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German Pages 88 Year 2005
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 4 HELGE SODAN (Hrsg.)
Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung Vorträge im Rahmen der 4. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 25. Oktober 2004
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
HELGE SODAN (Hrsg.)
Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 4 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin
HELGE SODAN (Hrsg.)
Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung Vorträge im Rahmen der 4. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 25. Oktober 2004
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 3-428-12005-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Der vorliegende Band 4 der Schriften zum Gesundheitsrecht gibt die Vorträge wieder, welche im Rahmen der 4. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 25. Oktober 2004 im Hotel Hilton Berlin gehalten wurden. Diese Tagung knüpfte an die vorausgegangenen drei Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht an, die jeweils im Jahr 2003 am selben Ort mit den Themen „Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer“, „Krankenkassenreform und Wettbewerb“ sowie „Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung“ stattfanden. Die entsprechenden Vorträge sind in den Bänden 1, 2 und 3 der Schriften zum Gesundheitsrecht veröffentlicht. Bei den Berliner Gesprächen zum Gesundheitsrecht handelt es sich um eine Reihe wissenschaftlicher Tagungen der Freien Universität Berlin. Entsprechend dem interdisziplinären Ansatz führen diese Veranstaltungen zu Diskussionen grundlegender Fragen insbesondere aus juristischer, ökonomischer, politischer und heilkundlicher Sicht. Mit fundierter verfassungs- und europarechtlicher Kritik an „einfachem“ Gesetzesrecht sowie mit einem konzeptionellen, interdisziplinären Denken über die Weiterentwicklung des Gesundheitsrechts sollen Anstöße u. a. für die dringend notwendigen Strukturreformen im Bereich der Krankenversicherung gegeben werden. Auch der Einladung zu den 4. Berliner Gesprächen zum Gesundheitsrecht sind viele herausragende Experten gefolgt. Unter den Teilnehmern dieser Tagung befanden sich Mitglieder des Deutschen Bundestages, Vertreter des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung, des Bundesministeriums der Finanzen, des Bundesversicherungsamtes und der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Richter aus der Verfassungs-, Sozial-, Verwaltungs- und Zivilgerichtsbarkeit, Repräsentanten der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung, Vertreter der pharmazeutischen Industrie, zahlreiche Repräsentanten ärztlicher und zahnärztlicher Organisationen des öffentlichen sowie privaten Rechts, Rechtswissenschaftler und Rechtsanwälte. Hinzu kamen zahlreiche Journalisten von Fernsehsendern und Presseorganen. Im Mittelpunkt des Interesses der Medien stand der Vortrag von Laurenz Meyer über die „Balance von Freiheit und Verantwortung im Gesundheitswesen“. Die Rede des damaligen Generalsekretärs der CDU Deutschlands wurde in voller Länge vom Fernsehsender Phoenix übertragen. Noch drei Tage zuvor hatte eine Verhandlungsrunde aus Vertretern von CDU und CSU mehrere Stunden lang in Berlin über eine gemeinsame Linie für eine künftige Gesundheitsreform diskutiert.
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Vorwort
Die Finanzierung der Tagung erfolgte ausschließlich durch so genannte Drittmittel in Form von Spenden und Teilgenehmergebühren. Ein herzlicher Dank für eine großzügige Zuwendung gilt der Pfizer Deutschland GmbH. Für vielfältige Unterstützung danke ich vor allem Herrn Michael Klein LL.M., Geschäftsführer sowie Direktor Recht & Corporate Affairs der Pfizer Deutschland GmbH, Karlsruhe. Für Unterstützung bei der Konzeption, Vorbereitung und Durchführung der Tagung danke ich besonders meinem langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiter Olaf Gast. Für intensive Medienbetreuung gilt ein herzlicher Dank Herrn Florian Kluckert, Pressebüro Kluckert, Berlin. Für organisatorische Hilfe, vor allem bei der redaktionellen Bearbeitung des vorliegenden Tagungsbandes, danke ich meinen Mitarbeiterinnen Catrin Gesellensetter und Sophia Rogall. Berlin, im Mai 2005
Helge Sodan
Inhaltsverzeichnis Modelle künftiger Gestaltung der Krankenversicherung auf dem Prüfstand des Grundgesetzes Von Helge Sodan, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Balance von Freiheit und Verantwortung im Gesundheitswesen Von Laurenz Meyer, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschafts- und Sozialverfassung Von Walter Leisner, Erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marktwirtschaftliches Umfeld für die forschende pharmazeutische Industrie Von Walter Köbele, Karlsruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern. Rechtsfragen des europäischen Wettbewerbs- und Vergaberechts Von Ingwer Ebsen, Frankfurt am Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ökonomie und Freiheit der Berufsausübung in der Heilkunde Von Jürgen Weitkamp, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verfasserverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Modelle künftiger Gestaltung der Krankenversicherung auf dem Prüfstand des Grundgesetzes Von Helge Sodan
I. Notwendigkeit einer Strukturreform der GKV Nach allerlei Irrungen und Wirrungen kam es gegen Ende des Jahres 2003 zu dem so genannten „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG)“1. Es spricht nicht gerade für die Qualität dieser „Gesundheitsreform“, dass noch vor den abschließenden Gesetzesbeschlüssen von Bundestag und Bundesrat ein weitgehender Konsens über die Notwendigkeit einer baldigen wirklichen, nämlich strukturellen Reform der GKV bestand. Seitdem streiten die politischen Parteien über die konkreten Inhalte dieser Reform. Diese Diskussion ist zu einem wesentlichen, wenn nicht sogar beherrschenden innenpolitischen Thema geworden. Damit kann eine Problematik den Ausgang der nächsten Bundestagswahl beeinflussen, mit der sich früher nur Spezialisten beschäftigt haben. Allein seit 1977 hat der Gesetzgeber die GKV durch deutlich mehr als 50 größere Gesetze mit weit über 7.000 Einzelbestimmungen zu sanieren versucht – jedoch ohne dauerhaften Erfolg und mit erheblichen Belastungen insbesondere der Leistungserbringer. Vor allem in den letzten Jahren schlug sich die Novellierungswut des Gesetzgebers in so genannten Reformwerken nieder, ohne dass ein Systemwechsel insbesondere zu mehr Marktlichkeit im Gesundheitswesen erkennbar wurde. Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft sucht man in der sozialen Krankenversicherung vergebens. Das GMG von 2003 enthält Regelungen in Bezug auf insgesamt 34 Parlamentsgesetze und Rechtsverordnungen. Allein das für die GKV zentrale Fünfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) wurde durch Änderungen, Aufhebungen und Einfügungen von über 200 Paragraphen reformiert, wobei diese teilweise mehrere Absätze umfassen und sehr umfangreich sind. Der Aktionismus des Gesetzgebers, der besonders dem Ziel kurzfristiger Kosteneinsparungen dienen soll, führt zunehmend 1 Vom 14.11.2003 (BGBl. I, 2190). Siehe zum vorausgegangenen Gesetzgebungsverfahren Sodan, Helge, Krankenkassenreform und Wettbewerb – eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Krankenkassenreform und Wettbewerb. Vorträge im Rahmen der 2. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 3. und 4. Juli 2003, 2005, S. 9 (9 f.).
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zu einem Verlust notwendiger Systematik. Denn ein System verlangt eine gedankliche Geschlossenheit, insbesondere Widerspruchsfreiheit2. In überreichem Maße liegen mittlerweile Vorschläge von Sachverständigen für die künftige Gestaltung der deutschen Krankenversicherung vor. Sie versuchen insbesondere, der besorgniserregenden demographischen Entwicklung Rechnung zu tragen: Immer weniger junge Erwerbstätige müssen die Sozialleistungen für immer mehr ältere Menschen finanzieren. Dieser Trend wird sich nach Auffassung der von der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung eingesetzten Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“, die nach dem Namen ihres Vorsitzenden als „Rürup-Kommission“ bezeichnet wird, fortsetzen. Danach wird die fernere Lebenserwartung von 65-Jährigen bis zum Jahr 2030 bei Männern um 2,6 Jahre und bei Frauen um 3,1 Jahre steigen. Damit werden 65-jährige Männer 2030 im Durchschnitt 83,4 Jahre alt, Frauen sogar 87,6 Jahre. Zugleich wird die Anzahl der 15- bis 64-Jährigen kontinuierlich zurückgehen.3 Die aktuell beitragszahlenden Mitglieder der GKV sind für deren Funktionsfähigkeit von besonderer Bedeutung, weil die deutsche GKV auf dem so genannten Umlageverfahren beruht: In dem die private Versicherung prägenden Kapitaldeckungsverfahren wird aus den Beiträgen Vermögen gebildet, das die Grundlage späterer Versicherungsleistungen darstellt; das Umlageverfahren, welches auch als „Generationenvertrag“ bezeichnet wird, kommt hingegen ohne Kapitalakkumulation aus.4 Deutschland erlebte während des Aufbaus sozialer Sicherungssysteme eine demographische Explosion. Auf einer solchen Grundlage konnten umlagefinanzierte Sozialversicherungssysteme funktionieren. Das sich aus der aktuellen demographischen Entwicklung bei einem Umlageverfahren ergebende Finanzierungsproblem wird aufgrund der einkommensorientierten Beiträge zur Sozialversicherung durch Massenarbeitslosigkeit noch erheblich verschärft.
II. Zur Einführung einer „Bürgerversicherung“ 1. GKV als umfassende Bürgerzwangsversicherung Die von der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung eingesetzte „Rürup-Kommission“ stellte in ihrem Bericht aus dem Jahr 2003 zwei Alternativen zur Diskussion. Die erste betrifft die Einführung einer „Bürgerversicherung“. Das 2 Siehe dazu näher Sodan, Helge, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, in: JZ 1999, 864 ff. 3 Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme. Bericht der Kommission, 2003, S. 6, 53, 55, www.soziale-sicherungssysteme.de / download / PDFs / Bericht.pdf. 4 Waltermann, Raimund, Sozialrecht, 4. Aufl. 2004, Rn. 323 f.
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vorgeschlagene Modell hebt die bisherige Versicherungspflichtgrenze auf und schafft eine umfassende „Einwohnerversicherung“, bezieht also auch Selbstständige und Beamte ein; die private Krankenversicherung (PKV) soll auf das Angebot von Zusatzversicherungen beschränkt werden.5 Dieses Konzept stößt jedoch auf schwerwiegende verfassungsrechtliche Einwände. Diese beziehen sich sowohl auf das Fehlen einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes als auch auf die Unzulässigkeit von Eingriffen in die Grundrechte von Zwangsversicherten und privaten Krankenversicherungsunternehmen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts greifen Pflichtmitgliedschaften in öffentlich-rechtlichen Körperschaften wie den gesetzlichen Krankenkassen nämlich in das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ein6 und sind damit rechtfertigungsbedürftig. Diesbezügliche Regelungen müssen in formeller und materieller Hinsicht verfassungsgemäß sein, um zur verfassungsmäßigen Ordnung zu gehören.7
a) Zur formellen Verfassungsmäßigkeit Problematisch ist zunächst, ob der Bund für gesetzliche Festlegungen einer als umfassende Zwangsversicherung ausgestalteten GKV den Kompetenztitel „Sozialversicherung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) für sich in Anspruch nehmen könnte. Nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts können neue Lebenssachverhalte in das Gesamtsystem „Sozialversicherung“ einbezogen werden, wenn zumindest eine Orientierung am klassischen Bild der Sozialversicherung erfolgt.8 Zur Sozialversicherung gehört „jedenfalls die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“.9 Nimmt man das Bundesverfassungsgericht insoweit beim Worte, so ließe sich im Falle einer die gesamte Bevölkerung umfassenden Sozialversicherung schwerlich von einer „organisierten Vielheit“ sprechen. „Bedarfsdeckung durch eiKommission (Fn. 3), S. 14, 149. Siehe BVerfGE 10, 89 (102); 15, 235 (239); 32, 54 (63 f.); 38, 281 (297 f.); 44, 70 (89); 48, 227 (234); 53, 313 (326); 78, 320 (329 f.); 89, 365 (376); 92, 53 (69); BVerfG, NVwZ 2004, 463 (464). Siehe zur Abgrenzung von der „negativen“ Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG BVerfG (Kammerbeschl.), NVwZ 2002, 335 (336); Sodan, Helge, Berufsständische Zwangsvereinigung auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, 1991, S. 22 ff.; ders. / Ziekow, Jan, Grundkurs Öffentliches Recht, 2005, § 37 Rn. 6. 7 Vgl. etwa BVerfGE 6, 32 (37 f.); 20, 150 (154); 50, 256 (262); 80, 137 (153); 96, 375 (397 f.); 104, 337 (346). 8 Siehe BVerfGE 11, 105 (111 ff.); 62, 354 (366); 63, 1 (35); 75, 108 (146). Vgl. dazu Sodan, Helge, Der „Beitrag“ des Arbeitgebers zur Sozialversicherung für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, in: NZS 1999, 105 (110 f.); ders., Verfassungsrechtliche Anforderungen an Regelungen gemeinschaftlicher Berufsausübung von Vertragsärzten – Zum Spannungsverhältnis von Berufs- und Sozialversicherungsrecht, in: NZS 2001, 169 (170 ff.). 9 So BVerfGE 11, 105 (112); 75, 108 (146), jew. im Anschluss an BSGE 6, 213 (228). 5 6
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ne organisierte Vielheit setzt einen Ausschnitt aus der Bevölkerung voraus, der zur Deckung des Bedarfs herangezogen wird.“10 Eine als umfassende Bürgerzwangsversicherung ausgestaltete GKV entspräche nicht mehr dem Bild, das durch die klassische Sozialversicherung geprägt ist. Bereits die Ursprünge der deutschen GKV beruhen auf völlig anderen Grundlagen, die in der gegenwärtigen Diskussion über die Reform der GKV in Vergessenheit geraten zu sein scheinen und daher nachdrücklich in Erinnerung gerufen werden müssen.11 Das wesentlich durch Otto von Bismarck beeinflusste Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15.06.188312 bezog in diese Sozialversicherung nur die Arbeiter mit den niedrigsten Löhnen ein und konzentrierte den Versicherungsschutz damit auf einen tatsächlich schutzbedürftigen Personenkreis, so dass der Krankenversicherung der Arbeiter seinerzeit lediglich etwa 10 Prozent der Bevölkerung im damaligen Deutschen Reich angehörten13. Dieser Versichertenkreis ist allerdings im Laufe der Zeit immer weiter ausgedehnt worden. Nach Angaben des Bundesverfassungsgerichts im so genannten Kassenarzt-Urteil aus dem Jahr 196014 waren 1895 im Deutschen Reich erst 14,4 Prozent der Bevölkerung in der GKV direkt versichert. Diese Zahl betrug 1931 bereits 32 Prozent und 1938 34 Prozent. In der Bundesrepublik Deutschland stieg die Zahl der Direktversicherten im Jahr 1955 auf 48 Prozent und 1958 auf 53,1 Prozent. Unter Hinzurechnung der mitversicherten Familienangehörigen waren 1960 rund 80 Prozent der Bevölkerung von der GKV erfasst. Auch in den folgenden Jahrzehnten setzte sich die Tendenz zur Ausweitung des Versichertenkreises fort, so dass gegenwärtig etwa 90 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland in den Schutz der GKV einbezogen sind15. Wesentliche Ursache dafür ist die kontinuierliche Anhebung der Versicherungspflichtgrenze für Arbeiter und Angestellte. Als Folge der deutlichen Heraufsetzung dieser Grenze durch Art. 1 Nr. 1 des so genannten Beitragssatzsicherungsgesetzes (BSSichG) vom 23.12.200216 und einer nachfolgenden Anpassung an die Bruttolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigtem Arbeitnehmer sind gegenwärtig Arbeiter und Angestellte krankenversicherungsfrei, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt den Betrag von 46.800 Euro übersteigt17. 10 Maunz, Theodor, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. V, Art. 74 (1984) Rn. 172. 11 Sodan, Helge, „Gesundheitsreform“ ohne Systemwechsel – wie lange noch?, in: NJW 2003, 2581. 12 RGBl., 73. 13 Vgl. Albers, Willi, Plädoyer für mehr Markt im Gesundheitswesen, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1993), 431 (438). 14 BVerfGE 11, 30 (43). 15 Siehe die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung veröffentlichte Monatsstatistik der gesetzlichen Krankenversicherung über Mitglieder, mitversicherte Angehörige, Beitragssätze und Krankenstand für Dezember 2004, www.bmgs.bund.de / downloads / KM1_Juli_Dez_04.pdf. 16 BGBl. I, 4637. Siehe dazu Sodan, Helge, Das Beitragssatzsicherungsgesetz auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, in: NJW 2003, 1761 (1764 ff.).
