl. § 13 Abs. 2 SGB V i. d. F. des GMG.
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nen lassen. Für eine daneben gleichrangige oder gar ausschließlich geltende Kostenerstattung wäre bei dieser Betrachtung in der GKV kein Raum. Eine derartige Sichtweise setzte indes die Annahme eines dem Grundgesetz immanenten bestimmten Organisationsprinzips der Sozialversicherung voraus. Dies ist jedoch nicht der Fall. Ebenso wenig wie sich das Grundgesetz für eine bestimmte Arbeits- und Wirtschaftsordnung entschieden hat, ist ihm eine bestimmte, unabänderliche Sozialordnung eigen. Einzelne Verfassungsbestimmungen lassen immerhin den Schluss zu, dass die Existenz der Sozialversicherung überhaupt gesichert ist: Nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zählen Arbeitslosenversicherung und Sozialversicherung neben dem Arbeitsrecht zur konkurrierenden Gesetzgebung. Art. 87 Abs. 2 GG trifft Regelungen über die Verwaltungskompetenzen für „soziale Versicherungsträger“, deren Zuständigkeit sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt. Schließlich bestimmt Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG, dass der Bund „die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung mit Einschluß der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe“ trägt. Diesen Bestimmungen lässt sich allerdings weder ein Anhalt dafür entnehmen, was Sozialversicherung ist, noch dafür, in welcher Art und Weise der jeweilige Sozialversicherungsträger die Leistung gegenüber dem Versicherten zu erbringen hat. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gibt zunächst lediglich Aufschluss über die Stellung von Sozialversicherung und Arbeitslosenversicherung im Kompetenzgefüge der Gesetzgebung. Art. 87 Abs. 2 GG ist nur als Kompetenznorm für die Abgrenzung der Verwaltungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu verstehen35. Aus Art. 120 Abs. 1 GG, der keine „Anspruchsnorm“ darstellt, sind Ansprüche gegen die öffentliche Hand nicht herzuleiten; hiermit wird nichts über Art und Umfang der von den Sozialversicherungsträgern zu erbringenden Versicherungsleistungen festgelegt36. Im Blick auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG lässt sich feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht anhand dieser Verfassungsbestimmung in ständiger Rechtsprechung jedenfalls eine deskriptiv-typisierende Bereichsbildung darüber vornimmt, was als „Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“ angesehen werden kann. Zugleich lässt sich hieraus folgern, dass die Sozialversicherung eine „Versicherung“ darstellt. Die Zuordnung eines Sachverhaltes zum sachlichen Anwendungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG steht hiernach unter einem weit gefassten „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff“ 34 Vgl. BSG USK 8777; BSGE 69, 170 (173); Schulin (Fn. 14), § 6 Rn. 8 ff. m. w. N. 35 Vgl. BVerfGE 21, 362 (371); 39, 302 (315); zur Errichtung neuer Sozialversicherungsträger nach Inkrafttreten des Grundgesetzes vgl. BVerfGE 11, 105 (123 f.). 36 Vgl. BVerfGE 14, 221 (233 ff.); zur Thematik vgl. Isensee, Josef, Privatautonomie der Individualversicherung und soziale Selbstverwaltung, 1980, S. 11 ff.; Papier, Hans-Jürgen, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der PKV, 1992, S. 7 ff.; alle Genannten m. w. N.
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der Sozialversicherung37. Neue Lebenssachverhalte können danach in das Gesamtsystem „Sozialversicherung“ einbezogen werden, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere in der organisatorischen Durchführung und hinsichtlich der abzudeckenden Risiken, dem Bild entsprechen, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist38. Entscheidend ist ein Verständnis der Sozialversicherung im Sinne jedenfalls einer gemeinsamen Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit. Neben dem hinzutretenden Merkmal sozialer Prägung ist auch die Art und Weise kennzeichnend, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird. Träger der Sozialversicherung sind selbständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel durch Beiträge der „Beteiligten“ aufbringen39. Das Bundesverfassungsgericht legt der Sozialversicherung im Blick auf ihren Versicherungscharakter dasselbe Verständnis wie bei der Bestimmung des „privatrechtlichen Versicherungswesens“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zugrunde, wie etwa am Beispiel der Entscheidung zu der nach Landesrecht errichteten, öffentlich-rechtlich ausgestalteten badischen Gebäudeversicherung deutlich wird: „Das Bild des Versicherungswesens wird im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß den privatwirtschaftlichen Versicherungsunternehmen mit privatrechtlichen Vertragsbeziehungen öffentlich-rechtliche Versicherungseinrichtungen gegenüberstehen, die mit den privaten in Wettbewerb stehen und deren Versicherungsverhältnisse ebenfalls dem Privatrecht angehören. Dazu kommen die öffentlich-rechtlichen Versicherungsanstalten, deren Versicherungsverhältnisse dem öffentlichen Recht angehören“40. Über die genannte begriffliche Bestimmung hinaus dürfte das Wort „Sozialversicherung“ i .S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG wohl nur typologisch zu erfassen sein, wie erneut die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts belegt: Dem in ständiger Rechtsprechung vertretenen, weit gefassten „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff“ der Sozialversicherung41 liegt das Bild einer „klassischen Sozialversicherung“ und damit – im historischen Kontext – das Verständnis der Sozialversicherung in erster Linie als „Arbeitnehmerversicherung“ zugrunde. Allerdings bleibt dem Gesetzgeber gerade wegen dieser typologischen Umschreibung des Wortes42 „Sozialversicherung“ nicht nur der Gestaltungsraum für die Einbeziehung neuer Sachverhalte, wie etwa am Beispiel der 37 Vgl. BVerfGE 75, 108 (146 f.) m. w. N.; st. Rspr.; ferner Isensee, Josef, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 44 ff. m. w. N. 38 Klassisches Beispiel hierfür ist die Errichtung der sozialen Pflegeversicherung als „5. Säule“ der Sozialversicherung. 39 Vgl. BVerfGE 11, l08 (111 ff.); 75, 108 (146) m. w. N.; st. Rspr. 40 BVerfGE 41, 205 (219). 41 Vgl. BVerfGE 11, 102 (111 ff.); 75, 108 (146 f.) m. w. N.; 87, 1 (33 f.) m. w. N.; st. Rspr.
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sozialen Pflegeversicherung deutlich wird, offen43. Neue Lebenssachverhalte können folglich (nur dann) in das Gesamtsystem „Sozialversicherung“ einbezogen werden, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere in der organisatorischen Durchführung und hinsichtlich der abzudeckenden Risiken, dem Bild entsprechen, das durch die Sozialversicherung geprägt ist. Im thematischen Zusammenhang ergeben sich daraus wesentliche Folgerungen: Eine Garantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung besteht von Verfassungs wegen im Ganzen nicht. Vielmehr kommt dem Gesetzgeber gerade auch in Bezug auf die Ausgestaltung des Systems der Sozialversicherung ein weiter Gestaltungsraum zu. Das Grundgesetz enthält keine ausdrückliche Vorschriften über die Organisation der Sozialversicherung. Aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 und Art. 87 Abs. 2 GG ergibt sich weder ein Änderungsverbot noch ein bestimmtes Gestaltungsgebot. Die genannten Kompetenznormen sind auch nicht als Indiz für eine verfassungsrechtliche Garantie der Sozialversicherung in ihrer jetzigen Form zu begreifen44. Eine Änderung des bestehenden Systems der sozialen Versicherung wie des Systems des Sozialrechts insgesamt ist folglich als vom Bundesverfassungsgericht hinzunehmende sozialpolitische Entscheidung zu bewerten, solange die Erwägungen des Gesetzgebers weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind. Dem damit weiten Gestaltungsraum des Gesetzgebers sind lediglich dort Grenzen gezogen, wo eine Ungleichbehandlung Auswirkungen auf grundrechtlich gesicherte Freiheiten hat45. b) Kostenerstattung und Sozialversicherung Ist die Einführung der Kostenerstattung im Ganzen, aber auch nur im Rahmen der neu geordneten GKV mithin bei institutioneller Betrachtung nicht zu beanstanden, bleibt allerdings zu prüfen, wie sich die Einführung der Kostenerstattung zu den die Sozialversicherung tragenden Prinzipien verhält. Der Versicherungscharakter der GKV würde durch die Einführung einer ausschließlichen Geltung der Kostenerstattung ebenso wenig denaturiert wie bei der durch § 13 Abs. 2 SGB V n. F. normierten Gleichrangigkeit im Verhältnis 42 Zum Verhältnis Begriff und Wort „Sozialversicherung“ vgl. Wertenbruch, Wilhelm, Sozialversicherung?, in: Festschrift für Georg Wannagat, S. 687 ff. 43 Hinzuweisen ist indessen, dass die Gesetzgebungskompetenz für die soziale Pflegeversicherung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG beruhen mag; die Gesetzgebungskompetenz für die private Pflegeversicherung dürfte sich jedoch nicht hierauf, sondern vielmehr auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG stützen. 44 Vgl. BVerfGE 11, 105 (112 f.); 21, 362 (371); 23, 12 (22 f.); 36, 383 (393); 39, 302 (314 f.); 77, 340 (344); st. Rspr. 45 Vgl. BVerfGE 13, 97 (107 und 110); 89, 365 (376) m. w. N.; st. Rspr.
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zur Sachleistung. Im Gegenteil trägt die Kostenerstattung zur Stabilisierung des Versicherungsprinzips bei. Sie verschiebt die im Sozialversicherungsverhältnis bestehenden Koordinaten insoweit, als sie das Versicherungsprinzip stärker betont. Sie macht dem Versicherten das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung deutlich. Auch wenn die Sozialversicherung und damit auch die GKV, anders als die von der Individualäquivalenz geprägte PKV, vom Prinzip der Globaläquivalenz getragen sind, wird dem Versicherten bei Einführung der Kostenerstattung deutlich, welche Leistungen die GKV in welchem Umfange finanziert. Die Einführung einer ausschließlichen Kostenerstattung führte überdies zu einem deutlichen Anstieg von Systemgerechtigkeit. Während die Sachleistung den Preis des Krankenversicherungsschutzes zumeist im Dunkeln belässt und zudem Gelegenheit eröffnet, versicherungsfremde Leistungen in die GKV einzubinden, legt die Kostenerstattung das in der GKV bestehende Preis-LeistungsVerhältnis in aller Klarheit offen. Sie verhilft nicht zuletzt der Privatautonomie zu erheblich höherer Geltung als bisher: Der für Zwangsversicherte und Leistungserbringer unter Geltung der Sachleistung beschnittene Gestaltungsraum wird bei Geltung der Kostenerstattung erheblich ausgedehnt, Raum für privatrechtliche Abreden geschaffen. Gerade hierin mögen – aus rechtspolitischer Sicht – Gefahren begründet sein. An der Zuordnung der Einführung einer (ausschließlichen) Kostenerstattung in den Bereich gesetzgeberischen Ermessens ändert sich dadurch jedoch nichts. Der „soziale Ausgleich“ erscheint in der Diskussion wiederholt als „Wesensmerkmal“ der Sozialversicherung und auch der GKV. Sozialer Ausgleich und Solidarität zeigen sich in der GKV namentlich auf der Beitragsseite. Die GKV erstrebt dadurch einen wirtschaftlichen Ausgleich nach „sozialen“ Gesichtspunkten innerhalb der Versichertengemeinschaft, als sie höheren Beiträgen nicht ausnahmslos höhere Leistungen entsprechen lässt. So werden die Mitglieder der Solidargemeinschaften innerhalb der Beitragsbemessungsgrenzen nach ihrem Einkommen zu Beiträgen herangezogen; das höhere Einkommen zahlt für den gleichen Versicherungsschutz höhere Beiträge als das niedrigere. Ausprägung des Solidarprinzips ist auch die Gewährung von zusätzlichen Leistungen an Mit- oder Familienversicherte, die insoweit Ausprägung des Familienlastenausgleichs ist46. Im Ganzen erscheint diese Form sozialpolitisch geprägter Umverteilung in der Diskussion noch zu wenig berücksichtigt47. Die Einführung der Kostenerstattung ändert an der gesicherten Existenz der genannten Ausprägungen des sozialen Ausgleichs nichts. Sie ist nicht auf der Beitrags-, sondern auf der Leistungsseite angesiedelt. Der Versicherte erhält 46 Vgl. den Bericht der Sozialenquête, Soziale Sicherung – Sozialenquête in der Bundesrepublik Deutschland, S. 62 f. 47 Eingehend Isensee (Fn. 37), S. 1 ff.
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auch bei Geltung der Kostenerstattung zu denselben Bedingungen Versicherungsschutz wie bei Sachleistung. Lediglich die Art und Weise des Versicherungsschutzes ist abgeändert. Sie mag den Versicherten, wählt er Kostenerstattung, allerdings im Einzelfall wirtschaftlich höher belasten. Die Verankerung der Kostenerstattung als zur Sachleistung gleichrangige oder – de lege ferenda – ausschließliche Gestaltungsform stellt folglich nichts anderes als eine vom Gesetzgeber getroffene sozialpolitische Entscheidung dar. Es geht nicht darum, ob überhaupt Krankenversicherungsschutz zur Verfügung gestellt wird, sondern allein darum, wie den Versicherten dieser Schutz zuteil wird. Die Einführung der (erweiterten) Kostenerstattung in der GKV, die Teil des sozialen Versicherungssystems ist, stellt sich weder als offensichtlich fehlsame noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbare Erwägung des Gesetzgebers dar. Sie verhilft im Gegenteil im Verhältnis zur Sachleistung zu mehr Systemgerechtigkeit, zur Stärkung des Versicherungsprinzips und zur Stärkung der im Rahmen der Solidargemeinschaft notwendigen Homogenität. 2. Grundrechtsprüfung a) In Betracht kommende Grundrechtspositionen Die Einführung der Kostenerstattung betrifft im Wesentlichen zwei Gruppen von Grundrechtsträgern: Zum einen bleibt zu prüfen, ob Grundrechte der Versicherten bei Einführung der Kostenerstattung verletzt sind. Zum anderen stehen Grundrechte der Privatversicherer auf dem Prüfstand, weil sich die GKV mit der Kostenerstattung desselben Gestaltungsmittels wie die PKV bedient, mithin das Konkurrenzverhältnis zwischen Privat- und Sozialversicherung berührt ist. Grundrechte der Vertragsärzte und der Vertragszahnärzte sind demgegenüber wohl von vornherein nicht verletzt48. Der Zugang zur vertragsärztlichen Versorgung in Gestalt der Zulassung bleibt unverändert. Die Einführung der Kostenerstattung hat insoweit die Berufsausübung regelnde Tendenz, als sie zu einer Abänderung des Vergütungsschuldners führt: Nicht mehr die Kassenärztliche Vereinigung, sondern unmittelbar der versicherte Patient ist (wieder) Schuldner des Vergütungsanspruchs. Diese Rechtsänderung verhilft der Privatautonomie in größerem Maße zur Geltung. Die Festlegung der Kostenerstattung ist rechtsdog48 Vgl. Sodan, Helge, Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer – eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer. Vorträge im Rahmen der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 16. und 17. Juni 2003, 2004, S. 9 ff.; umfassend Sodan, Helge, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997.
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matisch allein im Sozialversicherungsverhältnis Versicherter/Krankenkasse angesiedelt. § 13 Abs. 2 S. 3 SGB V n. F. beschränkt insoweit allein die Leistungspflicht der Krankenkasse gegenüber dem Versicherten in der Höhe auf die vergleichbare Sachleistung. Sie belässt dem Vertragsarzt und dem Sozialversicherten als Vertragspartnern im Gegenteil und über die ohnehin bestehende Geltung der Gebührenordnung für Ärzte hinaus die Möglichkeit des Abschlusses zusätzlicher Vereinbarungen. „Grundrechte“ der Krankenkassen scheiden mangels Grundrechtsträgerschaft49 demgegenüber ebenso aus wie „Grundrechte“ der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen. b) Grundrechte der Versicherten Die Einführung der Kostenerstattung wirft, namentlich im Blick auf § 13 Abs. 2 SGB V n. F., aus Sicht der Versicherten keine nennenswerten Rechtsfragen auf. Es bleibt beim weitgehenden Bestehen einer Pflichtversicherung, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit wohl nicht zu bestreiten ist50. Art. 14 Abs. 1 GG scheidet als Prüfungsmaßstab von vornherein aus, ebenso Art. 3 Abs. 1 GG. Die Einführung der Kostenerstattung als ausschließliches Gestaltungsinstrument behandelt alle Versicherten unterschiedslos. Soweit Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht zu ziehen ist, bleibt darauf hinzuweisen, dass dem Gesetzgeber – wie dargelegt – auf dem Gebiet der Sozialversicherung ein weiter Gestaltungsraum zukommt, der um so mehr gewahrt ist, als eine Neuregelung geeignet erscheint, Systemgerechtigkeit und nicht zuletzt finanzielle Stabilität herzustellen. Dem Sozialstaatsprinzip ist im Blick auf die konkrete Gestaltung des Sozialversicherungsverhältnisses wie der Gestaltung der Sozialversicherung im Ganzen eine nur eingeschränkte Bedeutung beizumessen. Aus dem Sozialstaatsgebot lässt sich weder ein Anspruch des Einzelnen auf soziale Leistungen im Bereich der Krankenversicherung durch ein so und nicht anders aufgebautes Sozialversicherungssystem noch ein „Bestandsschutz“ einzelner Sozialversicherungsträger ableiten51. Im Blick auf § 13 Abs. 2 SGB V n. F. bleibt festzuhalten, dass nunmehr – in Bezug auf § 13 Abs. 2 SGB V i. d. F. des 2. GKV-NOG: wieder – sämtlichen und nicht, wie bisher, nur den freiwillig Versicherten die Option der Kostenerstattung eröffnet ist. Die Vorschrift verletzt Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip nicht. Sie belässt die Einführung der Kostenerstattung im Einzelfall vollständig der Disposition des Versicherten. 49
Vgl. BVerfGE 21, 362 (369); 68, 193 (206). Vgl. BVerfGE 10, 89 (102); 38, 281 (298 f.); 89, 365 (376) m. w. N.; st. Rspr. 51 Es ist vielmehr der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, Veränderungen im Interesse der sozialen Sicherung mit neuen Lösungen gerade im Bereich der Organisation Rechnung zu tragen; vgl. BVerfGE 39, 302 (315). 50
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Im Gesetzgebungsverfahren wurde die Neuregelung mit einer Stärkung des Prinzips der Eigenverantwortung begründet: Viele pflichtversicherte Mitglieder in der GKV sähen in der bis dahin allein den freiwilligen Mitgliedern eingeräumten Möglichkeit, Kostenerstattung zu wählen, ein ungerechtfertigtes Privileg. Zudem erhielten künftig alle Versicherten in Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes die Möglichkeit, Leistungserbringer in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sowie in anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum im Wege der Kostenerstattung in Anspruch nehmen zu können. Vor diesem Hintergrund solle die Möglichkeit, Kostenerstattung zu wählen, auf alle Versicherten erstreckt werden. Hierdurch solle auch das Prinzip der Eigenverantwortung gestärkt werden. „Frei die Versorgungsform wählen zu können, entspricht der Vorstellung vom mündigen Bürger, der selbst entscheidet, was für ihn zweckmäßig ist. Die Entscheidung für die Kostenerstattung kann zudem das Kostenbewusstsein der Versicherten verstärken“52. Gerade diese Erwägungen machen deutlich, dass die Neuregelung in den dem Gesetzgeber zugewiesenen Gestaltungsraum anzusiedeln ist. Verfassungsrang hat sie indessen nicht. c) Grundrechte der Privatversicherer Hinzuweisen bleibt darauf, dass die Einführung der Kostenerstattung Konkurrenzfragen zur PKV aufwerfen wird. Privatversicherung und Sozialversicherung stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Das Bestehen beider ist nicht nur verfassungsrechtlich garantiert, sondern das Grundgesetz geht von einem komplementären Zusammenwirken von Privat- und Sozialversicherung aus. Ihm liegt eine „bipolare Versicherungsordnung“ zugrunde53, die ausweislich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG auf zwei selbständigen, in sich geschlossenen Trägersystemen beruht. Die Sozialversicherung hat seit ihrer Entstehung eine ständige vertikale wie horizontale Expansion zu verzeichnen54. Mit der horizontalen Ausweitung der Sozialversicherung in Gestalt der Ausdehnung ihres Schutzbereichs auf neue Kategorien, etwa im Rahmen der 1927 geschaffenen Arbeitslosenversicherung 52 So ausdrücklich BT-Drucks. 15/1525, S. 80 (zu Nr. 4 [§ 13]); ähnlich die amtliche Begründung zur gleich lautenden Regelung des § 13 Abs. 2 SGB V i. d. F. des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes: Der Versicherte könne selbst entscheiden, welche Gestaltungsform er wählen wolle; zudem sei die weitergehende Geltung der Kostenerstattung geeignet, das Kostenbewusstsein zu verstärken (vgl. BT-Drucks. 13/6087, S. 20 [zu Nr. 1 – § 13]). 53 Grundlegend Leisner, Walter, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 1 ff.; vgl. weiter Scholz, Rupert, Zur Wettbewerbsgleichheit von gesetzlicher und privater Krankenversicherung – Verfassungsprobleme im Zuge des innerdeutschen Einigungsvertrages, 1991, S. 14 ff. m. w. N. 54 Erneut Leisner (Fn. 53), S. 7 f. m. w. N.
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oder durch die Schaffung der sozialen Pflegeversicherung, korrespondiert ihre vertikale Ausdehnung, die entweder durch eine Zurverfügungstellung neuer Leistungen oder die Anhebung der Versicherungspflichtgrenzen gekennzeichnet ist. Beide Erscheinungsformen der Ausdehnung bringen zwangsläufig eine Verschärfung des Spannungsfeldes zu den in Betracht kommenden Branchen der Privatversicherung, damit eine Verschärfung der Konkurrenz zwischen beiden Versicherungsarten mit sich: Beide bieten demselben Markt vergleichbare Leistungen an. Für das Verhältnis von GKV und PKV gilt nichts anderes, erst recht nicht, wenn der Gesetzgeber die Kostenerstattung in der GKV allein zulässt: In diesem Falle unterliegen beide Versicherungssysteme demselben Gestaltungsmechanismus. Der damit einhergehende erhöhte Konkurrenzdruck auf die PKV ist vom Gesetzgeber gewollt: Nach den Ausschussberatungen zu § 13 Abs. 2 SGB V i. d. F. des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes sollte die Einführung des Wahlrechts i. S. d. § 13 Abs. 2 SGB V „die gesetzliche Krankenversicherung auch im Vergleich zur privaten Krankenversicherung attraktiver (gestalten) und . . . nicht zuletzt den Krankenkassen weitere Wettbewerbsparameter (eröffnen)“55. Nichts anderes kann für die damit deckungsgleiche Vorschrift i. d. F. des GKV-Modernisierungsgesetzes gelten. Beide Aspekte, sowohl die horizontale als auch die vertikale Ausdehnung der Sozialversicherung, berücksichtigen indes ihre im Gegensatz zur Privatversicherung grundsätzlich anders gelagerte Legitimation nicht. Die Privatversicherung ist durch Privatautonomie gekennzeichnet. Sie hat ihre Grundlage im Freiheitsbereich. Ebenso wie der Abschluss eines Versicherungsvertrages der grundsätzlich privatautonomen Disposition der Vertragsparteien überlassen ist, entspricht es der privatautonomen Entscheidung, als Versicherer auf den Markt zu treten. Legitimationsquelle dieser Freiheit sind die Grundrechte. Privatautonomie stellt nichts anderes als ein selbstverständliches Element der Grundrechtsfreiheit dar. Der jeweilige Grundrechtsträger, der seine Freiheit ausübt, bedarf dazu keiner Rechtfertigung. Eingriffe in das jeweils betroffene Grundrecht sind nur im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ermächtigungen zulässig56. Die Legitimation der Sozialversicherung und damit auch der GKV ist hingegen nach völlig anders gelagerten Maßstäben zu beurteilen. Die Sozialversicherungsträger haben kein grundrechtliches Fundament. Es fehlt die Symbiose mit einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich. Ihre Träger verdanken ihre Existenz und ihre Kompetenz ausschließlich der Organisationsgewalt des Staates57. Zieht man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heran, sind die Sozialversicherungsträger lediglich organisatorisch verselbständigte Teile 55 56 57
Vgl. BT-Drucks. 13/7264, S. 67. Isensee (Fn. 36), 1980, S. 10 f. Eingehend zum Ganzen Isensee (Fn. 36), S. 11 f. m. w. N.
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der Staatsgewalt, die der Sache nach mittelbare Staatsverwaltung ausüben58. Die Staatsgewalt ist aber, mag sie unmittelbar, mag sie mittelbar in Erscheinung treten, Adressat der Grundrechte, nicht zugleich deren Träger59. Anders als die Privatversicherung, die ihre Legitimation aus der Freiheit schöpft, bedarf die Sozialversicherung der besonderen Legitimation. Anders als die Versicherungsunternehmen des Privatversicherungsrechts legen ihre Träger weder den Gegenstand noch den Umfang ihres Aufgabenkreises eigenständig fest, sondern unterliegen dem vom Gesetzgeber zugewiesenen Wirkungskreis, sind folglich nur im Rahmen der ihnen jeweils kraft Gesetzes (§ 31 SGB I) verliehenen Kompetenzen rechtsfähig. Festzuhalten bleibt: Die Sozialversicherung bedarf, soll sich ihr Wirkungskreis auf einen als schützenswert erachteten Lebensbereich erstrecken, der gesetzlichen Legitimation. Für ihre Träger kann nichts anderes gelten. Als juristische Personen des öffentlichen Rechts sind sie mithin auf eine Kompetenzzuweisung seitens des Gesetzgebers angewiesen. Schöpft die Privatversicherung, schöpft das dort handelnde Versicherungsunternehmen ihre Kompetenz aus den Grundrechten und erfährt ihr Handeln nur durch Gesetz, etwa nach den §§ 134, 138 oder 242 BGB, eine Begrenzung, so können sich weder die Sozialversicherung noch ihre Träger hierauf berufen: Für sie ist vielmehr das Gesetz selbst Grundlage und Ermächtigung ihres Handelns. Gerade hier zeigt sich die Relevanz des auch in der Sozialversicherung geltenden Grundsatzes der Subsidiarität. Geht man davon aus, dass der Sozialversicherungsschutz erst in dem Falle eingreift, in welchem sich der Einzelne aus eigener Initiative oder Kraft nicht mehr zu helfen vermag, sind der Ausdehnung der Sozialversicherung, ohne dass diese in ihrem Bestand gefährdet wäre, äußere Grenzen gesetzt. Der Subsidiaritätsgrundsatz ist mithin geeignet und hat zur Folge, innerhalb der bipolaren Versicherungsordnung den Bestand von Privat- wie Sozialversicherung zu wahren, damit auch und gerade der Präponderanz der Freiheit vor der Gleichheit gerecht zu werden. Unterstellt man, dass das Verhältnis zwischen PKV und GKV aus verfassungsrechtlicher Sicht gegenwärtig wohl nicht zu beanstanden ist, so wirkt sich die Einführung der Kostenerstattung zunächst auf dieses Verhältnis wohl noch nicht grundlegend aus. Gleichwohl wird zu beobachten sein, in welchem Ausmaß die nunmehr zumindest auch vom Prinzip der Kostenerstattung getragene GKV auf die Privatversicherer zusätzlichen Druck ausübt, indem die Geltung der Kostenerstattung etwa zusätzlich verstärkten Anlass dazu gibt, in die GKV 58 Vgl. BVerfGE 39, 302 (312 ff.); zur Kritik eingehend Heinze, Meinhard, Möglichkeiten der Fortentwicklung des Rechts der sozialen Sicherheit zwischen Anpassungszwang und Bestandsschutz, Gutachten E zum 55. Deutschen Juristentag, 1984, S. E 59 ff. m. w. N. 59 Isensee (Fn. 36), S. 12.
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einzutreten oder ihr weiterhin anzugehören. Möglicherweise wird die Entwicklung auch dahin gehen, dass der PKV gerade wegen der Einführung der Kostenerstattung und der dadurch auftretenden zusätzlichen finanziellen Belastungen der Betroffenen weiterer Handlungsraum eröffnet wird. Im Ganzen bleibt die Entwicklung zu beobachten. 3. Zusammenfassung Dem Grundgesetz ist eine bloß typologische Prägung des Wortes Sozialversicherung eigen. Gerade wegen dieser typologische Umschreibung kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsraum sowohl für die Einbeziehung neuer Sachverhalte als auch für deren normative einfachrechtliche Gestaltung zu. Weder besteht nach dem Grundgesetz eine Garantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung noch eine ausdrückliche Vorgabe sowohl hinsichtlich der Organisation als auch der konkreten Gestaltung der Sozialversicherung. Eine Änderung des bestehenden Systems gerade auch der Leistungsvermittlung, wie sie auch im Rahmen von § 13 Abs. 2 SGB V zum Ausdruck kommt, stellt keine Frage von Verfassungsrang dar. Sie ist vielmehr eine im Gestaltungsraum des Gesetzgebers anzusiedelnde sozialpolitische Wertentscheidung. Gerade in Bezug auf die die Sozialversicherung tragenden Prinzipien führt das Prinzip der Kostenerstattung zur Stärkung des Versicherungsprinzips. Sie führt damit zu einem deutlichen Anstieg von Systemgerechtigkeit, ohne dem Prinzip des sozialen Ausgleichs zuwider zu laufen. Hinsichtlich der grundrechtlichen Prüfung kommen ausschließlich die Versicherten und die Privatversicherer in Betracht. Die Vertragsärzte und die Vertragszahnärzte sind dagegen in verfassungsrechtlich geschützten Positionen insoweit nicht verletzt. Die gesetzlichen Krankenkassen und die Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen scheiden bereits mangels Grundrechtsträgerschaft von vorneherein aus der Prüfung aus. Grundrechte der Versicherten sind weder durch die Einführung des Wahlrechts auf Kostenerstattung betroffen noch wären sie durch die Ersetzung der Sachleistung durch das Prinzip der Kostenerstattung verletzt. Art. 14 Abs. 1 GG scheidet als Prüfungsmaßstab aus. Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt, weil danach alle Versicherten gleichbehandelt werden. Soweit mithin allein Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht zu ziehen ist, stellt die Einführung der (ausschließlichen) Kostenerstattung keine Frage von Verfassungsrang dar. Sie berührt vielmehr den dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen zukommenden Gestaltungsraum. Aus dem Sozialstaatsprinzips schließlich lassen sich konkrete Ansprüche auch hinsichtlich der Vorhaltung des Sachleistungsprinzips in der GKV nicht ableiten. Soweit Grundrechte der Privatversicherer in Betracht zu ziehen sind, ist davon auszugehen, dass die Sozialversicherungsträger grundsätzlich der gesetzlichen Legitimation bedürfen, während die Privatversicherung ihre Kompetenz
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aus den Grundrechten zieht und eine Begrenzung nur durch Gesetz erfährt. Anders ausgedrückt: Im Unterschied zur Privatversicherung ist das Gesetz für die Sozialversicherungsträger Ausgangspunkt und Ermächtigung ihres Handelns. Insoweit ist davon auszugehen, dass die Einführung des Wahlrechts zwischen Sachleistung und Kostenerstattung i. S. d. § 13 Abs. 2 SGB V auf den ersten Blick nicht zu einer zusätzlichen Belastung der Privatversicherer führt. Dies zugrunde legend sind die Feststellungen des Bundessozialgerichts, denen zufolge das Sachleistungsprinzip „ein übergreifend geltender Grundsatz des Leistungsrechts“ und „völlig unbestritten“ ein „übernormatives Grundprinzip des Rechts der GKV“ sein soll, aus der verfassungsrechtlichen Sicht unerheblich. Der Sozialversicherung und namentlich der GKV ist von Verfassungs wegen keine bestimmte Gestaltung des Rechts der Leistungsvermittlung – sei es im Sinne der Sachleistung, sei es im Sinne der Kostenerstattung – eigen. Es bleibt festzuhalten: Die Verankerung von Leistungen in der GKV auf der Grundlage der Kostenerstattung oder von Sachleistungen ist keine Frage von Verfassungsrang. Sie stellt vielmehr eine vom Gesetzgeber getroffene sozialpolitische Entscheidung dar. Das Grundgesetz ist auch insoweit wertneutral. Gegen die Einführung der Kostenerstattung sprechen weder der Gesichtspunkt der institutionellen Garantie des bestehenden Systems noch Grundrechtspositionen der betroffenen Adressaten. V. Gegenwärtige Rechtslage 1. Ausgangsbedingungen Im Zuge des Inkrafttretens des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes vom 23.06. 199760, mit dem der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 13 Abs. 2 SGB V die Kostenerstattung neben der Sachleistung als mögliche Hauptleistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen etabliert hatte, stieß die Kostenerstattung bei den gesetzlichen Kassen hauptsächlich auf Skepsis. Auf Seiten der Vertragsärzte kam es nicht zu einer abschließenden Meinungsbildung. Für die Neufassung der Vorschrift, die an jene des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes anknüpft, gilt nichts anderes. Blickt man auf die verschiedenen Handlungsebenen, auf die in Betracht kommenden Rechtsverhältnisse im Vierecksverhältnis zwischen Versichertem, Vertragsarzt/Vertragszahnarzt, Krankenkasse und Kassen(zahn)ärztlicher Vereinigung, wirft die Einführung der Kostenerstattung zahlreiche Probleme auf. Je nach rechtspolitischer Sicht wird man hierauf hauptsächlich zwei Feststellungen begegnen: „Beharrende“ Stimmen werden die Einführung der Kostenerstattung 60
BGBl. I, 1520.
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für entstehende Probleme und offene Rechtsfragen verantwortlich machen. Ein anderer Teil wird sie gerade in der Einführung des Wahlrechts sehen; diese Stimmen werden darauf hinweisen, dass die ausschließliche Geltung der Sachleistung als von den Krankenkassen geschuldeter Hauptleistung sämtliche Problemstellungen obsolet erscheinen lässt. 2. Auswirkungen auf das Rechtsverhältnis zwischen Krankenkasse und Versichertem Nach wie vor wird dem Umstand wenig Bedeutung geschenkt, dass das Verhältnis des Versicherten zur Krankenkasse als Sozialversicherungsverhältnis, als öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis zu qualifizieren ist, das beiden Seiten Haupt- und Nebenpflichten auferlegt. Besteht nicht etwa gerade auch hier eine Pflicht der Krankenkasse, auf die mit der Kostenerstattung verbundenen wirtschaftlichen Folgen hinzuweisen? Obliegt es der Kasse nicht auch, die Kostenerstattung als Leistungsmodalität – wie vom Gesetzgeber ersichtlich gewollt – praktikabel zu gestalten und zu praktizieren? Wie wirkt sich die Ausübung des dem Versicherten eröffneten Wahlrechts aus: Kann sie nur en bloc oder auch im Behandlungsfall oder auch „segmentweise“ ausgeübt werden, etwa, wenn es um einzelne Elemente ärztlichen oder nichtärztlichen Handelns geht? a) Zum Sozialversicherungsverhältnis Bekanntlich begründet die Aufnahme der nicht selbständigen Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis, kraft Gesetzes den Versicherungsschutz auch in der GKV61. Mit der Versicherungspflicht wird zwischen Sozialversicherungsträger und Sozialversichertem das Sozialversicherungsverhältnis begründet, das nach gefestigter Ansicht62 als öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis anzusehen ist. Die Gründe für diese Anerkennung seien wie folgt skizziert: Sie öffnet den materiellrechtlichen Blick auf die wechselseitigen Rechte und Pflichten der Beteiligten, auf die dem Schuldverhältnis innewohnende Fülle dynamischer Beziehungen und Abhängigkeiten. Aus diesem Blickwinkel erfasst sie, ohne die Handlungsformenlehre des öffentlichen Rechts verdrängen zu sollen, die kom61 Vgl. § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, § 7 Abs. 1 SGB IV sowie § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V. 62 Vgl. nur Rüfner, Wolfgang, Die Rechtsformen der sozialen Sicherung und das Allgemeine Verwaltungsrecht, in: VVDStRL 28 (1970), 187 (215 f.); Bachof, Otto, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, in: VVDStRL 30 (1972), 193 (213 f., 227) m. w. N.; Henke, Wilhelm, Die Rechtsformen der sozialen Sicherung und das Allgemeine Verwaltungsrecht, in: VVDStRL 28 (1970), 149 (161 f.).
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plexen Zusammenhänge, in denen sich Subjekte und Leistungen, Träger, Verpflichtete, Gesicherte und Berechtigte, Drittverpflichtete wie -berechtigte und schließlich Leistungserbringer begegnen. Diese Zusammenhänge können ohne die Hilfe der privatrechtlichen Beziehungs- und Ablaufmodelle von Schuldverhältnissen nicht befriedigend gedeutet werden63. Aus dieser – materiellrechtlichen – Sicht erscheint das Rechtsverhältnis als geeignetes Institut, die Fülle dynamischer Beziehungen und Abhängigkeiten, die verschiedenen Rechte und Pflichten dogmatisch zu ordnen und in ein der relativen Beziehung der Parteien gerecht werdendes Geflecht systematisch zu stellen. Die Anerkennung des Rechtsverhältnisses und insbesondere des Sozialversicherungsverhältnisses ordnet mithin die (gegenseitigen) Rechte und Pflichten und arbeitet insgesamt die Relativität der verschiedenen rechtlichen Zuordnungen zwischen Sozialversichertem und Sozialversicherungsträger heraus. Sie eröffnet eine über die bloße zeitlich-punktuelle und insofern eindimensionale Betrachtung hinausgehende Dimension des in der Dauerrechtsbeziehung eines Versicherungsverhältnisses immanenten Zeitcharakters. b) Die gesetzlichen Hauptpflichten im Krankenversicherungsverhältnis Beiden Seiten des Krankenversicherungsverhältnisses sind gegenseitige Rechte und Pflichten zugewiesen. Als Hauptleistungen sind aus der Sicht des Versicherten die Beitragsschuld, aus der Sicht der Krankenkasse die Übernahme von Versicherungsschutz bei Eintritt des Versicherungsfalles (Krankheit) zu nennen. Die Krankenkasse schuldet mithin die jeweilige Krankenversicherungsleistung als Gegenleistung für die Beitragszahlung, die im Sinne des „do ut des“ untrennbar miteinander verbunden sind: Der Versicherte erbringt die Beitragsleistungen gerade um des Sozialversicherungsschutzes willen. Umgekehrt gründet sich die Sozialversicherungsleistung typischerweise auf die vorherige Beitragsleistung seitens des Versicherten. c) Sachleistung und Kostenerstattung als Ausprägung der Hauptpflicht der gesetzlichen Krankenkassen Die der Krankenkasse zugewiesene Hauptpflicht kann de lege lata nach zwei Modalitäten geschuldet sein: Einerseits in der Weise, dass die Krankenkasse die unter den Versicherungsschutz gestellten Leistungen typischerweise gegen Beitragsleistung selbst und unmittelbar zu verschaffen hat. Sie hat bei einem derartigen System folglich Sorge dafür zu tragen, dass die mit dem Versicherungsschutz erfassten Leistungen dem Versicherten bei Eintritt des „Versicherungs63 Vgl. bereits Zacher, Hans F., Sozialrecht als interdisziplinäre Aufgabe (SDSRV 6), S. 50 (56 f.).
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falles“ (Krankheit) auch tatsächlich zur Verfügung stehen, nicht mehr, insbesondere nicht den Heilerfolg, aber auch nicht weniger. Kennzeichnend für dieses Sachleistungsprinzip ist damit die Verlagerung eines Teiles der rechtlichen Beziehung zum jeweiligen Leistungserbringer weg vom Versicherten hin zum Versicherungsträger, und zwar hinsichtlich der Abgeltung der jeweiligen Leistungen. Nicht der Versicherte schuldet dem Leistungserbringer die Vergütung, sondern der Krankenversicherungsträger. Der Versicherte selbst genießt bei Geltung des Sachleistungsprinzips daher hinsichtlich der Vergütungspflicht gegenüber dem Leistungserbringer eine gesetzliche Schuldbefreiung. Dieses System ist in der Vergütungskonzeption des Kassen(zahn)arztrechts in § 85 Abs. 1 SGB V zugrunde gelegt. Beim Modell der Kostenerstattung tritt der Versicherungsträger hinsichtlich der Abgeltung der jeweiligen Versicherungsleistung dagegen allein zu dem Versicherten in eine Rechtsbeziehung. Der Versicherte ist gehalten, selbständig und unmittelbar mit einem Leistungserbringer (etwa Arzt, Zahnarzt, Krankenhaus, Hilfsmittellieferant) in eine vertragliche Beziehung einzutreten, die sich sodann nach den Regelungen des Bürgerlichen Rechts richtet. Die dem Versicherten hieraus entstehenden Kosten infolge z. B. einer ambulanten ärztlichen Behandlung stellt sodann der Versicherte selbst bei dem Versicherungsträger in Rechnung, der ihm, unter der Geltung der jeweiligen Versicherungsbedingungen, die entstandenen Kosten erstattet. Dieses Modell ist in der Konzeption nunmehr in § 13 Abs. 2 SGB V neben der Sachleistung etabliert. 3. Sachleistung und Kostenerstattung – Vorzüge und Nachteile Das Modell der ausschließlichen Kostenerstattung erscheint als Leistungsmodalität der GKV im Verhältnis zur Sachleistung geeigneter, die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung zu gewährleisten. Ursache der Mengenausweitung war und ist auch der Umstand des im Vertrags(zahn)arzt/Kassenpatient-Verhältnis wegen Fehlens einer sachleistungsbedingten Vergütungspflicht zugleich auch weitgehend gegebenen Fehlens des Elements der Wirtschaftlichkeit. Mit dem Wegfall der Vergütungspflicht des Patienten gegenüber dem Vertragsarzt ist diesen Beteiligten die dem Einzelvertrag immanente Hemmschwelle des Aushandelns von Leistung und Gegenleistung und damit des leistungs- und gegenleistungsgerechten Austauschverhältnisses genommen. Es bedarf keiner weiteren Darlegung, dass der Patient in seinem Status als beitragsleistender Versicherter objektiv an einem Maximum an ärztlichen Leistungen interessiert ist. Nichts anderes gilt – gerade wegen des Wegfalls der Vergütungspflicht – für den Vertragsarzt. Ausgehend von dieser grundsätzlichen Schwäche des Systems verhilft auch das mit § 106 SGB V n. F. ersichtliche Bemühen des Gesetzgebers um eine Intensivierung der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht.
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Will der Gesetzgeber adäquate Ausgaben und Beitragssätze sicherstellen, muss er die dargelegten, sich als Folge des Sachleistungsprinzips darstellenden Besonderheiten beachten und an diesen normativ ansetzen: Da das Sachleistungsprinzip in seiner konzeptionellen Struktur dem Versicherten als Nachfrager nach ärztlichen Leistungen wie dem Arzt oder Zahnarzt als maßgeblichen Leistungserbringer jeden Anreiz zur Kostenbegrenzung, zu einem adäquaten Verhältnis von notwendiger Leistung und Gegenleistung nimmt, wird die Ausgabenlast nur dann gebremst, wenn nicht eingedämmt werden können, wenn der Gesetzgeber Mechanismen einbindet, die das (Zahn-)Arzt/Patient-Verhältnis dem ökonomischen Prinzip – und sei es nur teilweise – unterwirft64. Als Vorzug der Kostenerstattung erscheint überdies der Gesichtspunkt, dass das in § 85 SGB V derzeit normierte, sachleistungsbedingte Vergütungssystem angesichts seines pauschalierenden Charakters der Ärzteseite sowohl das Morbiditätsrisiko als auch das Risiko des Umfangs der ärztlichen Leistungen pro Behandlungsfall weitgehend aufbürdet. Jedes nach pauschalierenden Kriterien ausgerichtete System geht entweder in vollem Umfang oder zumindest teilweise zu Lasten der Ärzte (Zahnärzte) oder lässt diese, wie bei der Vergütungsform des Festbetrages früherer Prägung deutlich wird, faktisch zu Gehaltsempfängern der Krankenkassen werden. Die Einführung der Kostenerstattung ist dagegen gerade geeignet, dieses Manko zu beseitigen. Nicht zu verkennen ist überdies, dass das Sachleistungsprinzip die tragende Säule, die Ursache für das Entstehen von Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Kassen war und unter diesem Blickwinkel als notwendige Bedingung für die Existenz des Kassenarztrechts an sich erscheint. Die Einführung der Kostenerstattung könnte das gesamte System des Kassenarztrechts einebnen oder überflüssig machen. Auch und gerade diesen Gesichtspunkt werden die Beteiligten zu bedenken haben, steht die Entscheidung für oder wider die Kostenerstattung an. VI. Fazit Die Einführung der Kostenerstattung begegnet weder kompetenzrechtlichen Bedenken noch verletzt sie – jedenfalls bei typisierender Betrachtung – Grundrechtspositionen der Versicherten. Sie kann, schafft sie zur PKV zusätzlichen Konkurrenzdruck, im derzeit als ausgewogen zu erachtenden Verhältnis zwischen PKV und GKV Grundrechtspositionen der Privatversicherer namentlich aus Art. 14 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG beeinträchtigen. Wirft die Einführung der Kostenerstattung in der GKV damit von Verfassungs wegen keine Bedenken auf, bleibt auf die Notwendigkeit der Klärung 64
Vgl. Schneider (Fn. 7), Rn. 1189 ff.
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zahlreicher – einfachrechtlich angesiedelter – Einzelfragen hinzuweisen, deren Ausmaß im Ganzen derzeit wohl nicht zu übersehen ist. Rechtsdogmatisch ist bestätigt, dass zwischen Vertragsarzt und Kassenpatient vertragliche Bindungen in Gestalt eines Dienstvertrages bestehen. Rechtsbeziehungen zwischen Vertragsarzt und Kasse existieren unter Geltung der Sachleistung nicht und auch nicht unter Geltung der Kostenerstattung. Rechtspolitisch ist die Kostenerstattung zur Stabilisierung des Versicherungsprinzips in der GKV geeignet. Sie schärft den Blick auf die rechtlichen Strukturen im Verhältnis zwischen Sozialversicherungsträger und Sozialversichertem. Sie macht nicht zuletzt den im Sozialversicherungsverhältnis bestehenden gegenseitigen Pflichtenhaushalt deutlich. Im Blick auf die mit § 13 Abs. 2 SGB V n. F. normierte rechtliche Gleichrangigkeit von Sachleistung und Kostenerstattung bleibt festzuhalten, dass sich die Bemühungen des Gesetzgebers zur Eindämmung der – wachsenden – Ausgabenlast gegenüber den früheren Versuchen der Kostendämpfung grundlegend verändert haben. Nicht mehr die Globalsteuerung ist der rechtspolitisch gewählte Mechanismus, sondern der Gesetzgeber sucht nunmehr im Sozialversicherungsverhältnis den rechtstechnischen Ansatz. Entscheidet sich der Gesetzgeber für eine ausschließliche Verankerung der Kostenerstattung, wird dies für alle Beteiligten erhebliche Auswirkungen nach sich ziehen: Den Versicherten wird tatsächlich ein größeres Maß an Eigenverantwortung abverlangt. Kostenerstattung macht schonungslos und unverhüllt deutlich, dass die GKV Leistungen zum Nulltarif nicht anbietet. Andererseits erscheint eine vernünftige Handhabung der Kostenerstattung unabdingbar. Es stellt sich vor allem die Aufgabe, Leistung und Gegenleistung gerade im Verhältnis der Rechtsbeziehung zwischen (Zahn)Arzt und Patient harmonisch in Einklang zu bringen. Hier könnten Anleihen aus der Privatversicherung genommen werden. Den Krankenkassen wird Gelegenheit eröffnet, dem Versicherungsprinzip Rechnung zu tragen. Möglicherweise schafft die Neuregelung in Gestalt des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes tatsächlich mehr Wettbewerb. Das Aufgabenfeld der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen wird sich grundlegend verändern, nicht lediglich im Blick auf Wirtschaftlichkeitsprüfung und (wegfallende) Abrechnung. Vielmehr wird sich der gesamte Überwachungsvorgang gegenüber ihren Mitgliedern völlig anders gestalten. Ebenso werden Vertrags- und Vergütungssystem auf völlig neuen Strukturen stehen. Nicht zuletzt im Verhältnis zum besonderen Sicherstellungsauftrag werden sich neue Überlegungen ergeben. Schließlich stehen die Vertrags(zahn)ärzte unter einem erhöhten Maß an Verantwortung, gerade auch rechtlich relevanter Pflichten. Bereits in Bezug auf § 13 Abs. 2 SGB V n. F. wird der Vertrags(zahn)arzt einer erhöhten Fürsorgepflicht gegenüber dem Versicherten genügen müssen, will sich dieser für Kostenerstattung entscheiden. Die erhöhte Verantwortung besteht gerade in der
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nächsten Zukunft in einem angemessenen, schonenden Gebrauch der Fürsorgepflicht. Völlig verfehlt und (kassenarzt)rechtlich nicht haltbar wäre aus meiner Sicht die Haltung des Vertrags(zahn)arztes, ausschließlich auf Kostenerstattungsbasis zwangsversicherte Patienten behandeln zu wollen. Mit einem solchen Verhalten liefe die Kostenerstattung im übrigen Gefahr, schnell diskreditiert zu werden. Im Ganzen bleibt zu hoffen, dass sich die Diskussion, nicht zuletzt aber die konkrete Handhabung des § 13 Abs. 2 SGB V n. F. an der Typik ausrichtet. Weder ist – gerade auch aus ärztlicher Sicht – mit der Einführung dieser Vorschrift „Kassenlöwentum“ gewollt, das künftig als Abkassieren von Patienten bezeichnet werden müsste, noch ist mit der Neuregelung eine Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb der Solidargemeinschaften beabsichtigt. Die Einführung des § 13 Abs. 2 SGB V n. F. bietet die Chance, Leistungen und Gegenleistungen der betroffenen Akteure in ein adäquates Verhältnis zu bringen. Auf die tatsächliche Handhabung wird es ankommen! Die nach dem Entwurf eines „Gesetzes zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG)“ vorgesehene Neufassung von § 13 Abs. 2 kehrt zu der mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz vom 23.06.199765 vorgegeben gewesenen Rechtslage zurück. Nach dem Gesetzentwurf besteht ein Versichertenwahlrecht zwischen Kostenerstattung und Naturalleistung. Die Neuregelung wird dazu führen, dass der Gesetzgeber, der mit dem GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz vom 19.12.199866 eine grundsätzliche gesundheitspolitische Wende eingeleitet hatte, die Koordinaten im Verhältnis zwischen individueller Eigenverantwortung und versichertenbezogener Solidarität erneut neu justiert. Dies wird sich auch ein Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung auswirken. Die (Wieder-)Einführung des Wahlrechts zwischen Sachleistung und Kostenerstattung stellt allenfalls einen ersten Schritt zur rechtsstrukturellen Befriedung der GKV dar. Der Kostenerstattung ist der Vorzug zu geben. Rechtspolitisch ist sie zur Stabilisierung des Versicherungsprinzips in der GKV geeignet. Sie schärft den Blick auf die rechtlichen Strukturen im Verhältnis zwischen Sozialversicherungsträger und Sozialversichertem. Sie macht den im Sozialversicherungsverhältnis bestehenden gegenseitigen Pflichtenhaushalt deutlich.
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BGBl. I, 1520. BGBl. I, 3853.
Auswirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die (vertrags)zahnärztliche Versorgung Von Burkhard Tiemann I. Nationales Territorialitätsprinzip versus EU-Grundfreiheiten Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union und das europäische Gemeinschaftsrecht überlagern zunehmend die nationalen Gesundheitssysteme und werden auch für die vertragszahnärztliche Versorgung in Deutschland zu einem bestimmenden Faktor sowohl für die Rechtsbeziehungen der Systembeteiligten, insbesondere Zahnärzte und ihre Berufsorganisationen, sozialversicherte Patienten und Krankenkassen als auch für die Rechtsstellung der Akteure unter Aspekten gemeinschaftsrechtlicher Grundfreiheiten und Wettbewerbsregelungen. Zwar sind die gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens sehr beschränkt (Art. 3 Abs. 1p, Art. 136, 152 Abs. 5 EGV), und es besteht keine Kompetenz zur Harmonisierung der nationalen Gesundheitssysteme. Jedoch steht die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Organisation der Gesundheitsversorgung ihrer Bürger in einem Spannungsverhältnis zum gemeinschaftsrechtlichen Grundprinzip des freien Binnenmarktes1. Dies gilt insbesondere für die territoriale Begrenzung des Versicherungssystems, wie sie § 18 SGB V bisher in Deutschland vorsah. Demnach hatte der Kassenpatient keinen Anspruch auf Kostenübernahme, wenn er – von Notfällen abgesehen – ohne vorherige Genehmigung der Kasse im Ausland ärztliche Leistungen in Anspruch nimmt. Das bedeutete, dass er – schon im Hinblick auf das Sachleistungsprinzip – veranlasst wurde, ambulante und stationäre Heilbehandlungen ebenso wie Arznei- und Heilmittel in Deutschland in Anspruch zu nehmen. Diese Beschränkung kollidierte mit den Grundfreiheiten des Vertrages, der in Art. 49 EGV den freien Dienstleistungsverkehr, in Art. 28 EGV den freien Warenverkehr garantiert.2 1 Siehe dazu Tiemann, Burkhard, in: Boskamp/Theisen, Krisen und Chancen unserer Gesellschaft, 2002, S. 133 ff.; Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Europäisierung des Gesundheitswesens, 2002; Eichenhofer, Eberhard, Sozialrecht der Europäischen Union, 2001; Schulz, Otto, Grundlagen und Perspektiven der Europäischen Sozialpolitik, 2003.
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In mehreren aufsehenerregenden Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof judiziert, dass nationale Genehmigungsvorbehalte der Sozialversicherungsträger für die Inanspruchnahme ambulanter und stationärer Behandlungen oder den Erwerb von Heil- und Hilfsmitteln im Ausland nur unter engen Voraussetzungen zulässig sind. Dies wurde sowohl für die Kosten einer im EUAusland durchgeführten Zahnbehandlung3 als auch für den Erwerb einer Brille4 und für die Krankenhausbehandlung5 entschieden. Der Europäische Gerichtshof bestätigt zwar den Grundsatz, dass allein die Mitgliedstaaten zuständig sind für die Ausgestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme, sie müssen jedoch bei der Wahrnehmung dieser Kompetenzen das Gemeinschaftsrecht beachten. Eine Regelung wie das territorial gebundene Sachleistungsprinzip, das den Versicherten durch Genehmigungsvorbehalte faktisch daran hindert, ärztliche und zahnärztliche Dienstleistungen in einem anderen EU-Staat frei in Anspruch zu nehmen, verletzt deren Grundfreiheiten und die der Heilberufe. Diesen Grundsatz, der sowohl für auf Kostenerstattungsbasis beruhende wie für sachleistungsgeprägte Gesundheitssysteme gilt, hat der Europäische Gerichtshof in einer neueren Entscheidung6 bekräftigt, die eine Zahnarztbehandlung von Niederländern in Deutschland betrifft. Eine Ausnahme kann für den stationären Sektor nur dann gelten, wenn bei einer Öffnung des Systems eine „erhebliche Gefährdung“ des nationalen Sicherungssystems der gesundheitlichen Versorgung droht. Von dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs werden auch in Zukunft Impulse für eine auf Kostenerstattung beruhende Umgestaltung des deutschen Leistungsrechts erwartet, um der erforderlichen Mobilität und Transparenz der Leistungsnachfrage und -erbringung gerecht zu werden.7 Da die Kompetenz für die Ausgestaltung der Systeme der Gesundheitsversorgung bei den Mitgliedstaaten liegt, lässt sich aus den Urteilen für Deutschland keine unmittelbare Verpflichtung ableiten, sein derzeitiges Modell der Sachleistung generell auf Kostenerstattung umzustellen. Das deutsche Sachleistungsprin2 Vgl. Sodan, Helge, Gesetzliche Krankenversicherung unter dem Druck des Europarechts, in: Der Freie Zahnarzt 10/1998, 12 ff.; Heinze, Meinhard, Konsequenzen der Rechtsprechung des EuGH für die Gesundheitsreform in der Bundesrepublik Deutschland, in: Rheinisches Zahnärzteblatt 2001, 723 ff. 3 EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-158/96 – Kohll. 4 EuGH, Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-120/95 – Decker. 5 EuGH, Urt. v. 12.07.2001, Rs. C-157/99 – Geraets-Smits und Peerbooms. 6 EuGH, Urt. v. 13.05.2003, Rs. C-385/99 – Müller-Fauré/van Riet. 7 Siehe dazu Hänlein, Andreas/Kruse, Jürgen, Einflüsse des Europäischen Wettbewerbsrechts auf die Leistungserbringung in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: NZS 2000, 165 ff.; Bieback, Karl-Jürgen, Etablierung eines Gemeinsamen Marktes für Krankenbehandlung durch den EuGH – Das Urteil des EuGH „Smits/Peerbooms“, in: NZS 2001, 561 ff.; Schulz-Weidner, Wolfgang, Die Öffnung der Sozialversicherung im Binnenmarkt und ihre Grenzen, in: ZESAR 2003, 58 ff.; Kingreen, Thorsten, Zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im europäischen Binnenmarkt, in: NJW 2001, 3382 ff.