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Obwohl damit für die GKV eine Tendenz zur „Volksversicherung“ schon gegenwärtig unverkennbar ist, würde sich eine „Bürgerversicherung“ genannte „Einwohnerversicherung“ – gerade durch die künftige Einbeziehung von Selbständigen und Beamten – vollends vom traditionellen Bild der deutschen GKV lösen.18 Das Bundesverfassungsgericht stellte schon früh fest, die Sozialversicherung gehe „nicht vom Risikobegriff der Privatversicherung“ aus, sondern enthalte „von jeher auch ein Stück staatlicher Fürsorge“19. Das Prinzip der Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen der Versicherung ist für die Sozialversicherung demnach zwar durch den Grundsatz des sozialen Ausgleichs im Sinne einer „Globaläquivalenz“ modifiziert.20 Es darf aber keinesfalls in seiner Maßgeblichkeit beseitigt werden, ohne dass zugleich das Versicherungsprinzip21 erheblich eingeschränkt wäre.22 Im Falle einer umfassenden „Bürgerversicherung“ dürften jedoch den hohen Beiträgen der zusätzlich in die GKV einbezogenen Personen keine auch nur annähernd adäquaten Versicherungsleistungen entsprechen. „Bisher sind Sozialversicherungsbeiträge Sonderlasten außerhalb der Regelung der Art. 105 ff. GG, weil sie vom jeweiligen Versicherten zur Abdeckung seines Risikos für seine Versichertengemeinschaft erhoben werden. In der Bürgerversicherung rücken sie in die Nähe zur Steuer, denn sie werden von allen Leistungsfähigen gefordert [ . . . ] Dieser Sozialversicherungsbeitrag erhält den Charakter einer Zwecksteuer. Losgelöst vom Risikogedanken zahlt jeder [ . . . ]“.23 17 Siehe § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 6 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 6 Abs. 6 SGB V sowie § 4 Abs. 1 der Verordnung über maßgebende Rechengrößen der Sozialversicherung für 2005 vom 29. 11. 2004 (BGBl. I, 3098). 18 Sodan, Helge, Die „Bürgerversicherung“ als Bürgerzwangsversicherung, in: ZRP 2004, 217 (219). So im Ergebnis auch Egger, Hartmut, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Gesundheitsreform, in: SGb 2003, 76 (78); Isensee, Josef, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, in: NZS 2004, 393 (396); vgl. auch bereits Merten, Detlef, Die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht und die Grenzen der Verfassung, in: NZS 1998, 545 (547). Dagegen wird das Problem übersehen von Beer, Daniela / Klahn, Dominik, Rechtliche und ökonomische Eckpunkte einer Bürgerversicherung, in: SGb 2004, 13 (17). 19 BVerfGE 11, 105 (114); vgl. ferner bereits BVerfGE 9, 124 (133); 10, 141 (165 f.). 20 Siehe dazu Schnapp, Friedrich E., Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1994, § 49 Rn. 48; Sodan, Helge / Gast, Olaf, Die Relativität des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität nach SGB V, Verfassungs- und Europarecht, in: NZS 1998, 497 (498). 21 Siehe dazu näher Hase, Friedhelm, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 71 ff., 145 ff.; Schulin, Bertram, Rechtliche Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Probleme, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1994, § 6 Rn. 45 ff. 22 In Verkennung der inhaltlichen Strukturelemente der „Sozialversicherung“ i. S. v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, wie sie das Bundesverfassungsgericht für diesen Kompetenztitel fordert, ist in BSGE 81, 276 (282) die nicht mehr nachvollziehbare These vertreten, der Begriff der Sozialversicherung sei rein formal und offen, nicht aber „inhaltlich nach einem Versicherungsprinzip“ bestimmt – Hervorhebung vom Verf. 23 Kirchhof, Ferdinand, Verfassungsrechtliche Probleme einer umfassenden Kranken- und Renten-„Bürgerversicherung“, in: NZS 2004, 1 (6).
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Die vorstehend entwickelten Einwände gegen die Regelung einer als umfassende Bürgerzwangsversicherung ausgestalteten GKV lassen sich im Übrigen auch nicht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Pflegeversicherung entkräften. Denn nach § 1 Abs. 2 SGB XI sind in den Schutz der sozialen Pflegeversicherung kraft Gesetzes alle einbezogen, die in der GKV versichert sind; wer gegen Krankheit bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert ist, muss eine private Pflegeversicherung abschließen. Die Pflege-Versicherungszugehörigkeit folgt also der jeweiligen Art der Krankenversicherung. Auf der Grundlage dieses Regelungskonzepts stellte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2001 fest: „Für die Schaffung der sozialen Pflegeversicherung als eines neuen Zweigs der Sozialversicherung kann sich der Bund auf seine Kompetenz zur Regelung der Sozialversicherung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG berufen [ . . . ] Soweit das SGB XI [ . . . ] eine Verpflichtung zum Abschluss eines privaten Pflegeversicherungsvertrags begründet und Regelungen zur näheren Ausgestaltung dieses Vertragstyps enthält, ist es durch die Kompetenz des Bundes für die Materie des ,privatrechtlichen Versicherungswesens‘ als Teil des ,Rechts der Wirtschaft‘ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) gedeckt. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das gesetzgeberische Gesamtkonzept einer möglichst alle Bürger umfassenden sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit durch die soziale Pflegeversicherung und die private Pflege-Pflichtversicherung auf der Grundlage von Regelungen verwirklicht wird, die auf verschiedenen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes beruhen.“24
Lässt sich also eine als umfassende Bürgerzwangsversicherung ausgestaltete GKV nicht als „Sozialversicherung“ i. S. v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG qualifizieren, so scheidet auch eine entsprechende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes aus dem soeben genannten „Recht der Wirtschaft“ trotz der ganz überwiegend vertretenen sehr weiten Interpretation dieses Kompetenztitels 25 aus. Der Bundesgesetzgeber kann diese Kompetenz für sich nicht in einem Fall in Anspruch nehmen, in dem Regelungen vorrangig und speziell der Finanzierung der Sozialversicherung dienen, ohne dass die Vorschriften sich im Kompetenzbereich Sozialversicherung halten.26 Damit könnten die aus dem Begriff „Sozialversicherung“ i. S. v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG abzuleitenden Anforderungen kompetenzrechtlich durch Hinweis auf irgendwie geartete wirtschaftliche Auswirkungen von Normen umgangen werden, um ohne sachliche Bindung die Finanzierung von Sozialversicherung regeln zu können. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG darf also nicht so weit interpretiert werden, dass eine „Universalgesetzgebungszuständigkeit des Bundes“ entsteht, „die alle im einzelnen aufgeführten Zuständigkeiten entbehrlich
BVerfGE 103, 197 (215 f.). Siehe dazu etwa BVerfGE 4, 7 (13); 8, 143 (148 f.); 55, 274 (308 f.); 67, 256 (275); Degenhart, Christoph, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 74 Rn. 37. 26 Vgl. zum Zusammenhang von sachlich-gegenständlichem Regelungsinhalt und Finanzierung der Sozialversicherung BVerfGE 75, 108 (148). 24 25
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macht, weil kein Gesetz denkbar ist, das nicht zumindest mittelbare ökonomische Folgen auslöst“.27 Da weitere Kompetenztitel hier nicht ersichtlich sind, wären bundesgesetzliche Regelungen einer als umfassende Bürgerzwangsversicherung ausgestalteten GKV bereits mangels Gesetzgebungszuständigkeit formell verfassungswidrig und verstießen daher gegen das Grundrecht Zwangsvereinigter aus Art. 2 Abs. 1 GG.
b) Zur materiellen Verfassungsmäßigkeit Zusätzlich zu den Einwänden gegen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes bestehen in materieller Hinsicht Bedenken gegen eine als „Volksversicherung“ ausgestaltete Sozialversicherung. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehören Vorschriften über die Gründung öffentlich-rechtlicher Verbände mit Zwangsmitgliedschaft nur dann zur „verfassungsmäßigen Ordnung“ i. S. v. Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 GG und sind damit zulässige Einschränkungen des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, wenn diese Vereinigungen „legitime öffentliche Aufgaben“ wahrnehmen.28 Damit seien solche „Aufgaben gemeint, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft“ bestehe, die aber so beschaffen seien, dass „sie weder im Wege privater Initiative wirksam wahrgenommen werden“ könnten „noch zu den im engeren Sinn staatlichen Aufgaben“ zählten, „die der Staat selbst durch seine Behörden wahrnehmen“ müsse.29 In Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wird in der Judikatur aus Art. 2 Abs. 1 GG das Recht abgeleitet, nicht durch Zwangsmitgliedschaft in „unnötigen“ Körperschaften in Anspruch genommen zu werden.30 Speziell zur GKV hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: „Der Schutz in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der Grundaufgaben des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlich-rechtlicher Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung Sorge getragen und die Art und Weise der Durchführung dieses Schutzes geregelt hat“.31 Die GKV ist als soziale Pflichtversicherung prinzipiell zulässig, so dass eine Zwangsmitgliedschaft in der GKV zumindest nicht an der Voraussetzung der Wahrnehmung einer legitimen öffentlichen Aufgabe scheitert.32 Isensee, Josef, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 54. Siehe BVerfGE 10, 89 (102 f.); 10, 354 (363); 15, 235 (241); 32, 54 (65); 38, 281 (297 ff.); 78, 320 (329); BVerfG (Kammerbeschl.), NVwZ 2002, 335 (336); BVerwG, NJW 1962, 1311 (1312); BVerwGE 39, 100 (102 f.); 59, 231 (236); 64, 115 (117); 64, 298 (301). 29 BVerfGE 38, 281 (299). Vgl. ferner BVerfG (Kammerbeschl.), NVwZ 2002, 335 (336). 30 Siehe BVerfGE 38, 281 (298); BVerwGE 59, 231 (233); 64, 115 (117); 64, 298 (301); 80, 334 (336); OVG Bremen, NJW 1994, 1606. Vgl. dazu Sodan (Fn. 6), S. 53, 59 ff. 31 BVerfGE 68, 193 (209). 27 28
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Damit ist freilich noch nicht dargetan, dass die konkrete Ausdehnung des Versichertenkreises den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht. Aus dem prinzipiellen Gestaltungsspielraum, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber zur Regelung der Sozialversicherung zugesteht,33 darf keinesfalls ein „Belastungsblankett“ gefolgert werden.34 Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen der Anwendung des Art. 2 Abs. 1 GG aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zutreffend das Gebot abgeleitet, dass „das Maß der den Einzelnen durch seine Pflichtzugehörigkeit treffenden Belastung noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den ihm und der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht“35. Ein erheblicher Teil der in eine umfassende Bürgerzwangsversicherung einbezogenen Menschen kann nicht ernsthaft als sozial schutzbedürftig36 angesehen werden; er vermag sein Krankheitsrisiko selbstverantwortlich abzusichern. In seinem Urteil aus dem Jahr 2001 zur privaten Pflege-Pflichtversicherung stellte das Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictum fest, dass „bei der Versicherung des Risikos Krankheit“ eine hinreichende Eigenvorsorge vorhanden ist37. Die gesetzlich angeordnete Pflichtzugehörigkeit zur GKV würde bei einem eindeutig nicht sozial schutzbedürftigen Menschen allein darauf beruhen, dass er mit seinem dem jeweiligen Einkommen angepassten höheren Beitrag zu dieser Versicherung die tatsächlich schutzbedürftigen Versicherten mitfinanzieren und damit einen Solidarbeitrag leisten soll. Die Solidarität darf aber „nicht überdehnt werden, es muß beim Äquivalenzprinzip der Versicherung bleiben, und sei es auch in einer gewissen Erweiterung der Globaläquivalenz für den beitragszahlenden und Leistungen empfangenden Personenkreis“; die „Leistung muß dem Interesse der Versicherten entsprechen, für dessen Befriedigung sie Beiträge entrichten“.38 Nicht wenige Zwangsvereinigte würden – jedenfalls als Ledige jüngeren Alters ohne nennenswerte Vorerkrankungen – in der PKV einen erheblich niedrigeren Beitrag als in der GKV bezahlen und hätten teilweise – insbesondere nach den erheblichen sozialgesetzlichen Leistungseinschränkungen der letzten Jahre – auch einen deutlich besseren Versicherungsschutz. Eine umfassende GKV-Bürgerzwangsversicherung stünde 32 Sodan, Helge, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Ein verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Beitrag zum Umbau des Sozialstaates, 1997, S. 328. 33 Vgl. etwa BVerfGE 10, 354 (371); 29, 221 (235); 44, 70 (89); 48, 227 (234); 53, 313 (326). 34 Siehe dazu Leisner, Walter, Umbau des Sozialstaates. Besinnung auf die Grundlagen der Sozialversicherung, in: BB-Beilage 6 zu Heft 13 / 1996, S. 3. 35 BVerfGE 38, 281 (302). 36 Vgl. zum Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit in Bezug auf die GKV bzw. die soziale Pflegeversicherung BVerfGE 102, 68 (89 ff.); 103, 225 (239); 103, 271 (288); Hase (Fn. 21), S. 43 ff., 65 ff.; Leisner, Walter, in: Empter / Sodan (Hrsg.), Markt und Regulierung. Rechtliche Perspektiven für eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, S. 43 (51 ff.). 37 BVerfGE 103, 197 (223). Siehe dazu Kirchhof (Fn. 23), S. 3. 38 Leisner (Fn. 34), S. 4 f.
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für diese Zwangsvereinigten in keinem vernünftigen Verhältnis zu den diesen Personen aus der Pflichtzugehörigkeit erwachsenden Vorteilen und wäre daher wegen Verstoßes gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verfassungswidrig.39 Ebenso wenig ließe sich der zumindest mittelbare Eingriff in das den privaten Krankenversicherungsunternehmen durch Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG gewährleistete Grundrecht der Berufsfreiheit rechtfertigen.40 Ein Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 04.02.200441 weist darauf hin, dass die im so genannten Beitragssatzsicherungsgesetz vom 23.12.200242 geregelte und als verfassungsgemäß angesehene deutliche Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze „das duale Krankenversicherungssystem nicht grundsätzlich“ verändere und „der Geschäftsbereich der privaten Krankenversicherung der Beamten und Selbständigen“ unangetastet bleibe. Der Gesetzgeber hat die „bipolare Versicherungsverfassung“43 zu beachten.
2. Modell einer „solidarischen Bürgerversicherung“ Eine abgeschwächte Variante einer „Bürgerversicherung“ sieht das Ende August 2004 vorgelegte „Modell einer solidarischen Bürgerversicherung“44 vor. Danach 39 Sodan (Fn. 18), S. 220; so im Ergebnis auch Egger (Fn. 18); Kirchhof (Fn. 23), S. 2 f.; vgl. ferner Uleer, Christoph, Die „richtige“ Abgrenzung von PKV und GKV, in: Boecken / Ruland / Steinmeyer (Hrsg.), Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa. Festschrift für Bernd Baron von Maydell, 2002, S. 767 (773 f.), sowie die diesbezügliche Rezension von Sodan, Helge, in: VSSR 2003, 141 (143 f.); a. M. Beer / Klahn (Fn. 18), S. 17 f.; differenzierend Muckel, Stefan, Verfassungsrechtliche Grenzen der Reformvorschläge zur Krankenversicherung, in: SGb 2004, 583 (590 ff.). 40 Siehe dazu näher Leisner, Walter, Sozialversicherung und Privatversicherung. Dargestellt am Beispiel der Krankenversicherung, 1974, S. 35 ff.; Isensee (Fn. 18), S. 400 f.; Hufen, Friedhelm, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer. Vorträge im Rahmen der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 16. und 17. Juni 2003, 2004, S. 27 (36 f.); Kirchhof (Fn. 23), S. 3 f. Anders hingegen Storr, Stefan, „Neuorganisation der Sozialen Sicherungssysteme“ – zu den verfassungsrechtlichen Grenzen von Reformen in der Sozialversicherung am Beispiel der Krankenversicherung, in: SGb 2004, 279 (287). 41 BVerfG (Kammerbeschl.), VersR 2004, 898 (899). 42 Siehe den Nachw. in Fn. 16. 43 Siehe zu diesem Begriff Leisner (Fn. 40), S. 167, 170; Sodan (Fn. 32), S. 332; vgl. ferner Fuchs, Maximilian, Privatversicherung und Sozialversicherung, in: VSSR 1991, 281 (294); Hennies, Günter, Zum Monopol der gesetzlichen Krankenversicherung, in: ArztR 1994, 95 (96). 44 Siehe den mit diesem Titel erstatteten Bericht der Projektgruppe Bürgerversicherung des SPD-Parteivorstandes vom 26.08.2004, www.spd.de / servlet / PB / show / 1038852 / buergerversicherungsmodell.pdf, und die auf der Grundlage dieses Berichts vom SPD-Parteivorstand auf seiner Klausur am 28. / 29. 08. 2004 beschlossenen „Eckpunkte für eine solidari-
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bleiben die bestehenden Altverträge in der PKV unangetastet. Für Neuverträge soll jedoch ausschließlich ein so genannter „Tarif Bürgerversicherung“ zur Verfügung stehen. Zum Angebot dieses Tarifs könnten sowohl die gesetzlichen Krankenkassen als auch die privaten Krankenversicherungsunternehmen zu gleichen Wettbewerbsbedingungen zugelassen werden; Beitragssatzunterschiede sind möglich. Der „Tarif Bürgerversicherung“ ist u. a. durch einen einheitlichen gesetzlichen Leistungskatalog und einen Kontrahierungszwang auch für private Krankenversicherungsunternehmen gekennzeichnet. Alle Bürgerversicherungstarife sollen in den bislang nur für die GKV geltenden „Risikostrukturausgleich“45 einbezogen werden. Erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen dieses Modell bestehen bereits im Hinblick auf die erforderliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Diese könnte sich, soweit die PKV betroffen ist, aus dem in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG genannten Kompetenztitel „privatrechtliches Versicherungswesen“ ergeben. Legt man ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2001 zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften des Pflege-Versicherungsgesetzes46 zugrunde, so stehen zwar der Inanspruchnahme dieses Kompetenztitels nicht entgegen: eine Versicherungspflicht, ein Kontrahierungszwang und Einschränkungen privatautonomer Gestaltungsfreiheit. Die Entscheidung gibt jedoch zu erkennen, dass bei einer „Nivellierung der Prämien“47 die Grenze zu einem nicht mehr privatrechtlichen Versicherungswesen überschritten wird. Zu einer solchen Nivellierung würde aber die gesetzliche Regelung eines von jedem individuellen Risiko gelösten, versicherungsintern einheitlichen „Tarifs Bürgerversicherung“ führen. Der auch in einer privatrechtlichen Versicherung grundsätzlich zulässige soziale Ausgleich könnte jedoch durch eine Begrenzung der Beiträge auf einen zumutbaren Höchstsatz erreicht werden. Im Übrigen müsste der Gesetzgeber allerdings zur Wahrung der Kompetenz des privatrechtlichen Versicherungswesens Raum für eine Differenzierung der Beiträge lassen.48 Die PKV wäre anderenfalls der Sache nach zur Sozialversicherung mutiert. Der einzige faktische Unterschied zur Idee einer als umfassende Bürgerzwangsversicherung ausgestalteten Sozialversicherung bestünde darin, dass der Einzelne im Rahmen seiner Krankenversicherungspflicht zwischen einer öffentlich-rechtlich organisierten gesetzlichen Krankenkassche Bürgerversicherung“, www.spd.de / servlet / PB / show / 1038909 / 2004_08_29_WBHM _buergerversicherung.pfd. 45 Siehe zu den damit verbundenen Rechtsproblemen BSGE 90, 231 ff.; Sodan, Helge / Gast, Olaf, Der Risikostrukturausgleich in der GKV als Quadratur des Kreises, in: VSSR 2001, 311 ff.; dies., Umverteilung durch „Risikostrukturausgleich“. Verfassungs- und europarechtliche Grenzen des Finanztransfers in der Gesetzlichen Krankenversicherung, 2002, passim. 46 BVerfGE 103, 197 (218 f.). 47 BVerfGE 103, 197 (220) – Hervorhebung vom Verf. 48 Vgl. Sodan, Helge, Zur Verfassungsmäßigkeit der Ausgliederung von Leistungsbereichen aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Dargestellt am Beispiel der Versorgung mit Zahnersatz, in: NZS 2003, 393 (399 f.).