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zip verstößt nur insoweit gegen geltendes Gemeinschaftsrecht, wie es der Kostenerstattung von im übrigen EG-Gebiet bezogenen Leistungen, die Bestandteil des deutschen Leistungskatalogs sind, entgegensteht. Die entsprechenden Vorschriften des Sozialgesetzbuchs, nämlich § 18 Abs. 1 und 3 SGB V, waren insofern EG-rechtswidrig und an die Ergebnisse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anzupassen. Zwar muss formal betrachtet das Sachleistungsprinzip eine Kostenerstattung nicht behindern, solange die Versicherten diese prinzipiell wählen oder auch nur bei im EU-Ausland erbrachten Gesundheitsleistungen gegebenenfalls wahlweise in Anspruch nehmen können. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass das Sachleistungsprinzip damit bereits unterlaufen ist. Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird über kurz oder lang zu einer weiteren Aufweichung des Sachleistungsprinzips führen, weil das Kostenerstattungsprinzip den europaweiten „Einkauf“ von Gesundheitsleistungen erleichtert, während das Sachleistungsprinzip diesen wegen des immensen Aufwandes für die erforderlichen vertraglichen Vereinbarungen zweifelsohne erschwert. Ein Trend zur Öffnung in diesem Punkt würde auch den Wettbewerb auf dem europäischen Gesundheitsmarkt deutlich verstärken.8 Für die Höhe der Kostenübernahme bei stationärer Behandlung im EU-Ausland ist die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 12.07.20019 von Bedeutung, in der um die Höhe der zu tragenden Kosten einer Krankenhausbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat gestritten wurde. Im konkreten Fall ging es um die Erstattung für eine Behandlung in Frankreich von einer belgischen Krankenkasse. Die Kosten für die Behandlung in Frankreich lagen um etwa ein Viertel niedriger als die Kosten, die in Belgien angefallen wären. Aus der Entscheidung Vanbraekel läßt sich entnehmen, dass eine Kostenerstattung für eine Auslandsbehandlung zu den Tarifen des Mitgliedstaates möglich ist, in dem die Krankenversicherung besteht, selbst wenn die Kosten der Auslandsbehandlung geringer sind. Die Kostenvorteile, die im konkreten Fall durch eine Behandlung in Frankreich statt in Belgien entstanden sind, sollten nicht dem belgischen Versicherungsträger zukommen, der zuvor eine Genehmigung nach Art. 22 der Verordnung 1408/71 zu Unrecht verweigert hatte. Besondere Bedeutung kommt daher den vom Europäischen Gerichtshof anerkannten Einschränkungen und Genehmigungsvorbehalten aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zu. Der Europäische Gerichtshof hat deutlich betont, dass bei Krankenhäusern zwar eine Beschränkung der Leistung auf Vertragskrankenhäuser und ein Genehmigungsvorbehalt für die Inanspruchnahme sonstiger Einrichtungen zulässig 8 9
So auch Sodan (Fn. 2), 12 ff. Rs. C-368/98 – Vanbraekel.
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ist, allerdings darf bei der Genehmigung der Behandlung in Nicht-Vertragshäusern zwischen inländischen und ausländischen Einrichtungen nicht differenziert werden. Eine Genehmigungspflicht, die allein an den Tatbestand der Nachfrage im Ausland anknüpft, ist nicht mehr haltbar. Das deutsche Recht verweist in dem Genehmigungserfordernis für eine Behandlung im Ausland einmal gemäß § 18 SGB V auf den „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“. Nach den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs zu einer diskriminierungsfreien Interpretation der Genehmigungserfordernisse für eine Auslandsbehandlung ist dies als „international allgemein anerkannter Stand der medizinischen Kenntnisse“ zu interpretieren und nur dann zulässig.10 Statt einer Genehmigungspflicht für ausländische Leistungsnachfrage ist zulässig nur ein Genehmigungsvorbehalt der Nachfrage bei Anbietern, die nicht (über Verträge oder Zulassung) zum Versorgungssystem gehören. In den gesetzlichen Neuregelungen der Gesundheitsreform 2003 (GKV-Modernisierungsgesetz) zieht der Gesetzgeber erste Konsequenzen aus der Rechtsprechung des Europäisichen Gerichtshofs und passt die §§ 13, 18 SGB V an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben an. So sollen in Zukunft Versicherte Leistungserbringer in anderen EU-Staaten im Wege der Kostenerstattung in Anspruch nehmen können, wobei ein Genehmigungsvorbehalt für ambulante Leistungsinanspruchnahme entfällt. Die Höhe des Erstattungsanspruchs ist auf die Höhe der Vergütung im Inland für die entsprechende Sachleistung begrenzt. Für eine im Inland nicht verfügbare dem allgemein anerkannten wissenschaftlichmedizinischen Standard entsprechende Behandlung soll eine vollständige Leistungsübernahme ermöglicht werden. Für Krankenhausleistungen ist ein vorheriger Zustimmungsvorbehalt vorgesehen, wobei eine Zustimmung nur versagt werden darf, wenn eine adäquate Behandlung rechtzeitig bei einem Vertragspartner der Krankenkasse im Inland erlangt werden kann. Allerdings ist auch diese Neuregelung mit Rechtsnachteilen befrachtet, weil zum einen bei der im Wege der Kostenerstattung erfolgenden Leistungsinanspruchnahme im EU-Ausland ein Verwaltungskostenbetrag erhoben wird, zum anderen die Inländerdiskriminierung in leistungsrechtlicher Beziehung offenbar wird.11
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Vgl. Bieback (Fn. 7), 561 ff. Siehe Schimmelpfeng-Schütte, Ruth, Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: GesR 2004, 1 ff.; Hiddemann, TillChristian/Muckel, Stefan, Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung, in: NJW 2004, 7 ff., 13. 11
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II. Kooperations- und Wettbewerbsformen bei transnationaler Leistungsabwicklung Ein wesentliches Element des Sachleistungsprinzips ist ein Bündel an Steuerungselementen, das die finanzielle Tragfähigkeit des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gewährleisten soll.12 Hierzu gehören – die bedarfsorientierte Zulassung; – die kollektivvertragliche Regulierung zwischen Vertragsärzten und Kassenärztlichen Vereinigungen (unter anderem Gesamtvergütung); – Instrumente wie Budgets, Richtgrößen, Negativlisten, Arzneimittelrichtlinien. Bei einer erheblichen Leistungsinanspruchnahme durch nicht eingebundene Leistungsempfänger könnte die Effektivität dieser Steuerungselemente in der Tat gefährdet sein. Manche sehen in diesem Systemwiderspruch einen europarechtlichen Ansatz, das Sachleistungssystem in toto als europarechtswidrig einzustufen. Von wesentlichen Auswirkungen auf das finanzielle Gleichgewicht des deutschen Systems der sozialen Sicherheit kann angesichts der geringeren Zahl an Auslandsbehandlungen derzeit aber nicht die Rede sein. Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit hat die GKV im Jahr 1997 für alle im Ausland für gesetzlich Versicherte erbrachten Leistungen rund 0,3% der gesamten Gesundheitsausgaben der GKV im selben Zeitraum aufgewendet. Stichproben bei einzelnen Krankenkassen haben ergeben, dass sich die grenzüberschreitende Inanspruchnahme als Folge der oben diskutierten Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur Patientenmobilität nur in sehr bescheidenem Ausmaß erhöht hat13. Aus Daten der Techniker-Krankenkasse geht sogar hervor, dass der Anteil der Auslandsleistungen an den Leistungsausgaben von gut 0,5% im Jahr 1995 auf unter 0,4% im Jahr 1999 zurückgegangen ist. Ein durchschlagender Effekt der Urteile des Europäischen Gerichtshofs ist demnach bisher nicht zu erkennen.14 Wenn Leistungen im Ausland in Anspruch genommen werden, betrifft das einen eingeschränkten Personenkreis überwiegend gut informierter Patienten. Bisherige Untersuchungen zur Mobilität der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zeigen, dass Patienten insgesamt nur sehr unzureichend über ihre Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme informiert sind. Zu dieser 12 Vgl. hierzu den Überblick bei Tiemann, Burkhard/Klingenberger, David/Weber, Michael, System der zahnärztlichen Versorgung in Deutschland, 2003, S. 62 ff.; Tiemann, Burkhard, Die Freiberuflichkeit des Zahnarztes im Spannungsfeld sozialstaatlicher Bindungen, in: Festschrift 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, 2003, S. 54 ff. 13 European Health Management Association, The European Union and Health Services – The Impact of the Single European Market on Member States, Dublin 2001. 14 Vgl. die Belege für grenzüberschreitende Inanspruchnahme in: Bertelsmann-Stiftung (Fn. 1), S. 82 ff.
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Verunsicherung trägt wahrscheinlich auch bei, dass nach einer kürzlich durch die EU-Kommission vorgelegten Studie trotz der Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur Patientenmobilität viele Patienten auf Schwierigkeiten stoßen, wenn sie die Übernahme von Behandlungskosten in einem anderen Mitgliedstaat beantragen, unabhängig davon, ob es sich um einen Arztbesuch, eine Zahnbehandlung, einen Krankenhausaufenthalt, eine Entziehungskur oder eine Badekur in einem anderen Mitgliedstaat handelt15. Die grenzüberschreitende Nachfrage nach Leistungen lässt regionale, personelle und sektorale Akzente sowie Schwerpunkte im Leistungsspektrum erkennen. Regional stehen Grenzregionen im Vordergrund, soweit die Nähe des ausländischen Versorgungsangebots, seine Kosten, sein Ruf, die Sprache und die Verwaltungsverfahren eine solche Wanderung von Patienten begünstigen. Eine solche transnational orientierte migrationsfördernde Gesundheitspolitik zeichnet sich vor allem an den Rändern der Nationalstaaten ab. Schon 1958 wurde die erste Euregio im deutsch-niederländischen Grenzbereich – im Raum von Enschede (NL) und Gronau (D) – gebildet. Seitdem haben sich – vornehmlich in den Neunzigerjahren – Euregios und andere Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Europa entwickelt. Heute gibt es mehr als 70 solcher Projekte, in denen auf regionaler Ebene grenzüberschreitend in mehr oder weniger formalisierten organisatorischen Gebilden zusammengearbeitet wird. Die beteiligten Länder bzw. Regionen stellen sich Teile ihrer gesundheitlichen Infrastruktur gegenseitig zur Verfügung und bilden Kooperationen zwischen den Akteuren wie Krankenkassen, Ärzten und Krankenhäusern. Zugleich findet ein Abstimmungsprozess zwischen den politisch maßgeblichen Stellen statt. Insbesondere in den Grenzregionen sind häufig ein Stadt-Land-Gefälle sowie eine unterschiedliche Versorgungsdichte von Basis- und Spitzenmedizin vorzufinden. Durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit sollen folgende Ziele erreicht werden: – unbürokratische, wohnortnahe Versorgung; – bessere Sicherstellung des schnellen Zugangs zu Notfallmedizin und Rettungswesen; – Verkürzung von Wege- und Wartezeiten; – gleichmäßigere Auslastung der vorhandenen Kapazitäten in den Euregios (insbesondere in der fachärztlichen und stationären Versorgung); – gemeinsame Nutzung von Laboren und Großgeräten.
15 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung an den Rat und das EU-Parlament, Der Stand des Binnenmarkts für Dienstleistungen – Bericht im Rahmen der ersten Stufe der Binnenmarktsstrategie für den Dienstleistungssektor, KOM (2002) 441 endg.
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Insgesamt sollen damit in den Euregios durch eine bessere transnationale Nutzung der vorgehaltenen Versorgungsinfrastruktur Wirtschaftlichkeitsreserven erschlossen werden.16 Durch die grenzüberschreitenden Kooperationen entstehen darüber hinaus positive Folgeeffekte. So gibt es Ansätze für einen grenzüberschreitenden Informations- und Erfahrungsaustausch von Ärzten und Pflegekräften, für grenzüberschreitende Gesundheitsberichterstattung, für den Aufbau gemeinsamer medizinischer Leitlinien für gemeinsame Qualitätssicherung und für gemeinsame Fort- und Weiterbildung.17 Auch im zahnärztlichen Bereich haben sich grenzüberschreitende Formen regionaler Zusammenarbeit entwickelt, wie z. B. die Arbeitsgemeinschaft „euregiodent“, eine Initiative der Zahnärztekammern Nordrhein, Westfalen-Lippe und zahnärztlicher Vereinigungen in Belgien und den Niederlanden mit dem Ziel, Qualitätssicherung in der Fort- und Weiterbildung zu betreiben. Dies soll unter Einbindung der Hochschulen, denen im Rahmen eines Transfers wissenschaftlicher Erkenntnisse große Bedeutung zukommt, durch synoptische Vergleiche bestehender Fortbildungsmaßnahmen in den beteiligten Ländern, die Erstellung von Fortbildungs- und Zertifizierungskriterien und die Erarbeitung entsprechender Informationssysteme geschehen. Ziel ist unter anderem die Entwicklung eines Fortbildungsnachweises, der grenzüberschreitend anerkannt wird. Die entscheidende Bedeutung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in den Euregios wird weniger in dem – noch immer bescheidenen Ausmaß – der Inanspruchnahme gesehen als vielmehr in der Chance für das Sammeln von Erfahrungen und von Gestaltungsmöglichkeiten, für das Erkennen von Stärken und Schwächen des benachbarten und des eigenen Gesundheitssystems sowie für das Erfassen von trennenden Barrieren und deren potentieller Beseitigung.18 Die Euregios als „Labor praxisnaher transnationaler Vernetzung“ können Modellcharakter für die Gesundheitssysteme gerade auch vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung haben. III. Kollektivvertragliche Leistungserbringung auf dem Prüfstand des europäischen Freizügigkeits- und Wettbewerbsrechts Die Leistungsbeschaffung und -erbringung innerhalb des deutschen Systems der sozialen Sicherung erfolgt zu einem großen Teil durch Kollektivverträge der Sozialversicherungsträger mit den Leistungserbringern und deren Organisationen, Freien Trägern oder sonstigen Institutionen. In der GKV löst die Krankenversicherung ihre Leistungspflicht gegenüber ihren Mitgliedern, den Versi16 Breyer, Friedrich/Grabka, Markus M./Jacobs, Klaus u. a., Wirtschaftliche Aspekte der Märkte für Gesundheitsdienstleistungen, 2001. 17 Bertelsmann-Stiftung (Fn. 1), S. 88 ff. 18 Siehe dazu Zahnärztliche Mitteilungen 2003, 1736 ff.
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cherten, dadurch ein, dass sie Verträge mit den Körperschaften und Verbänden der Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Heil- und Hilfsmittellieferanten usw. schließt, in denen Leistungs- und Lieferbedingungen, die Vergütungen und Preise, die Qualitätskriterien und sonstige Konditionen vereinbart werden.19 Diese Kollektivverträge geraten zunehmend in das Visier europäischer Wettbewerbshüter und des Europäischen Gerichtshofs im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit europäischen Freizügigkeits- und Wettbewerbsregelungen. Bedenken werden hierbei auch gegen das gegenwärtige System der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung erhoben, das auf dem Kollektivvertragsprinzip nach § 75 SGB V beruht. Danach haben die Kassenärztlichen und -zahnärztlichen Vereinigungen die vertragsärztliche Versorgung sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, dass die vertragsärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. Diese Übertragung des Sicherstellungsauftrages wurde und wird umgesetzt auf der Ebene der gemeinsamen Selbstverwaltung zwischen Verbänden der Krankenkassen und Kassenärztlichen und -zahnärztlichen Vereinigungen durch den Abschluss von Gesamtverträgen nach § 83 Abs. 1 SGB V und Bundesmantelverträgen. Bei diesen Vereinbarungen könnte es sich um wettbewerbsbeschränkende Absprachen im Sinne des Art. 81 f. EGV handeln und somit das Kollektivvertragssystem als Verstoß gegen das europarechtliche Kartellverbot zu qualifizieren sein. Denn das Vorliegen eines verbotenen Kartells wird bejaht, wenn der Preisbildungsmechanismus des Marktes durch das Handeln der Wettbewerber selbst – zum Nachteil des Kunden – ausgeschlossen wird. Durch die Gesamtverträge, in denen die Entgelte für die Leistungen kollektiv vereinbart und festgesetzt sind, findet ein Wettbewerb um die beste Leistung zum günstigsten Preis nicht statt. An die Stelle freier Preisbildung tritt hier eine Art öffentliche Tarifgestaltung. Würde man die Anwendung der Vorschriften des europäischen Wettbewerbsrechtes bejahen, ließe sich ein solches System möglicherweise nur über den Ausnahmebestand des Art. 86 Abs. 2 EGV rechtfertigen, wonach die Wettbewerbsregeln für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, nur insoweit gelten, als die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert.20 Ein Eingreifen des Art. 86 Abs. 2 EGV setzt zunächst voraus, dass die vertragsärztliche Leistungserbringung durch „Unternehmen“ erfolgt, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind. Der EG-Vertrag enthält keine Legaldefinition des Unternehmensbegriffes. Rechtspre19
Tiemann/Klingenberger/Weber (Fn. 12), S. 62 ff. Siehe dazu König, Christian/Engelmann, Christina/Steiner, Ulrike, Die Budgetierung von Laborleistungen im einheitlichen Bewertungsmaßstab auf dem Prüfstand des EG-Wettbewerbsrechts, in: NZS 2002, 288 ff. 20
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chung und Schrifttum gehen von einem einheitlichen, funktionalen Unternehmensbegriff des EG-Wettbewerbsrechts aus, der auch auf Art. 86 EG anwendbar ist. Ein Unternehmen ist demnach „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“. Auf der Grundlage dieses weiten Begriffs wären die Vertragsärzte ohne weiteres als Unternehmer einzuordnen. Die Erbringung medizinischer Leistungen durch niedergelassene Ärzte und Zahnärzte stellt eine selbstständige wirtschaftliche und damit eine unternehmerische Tätigkeit dar. Weder das Sachleistungsprinzip noch die dem Solidarprinzip entspringenden Besonderheiten des Systems der GKV sprechen grundsätzlich gegen die Einordnung der Vertrags(zahn)ärzte als Unternehmer. Aus der Unternehmereigenschaft der (Zahn-) Ärzte würde zudem die Qualifizierung der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen als Unternehmensvereinigungen folgen, da sie bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen die wirtschaftlichen Interessen der Ärzte bzw. Zahnärzte wahrnehmen. Unter Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Sinne des Art. 86 Abs. 2 EGV werden marktbezogene Tätigkeiten verstanden, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden. Dies betrifft unter anderem wirtschaftliche Aktivitäten zur Sicherung von Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind alle diejenigen Leistungen umfasst, die zugunsten sämtlicher Nutzer im gesamten Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates erbracht werden, ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit des Vorgangs. Entscheidend ist das Vorliegen eines allgemeinen wirtschaftlichen Interesses, eine Begrifflichkeit, an dessen exakter Definition es auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene mangelt. Vielmehr sollen laut Europäischem Gerichtshof die nationalen Regierungen festlegen, was darunter zu verstehen ist, wobei ihnen ein weiterer Ermessensspielraum zukommt. Nicht ausreichend ist aber die Wahrnehmung reiner Individual- oder Gruppeninteressen. Die Dienstleistungen müssen also zumindest auch im öffentlichen Interesse wahrgenommen werden, wobei selbst das Interesse eines Teils der Bevölkerung genügt.21 Ein solches Ziel stellt etwa die flächendeckende medizinische Grundversorgung der Bevölkerung zu sozial gerechten und gleichzeitig wirtschaftlichen Bedingungen dar, die angesichts der zur Aufgabenerfüllung erforderlichen unternehmerischen Betätigung in einem wirtschaftlichen Kontext erfolgt und insoweit ein allgemeines wirtschaftliches Interesse begründet.22 21 Vgl. den Überblick über die einschlägige Rechtsprechung des EuGH und den Meinungsstand im Schrifttum bei Heinze, Meinhard, Die Bedeutung der europäischen Rechtsentwicklung für die zahnärztliche Berufsausübung, in: Festschrift 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, 2003, S. 94 ff. 22 Siehe dazu Sosnitza, Olaf, Standesorganisationen im Fadenkreuz des deutschen und europäischen Kartellrechts, in: EWS 2002, 460.
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Im Hinblick auf die Einbindung der Vertragsärzte in das System der GKV ist eine Betrauung mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse darin zu sehen, dass das Gesetz sie beauftragt, die Versorgung der Bevölkerung mit ärztlichen Leistungen sicherzustellen und dabei ihre Zwangsmitgliedschaft in der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung konstituiert. Gleichzeitig werden die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen als Unternehmensvereinigungen damit betraut, durch die kollektivvertraglichen Mechanismen eine planbare, qualitativ hochwertige und wirtschaftliche ärztliche Versorgung zu gewährleisten. Die Befolgung der Vorschriften des EG-Vertrages muss die Erfüllung der übertragenen Aufgabe verhindern. Die Prüfung der Verhinderung ist der elementarste Punkt bei Feststellung der Reichweite der Ausnahmeklausel. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs muss hier ein konkreter Konflikt bestehen, im Sinne einer tatsächlichen Verhinderung und nicht lediglich einer Beeinträchtigung oder Erschwerung der Aufgabenerfüllung.23 Die Durchführung der Aufgabe selbst muss unmöglich werden. Dabei wird im Hinblick auf die Praktikabilität von Art. 86 Abs. 2 EGV jedoch keine logische Unmöglichkeit gefordert, sondern die Unzumutbarkeit der Aufgabenerfüllung nach wirtschaftlichen Kriterien. Zur Feststellung, ob eine Verhinderung im Sinne des Art. 86 Abs. 2 S. 1 EGV vorliegt, prüft der Gerichtshof im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, ob die Bevorzugung des betrauten Unternehmens erforderlich war, damit die betreffende Einrichtung ihre im Allgemeininteresse liegende Aufgabe wahrnehmen kann, und zwar unter wirtschaftlich tragbaren und annehmbaren Bedingungen. Nachdem der Europäische Gerichtshof und die Kommission bis zum Ende der Achtzigerjahre hinein so strenge Anforderungen an den Nachweis der Verhinderung stellten, dass es den beteiligten Unternehmen bzw. Mitgliedstaaten in keinem Fall gelang, diese hohe Hürde zu überwinden, zeichnet sich seit Beginn der Neunzigerjahre eine Lockerung des Verhinderungsmaßstabes ab. In einer Reihe von Urteilen hat der Europäische Gerichtshof den Verhinderungsmaßstab dann auch sprachlich zu einem bloßen „Gefährdungsmaßstab“ abgeschwächt, was die Gefahr einer Aufweichung des Anwendungsbereiches der Vorschrift in sich birgt. Die Planbarkeit der Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen, die Sicherstellung derselben und ihre ständige Finanzierbarkeit kann aus vielfältigen Gründen (nur) durch bestimmte staatlich beeinflusste Regulierungen erreicht werden. Es bleibt zu fragen, ob dazu zwingend die faktische Abschottung des inländischen Marktes vor Wettbewerbern aus dem (EG-)Ausland, wie sie sich aus der oben dargestellten bisherigen Rechts23 Kilian, Matthias, Europäisches Kartellrecht und nationales Satzungsrecht berufsautonomer Körperschaften, in: WRP 2002, 802 ff.; Axer, Peter, Europäisches Kartellrecht und nationales Krankenversicherungsrecht, in: NZS 2002, 57 ff.; Oppermann, Dagmar, Verstoß gegen europäisches Recht des Wettbewerbs?, in: SozSich (50) 2001, 93 ff.
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lage ergibt, erforderlich ist.24 Als milderes, die Dienstleistungsfreiheit weniger beeinträchtigendes Mittel kommt ein von vornherein auf grenzüberschreitende Inanspruchnahme ausgerichtetes medizinisches Versorgungssystem in Betracht, das – wie z. B. die Kostenerstattung – auch leistungsrechtlich europakompatibel ist. IV. Die Rechtsstellung der Krankenversicherung unter europarechtlichen Rahmenbedingungen Im Übrigen dürfte die bisher verbreitete Einstufung des nationalen Krankenversicherungsrechts als weitgehend wettbewerbsresistent viel zu undifferenziert sein. Es ist vielmehr zu berücksichtigen, dass die vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Kriterien für den sozialen Charakter eines Sozialversicherungsträgers als wettbewerbsfreistellende Privilegierung überwiegend Sachverhalte in Bezug auf die Angebotsseite der sozialen Sicherungssysteme betrafen. So hat der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung in der Rechtssache Poucet/Pistre25, in der es um die Klage zweier französischer EU-Bürger ging, die Wahlmöglichkeiten zwischen im Binnenmarkt agierenden Versicherungsunternehmen erstreiten wollten, die Übertragung der Unternehmenseigenschaft auf den beklagten Sozialversicherungsträger abgelehnt, weil es sich in den vorliegenden Fällen um ein sozialen Zwecken dienendes und auf dem Grundsatz der Solidarität beruhendes System handle. Zum „Nachfragebereich“ der Sozialversicherungsträger, dem „Einkaufssektor“ bei der Leistungserbringung, fehlt es demgegenüber bisher weitgehend an einschlägiger Rechtsprechung. Eine Ausnahme stellt die Entscheidung in der Rechtssache Sodemare26 dar, in der der Europäische Gerichtshof die Mitgliedstaaten für befugt hielt, die Beteiligung an der Durchführung von gesundheitsrelevanten Sozialhilfeleistungen allein privaten Wirtschaftsteilnehmern zu gewähren, die keine Erwerbszwecke erfüllen. Diese können für den Abschluss von Verträgen privilegiert werden, die ihnen einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für gesundheitsbezogene Leistungen der Sozialhilfe einräumen. Auch bei dieser Entscheidung stand die solidarische Ausgestaltung der Sozialleistungssysteme als prioritär gegenüber den wirtschaftlichen Grundfreiheiten im Vordergrund. Im nationalen Sozialrecht ist der Versicherungsbereich vom Leistungserbringungsbereich zu trennen. Es handelt sich hierbei um zwei verschiedene Märkte. Im Versicherungsbereich treten die Sozialversicherungsträger als Anbieter auf. Hier nehmen die Krankenversicherungen ausschließlich öffentliche Aufgaben sozialer Art mit dem Ziel wahr, eine finanzierbare und angemessene medizinische Versorgung aller Versicherten zu 24 25 26
Heinze (Fn. 21), S. 101. EuGH, Urt. v. 17.02.1993, Rs. C-159/91 und C-160/91. EuGH, Urt. v. 17.06.1997, Rs. C-70/95.
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gewährleisten. Die Verneinung der Unternehmenseigenschaft liegt eher nahe. Im Leistungserbringungsbereich sind die Sozialversicherungsträger die Nachfrager, dagegen sind die Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen der Angebotsseite zuzurechnen. In der Nachfragefunktion der Sozialversicherung könnte eine Einstufung als wirtschaftliche Tätigkeit eher möglich erscheinen, wobei allerdings gerade bei dem Abschluss der Gesamtverträge zu berücksichtigen ist, dass auch hier die Erfüllung des Sicherstellungsauftrages, also ein sozialer Zweck, im Vordergrund steht.27 Das Gericht Erster Instanz beim Europäischen Gerichtshof hat kürzlich klargestellt, dass eine öffentliche Einrichtung, die Erzeugnisse kauft, um sie im Rahmen einer nichtwirtschaftlichen Tätigkeit zu verwenden, nicht als „Unternehmen“ im Sinne des Wettbewerbsrechts angesehen werden kann. Nur wenn das Erzeugnis im Rahmen einer angebotsorientierten wirtschaftlichen Aktivität am Markt eingesetzt wird, etwa im Rahmen einer Weiterverarbeitung oder eines Weiterverkaufs, werde auch die Einkaufstätigkeit der öffentlichen Hand zu einer wirtschaftlich-unternehmerischen Aktivität.28 Konkret bedeutet dies, dass auf das „Einkaufsverhalten“ von Sozialversicherungen das europäische Wettbewerbsrecht (z. B. das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 82 EGV) grundsätzlich nicht anzuwenden ist: Kauft also ein Sozialversicherungsträger Güter oder Dienstleistungen ein, um sie zugunsten seiner Versicherten zu verwenden bzw. einzusetzen, so wird er nicht allein schon deshalb als Unternehmen tätig, weil er am Markt als Käufer auftritt – obwohl er eine erhebliche Marktmacht auszuüben vermag bzw. sogar ein Nachfragemonopol verkörpert. Das Urteil hat also ein Stück Rechtssicherheit gebracht, man muss aber sehen, dass hier lediglich die Auffassung des Gerichts Erster Instanz in Rede steht. Eine gefestigte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs selbst liegt noch nicht vor. Weitere Aufschlüsse in dieser Frage hat die dem Gerichtshof vorgelegte Streitigkeit um die Festbetragsregelungen gebracht. Nach der 1989 eingeführten Vorschrift des § 35 SGB V tragen die Krankenkassen die Kosten für bestimmte Medikamente nur bis zur Höhe eines festgesetzten Betrages, die Mehrkosten müssen die Patienten selber zahlen. Dabei werden die Festbeträge durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in Richtlinien festgesetzt. In der Debatte um die Festbetragsregelungen wurde zum einen das Verfahren der Festsetzung im Hinblick auf die fehlende normative Legitimation gerügt, die vom Bundesverfassungsgericht29 inzwischen als verfassungskonform bestätigt wurde. Zum anderen wurde kritisiert, dass die Festbeträge eine Maßnahme mit preisre27 Zu dieser doppelten Marktfunktion der Krankenkassen siehe Heinze (Fn. 21), S. 102; Oppermann (Fn. 23), 93, 95. 28 EuGH, Urt. v. 04.03.2003, Rs. FENIN. 29 BVerfG, Urt. v. 17.12.2002, 1 BvL 28 – 30/05.