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se und einem privaten Krankenversicherungsunternehmen wählen könnte, ohne dass sich allerdings der Leistungskatalog im „Tarif Bürgerversicherung“ für ihn ändern würde. Für die Versicherten würde sich also faktisch keine nennenswert geringere Belastung ergeben als im Falle der zwangsweisen Einbeziehung in eine Sozialversicherung. Insofern gelten die aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit diesbezüglich entwickelten Überlegungen hier entsprechend. Die privaten Krankenversicherungsunternehmen könnten dem genannten Modell ihr Grundrecht der Berufsfreiheit entgegenhalten, welches die Wettbewerbsfreiheit einschließt49. In diese würde jedoch eine Verpflichtung zum Kontrahierungszwang ohne Risikoprüfung und zum Angebot eines einheitlichen Leistungskataloges sowie von Pauschalprämien intensiv und in nicht zu rechtfertigender Weise eingreifen. Der Eingriff bedürfte der Rechtfertigung und müsste insbesondere verhältnismäßig sein. Wenn man die Überlegungen richtig ausdeutet, würde ein Wettbewerb aber nur im Hinblick auf Versicherte und Beitragssätze stattfinden – verbunden mit der Aussicht, die Versicherten von der Nützlichkeit des Abschlusses von Zusatzversicherungen zu überzeugen. In Bezug auf die Leistungen im Rahmen des einheitlichen „Tarifs Bürgerversicherung“ wäre der Wettbewerb jedoch vollständig ausgeschlossen.
III. System pauschaler Gesundheitsprämien Halten sich demnach die beiden vorgeschlagenen Varianten einer künftigen „Bürgerversicherung“ nicht in dem vorgegebenen verfassungsrechtlichen Rahmen, rückt umso mehr ein Systemwechsel zur Sicherung der Überlebensfähigkeit der GKV ins Blickfeld. Das von der „Rürup-Kommission“ als zweite Alternative vorgeschlagene „System pauschaler Gesundheitsprämien orientiert sich am Äquivalenzprinzip und zielt auf eine völlige Entkoppelung der Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung von den Arbeitskosten“.50 Die bisherigen Arbeitgeberbeiträge51 sollen als Bruttolohnbestandteile ausgezahlt werden.52 Beitrags- bzw. Prä49 Siehe zur Herleitung der Wettbewerbsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG etwa BVerfGE 32, 311 (317); 46, 120 (137); BVerwGE 71, 183 (189); Sodan, Helge, Vorrang der Privatheit als Prinzip der Wirtschaftsverfassung, in: DÖV 2000, 361 (364). 50 Kommission (Fn. 3), S. 15. Der Bericht der vom Bundesvorstand der CDU Deutschlands eingesetzten Kommission „Soziale Sicherheit“ zur Reform der sozialen Sicherungssysteme, die als „Herzog-Kommission“ bezeichnet wird, vom 29.09.2003 schlägt zwar auch den Übergang zu einem Prämienmodell vor (S. 22 f.), empfiehlt aber, die Kosten der GKV, soweit sie Lohnnebenkosten sind, nur teilweise von den Arbeitskosten zu entkoppeln: „Dazu ist es erforderlich, die paritätische Finanzierung teilweise aufzugeben. Um den Arbeitgebern eine langfristig stabile Kalkulation der Arbeitskosten zu ermöglichen und die Lohnnebenkosten dauerhaft begrenzt zu halten, soll der Arbeitgeberanteil zur Finanzierung der Gesundheitskosten abgesenkt und bei 6,5 Prozent festgeschrieben werden“ (S. 20); www.cdu.de / tagesthema / 30_09_03_soziale_sicherheit.pdf.
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mienerhöhungen zögen künftig keine Verteuerung des Faktors Arbeit mehr nach sich. Diesem Modell zufolge ergäbe sich auf der Grundlage eines prinzipiell unveränderten Versichertenkreises und auf dem Stand des Jahres 2003 im Durchschnitt eine monatliche Prämie von rund 210 Euro je erwachsenem Versicherten.53 Um den erforderlichen sozialen Ausgleich zu gewährleisten, sollen Versicherte mit geringen Haushaltseinkommen steuerfinanzierte Prämienzuschüsse erhalten.54 Zur Verteilung der Belastungen heißt es im Kommissionsbericht: „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich durch eine Umstellung der Finanzierung auf Gesundheitsprämien keine großen Änderungen gegenüber der heutigen Belastungsverteilung ergäben. Die durchschnittliche maximale Belastung betrüge – je nach gewähltem Tarif des zumutbaren Eigenbeitrags – 0,6% bzw. 2,4% des verfügbaren Haushaltseinkommens oder rund 0,3% bzw. 1,2% des Bruttoeinkommens. Dies entspricht im heutigen System etwa den Belastungen eines Beitragssatzanstiegs um etwa 0,6 bzw. 2,4 Beitragssatzpunkte. Keine soziale Gruppe – abgesehen von Haushalten der Beamten und Pensionäre – würde systematisch durch die Reform belastet. Dagegen würden durch die Reform insbesondere Haushalte von Alleinstehenden im mittleren Einkommensbereich entlastet. Nach geltendem Recht tragen diese überproportional zur Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung bei und sind auch sonst im Steuer-Transfer-System hohen Grenzbelastungen ausgesetzt. Im Einzelnen ergäben sich jedoch sehr unterschiedliche Wirkungen in Abhängigkeit von Haushaltstyp und Haushaltsgröße. Durch die Gestaltung des Zuschusssystems und die Art der Gegenfinanzierung können politisch unerwünschte Verteilungseffekte vermieden werden.“55
Zu ergänzen ist, dass den sich für die öffentlichen Haushalte ergebenden Belastungen Entlastungseffekte infolge höheren Wirtschaftswachstums und steigender Beschäftigung gegenüber stünden. Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein einkommensunabhängiges Prämienmodell sind nicht ersichtlich. Für die angestrebten Neuregelungen hätte der Bund die Gesetzgebungszuständigkeit aus dem in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG genannten Kompetenztitel „Sozialversicherung“. Zwar baut das klassische Bild der Sozialversicherung auf dem Prinzip der versicherungsinternen Umverteilung und nicht auf einer Finanzierung über das Steuersystem auf. Das vom Bundesverfassungsgericht genannte Kriterium, wonach zur Sozialversicherung „jedenfalls die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit“ gehört,56 wäre 51 Die Arbeitgeber tragen gemäß § 249 Abs. 1 SGB V die nach dem Arbeitsentgelt zu bemessenden Krankenkassenbeiträge ihrer nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V versicherungspflichtig Beschäftigten jeweils zur Hälfte und haben nach § 257 Abs. 1 SGB V ihren freiwillig in der GKV versicherten Beschäftigten Beitragszuschüsse zu zahlen. 52 Kommission (Fn. 3), S. 162. 53 Kommission (Fn. 3), S. 15, 171. 54 Kommission (Fn. 3), S. 15, 162. 55 Kommission (Fn. 3), S. 173. 56 Siehe die Nachw. in Fn. 9.
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aber erfüllt. Nach Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG trägt der Bund ohnehin die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe.57 Die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgt schon seit langem zu einem wesentlichen Teil aus Steuermitteln. Ein Verstoß gegen das sogenannte Sozialstaatsprinzip (vgl. Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) ist nicht erkennbar: Das Bundesverfassungsgericht billigt dem Gesetzgeber in ständiger Rechtsprechung einen sehr weiten Gestaltungsspielraum zu; wie der Gesetzgeber diesen Gestaltungsauftrag erfülle, sei „mangels näherer Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips seine Sache“58. Da das Prämienmodell den notwendigen sozialen Ausgleich über das Steuersystem vornehmen will, wäre dem Sozialstaatsprinzip unzweifelhaft Genüge getan.
IV. Einführung einer privaten Pflichtversicherung Ein noch radikalerer Systemwechsel würde allerdings in der Abschaffung der GKV und der Einführung einer Pflicht zum Abschluss einer privaten Krankenversicherung für die medizinisch unbedingt notwendigen Leistungen liegen. Dieser im Juni 2004 auf dem Bundesparteitag der FDP beschlossene Vorschlag ist nicht so revolutionär, wie er auf den ersten Blick zu sein scheint. In diese Richtung zielten vielmehr bereits frühere Äußerungen des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Dieser sprach in seinem Sondergutachten 1995 von einer privaten Pflichtversicherung als „marktwirtschaftlicher Vision“, welche „unter bestimmten Bedingungen die wohlfahrtsoptimale Finanzierungsform“ darstelle: „Indem die private Pflichtversicherung jedem Bürger die für notwendig erachtete medizinische Versorgung sichert, erfüllt sie ihre Versicherungsaufgabe. Alle distributiven Funktionen, die im geltenden System die GKV wahrnimmt, verweist sie in den Bereich der Steuer- bzw. Transferpolitik.“59
Die von der FDP vorgeschlagene Abschaffung der GKV und die Ersetzung durch eine private Pflichtversicherung dürfte grundsätzlich nicht gegen die Verfassung verstoßen. Eine Gesetzgebungskompetenz zur Regelung einer Sozialversicherung ist eben keine Gesetzgebungspflicht. Angesichts der im FDP-Modell enthaltenen sozialen Absicherung wäre auch das Sozialstaatsprinzip nicht verletzt. Denn nach den Vorstellungen der FDP muss dann jedes Versicherungsunternehmen mit Kontrahierungszwang einen Pauschaltarif anbieten, der die Regelleistungen abdeckt und weder nach Geschlecht noch nach sonstigen Kriterien differenziert sein 57 58
Vgl. dazu BVerfG, NVwZ 2004, 463 (464); Sodan / Gast, Umverteilung (Fn. 45), S. 133. BVerfGE 100, 271 (284). Vgl. auch bereits BVerfGE 1, 97 (105); 65, 182 (193); 82, 60
(80). 59 Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000, Sondergutachten 1995, S. 163 (Nr. 561). Vgl. ferner Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1992 / 93, BT-Drucks. 12 / 3774, S. 226 (Nr. 388).
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darf; Risikoprüfungen und Risikozuschläge sollen in diesem Tarif nicht zulässig sein. Zudem sieht das FDP-Modell vor, dass jeder Bürger durch staatliche Transfers in dem Umfang unterstützt wird, in dem er nicht in der Lage ist, die Prämie für den Pauschaltarif und den Selbstbehalt aus eigenen Kräften aufzubringen. Ein verfassungsrechtliches Problem besteht jedoch im Hinblick auf die Frage, ob für diese Regelungen eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes aus dem Kompetenztitel „privatrechtliches Versicherungswesen“ bestünde. Ein von jedem individuellen Risiko gelöster gesetzlich geregelter einheitlicher Beitrag würde zu einer „Nivellierung der Prämien“ führen, bei der das Bundesverfassungsgericht, wie bereits ausgeführt wurde60, offenbar die Grenze zu einem nicht mehr „privatrechtlichen Versicherungswesen“ als überschritten ansieht. Der auch in einer privatrechtlichen Versicherung grundsätzlich zulässige soziale Ausgleich ließe sich jedoch durch eine Begrenzung der Beiträge auf einen zumutbaren Höchstsatz erreichen. Im Übrigen müsste der Gesetzgeber zur Wahrung der Kompetenz des privatrechtlichen Versicherungswesens Raum für eine Differenzierung der Beiträge lassen. V. Reduzierung des Versichertenkreises auf sozial Schutzbedürftige Der Realisierung des FDP-Modells wird derzeit allerdings eine nur geringe Erfolgsaussicht eingeräumt. Im Falle der – politisch gegenwärtig sehr wahrscheinlichen – Aufrechterhaltung der GKV sollte die Einführung eines Prämienmodells mit einer deutlichen Reduzierung des Versichertenkreises verbunden werden. Dieser ließe sich durch eine deutliche Senkung der Versicherungspflichtgrenze und eine Beseitigung der Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung (vgl. § 9 SGB V) auf die wirklich sozial Schutzbedürftigen beschränken61. Damit ist nicht eine – praktisch für jeden Menschen zutreffende – Schutzbedürftigkeit gegen allgemeine Lebensrisiken gemeint. So heißt es etwa in dem von Alfred Manes herausgegebenen Versicherungslexikon noch im Jahr 1930, die Sozialversicherung sei begrifflich beschränkt „auf notleidende Bevölkerungsschichten“62. Zwar vertritt das BunVgl. oben S. 18. Siehe dazu bereits Leisner (Fn. 40), S. 55 ff.; ders., Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung – ein grundgesetzliches Gebot?, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer. Vorträge im Rahmen der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 16. und 17. Juni 2003, 2004, S. 15 (20 ff.); Sodan (Fn. 32), S. 332 f.; Reuther, Florian, Verfassungsrechtliche Determinanten für die Beitragsbemessung in der sozialen Kranken- und Pflegeversicherung, in: Depenheuer / Heintzen / Jestaedt / Axer (Hrsg.), Nomos und Ethos. Hommage an Josef Isensee zum 65. Geburtstag von seinen Schülern, 2002, S. 435 (447 ff.). Vgl. auch Butzer, Hermann, Fremdlasten in der Sozialversicherung. Zugleich ein Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Sozialversicherung, 2001, S. 431 ff. 62 Stein, Oswald, Sozialversicherung, in: Manes (Hrsg.), Versicherungslexikon, 3. Aufl. 1930, Sp. 1446. 60 61
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desverfassungsgericht die Ansicht, die Beschränkung auf eine Notlage gehöre nicht zum „Wesen der Sozialversicherung“.63 Der Gesetzgeber könnte aber die Sozialversicherung den von ihm als sozial schutzbedürftig angesehenen Personen vorbehalten; für entsprechende Regelungen hätte er einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Bereits ein „Durchschnittsverdiener“ dürfte nicht zum Kreis derer gehören, die in den Schutz einer Sozialversicherung einbezogen werden müssen. Im Vergleich zum Jahr 1883 ist das durchschnittliche Einkommen in Deutschland jedenfalls um ein Vielfaches gestiegen und damit auch die Möglichkeit zu einer eigenverantwortlichen Absicherung des Krankheitsrisikos. Einem Menschen, der sich wochenlange Urlaubsreisen zu leisten vermag, kann auch die private Absicherung seines Krankheitsrisikos zugemutet werden.64 Der Anteil der in der GKV Versicherten an der Gesamtbevölkerung könnte – grob geschätzt – künftig bei nur noch 50 Prozent liegen. Mit einer Kombination von Prämiensystem und Beschränkung des Versichertenkreises auf sozial Schutzbedürftige ließe sich auch dem Einwand „sozialer Ungerechtigkeit“ begegnen. Dieser wird bekanntlich auf die gleiche Höhe der Beitragsleistungen von Menschen mit hohem und solchen mit niedrigem Einkommen gestützt. Die Unterschiede der in die GKV Einbezogenen wären in materieller Hinsicht nämlich deutlich geringer; der Versichertenkreis erwiese sich insgesamt als homogener.65 Über ein Steuer-Transfer-System würden auch die finanziell Leistungsstärksten zur Unterstützung der sozial Schutzbedürftigen herangezogen, ohne – wie beim Modell einer umfassenden „Bürgerversicherung“ – zugleich selbst in eine Sozialversicherung gezwungen zu werden. Wer nicht sozial schutzbedürftig ist, vermag sein Krankheitsrisiko eigenverantwortlich abzusichern. Eine deutlich schlankere Sozialversicherung wäre jedenfalls effizienter und schon damit sozial gerechter. Mit der damit verbundenen Eröffnung eines zusätzlichen erheblichen Marktes für die PKV würden neue Marktteilnehmer in einem dann auch im Bereich der Krankenversicherung verwirklichten europäischen Binnenmarkt hinzukommen. Diese könnten mit differenzierten Versicherungsangeboten für eine – gemeinschaftsrechtlich ohnehin intendierte66 – Intensivierung des Wettbewerbs unter den privaten Krankenversicherungsunternehmen sorgen. Damit wäre eine Perspektive für die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der deutschen Krankenversicherung eröffnet.
So BVerfGE 11, 105 (113); 63, 1 (35); 75, 108 (146). Sodan, Helge, Die gesetzliche Krankenversicherung nach dem GKV-Modernisierungsgesetz – Zehn Thesen zur Gesundheitsreform, in: GesR 2004, 305 (309). 65 Vgl. zum Gesichtspunkt der Homogenität des Versichertenkreises Leisner (Fn. 40), S. 88. 66 Siehe etwa Art. 4 Abs. 1 EG: Danach umfasst die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist“. 63 64
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I. Zur wirtschaftlichen Lage Wer heute über die wirtschaftliche Situation in Deutschland sprechen möchte, wählt kein erfreuliches Thema. Die strukturelle Krise, in der sich das Land befindet, hat mittlerweile ein Gesicht bekommen. Wir alle stehen noch unter dem Eindruck der angsterfüllten Mienen der Mitarbeiter bei Karstadt oder Opel, die um ihre Jobs bangen. Doch nicht nur die großen Konzerne und deren Beschäftigte tragen schwer an der Krise: Landauf landab spürt man die äußerst angespannte Situation, in der sich Deutschland befindet. Egal, welches Gebiet man betrachtet: Überall herrscht immenser Handlungsdruck. Es gibt nichts zu beschönigen: Schwere Strukturprobleme kennzeichnen mittlerweile unser Land. Die Bundesrepublik muss sich damit abfinden, beim Wohlstandsvergleich innerhalb der EU binnen zehn Jahren um acht Platze abgestürzt zu sein und heute auf Rang elf, statt auf einem guten dritten Platz, zu rangieren. Es ist eine Tatsache, dass die Abgabenlasten mit fast 55 Prozent die höchsten der Nachkriegszeit sind. Auch ist es längst kein Geheimnis mehr, dass die Neuverschuldung bald zum vierten Mal in Folge bei über drei Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) liegen wird. Die öffentliche Hand macht zwei- bis dreimal so viele Schulden wie sie investiert. Dabei waren das Investitionsniveau nie so gering und der Schuldenstand noch nie so hoch. Die Arbeitslosigkeit erreicht neue Rekordwerte. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen liegt mit über einem Drittel so hoch wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Mit dieser Zahl verzeichnen wir mittlerweile die zweithöchste Arbeitslosigkeit in der „alten“ EU. Bei der Arbeitslosigkeit der Älteren und gering Qualifizierten hat Deutschland inzwischen sogar eine traurige Spitzenposition in Europa errungen. Zynischerweise floriert zur gleichen Zeit die deutsche Schattenwirtschaft in bislang ungekanntem Ausmaß. Rund 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden außerhalb des regulären Arbeitsmarktes erwirtschaftet. Der Grund liegt auf der Hand: Arbeit in Deutschland ist nahezu unerschwinglich geworden. Das belegt auch der nächste unrühmliche Rekord. Nie zuvor hat es in der Geschichte Deutschlands eine derartige Flut von Firmenpleiten gegeben wie heute. Statistisch muss
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alle 13 Minuten ein Unternehmen Insolvenz anmelden – und produziert damit wiederum neue Arbeitslose oder Frührentner. Die Schwankungsreserve in der Rentenkasse ist jedoch fast aufgebraucht – es drohen Beitragserhöhungen, die erneut die Arbeit verteuern und Arbeitsplätze kosten. Mit einem ähnlichen Szenario warten auch die gesetzlichen Krankassen auf: Nur mäßig gebremst durch einzelne Reformmaßnahmen taumeln sie von einer Rekordverschuldung zur nächsten, ohne dass ein klares Konzept erkennbar wäre, wie das Finanzdilemma künftig wirkungsvoll aufgelöst werden könnte. Dies ist umso bitterer, als wir derzeit das historisch größte Volumen an Gesetzen und Verwaltungsvorschriften erreicht haben, die es in Deutschland je gegeben hat – es liegt etwa beim Fünffachen dessen der Aufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg; die Bundesrepublik leistet sich einen doppelt so hohen Personalbestand in Verwaltungen und im öffentlichen Dienst wie in den fünfziger Jahren. Dieser (überflüssige) Luxus hat jedoch nicht dazu geführt, das Land aus der Krise zu bringen. Im Gegenteil: Die Bürokratiekosten liegen mittlerweile bei unvorstellbaren 29 Milliarden Euro pro Jahr, 28 Milliarden davon lasten allein auf dem Mittelstand. Ein deutsches Unternehmen ist statistische 731 Stunden pro Jahr nur mit der Bewältigung des bürokratischen Aufwandes beschäftigt. Eine Arbeitskraft sitzt somit viereinhalb Monate lang nur über den Formularen. Kosten für das Unternehmen: Rund 31.000 Euro! Dass sich mit solchen Eckdaten kein Standortwettbewerb innerhalb des großen europäischen Binnenmarkts gewinnen lässt, liegt auf der Hand. Deutschland ist weit abgeschlagen. Die strukturellen Defizite werden auch dadurch sichtbar, dass in Deutschland Arbeitsplätze erst bei einem viel höheren Wachstum als in anderen Ländern entstehen. Experten gehen davon aus, dass in Deutschland ein besonders hoher Anteil der Arbeitslosigkeit – etwa 90 Prozent – strukturell bedingt ist und allein durch konjunkturelle Impulse nicht dauerhaft abgebaut werden kann. Das in den letzten Jahrzehnten stetig steigende Gesamtniveau der Arbeitslosigkeit ist das traurige Ergebnis.
II. Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme Die Folgen für die sozialen Sicherungssysteme sind fatal. Ohnehin belastet durch die Kostenschübe, die der demographische Wandel und der medizinische Fortschritt mit sich bringen, tragen auch die strukturelle wirtschaftliche Schwäche und die lahmende Konjunktur massiv zur Finanzkrise der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bei. Insoweit besteht noch immer ein erheblicher Reformbedarf. Den Kompromiss mit der Bundesregierung beim „GKV-Modernisierungsgesetz (GMG)“ aus dem Jahr 2003 trägt die Union als notwendigen Beitrag zur Stabilisierung der Beitragssätze mit. Wir als Union sind uns aber darüber im Klaren, dass
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die Kraftanstrengung von 2003 nur eine Notoperation war. Solche Notoperationen sind nicht beliebig wiederholbar. Selten hat eine Maßnahme des Gesetzgebers so sehr die Gemüter erhitzt wie das GMG. Schon jetzt schwindet das Zutrauen der Bürger in die Sicherheit des gesetzlichen Systems. Eine aktuelle Studie der Continentale Private Krankenversicherung1 hat bewiesen, dass die Deutschen das Vertrauen in das Gesundheitssystem verloren haben. 81 Prozent glauben, dass eine ausreichende medizinische Versorgung durch die GKV nicht mehr gewährleistet ist oder in Zukunft sein wird.
III. Gesundheitspolitische Leitsätze von CDU und CSU Erforderlich ist daher eine klare politische Richtungsentscheidung zugunsten eines durchgängig wettbewerblich organisierten Gesundheitssystems. Dabei kann und darf es nicht darum gehen, den Wettbewerb um des Wettbewerbs willen zu propagieren. Ziel ist es vielmehr, die „segensreichen Wirkungen des Wettbewerbs“ zu nutzen: Er ist am ehesten in der Lage, Effizienzprobleme zu lösen, den individuellen Interessen der einzelnen Akteure gerecht zu werden und die Versorgungsqualität zu verbessern. Die Aufgaben, die es dabei zu meistern gilt, sind gewaltig. Es gilt, unser über 100 Jahre altes Sozialsystem unter völlig veränderten ökonomischen Verhältnissen neu zu gestalten und dauerhaft wettbewerbsfähig zu machen. Wir brauchen eine Krankenversicherung, die nicht nur die nächsten Jahre überleben kann, sondern auch für die nächsten Generationen in der Lage ist, ihre wichtigste Aufgabe zu erfüllen: große Risiken solidarisch abzusichern. Dies bedeutet zugleich, dass kleinere Risiken, wo es denn vertretbar und zumutbar ist, wieder in die Verantwortung des Einzelnen zurückgegeben werden müssen. Es waren nie einfache Zeiten, wenn die Weichen in der Bundesrepublik Deutschland neu gestellt werden mussten. Immer waren dabei Ziele und Wege umstritten. Die CDU ist nie den leichtesten Weg gegangen. Es kommt nicht darauf an, dass sich die Weichen widerstandslos neu stellen lassen. Es kommt darauf an, dass sie richtig gestellt werden, auch wenn Widerstände dabei zu überwinden sind. Nicht das tun, was leicht ist, sondern das, was notwendig ist. Dabei gilt es vor allem, den Menschen ihre Eigenverantwortung zurückzugeben. Allerdings muss der Rahmen, innerhalb dessen sich diese Eigenverantwortung manifestieren soll, sinnvoll neu definiert werden. Wir werden uns für die kommenden Jahrzehnte entscheiden müssen: Entweder Zugang zur Spitzenmedizin für jeden – oder eine allgemeine Verwaltung des Mangels. Entweder mehr Eigenverantwor-
1 Continentale Studie 2004: Die Deutschen und ihr Gesundheitssystem: Unzufriedenheit und Ängste; nachzulesen unter: http: / / www.continentale.de / cipp / continentale / custom / pub / content,lang,1 / oid,2102 / ticket,gues t; Stand: 03 / 2005.
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tung bei überschaubaren Risiken oder Zweiklassenmedizin in allen Bereichen. Entweder mehr Freiheit oder Verwaltung des kollektiven Mangels. CDU und CSU treten gemeinsam für folgende gesundheitspolitischen Leitsätze ein: – Wir wollen, unabhängig vom Einkommen und Alter, Spitzenmedizin für alle. – Wir wollen eine Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnkosten, um eine Senkung der Sozialversicherungskosten der Arbeitnehmer bezogen auf das Arbeitseinkommen auf unter 40 Prozent zu erreichen. – Wir wollen solidarische Gerechtigkeit für die Geringverdiener und sozial Schwachen. – Wir wollen einen kräftigen Beschäftigungsimpuls für unseren Arbeitsmarkt und eine Stabilisierung der Kosten im Gesundheitsbereich durch den Wettbewerb der Versicherungen um die Versicherten.
Wir brauchen eine neue Balance zwischen staatlicher Regulierung und persönlichem Freiheitsspielraum. Die Balance, die einst in der Industriegesellschaft Bismarcks erfunden wurde, bildet im Deutschland des 21. Jahrhunderts einen nicht mehr zu tolerierenden Anachronismus. Das heißt nicht, dass es nicht auch in Zukunft soziale Sicherheit für alle geben kann und muss. Aus diesem Grund setzen wir uns für eine Sozialpolitik ein, die zugleich auch soziale Ordnungspolitik ist. Nur so kann es gelingen, dauerhaft die Absicherung großer Lebensrisiken zu gewährleisten.
IV. Zum Modell einer „Bürgerversicherung“ Die Debatte über eine Finanzierungsform der GKV hat viele Konzepte hervorgebracht. SPD und Bündnis 90 / Die Grünen plädieren für eine „Bürgerversicherung“. Die FDP strebt eine Privatisierung der GKV an. Und die CDU hat auf ihrem Parteitag in Leipzig im Dezember 2003 ein Prämienmodell beschlossen. Rot-Grün gaukelt den Menschen vor, die vermeintlich gerechte „Bürgerversicherung“ könnte die Probleme lösen. Die Argumente sind auf den ersten Blick bestechend: Eine Bürgerversicherung bedeutet danach mehr Gerechtigkeit, weil alle in die gesetzlichen Krankenkassen einzahlen müssen. Sie ist – so ihre Befürworter – generationengerecht, demographieresistent und zukunftssicher, hält Gesundheit langfristig bezahlbar und führt quasi als Nebeneffekt überdies zu einer Gesundung der Kassen. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich diese vermeintlichen Vorteile jedoch als wenig stichhaltig. Doch es lässt aufhorchen, wenn selbst der Vorsitzende der von der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung eingesetzten „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“, Bert Rürup,
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konstatiert: „Die Bürgerversicherung hat einen entscheidenden Vorteil: ihren Namen. Der suggeriert Wärme, Geborgenheit und solidarisches Füreinander. Es werden Umverteilungswünsche und Gleichbehandlungsbedürfnisse befriedigt, aber das fundamentale ökonomische Problem – die Wachstumsschwäche der Beitragsbasis – wird nicht gelöst und die beschäftigungsfeindliche Verkopplung von Gesundheitskosten und Arbeitskosten nur geringfügig gelockert.“ Tatsächlich kommt es mit einer Bürgerversicherung weder zu einer spürbaren Entlastung im Bereich der Beiträge noch zu einer Abkoppelung von den Lohnkosten. Die dringend benötigten Effekte für mehr Wachstum und Beschäftigung bleiben aus. Wer leugnet, dass die Möglichkeiten, im bisherigen einkommensbezogenen Beitragssystem weitere Einnahmequellen zu erschließen, ausgeschöpft sind, verschließt die Augen vor der Realität. Es ist offensichtlich, dass mit der Bürgerversicherung vor allem mittlere Einkommen zusätzlich belastet werden. Eine gerechtere Finanzierung wird verfehlt. Die Einführung einer zusätzlichen zweckgebundenen Steuer auf Kapitalerträge zur Finanzierung der Krankenkassen ist abgabenrechtlich fragwürdig und volkswirtschaftlich kontraproduktiv. Alle laut geäußerten Bedenken gegen ein steuerfinanziertes Gesundheitswesen scheinen jedoch an der Bundesregierung abzuperlen. Denn auch die von ihr so vehement verfochtene Bürgerversicherung ist nichts anderes als eine verkappte Gesundheitssteuer, die über einen Aufschlag auf die Einkommensteuer finanziert wird. Der Beitragseinzug muss in weiten Teilen über die Finanzämter laufen. Die Bürgerversicherung unterscheidet sich also nicht von einem steuerfinanzierten Gesundheitssystem. Auch mit der Bürgerversicherung bleibt es dabei, dass die Gesundheitskosten überwiegend aus Löhnen und Gehältern finanziert werden. Arbeitgeber werden nicht entlastet. An dem Arbeitgeberzuschuss zur Krankenversicherung ändert sich wenig. Steigende Gesundheitskosten führen wie heute zwangsläufig zu steigenden Beitragssätzen und damit zu steigenden Lohnnebenkosten. Diese enge Anbindung an die Lohnkosten vernichtet Arbeitsplätze, weil jede Kostensteigerung im Gesundheitswesen als Reflex die Arbeitskosten in die Höhe treibt. Auch die Schere zwischen Brutto und Netto wird durch die Bürgerversicherung nicht geringer: An jeder Lohn- und Rentenerhöhung verdienen die Krankenkassen weiter mit. Eine Entkoppelung der Krankenkassen-Beiträge von den Arbeitskosten findet nicht statt. Damit leistet die Bürgerversicherung keinen Beitrag zur Senkung der Lohnnebenkosten und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil. Berechungen der Gewerkschaften zeigen, dass die Beiträge zur Bürgerversicherung in den ersten zehn Jahren praktisch nicht sinken werden. Die versprochene Entlastung um 1,8 Prozentpunkte wird damit – wenn überhaupt – erst im Jahr 2050 anfallen. Damit bleibt die Bürgerversicherung weit hinter den Entlastungswirkungen der aktuellen Gesundheitsreform zurück. Sie führt sogar zu steigenden Beiträgen, wenn ältere und kranke Privatversicherte von einem möglichen Recht zur Rückkehr in die gesetzlichen Krankenkassen Gebrauch machen. Der wirklich be-
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merkenswerte – leider negative – Effekt der Bürgerversicherung ist die Zerschlagung der privaten Krankenversicherung in ihrer heutigen Form, die mit Alterungsrückstellungen besser auf steigende Beiträge im Alter vorbereitet ist. Die gesetzlichen Krankenkassen leben unterdessen weiter von der Hand in den Mund. Auch neue Arbeitsplätze werden durch die Bürgerversicherung nicht geschaffen. Im Gegenteil: Lohnintensive Branchen werden wegen ihres hohen Arbeitgeberanteils und der Anhebung des beitragspflichtigen Einkommens auf 5.100 Euro noch stärker belastet als bisher. Arbeitnehmer in dieser Gehaltsklasse müssen für jeden Euro, den sie verdienen, bis zu 70 Prozent an Steuern und Sozialabgaben zahlen. Als Effekt hat die sog. Rürup-Kommision selbst „erhebliche negative Anreizwirkungen“ prognostiziert, „die negative Beschäftigungswirkungen erzeugen dürften“. Eine These, die auch andere Expertengremien stützen: Nach dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung droht ein Beschäftigungsrückgang von bis zu 3,0 Prozent. Das heißt: Weitere 1,25 Millionen Arbeitsplätzen werden verloren gehen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland würde durch eine Bürgerversicherung also weiter geschwächt. Das können wir uns nicht leisten. Die Bürgerversicherung bietet zudem keine Antwort auf den demographischen Wandel. Die Deutschen bekommen immer weniger Kinder, und sie werden zugleich immer älter. Heute sind rund 21 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter. Schon bald wird jeder dritte Bürger älter als 65 Jahre sein. An den Problemen, die sich aus dieser Entwicklung ergeben, wird auch die Pflichtmitgliedschaft von Angestellten, Beamten und Selbstständigen nichts ändern. Die jährlich von Rentnern in Anspruch genommenen Versicherungsleistungen sind ca. 33 Milliarden Euro höher als die von ihnen gezahlten Beiträge. Damit werden die Defizite der gesetzlichen Krankenkassen auch in den nächsten Jahren stark steigen – umso mehr, wenn neue Pflichtmitglieder im Rentenalter ihre Ansprüche geltend machen, ohne dass wegen der niedrigen Geburtenraten ausreichend neue Beitragszahler nachwachsen. Generationengerechtigkeit und Zukunftssicherung sind durch die Bürgerversicherung folglich nicht gewährleistet. Für unser Gesundheitswesen heißt dies, dass wir das Mehr an Leistungen bei weniger aktiven Beitragszahlern anders finanzieren müssen. Die Bürgerversicherung hält diesbezüglich keinerlei Vorsorge gegen künftige Ausgabensteigerungen vor. Bis heute ist nicht klar, wer ab wann auf welche Einkünfte welchen Beitrag in die Bürgerversicherung einzahlen soll und welche Leistungen er dafür bekommt. SPD und Bündnis 90 / Die Grünen belassen es bei allgemeinen Eckpunkten, um den Menschen nicht die Wahrheit sagen zu müssen: Die Bürgerversicherung belastet mittlere Einkommen, erzeugt neue Ungerechtigkeiten und eine gigantische Bürokratie, beseitigt Wahlfreiheit und Wettbewerb und ist bei alledem nicht in der Lage, die Beiträge zu senken. Aus Angst vor den Wählern will die SPD vor der Bundestagswahl keinen konkreten Gesetzentwurf einbringen, sondern mit nichts sagenden Schlagworten ein Trugbild aufrechterhalten. Näheres sollen die Wähler
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erst erfahren, wenn die Wahlen gelaufen sind. Damit ist klar: Von der Bürgerversicherung bleibt nur Verunsicherung übrig.