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gulierender Wirkung im Sinne eines dirigistischen Eingriffs in den Marktablauf seien, weil den Krankenkassen als Mittel zur Kostendämpfung die Bildung eines Preiskartells gestattet werde. Diese Problematik wurde auch von mehreren Gerichten gesehen und hat schließlich dazu geführt, dass das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen und der Bundesgerichtshof anhängige Verfahren aussetzten und zur Vorabentscheidung an den Europäischen Gerichtshof vorlegten, um die Vereinbarkeit der Festbetragsregelungen mit dem europäischen Recht klären zu lassen30. Dabei ging es um die Frage, ob die deutschen Krankenkassen unter den Begriff des Unternehmens im Sinne des Art. 81 EGV fallen, ob in den Festbetragsregelungen eine Wettbewerbsbeschränkung zu sehen ist und ob möglicherweise eine Ausnahme des Anwendungsbereiches des europäischen Kartellrechts nach Art. 86 Abs. 2 EGV vorliegt. In dieser Entscheidung sollte der Europäische Gerichtshof Klarheit über die Frage bringen, inwieweit Krankenkassen als Nachfrager von Gesundheitsleistungen dem europäischen Wettbewerbsrecht unterliegen. Der Generalanwalt hatte in seinen Schlussanträgen zu diesem Verfahren die Unternehmensgemeinschaft der Krankenkassen mit Hinweis auf den mit der Freiheit der Kassenwahl eröffneten systeminternen Wettbewerb und den partiellen Wettbewerb mit privaten Versicherungsunternehmen um freiwillige Mitglieder bejaht. Der Europäische Gerichtshof ist dieser Einschätzung nicht gefolgt, die möglicherweise dazu geführt hätte, dass auch die auf der gemeinsamen Selbstverwaltung beruhenden Gesamtverträge als Verstoß gegen das europäische Wettbewerbsrecht zu qualifizieren wären, was wiederum zu erheblichen Einschränkungen der ärztlichen und zahnärztlichen Selbstverwaltung und letztendlich auch einer Schwächung der Kassenärztlichen und -zahnärztlichen Vereinigungen geführt hätte.31 Der Europäische Gerichtshof hebt in seiner Festbetrags-Entscheidung hervor, dass die Kassenverbände bei der Entscheidung über die Festbeträge „keine eigenen Interessen“ verfolgten, die sich vom sozialen Zweck der Kassen trennen ließen, und lediglich gesetzliche Vorgaben zur Erfüllung von Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsgeboten umsetzten. Soweit sie im Auftrag des Gesetzgebers solche sozialen Aufgaben wahrnehmen, seien sie weder Unternehmen noch Unternehmensverbände. Für die Anwendbarkeit des europäischen Wettbewerbsrechts auf die Aktivitäten der Sozialversicherung in ihrer Versicherungsfunktion ist es entscheidend, ob diese durch ein besonders hohes Maß an Solidarität und Umverteilung gekennzeichnet sind oder ob ein vergleichbares „Produkt“ nicht ebenso gut von kommerziellen Anbietern zu Marktbedingungen angeboten werden könnte. Würden etwa die deutschen Krankenkassen durch fortschreitende Einführung von Elementen des Äquivalenzprinzips (z. B. Beitragsrückerstattung, Wahl30 31
Rs. C-264/01; C-306/01; C-354/01; C-355/01. Heinze (Fn. 21), S. 103.
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leistungen, Wegfall der kostenfreien Familienversicherung) weitgehend ihres sozialen Charakters entkleidet und hierdurch privaten Versicherungsunternehmen ähnlich, könnte sich irgendwann nach den Regeln des europäischen Wettbewerbsrechts die Monopolfrage stellen. Aber auch die von der Sozialversicherung vorgehaltenen freiwilligen Versicherungsangebote unterfallen dem Kreis dieser Rechtsproblematik.32 In seiner Entscheidung in der Rechtssache Fédération Francaise (Rs. C-244/94) hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass eine auf Freiwilligkeit beruhende Rentenzusatzversicherung als Unternehmen im Sinne der Art. 81 ff. EGV einzustufen ist. Begründet wurde dies damit, dass ein solches Versicherungssystem auf Freiwilligkeit beruhe, nach dem Kapitaldeckungsprinzip funktioniere, die gewährten Leistungen von der Beitragshöhe der Leistungsberechtigten und den Investitionserträgen der Versicherung abhängig seien. Trotz fehlender Gewinnerzielungsabsicht werde deshalb im Wettbewerb mit Privatversicherungsunternehmen eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt. Ähnliche Entscheidungen sind für freiwillig begründete Zusatzversicherungen und Betriebsrentenfonds ergangen, denen der Europäische Gerichtshof Unternehmenseigenschaft zusprach und ihnen gleichwohl eine Sonderrolle im europäischen Wettbewerbsrecht einräumte, soweit ihre Funktion für notwendig erachtet wurde, um eine im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegende Aufgabe zu wirtschaftlich tragbaren Bedingungen erfüllen zu können33. Weitere Hinweise für die künftige gemeinschaftsrechtliche Einordnung von Zusatzversicherungen oder substitutiver Vorsorgesysteme wie berufsständische Versorgungswerke gibt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 03.10.2002 in der Rechtssache „Danner“. Dort wurde festgestellt, dass die freiwillige Versicherung in einem öffentlichen Sozialversicherungssystem eine „Dienstleistung“ im Sinne des EG-Vertrages darstellt, auf die prinzipiell die Regeln des europäischen Binnenmarktes und Wettbewerbsrechts Anwendung finden. Die juristischen Konsequenzen dieser Entscheidung sind bislang noch nicht voll ausgelotet. Dennoch steht fest, dass die freiwillige Versicherung in einem öffentlichen Sozialversicherungssystem als „Dienstleistung“ wettbewerbsrechtliche Relevanz aufweist. Die Begründung des Europäischen Gerichtshofs hierfür lautet, dass die gezahlten Beiträge die wirtschaftliche Gegenleistung für die Renten darstellen und damit zweifellos für den Sozialversicherungsträger, dem sie zugute kommen, Entgeltcharakter aufweisen. Ausschlaggebend sei der Umstand, dass die Begründung des freiwilligen Versicherungsverhältnisses letztlich nicht auf eine Entscheidung des Gesetzgebers oder der Sozialpartner zurückzuführen ist, sondern allein auf eine Entscheidung des Kunden. 32 Siehe hierzu den Überblick über die EuGH-Rechtsprechung bei Karl, Beatrix/ v. Maydell, Bernd, Das Angebot von Zusatzkrankenversicherung, 2003, S. 56 ff.; Haverkate, Görg/Huster, Stefan, Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn. 463 ff. 33 EuGH, Rs. C-115/97, C-116/97, C-117/97 – Brentjens BV; Rs. C-67/96 – Albany; Rs. C-219/97 – Brocken.
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Der europäische Trend, die soziale Grundsicherung durch freiwillige oder pflichtige Zusatzversicherungen zu ergänzen, greift zunehmend auf Deutschland über. Die sogenannte „Riester-Rente“ in der Rentenversicherung und die Gesundheitsreformdiskussion um Grund- und Wahlleistungen in der GKV und (freiwillige oder zwangsweise) Zusatzversicherungen für Zahnersatz, Sterbegeld u. ä. werfen wettbewerbsrechtliche Fragen der Zulässigkeit einer Beteiligung der Sozialversicherung an diesem „Zusatzgeschäft“ auf, das in Konkurrenz mit privaten Versicherungsunternehmen abgewickelt würde. Die privaten Krankversicherer fordern, dass die gesetzlichen Krankversicherungen – wenn sie sich denn durch das Angebot von Grund- und Wahlleistungen oder Zusatzversicherungen vom Solidarprinzip entfernen – auch die Konsequenzen tragen müssen, die sich hieraus in wettbewerbsrechtlicher Hinsicht ergeben. Ansonsten begebe sich die GKV lediglich in einen „Scheinwettbewerb als Staatsmonopol“, was im europäischen Wettbewerb sicher keine Sonderstellung rechtfertigt. Vor allem werden die Wettbewerbsvorteile moniert, in deren Genuss die GKV durch die steuerlichen Erleichterungen, die sozialen Preise der Leistungsanbieter, den Beitragseinzug durch die Arbeitgeber und durch Veränderungen der Beitragsbemessungsgrenzen kommt. In einer staatlichen Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzen wird ein Vorstoß gegen das europäische Wettbewerbsrecht gesehen.34 Außerdem wird befürchtet, dass es bei einer Ausgestaltung des Leistungskatalogs der GKV in Form von Grund- und Wahlleistungen oder Zusatzversicherungen zu Quersubventionen im Verhältnis zum Kernbereich der GKV kommt. Per Gesetz könnten diese nicht ausgeschlossen werden, denn bei der Zuordnung von Gemeinkosten wie etwa der Verwaltungskosten besteht immer ein Ermessensspielraum. Die Folge wäre, dass Personen, die die Wahl- oder Zusatzleistungen nicht in Anspruch nehmen, diese quasi mitbezahlen müssen. Durch das Angebot von Zusatzversicherungen würde die GKV möglicherweise wirtschaftlich tätig und könnte dann als öffentliches Unternehmen dem europäischen Wettbewerbsrecht unterliegen. Hiermit verbunden ist jedoch die Frage der Chancengleichheit aller Wettbewerber, ein Grundsatz, der durch die Privilegien der GKV konterkariert würde und deswegen als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gewertet werden könnte.35 Schon die derzeitigen Möglichkeiten selektiver Vertragsgestaltung (Modellvorhaben, Verträge über integrierte Versorgung) werfen kartellrechtliche Fragen auch in europarechtlicher Dimension im Hinblick auf die Exklusivität deutscher Beteiligter auf. Soweit durch anstehende Gesundheitsreformen jedoch weitere wettbewerbsrechtliche Elemente in das System der GKV eingeführt werden, z. B. durch die Etablierung von Einkaufsmodellen, Zusatzversicherungen oder Möglichkeiten der Beitragsrückerstattung, würde das tradierte System der sozia34 35
Dazu Karl/v. Maydell (Fn. 32), S. 87 ff. Karl/v. Maydell (Fn. 32), S. 43 ff., 87 ff.
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len Sicherung zunehmend privatisiert mit der Wahrscheinlichkeit, dass nicht nur erhebliche kartellrechtliche Probleme auf nationaler Ebene entstehen, sondern dass auch der Europäische Gerichtshof das System einer wettbewerbsrechtlichen Überprüfung unterzieht. Gerade mit der Institutionalisierung von Einkaufsmodellen durch Einschränkung der Kompetenz der kassenärztlichen Selbstverwaltung oder deren völligen Beseitigung und Übertragung des Sicherstellungsauftrages auf die Krankenkassen in Verbindung mit Einzel- oder Gruppenverträgen wäre eine grundsätzliche Neuorientierung der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland verbunden.36 Die Deregulierung und Entkollektivierung des bisherigen Systems, in dem sich öffentlich-rechtlich strukturierte Körperschaften gegenüberstehen, die insofern dem allgemeinen Wettbewerbsrecht entzogen sind, bedingt dessen Ersetzung durch ordnungspolitische Rahmenbedingungen, die auf Anbieter- und Nachfrageseite ein ausgewogenes Kräfteverhältnis gewährleisten und damit ein Funktionieren der Marktkräfte ermöglichen. Die einseitige Zulassung eines Nachfragekartells auf Seiten der Krankenkassen, dem eine Vielzahl von Leistungserbringern gegenüberstünde, die ihrerseits dem Wettbewerbs- und Kartellrecht unterliegen, müsste zu einem ruinösen Anbieterwettbewerb der nicht mehr unter dem Dach öffentlich-rechtlicher Körperschaften agierenden Leistungserbringer führen, die um einen Versorgungsvertrag mit den Krankenkassen konkurrieren; dieses Machtgefälle und Ungleichgewicht würden angesichts der bisherigen Kassenstrukturen und eines 90%-Anteils der GKV-Versicherten an der Gesamtbevölkerung an verfassungs- und wettbewerbsrechtliche Grenzen stoßen.37 V. Die europäische Präformierung der Berufsqualifikation, Niederlassung und Berufsausübung Das Berufsrecht der Heil- und Sozialberufe, das durch nationale Gesetzgebung der Mitgliedstaaten geregelt ist, wird zunehmend überlagert durch gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, die sowohl aus den Grundfreiheiten des EG-Vertrages als auch aus Richtlinien resultieren.38
36
Tiemann/Klingenberger/Weber (Fn. 12), S. 93 ff. Weber, Michael, Wettbewerb im Gesundheitswesen – oder – Warum können und dürfen Einkaufsmodelle der Kassen nicht Realität werden?, in: Sozialer Fortschritt 50 (2001), 254 ff.; Muschallik, Thomas, Die Zukunft des Sicherstellungsauftrages durch die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen unter Berücksichtigung neuer Versorgungsformen – aus Sicht der Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, in: MedR 2003, 139 ff. 38 Siehe Tettinger, Peter J., Selbstverwaltung in freiberuflichen Kammern, in: Festschrift 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, 2003, S. 68 ff., 72 ff.; Henssler, Martin, Der Richtlinienvorschlag über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, in: EuZW 2003, 229 ff. 37
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Für die freien Heilberufe entfalten insbesondere die Dienstleistungsfreiheit als das Recht, Dienste in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen und nachzufragen und zu diesem Zweck in dem jeweiligen Mitgliedstaat zu verweilen, und die Niederlassungsfreiheit mit der Befugnis des Aufenthalts und der Berufsausübung in einem anderen Mitgliedstaat besondere Bedeutung. Letzteres ist für die Freien Berufe unter anderem der Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Hebammen durch sektoriell spezielle Richtlinien gewährleistet, während für andere Berufe die Allgemeine Hochschuldiplom-Richtlinie die Niederlassungsfreiheit unter der Voraussetzung einer mindestens dreijährigen Hochschulausbildung sichert. Die EU-Kommission ist bemüht, den durch Harmonisierungsrichtlinien initiierten Integrationsprozess durch eine neue Binnenmarktstruktur für den Dienstleistungssektor weiter voranzutreiben, wobei sie sich am Leitbild vorbildlicher Geschäftspraktiken („best practice“) orientiert. Derzeit wird eine neue EUDienstleistungsrichtlinie vorbereitet, mit der unter anderem Niederlassungs- und Verhaltensregeln für Freie Berufe liberalisiert werden sollen. Eine besondere Dynamisierung dieses berufsrechtlichen Harmonisierungsprozesses geht von der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs aus, der in seiner Rechtsprechung konsequent alle Hemmnisse der Niederlassungsfreiheit durch nationale Reservate, insbesondere der Berufsqualifikationen beseitigt. Das geschieht zum einen durch die Interpretation des Sekundärrechts, wie es sich in den Richtlinien manifestiert. So hat der Europäische Gerichtshof in einem für den zahnärztlichen Berufsstand bedeutsamen Beschluss vom 17.10.2003 (C-35/ 02) die in Deutschland im Hinblick auf § 1 Abs. 1 ZHG lange umstrittenen Frage geklärt, ob ein Arzt generell befugt ist, die Zahnheilkunde auszuüben und die Bezeichnung Zahnarzt zu führen. Der Europäische Gerichtshof hat dies unter Hinweis auf die Richtlinie 78/687/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeit des Zahnarztes eindeutig verneint und diese Richtlinien dahingehend ausgelegt, „dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die Ärzten, die nicht die nach Art. 1 der Richtlinie erforderliche Ausbildung absolviert haben, generell die Tätigkeit des Zahnarztes gestattet; dies gilt unabhängig davon, unter welcher Bezeichnung die Tätigkeiten ausgeübt werden.“ Der Europäische Gerichtshof wendet darüber hinaus strikt die primärrechtlichen Freizügigkeits- und Niederlassungsprinzipien auf das nationale Berufsrecht und seine Handhabung in der Verwaltungspraxis an. So wurde durch das Urteil vom 14.09.2000 eine bereits mehrfach bestätigte Rechtsprechung anlässlich eines Falles weiter geführt, bei dem einem Facharzt für urologische Chirurgie, der seit mehreren Jahren an französischen Krankenhäusern tätig war und die französische Staatsbürgerschaft erworben hatte, die Zulassung als niedergelassener Arzt mit der Begründung versagt wurde, dass ein argentinisches Diplom eines Doktors der Medizin nicht zur Ausübung des Arztberufes in Frankreich berechtige. Der Europäische Gerichtshof hält die Be-
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hörden eines Mitgliedstaates, die mit einem Antrag eines Gemeinschaftsangehörigen auf Zulassung zu einem Beruf befasst sind, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation oder von Zeiten praktischer Erfahrung abhängt, für verpflichtet, sämtliche Diplome, Prüfungsergebnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie einschlägige Erfahrung des Betroffenen in der Weise zu berücksichtigen, dass sie die dadurch belegten Fachkenntnisse mit den nach nationalen Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleichen. Führt eine solche vergleichende Prüfung der Diplome und der entsprechenden Berufserfahrung zu einer Feststellung, dass die durch das im Ausland ausgestellte Diplom bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den in nationalen Rechtsvorschriften verlangten entsprechen, so haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaates anzuerkennen, dass dieses Diplom und eventuell die entsprechende Berufserfahrung die in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen erfüllt. In gleicher Weise entschied der Europäische Gerichtshof am 19.06.200339 im Fall einer Ärztin, die nach dem Medizinstudium in Algerien in Belgien ein Diplom für Allgemeinmedizin erworben hatte und sich in Frankreich als Ärztin niederlassen wollte, jedoch von der französischen Ärztekammer abgewiesen wurde, weil ihre Befähigungsnachweise nicht den belgischen Bezeichnungen entsprachen. Wie der Europäische Gerichtshof ausführte, darf die Anerkennung eines Arztdiploms das in einem anderen Mitgliedstaat erworben wurde, nur in Ausnahmefällen, nicht aber mit der Begründung abgelehnt werden, das Studium sei nicht vollständig, in einem Mitgliedstaat der Union erworben werden. Außerdem müssten sich die Behörden, bei denen die Anerkennung beantragt wurde, an die Erklärung der Ämter des Mitgliedstaates halten, in dem das Diplom ausgestellt wurde, dass Zeugnisse und Befähigungsnachweise vorschriftsmäßig verliehen wurden. Nur wenn die Zeugnisse mehrdeutig sind, könnten die vorgelegten Diplome überprüft werden. Eine extensive Kontrolle der Diplome und Befähigungsnachweise ist nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs bei einem Antrag auf Zulassung als Arzt nur dann zulässig, wenn keine vollständige Ausbildung bescheinigt werden konnte. In diesem Fall dürfe die Zulassung jedoch nur verweigert werden, wenn die belegten Kenntnisse und Fähigkeiten nicht den Vorgaben im Gastland entsprächen und der Antragsteller nicht nachweisen könne, dass er diese erworben habe. Das Berufsrecht der freien Heilberufe wird auch in anderer Beziehung als der Niederlassungsfreiheit zunehmend zum Gegenstand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der insbesondere die Dienstleistungsfreiheit, aber auch gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbote oder Wettbewerbsbestimmungen zum Anlass nimmt, nationale Berufsregelungen am Maßstab des Gemeinschaftsrechts zu prüfen.40 Betroffen sind davon insbesondere Regelungen, die 39
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die Werbung oder gemeinsame Berufsausübung betreffen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wirkt wiederum maßstabgebend auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück. So hat der Europäische Gerichtshof Entscheidungen zum Werberecht der Freien Berufe getroffen, die auf entsprechenden Richtlinien des Rates beruhen. Die Richtlinie des Rates vom 10.09.1984 über irreführende und vergleichende Werbung hebt in Art. 2 Nr. 1 ausdrücklich hervor, dass sie sie auch auf die Werbung der Freiberufler bezieht. So betrifft das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 11.07.2002 (Rs. C294/00) die Werbung der deutschen Paracelsus-Schulen für Naturheilverfahren und die Wirkungen ihrer Werbung für die Ausbildung zum Beruf des Heilpraktikers in Österreich, wo es keine Heilpraktiker gibt. Dabei stellte der Gerichtshof fest, dass es keinen Zwang zur europaweiten Vereinheitlichung hinsichtlich der Anerkennung von Berufen gibt. Die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat weniger strenge Vorschriften erlässt als ein anderer, bedeutet nicht, dass die strengeren Vorschriften unverhältnismäßig und folglich mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar wären. Ein Staat kann demnach Tätigkeiten und die Berufsausbildung hierzu aus Gründen des Gesundheitsschutzes verbieten, jedoch nicht die Information darüber, dass solche Tätigkeiten in anderen Staaten erlaubt sind und dass man hier auch für diese ausgebildet werden kann.41 Nicht nur der Europäische Gerichtshof beeinflusst die diesbezügliche Europäisierung der berufsrechtlichen Standards. Auch die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), über deren Auslegung der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wacht, enthält europäische Verfassungsprinzipien, die Bestandteil der EU-Verträge und einer künftigen EU-Verfassung sind und auch vom Europäischen Gerichtshof als verbindliches Gemeinschaftsrecht betrachtet und angewandt werden. Mit seiner Entscheidung vom 17.10.2002 in der Sache Stambuk gegen Bundesrepublik Deutschland (37928/ 97) hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit den Grenzen zwischen Werbung und Informationsfreiheit Freier Berufe im Fall eines deutschen Augenarztes befasst, der in einem Interview auf seine Spezialisierung in Laserverfahren hingewiesen hatte und in einem berufsgerichtlichen Verfahren zu einer Geldbuße verurteilt wurde. Der Straßburger Gerichtshof, der nach Ausschöpfung des Rechtswegs in Deutschland mit dieser Frage befasst wurde, betonte unter Hinweis auf Art. 10 EMRK das Recht auf freie Meinungsäußerung, die die Freiheit einschließt, Informationen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Einschränkungen dieses Rechts hält er nur unter dem Aspekt des Gesundheits- oder Moral40
Siehe dazu Henssler (Fn. 38), 229 ff. Jäger, Renate, Der Arzt im Wettbewerb – Perspektiven und Grenzen der Werbung in der nationalen und europäischen Rechtsentwicklung, in: ArztuR, 2002, 153 ff.; dies., Der Arzt im Wettbewerb aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: ArztuR 2003, 73 ff. 41
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schutzes oder der Rechte Anderer für zulässig. Einschränkungen der Werbefreiheit sind erlaubt, um unfairen Wettbewerb sowie wahrheitswidrige oder irreführende Werbung zu verhindern. In diesen Fällen wird jedoch das Erfordernis sorgfältiger Abwägung im Hinblick auf Verhältnismäßigkeitsgrundsätze hervorgehoben.42 Nach ständiger Judikatur des Europäischen Gerichtshofs, die in Deutschland auch auf die Vertragsarztzulassung durchschlägt, sind des Weiteren nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten einschränken, nur unter vier Voraussetzungen zulässig: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sein, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.43 Es entspricht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs diesen gemeinschaftsrechtlichen Kriterien, dass bei einem Zahnarzt der Nachweis von Sprachkenntnissen verlangt werden kann, die er für die Ausübung seiner Berufstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat braucht: „Die Gewährleistung der Verständigung des Zahnarztes mit seinen Patienten sowie mit den Verwaltungsbehörden und Berufsorganisationen stellt . . . einen zwingenden Grund des allgemeinen Interesses dar, der es rechtfertigt, die Kassenzulassung eines Zahnarztes von sprachlichen Voraussetzungen abhängig zu machen.“ Sowohl das Gespräch mit den Patienten als auch die Einhaltung der im Aufnahmemitgliedstaat für Zahnärzte geltenden Berufsregeln und Rechtsvorschriften wie auch die Erfüllung der administrativen Aufgaben verlangen nämlich eine „angemessene Kommunikationsfähigkeit, die die Beherrschung der jeweiligen Sprache voraussetzt“.44 Eine besondere Problematik für die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit Freier Berufe kann sich daraus ergeben, dass das nationale Berufs- oder Sozialversicherungsrecht Regelungen trifft, die mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind und daher nur für die eigenen Staatsangehörigen, nicht aber für die anderen Mitgliedstaaten verbindlich sind. Besonders das deutsche Kassenarztrecht lässt diese Diskrepanz der Inländerdiskriminierung deutlich werden. Die dargestellte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann bedeuten, dass dadurch die europäischen Leistungserbringer im Gesundheitswesen besser gestellt werden als in Deutschland ansässige Heilberufsangehörige. Diese unterliegen vielfältigen Erfordernissen für die Zulassung und Leistungserbringung, die für Ansässige anderer Mitgliedstaaten durch die Inanspruchnahme der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit nicht zum Tragen kommen dürfen. Die in Deutschland ansässigen Leistungser42 43 44
Jäger (Fn. 41, 2002), 155. Vgl. Tettinger (Fn. 38), S. 72 ff. EuGH, Urt. v. 04.07.2000, Slg. 2000, I-5148.
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bringer müssen somit unter Umständen zusätzliche Zugangshürden, Budgetbegrenzungen und weitere dirigistische Erschwernisse usw. auf sich nehmen, die den ausländischen Mitkonkurrenten nicht entgegenstehen und auch nicht entgegengehalten werden dürfen. Die deutsche Gesetzgebung im Gesundheitswesen tritt in eine zunehmende Diskrepanz zur europäischen Rechtslage, so wie sie der Europäische Gerichtshof ausformt. Die dadurch bewirkte Inländerdiskriminierung der deutschen Leistungserbringer im Gesundheitswesen ist zwar europarechtlich nicht zu beanstanden, (rechts)politisch jedoch unerträglich, und dürfte auch an verfassungsrechtliche Grenzen stoßen. Nach der deutschen Zulassungsordnung für Vertragszahnärzte muss ein deutscher Zahnarzt eine zweijährige Vorbereitungszeit ableisten, bevor er als Vertragszahnarzt zugelassen wird. Ein Kollege aus einem EU-Mitgliedstaat kann sich unmittelbar nach der Approbation als Zahnarzt in Deutschland niederlassen. Ein Arzt oder Zahnarzt z. B., der wegen der Altergrenze von 68 Jahren von der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung ausgeschlossen wird, kann sich im angrenzenden EU-Ausland niederlassen und seine deutschen Kassenpatienten weiter behandeln, so wie er sie vorher in seiner Heimat behandelt hat. Die deutschen Krankenversicherungsträger sind aus europarechtlichen Gründen gezwungen, diesem aus dem deutschen Krankenversicherungssystem ausgeschiedenen Arzt bzw. Zahnarzt die Behandlungskosten der deutschen Patienten weiter zu erstatten. Noch problematischer ist die Fallgestaltung, wenn die deutsche Spezialklinik, die bisher als Privatkrankenhaus keine Zulassung zur GKV besessen hat, zwar europaweit Patienten mit entsprechender Kostenerstattungspflicht seitens der nationalen Krankenversicherungsträger behandeln kann, nicht aber deutsche Patienten, obwohl die Behandlungsmethoden ansonsten in Deutschland verfügbar sind.45 Ein spezifisch berufsrechtlicher Harmonisierungsdruck auf die nationalen berufsrechtlichen Regelungen der Heilberufe ist durch die derzeit beratenen Vorschläge der EU-Kommission zur Anerkennung der Berufsqualifikationen zu erwarten. Im März 2002 hat die Kommission einen entsprechenden RichtlinienEntwurf vorgelegt46, der vom Europäischen Parlament beraten wird und dessen Ziel es ist, den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr zu fördern und die europäischen berufsrechtlichen Regelungen zu vereinfachen. Die Hauptproblematik dieses Entwurfs besteht darin, dass die derzeitigen sektoralen Regelungen (wie z. B. die Richtlinie 78/686 EWG und 78/687 EWG für die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sons45 Auf diese Diskrepanz hat immer wieder mit Nachdruck Heinze (Fn. 2), 723 ff. hingewiesen. 46 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, KOM (2002) 119 endg.