V. Das Gesundheitsprämien-Modell der Union Anders verhält es sich mit dem Gegenvorschlag der Unionsparteien, der eine solidarische Gesundheitsprämie als Alternative zur Bürgerversicherung vorsieht. Die CDU hat ihre Überlegungen zur Neuordnung der GKV-Finanzen dabei unter das Motto gestellt: „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Die Gesundheitsprämie führt laut Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu einem Beschäftigungswachstum zwischen 2,4 und 3,6 Prozent. Das heißt: Es könnten bis zu 1,4 Millionen neue Jobs entstehen. Auf der Basis von Subsidiarität und Eigenverantwortung werden damit die Sozialsysteme zukunftsfähig gemacht. An die Stelle der heute praktizierten, an die Arbeitskosten gebundenen Finanzierung der Gesundheitskosten tritt eine solidarische Gesundheitsprämie. Die Kassen erhalten dabei für jeden Versicherten einen einheitlichen Beitrag, die eigentliche Prämie. Sie ist unabhängig von Einkommen, Alter, Gesundheit, Geschlecht und Familienstand und kann durch einen Vorsorgeanteil ergänzt werden, der die im Alter anfallenden höheren Gesundheitskosten abfedert. Um niemanden zu überfordern, wird der Sozialausgleich so gestaltet, dass Menschen mit niedrigeren Einkommen nur diejenigen Beiträge zur Prämie zahlen, die ihrer Leistungsfähigkeit entsprechen. Die Belastungsobergrenze liegt bei 12,5 Prozent des Einkommens. Der zur Gesundheitsprämie fehlende Anteil wird von der Finanzverwaltung direkt an die jeweilige Krankenkasse gezahlt, so dass eine Bedürftigkeitsprüfung entfällt. Kinder werden beitragsfrei mitversichert. Der Arbeitgeberbeitrag zur Krankenversicherung wird auf 6,5 Prozent vom Arbeitseinkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze begrenzt, versteuert und an den Arbeitnehmer ausbezahlt. Zur Finanzierung des Solidarausgleiches und der beitragsfreien Mitversicherung von Kindern soll ein Finanzierungsbeitrag über das Steuersystem erfolgen. Dadurch sollen auch die über der Beitragsbemessungsgrenze liegenden Einkommen sowie die Einkommen von Politikern, Beamten und Selbstständigen in die Solidarität einbezogen werden. Es soll zu einer spürbaren Entlastung der Arbeitnehmer mit mittleren Einkommen kommen. Bei der Umstellung auf Gesundheitsprämien gelingt es, den verhängnisvollen Teufelskreis aus steigenden Beiträgen, steigenden Arbeitskosten und steigender Arbeitslosigkeit, weniger Beitragszahlungen und damit wieder höheren Beitragssätzen endlich zu durchbrechen. Zudem bietet das Prämienmodell die Chance, den sozialen Ausgleich für Familien und Geringverdiener auf eine breitere Grundlage zu stellen und ihn zielgenauer und gerechter als bisher auszugestalten. Der dritte große Vorteil der Gesundheitsprämien liegt darin, die Einnahmen der GKV unanfälliger
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für Konjunkturschwankungen zu machen. Während heute steigende Arbeitslosigkeit, Rentenkürzungen oder der Wegfall von Weihnachts- und Urlaubsgeld zu starken Einnahmenverlusten bei den Krankenkassen führen, garantieren vom Lohn entkoppelte Gesundheitsprämien dauerhaft eine stabile Einnahmenbasis. Solidarische Gesundheitsprämien leisten einen entscheidenden Beitrag zu mehr Generationengerechtigkeit in der Krankenversicherung. Bereits heute beanspruchen Versicherte im Rentenalter etwa doppelt so viele Leistungen der GKV wie jüngere Versicherte. Zugleich sind die Beiträge der Rentner nur etwa halb so hoch wie die der erwerbstätigen Beitragszahler. In den kommenden Jahrzehnten würde sich die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben im derzeitigen System immer deutlicher öffnen, weil das Bruttorentenniveau nach allen bekannten Vorschlägen für eine Rentenreform deutlich absinken wird. Solidarische Gesundheitsprämien sorgen dagegen auch bei steigenden Rentnerzahlen und sinkendem Rentenniveau für Stetigkeit bei den Einnahmen. Das Prämienmodell ermöglicht durch den Einbau kapitalgedeckter Finanzierungselemente eine gezielte Vorsorge für den bereits heute absehbaren langfristigen Ausgabenanstieg. Wir treten dafür ein, dass die Gesundheitsprämien einen Vorsorgebeitrag erhalten, mit dem individuelle Vorsorgekonten der Versicherten aufgebaut werden. Die so angesammelten und verzinsten Mittel können im Alter zur Begrenzung von Prämienerhöhungen und zur Deckung steigender Gesundheitsausgaben entnommen werden. Auch dies ist ein wichtiger Beitrag zu einer fairen Lastenverteilung zwischen Jung und Alt. Ich weiß: Die Entscheidung für ein Gesundheitsprämien-Modell ist eine Abkehr vom Vorbild des alten Bismarck-Modells. Aber ich weiß auch: Über einhundert Jahre nach seiner Einführung geht es um neue Sicherheit für ein uraltes Lebensrisiko. In diesem Sinne wäre es tatsächlich eine Jahrhundertreform. Das wird uns aber nicht abschrecken, sie trotzdem anzupacken. Auch das unionsinterne Ringen um den besten Weg lässt hoffen. Ich bin zuversichtlich, dass wir bald eine gemeinsame Lösung haben, welche die bessere Alternative zu Rot-Grün in der Gesundheitspolitik sein wird. Bei Licht betrachtet gibt es für uns politische Akteure nicht mehr als drei Handlungsmöglichkeiten auf diesem Politikfeld: Umsetzung des Konzepts der solidarischen Gesundheitsprämie, Umsetzung des Modells der Bürgerversicherung oder Beharren im Status Quo. Die CDU hat sich als erste Partei ausführlich mit den Fragestellungen befasst und nach intensiven Beratungen in der sog. Herzog-Kommission, in den Gremien unserer Partei, mit den Vereinigungen, auf Regionalkonferenzen und schließlich auf dem Bundesparteitag für die solidarische Gesundheitsprämie entschieden. Inzwischen sind die SPD und Bündnis 90 / Die Grünen nachgezogen und haben sich auf das holzschnittartige Modell der Bürgerversicherung festgelegt. Damit besteht für uns Klarheit über die vor uns liegenden Auseinandersetzungen und die Notwendigkeit, als Union gemeinsam ein wirtschaftlich sinnvolles und sozial ausgewogenes Konzept zu vertreten.
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VI. Ausblick Die Verantwortlichen unserer Schwesterpartei stehen nun vor dem Schritt, den CDU, SPD und Bündnis 90 / Die Grünen bereits gegangen sind. Alle Argumente, Zahlen, Daten und Fakten liegen auf dem Tisch, und zahlreiche Experten haben ihre Empfehlungen ausgesprochen. Deshalb bin ich mir sicher, dass wir gemeinsam mit unseren Kollegen Übereinstimmung erzielen werden, dass die solidarische Gesundheitsprämie zukunftweisend, wettbewerbsfähig und strategisch geboten ist. Mit einer solchen Einigung sind wir gerüstet für die vor uns liegenden Wahlkämpfe. Wir haben die besseren Argumente auf unserer Seite und dokumentieren damit die Vision für unser Land, die auf Arbeit und Wohlstand für alle setzt. Und wir belegen unsere Verantwortung für die kleinen und mittleren Einkommensbezieher, da gerade sie deutlich entlastet werden. Zusammen mit den gemeinsamen Beschlüssen in den Bereichen Steuern und Arbeitsmarkt verfügen wir so über das Rüstzeug im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Schwarzarbeit. Für diese Ziele lohnt es sich zu arbeiten und um die beste Lösung zu ringen. Ich würde mich freuen, wenn viele diesen Weg unterstützen würden.
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Die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschafts- und Sozialverfassung Von Walter Leisner
I. Einleitung Deutschland leidet nicht an akutem Reformstau, sondern an permanenter Reformitis. Hier wirkt ein ehernes Gesetz der Demokratie: Dem souveränen Volk, dem Wähler kann nicht vorgehalten werden, er lebe seit langem über seinen Verhältnissen; wolle er sie halten, müsse er mehr leisten. Nein: Der Wähler ist tüchtig, das Volk ist gut1 – die Gesetze sind schlecht, das sagen ihm seine oft nicht ohne Mühe ausgewählten (höchsten) Repräsentanten. Ärgerlich ist nur, dass es nicht mehr, wie in der französischen Revolution, gilt, verrostete Feudalketten zu brechen – zur Freiheit, sondern Regeln, die sich der Volkssouverän in zwei Generationen voller Freiheit selbst geschenkt hat. Doch Selbstkritik zur rechten Zeit war noch immer ein gutes Mittel, politische Häute zu retten, das galt nicht nur in der Sowjetzeit. Also: Allons enfants de la Patrie, il faut que cela change – natürlich zum Besseren, wie ja überhaupt und vor allem bei der Gesundheit. Beim letzten großen Reformitis-Schub der beginnenden 70er Jahre meinte der Berliner Staatsrechtler Helmut Quaritsch: „Der Fortschritt ist in den Laufschritt verfallen und überholt sich selbst“. Heute könnte es heißen: Wir sehen so viel – fern, dass uns alles verschwimmt, alles Nächste, Reales wie Rechtliches. Eines vor allem sieht man nicht mehr – im Lande der Reformation – was „reformieren“ denn bedeutet: „zurückgestalten“, wieder hin zu den Quellen, nicht irgendwohin, um jeden Preis.2 Daher ist über die Basis zu sprechen, auf 1 Im Esprit des Loix hat Montesquieu bereits dem Volk dieses Lob gesungen: Ihren Esprit général solle man nicht ändern (XIX, 5): „Wenn der Charakter im Allgemeinen gut ist – was schaden dann einige Fehler?“. 2 Im Jahre 1864 schrieb Bluntschli im „Deutschen Staatswörterbuch“ von J. G. Bluntschli und K. Brater, Bd. 8, S. 605, unter dem bezeichnenden gemeinsamen Titel „Revolution und Reform“: „Im engeren Sinne aber unterscheiden wir von der gewaltsamen Revolution die rechtmäßige Reform. Die Reform setzt voraus: 1) dass die Änderung durch die zuständigen Autoritäten (insbesondere die Gesetzgebungsgewalt) in verfassungsmäßiger Form eingeführt werde, 2) dass sie auch in ihrem Inhalt Maß halte, und sich begnüge, das wirklich Veraltete zu beseitigen, aber das noch Lebensfähige in den hergebrachten Zuständen schone und bewahre und indem sie für die neuen Zeitbedürfnisse sorge, doch das möglichst im Anschluss an das neue Recht thue.“
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der das gegenwärtige Gesundheitssystem sich entwickelt hat, über die Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialverfassung. Sie bieten den Rahmen jeder Gesundheitsreform, ihn darf sie nicht überschreiten, er gibt ihr ihre Ziele vor, ihren Sinn. Ein Wort begegnet hier zu allererst, es ist vom breitesten Konsens getragen, den es heute wohl gibt in der Gemeinschaft: soziale Marktwirtschaft.3 In ihrem Namen ist in der Vergangenheit so vieles gelungen, kann sie nicht auch dem Gesundheitswesen eine gute Zukunft weisen? Ist es nicht gerade hier zu Verwerfungen gekommen, weil sich die sozialrechtliche Entwicklung von der sozialen Marktwirtschaft immer weiter entfernt (hat)? Eine Gefahr gilt es allerdings zu sehen: Allzu viel Konsens führt zum Lippenbekenntnis.4 Deshalb ist zu hinterfragen: Was bedeutet „Marktwirtschaft“ (II), was ist an ihr das „Soziale„(III), hat die soziale Marktwirtschaft Verfassungsrang, Verbindlichkeit für den Gesundheitsgesetzgeber (IV) – und dann vor allem: Welche Eckdaten ergeben sich daraus für die Organisation der Krankenversicherung in Deutschland (V)?
II. Was bedeutet „Marktwirtschaft“? Schon was „Marktwirtschaft“ bedeutet, ist vielen heute kaum mehr bewusst. Marktwirtschaft herrscht nicht bereits, wenn Preise und Werte über Angebot und Nachfrage bestimmt werden. Das Entscheidende wird meist unterschlagen5 oder einfach vergessen: Dies alles muss in Bürgerfreiheit ablaufen, staatsfern. Der Zugang zum Markt, zum Platz des Handels, muss frei sein und auf ihm muss frei, ohne staatlichen Zwang „gehandelt“ werden dürfen. Natürlich bedarf es der Aus3 Aus staatsrechtlicher Sicht grundlegend Rupp, Hans Heinrich, Die soziale Marktwirtschaft in ihrer Verfassungsbedeutung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 1997, § 203; Isensee, Josef, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, a. a. O., Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 115 Rn. 153 ff.; Kirchhof, Paul, Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, a. a. O., Bd. IX, 1997, § 221 Rn. 159 ff.; Leisner, Walter, Marktoffenes Verfassungsrecht, in: Festschrift für Martin Kriele, 1996, S. 253 ff.; ders., Das Eigentum Privater – Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft, in: ders., Eigentum. Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970 – 1996, 1996, S. 713 ff.; ders., Privateigentum ohne privaten Markt, in: BB 1975, 1 ff.; ders., Das demokratische Reich, 2004, S. 930 ff. 4 In dieser Gefahr steht die Soziale Marktwirtschaft in der deutschen Staatsrechtslehre neuerdings. War sie nach 1949 immerhin noch Gegenstand nicht weniger Veröffentlichungen, vgl. den Überblick bei Rupp (Fn. 3), Rn. 16, – allerdings bereits verengt auf die Problematik der (formellen) Wirtschaftsverfassung – so erscheint sie im Handbuch des Staatsrechts vor 1989 nur mehr als „Mitzitier-Topos“, sieht man von den in Fn. 3 Genannten ab. 5 Dies begann bereits mit der traditionellen Ängstlichkeit der neoliberalen Schule, die sich vom laissez faire ihrer geistigen Väter entfernte, unter dem (Ein-)Druck mächtiger kommunistischer, national-sozialistischer und sozialistischer Strömungen. Vgl. etwa Böhm, Franz, zitiert bei Rupp (Fn. 3), Rn. 24.
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tauschregeln, zum Schutz der handelnden Marktakteure.6 Das Zivilrecht bietet sie in vorsichtigen Randkorrekturen. Und der Staat darf mit seiner Gewalt, seiner Polizei, den Markt sichern. Nur eines darf er nicht: die Marktakteure organisieren, Preise und Bedingungen festlegen, nach denen allein sie dort handeln dürfen. Genau dies Letztere geschieht aber heute im Gesundheitssystem: Der Bürger darf Gesundheitsleistungen gar nicht selbst nachfragen, im wirtschaftlichen Sinn, da er sie ja nicht bezahlt, er beantragt sie nur. Nachfrager ist für ihn ein anderer: die staatsorganisierte, staatlich überwachte gesetzliche Krankenkasse.7 Marktwirtschaft bedeutet individualisierte Nachfrage – hier aber wird das individuellste aller menschlichen Bedürfnisse, die Gesundheit, kollektiv befriedigt. Und der Staat bestimmt, wie viel wofür bezahlt werden darf. Die Angebotsseite ist ebenso von der Staatsgewalt beherrscht: Sie lässt Ärzte und Krankenhäuser nach Bedürfnisprüfung zu – obwohl dies in einer Marktwirtschaft eine Todsünde bedeutet;8 sie überwacht sie nicht nur, sie bestimmt die Preise ihrer Leistungen,9 ebenso wie die der Medikamente, die noch verschrieben und gekauft werden dürfen. Im Ergebnis ist weitgehend ein Preisdiktat10 entstanden, durchgesetzt von öffentlich-rechtlichen Körperschaften. Dieses orientiert sich an rein politischen Vorgaben: an dem, was die staatlich Herrschenden dem Bürger an Belastungen für seine Gesundheitsvorsorge (gerade) noch zumuten wollen – damit sie wieder von ihm gewählt werden – nicht daran, was die Gesundheitsvorsorge wirklich kostet. Mit Marktwirtschaft hat das wenig zu tun – das ist Zentralverwaltungswirtschaft11 nach politischen Kriterien. Zur Marktwirtschaft wird es nicht dadurch, 6 Dies ist nichts als eine erweiterte Wettbewerbsaufsicht, damit aber Marktsicherung, nicht etwa ein Beweis für fehlende Funktionsfähigkeit von Märkten, die durch andere Gestaltungen zu ersetzen wären; vgl. im selben Sinn Rupp, Hans Heinrich, Verfassungsrecht und Kartell, in: Wettbewerb als Aufgabe, 1968, S. 187 (190). 7 Zu deren Aufgabe vgl. Leisner, Walter, Sozialversicherung und Privatversicherung. Dargestellt am Beispiel der Krankenversicherung, 1974, S. 50 ff., 68 ff. Die dort aufgezeigten Grundlinien haben sich im Einzelnen vielfach verschoben, insgesamt aber nicht verändert. 8 Weshalb sie sich auch in engsten Verfassungsgrenzen halten muss, so die Verfassungsrechtsprechung seit dem Apothekenurteil – BVerfG 7, 377, vgl. etwa die Entscheidungen zum Mühlengesetz – BVerfGE 25, 1 (15), zum Taxenverkehr – BVerfGE 11, 168 (183 ff.) oder zum Problem Güterfernverkehr / Bundesbahn – BVerfGE 40, 196 (218 ff.). 9 Dazu kritisch mit zahlreichen Nachw. Hufen, Friedhelm, Grundrechtsschutz der Leistungserbringer und der privaten Versicherer in Zeiten der Gesundheitsreform, in: NJW 2004, 14 ff.; ders., Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 27 ff.; Sodan, Helge, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, S. 91 ff. 10 Obwohl doch grundsätzlich Preisfreiheit besteht – vgl. BVerfGE 33, 171 (182 f.); 54, 251 (271); 69, 373 (378 f.); 70, 1 (28 ff.) – deren Einschränkung allerdings durch besondere Gemeinwohlbelange gerechtfertigt werden kann, BVerfGE 69, 373 (379).
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dass demokratisch Gewählte so die Gesundheit verwalten. Mitten in der viel gepriesenen Marktwirtschaft hat sich eine riesige staatliche Zwangswirtschaft installiert; sie zwingt über 90 Prozent der Bürger in Zwangsverbände,12 erlegt einem erheblichen Teil der Übrigen, den Arbeitgebern, noch Zwangsabgaben auf. Als Errungenschaft wird gepriesen, dass hier der Marktbürger keinen Geldbeutel braucht, weil dieser bei seinem Vormund liegt – bei seiner Kasse. Und von all dem ist in Sonntagsreden zur Marktwirtschaft nicht die Rede. Davon spricht kein europafreundlicher Politiker – obwohl es doch im EG-Vertrag (Art. 4 Abs. 1 und 2) zweimal eindeutig heißt:13 Die Mitgliedstaaten haben eine Wirtschaftspolitik einzuführen und eng zu koordinieren, die verpflichtet ist „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Das genaue Gegenteil geschieht: Kein privater Nachfrager hat Zutritt auf diesen „offenen Markt“, kein „freier Wettbewerb“ findet dort statt. Wie rechtfertigt sich eine solche Gesundheitspolitik, vorbei an allen ökonomischen und rechtlichen Grundbegriffen einer Marktwirtschaft? Höchst einfach: Es geht nicht um optimale Bedürfnisbefriedigung, wie sie die Marktwirtschaft doch, nach allgemeinem Konsens, am besten leistet, sondern gleichzeitig, wenn nicht vorrangig, um etwas ganz anderes: um massive, milliardenschwere, ständige Umverteilung.14 Jedem kostet seine Gesundheit so viel wie er verdient, einen Prozentsatz seines Berufseinkommens. Damit findet, neben der Steuerprogression,15 die größte, laufende wirtschaftliche Nivellierung der Gegenwart statt, gesellschaftliche Einebnung im Namen der Gesundheit. Der politische Charme dieser Zweiten Front der Verteilungspolitik ist unbezahlbar: Diese wahrhaft gigantischen Transfers sind der breiten Masse nicht bewusst, von den Wissenden werden sie kaum diskutiert. Denn sorgsam zugedeckt werden sie durch das neue sozialpolitische Zauberwort: Solidarität.16 In ihrem Namen darf der schwächere Kranke dem stärkeren 11 Zum Begriff siehe Schmidt, Reiner, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 83 Rn. 6; Depenheuer, Otto, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl. 1999, Bd. 1, Art. 14 Rn. 10. 12 Zur Expansion der Sozialversicherung siehe Sodan, Helge, „Gesundheitsreform“ ohne Systemwechsel – wie lange noch?, in: NJW 2003, 2581 ff.; Leisner (Fn. 7), S. 11 ff.; ders., Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, 1996, S. 78 ff. m. Nachw. 13 Dazu Oppermann, Thomas, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 928 ff. 14 Siehe dazu allgemein Isensee, Josef, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973. 15 Von der sie sich allerdings dadurch unterscheidet, dass sie „nur“ zwischen 90 Prozent der Bürger wirkt, und dass Bemessungsgrundlagen wie Vergünstigungen nicht übereinstimmen. 16 „Solidarität“ ist eine undefinierte Begriffsmolluske. Sie bezieht sich auf irgendeine – völlig unbestimmte – Verpflichtung, begründet diese aber in keiner Weise. Überdies schillert sie zwischen der föderalen Solidarität und einer sozialen (dazu Depenheuer, Otto, Soziales Staatsziel und Angleichung der Lebensverhältnisse, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 1997, § 204 Rn. 63 ff.). Ihr begriff-
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Kranken in die Tasche greifen – nein: der Staat muss es für ihn. Solidarität – das polnische Kampfwort gegen kommunistische Zentralverwaltung wird zur Rechtfertigung der Zentralverwaltung der Gesundheit – wahrhaft ein salto mortale. Mit entwaffnender Naivität fordern Politiker: Solidarisch gerecht sei, dass der Reiche für seine Gesundheit mehr bezahle als der Arme. Warum der Arme dann für seine anderen Grundbedürfnisse17 nicht ebenfalls weniger soll bezahlen müssen – vom Brot bis zum Bier – bleibt Geheimnis. Über Essenszwangskassen mit Essensmarken lässt sich das leisten. Marken können überall den Markt verdrängen, so wie digitalisierte Versicherungskarten. Ist das die Marktwirtschaft Ludwig Erhards, die des Wirtschaftswunders?
III. Was ist das „Soziale“ an der Marktwirtschaft? Doch solche Sozialpolitik wird sich wehren: Die heilig gesprochenen Väter des deutschen Aufschwungs wollten doch die „soziale“ Marktwirtschaft. Dieses „Soziale“ finde eben seinen Ausdruck im streng reglementierten, umverteilenden Gesundheitswesen. Und in der Tat: Mächtige politische Strömungen haben viele Bürger mit der Überzeugung regelrecht überspült, soziale Gerechtigkeit verlange Umverteilung. Solidarisierung kann diese „soziale Gerechtigkeit“18 überhaupt nur mehr als Ergebnis einer Umverteilung definieren. Wie viel Umverteilung solche Gerechtigkeit verlangt, das bleibt Geheimnis – oder Politik. Enttabuisierung ist in Mode, gerade bei Vertretern eines so verstandenen „Sozialen“. So möge es denn gestattet sein, auch dieses Verständnis der „sozialen Marktwirtschaft“ zu hinterfragen; dies ist die Gretchenfrage an die Gesundheitsreform. Gewiss sollte dem Wort „sozial“ hier eine grenzkorrigierende, „abfedernde“ Bedeutung zukommen,19 seit dem Neuanfang im Nachkriegs-Deutschland. Zu licher Stützpunkt ist die „Solidargemeinschaft“ der Sozialversicherung, die aber ihrerseits der Rechtfertigung aus dem Versicherungsgedanken bedarf. 17 Die immerhin im herkömmlichen Sozialhilferecht rechtlich fassbar festgelegt waren, als „notwendiger Lebensunterhalt“, vgl. bisher § 12 BSHG. 18 Wieder ein unfassbarer Begriff, schillernd vor allem zwischen Bedarfsgerechtigkeit, Besitzstandsgerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit (vgl. dazu Zacher, Hans, Das soziale Staatsziel, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 28 Rn. 52) – soweit er sich eben nicht in Umverteilung erschöpft. Politisch wie staatsrechtlich ist dies meist nur ein Versuch moralischer Selbstbestätigung – Selbstgerechtigkeit. 19 Der nicht unbedenkliche Ansatz liegt hier allerdings darin, dass „in Marktwirtschaft als solcher“ schon gar nicht mehr gedacht wird, sondern von Anfang an nur mehr in „sozialer Marktwirtschaft“ (vgl. für viele die oben in Fn. 3 Zitierten) – womit dann begrenzende Randkorrekturen in den Marktbegriff verlegt werden; dogmatisch ist dies ebenso unzulässig wie die Relativierung der Baufreiheit durch deren angebliche „immanente Schranken“, vgl. dazu Leisner, Walter, Baufreiheit oder staatliche Baurechtsverleihung?, in: DVBl. 1992, 1065 ff.
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den Exzessen eines Manchester-Liberalismus, zu Verelendungen sollte es nicht kommen. Doch der Schwerpunkt lag stets auf der Marktwirtschaft, nicht auf dem „Sozialen“ – es hieß ja nicht „marktwirtschaftlicher Sozialismus“. Mehr als fragwürdig ist es also von vornherein, in einem so wichtigen Sektor wie dem Gesundheitswesen marktwirtschaftliche Mechanismen so weitgehend außer Kraft zu setzen, im Namen eines wie immer verstandenen „Sozialen“. Das hat doch „soziale Marktwirtschaft“ noch nie bedeutet: Freien Austausch von Gütern und Dienstleistungen in einigen Bereichen – Zentralverwaltungswirtschaft in anderen. Soziale Marktwirtschaft ist nuancierbar, im Grundsatz aber unteilbar. Gesundheitspolitik als umverteilende Sozialpolitik, getauft mit ein paar Tropfen marktwirtschaftlichen Weihwassers, damit es billiger werde – damit würde Marktwirtschaft zu Sozialwirtschaft, und dies will niemand im Lande, abgesehen von kleinen Randgruppen. Was heißt denn nun dieses „Soziale“ in der sozialen Marktwirtschaft? Ein Blick zurück zu den Quellen und hinauf nach Europa zeigt es deutlich. Alfred MüllerArmack, der jenen Begriff geprägt und in die ökonomische Wirklichkeit Deutschlands erfolgreich umgesetzt hat, beklagte sich schon in den sechziger Jahren in einem Gespräch mit dem Verfasser beweglich über jene, welche ihm mit ihrem „Sozialen“ die liberale Suppe versalzen wollten. Sie sollten doch einmal nachlesen über die Begriffsursprünge des Sozialen: Gemeint habe er gesamtgesellschaftlich verantwortliche Marktwirtschaft, die dem Kaiser gebe, was er brauche, nicht „einfach nur umverteile“. Genau dieses Verständnis des Sozialen findet sich in den Quellen – dafür nur ein Beleg; in der Großen Französischen Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert,20 der geistigen Fundgrube Europas in der Zeit der Geburt von Demokratie und Liberalismus, heißt es unter „sozial“: „Ein neuerdings in die Sprache eingeführtes Wort; es bezeichnet die Qualitäten, die einen Menschen in der Gesellschaft nützlich machen, die es ihm gestatten, mit anderen Menschen zusammenzuleben“. Das ist „das Soziale als das Gemeinschaftsbewusste, Gemeinschaftsverpflichtete“ – nicht das Soziale als Umverteilung(sprogramm). Gewiss kann diese Gemeinschaftsverpflichtung auch Umverteilung verlangen,21 um Ausgrenzung zu verhindern. Doch eine Fehlentwicklung von Sozialismus und Kommunismus war es, das Soziale auf Umverteilung, ja Nivellierung zu verengen, und eine weitere Fehlentwicklung lag darin, dies gerade im Gesundheitsbereich mit hoheitlichem Zwang durchexerzieren zu wollen. Ins Europarecht ist dies mit Recht nicht übernommen worden. „Solidarität“ sprechen die Verträge nur für den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten an (Art. 1 20 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (Diderot, d’Alembert, Hg.), „social“. 21 Sehr allgemein formuliert allerdings Kirchhof (Fn. 3), Rn. 56 unter Hinweis auf Zacher (Fn. 18): „Marktwirtschaft leistet die primäre Verteilung, Sozialpolitik die Umverteilung“; zu Umverteilung und Marktwirtschaft vgl. auch Leisner, Walter, Demokratie, 1998, S. 114.
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EU-Vertrag, Art. 2 EG-Vertrag); Umverteilungs-Solidarität wird deutsche Sozialpolitik dort vergeblich suchen.22 Sozialpolitik allerdings kennt auch das Gemeinschaftsrecht (Art. 3, 139 EG-Vertrag), doch stets nur in einem bemerkenswerten Sinn: als „soziale Sicherheit“ (Art. 42, 137, 144 EG-Vertrag), wie sie vor allem den Arbeitnehmern zu gewährleisten ist. Damit wird der neue, zukunftsgerichtete Sinn des „Sozialen“ auch in der „sozialen Marktwirtschaft“ deutlich, die zugleich den ursprünglichen Sinn des 18. Jahrhunderts weiter trägt: Eine Gemeinschaftsbezogenheit, die keinen Bürger ausgrenzt – aber deshalb nicht jedem dasselbe bietet, in einer Umverteilung, in die der eine für gleiche Leistungen zwangsweise ein Vielfaches einzahlen muss gegenüber anderen. Sicherheit – das heißt: keiner unter den Brücken, aber nicht jeder im fremd-, im gemeinschaftsfinanzierten Krankenhausbett. Soziale Sicherheit und soziale Gleichheit sind völlig unterschiedliche, durch wirtschaftliche und rechtliche Lichtjahre getrennte Begriffe. Die Gleichheit, wie sie die Umverteilung erstrebt, kennt nur Ansprüche an andere, an die Gemeinschaft. Soziale Sicherheit anerkennt auch Verpflichtungen zur Eigensicherung; in ihrem Namen muss der zu Sichernde Opfer bringen, soweit er nur irgend kann. Die Wertegemeinschaft Europa ist auf Subsidiarität verpflichtet (Art. 1 EU-Vertrag, Art. 5 EG-Vertrag):23 Was die kleinere Einheit leisten kann, darf die größere nicht übernehmen. Die kleinste Einheit ist der Mensch, der Gesunde und zugleich potentiell Kranke. Was er an Eigen-Sicherung übernehmen kann, bis an die Grenze der Ausgrenzung, darf ihm die Gemeinschaft nicht bieten, auch nicht zur Gesundheitsvorsorge. Alles andere ist politisches Wahlgeschenk oder blanker Marxismus, nach dessen altem Motto: „Jeder nach seiner Leistung, jedem nach seinem Bedürfnis“.24 Die deutschen Gewerkschaften haben bereits weit besser verstanden als manche wohlfahrtsstaatlichen Sozialpolitiker, dass heute im vereinten Europa „soziale Marktwirtschaft“ endlich wieder bedeutet „Marktwirtschaft der sozialen Sicherheit“, nicht: der sozialen Umverteilung. Die Gewerkschaften sind dabei, einen nicht leichten Bewusstseinswandel zu bewältigen: Lange Zeit Vorkämpfer nivellierender Umverteilung, haben sie den Primat der sozialen Sicherung erkannt: Lieber wenig verdienen, aber sicher – damit man sich selbst sichern kann, auch gegen Krankheit. Angesichts dieser sich anbahnenden sozialpsychologischen Wende – Arbeitsplätze vor Verdienst – ist es da zu verantworten, immer weiter Bürger an leere öffentliche Kassen zu treiben, damit sie sich dort Sicherheit gegen Krankheit abholen? Zur Mitglieder-Solidarität im Europarecht vgl. Oppermann (Fn. 13), Rn. 979 f., 1000. Das Schrifttum zu diesem europarechtlichen Solidaritätsprinzip „ist kaum mehr überschaubar“, vgl. Oppermann (Fn. 13), vor Rn. 510, m. Nachw.; vgl. ferner Rn. 513 ff. 24 Der Sozialismus hat es sich übrigens zu eigen gemacht, vgl. zu dessen Entstehungszeit Huber, Johannes, in: Bluntschli / Brater (Fn. 2), Socialismus und Kommunismus, Bd. 9, S. 483: „Der Socialismus . . . fordert, dass jeder persönlichen Leistung in der Arbeit ein Quantum von Lebensgenuss zufalle, welches den Bedürfnissen des Einzelnen genüge“. 22 23
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Das Ergebnis ist einfach: Soziale Marktwirtschaft – das bedeutet freien Markt, freien Wettbewerb, grenzkorrigiert durch den Staat: Jeder Bürger sichert sich möglichst selbst; soweit er dies aber nicht vermag und ausgegrenzt würde, sichert ihn der Staat mit Mitteln der Gemeinschaft.
IV. Hat die soziale Marktwirtschaft Verfassungsrang? Diese soziale Marktwirtschaft ist Grundlage der Wirtschafts- und Sozialverfassung des Grundgesetzes. Sie bietet den verfassungsrechtlichen Rahmen, in dem sich die Erneuerung der Sozialsysteme, vor allem der sozialen Krankenversicherung, in Deutschland vollziehen muss – und in Europa. Viele deutsche Sozialpolitiker haben dies auch nicht ansatzweise begriffen. Verbreitet ist ein Grundrechtsverständnis, nach dem die Verfassung zwar „Menschenrechte“ sichern müsse und Demokratie. Im Übrigen aber, und vor allem im Sozialbereich, dürfe die Politik eben frei gestalten,25 dem einen geben, dem anderen nehmen, in einer Entwicklung, deren manchmal chaotische Erscheinungen zwar immer wieder verärgern, nur selten aber das Rechtsgefühl oder gar das Verfassungsverständnis irritieren. Sozialpolitiker haben sich denn auch diese Spielwiese gut abgezäunt, sicher, dass kein Verfassungsrichter sie betreten werde.26 Von dort aus verteilen sie, in bemühtem Streit, ihre gesundheitspolitischen Wahlgeschenke ganz offen, gerade in der Gegenwart – wie oft sind es nur Danaergeschenke. Doch sie irren: Verfassungsrecht gilt auch auf diesen – nicht nur grünen – Wiesen: Die soziale Marktwirtschaft, im eben beschriebenen Sinn von Marktfreiheit und Sicherheit, ist eine bindende rechtliche Vorgabe. Nach dem Einigungsvertrag ist sie Grundlage der Wirtschaftseinheit des wiedervereinigten Deutschland (§ 1 Abs. 3 EV).27 Müßig ist die Frage, ob der einfache Gesetzgeber diese Norm als solche aufheben könnte28 – niemand denkt daran; und dass sie wohl damals schon in der Sozialgesetzgebung missachtet wurde, seither immer noch deutlicher, recht25 Insbesondere in der Lehre von den Grundrechten als Teilhaberechten ist es nicht gelungen, dieser weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers – vgl. in diesem Zusammenhang BVerfGE 33, 303 (332 ff.) – wirksame Schranken zu ziehen. Siehe dazu Starck, Christian, Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung als Hilfen zur Grundrechtsverwirklichung?, in: Festschrift für das Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 1976, S. 480 (521 f.); Breuer, Rüdiger, Grundrechte als Anspruchsnormen, in: Festschrift für das Bundesverwaltungsgericht, 1978, S. 89 (95 ff.); Murswiek, Dietrich, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2. Aufl. 2000, § 112 Rn. 40 ff. 26 Zu dem weitgehenden Leerlauf insbes. des Grundrechts der Berufsfreiheit vgl. Hufen (Fn. 9, Grundrechte der Leistungserbringer), insbes. S. 31 ff., 37 ff. mit zahlreichen Nachw. 27 Dazu eingehend Rupp (Fn. 3), insbes. Rn. 2 ff., 14 ff.; siehe auch Schmidt-Preuß, Matthias, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz vor dem Hintergrund des Staatsvertrages zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, in: DVBl. 1993, 236 ff. 28 Dazu näher m. Nachw. Rupp (Fn. 3), Rn. 5.
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fertigt es in keiner Weise, nun noch immer weitere und größere Sünden gegen den Geist der sozialen Marktwirtschaft zu begehen. Denn zutreffend wird sie bereits seit langem als materielles Verfassungsrecht angesehen.29 Doch die soziale Marktwirtschaft ist mehr: Sie ist die im Grundgesetz selbst gelegte Grundlage der deutschen Wirtschafts- und Sozialverfassung,30 also Verfassungsrecht auch im formellen Sinn. Der Gesetzgeber, die einfache parlamentarische Mehrheit, darf nicht gegen ihre Prinzipien verstoßen. Was das zentrale Element der staatsfernen Marktwirtschaft anbelangt, so ist dies heute weitestgehend bereits anerkannt. Das Grundgesetz hat vor allem drei Grundentscheidungen getroffen, die jeden Sinn verlören, gäbe es nicht Zugangsfreiheit zu Märkten und Handlungsfreiheiten auf ihnen: – Ein Privateigentum31 ist nur dann geschützt (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG), nicht nur in Bestands-, sondern vor allem auch in Wertgarantie,32 wenn nicht der Staat beim Austausch diese Werte bestimmt, vielmehr ein staatsfreier Markt, auf dem sie sich bilden. Was ist ein Medikament „wert“, ein Labor, das es entwickelt, wenn der Staat festlegt, ob und wie es bezahlt werden darf? Wo der Staat die Werte bestimmt, ist er Herr des Privateigentums. – Berufsfreiheit gegen den Staat33 (Art. 12 Abs. 1 GG) hat nur dann Sinn, wenn Berufstätigkeit auf Märkten im Wettbewerb entfaltet werden kann. Wird dem Arzt behördlich vorgeschrieben, was er (noch) verschreiben darf, so darf er seine Gesundheitsleistungen nicht mehr im Wettbewerb mit anderen anbieten; er wird zu einem eigenartigen „Gesundheitsbeamten“,34 der für sein eigenes Gehalt zu sorgen hat; und weil er das nicht mehr in Leistungswettbewerb kann, sichert ihm der Staat seine Pfründe durch Bedürfnisprüfung, indem er Konkurrenten „wegschließt“. Die Wettbewerbsfreiheit,35 der Kern der Berufsfreiheit, ist zerstört. So auch neuerdings Depenheuer (Fn. 11). Denn von einer solchen ist auszugehen, mit der h. L., vgl. dazu bereits grundlegend Rupp, Hans Heinrich, Grundgesetz und „Wirtschaftsverfassung“, 1974; ders. (Fn. 3), Rn. 16. 31 Vgl. dazu die überzeugenden Ausführungen von Depenheuer (Fn. 11), Rn. 9; Leisner (Fn. 3). 32 Auch diese ist für den Eigentumsschutz entscheidend, gerade für das Recht auf Entschädigung, vgl. Depenheuer (Fn. 11) Rn. 217 f., was durch den vom Bundesverfassungsgericht betonten Primat der Bestandsgarantie nicht verdunkelt werden darf – BVerfGE 50, 290 (322 ff.). 33 Selbst wer zurückhaltend sich zeigt gegenüber einer formellen Wirtschaftsverfassung aus Marktwirtschaft (wie Manssen, Gerrit, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl. 1999, Bd. 1, Art. 12 Rn. 29) muss zugeben: „Art. 12 Abs. 1 GG enthält – zusammen mit anderen Grundrechtsbestimmungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 9, Art. 14 GG) – die Grundentscheidung für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung“. 34 Dazu krit. m. Nachw. Hufen (Fn. 9, Grundrechte der Leistungserbringer), S. 31. 35 Zur Wettbewerbsfreiheit als einem Schutzaspekt der Berufsfreiheit Manssen (Fn. 33) m. Nachw. zur ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche sie der Berufs29 30
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– Die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG verliert ihren Sinn, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer der pharmazeutischen und der medizinischen GeräteIndustrie, in Krankenhäusern und Arztpraxen, sich nicht mehr staatsfern darüber einigen können, wie der gemeinsam erwirtschaftete „Kuchen“ verteilt werden soll.36 Unverzichtbar sitzt der Gesundheitsstaat mit am Tisch; er hat die Kuchenform geliefert. Was ist Gewerbefreiheit wert, wenn der Staat bestimmt, was verdient – was verteilt werden darf?