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tigen Befähigungsnachweisen des Zahnarztes sowie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeit des Zahnarztes) zugunsten einer Einheitsregelung aufgegeben werden sollen, in der gewerbliche wie freiberufliche, handwerkliche und industrielle Berufe über einen Kamm geschoren werden. Das bewährte System der richtlinienmäßigen Differenzierung der Gewährleistung der Dienst- und Niederlassungsfreiheit für gewerbliche Berufe einerseits und andererseits für jene Tätigkeiten, die typischerweise den Freien Berufen zugerechnet werden, die sich durch eine besondere Vertrauensstellung und Qualifikation auszeichnen, soll beseitigt werden, obwohl diese Berufe in den Mitgliedstaaten verschiedenen Ministerien zugeordnet sind. Das derzeitige System der sektoriellen Richtlinien bedeutet, dass ein Niveau für eine Berufsqualifikation festgelegt wird und auf dieser Basis eine automatische Anerkennung erfolgt. Die Weiterentwicklung erfolgt unter Einbeziehung fachlichen Sachverstandes durch die Beratenden Ausschüsse, in denen Berufsvertreter der Freien Berufe und Wissenschaftler der jeweiligen Fachdisziplinen vertreten sind. Die sektoralen Richtlinien gewährleisten damit nicht nur ein klares, unbürokratisches und auf den jeweiligen Berufsstand abgestimmtes Anerkennungsverfahren. Sie sichern auch, dass die Berufsbilder in Zukunft, basierend auf den Entwicklungen in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union, angemessen bewertet und fortgeschrieben werden können.47 Der Richtlinienentwurf sieht demgegenüber in Abs. 54 die Einrichtung eines gemeinsamen Regelungsausschusses für alle Berufsbilder vor. Er soll sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten und dem Vorsitz eines Kommissionsvertreters zusammensetzen. Die faktische Abschaffung der Beratenden Ausschüsse, die insbesondere für die Gesundheitsberufe von Bedeutung sind, würde zu einem Verzicht auf die in der Berufsgruppe angesiedelten fachlichen Kompetenz führen, die für die Entwicklung eines einheitlichen Ausbildungsstandards unerlässlich ist. Ein einziger, nicht-berufsspezifischer Ausschuss kann auf keinen Fall gewährleisten, dass berufsbezogene Fragen mit dem notwendigen wissenschaftlichen Tiefgang und unter Berücksichtigung nationaler Besonderheiten erörtert werden. Nicht unerhebliche Auswirkungen auf das Berufs- und Niederlassungsrecht, vor allem auch die Migrationspraxis der Niederlassung sind außerdem von der Einbeziehung der neuen Beitrittsländer insbesondere Mittel- und Osteuropas zu erwarten.48 Die Verhandlungen über den Beitritt von Estland, Lettland, Litauen,
47 Zum Einfluss der europäischen Entwicklung auf das Berufsbild des Zahnarztes siehe Müller-Boschung, Peter, Der Einfluß der europäischen Entwicklung auf das Berufsbild des Zahnarztes, in: Österr.Zahnärztl.Zeitschrift 2001, 20 ff. 48 Zu den Systemen sozialer Sicherung in Mittel- und Osteuropa siehe Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung, Soziale Sicherung in West-, Mittel- und Osteuropa, Teil II, 1994.
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Malta, Zypern sowie Polen, Slowenien, der Slowakei, der tschechischen Republik und Ungarn zur Europäischen Union wurden auf der Tagung des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12.12.2002 abgeschlossen. Die Beitrittsverträge wurden am 17.04.2003 in Athen unterzeichnet. Der Beitritt selbst wird am 01.05.2004 vollzogen. Durch den Beitrittsvertrag werden ab dem Tag des Beitritts die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und der Beitrittsakte. Die Beitrittsakte regeln die Bedingungen des Beitritts und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht. Geändert wurde insbesondere die Richtlinie 78/686/EWG für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise des Zahnarztes und für Maßnahmen zur Erleichterung zur tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr. Art. 1 wird um die zahnärztlichen Berufsbezeichnungen der neuen Mitgliedstaaten ergänzt. Art. 7b Abs. 1–3 treffen Sonderbestimmungen in Bezug auf erworbene Rechte von in der ehemaligen Sowjetunion erworbenen und in Estland, Lettland bzw. Litauen gleichgestellten zahnärztlichen und fachzahnärztlichen Befähigungsnachweisen. Art. 7b Abs. 4 enthält eine Sonderbestimmung betreffend erworbener Rechte von im ehemaligen Jugoslawien erworbenen und in Slowenien gleichgestellten zahnärztlichen und fachzahnärztlichen Befähigungsnachweisen. Art. 19c und 19d sehen Übergangsbestimmungen vor für die Anerkennung von in der ehemaligen Tschechoslowakei, in der tschechischen Republik bzw. in der Slowakei erworbenen ärztlichen Befähigungsnachweisen. Die Anhänge A und B der Richtlinie 78/686/EWG werden durch die von den neuen Mitgliedstaaten ausgestellten zahnärztlichen und fachzahnärztlichen Diplome, die unter die gegenseitige Anerkennung fallen, ergänzt. In der Richtlinie 78/687/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Zahnarztes erfolgt eine Anpassung durch einen Verweis auf die in den Artikeln 19–19d enthaltenen Übergangsbestimmungen der Richtlinie 78/686/EWG. Übergangsregelungen, wie sie zur Sicherung des Gleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt für unselbstständig Beschäftigte installiert wurden, sind für die Freien Berufe nicht vorgesehen. Das heißt, dass Zahnärzte aus den Beitrittsländern ab 1. Mai 2005 grundsätzlich ohne jede Prüfung zur Ausübung der Zahnheilkunde in Deutschland zugelassen sind. Ausreichende Deutschkenntnisse sind nach der Rechtsprechung für die Erteilung der Approbation49 sowie für die Kassenzulassung allerdings erforderlich. Dies wird auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestätigt.50 49 50
OVG NW, Beschl. v. 09.07.2001, Az. 13 B 531/01. EuGH, Urt. v. 04.07.2000, Slg. 2000, Fr I – 5148-Haim II-Tz. 59.
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Dass die europäische Gemeinschaftsstruktur zunehmend auf die Berufsausübung der Freien Berufe unmittelbar einwirkt, zeigt die Geldwäsche-Richtlinie der EU, die insbesondere die wirtschafts- und rechtsberatenden Freien Berufe betrifft, jedoch mit der Schweigepflicht ein sensibles Schutzgut freiberuflicher Tätigkeit tangiert, das gerade für die Heilberufe essentiell ist. Freie Berufe, die gegenüber ihren Mandanten, Klienten, Patienten zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, sollen in der nationalen Gesetzgebung zwar ausgenommen werden können, jedoch nur im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren oder zur Klärung der Rechtslage. Tiefgreifende Einschnitte in das Berufsrecht der Freien Berufe sind auch vom E-Commerce zu erwarten, für den eine so genannte „e-commerce-Richtlinie“ 51 vorliegt. Die Förderpolitik der EU zielt darauf ab, dass alle Dienstleister, so auch die Freien Berufe, in zunehmendem Maße als Übermittlungsweg ihrer Leistungen die neuen Medien einbeziehen. Unklarheiten beherrschen hier nach wie vor das Bild. Denn die grenzüberschreibenden Dienstleistungen müssen völlig unterschiedliche Rechtsordnungen beachten. Die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr geht vom Herkunftslandprinzip aus, der Anbieter einer Dienstleistung braucht dann nur noch die Bestimmungen des Staates beachten, in dem er niedergelassen ist, auch wenn er elektronisch in Geschäftsverkehr mit einem anderen Mitgliedstaat tritt. Was dies neben dem Arzneimittel- sowie Heil- und Hilfsmittelhandel für das Berufsrecht der Freien Berufe bedeutet, liegt auf der Hand: Angehörige Freier Berufe, in deren Herkunftsland das Berufsrecht nicht die Intensität der Regelung aufweist wie Deutschland, können ungehindert über das Internet in Deutschland Dienstleistungen, also etwa Beratungen, erbringen und auch für diese werben. Dass dies weitere Aufweichungserscheinungen für das deutsche Berufsrecht nach sich ziehen muss, leuchtet ein. Abgesehen davon ist bis heute nicht geklärt, wie die Leistungen im E-Commerce urheberrechtlich abgesichert sind. Ein großes Problem in diesem Zusammenhang stellt nach wie vor auch hier wieder die Schweigepflicht dar. Außerdem ist die Frage der Besteuerung ungeklärt. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Doc. Morris (C-322/01) von Bedeutung, nach der das Verbot des Internet-Versandhandels mit Arzneimitteln, wie es in der Bundesrepublik Deutschland in der bisherigen Fassung des § 43 Abs. 1 AMG verankert ist, gegen Art. 28 EGV verstößt, also eine Beschränkung des freien Wettbewerbs darstellt. Demgegenüber hält der Europäische Gerichtshof das nationale Verbot der Werbung für den Versandhandel (§ 8 Abs. 1 Heilmittelwerbegesetz) für europarechtskonform, d. h. mit Art. 30 EGV vereinbar, soweit verschreibungspflichtige Arzneimittel betroffen sind.52 51 Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, 2000, Amtsbl. 178 vom 17.02.2000.
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VI. Die Stellung freiberuflicher Selbstverwaltungsorganisationen in der europäischen Rechtsprechung Zwei neuere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Wouters53 und Arduino54 zeigen, dass die kartellrechtlichen Bestimmungen des EG-Vertrags nicht nur zu der Prüfung führen, inwieweit das nationale, auf dem Kollektivvertrag beruhende Versorgungssystem mit den europäischen Vorgaben in Einklang zu bringen ist, sondern auch auf das nationale Berufsrecht einwirken und freiberufliche Kammerorganisationen wie Ärzte-, Zahnärzteoder Apothekerkammern mit der Frage konfrontieren, ob sie möglicherweise Kartelle darstellen und das den Standesorganisationen übertragene Satzungsrecht als mit dem gemeinsamen Binnenmarkt unvereinbare Wettbewerbsgarantie zu qualifizieren ist. Den berufsständischen Selbstverwaltungen deutscher Rechtstradition in Gestalt öffentlich-rechtlicher Körperschaften mit gesetzlich angeordneter Pflichtmitgliedschaft sind drei zentrale Aufgabenblöcke zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung durch staatliche Kompetenzverleihung zugewiesen, sie sich sowohl vor nationalem Verfassungsrecht als auch dem europäischen Gemeinschaftsrecht legitimieren müssen: – Berufsaufsicht im Sinne der Überwachung und Durchsetzung normativ vorgegebener Standards im öffentlichen Interesse; – Vertretung der Interessen der Berufsangehörigen im Rahmen von Gemeinwohlbelangen und sozialstaatlichen Bindungen; – umfassende Förderung beruflicher Belange des Berufsstandes wie Aus-, Fortund Weiterbildung, Beratung und vielfältige Servicefunktionen. Die Kammern als Träger funktionaler Selbstverwaltung üben eine gesellschaftspolitisch wichtige Mediationsfunktion zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen aus, indem sie im Sinne der Subsidiarität staatsentlastend, problem- und bürgernah, zugleich Gemeinwohlaufgaben erfüllen und die Partizipation der betroffenen Berufsgruppen an politischen Entscheidungen organisieren. Das Bundesverfassungsgericht hat solche Formen von Selbst- oder Gruppenregulierung in korporativen Strukturen für kompatibel mit den grundsätzlichen Anforderungen an demokratische Legitimationsstandards erklärt, soweit eine konkrete gesetzliche Ermächtigungsgrundlage und eine staatliche Aufsicht bestehen.55 52 Vgl. Gesundheitspolitischer Informationsdienst Nr. 40 vom 17.12.2003, S. 12 ff. mit Hinweis darauf, dass durch die Änderung der Arzneimittelpreisverordnung durch das GMG die praktische Relevanz dieser Entwicklung in Deutschland relativiert wurde. Siehe auch Lenz, Christofer, Warenverkehrsfreiheit nach der DocMorris-Entscheidung zum Versand von Arzneimitteln, in: NJW 2004, 332 ff. 53 EuGH, Rs. C-309/99. 54 EuGH, Urt. v. 19.02.2002, Rs. C-35/99. 55 BVerfGE 33, 125; BVerfG, Beschl. v. 05.12.2002, 2 BvL 5 u. 6/98.
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Das Proprium freiberuflicher Selbstverwaltung, autonome Rechtsvorschriften für die Berufsregelungen mit z. T. wettbewerbsrelevanten Auswirkungen erlassen zu dürfen, muss sich zunehmend nicht nur vor dem nationalen Verfassungsrecht, sondern auch vor dem europäischen Gemeinschaftsrecht legitimieren. In den beiden angesprochenen Fällen hatte der Europäische Gerichtshof die Frage zu klären, ob eine berufsständische Selbstverwaltungsorganisation als „Unternehmen“ bzw. als „Unternehmensvereinigung“ zu qualifizieren ist und inwieweit Standesregularien im Hinblick auf Wettbewerbswirkungen europarechtskompatibel sind.56 In dem Verfahren Wouters wollte ein holländischer Rechtsanwalt mit Wirtschaftsprüfern eine Sozietät gründen. Dieses Vorhaben verstieß gegen eine in den Niederlanden bestehende Verordnung über die Zusammenarbeit von Rechtsanwälten mit Angehörigen anderer Berufe (Zusammenarbeits-Verordnung von 1993), die von der Satzungsversammlung der nationalen Rechtsanwaltskammer der Niederlande kraft gesetzlicher Ermächtigung erlassen und vom Justizminister überprüft werden kann. Ein Antrag des Rechtsanwalts Wouters, eine entsprechende Sozietät zu gründen, wurde von der zuständigen Anwaltskammer aufgrund dieser Verordnung abgelehnt. Nachdem eine dagegen gerichtete Klage erstinstanzlich erfolglos blieb, wurde der Rechtsstreit dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt, um klären zu lassen, ob die Zusammenarbeits-Verordnung mit europäischem Kartellrecht vereinbar ist. Ausgangspunkt der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs war die Frage der Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregelungen der Art. 81 ff. EGV. Hierzu stellt der Europäische Gerichtshof fest, dass eine Verordnung über die Zusammenarbeit zwischen Rechtsanwälten und Angehörigen anderer Freier Berufe, die von einer Einrichtung wie der niederländischen Rechtsanwaltskammer erlassen wurde, als Beschluss einer Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 85 Abs. 1 (jetzt Art. 81 Abs. 1) EGV anzusehen ist. Obwohl der Europäische Gerichtshof somit an sich die wettbewerbsbeschränkenden Voraussetzungen des Art. 81 EGV als erfüllt ansah, wurde die Regelung nicht nach Art. 81 Abs. 2 EGV als nichtig betrachtet, sondern einer im EG-Vertragstext nicht vorgesehenen immanenten Beschränkung des Tatbestandes des Art. 81 EGV unterworfen. Das Gericht führt aus, dass nicht jede Vereinbarung zwischen Unternehmen oder jeder Beschluss einer Unternehmensvereinigung, durch die die Handlungsfreiheit der Parteien oder einer Partei beschränkt wird, automatisch vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EGV erfasst werden. Bei der Anwendung dieser Vorschrift im Einzelfall seien nämlich der Gesamtzusammenhang, in dem der fragliche Beschluss zustande gekommen ist oder seine Wirkungen entfaltet, und insbesondere dessen Zielsetzung zu würdigen. 56 Siehe dazu und zum Folgenden eingehend Heinze (Fn. 21), S. 94 ff.; Sosnitza (Fn. 22), 460 ff.; Kluth, Winfried, Die Bedeutung der Steuerberaterkammern als Träger funktionaler Selbstverwaltung im europäischen Binnenmarkt und in einer künftigen europäischen Verfassung, 2003.
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Der Europäische Gerichtshof erkennt somit in Übereinstimmung mit seiner Rechtsprechung zur Dienst- und Warenverkehrsfreiheit auch für Art. 81 EGV einen nicht normierten Gemeinwohlvorbehalt an und unterwirft die zu prüfende Maßnahme einer Abwägung mit Gemeinwohlinteressen. Im Zusammenhang mit dem niederländischen Sozietätsverbot führt der Europäische Gerichtshof aus, dass dieses möglicherweise der Erhaltung eines ausreichenden Wettbewerbs auf dem Markt für juristische Dienstleistungen dienen könnte, weil Rechtsanwälte berufsrechtlich verpflichtet seien, Interessenkonflikte zu vermeiden und das Berufsgeheimnis zu wahren, was für Wirtschaftsprüfer nicht in gleicher Weise gelte. Daher sei das Zusammenarbeitsverbot ein taugliches Mittel, um diese Berufspflichten zu wahren und die ordnungsgemäße Ausübung des Rechtsanwaltsberufs sicherzustellen. Im Fall Arduino ging es um die Rechtmäßigkeit der italienischen Gebührenordnung für Rechtsanwälte, die vom Nationalen Anwaltsrat entworfen und nach Genehmigung durch den Justizminister in Kraft trat. Gegen Herrn Arduino wurde ein Strafverfahren wegen Verursachung eines Verkehrsunfalls mit Personenschaden durchgeführt. Bei der Festsetzung der von dem Angeklagten zu erstattenden Kosten wich das Gericht von der genehmigten Gebührenordnung zuungunsten des Anwaltes des Nebenklägers ab. Nachdem im Rechtsmittelverfahren eine Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht erfolgte, setzte dieses das Verfahren aus und legte es dem Europäischen Gerichtshof zur Klärung der Frage vor, ob die Gebührenordnung in den Geltungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts fällt. Während im deutschen Recht das Standesrecht, zumindest soweit es verfassungsgemäß ist, nach herrschender Meinung die Anwendbarkeit des Kartellrechts ausschließt, ist dies europarechtlich noch ungeklärt. Die Angehörigen Freier Berufe wie Rechtsanwälte, Ärzte oder Zahnärzte werden im Hinblick auf den weiten Unternehmensbegriff, den der Europäische Gerichtshof Art. 81 EGV zugrunde legt, von diesem als Anbieter von Dienstleistungen gegen Entgelt und damit als Unternehmer qualifiziert, unabhängig davon, welches Maß an intellektuellen Fähigkeiten und Verantwortung oder Regelungskomplexität mit der betreffenden Leistung verbunden ist.57 Ob dies nicht nur für die einzelnen Berufsangehörigen, sondern auch für die Selbstverwaltungskörperschaften gilt, bejaht der Europäische Gerichtshof, indem er sie als Unternehmensvereinigungen betrachtet, deren Zweck unter anderem darin besteht, die Interessen ihrer Mitglieder wahrzunehmen. Die Tatsache, dass es sich bei den Berufskammern um Körperschaften des öffentlichen Rechts handelt, die im öffentlichen Interesse liegenden Aufgaben wahrnehmen, stehe dem nicht entgegen, weil die Kammer als Organ zur Regelung eines Berufes handele, dessen Ausübung eine wirtschaftliche Tätigkeit darstelle.58 Die Berufskammern seien zudem beim Erlass von 57
EuGH, Urt. v. 12.09.2000, Rs. C-189/98; C-184/98.
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Rechtsvorschriften nicht immer verpflichtet, bestimmte Kriterien des Allgemeininteresses zu berücksichtigen, so dass sie teilweise auch ausschließlich im Interesse der Berufsangehörigen tätig werden. Daher müssen auch die Berufskammern sich grundsätzlich am Maßstab des Art. 81 EGV messen lassen: In dem Fall allerdings, in dem ein Mitgliedstaat bei der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen an einen Berufsverband Kriterien des Allgemeininteresses und wesentliche Grundsätze festlegt, die bei der Satzungsgebung zu beachten sind und zudem die Letztentscheidungsbefugnis behält, bleiben die berufsrechtlichen Regeln staatliche Regeln und unterliegen nicht den Vorschriften des europäischen Kartellrechts. Werden diese Vorgaben nicht eingehalten, sind die Regelungen allein dem Berufsverband zuzurechnen und fallen folglich vollständig unter die Bestimmungen der Art. 81 ff. EGV.59 Während im Fall Wouters die niederländische Regelung nicht diesen vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Grundsätzen genügte, weil die Satzungsversammlung der Anwaltskammer uneingeschränkt zum Satzungserlass ermächtigt worden war, ohne in besonderer Weise auf das Allgemeininteresse verpflichtet zu sein und die Letztentscheidungskompetenz für die Inkraftsetzung der berufsrechtlichen Regelungen nicht in staatlicher Hand lag, gelangt der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Arduino zu einem anderen Ergebnis, weil hier die von der Anwaltskammer beschlossene Gebührenordnung keine direkte Bindungswirkung entfaltet, sondern erst mit der Genehmigung des Justizministers in Kraft trat. Dem Staat verblieb somit die geforderte Letztentscheidungsbefugnis. Aber auch dann, wenn sich der Staat die Letztentscheidungsbefugnis vorbehält und die Regelungen somit grundsätzlich als staatliche Maßnahmen einzuordnen sind, ist nach der Rechtsprechung ausnahmsweise noch ein Verstoß gegen Art. 81 EGV denkbar. Der Gerichtshof leitet aus Art. 81 EGV in Verbindung mit dem Gebot der Gemeinschaftstreue aus Art. 10 Abs. 2 EGV ab, dass es Mitgliedstaaten verboten ist, Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnte. In der Rechtssache Consorzio Industrie Fiammiferi (Rs C-198/01) hat der Europäische Gerichtshof für Recht erkannt, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde in den Fällen, in denen sich Unternehmen wettbewerbswidrig verhalten und dieses Verhalten durch nationale Gesetze vorgeschrieben oder erleichtert wird, die selbst gegen Art. 81, 82 EGV verstoßen, verpflichtet ist, dieses nationale Gesetz unangewendet zu lassen und Art. 81 EGV Wirkung zu verleihen. Wenn die Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, ein solches wettbewerbswidriges Gesetz unangewendet zu lassen, Bestandskraft erlangt hat, 58
Vgl. Kilian (Fn. 23), 802 ff. Siehe auch Lörcher, Heike, Anwaltliches Berufsrecht und europäisches Wettbewerbsrecht, in: NJW 2002, 1092. 59
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kann dieses Gesetz nicht mehr als Rechtfertigungsgrund für einen Ausnahmetatbestand oder einen Wettbewerbsverstoß angeführt werden. Ein solcher Fall ist nach der Rechtsprechung gegeben, wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 81 EGV verstoßende Kartellabsprachen vorschreibt oder erleichtert oder die Auswirkungen solcher Absprachen verstärkt oder wenn er seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für eine in die Wirtschaft eingreifende Entscheidung privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt. Ein solcher Verstoß ist nach der Arduino-Entscheidung bei der Übertragung der Regelungsbefugnis auf Berufskammern dann nicht gegeben, wenn die Mitglieder des Berufsverbandes nicht nur berufsständische Interessen, sondern auch das Interesse der Allgemeinheit zu berücksichtigen haben.60 Die Anwendung dieser gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze auf die Satzungen der deutschen Standesorganisationen der Freien Berufe, insbesondere die Berufsordnungen der Heilberufe führt zu dem Ergebnis, dass – ausgehend von einer grundsätzlichen Anwendbarkeit des europäischen Kartellrechts aufgrund des Art. 81 EGV – der Umfang und Grad der Erstreckung des Gemeinschaftsrechts davon abhängig ist, inwieweit sich der Staat bei Erlass von autonomer Satzungshoheit die Letztentscheidungsbefugnis vorbehält. Je stärker der staatliche Einfluss und je geringer die Selbstverwaltungsautonomie ist, desto eher ist die Organisation und ihr Handeln dem Staat zuzuordnen und damit dem Wettbewerbsrecht entzogen.61 Während die Berufsregelungen rechtsberatender Berufe überwiegend in förmlichen Bundesgesetzen (z. B. Bundesrechtsanwaltsordnung und Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung bzw. Rechtsanwaltsvergütungsgesetz für Rechtsanwälte) geregelt sind und als staatliche Handlungen grundsätzlich nicht dem europäischen Wettbewerbsrecht unterliegen, sondern sich lediglich an dem vom Europäischen Gerichtshof aus Art. 81 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 EGV abgeleiteten Verbot staatlicherseits initiierter Kartellabsprachen messen lassen müssen,62 liegt die Gesetzgebungskompetenz für Berufsausübungsregelungen der Heilberufe nicht beim Bund, sondern bei dem jeweiligen Landesgesetzgeber. Dementsprechend haben die Länder Heilberufs- oder Kammergesetze erlassen, in denen die Errichtung der Ärzte-, Apotheker-, Tierärzte- und Zahnärztekammern normiert wird. In diesen Gesetzen finden sich in der Regel auch die grundlegenden Berufspflichten der verschiedenen Kammerangehörigen wieder (vgl. z. B. §§ 29 f. HeilBerG NW). Für weitere Berufspflichten sehen die Heilberufs- und Kammergesetze eine Ermächtigung vor, wonach die Kammern in einer Berufsordnung nähere Rechte und Pflichten bestimmen können, die zum Teil enumerativ in den Kammergesetzen geregelt sind. Nach Erlass der Berufs60 61 62
Siehe Kilian (Fn. 23), 802 ff.; Lörcher (Fn. 59), 1093; Kluth (Fn. 56), S. 58 ff. Heinze (Fn. 21), S. 98. Dazu Kilian (Fn. 23), 805.
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ordnungen sind diese von der zuständigen Aufsichtsbehörde zu genehmigen (so z. B. nach § 31 Abs. 2 HeilBerG NW). Es handelt sich zwar hierbei um einen echten Genehmigungsvorbehalt, dennoch wird in Frage gestellt, ob dadurch den Anforderungen, die der Europäische Gerichtshof an die Letztentscheidungsbefugnis stellt, genügt wird, soweit es sich auch hier um eine bloße Rechtsaufsicht handelt.63 Die Aufsichtsbehörden haben grundsätzlich keine inhaltlichen Mitentscheidungsbefugnisse oder Möglichkeiten der Zweckmäßigkeitsaufsicht, was die Autonomie der Satzungsgeber erheblich beinträchtigen würde. Bei der zulässigen italienischen Gebührenordnung in der Rechtssache Arduino hatten die staatlichen Stellen aber „sowohl in der Ausarbeitungs- als auch in der Genehmigungsphase“ entscheidende Bedeutung. Am Maßstab des Erfordernisses der Letztentscheidungskompetenz betrachtet, wonach eine Regelung nur den wettbewerbsrechtlichen Vorgaben entzogen sein soll, wenn der Staat umfassende Überprüfungsmöglichkeiten hat und die Regelungen aus diesen Gründen eher als eine dem Staat zuzuschreibende Vorschrift als die einer Unternehmensvereinigung erscheint, könnte eine bloße Rechtsaufsicht europarechtlich möglicherweise nicht ausreichen, um die ärztlichen und zahnärztlichen Berufsordnungen vor den europäischen Wettbewerbsvorschriften bestehen zu lassen. Die einzelnen berufsrechtlichen Vorgaben, die die jeweiligen Berufsordnungen der Heilberufe enthalten, müssen aber nach der geschilderten WoutersRechtsprechung auch dann nicht zur Unwirksamkeit nach Art. 81 Abs. 2 EGV führen, wenn sie ansonsten grundsätzlich geeignet sind, eine Wettbewerbsbeschränkung zu bewirken. Als wettbewerbsbeschränkend können solche berufsrechtlichen Normen angesehen werden, die geeignet sind, ein autonomes Verhalten des einzelnen Freiberuflers als Unternehmer restriktiv zu begrenzen. Dies betrifft Regelungen, wie interprofessionelle Zusammenarbeitsverbote oder sonstige Einschränkungen von Berufsausübungsgemeinschaften bzw. Werbeverbote. Hierbei müsste sich jede einzelne Norm entsprechend der vom Europäischen Gerichtshof in der Entscheidung Wouters aufgestellten rule of reason einer Verhältnismäßigkeitsprüfung und einer Abwägung dahingehend unterziehen, ob Gemeinwohlinteressen das Interesse an einem freien Wettbewerb verdrängen:64 Eingriffe in die Wettbewerbsfreiheit werden wohl insbesondere mit der Eigenschaft der Heilberufsangehörigen als Freiberufler legitimiert werden können, die kein Gewerbe betreiben und zur Wahrung der Unabhängigkeit und des besonderen Vertrauensverhältnisses zu den Patienten sich bestimmten Einschränkungen unterwerfen müssen. Der Europäische Gerichtshof hat in der Wouters-Entschei63 Heinze (Fn. 21), S. 99; Kluth (Fn. 56), S. 63 hält eine reine Rechtsaufsicht auch aus der Perspektive des Gemeinschaftsrechts für ausreichend. 64 Vgl. Römermann, Volker/Wellige, Kristian, Rechtsanwaltskartelle – oder: Anwaltliches Berufsrecht nach den EuGH-Entscheidungen Wouters und Arduino, in: BB 2002, 633 ff., 636; Kilian (Fn. 23), 802, 804; Sosnitza (Fn. 22), 460, 465.
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dung das Berufsgeheimnis eines Freiberuflers sowie dessen Unabhängigkeit bei der Ausübung des Berufs als Gemeinwohlinteresse anerkannt. Ob dies allerdings ausreichen wird, um eine Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit zu rechtfertigen, bleibt einer Einzelbetrachtung der berufsrechtlichen Regelungen mit wettbewerbsbeschränkender Wirkung vorbehalten. Ein relevantes Kriterium ist dabei unter Verhältnismäßigkeitsaspekten die Schwere der Wettbewerbsbeschränkung und die Frage, ob nicht die entsprechenden Gemeinwohlinteressen durch weniger einschneidende Maßnahmen geschützt werden können.65 VII. Auswirkungen der Deregulierung auf die Freien Berufe und ihre Selbstverwaltung Nicht nur die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stellt die Berufsregeln Freier Berufe und ihrer Selbstverwaltungsorganisation auf den Prüfstand des europäischen Wettbewerbs. Insbesondere die Europäische Kommission wendet sich in ihrer Rolle als Wettbewerbshüterin verstärkt den Wettbewerbsstrukturen des Dienstleistungssektors zu und propagiert eine Deregulierung der berufsständischen Normsetzung. Der Europäische Rat verabschiedete im März 2000 ein wirtschaftliches Reformprogramm, dessen wesentlicher Bestandteil die „Binnenmarkstrategie für den Dienstleistungssektor“ mit dem Ziel der Schaffung eines einwandfrei funktionierenden Binnenmarktes für alle Dienstleistungsanbieter ist. Die Kommission hat im Juli 2002 in einem Bericht zum „Stand des Binnenmarktes für Dienstleistungen“ [KOM (2002) 441 endg. vom 30.07.2002] eine umfassende Bestandsaufnahme der im Binnenmarkt weiter bestehenden Hindernisse für grenzüberschreitende Dienstleistungen vorgenommen. In diesem Bericht werden unter anderem angebliche bei den Freien Berufen vorzufindende „Markthindernisse“ moniert. Hierzu gehören neben den Tarifund Gebührenordnungen auch Gebietsmonopole sowie Regelungen zu beruflichen Qualifikationen, Haftungsregeln und Finanzkontrollmechanismen. Auf jeden Fall dürfen die berufsständischen Regeln nicht dazu führen, dass der Wettbewerb und die Niederlassungsfreiheit unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Deutschland gehört in dieser Hinsicht aber gerade zu den Mitgliedstaaten mit dem höchsten Regulierungsgrad und den restriktivsten Beschränkungen des Marktzugangs. Ohne eine neue Binnenmarktstrategie bzw. ohne Abbau nationaler Schranken im Dienstleistungsbinnenmarkt, so der Bericht, sei die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft nicht zu steigern. Deshalb soll künftig in jedem Staat eine nationale Stelle darüber wachen, dass das europäische Recht korrekt angewandt wird. 65
Heinze (Fn. 21), S. 71.