Ohne staatsferne Märkte also keine grundrechtlichen Freiheiten. Daher ist Marktwirtschaft grundsätzliches Verfassungsgebot, auch im Gesundheitswesen. Oder man führt gleich Staatsgesundheitsverwaltung ein, den alten, schlechten Health Service. Ohne Grundrechtsverstoß geht es also auf den eingeschlagenen Wegen nicht mehr weiter; und dies ließe sich auch nicht über das „Soziale“ an der Marktwirtschaft rechtfertigen. Was nämlich zu wenig beachtet wird: Auch zur sozialen Sicherung hat das Grundgesetz eine Grundentscheidung getroffen und das Bundesverfassungsgericht sie verdeutlicht: Gewährleistet werden muss vom Staat jedenfalls, aber auch nur, das „menschenwürdige Dasein“ für Jedermann, nach Art. 1 und 2 Abs. 1 GG.37 In seinem Namen darf der Staat auch, ja er muss sogar, umverteilen, soweit dies unbedingt nötig ist. Dieses soziale Minimum, zu dessen Sicherung der Staat eingreifen darf und muss, hat aber nichts mehr zu tun mit der flächendeckenden wirtschaftlichen Umverteilung, welche über gesetzlichen Krankenversicherungszwang praktiziert wird. So hat denn das Grundgesetz klar festgelegt, was im Namen der Wirtschaftsverfassung zu garantieren ist: freie Marktwirtschaft und minimale Daseinssicherung. Dagegen lässt sich nicht einwenden, das Bundesverfassungsgericht habe vor vielen Jahrzehnten von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes gesprochen.38 Abgesehen davon, dass Karlsruhe hier später weit vorsichtiger formuliert39 – Konsens besteht heute, dass dies nur sehr einschränkend zu verstefreiheit zuordnen. Verteilungspolitische Orientierung steht verständlicherweise dem Begriff kritisch gegenüber. 36 Dazu näher bereits Leisner, Walter, Privateigentum – Grundlage der Gewerkschaftsfreiheit, in: BB 1978, 100 ff. 37 Vgl. etwa BVerfGE 82, 66; 87, 153; 89, 346; 99, 216. 38 BVerfGE 4, 7 (17); innerhalb des Schrifttums, das sich noch immer darauf beruft – vgl. Rupp (Fn. 3) –, muss allerdings zwischen Autoren unterschieden werden, welche den Begriff der Wirtschaftsverfassung als solchen ablehnen, und anderen, welche eine „gemischte Wirtschaftsverfassung“ annehmen. Nicht weiter führt eine begriffliche Unterscheidung zwischen „Wirtschaftsordnung“ und „Wirtschaftsverfassung“ des Grundgesetzes – sie lässt sich nicht präzisieren. 39 In BVerfGE 50, 290 (335 ff.) wird nur eine Auffassung abgelehnt, welche „verselbständigte Objektivierungen“ begründen würde, die den „individualrechtlichen Gehalt der Grundrechte überhöhen könnte(n)“ – selbstverständlich führt keine formelle Wirtschaftsverfassung über die Grundrechte u. a. Verfassungsgrundlagen hinaus; sie bedeutet aber eine Ordnung, die deren Verletzung ausschließt.
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hen war, im Sinn einer Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers darin, wie er den Verfassungsvorgaben des Freiheitsschutzes und der sozialen Elementarsicherung Rechnung tragen wolle. Nie hat diese Neutralitätsthese bedeutet, der Gesetzgeber dürfe diese Grundrechte verletzen, im Namen irgendeiner von ihm erdachten Wirtschafts- oder Sozialordnung. Eine Ordnung auf solchen Stützen ist aber bereits eine Verfassung – eine freiheitliche Markt-Verfassung, so wie eben das Grundgesetz (auch) eine politische Verfassung von systematischem Gehalt ist. Und dieses Verfassungsrecht umfasst die Wirtschafts- und die Sozialordnung. Ein Deutschland, das einst die europäischen Defizitkriterien durchgesetzt hat, in denen beides zusammenfließt, Wirtschafts- und Sozialbilanz, kann nun nicht wieder „Wirtschaft“ und „Soziales“ trennen, bei einer Gesundheit, die so viel kostet.
V. Folgerungen für die Organisation der deutschen Krankenversicherung Nun zur konkreten Nutzanwendung dieser Erkenntnisse auf die anstehende Gesundheitsreform.40 1. Zur allgemeinen Versicherungspflicht Die soziale Marktwirtschaft verlangt: So viel Marktwirtschaft wie möglich, unter Gewährleistung aller erforderlichen Gesundheitsvorsorge, die allerdings primär vom Bürger, nicht von irgendeiner Gemeinschaft zu bezahlen ist. Da drängt sich ein einfacher Vergleich auf: Nahezu jeder Bürger hat schon ein Motorfahrzeug, fast jeder eine Wohnung. Für Ersteres besteht Kfz-Versicherungszwang, für Letztere Zwang zum Abschluss einer Brandversicherung. Niemand denkt daran, dies über umverteilende Gemeinschaftsumlagen abzudecken. Warum kann bei der Gesundheitsvorsorge nicht ein analoger Versicherungszwang genügen, wie er immerhin bei der Pflegeversicherung diskutiert und auch für nicht Pflichtversicherte eingeführt worden ist?41 Wozu also Zwangszusammenschluss42 in einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)? 40 Vgl. den Überblick über die verfassungsrechtlichen Fragen bei Kirchhof, Ferdinand, Verfassungsrechtliche Probleme einer umfassenden Kranken- und Renten-„Bürgerversicherung“, in: NZS 2004, 1 ff.; Isensee, Josef, Bürgerversicherung im Koordinatensystem der Verfassung, in: NZS 2004, 393 ff. 41 Wie dies bereits vor längerer Zeit der Sachverständigenrat gefordert hat (BT-Drucks. 12 / 3774, S. 226). 42 Zum Problem der Zwangsversicherung und ihren „Rechtfertigungsnotwendigkeiten“ vgl. Sodan, Helge, Die „Bürgerversicherung“ als Bürgerzwangsversicherung, in: ZRP 2004, 217 ff.
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Ein Einwand liegt nahe: Die hohen Versicherungsprämien könnten nicht alle zahlen. Dann aber müsse doch die Gemeinschaft eingreifen. Der Staat habe jedoch traditionell hier noch nie etwas zugezahlt. Deshalb sollten, wie seit Bismarcks Zeiten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich die Lasten teilen, und wenn das Aufkommen nicht genüge, hätten eben die „Leistungsfähigen“ mehr zu entrichten. So einfach ist die Philosophie der GKV mit ihrem Verbandszwang und ihrer Zentralverwaltungswirtschaft. Mit solcher Begründung wird soziale Marktwirtschaft unterlaufen. Nichts von alledem überzeugt. In einer Marktwirtschaft müssen alle Marktteilnehmer für gleiche Leistungen gleiche Preise zahlen, also auch für Krankenversicherung; Sozialpreise sind damit unvereinbar.43 Geht man davon aus, dass volle medizinische Versorgung allen Bürgern zu gewähren ist, so muss denen geholfen werden, welche die dafür nötigen Versicherungsprämien nicht aufbringen können. Dies kann auch hier nur aus Steuermitteln geschehen: Der Staat darf es nicht, im Namen einer fiktiven Solidarität, auf andere Bürger beliebig abbürden. Damit würde die Steuerstaatlichkeit, die Steuergleichheit unterlaufen. In der Staatsrechtslehre ist dies seit langem herrschende Auffassung.44 Deshalb wird Wohngeld an Bedürftige bezahlt und Zuschüsse bei besonderen Belastungen in der Sozialhilfe. Wer hier zuschussbedürftig ist, das kann und muss der Gesetzgeber jeweils feststellen, nach Entwicklung der allgemeinen Wirtschaftslage. Über diese Zuschussgrenze wird dann die Reformdiskussion zu führen sein. Dass der Gesetzgeber zur GKV keine Zuschüsse geleistet hat, weder an Kassen noch an Versicherte, ist kein Gegenargument; in großem Umfang bezuschusst der Staat auch die Rentenversicherung. Wer eine „große Reform“ der Krankenversicherung will und sich dabei nicht von der sozialen Marktwirtschaft entfernt, kann die soziale Komponente nur über Steuern finanzieren. Was der Gesetzgeber heute den besserverdienenden Pflichtversicherten über höhere Kassenbeiträge abnimmt, hat er sich dann eben, soweit erforderlich, über Steuern und deren Progression zu beschaffen. Dies ist eine einfache, gleiche und gerechte Lösung; sie entspricht der Form, in der auch sonst Sozialleistungen erbracht werden – nicht über Zwangsverbände und fiktive Solidaritäten. Erstaunlich ist, dass sonst so „zukunftszugewandte“ Sozialreformer sich auf die „alte Zeit“ berufen, in der der Staat „nichts bezahlt“ habe; auch für „Arme“ hat er früher nach Belieben bezahlt – oder gar nichts: heute haben sie einen vollen Rechtsanspruch. Eine Argumentation könnten die Gegner marktwirtschaftlicher Krankenversicherung allerdings vorbringen – die sie übrigens sorgfältig verschleiern: eine fiskalische: Wer mit Steuermitteln Schwächeren helfen will, muss Steuern erhöhen, darf dafür Kassenbeiträge allerdings abbauen. Progressiv bleibt zwar die Abgaben43 Die „Sozialpreise“ harren einer neueren vertieften verfassungsrechtlichen Behandlung unter dem Gesichtspunkt der Marktwirtschaft. vgl. früher Schmidt-Preuß, Matthias, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, S. 131 ff. 44 Vgl. für viele Isensee (Fn. 40), S. 396 ff. m. Nachw.
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belastung der „stärkeren Schultern“ auch dann; doch Steuererhöhung ist für die Politik viel aufwendiger, schwieriger als ein Drehen an der Schraube der Kassenbeiträge. Für die Beiträge genügen allgemeine gesetzliche Verpflichtungsgrundsätze; die Entscheidung über die Belastungen wird auf die gesetzlichen Kassen verschoben, an welche die Regierung die üblichen Mäßigungsappelle richtet.45 Ganz anders bei Steuerfinanzierung Schwächerer. Hier muss jede Entscheidung das Parlament passieren, weithin wird die Zustimmung der Opposition benötigt. Steuererhöhungen sind stets unbeliebt, sie sind die schwerste Crux der politisch Herrschenden – derer von heute und von morgen. Da ist es doch um so viel leichter, gleich die Kassen abkassieren zu lassen – bei den Besserverdienenden. Und nicht zu vergessen: Eine seriös steuerfinanzierte große Gesundheitsreform auf marktwirtschaftlicher Grundlage verlangt, zugleich oder gar vorgängig, eine große Steuerreform. Dieses Junctim aber scheint heute politisch gebrochen.
2. Versicherungsprogression durch „Bürgerversicherung“ Beurteilt man nach diesen Kriterien der sozialen Marktwirtschaft die vorliegenden Entwürfe einer Neuorganisation der Krankenvorsorge, so ergibt sich ein klares Bild: Die einen wollen die Umverteilung über Krankenkassenbeiträge beenden oder doch abschwächen, den sozialen Ausgleich über Steuern leisten – die anderen möchten die Umverteilung sogar noch ausweiten. Die wahlkampfträchtigen Programme lauten: „Prämienpauschale“ gegen „Bürgerversicherung“. Dies aber sind nur demagogische Schlagworte; es müsste heißen: Versicherungsgleichheit gegen Versicherungsprogression. Zunächst zu dieser „Bürgerversicherung“. Das Wort ist eine Täuschung:46 Es soll rühren mit dem romantischen Anruf an einen Bürger, den es längst nicht mehr gibt. Einst war dies der Mensch, der wählen durfte, volle Verantwortung übernahm für sein Land, dem allein er eng verbunden war, dem allein er diente. Seit der ausländische Mitbürger geboren wurde, ist jeder ein Bürger, der sich im Lande bewegt, es sei denn als Tourist oder im Untergrund. Bürger – das ist heute der Steuerzahler; doch „Steuerzahler-Versicherung“: Das klänge nicht gut – vor allem wenn man im Namen dieser Versicherung dann noch eine zweite Steuer zahlen soll . . . Die Bürgerversicherung ist offen und eindeutig verfassungswidrig.47 – Bürgerversicherung – das bedeutet unbeschränkte Krankenversicherungspflicht für alle. Ersatzlos und völlig entfällt damit die traditionelle tragende Rechtfer45 Erstaunlich ist, dass diese wahrhaft staatsformzentrale Problematik der Finanzverfassung in der Diskussion bisher kaum eine Rolle gespielt hat. 46 Soweit vom „Bürger“ die Rede ist, eine „Lüge“, soweit von „Versicherung“ gesprochen wird – so Isensee (Fn. 40), S. 393. 47 So die nahezu einheitliche, z. T. wahrhaft vernichtende Kritik im Schrifttum, vgl. die Nachw. bei Isensee (Fn. 40), S. 394; ferner neuerdings noch Sodan (Fn. 42).
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tigung aller Sozialversicherung: die spezielle Schutzbedürftigkeit der Pflichtversicherten. Sie wird nicht etwa jedermann unterstellt – das wäre absurd beim Spitzenverdiener, ja bei jedem wirtschaftlich Leistungsfähigen – sie wird schlicht aufgehoben – und mit ihr die vom Bundesverfassungsgericht Jahrzehnte lang betonte einzige Begründung dafür,48 Menschen in den Zwangsverband der sozialen Krankenversicherung zu drängen, sie mit obrigkeitlichem Abgabenzwang dort festzuhalten. Da dies dann nur mehr geschieht, um ausreichend öffentliche Mittel den gesetzlichen Kassen zuzuführen, ist der Kassenbeitrag im Lichte des Verfassungsrechts nichts als eine zweite Steuer. Sie soll in einem Etikettenschwindel noch nie erreichten Ausmaßes erhoben werden, außerhalb aller Wege parlamentarischer Steuererhebung. Diese Steuern werden nicht mehr nach genauen gesetzlichen Vorgaben festgesetzt, sondern in weitem gesetzlichen Rahmen nach Bilanz- und Kassenlage der gesetzlichen Kassen. Das gesamte, fundamentale parlamentarische Abgabenerhebungsrecht ist ausgehebelt. – Einbezogen werden sollen in die Bürgerversicherung auch die Beamten. Dies verstößt gegen das Grundgesetz, weil dieses sie über das Alimentationsprinzip absichert, in einem speziellen System auch der Krankenvorsorge, welches jeden Sozialversicherungszwang ausschließt, nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.49 – Eine Bürgerversicherung würde der privaten Krankenversicherung ihre traditionellen, entscheidenden Geschäftsfelder entziehen. Damit würden diese zahlreichen, großen Unternehmen in ihrer Berufs / Gewerbefreiheit verletzt, bis hin zur Existenzvernichtung.50 Ob dies dadurch kompensiert werden könnte, dass ihnen Geschäftsfelder jenseits einer Grundsicherung erhalten bleiben oder neu eröffnet würden, ist zumindest zweifelhaft. Eine Rechtfertigung für derartige Einschränkungen, die sich zum Berufsverbot steigern könnten, gibt es schon deshalb nicht, weil dazu ja bereits die teilweise steuerfinanzierte Prämienpauschale eine – unbestrittene – Alternative bietet.
Schon aus diesen drei Gründen wäre die Bürgerversicherung verfassungswidrig. Sie wäre ein Verfassungsbruch von einer Dimension, wie er seit Bestehen der Bundesrepublik noch nie auch nur angedacht wurde. Ohne Zustimmung der Opposi48 St. Rspr. d. Bundesverfassungsgerichts, vgl. bereits BVerfGE 18, 257 (270), neuerdings 103, 225 (239); 103, 271 (288); weitere Nachw. bei Hase, Friedhelm, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 43 ff., 65 ff.; Leisner, Walter, Grundgesetz und gesetzliche Krankenversicherung, in: Empter / Sodan (Hrsg.), Markt und Regulierung. Rechtliche Perspektiven für eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, S. 43 (50 ff.). 49 Vgl. etwa BVerfGE 44, 249 (269 ff.); 79, 223 (232). 50 Auf die Gefahr einer Volksversicherung als kalte Enteignung wurde bereits 1974 von Leisner (Fn. 7), S. 109 ff. hingewiesen. Die Auffassung von Bieback, Karl-Jürgen, Der Bund hat die Kompetenz zur Einführung einer umfassenden Versicherung, in: SozSich 2003, 416 (423), die Privatversicherung sei nicht gegen die (weitere) Expansion der Sozialversicherung geschützt, weil diese durch den Schutz der Versicherten legitimiert sei, ist ein offener Zirkelschluss: Er unterstellt das zu Beweisende eines solchen Sicherungsbedürfnisses.