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Die Europäische Kommission strebt eine neue EU-Dienstleistungsrichtlinie an, mit der unter anderem die Niederlassungs- und Verhaltensregeln für Freie Berufe liberalisiert werden sollen. Damit geraten traditionelle berufspolitische Vorschriften wie etwa die Pflichtmitgliedschaft in Kammern und Standesorganisationen sowie Gebührenordnungen und Werbeverbote ins Visier des europäischen Wettbewerbsrechts, könnten aber auch vertrags(zahn)ärztliche Regelungen und marktrelevante Aktivitäten der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen wie Bedarfsplanung, Gesamtverträge, Bewertungsmaßstäbe betroffen sein. Die Richtlinie zielt darauf ab, die gerade auch in Deutschland noch zahlreich vorhandenen rechtlichen und verwaltungstechnischen „Marktabschottungen“ soweit wie möglich zu beseitigen und die Berufsfelder der Freien Berufe dem Binnenmarkt für Dienstleistungen zu unterwerfen. Die berufsständischen Normsetzungen sollen nach dem Willen der Kommission künftig nur noch dann europarechtlichen Bestand behalten, wenn sie aus Gründen des Gesundheits- und Verbraucherschutzes oder der öffentlichen Sicherheit zu rechtfertigen sind. Wiewohl bei solchen Abwägungsprozessen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit eine hohe Priorität eingeräumt wird, besteht durchaus ein Risiko, dass hier tradierte und bewährte Verfahren bzw. Strukturen unter Rechtfertigungsdruck geraten, zumal die Kommission immer wieder darauf hinweist, dass das Regulierungsniveau bei den Freien Berufen durch staatliche Reglementierung und Selbstverwaltungsregelungen höher als im sonstigen Dienstleistungsbereich sei und trotz gewisser Deregulierungsbestrebungen in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung stehen.66 In einer Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen zur „Regulierung der freien Berufe und ihre Folgen“ wird darauf hingewiesen, dass es mangels Harmonisierung der Rechtsvorschriften für Freie Berufe auf EU-Ebene in erster Linie den Mitgliedstaaten obliegt, den Rahmen zu definieren, in dem freiberufliche Tätigkeiten ausgeübt werden können, wobei die Mitgliedstaaten Berufsverbände in diese Arbeiten einbeziehen können, solange sie sich die Entscheidungsbefugnis vorbehalten und/oder ausreichende Kontrollen vorsehen, um sicherzustellen, dass Entscheidungen im öffentlichen Interesse getroffen werden. Regulierungseinrichtungen müssen im Binnenmarkt überdies ungerechtfertigte Beschränkungen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit für Freiberufler aus anderen Mitgliedstaaten unterlassen. Die Kommissionsdienststellen weisen allerdings darauf hin, dass Vorschriften, die den Wettbewerb einschränken und objektiv nicht nötig sind, um die ordnungsgemäße Ausübung des Berufs zu gewährleisten, einer Prüfung unterzogen werden müssten, um sie gegebenenfalls vom allgemeinen Verbot wettbewerbs66
Vgl. auch Tettinger (Fn. 38), S. 71.
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beschränkender Vereinbarungen freistellen zu können. Als Hüterin des EG-Vertrages sei es Aufgabe der Kommission, die Märkte laufend zu überwachen und, wenn dies notwendig und gerechtfertigt ist, Maßnahmen vorzuschlagen, um auf diese Weise dafür zu sorgen, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird. Zudem seien die einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden im Zuge der Modernisierung des Kartellrechts ab Mai 2004 ausdrücklich aufgerufen, die Vereinbarkeit dieser Regeln und Vorschriften mit dem europäischen Wettbewerbsrecht zu prüfen. Um die verschiedenen Regulierungssysteme und ihre wirtschaftlichen Folgen systematisch zu erfassen, gab die Generaldirektion Wettbewerb eine Studie über die wirtschaftlichen Auswirkungen einzelstaatlicher Regelungen für Freie Berufe in Auftrag, die vom Institut für Höhere Studien, Wien, durchgeführt und im März 2003 fertiggestellt wurde.67 Auf der Grundlage von Fallstudien wurden spezielle Regulierungsindizes für den Grad der Regelungsdichte bzw. Vorschriften zum Marktzugang und Marktverhalten in den jeweiligen Berufsfeldern ermittelt. Die Studie zu den einzelstaatlichen Regelungssystemen für die Freien Berufe, die eine indikatorengestützte Stufenskala des Dichtegrades der nationalen Regelungen entwickelt, unterscheidet zwei große Normgruppen: Vorschriften zum Marktzugang und Vorschriften zum „Marktverhalten“. Zu den typischen Marktzugangsvorschriften gehören Qualifikationsanforderungen (anerkannte Befähigungsnachweise wie Hochschulabschlüsse, die Dauer der praktischen Berufserfahrung und/oder fachliche Eignungsprüfungen), die Anmeldung oder Mitgliedschaft in einem Berufsverband, Vorschriften zu den Tätigkeitsbereichen, die bestimmten Berufsständen vorbehalten sind (d. h. die alleinige Berechtigung eines – manchmal auch mehrerer – Berufsstände, bestimmte Leistungen oder Waren auf dem Markt anzubieten), und in einigen Fällen darüber hinaus wirtschaftliche Bedarfsprüfungen. Zu den typischen Verhaltensvorschriften zählen die Regulierung von Preisen und Honoraren (Festpreise, Mindest- und/oder Höchstpreise usw.), Werbe- und Vertriebsvorschriften, Standort- und Diversifizierungsregelungen (räumliche Einschränkungen des Dienstleistungsangebotes, zahlenmäßige Beschränkung der Niederlassungen), Einschränkungen der berufsbestandsübergreifenden Zusammenarbeit oder möglicherweise Einschränkungen der Unternehmensformen (z. B. ob die Gründung juristischer Personen zulässig ist und unter welchen Voraussetzungen). Den Erkenntnissen der Studie zufolge gibt es keine sichtbaren Anzeichen für ein Marktversagen in den Mitgliedstaaten, in denen weniger reglementiert wird. Den Ergebnissen der Studie lässt sich auch entnehmen, dass eine geringe Regelung kein Hindernis, sondern Ansporn zur Wertschöpfung ist, da in Ländern mit niedrigem Regulierungsgrad das Einkommen des einzelnen Freiberuflers zwar relativ gesehen niedriger ist, insge67 Institut für Höhere Studien (IHS), Forschungsbericht: Wirtschaftliche Auswirkungen einzelstaatlicher Regelungen für die Freien Berufe, 2003.
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samt aber höhere Erlöse aufgrund der größeren Anzahl praktizierender Freiberufler zu verzeichnen sind. Am 09.02.2004 hat die Kommission ihren „Bericht über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen“ vorgelegt [KOM (2004) 83 endg.]. In diesem Bericht bewertet sie auf der Grundlage der HIS-Studie unter anderem – restriktive Regelungen der Freien Berufe, – verbindliche Festpreise bzw. Preisempfehlungen, – Werbebeschränkungen, – Zugangsbeschränkungen und Vorbehaltsaufgaben, – Regeln für Unternehmerformen, – Mögliche Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln. Die Kommission geht davon aus, dass einerseits übermäßige Reglementierungen wie Werbe- und Zulassungsbeschränkungen sich nachteilig für den Verbraucher, Klienten oder Patienten auswirken können, andererseits die „Asymmetrie der Information“ zwischen Klienten und Dienstleistern, die involvierten „Vertrauensgüter“, die besonderen Risiken und die gesamtgesellschaftliche Bedeutung freiberuflicher Dienstleistungen eine gewisse Reglementierung legitimieren können. Die Kommission sieht allerdings sowohl auf dem Gebiet der Preisgestaltung als auch dem der Werbe- und Zulassungsbeschränkungen zm Teil einen Deregulierungsbedarf auch im Hinblick auf das gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsrecht. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs insbesondere in den Rechtssachen Wouters und Arduino sowie Consorzio Industrie Fiammiferi (CIF) gelangt die Kommission zu der Auffassung, dass es den Mitgliedstaaten im Hinblick auf Art. 81 EGV verboten ist, „Maßnahmen auch in Form von Gesetzen oder Verordnungen zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten“. Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. g und Art. 81 EGV vorliegt, wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 81 EGV verstoßende Vereinbarungen, Beschlüsse oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen vorschreibt oder erleichtert oder deren Auswirkungen verstärkt oder wenn er seinen eigenen Regelungen dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt. Nach dem Urteil in der Rechtssache Arduino68 könnte also die Übertragung von Regelungsbefugnissen an private Wirtschaftsteilnehmer nach Artikel 3 68
Rs. Arduino (Fn. 54), Rn. 34.
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Abs. 1 Buchst. g, Art. 10 Abs. 2 und Art. 81 EGV anfechtbar sein, wenn der Staat nicht die Letztentscheidungsbefugnis behält und eine wirksame Kontrolle über die Anwendung ausübt. In der Rechtssache Arduino wird die Beteiligung der Berufsverbände an der Festsetzung von Gebührensätzen darauf beschränkt, dass der Vorschlag für eine Gebührenordnung vorgelegt werden kann und der zuständige Minister die Befugnis hat, die Gebührenordnung zu ändern und somit keine anfechtbare Übertragung an private Wirtschaftsteilnehmer erfolgt. Nach Auffassung der Kommission ist also die Übertragung von Regelungsbefugnissen, welche die mit der Regelung zu verfolgenden Ziele des Allgemeininteresses nicht klar definiert und/oder mit der der Staat effektiv auf seine Letztentscheidungsbefugnis oder die Ausübung einer Anwendungskontrolle verzichtet, anfechtbar. Gestützt auf die gesamten Grundsätze der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann Folgendes nach Auffassung der Kommission gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. g, Art. 10 Abs. 2, Art. 81 und 82 EGV angegriffen werden: – „Automatische Genehmigungen“ einschließlich einfacher Bestätigungen und stillschweigender Genehmigungen, die von den Mitgliedstaaten für Vereinbarungen oder Beschlüsse gegeben werden, bei denen die geltenden Rechtsverfahren keinen funktionierenden Interessenausgleich und/oder keine Konsultationen durch die Behörde vorsehen; – Vorgehensweisen, bei denen die Behörden eines Mitgliedstaates lediglich berechtigt sind, die Vorschläge der Berufsverbände abzulehnen oder zu bestätigen, ohne dass sie in der Lage sind, deren Inhalt zu verändern oder diese Vorschläge durch eigene Entscheidungen zu ersetzen.69 Um zu beurteilen, inwieweit wettbewerbswidrige Berufsregeln effektiv dem Allgemeininteresse dienen, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzuwenden. Dabei wäre es – so die Kommission – nützlich, dass jede Regel ein erklärtes Ziel verfolgt und erläutert wird, weshalb die gewählte Regulierungsmaßnahme am wenigsten einschneidend ist, um das erklärte Ziel effektiv zu erreichen. Wenn also ein Staat Maßnahmen erlässt oder beibehält, die gegen Art. 3 Abs. 1 Buchst. a, Art. 10 und 81 EGV verstoßen, können die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 und 227 EGV einleiten. Aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts sind die einzelstaatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden verpflichtet, innerstaatliche Regelungen unter Berücksichtigung der Gemeinschaftsvorschriften auszulegen 69 Zu Rechtsbedenken, ob unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Kommission die Instrumente der staatlichen Rechtsaufsicht einschließlich ihrer Konsultationskompetenz bei Beschlussfassung der berufsständischen Kammern ausreichen, siehe Kilian (Fn. 23), 810.
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und nötigenfalls mit dem Vertrag kollidierende Regelungen nicht anzuwenden. Nach dem bereits zitierten Urteil in der Rechtssache CIF70 gilt dies auch in Fällen, in denen die nationalen Wettbewerbsbehörden das Verhalten von Unternehmen untersuchen, die durch nationales Gesetz zu diesem Verfahren veranlasst werden. Schließlich können Personen, die durch die fraglichen staatlichen Maßnahmen beeinträchtigt werden, den Mitgliedstaat wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht verklagen. Im vorliegenden Bericht hat die Kommission ermittelt, welche regulativen Beschränkungen in den Freien Berufen den Wettbewerb am stärksten beeinträchtigen können, aber nach objektiven Maßstäben nicht gerechtfertigt sind. Die Kommission drängt darauf, dass diese Beschränkungen überprüft und – soweit sie nicht objektiv gerechtfertigt sind – aufgehoben oder durch weniger restriktive Regeln ersetzt werden. Der beste Weg, um einen tief greifenden Wandel zu erreichen, bestünde nach Auffassung der Kommission darin, dass diejenigen, die für die Festlegung der geltenden Beschränkungen verantwortlich sind, freiwillig tätig werden. Sie könnten den Reformbedarf in den jeweiligen Berufen und die Vereinbarkeit bestehender Regeln mit den Grundsätzen des Wettbewerbsrechts gründlich analysieren, wobei davon ausgegangen wird, dass restriktive Regelungen entweder unmittelbar vom Staat oder von den Berufsverbänden erlassen und durchgesetzt werden. Daher fordert die Kommission zunächst die Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten auf, die in ihre Zuständigkeit fallenden Gesetze oder Verordnungen zu überprüfen. Insbesondere wäre zu untersuchen, ob die geltenden Beschränkungen ein klar artikuliertes und legitimes Ziel des Allgemeininteresses verfolgen, ob sie notwendig sind, um dieses Ziel zu erreichen und ob es hierfür nicht weniger einschneidende Mittel gibt. Die Kommission fordert auch alle berufsständischen Einrichtungen auf, ihre Regeln und Vorschriften einer ähnlichen Überprüfung zu unterziehen. Sie sollten nach demselben Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgehen wie einzelstaatliche Regulierungsbehörden und erforderlichenfalls geltende Regeln ändern bzw. Änderungen vorschlagen. Nach In-Kraft-Treten der Verordnung (EG) Nr. 1/200371 im Mai 2004 werden die nationalen Wettbewerbsbehörden und die nationalen Gerichte eine wichtigere Rolle übernehmen, wenn es darum geht, die Rechtmäßigkeit von Regeln und Vorschriften für Freie Berufe zu bewerten. Sie werden selbst darüber entscheiden, ob eine Vereinbarung, ein Beschluss oder eine Verhaltensweise mit Art. 81 Abs. 1 EGV vereinbar ist und auch Art. 81 Abs. 3 EGV anwenden, der 70 EuGH, Rs. C-198/01, siehe dazu Koch, Harald/Eichele, Wolfgang, Auswirkungen des kartellrechtlichen CIF-Urteils des EuGH auf die Anwaltschaft, in: NJW 2004, 334 ff. 71 EG-VO Nr. 1/2003 v. 16.12.2002 zur Durchführung der in Art. 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln, AmtsBl. L 1 vom 04.01.2002, 1.
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eine Freistellung vom allgemeinen Verbot wettbewerbswidriger Vereinbarungen vorsieht. Soweit Wettbewerbsbeschränkungen schwerpunktmäßig einen Mitgliedstaat betreffen, soll die administrative Durchsetzung der EG-Wettbewerbsregeln für die Freien Berufe hauptsächlich Aufgabe der nationalen Wettbewerbsbehörden sein. Die Kommission kündigt an, über die Koordinierung des europäischen Wettbewerbsnetzes die Fortschritte zu überwachen und eine kohärente Anwendung der Art. 81 und 82 EGV sicherzustellen. Ein spezielles Marktmonitoring ist vorgesehen und wird zusammen mit einzelstaatlichen Wettbewerbsexperten sowie Sachverständigen der nationalen Regulierungs- und sonstiger Behörden durchgeführt. Des Weiteren regt die Kommission an, zusammen mit den nationalen Regulierungsbehörden zu erörtern, ob die geltenden Regelungen notwendig, verhältnismäßig und gerechtfertigt sind. Falls erforderlich schließt die Kommission in einer späteren Phase Vertragsverletzungsverfahren nicht aus. Die Europäische Kommission hat zum Jahresbeginn 2004 ihren seit langem erwarteten Richtlinienvorschlag über Dienstleistungen im Binnenmarkt vorgelegt.72 Mit ihrem Richtlinienvorschlag beabsichtigt die Kommission den Abbau administrativer und bürokratischer Hindernisse im EU-Binnenmarkt durch die Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2010, um grenzüberschreitende Dienstleistungen und die Gründung von Niederlassungen in anderen Mitgliedstaaten zu fördern. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sollen außerdem den Wettbewerb stimulieren und für die Nutzer der Dienstleistungen bessere Qualität, größere Auswahl und niedrigere Preise zur Folge haben. Zu den von der Kommission qualifizierten unzulässigen Anforderungen zählen z. B. langwierige und kostspielige Genehmigungs- und Zulassungsverfahren (Art. 9 ff.) oder die Registrierung bei Berufsorganisationen in mehreren Mitgliedstaaten (Art. 14 Nr. 2). Zu den noch von den Mitgliedstaaten zu prüfenden Anforderungen gehört das Verbot, auf ein und demselben Hoheitsgebiet mehrere Niederlassungen zu untersagen (Art. 15 Nr. 2e). Die Richtlinie gilt für sämtliche Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden, dazu zählen auch Dienstleistungen Freier Berufe. Bereits geltende einschlägige EU-Vorschriften bleiben von der Richtlinie allerdings unberührt. Im Wesentlichen enthält der Entwurf folgende für die Freien Berufe relevanten Regelungen: – Der Vorschlag sieht die Anwendung des Herkunftslandsprinzips vor (Art. 16), wodurch die Geltung unterschiedlicher nationaler Rechts- und Verwaltungsvorschriften vermieden werden soll. Dienstleistende hätten somit im Aufnahmestaat keine weiteren Vorschriften mehr zu erfüllen.
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Siehe den Überblick in NJW 2004/6 vom 02.02.2004 (NJW aktuell XII).
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– Es sollen einige Basisvorschriften eingeführt werden, wie eine Berufshaftpflichtversicherung für besonders risikoreiche Dienstleistungen (Art. 27). – Das Prinzip der Selbstverwaltung wird gestärkt, indem die Berufsorganisationen aufgefordert werden, europäische Verhaltenskodizes zu erarbeiten (Art. 39). – Für Gesundheitsdienstleistungen soll auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Kostenerstattung durch den Kostenträger im Heimatland für die Behandlung im EU-Ausland festgelegt werden. Auf Bedenken stößt vor allem die Anwendung des Herkunftslandsprinzips, da sich dadurch insgesamt das Problem der Inländerdiskriminierung und eines effizienten Patienten- bzw. Klientenschutzes verschärfen könnte. Die Generaldirektion „Gesundheit und Verbraucherschutz“ hat in der kommissionsinternen Abstimmung des Richtlinienentwurfs ein negatives Votum eingelegt. Unter anderem forderte sie eine Herausnahme der Gesundheitsberufe mit der Begründung, die Gesundheitssysteme seien in keinem der EU-Mitgliedstaaten rein marktwirtschaftlich organisiert, so dass ihre Kompatibilität mit den Freiheiten des Binnenmarktes gesonderte Regelungen erfordere. Es wird für die Zukunftsperspektiven der Freien Berufe und ihrer Selbstverwaltungen entscheidend sein, den Stellenwert ihrer berufsständischen Regelungen für die Erbringung innovativer Leistungen auf hohem qualitativem Niveau deutlich zu machen. Dies gilt für berufliche Qualifizierung und Qualitätssicherung ebenso wie für fachliche Unabhängigkeit, Sicherung sozial ausgewogener flächendeckender Leistungsversorgung, Verbraucher- bzw. Patientenschutz oder eine kostentransparente leistungsgerechte Vergütung. Angesichts der gesellschaftspolitischen Bedeutung Freier Berufe für eine freie europäische Bürgergesellschaft und der besonders sensiblen in die freiberufliche Dienstleistung involvierten Rechtsgüter dürfen freiberufliche Strukturen, die gerade diese Werte sichern, nicht dem einseitigen Kalkül ökonomischer Wettbewerbskriterien geopfert werden. Im Übrigen müssen schon im Hinblick auf den in den Verträgen (Art. 5 Abs. 2 EGV) und einer künftigen Europäischen Verfassung (Art. I-9 Abs. 3) verankerten Subsidiaritätsgrundsatz die unterschiedlichen gesundheits-, sozialund gesellschaftspolitischen Traditionen und Präferenzen, die auch für die Freien Berufe der Mitgliedstaaten strukturprägend sind, selbst unter immer stärker ökonomiebestimmten Rahmenbedingungen respektiert und in die gemeinschaftsrechtliche Kompetenzbalance zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten eingefügt werden.
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VIII. Gesundheitswesen und freiberufliche Selbstverwaltung als gemeinwohlorientierte Daseinsvorsorge Die Europäische Kommission hat am 21.05.2003 ein Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Daseinsvorsorge) vorgelegt.73 Ziel des Grünbuchs ist eine Neudefinition der Rolle der EU bei der Förderung einer hohen Qualität öffentlicher Dienstleistungen. Das Grünbuch betont die Notwendigkeit einer Debatte über die grundsätzliche Rolle der EU bei der Definition der Ziele der Daseinsvorsorge. Der Begriff der „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ist im Vertrag selbst nicht näher bestimmt, weshalb die Kommission eine Diskussion um diesen Begriff in Gang bringen möchte. Nach Vorstellung der Kommission soll der Begriff für jede wirtschaftliche Tätigkeit gelten, die mit der Gemeinwohlverpflichtung verknüpft ist.74 Auf gemeinschaftlicher Ebene findet sich der Begriff indirekt in Art. 16 und Art. 86 Abs. 2 EGV sowie in Art. 36 der Charta der Grundrechte. Art. 16 EGV hebt den Stellenwert der „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union“ sowie ihre Bedeutung bei der Förderung des territorialen und sozialen Zusammenhalts hervor. Die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste sollen durch die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten so gestaltet sein, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können. Art. 86 Abs. 2 EGV spricht von „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“, für die die Wettbewerbsvorschriften der Art. 81 ff. EGV nur insoweit gelten, als dadurch die Erfüllung der übertragenen besondern Aufgaben rechtlich oder tatsächlich nicht verhindert werden. In Art. 36 der Charta der Grundrechte ist festgehalten, dass die EU den Zugang zu „Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ anerkennt und achtet. In ihren Mitteilungen vom 26.09.1996 und 20.09.200075 hat die Europäische Kommission bereits Definitionen und Begriffe vorgegeben. Danach sind Leistungen der Daseinsvorsorge (oder gemeinwohlorientierte Leistungen) marktbezogene oder nicht marktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Behörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden. In Unterscheidung zu den in Art. 16 und 86 EGV verwendeten Begriffen stellt die Kommission in diesem Fall nicht nur auf marktbezogene Dienstleistungen ab. Nichtwirtschaftliche Tätigkeiten (z. B. Pflichtschulwesen und soziale Sicherheit) sowie hoheitliche Aufgaben, bei denen es um die Ausübung von Staatsaufgaben geht (insbesondere Sicherheit, 73
BR-Drucks. 413/03 vom 12.06.03. Siehe dazu Daseinsvorsorge und Wettbewerb der Europäischen Union, Schriften zur Europäischen Integration 02/02, 4. 75 Amtsbl. der EG v. 26.09.1996 Nr. C 281 3 ff.; Mitteilung der Kommission v. 20.09.2000 zu Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, KOM (2000) 580 endg. S. 5. 74
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Justiz) fallen laut dieser Kommissionsmitteilung zwar nicht unter das Europäische Wettbewerbs- und Kartellrecht. Betont wird auch, dass gemeinwohlorientierte Leistungen nichtwirtschaftlicher oder hoheitlicher Art nicht wie Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu behandeln sind. Die Gemeinschaft kann hier also – wie im Vertrag bekräftigt wird – lediglich ergänzend tätig werden. Insgesamt ist daher festzuhalten, dass die Verfolgung ausschließlich kultureller oder sozialer Belange nicht den vorgenannten europäischen Wettbewerbsregeln unterfallen, sehr wohl aber der Daseinsvorsorge allgemein zuzurechnen sind. Diesen Kriterien entsprechen gerade auch die Freien Berufe, weil sie nach nationaler Definition (§ 1 Partnerschaftsgesellschaftsgesetz) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 11.10.2001 – Rs C 267/99) ihre Dienstleistungen nicht nur im Interesse der Patienten, Mandanten und Klienten, sondern auch jeweils im Dienste und unter Bezugnahme auf Belange der Allgemeinheit erbringen. Die Selbstverwaltungen der Freien Berufe dienen unter anderem der Durchsetzung solcher Gemeinwohlbelange und Sozialbindungen freiberuflicher Tätigkeit. Dies gilt für Rechtsanwälte, die als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) den Zugang zum Recht und zu rechtsstaatlichen Verfahren sichern, ebenso wie für Ärzte (§ 1 BÄO) und Zahnärzte (§ 1 ZHG) bei der Ausübung ihres Berufs der medizinischen Versorgung der Bevölkerung oder für Apotheker, die bei der Sicherstellung der Arzneimittelversorgung (§ 1 ApothG) in staatliche Sozialpflichten eingebunden sind. Zahlreiche Aktivitäten der Freien Berufe wie Not- und Bereitschaftsdienste der Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Rechtsanwälte sind von vornherein als nichtwirtschaftliche, im Interesse der Allgemeinheit liegende Tätigkeiten einzustufen, weil diese von den Berufsgruppen aus primär wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht angeboten würden. Aber auch darüber hinaus entsprechen freiberufliche Dienstleistungen und deren Gewährleistung durch die Selbstverwaltungsinstitutionen den zentralen Prinzipien der Daseinsvorsorge im Sinne von Gemeinwohlverpflichtung, Gleichheit des Zugangs zur Dienstleistung sowie Kontinuität und Qualität der Dienstleistungserbringung. Dies gilt für die in Deutschland bestehende Systematik freiberuflicher Berufsrechte gerade auch im Hinblick auf die Gewährleistung des Zugangs zum Recht und zur Gesundheitsversorgung, die sowohl national wie europarechtlich Verfassungsrang haben. Nach der vorgenannten Begriffsbildung der Kommission kann der Bereich der Gesundheitsvorsorge den gemeinwohlorientierten/nicht marktbezogenen Leistungen der Daseinsvorsorge zugerechnet werden. Bestätigt wird dies durch Art. 152 Abs. 5 EVG, der im Bereich der öffentlichen Gesundheitsversorgung die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung „in vollem Umfang gewahrt“ sieht
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(Subsidiaritätsprinzip, vgl. Art. 5 EVG). Die Ausgestaltung der medizinischen Versorgung – auch durch die Freien Berufe (Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Hebammen etc.) – würde daher durch diese Vorschrift grundsätzlich erfasst und geschützt. Diese Sichtweise wird durch das Arbeitsdokument des Europäischen Parlaments über das Grünbuch zur Zukunft der Leistungen der Daseinsvorsorge in der EU vom 11.03.2003 bestätigt, das den gemischten Charakter der Leistungen der Daseinsvorsorge hervorhebt.76 Marktbezogene und nicht marktbezogene Tätigkeiten überlagern sich in den nationalen Systemen demnach – so z. B. im Bereich der Bildung, der Gesundheit, der sozialen Sicherheit. Das Europäische Parlament hat in seinem Arbeitsdokument für das Grünbuch zur Zukunft der Leistungen der Daseinsvorsorge der EU vom 11.03.2003 daher zu Recht betont, dass Tätigkeiten im Bereich der Daseinsvorsorge eine besondere Regelung erfordern. Angesichts der Bedeutsamkeit von Dienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge wäre es sachgerecht, die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten der EU für die Ausgestaltung der Daseinsvorsorge beizubehalten. Dem steht der Verfassungsentwurf für die EU entgegen, der unter Art. III-3 S. 2 eine Kompetenz der EU für die Festlegung der „Grundsätze und Bedingungen“ der Daseinsvorsorge schaffen will. Die Europäische Kommission stellt in ihrem Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom 21.05.2003 die Frage nach der Zuständigkeit der EU und gegebenenfalls des rechtlichen Rahmens auf europäischer Ebene. Da ein Bedarf für eine Änderung der bisherigen Zuständigkeitsabgrenzung im Sinne des Art. 16 EGV – wie auch aus diesem Dokument ersichtlich ist – nicht besteht, widerspricht eine Kompetenzverlagerung auf die EU dem Subsidiaritätsprinzip.77 IX. Die „Offene Methode der Koordinierung“ als gesundheitspolitisches Steuerungsinstrument In ihrer Mitteilung vom 16.05.2000 kündigt die Kommission eine „breit angelegte gesundheitspolitische Strategie der Gemeinschaft“ an mit dem Ziel, „in allen Bereichen ihrer Politik ein kohärentes und effektives Konzept in Gesund76 Arbeitsdokument des EP v. 11.03.2003 zum Grünbuch „Daseinsvorsorge“ PE 323. 139, S. 4. 77 Siehe dazu auch Terwey, Franz-Josef, Die Koordinierung der Sozialpolitik in der EU wird gestrafft, in: DAngVers 2003, 515 ff., 517, der zu Recht darauf hinweist, dass eine Gesetzgebungskompetenz der EU hinsichtlich Organisation und Finanzierung von Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse dazu führen wird, dass Fragen der Unternehmenseigenschaft von Sozialversicherungsträgern und berufsständischen Organisationen sowie der Erbringung von Gesundheits- und Sozialleistungen künftig vom europäischen Gesetzgeber beantwortet und die Gestaltungskompetenzen der Mitgliedstaaten wesentlich eingeschränkt werden.
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heitsfragen zu berücksichtigen“ [KOM (2000) 379 endg.]. Auf der Grundlage des Art. 152 EGV und der Beschlüsse des Europäischen Rates von Lissabon über eine sozialpolitische Agenda strebt die Europäische Union mit der „Offenen Methode der Koordinierung“ an, die unterschiedlichen Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf ihrem Weg zu einer Konvergenz quantitativ und qualitativ zu unterstützen. Die EU-Kommission beschreibt in ihrer Mitteilung vom 05.12.2001 die Herausforderung für alle Mitgliedstaaten, die Ziele der – Sicherung des allgemeinen Zugangs zu medizinischen Leistungen, – Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung und – Stabilisierung der nachhaltigen Finanzierbarkeit der Gesundheitssysteme gleichzeitig zu erfüllen. Nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Lissabon umfasst die praktische Umsetzung der „Offenen Methode der Koordinierung“ (OMK) die folgenden Schritte: – „Festlegung von Leitlinien für die Europäische Union mit einem jeweils genauen Zeitplan für die Verwirklichung der kurz-, mittel- und langfristigen Ziele; – gegebenenfalls Festlegung quantitativer und qualitativer Indikatoren und Benchmarks im Vergleich zu den Besten der Welt, die auf die in den einzelnen Mitgliedstaaten und Bereichen bestehenden Bedürfnisse zugeschnitten sind, als Mittel für den Vergleich der bewährten Praktiken (,best practice‘); – Umsetzung dieser europäischen Leitlinien in die nationale und regionale Politik durch Entwicklung konkreter Ziele und den Erlass entsprechender Maßnahmen durch Berücksichtigung der nationalen und regionalen Unterschiede; – Monitoring und Review im Rahmen regelmäßiger Konsultationen und des Austauschs von Erfahrungen. Gegenseitige Evaluation der Reformschritte. Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip wird nach einem dezentralen Ansatz vorgegangen, so dass die Union, die Mitgliedstaaten, die regionalen und lokalen Ebenen sowie die Sozialpartner und die Bürgergesellschaft im Rahmen unterschiedlicher Formen von Partnerschaften aktiv mitwirken.“78 Die „Offene Methode der Koordinierung“ stellt ein eigenständiges, nichtrechtliches Einwirkungsverfahren zur mittelbaren Gestaltung der nationalen Sozialschutzsysteme dar, welches unabhängig von den grundsätzlich bei der Euro78 Zur offenen Methode der Koordinierung siehe Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung: Die Methode der „offenen Koordinierung“ in der Europäischen Sozial- und Gesellschaftspolitik: Prozeßgesteuerte Konvergenz der Sozialsysteme durch Vereinbarung gemeinsamer Ziele und Indikatoren. GVG-Infodienst 281 und 286, 2001 und 2002; Schulz (Fn. 1), S. 264 ff.
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päischen Kommission angesiedelten Initiativbefugnissen praktiziert wird, indem es die einzelstaatlich verantwortlichen Akteure einem transnationalen Steuerungsprozess nach Art des „management by objectives“ unterwirft und als Kategorie des „Soft law“ neben die vertraglichen Prozeduren tritt. Die Gefahr einer „sanften“ Überlagerung und Erosion nationalstaatlicher Kompetenzen in den betroffenen Sektoren ist allerdings nicht auszuschließen.79 Durch verstärkte politische Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten im Rat – auf der Grundlage eines organisierten bzw. strukturierten Austauschs von Informationen, Erfahrungen und bewährten Verfahren – soll ein höheres Maß an Transparenz hinsichtlich notwendiger Reformschritte in den nationalen Sozial- und Gesundheitspolitiken erreicht und so die Konvergenzentwicklung der Einzelsysteme vorangetrieben werden.80 Die Anwendung der Offenen Methode der Koordinierung in den Sozialschutzbereichen ist unterschiedlich weit entwickelt: In den Bereichen „soziale Eingliederung und Bekämpfung der Armut“ und „Renten“ wurden schon Indikatoren erarbeitet. Gleiches gilt für den Querschnittsbereich „bessere Arbeitsplätze“ (Arbeitsschutz). Im Bereich „Gesundheitswesen und Altenpflege“ gibt es auf europäischer Ebene bislang keine OMK, sondern einen so genannten „kooperativen Austausch“. Am 27.05.2003 [KOM (2003) 261] hat die Kommission eine Mitteilung zur Stärkung der sozialen Dimension der Lissabonner Strategie veröffentlicht, in der sie eine Straffung („Streamlining“) der offenen Koordinierung im Bereich Sozialschutz vorschlägt.81 Das Mandat hierzu hatte der Europäische Rat auf seiner Frühjahrstagung in Brüssel erteilt. Die Mitteilung wurde dem Rat, dem Europäischen Parlament, dem Wirtschafts- und Sozialausschuss und dem Ausschuss der Regionen zur Stellungnahme zugeleitet. Streamlining oder „Straffung“ – so wie in der Mitteilung der Kommission beschrieben – bezieht sich auf die Koordinierungsprozesse in drei Politikbereichen: – „Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten“ mit der „Europäischen Beschäftigungsstrategie“. Dies wurde bereits beschlossen, und es existiert ein Zeitplan in Form eines Dreijahreszyklus (2003–2005); – „Koordinierung der Sozialschutzpolitiken (also zwischen den Themenbereichen „soziale Eingliederung und Bekämpfung der Armut“, „Renten“, „Gesundheitswesen und Altenpflege“ und „Arbeit lohnend machen“); sowie – Koordinierung von Sozialschutzpolitik mit den benachbarten Politikfeldern Wirtschaftspolitik und Beschäftigungspolitik. Die Mitteilung spricht in Bezug 79
Vgl. die kritische Position der GVG (Fn. 78). Siehe auch Bertelsmann-Stiftung (Fn. 1), S. 21 ff. 81 Zum „Streamlining-Prozess“ als Straffung der diversen „Koordinierungspolitiken“ der Gemeinschaft siehe Terwey (Fn. 77), 515. 80
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auf diesen letzten Bereich auch von „Dreiecksbeziehung“ bzw. „circulus virtuosus“ oder „politischem Dreieck“. Für diese genannten Sektoren wird ein integrierter und gestraffter Prozess der Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten vorgeschlagen, in dem eine Vereinfachung und Optimierung (Vermeidung von Doppelarbeit) der Arbeiten auf EU-Ebene – dies auch im Hinblick auf die EU-Erweiterung – herbeigeführt werden soll. Die Stärkung und Vereinfachung des Prozesses der Offenen Methode der Koordinierung im Sozialschutzbereich soll in einem ersten Schritt die Definition eines kohärenten Bündels gemeinsamer Ziele sein: gemeinsame Ziele für die Bereiche „soziale Eingliederung und Bekämpfung der Armut“, „Renten“ und „Gesundheitswesen und Altenpflege“ sollen die derzeit bestehenden separaten Zielbündel bzw. begonnenen kooperativen Austauschprozesse ersetzen. Entsprechend ist – anstelle der derzeit separaten Berichte für die einzelnen Bereiche des Sozialschutzes – die Erstellung eines einzigen Berichts geplant, den die Mitgliedstaaten künftig vorzulegen haben. Die einzelnen nationalen Berichte sollen dann einfließen in einen gemeinsamen Sozialschutzbericht der Kommission und des Rates. Wie bereits heute für die wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Koordinierungsprozesse vorgesehen, werden Kommission und Rat dann künftig auch im Bereich des Sozialschutzes alle drei Jahre einen vollständigen Bericht und in den Jahren dazwischen kurze Aktualisierungen vorlegen, wobei der Politikbereich Gesundheitswesen zunehmend einbezogen wird.82 Die Definition von Zielen und Leitlinien, Indikatoren und Benchmarks sowie deren regelmäßige Überwachung, Bewertung und Evaluierung werden langfristig auch auf das deutsche Gesundheitswesen und die zahnärztliche Versorgung einwirken, zumal der Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages dieses Instrument nach langen Diskussionen in die Kompetenzordnung europäischer und nationalstaatlicher Regelungsbefugnisse aufgenommen hat. Für den Sozial- und Gesundheitsbereich enthält der Verfassungsentwurf wenig substantielle Änderungen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage, zumal es in der Arbeitsgruppe „Soziales Europa“ des Konvents einen relativ breiten Konsens dahingehend gegeben hatte, dass die Kompetenzen im Sozial- und Gesundheitsbereich weitgehend unverändert bleiben.83 Lediglich der das Gesundheitswesen betreffende Artikel des Verfassungsentwurfs (Art. III-174, Ex-Art. 152) wurde „modifiziert“, indem er den „ergänzenden“ Zuständigkeiten zugeordnet 82
Vgl. Terwey (Fn. 77), 516. Zu den gesundheits- und sozialpolitischen Regelungen im Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages siehe Busse, Reinhard, Neue Verfassung – Neue Sozialpolitik?, in: G + G 2004, 34 ff. 83
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und somit kompetenziell „hochgezont“ wurde und eine Unionszuständigkeit zur Bekämpfung weitverbreiteter schwerer Krankheiten in die ansonsten unveränderten Artikel eingefügt wurde. Neu im Entwurf ist die in den Arbeitsgruppen und im Konventplenum strittig gebliebene Einführung der „Offenen Methode der Koordinierung“ in den Politikbereichen Sozialpolitik und Öffentliches Gesundheitswesen (Art. III-192, ExArt. 140). Danach soll die Kommission in enger Verbindung mit den Mitgliedstaaten im Wege von Initiativen tätig werden, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und Bewertung auszuarbeiten, wobei das Europäische Parlament „in vollem Umfang unterrichtet“ werden soll. Diese eine informelle Koordinierungskompetenz beinhaltende Generalklausel soll im Bereich der gesamten Sozialpolitik einschließlich der Fragen der sozialen Sicherheit und für den Gesundheitsschutz bei der Arbeit gelten und in gleicher Weise auf die Kompetenzen im Bereich des Gesundheitswesens der EU Anwendung finden (Art. III-174, Ex-Art. 152). Trotz formaler Wahrung der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens und des zentralen Verfassungsprinzips der Subsidiarität84 ist die Eigendynamik einer solchen prozessgesteuerten Konvergenz in ihren künftigen Auswirkungen auf die zahnärztliche Versorgung nicht zu unterschätzen. X. Zukunftsperspektiven Freier Heilberufe im Kontext gemeinschaftlicher Markt- und Wettbewerbsregeln Mit Blick auf die bisherigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen haben die EU-Gesundheitsminister unter dem Arbeitstitel „Reflexionsprozess auf hoher Ebene über die Patientenmobilität und die Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union“ einen hochrangigen Beraterkreis eingesetzt. Das Expertengremium tagt seit Anfang 2003 regelmäßig. Es hat die Aufgabe, ein „gemeinsames Leitbild für das Gesundheitswesen in Europa“ zu entwerfen, in dessen Rahmen aber die Zuständigkeit der Einzelstaaten für die Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme unangetastet bleibt.85 Das Gremium setzt sich aus den Gesundheitsministern der Mitgliedstaaten und ihren Mitarbeitern sowie Vertretern der wichtigsten europäischen Interessengruppen des Gesundheitswesens zusammen. Ferner sind auch Vertreter des Europäischen Parlaments und der Regierungen der Beitrittsländer eingebunden. Die Moderation der Sitzungen
84 Zur Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips im Hinblick auf sozialpolitische Ziele und Instrumente der Union siehe Schulz (Fn. 1), S. 213 ff. 85 Siehe hierzu Terwey (Fn. 77), 517 f.
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und die Arbeit des Sekretariats wird von der Europäischen Kommission (Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz) wahrgenommen. Die inhaltliche Diskussion im Rahmen des hochrangigen Reflexionsprozesses wurde bisher in vier Arbeitsgruppen geleistet, die nach folgenden Themenbereichen gegliedert sind: – Europäische Zusammenarbeit zur besseren Nutzung von Ressourcen, – Informationsbedarf von Patienten, Leistungserbringern und politischen Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen, – Zugang zur Gesundheitsversorgung und Qualität der Versorgung, – Vereinbarkeit innerstaatlicher Gesundheitspolitik mit europäischem Recht. Erste Vorschläge liegen jetzt in Form eines von der Europäischen Kommission verfassten „Syntheseberichts“ vor: Durch eine Intensivierung der transnationalen Zusammenarbeit soll den Erwartungen von Versicherten und Patienten besser entsprochen werden. Vor allem sollen sie erleichterten Zugang zur europaweiten Gesundheitsversorgung erhalten. Auf diese Weise soll zugleich auch die Freizügigkeit der Bürger in Bezug auf Reise, Studium, Arbeit und Wohnort erleichtert werden. Diese und ähnliche Verbesserungen müssen freilich die grundlegenden Prinzipien wahren, die allen Gesundheitssystemen der EU gemeinsam sind, nämlich Universalität, Angemessenheit, Solidarität und finanzielle Tragfähigkeit. Der Ausgang und die tatsächlichen Ergebnisse der Initiative im Einzelnen bleiben abzuwarten. Der Bericht wird von den Beteiligten im weiteren Verlauf des Reflexionsprozesses inhaltlich und redaktionell überarbeitet werden – speziell hinsichtlich der konkreten Vorschläge zur Verbesserung der Patientenmobilität in Europa –, um dann als Kommissionsmitteilung offiziell dem Europäischen Rat zur politischen Beschlussfassung vorgelegt zu werden. Nach allgemeiner Ansicht dürften sich die Realisierungschancen der Vorschläge auf einige wenige ausgewählte Komplexe reduzieren. Hierzu wird vermutlich die Einrichtung von Europäischen Referenzzentren zählen, in denen entweder spezielle seltene Krankheiten behandelt oder spezielle Behandlungsmethoden angeboten werden könnten. Ferner haben die Bildung von „Netzwerken“ zum Umgang mit Fragen der Menge und Qualität grenzüberschreitender Behandlungen sowie die Einrichtung von entsprechenden Datenbanken der EU durchaus Chancen einer Konkretisierung. Fraglich ist noch, ob auch der Vorschlag der Schaffung eines gemeinschaftlichen „Rechtsrahmens“ zur Organisation grenzüberschreitender Inanspruchnahme von Leistungen weiter verfolgt wird. Schließlich steht bislang die Erörterung von zwei weiteren Themenblöcken noch aus, nämlich die Auswirkungen der mittel- und osteuropäischen Erweiterung der EU sowie Mobilitätsfragen bei den Leistungserbringern im Ge-
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sundheitsbereich. Dennoch wird die Bandbreite deutlich, die künftig die gesundheitspolitischen Debatten in Europa bestimmen wird.86 Dass bei dieser Diskussion die Freien Berufe und insbesondere auch die Freien Heilberufe einschließlich der Zahnärzte eine besondere Rolle spielen werden, wird in einer gemeinsamen fraktionsübergreifenden und mit überwältigender Mehrheit angenommenen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16.12.2003 zu „Marktregelungen und Wettbewerbsregeln“ für die Freien Berufe deutlich. In dem Entschließungsantrag werden die Freien Berufe als ein Stützpfeiler des Pluralismus und der Unabhängigkeit der Gesellschaft anerkannt. Es heißt, sie sollten weitgehend im Interesse des Verbrauchers und der Qualität der Dienstleistungen für einen Wettbewerb national und europaweit geöffnet werden bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Kammerwesens bzw. der Berufsvereinigungen unter Beachtung des jeweils unterschiedlichen Berufsrechts. Die Kommission wird bei ihrer Überprüfung der Freien Berufe aufgerufen, den besonderen Charakter der einzelnen Berufsordnungen vor dem Hintergrund des öffentlichen Interesses zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang unterstreichen die Abgeordneten „die Bedeutung von Regeln, die im spezifischen Kontext jedes Berufs erforderlich sind, um Unparteilichkeit, Kompetenz, Integrität und Verantwortung der Angehörigen dieses Berufsstandes zu gewährleisten“ (2). Sie verweisen darauf, dass ein Verband „nur dann den Wettbewerbsregeln unterliegt, wenn er ausschließlich im Interesse seiner Mitglieder handelt“ (3) und dass berufsständische Vereinigungen generell „weder ein Unternehmen noch eine Unternehmensgruppe im Sinne von Artikel 82 des EG-Vertrages“ (4) darstellen. Sie beziehen sich auf die „Notwendigkeit, die (hohen) Qualifikationen zu schützen, die die freien Berufe zum Wohle der europäischen Bürger auszeichnen, sowie auf die Notwendigkeit, ein besonderes, auf Vertrauen begründetes Verhältnis zwischen den freien Berufen und ihren Kunden zu schaffen“ (5). Dabei sollten „die freien Berufe im Gesundheitssektor besonders berücksichtigt werden (. . .), um zu gewährleisten, dass die Grundsätze von Artikel 152 des EG-Vertrages eingehalten werden“ (6). Abschließend vertreten die Abgeordneten die Ansicht, „dass die besonderen Merkmale des Marktes für freiberufliche Dienstleistungen eine angemessene Regulierung erfordern“ (10). Im besonderen Kontext eines jeden Berufsstandes seien „Regeln generell notwendig (. . .), insbesondere solche, die sich auf die Organisation, die Qualifikation, die Standespolitik, die Überwachung, Haftung, Unparteilichkeit bzw. den Sachverstand der Berufsangehörigen beziehen oder die Interessenkonflikte und irreführende Werbung verhindern sollen“, sofern sie einerseits „dem Endverbraucher die Sicherheit geben, dass die notwendigen Garantien im Hinblick auf die Integrität und die Erfahrung gegeben sind“ und andererseits „keine Wettbewerbsbeschränkungen darstellen“ (11). 86
So Terwey (Fn. 77), 518.
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Die Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem Hintergrund des EU-Verfassungsvertrages und der EU-Erweiterung wird zeigen, ob sich diese Entwicklungstendenz verstetigt, die auch der Einschätzung der Generaldirektion für den Binnenmarkt entspricht, nach der „das Europäische Gemeinschaftsrecht einen Rahmen setzt, in dem sich das Berufsrecht der freien Berufe und ihrer Selbstverwaltungsorganisation weiter entwickeln kann, in dem es exportfähig ist und in dem es auch Modell für eine Ordnung des Berufsrechts in Europa werden könnte“.87 Freiberufliche Strukturen fügen sich in das Werte- und Organisationsgefüge der EU und insbesondere des Europäischen Verfassungsvertrages ein, weil sie die Mitwirkung der Unionsbürger an den betreffenden staatlichen Aufgaben fördern und durch das von ihnen entwickelte Berufsrecht und Berufsethos Ordnungsfunktion im Binnenmarkt gerade auch im Hinblick auf den Verbraucherbzw. Patientenschutz übernehmen. Die von Art. 34 des EU-Verfassungsentwurfs angestrebte Förderung demokratischer, freiheitssichernder Partizipation findet gerade im deutschen Modell der freiberuflichen Selbstverwaltung mit seinen demokratisch legitimierten Mitwirkungsmöglichkeiten und seinem auf Subsidiarität, auf Sach- und Bürgernähe fußenden Deregulierungs- und Dezentralisierungspotential seine idealtypische Entsprechung.88
87 Vgl. das Zitat von Fröhlinger, FAZ Nr. 287 v. 10.12.2002, S. 18 bei Tettinger (Fn. 38), S. 75. 88 So auch Kluth (Fn. 56), S. 101. Zu den gemeinschaftsrechtlichen und europapolitischen Perspektiven für das deutsche Gesundheits- und Sozialwesen, insbesondere die freien Heilberufe und ihre Selbstverwaltung siehe nunmehr auch den Überblick bei Tiemann, Burkhard, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union, 2005.
Mut zur Verantwortung – für ein freiheitliches Gesundheitswesen Von Detlef Parr Wir alle hätten uns gewünscht, dass ein uns leider geläufig gewordener Satz zukünftig der Vergangenheit angehört: Nach der Reform ist vor der Reform. Dieser traurigen Tatsache stehen wir durch eine nun schon seit 25 Jahren betriebene Kostendämpfungspolitik im Gesundheitswesen gegenüber. Und an dieser Tatsache wird sich auch durch die jüngste Reform, an deren Ende wir nun stehen, nichts ändern. Die Halbwertzeit der Reformen der Bundesregierung ist aber immer kürzer geworden. Wieder ging es darum, kurzfristig Löcher zu stopfen und nicht nach einer nachhaltigen Strategie zu suchen. Obwohl die Chance, parteiübergreifend und im Konsens diese Frage anzugehen, dagewesen ist. Doch auch diesmal haben tagespolitische Motive gegenüber nachhaltigen Lösungen dominiert. Und wir haben lernen müssen, dass von einer Großen Koalition wohl nichts anderes zu erwarten ist. Einer Verantwortung können wir Politiker uns jedoch nicht entziehen: Wir können nicht, wenn wir das Jahr 2020 schreiben und der Generationenvertrag gänzlich an sein Limit gestoßen sein wird, sagen: Das haben wir nicht gewusst. Zu viele Studien und Berechnungen belegen, was geschieht, wenn wir uns heute den Herausforderungen der Zukunft nicht stellen, wenn wir nicht den notwendigen Mut aufbringen. Die Enquete-Kommission „Demografischer Wandel“ hat die Problematik in der letzten Wahlperiode veröffentlicht: Die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung steigt weiter an. Immer mehr Menschen werden immer älter. Waren 1990 rund 20% der deutschen Bevölkerung 60 Jahre und älter, so wird dieser Prozentsatz im Jahre 2020 auf ca. 27% und im Jahr 2030 auf rund 35% steigen. Während die Quote von Beitragssatzzahlern zu Rentnern heute noch etwa 2:1 beträgt, wird sie im Jahr 2030 1:1 betragen. Den Teufelskreis weniger Einnahmen aufgrund weniger Beitragszahler, steigender Ausgaben durch Leistungen, die nicht nur länger, sondern im höheren Alter auch in steigendem Ausmaß in Anspruch genommen werden, Ausweitungen von Leistungen durch den medizinisch-technischen Fortschritt wird sich nicht auflösen lassen, wenn wir das System nicht vom Kopf auf die Füße stellen. In dem Moment, als die Regierung die Rürup-Kommission beauftragte, die Finanzierungsprobleme anzugehen, hat sie sich schon von einer nachhaltigen
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Gesundheitsreform verabschiedet. Deren Mitglieder sind in einen Schaukampf, nichts als Schaukampf geschickt worden, der zum Scheitern verurteilt war. Die Regierung kümmerte sich um die so genannten Strukturprobleme und überließ die Nachhaltigkeit der um Öffentlichkeit buhlenden Expertenrunde. Seit Beginn der rot-grünen Regierung ist der Bevölkerung systematisch eingeredet worden, dass unser Gesundheitswesen schlecht und ineffizient sei. Deshalb läge das Rezept in einer Verbesserung der Qualität und Mobilisierung der vermeintlich hohen Wirtschaftlichkeitsreserven. Welcher Vertrauensschaden ist vor allem bei den Patienten durch die ständige Betonung der Über-, Unter- und Fehlversorgung entstanden! Die Leistungserbringer sind stigmatisiert worden als ineffizient arbeitende und schlecht ausgebildete Faktoren in unserem Gesundheitswesen. Ärzte wurden mit Toastern gleichgesetzt. Erinnern Sie sich noch, dass die Notwendigkeit der Einrichtung eines Ärzte-TÜVs mit der erfolgreichen Arbeit von Stiftung Warentest begründet wurde? Ein absurder Vorgang! Die Tatsache, dass unserem Gesundheitswesen die Mitarbeiter davon laufen – frei nach Schiller’s „Glocke“: alles rennet, rettet, flüchtet – und wir unsere Anstrengungen vielmehr darauf verlegen müssen, die Arbeitssituation attraktiver zu gestalten, wurde von der Regierung ignoriert. Ebenso wie die Berechnungen, dass unser System nicht an einer Kostenexplosion, sondern an einem Einnahmerückgang aufgrund wirtschaftlicher Gesamtzusammenhänge leidet, die nicht zuletzt hausgemacht sind. Das Heil wurde gesehen in der Entmachtung der Ärzte, einer Verstaatlichung der Qualitätssicherung der Medizin und einem Wandel der Apothekenlandschaft heutiger Prägung durch Einführung von Mehrbesitz und Versandapotheken. Der Einfluss der Lobbyisten sollte eingedämmt werden. Als ob Krankenkassenvertreter oder die Investoren für Apothekenketten, Versandhandel und die geplanten Gesundheitszentren nicht ebenso Interessenvertreter wären. Es gibt keinen Beweis dafür, dass das Gesundheitswesen durch die Abschaffung der Kassenärztlichen Vereinigungen und die Einführung von Einzelverträgen billiger würde. Es gibt noch nicht einmal einen Beweis dafür, dass eine hausarztzentrierte Versorgung das System preiswerter macht. Und dass Krankenkassen bei Vertragsverhandlungen eher auf Qualität als auf den Preis achten würden, halte ich aufgrund des politischen Drucks, im Hinblick auf die Monstranz Beitragssatzstabilität, für ein Gerücht. Als trauriges Resümee des jetzigen Entwurfs kann immerhin festgestellt werden: Ohne Konsens wäre es noch schlimmer gekommen. Denn die Regulierungs- und Verstaatlichungsphilosophie von Rot-Grün, das tiefe Misstrauen gegen die Leistungserbringer und der blinde Gehorsam gegenüber den Kassenverbänden fanden sich ja ungeschminkter und dreister im Ursprungsentwurf.
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Doch die große Chance zu einem zukunftsträchtigen Umsteuern ist mit dieser Reform vertan worden. Der große Kompromiss ist wieder nur ein kleiner Wurf geworden – ein kurzfristiger Versuch, die katastrophale Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in den Griff zu bekommen. Kein Konzept für eine nachhaltige Reform. Ergebnisse einer Koalition der Schlitzohren – wie die Rheinische Post schrieb. Bei 5 Millionen Arbeitslosen kann sich eine Oppositionspartei nicht auf Blockadepolitik ausruhen. Deshalb haben wir Liberalen uns auf das Konsensverfahren zunächst eingelassen. Gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Dieter Thomae hatte ich das Vertrauen der Partei an dieser Runde teilzunehmen. Uns stellt sich jetzt die Frage: War das Verfahren, das zum Erfolg verdammt war, die eleganteste Methode unserer Demokratie, mit Mehrheitsverhältnissen umzugehen? Kaum Vorbereitungszeit, ein enormer Zeitdruck, fehlende Transparenz und mangelnde Einbindung des Parlaments lassen im nachhinein mehr daran zweifeln. Entscheidendes Ziel der Liberalen war es, mit der Reform durch Beitragssatzsenkung und Festschreibung des Arbeitgeberanteils eine echte Erleichterung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu schaffen, um den Teufelskreis von steigender Arbeitslosigkeit und daraus resultierenden Einnahmeverlusten für das Krankenversicherungssystem zu durchbrechen. Sozial ist, was Arbeit schafft! Gleich wichtig war uns die Sorge um die Generationengerechtigkeit. Sie ist unserer Einschätzung nach nur realisierbar durch mehr Kapitaldeckung und weniger Umlage. Das Ergebnis ist schwach. Es zeigt zu sehr in eine falsche Richtung, als dass wir es mit tragen könnten. Denn wir haben weder eine saubere Finanzierungsgrundlage noch einen minimalen Ansatz für einen Weg in eine nachhaltige Kehrtwende des Systems erarbeiten können. Zu Beginn der Verhandlungen war die Rede von erforderlichen Einsparungen in Höhe von 20 Milliarden Euro. Das Jahr für Jahr wachsende Defizit, die Verschuldung der Krankenkassen – dem Vernehmen nach mittlerweile bereits zwischen drei und vier Milliarden Euro – und die Finanzierung des medizinisch Notwendigen bei abgesenkten Beiträgen sollten so gemeistert werden. Davon sind jetzt offiziell knapp 10 Milliarden Euro übrig geblieben. Aber nicht einmal die werden zu realisieren sein. So richtig auch aus unserer Sicht die Herausnahme der versicherungsfremden Leistungen aus der GKV ist: die Erhöhung der Tabaksteuer wird gerade einmal die Hälfte der Finanzierungslücke in Höhe von 4,5 Milliarden Euro kompensieren können. Herr Eichel und auch Frau Schmidt haben uns bisher nicht verraten, woher das weitere Geld zur Gegenfinanzierung kommen soll. Im Gegenteil: Es findet ein heftiger Streit zwischen den beiden statt.
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Die Ausgliederung der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel wird – wenn überhaupt – nur geringe Einsparungen bringen, keinesfalls aber eine Milliarde Euro. Dafür werden die Ausnahmen, die übrigens auch wir für sinnvoll halten, sowie die Substitutionseffekte schon sorgen. Bei den Zuzahlungen hat man sich nach der Verabschiedung der Eckpunkte noch einmal auf Änderungen verständigt. Auch diese finden prinzipiell unsere Zustimmung. Dadurch kommt jedoch weniger Geld in die Kassen. Zukünftige Belastungen, die auf die GKV zukommen, werden erst gar nicht berücksichtigt. Man tut so, als ob mit einer Verlagerung der Behandlungspflege in den Heimen von der Pflegeversicherung in die Krankenversicherung nicht zu rechnen sei. Dass die Umsetzung des Arbeitszeit-Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Ärzte in Krankenhäusern Geld kostet, wird lieber negiert. Woher sollen die Kosten für die Einführung der Versichertenkarte kommen? Auch der medizinische Fortschritt wird nicht dem nun gefundenen Kompromiss zuliebe seine ausgabensteigernden Wirkungen verlieren. Eine deutliche Absenkung der Beitragssätze wird auf der Grundlage dieser Reform nicht erfolgen. Der Impuls für die Wirtschaft zur Schaffung neuer Arbeitsplätze wird entfallen. Wir Liberale hätten uns den mutigen Schritt einer konsequenten Ausgliederung von Leistungen gewünscht. Krankengeld, private Unfälle und Zahnbehandlung sind denkbare Bereiche, die in die private und vor allem kapitalgedeckte Versorgung hätten überführt werden können. Mit diesem Mut blieb die FDP allein. Nur so hätten wir die Herausforderung, Einsparungen in Höhe von 20 Milliarden Euro zu erreichen, gemeistert. Stattdessen hat man sich zurückgezogen auf die Hoffnung, durch Fortsetzung der Budgetierung und halbherzige Strukturveränderungen Einsparungen erzielen zu können. Lediglich eines hat einen gewissen Anklang gefunden: Die nun schon seit Jahren vorgetragene liberale Forderung nach Stärkung der Eigenbeteiligung. Aber auch hier wieder: Bürokratie, Bürokratie, Bürokratie. Wir hätten uns gewünscht, dass die prozentuale Selbstbeteiligung konsequenter umgesetzt worden wäre. Mit unserer Forderung nach Kostenerstattung hätte sich diese auch in der ambulanten Versorgung umsetzen lassen. Jetzt wird die Praxisgebühr fällig. Aber Praxen sind doch kein Inkasso-Unternehmen der Krankenkassen. So haben wir uns die von uns geforderte Wiederbelebung von Freiberuflichkeit nicht vorgestellt. Den Leistungserbringern weht dagegen auch in diesem Gesetz ein Wind des Misstrauens entgegen: Den Korruptionsbeauftragten bei der Bundesregierung konnten wir immerhin raus verhandeln, aber Wirtschaftlichkeitsprüfungen, Verordnungskontrollen, Regressandrohungen und Korruptionsbekämpfungsstellen lassen nur noch wenig Raum für den freiberuflichen Geist der niedergelassenen Ärzte. Ganz zu schweigen von dem überbürokratisierten Vergütungssystem, in dem jeder Arzt nur eine geregelte Leistungsmenge erwirtschaften darf. Die Kas-
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senärztlichen Vereinigungen werden noch stärker zu einer staatlichen Auftragsbehörde, die Vertragsärzte unter ihnen zu kontrollierten, reglementierten Erfüllungsgehilfen im Gesundheitswesen. Wie sollen sie da noch Partner ihrer Patienten bleiben? Mit Freiberuflichkeit hat dies nur noch wenig zu tun. Die geplante Einrichtung medizinischer Versorgungszentren mit bevorzugt angestellten Ärzten wird die ambulante Versorgung im Laufe der nächsten Jahre massiv verändern. Subtil ist dies in dem Gesetzentwurf eingeplant: Versorgungszentren werden von der Bedarfsplanung und den morbiditätsorientierten Regelleistungsvolumina ausgenommen. Da liegen klare Wettbewerbsvorteile. Ob diese allerdings das System preiswerter machen, darf bezweifelt werden. Die Versorgung der Patienten wird sich jedenfalls nicht verbessern. Die FDP hat in den Konsensverhandlungen die Einführung von Ärztesozietäten gefordert. Niedergelassenen Ärzten die Möglichkeit zu geben, Ärzte anzustellen und ihnen dann gegebenenfalls eine Teilhaberschaft anzubieten, wäre aus liberaler Sicht verfolgenswert gewesen. Aber selbst aus der CDU sind Töne zu hören, dass man sich zwar gegen die Abschaffung des Facharztprinzips ausspreche, stattdessen habe man aber nichts gegen die Einstellung von Fachärzten in Gesundheitszentren – ich zitiere: „in einer Art Poliklinik-Modell“. Rot-Grün frönt dem Zeitgeist der vermeintlichen Stärkung des Wettbewerbs. Vor allem die Arzneimittelversorgung in Deutschland soll sich verändern. Mehrbesitz und Versandhandel werden Einzug in das deutsche Gesundheitswesen halten. Der Mehrbesitz wird das Einfallstor für den Fremdbesitz, und dieser bedroht einen freiberuflichen Stand: Heutige Pharmaziestudenten werden sicherlich nicht mehr auf ihre eigene Apotheke hoffen können, sondern sie erwartet das Angestelltendasein. Ver.di wird dies neue Mitglieder verschaffen. Ob die flächendeckende Versorgung noch gewährleistet sein wird, werden wir erst in einigen Jahren wissen. Der Grundsatz gleicher Wettbewerbsbedingungen zwischen Versandapotheken und niedergelassenen Apotheken konnte und wurde im Gesetzentwurf nicht eingehalten. Bei ungleichem Mehrwertsteuersatz werden aus dem Ausland agierende Versandapotheken Preisvorteile haben, gegen die deutsche Apotheker nicht reagieren können. In keinem Land der Welt ist grenzübergreifender Versandhandel erlaubt. Die Arzneimittel werden nicht deutschem Sicherheitsstandard entsprechen müssen. Hier wird eine Qualitätssicherheit in einem hochsensiblen Bereich aufgegeben. Wenn man sich vorstellt, mit wieviel Stückwerk und Aufwand in der Europäischen Union versucht wird, die Lebensmittelsicherheit für den Verbraucher zu verbessern, ist es völlig unverständlich, diese im mindestens ebenso sensiblen Arzneimittelmarkt aufzugeben. Und wieder einmal wird eine Gesundheitsreform direkte Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und den Wirtschaftsstandort Deutschland haben: Die pharmazeutische Industrie wird wohl endgültig zu dem Schluss kommen, dass sich For-
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schung in Deutschland nicht mehr lohnt. Die Vierte Hürde zur Zulassung von Arzneimitteln, die über die Nutzenbewertung des Instituts gekoppelt mit der Ausschlusskomponente durch den Bundesausschuss de facto doch eingeführt ist, die Einbeziehung patentgeschützter Arzneimittel in die Festbetragsregelung sowie die Zwangsabsenkung der Arzneimittelpreise um 16% werden nicht spurlos an der Standort- und Personalpolitik der pharmazeutischen Industrie vorübergehen. Eine Schlüsselstellung in den Verhandlungen hatten die Regelungen zum Zahnersatz. Für die FDP war die Ausgliederung des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog der GKV eine Mindestforderung an das Verhandlungsergebnis. Es wäre ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Wir hätten die Chance gehabt, in einem gut zu überschauenden Bereich den Weg in ein kapitalgedecktes System zu wagen. Die Konzepte lagen dank konstruktiver Mitarbeit der Zahnärzteschaft und der privaten Krankenversicherung (PKV) vor. Es ist bedauerlich, dass politisch anders entschieden wurde. Für die FDP ein wichtiges Argument für den Ausstieg. Der faule Kompromiss, den wir nun haben werden, ist mehr als unglücklich, für die Zahnärzte ebenso wie für die Versicherten. Wir haben keinen fairen Wettbewerb zwischen GKV und PKV. Die Festsetzung eines einheitlichen und gemeinsamen GKV-Beitrages, festgelegt durch die Spitzenverbände der Krankenkassen, konterkariert jede Forderung nach mehr Wettbewerb. Zwangsläufig wird dann auch noch neben dem heute existierenden Risikostrukturausgleich ein Härtefallausgleich für den Zahnersatz installiert. Per Rechtsverordnung soll das Nähere bestimmt werden zu – der Ermittlung und Abgrenzung der ausgleichsfähigen Leistungsausgaben, – der gemeinsamen Finanzierung, – dem Verfahren und der Durchführung des Ausgleichs, – den von den Krankenkassen mitzuteilenden Angaben, – der Fälligkeit der Beiträge und der Erhebung von Versäumniszuschlägen sowie – dem Ausgleich von Überschüssen und Fehlbeträgen, die nach Durchführung des Ausgleichs verbleiben. Der Regierung und den Kassen wünsche ich viel Erfolg auf dem Weg in den angeblichen Bürokratieabbau! Während und nach den Verhandlungen wurde die FDP mit dem Vorwurf konfrontiert, sich zum Schutz ihrer Wählerklientel gegen Strukturveränderungen gestellt zu haben und sich damit wettbewerbsfeindlich gezeigt zu haben. Auch innerhalb der eigenen Partei gibt es diese Diskussion, der wir uns stellen müssen.
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Was bedeutet Wettbewerb in einem Gesundheitswesen, das traditionell unter staatlichem Schutz steht? In einem Gesundheitswesen, das einen hohen Versorgungsstandard für alle garantiert? In einem System, in dem der kranke Mensch seine Entscheidung nicht souverän alleine treffen kann, einem System, das freie Preise nur sehr bedingt zulässt, weil man im Falle schwerster Erkrankungen bereit ist, sein gesamtes Einkommen und Vermögen zu opfern? Einem System also, das aus gutem Grund kein Markt in Reinform sein kann? Richtig verstandener Wettbewerb setzt für uns beim Versicherten und Patienten an. Ihm gilt es weitgehende Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten zu verschaffen. Mit einer richtig aufgezogenen Privatversicherung des Zahnersatzes wäre eine solche Möglichkeit geschaffen worden. Die Versicherten hätten den Umfang ihres Schutzes individuell bestimmen können. Mit dem Zahnarzt hätten sie über die genaue Versorgung und den Preis gesprochen und – wenn sie nicht zufrieden gewesen wären – einen anderen Zahnarzt aufgesucht. Wer keine gute Arbeit geleistet hätte oder zu teuer gewesen wäre, hätte sich am Markt nicht mehr halten können. Das ist Wettbewerb, wie wir ihn verstehen. Die rot-grüne Koalition spricht zwar von Wettbewerb, verfolgt aber das Gegenteil. Sie will die Krankenkassenmacht noch weiter ausbauen und die Leistungserbringer diesem Erpressungspotential aussetzen ohne Regulativ durch das für die GKV nicht geltende Wettbewerbsrecht. Unser überreglementiertes Gesundheitswesen steht sich selbst im Wege. So hat die halbherzige Einführung des Wettbewerbs zwischen den Kassen zu dem gigantischen Moloch des Risikostrukturausgleichs geführt, dessen Verwaltung alleine schon Millionen verschluckt und wettbewerbsverzerrend wirkt. Die Budgetierung der Ausgaben wird im ambulanten Sektor durch das Herunterbrechen von Gesamtvergütungen auf arztbezogene Regelleistungsvolumina ihren bürokratischen Höhepunkt erreichen. Mit leistungsgerechter Vergütung hat dies nichts zu tun. Über eines sind wir uns nur einig: Das Gut „Gesundheit“ muss unter staatlichen Schutz gestellt werden. Der Staat muß in der Verantwortung stehen, die Rahmenbedingungen vorzugeben, die es jedem Bürger ermöglichen, einen bezahlbaren Versicherungsschutz für die medizinisch notwendige Versorgung im Krankheitsfall abschließen zu können. Doch der Kostensteigerung darf nicht unbegrenzt durch Budgetierung und Reglementierung begegnet werden, sondern durch tatsächliche Freilegung von Wettbewerbselementen zur Regulierung von Preis und Qualität. Der Staat dürfte nur dort das Recht haben, steuernd einzugreifen, wo der Markt versagt. Im kreativen Wettbewerb müssen Krankenkassen und Leistungsanbieter die Chance bekommen, nach neuen Versorgungsformen zu suchen und wirtschaftliche Lösungen zu finden.
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Seit Jahren fordert die FDP Veränderungen in diese Richtung: – Das gesamte Fünfte Buch des Sozialgesetzbuchs muss im Hinblick auf den Abbau bürokratischer Überregulierung auf den Prüfstand gestellt werden. Künftiger Grundsatz: Für jede neue Bestimmung werden zwei bestehende abgeschafft. – Der Pflichtleistungskatalog der GKV muss auf einen Kernbereich konzentriert werden. Die Herausnahme versicherungsfremder Leistungen ist sicherlich ein erster richtiger Schritt dieser Reform gewesen. Die Herausnahme zahnmedizinischer Behandlung, privater Unfälle und des Krankengeldes aus der GKV eventuell mit Pflicht zur Versicherung ist eine Forderung, die wir weiterhin konsequent verfolgen werden. Denn damit wäre ein erster Schritt zur Umschichtung zu einer kapitalgedeckten Finanzierung geschafft. – Die Versicherungspflichtgrenze muss herabgesetzt werden und damit immer mehr Menschen die Möglichkeit gegeben werden, ihren Versicherungsschutz selbst zu gestalten. Auf die Bürgerversicherung werde ich noch zu sprechen kommen. – Die Auszahlung des festgeschriebenen Arbeitgeberanteils an die Arbeitnehmer würde ein Übriges dazu beitragen, die Gestaltungsspielräume für den individuellen Versicherungsschutz zu erweitern und damit die Gesundheitsausgaben stärker an individuellen Präferenzen auszurichten. Sie würde zudem die automatische Koppelung zwischen Gesundheitsausgaben und Lohnzusatzkosten aufheben, die heute dazu führt, dass über steigende Gesundheitsausgaben negative Effekte auf die Beschäftigungssituation ausgehen. – Sowohl Boni als auch Selbstbehalte sind richtige und wichtige Bestandteile der jetzigen Reform. Als Element zur Stärkung der Eigenverantwortung bei Versicherten und Patienten hätten wir uns eine noch stärkere Orientierung an dem Preis gewünscht. Nur über den Geldbeutel ist beim Patienten ein kostenbewusstes Verhalten zu erreichen, ist er zu einem gesundheitsbewussten Leben zu führen. Wir müssen den Versicherten in spürbare Mitverantwortung über das Leistungs- und Ausgabengeschehen bringen. – Insgesamt müssen die individuellen Gestaltungsspielräume der Krankenkassen in ihren Vertragsbeziehungen zu den Leistungserbringern weiter geöffnet werden. „Gemeinsam und einheitlich“ in den Verträgen muss entfallen. Die Krankenkassen müssen in einen echten Wettbewerb um ihre Versicherten treten können. Damit eröffnet man den Versicherten auch die Möglichkeit zur stärkeren Mitgestaltung ihres Versicherungsschutzes. Auch hier gilt für die FDP Vielfalt statt Einfalt bei Leistungsangeboten und Tarifen. – Ein bürokratisches Monster haben die Großkoalitionäre nicht angepackt – den Risikostrukturausgleich, der den Wettbewerb bereits heute heftig verzerrt: Wenn Krankenkassen mehr als die Hälfte ihrer Beitragseinnahmen in
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diesen Ausgleich einzahlen, andere hingegen ein Drittel ihres Haushaltes und mehr mit den Zahlungen aus diesem Ausgleich bestreiten, dann erahnt man das Ausmaß dieser administrativ verordneten Wettbewerbsverzerrungen. Im Bereich des Zahnersatzes kommt jetzt noch ein gesonderter Härtefallausgleich hinzu, der durch die Hintertür zu einem totalen Ausgabenausgleich umgestrickt worden ist. Wir denken: Dies ist mehr als genug. Der Ausgleich war nach unserer Auffassung als Starthilfe in die neue Phase des Kassenwettbewerbs gedacht. Irgendwann ist aber der Start definitiv vorbei, und dann verliert dieses Instrument seine Legitimation. Die Schweizer haben Mitte der Neunzigerjahre bei Einführung des Risikoausgleichs in ihrem wettbewerblichen Krankenversicherungssystem diesen auf 10 Jahre befristet. Es ist Zeit, ihn auch bei uns drastisch zurückzufahren! – Es muss mehr Transparenz für die Versicherten geschaffen werden. Das Kostenerstattungsprinzip muss das Sachleistungsprinzip ersetzen! Ärzte müssen bei dieser Reform weiter vergeblich darauf warten, für ihre Leistung gerecht und mit einem festen Preis bezahlt zu werden. Für junge Mediziner bieten sich weiterhin keine Perspektiven, in dem Beruf zu bleiben. Die Folgen des schon bestehenden und noch drohenden Ärztemangels werden von der Regierung weiterhin ignoriert. Die Reaktion von Frau Ministerin Schmidt auf das Urteil zur Arbeitszeit im Krankenhaus und zum daraus resultierenden Mehrbedarf an Personal spricht für sich: „Wir haben keine 15.000 Ärzte, die wir einstellen könnten, und wir wissen auch gar nicht, ob wir sie brauchen.“ Der Glaube an die Überversorgung der Bevölkerung durch Ärzte scheint bei ihr weiterhin fest verankert zu sein. – Mit der Einführung der Kostenerstattung und fester Preise würden auch die Budgetierung, der floatende Punktwert und damit die schleichende Rationierung entfallen. Mit dieser lassen wir die Ärzte in ihrer tagtäglichen Arbeit nun schon seit Jahren allein. – Und gegen allen Zeitgeist sind wir weiterhin fest davon überzeugt, dass Freiberuflichkeit ein tragendes Element unseres Gesundheitswesens ist. Die Freien Berufe sind der Sauerteig in unserer Gesellschaft. Und wir Liberalen stehen dazu: Es ist nicht unser Ehrgeiz, die Zahl der Ver.di-Mitglieder zu erhöhen – einer Gewerkschaft, die in der Gesundheitspolitik viele Interessen vertritt, aber bestimmt nicht die der im Gesundheitswesen Tätigen. In der politischen Realität werden wir gerade von einer ganz neuen Diskussion überrollt: Diese bezieht sich auf eine „Bürgerversicherung“, die massiv von den Grünen und den Sozialdemokraten eingefordert wird und seitens der Christdemokraten zumindest von Herrn Seehofer unterstützt wird, wohl um von den mageren Ergebnissen der Reform selbst abzulenken. Die Rürup-Kommission konnte sich nicht auf eine Lösung verständigen. Dies ist zunächst erst einmal nicht zu beanstanden, da es in der Tat Aufgabe der
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politischen Mandatsträger ist, Grundsatzentscheidungen zu fällen. Bedenklich finde ich die Vorabfestlegung auf scheinbar nur zwei zur Auswahl stehende Modelle. Die Kommission hat keine neuen Erkenntnisse gebracht, sondern lediglich die Diskussion focussiert. Und – um es vorweg zu nehmen – keines der Modelle wird dem selbst gesteckten Ziel gerecht, den ich aus der Einleitung des Kommissionsberichts zitiere: „Soziale Sicherungssysteme müssen stetige und vorhersehbare Leistungen garantieren, denn es geht um die individuell planbare Absicherung großer Lebensrisiken, die der Einzelne nicht bewältigen kann. Damit dies auch für die künftigen Generationen gewährleistet ist, müssen die Einnahmen der Sozialversicherungszweige insgesamt unabhängiger werden von der demographischen und konjunkturellen Entwicklung.“ Nachhaltig und generationengerecht ist nämlich keine von beiden. Was heißt nun Bürgerversicherung genau? Ich beziehe mich hier ausdrücklich auf das Modell der Rürup-Kommission und beachte nicht die Säue, die gerade täglich aufs Neue von SPD und Grünen durch die Dörfer getrieben werden: Sie treibt Geld in das bestehende System und baut es aus zu einer solidarischen Einheitsversorgung für die ganze Bevölkerung. Selbständige, Beamte und Besserverdienende sollen Zwangsmitglieder der GKV werden und die Beitragsbemessung auf weitere Einkommensarten ausgebaut werden. Sie verfestigt bestehende Strukturen und macht diese für viele Jahre finanzierbar. Dies ist verlockend und schließt aus sozialistischer Sicht die Gerechtigkeitslücke: Die Höhe des Einkommens soll nicht über die Qualität der medizinischen Versorgung entscheiden. Aber der Einheitsversicherung folgt die Einheitsversorgung. Wettbewerb um den besten Versorgungsschutz ist weiterhin nicht vorgesehen. Den privaten Krankenversicherungsunternehmen würde der Markt der Zusatzversicherungen bleiben. Der Zweig der Vollversicherung würde austrocknen. Dass unsere Leistungserbringer bei der jahrelangen Budgetierung vor allem auf die heute schon bestehende Quersubventionierung durch die Privatversicherten angewiesen sind, um eine einigermaßen leistungsgerechte Honorierung ihrer Arbeit zu erhalten, wird von den Befürwortern ignoriert. Doch vor allem ignorieren die Befürworter, dass die Bürgerversicherung das Generationenproblem nicht löst, beziehungsweise sogar verschärft. Es treibt Mitglieder in das System, die sich heute ihre Altersvorsorge in einem kapitalgedeckten System aufbauen. Ohne Festschreibung des Arbeitgeberanteils löst es nicht einmal das Problem der Entkoppelung vom Arbeitslohn. Die Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze bei Beibehaltung der Parität belastet die Arbeitgeber zusätzlich. Wieder einmal wird Politik nicht in einem wirtschaftlichen Gesamtzusammenhang wahrgenommen. Wieder einmal wird auf Kosten der nächsten Generation Tagespolitik betrieben. Dass wir Liberale uns nicht mit diesem Modell anfreunden können, ist selbstredend. Es widerspricht allen liberalen Grundsätzen.
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Die Meinungsbildung zu dem Kopfpauschalenmodell, dem zweiten Vorschlag der Rürup-Kommission, ist allerdings schwieriger. Als grundsätzliche Abkehr vom beitragsfinanzierten System zu einer Gestaltungsform eines Prämiensystem hat es aus liberaler Sicht klare Vorteile. Eine von der Rürup-Kommission errechnete gleiche Kopfprämie für alle Versicherte in Höhe von 210 Euro scheint für den größten Teil der Bevölkerung finanzierbar. Die Prämie wäre vom Lohn abgekoppelt, und die seit langem von den Liberalen eingeforderte Ausbezahlung des Arbeitgeberanteils könnte erfolgen. Über die Versteuerung dieses Arbeitgeberanteils wäre die notwendige steuerliche Bezuschussung der Einkommensschwachen weitestgehend gedeckt. Doch eine zentrale Anforderung erfüllt das von Bert Rürup präferierte Kopfpauschalenmodell nicht: Die 210 Euro-Prämie enthält keinerlei Altersrückstellung und stellt sich damit auch nicht den Herausforderungen der demographischen Entwicklung. Ebenso kritisch ist aus liberaler Sicht zu sehen, dass die Kopfpauschale, sollte sie einheitlich gesetzt werden, keinen Wettbewerb zwischen den Kassen vorsieht. Leistungsumfang und -qualität würden wie heute einheitlich erbracht werden. In diesem System ist eine Aufhebung der Budgets kaum vorstellbar; der Drang hin zu einem verstaatlichten Gesundheitswesen würde weiter gestärkt. Uns Liberalen fällt es daher schwer, die Ergebnisse der Rürup-Kommission als einzige Alternative zur Umgestaltung unseres Krankenversicherungssystems zu akzeptieren. Das einzige Modell, das die demographische Entwicklung tatsächlich berücksichtigt, ist das der risikoäquivalent kalkulierten Prämien mit Altersrückstellung, also eine Übernahme der PKV-Strukturen für alle Versicherten, mit einem Transfersystem für Einkommensschwache und Risikopatienten. Durch dieses System würden Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten der Versicherten massiv gestärkt, der Wettbewerb könnte als steuerndes Instrument tatsächlich greifen. Die Entkoppelung vom Arbeitslohn würde Erleichterung für die Wirtschaft bringen. Die Forderungen zur Einführung dieses Systems liegen auf dem Tisch und werden vor allem aus wirtschaftsliberaler Sicht schon seit langem gefordert. Doch als Politiker muss das Realisierbare beachtet werden: Bei einer Pflicht zur Versicherung muss der umfassende Versicherungsschutz für alle gewahrt bleiben. Ein Grundleistungskatalog muss auch für die privaten Versicherer definiert werden; dies ist bekanntlich äußerst schwierig. Durch die Umstellung auf ein risikoäquivalentes Verfahren wird das Solidarprinzip – Jung zahlt für Alt, Gesunde für Kranke, Alleinverdienende für Familien und besser Verdienende für schwächere Einkommen – verlassen. Dies kann nur durch einen sozialen Ausgleich erfolgen. Für Menschen mit schwächeren Einkommen – mit und ohne Familien – muss eine steuerliche Bezuschussung erfolgen. Für Menschen, die höhere Prämien zahlen müssen, da sie ein höheres Krankheits-
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risiko tragen, muss ebenfalls ein Ausgleich erfolgen. Ein Kontrahierungszwang muss jedem ermöglichen, eine Versicherung abzuschließen – ein massiver Eingriff in die private Versicherungswirtschaft. Je größer der Subventionsierungsbedarf über das Steuer- und Transfersystem ist, um so größer ist die Gefahr, dass der Staat auch in diesem System mit Kostendämpfungsmaßnahmen interventionistisch tätig werden muss, um die für den Gesundheitsbereich benötigten Staatsausgaben im Griff zu behalten. Die Schweiz, die gerne als Vorbild für die Einführung des Systems zitiert wird, kämpft mit hohen Steuerbelastungen, hohen Prämiensteigerungen und einer übermäßigen Belastung vor allem des Mittelstandes, den die hohen Prämien erdrückt, der jedoch nicht die Vorteile der staatlichen Subventionierung genießt. Die Frage, wie das heutige Modell in ein Prämienmodell überführt werden könnte, bleibt weiter ungeklärt. Die gesetzlichen Krankenkassen haben keine Rückstellungen, um den sofortigen Wechsel von einem umlage- in ein kapitalgedecktes System zu schultern. Für den großen Teil der älteren Versicherten wäre eine risikoäquivalente Prämie mit Altersrückstellungen jedoch nicht alleine zu finanzieren, ganz zu schweigen davon, dass – bevor an einen Systemwechsel gedacht werden kann – die Mitnahme von Altersrückstellungen bei Kassenwechsel ermöglicht werden muss. Wir brauchen realisierbare Übergangsmodelle, über deren praktische Umsetzung wir ausführlich diskutieren müssen. 5 Jahre sind durch die Bundesregierung leichtfertig verspielt worden. Wir könnten in der Entscheidungsfindung weiter sein. So bleibt uns nur eines: den langsamen Ausstieg zu fordern, beginnend mit der Ausgliederung von Leistungsbereichen (Krankengeld und Zahnmedizin) und durch Auszahlung der Arbeitgeberzuschüsse zur Krankenversicherung als Lohnbestandteil. So stellt die FDP sich in ersten Zügen eine demographiesichere Alternative zu Kopfpauschale und Bürgerversicherung vor. Die genaue Ausgestaltung bedarf sicherlich noch einiger Zeit.
Verfasserverzeichnis Dr. Thomas Muschallik, Justitiar der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, Köln. Detlef Parr, MdB, Mitglied der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag und stellvertretendes Mitglied des Bundestagsausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung, Berlin. Ruth Schimmelpfeng-Schütte, Vorsitzende Richterin am Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Celle; 1. Vorsitzende der Landesgruppe Niedersachsen des Deutschen Juristinnenbundes. Professor Dr. Günther Schneider, Vorsitzender Richter am Sächsischen Landessozialgericht a. D.; Mitglied des Sächsischen Landtages, Dresden; Vorsitzender des Ausschusses für Verfassung, Recht und Europa des Sächsischen Landtages; Honorarprofessor für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht an der Juristischen Fakultät der Technischen Universität Dresden. Professor Dr. Helge Sodan, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht und Sozialrecht an der Freien Universität Berlin; Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin. Professor Dr. Burkhard Tiemann, Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Sozialwesen, Professur für Verwaltungs- und Sozialrecht sowie Sozialmanagement, Köln; Geschäftsführender Direktor des Instituts der Deutschen Zahnärzte, Köln; Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats (Consiliums) der Bundeszahnärztekammer, Berlin.