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tion, ohne Verfassungsänderung hätte die Bürgerversicherung jedenfalls keine Chance. Wenn es etwas gibt wie eine demokratische Kultur im Verfassungsstaat, so ist es schon bedrückend, wenn hier, nur um Wahlen zu gewinnen, offen Rechtswidriges – oder politisch Utopisches gefordert wird.
3. Versicherungsgleichheit durch „Prämienpauschalen“ Demgegenüber eröffnet der Vorschlag von sozial abgefederten „Prämienpauschalen“ grundsätzlich einen verfassungsrechtlich zulässigen Weg. Hier wird die Gleichheit gewahrt und die Steuerordnung. Schwächerenschutz wird geboten in einem marktwirtschaftlichen System, in dem Jedermann nicht nur Arzt, Medikament und Krankenhaus frei wählen kann, sondern auch seine Kasse – zu Bedingungen eines freien Gesundheitsmarktes. Das ist eindeutig soziale Marktwirtschaft im Gesundheitswesen. Wähler, Parlament, Politik treffen die sozialpolitische Entscheidung, wo die Bedürfnisschwelle liegt, wem mit Steuermitteln zu helfen ist. Und dass da zu wenig geholfen werden wird – das steht nicht zu befürchten. Die letzten Monate haben gezeigt, bei „Hartz IV“, wie stark Schwächere sein können. Freunde der Umverteilung dürfen ruhig schlafen: Steuern, zur Gesundheitsvorsorge erhoben, werden kapitalistische Bäume nicht in den Himmel wachsen lassen. Schlafen sollten aber auch nicht die Befürworter dieser marktwirtschaftlichen Lösung. Weit deutlicher müssen sie betonen, dass sie die soziale Marktwirtschaft fortsetzen, ja entscheidend verstärken wollen. Dieses System hat keine politische Chance, wenn es sich empfiehlt als Revolution gegen die Sozialversicherung, dann erscheint es als Attentat auf jahrhundertalte soziale Errungenschaften. Ganz im Gegenteil muss es beweisen, dass es innerhalb der Sozialversicherung durch gleiche Versicherungspflicht und sozial stützende Zuschüsse mehr Sicherheit noch bietet als bisher, und dass es damit vor allem die Verantwortung des freien Menschen stärkt.51 Die Arbeitsmarktgesetzgebung hat allen gezeigt, dass bei Sozialreformen Vermittlung alles ist. Mit ihr haben die marktwirtschaftlichen Kräfte noch nicht einmal begonnen. Zweierlei vor allem müsste klarer werden: Diese Versicherungsgleichheit verlangt keineswegs die Zerstörung der Strukturen der GKV. Hier kann sachgerecht der Prozess der Autonomisierung von deren Trägern fortgesetzt werden, der schon eingeleitet ist. In neuem Wettbewerb können sie ihre Qualitäten zeigen. Und eine Mahnung richtet sich an die Arbeitgeber: Viele von ihnen mögen eben doch insgeheim hoffen, mit diesem System von ihrer Beitragspflicht loszukommen. Sie 51 Diese Selbstverantwortung als Ausprägung der Freiheit – vgl. dazu für viele Manssen (Fn. 33), Rn. 63 – wird zunehmend auf allen Gebieten erkannt, vgl. etwa bereits für den Umweltschutz Leisner, Walter, Umweltschutz durch Eigentümer – Zur Lehre von der Eigentümerverantwortung, 1987, S. 118 ff.
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sollten weiter einen Beitrag leisten; denn eine größere Lastenverschiebung könnte soziale Spannungen hervorrufen, die gefährden würden, was jedem Unternehmer doch das Wichtigste sein muss: Marktwirtschaftliche Überzeugungen in der Gemeinschaft. Dies ist kein Plädoyer für ein festes, „durchgerechnetes“ Parteiprogramm, sondern eine Warnung vor einem offenen Attentat auf die Verfassung und ihre Freiheit. Für profilierungsbedürftige Politik bleibt auch in einem steuergestützt-marktwirtschaftlichen Gesundheitssystem mehr als genug zu tun. Gesundheitsreform ist Verteilungskampf. Freie Verteilung aber findet auf Märkten statt. Obrigkeitliche Zwangsumverteilung über Beiträge vollzieht sich im Dunkel von Maulwurfsgängen, in denen unendlich verschoben wird: von Patienten zu Ärzten, von Ärzten zu Kassen, von Kassen zu pharmazeutischen Unternehmen – vor allem aber: von Bürokratie zu Bürokratie. Die Umverteiler müssen ans Licht!
Marktwirtschaftliches Umfeld für die forschende pharmazeutische Industrie Von Walter Köbele
I. Zur Diskussion über die Reform der GKV Der konstante Fortschritt, die absehbare demographische Entwicklung sowie Qualität und Wirtschaftlichkeit des Gesundheitssystems sind zentrale Themen der politischen Diskussion. Die Arzneimittelversorgung ist elementarer Bestandteil zur Lösung vielfältiger medizinischer Probleme und steht dabei sowohl in der aktuellen Gesetzgebung als auch bei der Diskussion neuer Reformkonzepte häufig im Mittelpunkt. Meist mit der klaren Absicht, im Arzneimittelsektor – vielfach fälschlicherweise dargestellt als der Kostentreiber im Gesundheitswesen – möglichst hohe Einsparungen zu erzielen. Durch den Verzicht auf Arzneimittel, die, so die These, vermeintlich nur einen geringfügigen bzw. keinen therapeutischen Zusatznutzen gegenüber einem als Erstsubstanz eingeführten Präparat einer Wirkstoffklasse aufweisen, könnte die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Millionenhöhe entlastet und damit das Ziel der Politik erreicht werden, den Bürgern stabile oder gar sinkende Beitragssätze zu präsentieren. Bei allen verständlichen Einsparbemühungen wird eine elementare Frage nur selten gestellt: Handelt es sich bei diesen Präparaten wirklich um Arzneimittel, auf die wir problemlos verzichten können, weil sie die Patientenversorgung nur unnötig verteuern? Oder bedeuten nicht auch sie einen therapeutischen Fortschritt, der den Patienten eine optimierte, auf seine Bedürfnisse abgestimmte Behandlung sichert und damit die Basis für eine effektivere Therapie bildet? Können wir auf die kontinuierliche Weiterentwicklung des einmal Erreichten durch schrittweise Innovationen verzichten? Bewirken nicht die zahlreichen kleinen Schritte in ihrer Gesamtheit ebenso viel wie eine einzelne, aber seltene „Sprunginnovation“? All diese Fragen beantwortet die Politik seit Jahren mit der gebetsmühlenartigen Wiederholung, dass ein Analogpräparat per se keinen Fortschritt gegenüber einer bereits bestehenden Wirkstoffgruppe darstellt und entsprechend nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verschrieben werden sollte. Dieser Standpunkt ist wissenschaftlich nicht gerechtfertigt, denn er vernachlässigt die schrittweise Entwicklung medizinischer Innovationen. Und er geht auf andere Gründe zurück, die unlängst aus berufenem Mund mit ungewöhnlicher Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht wurden. 4*
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„In den letzten 20 Jahren haben die Gesundheitsreformen ausschließlich der Beitragssatzsenkung gedient. [ . . . ] Die Qualität der Versorgung wurde nie als Begründung für eine Reform angeführt.“ Diese Aussage des ehemaligen Gesundheitsexperten der CSU, Horst Seehofer, am 14.10.2004 in München ist bemerkenswert. Und sie gibt einmal mehr Anlass zur Sorge. Denn das Gesundheitswesen hat nicht nur die Aufgabe, das körperliche und seelische Wohlbefinden der Patienten zu erhalten, deren verbesserte Teilnahme am sozialen Leben sicher zu stellen und eine erhöhte berufliche Produktivität zu ermöglichen. Es ist zudem einer der wichtigsten Arbeitgeber und Wirtschaftssektoren in Deutschland.
II. Regulierung bremst den Wachstumsmarkt Gesundheit Vom Arzt in Klinik und Praxis, der Krankenschwester und dem Apotheker über den Versicherungsvertreter bis zur Arzt- / Zahnarzthelferin ist heute jeder zehnte Deutsche im Gesundheitswesen beschäftigt. Die Ausgaben in diesem Bereich betrugen im Jahr 2003 rund 240 Milliarden Euro oder 11 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes (BIP). Seit 1997 sind die Gesundheitsausgaben in Deutschland um rund 18 Prozent gestiegen.1 Allerdings lag der Beschäftigungszuwachs im Gesundheitswesen in der Zeit von 1997 bis 2001 lediglich bei 0,4 Prozent und damit vier Prozentpunkte unter dem gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungszuwachs. Ende 2003 gab es in Deutschland rund 4,2 Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen.2 Der Gesundheitsmarkt ist eng mit anderen Wirtschaftssektoren verwoben: Der Taxifahrer, der im Umfeld einer medizinischen Behandlung zum Einsatz kommt, profitiert ebenso von einem starken Gesundheitsmarkt wie die unmittelbar beteiligten Leistungserbringer und Industrien. Das wachsende Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung stärkt branchennahe Dienstleister wie etwa die Wellness-Branche oder die Sportartikelhersteller. Jede Reform sollte daher neben einer Stabilisierung der GKV auch den großen Entwicklungspotenzialen und Beschäftigungschancen im Gesundheitswesen Rechnung tragen. Bislang ist das allerdings nicht geschehen. Stattdessen sind Unsicherheit und asymmetrische Informationen zum Charakteristikum des Gesundheitsmarktes in Deutschland geworden. Im Krankheitsfall benötigt ein Patient medizinische Leistungen, um seine Gesundheit wiederherzustellen. Er fragt also Gesundheitsleistungen nach, die beispielsweise durch den Arzt oder das Krankenhaus angeboten werden – freilich ohne dass der Patient Kosten und Qualität der Leistungen abschätzen kann. Im Gesundheitswesen erfolgt die Steuerung von Angebot und Nachfrage, anders als in einer Marktwirtschaft, nicht über den Preis. Die Abstimmung zwischen Leistungserbringern (Anbieter von Gesundheitsgütern und Dienstleistungen) und PaQuelle: http: / / www.destatis.de; letzter Zugriff: 06.04.2005. Quelle: Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 24.04.2003; „Gesundheitspersonal 2003“. 1 2
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tienten (Nachfrager medizinischer Produkte und Leistungen) erfolgt eben nicht durch einen Preismechanismus, welcher die Pläne, Wünsche und Bedürfnisse der einzelnen Marktteilnehmer widerspiegelt. Entsprechend gering sind die Anreize für die Versicherten, sich im Hinblick auf die eingesetzte medizinische Leistung optimal zu verhalten – sei es bezogen auf die längerfristige Prävention oder ihre Compliance. Weil die Vergütung der Behandlung direkt durch die GKV erfolgt, bleibt die Nachfrage selbst bei steigenden Kosten weitgehend gleich. Dieser Umstand ist insoweit fatal, als er keinen Anreiz gegen die Überinanspruchnahme medizinischer Leistungen (moral hazard) beinhaltet. Diesem Effekt mit einer generellen Steigerung der Lasten für die Versicherten nach dem Verursacherprinzip begegnen zu wollen, steht jedoch die Notwendigkeit gegenüber, eine adäquate Versorgung im Krankheitsfall unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Einzelnen sicher zu stellen. Der Anspruch, sozial schwache Personen zu schützen, bedeutet aber nicht, dass das Gesundheitswesen generell einer marktwirtschaftlichen Steuerung entzogen werden muss.
III. Marktwirtschaft erzeugt Anreize für mehr Effizienz Die Infrastruktur für ein privatisiertes Gesundheitswesen besteht bereits: Grundsätzlich kann schon heute jede medizinische Leistung außerhalb des gesetzlichen Systems bereitgestellt werden. Patienten können mit ihrem Arzt Leistungen privat abrechnen, individuelle Gesundheitsleistungen beanspruchen oder unter bestimmten Voraussetzungen in ein privates Versicherungsverhältnis eintreten. Eine große Zahl von Medizinprodukten oder rezeptfreien Arzneimitteln sind mittlerweile frei verkäuflich. Die Informationsdichte außerhalb der Sphäre der eigentlichen Leistungserbringer ist durch Internet-Foren, Stiftung Warentest, Werbung und Medienberichte aller Art so hoch wie nie zuvor. Bezeichnenderweise wird der Patient auf der anderen Seite, etwa durch das Heilmittelwerbegesetz, vielfach von der Möglichkeit abgeschnitten, sich umfassend über unterschiedliche Qualitäten z. B. von Arzneimitteln zu informieren. Ein Umstand, der befremdet – gewinnt doch das Schlagwort der Subsidiarität ebenso an Gewicht wie der Ruf nach mehr Eigenverantwortung und weniger staatlicher Reglementierung. Die Zusammenfassung von individueller Entscheidungsfreiheit und persönlicher Verantwortung ist aber gerade das wesentliche Kennzeichen marktwirtschaftlicher Systeme. Für den Bereich der GKV bedeutet dies, dass durch marktwirtschaftliche Anreizsysteme einerseits Handlungsfreiheit und Eigenverantwortung der einzelnen Beteiligten erheblich gesteigert und Anreize zur Verschwendung knapper Ressourcen minimiert werden können. Andererseits können aber auch gesellschaftlich unerwünschte Marktergebnisse auftreten. Die Forderung, dass marktwirtschaftliche Instrumente nicht den Zugang zur medizinischen Versorgung behindern dürfen, entspricht dem allgemeinen ge-
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sellschaftlichen Konsens. Mehr Markt macht im Gesundheitswesen also dann Sinn, wenn auch der Schutz sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen gewahrt bleibt, d. h. marktwirtschaftliche Effizienz mit einem angemessenen Schutz für sozial Schwache verbunden wird. Staatliche Regulierungen werden also dann notwendig, wenn sich kein eigener Markt bilden kann bzw. ein Marktergebnis dem gesellschaftlichen Konsens entgegensteht. Kurz gefasst bedeutet dies: Soviel Markt wie möglich – soviel Regulierung wie nötig.
IV. Staatlicher Dirigismus dominiert über mündige Patienten Der Weg der Politik ist indes ein anderer. Statt mehr Raum für Freiheit und Eigenverantwortlichkeit zu schaffen, begeben sich die Verantwortlichen in eine regelrechte Interventionsspirale: Unter dem Druck, angekündigte Beitragssatzsenkungen in der GKV kurzfristig zu ermöglichen, werden beispielsweise immer wieder Pflichtversicherungs- und Beitragsbemessungsgrenzen erhöht. Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung ist allein durch diese Schritte von der Freiheit abgeschnitten, seinen Versicherungsschutz autonom entsprechend persönlicher Wünsche zu bestimmen. Den Leistungsumfang der Kassen zementieren rigide Richtlinien und Verfahrensbestimmungen. Bedarfsplanungsmaßnahmen und Zulassungsbeschränkungen tun ein Übriges. In Kombination mit einer strikten administrierten Preisgestaltung, die über einheitliche Bewertungsmaßstäbe, Festbeträge und diagnoseabhängige Fallpauschalen neue Ineffizienzen schafft und kaum Spielraum für eine qualitätsbezogene Vergütung der Leistungserbringer lässt, gleicht das deutsche Gesundheitswesen eher einer Plan- denn einer Marktwirtschaft. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob auf diese Weise die Versorgung der Menschen mit den notwendigen Gesundheitsgütern und –leistungen dauerhaft gewährleistet werden kann. Zwar wird den Patienten noch immer versichert, sie erhielten für ihre Beiträge eine Versorgung auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung; ein System, in dem Preisregulierungen und Festbeträge für Arzneimittel jeden Anreiz im Keim ersticken, die Qualität der Produkte – insbesondere durch kostenintensive Forschungen – weiter zu verbessern, muss jedoch zwangsläufig Unzufriedenheit auf allen Seiten hervorrufen. Vor allem führt es zu einem Unterangebot medizinischer Neuerungen, das weder den Präferenzen noch den Erwartungen der Patienten entspricht, die überdies von den intransparenten, kurzatmigen und letztendlich kontraproduktiven Kostendämpfungsaktivitäten in immer höherem Umfang belastet und in ihren Mitwirkungsrechten beschnitten werden. Das grundsätzliche Problem des deutschen Gesundheitswesens, das Auseinanderfallen von individuellen Handlungen und deren finanziellen Konsequenzen, wird unter der Forderung nach „mehr Eigenverantwortung“ mit dem Ziel einer stärkeren Betonung persönlicher Verantwortlichkeit der Teilnehmer des Gesund-
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heitswesens diskutiert. Um die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu erhalten, sollte dem mündigen Patienten und dessen Verhalten eine echte Schlüsselrolle zukommen. Er ist es schließlich, der bewusst über die Inanspruchnahme von Leistungen, die Befolgung oder Missachtung von Therapievorschriften bestimmt, seine Freizeitaktivitäten wählt und seine Lebensgewohnheiten wie z. B. Ernährungs- oder Rauchverhalten gestaltet. Je nachdem, wie diese Entscheidungen ausfallen, bewirken sie ein gesteigertes Wohlbefinden, können gleichzeitig aber auch der Gesundheit abträglich sein und damit zukünftig Kosten für die Wiederherstellung seiner Gesundheit verursachen. Ein eigenverantwortlich handelnder Versicherter muss anhand der ihm zur Verfügung stehenden Informationen Nutzen und Kosten seiner Handlungen gegeneinander abwägen, wissend, dass er selbst dafür Sorge tragen muss, die Konsequenzen seiner Handlungen zu bewältigen. Diesen Ansatz haben die bisherigen Reformen jedoch unzureichend verfolgt.
V. Interventionsspirale verhindert Wettbewerb um Qualität Als Grund für das hohe Maß staatlicher Interventionen wird immer wieder der Begriff der Solidarität ins Feld geführt. Solidarität in der GKV bedeutet zunächst, dass sich etwa 90 Prozent der Bevölkerung in der GKV versichern müssen und nur Personen mit hohen Einkommen eine Wahlmöglichkeit erhalten, dass Versicherungsprämien ohne Ansehen des individuellen Risikos kalkuliert sind und die Versicherungsleistung unabhängig vom tatsächlich gezahlten Beitrag gewährt wird. Allerdings ist für diese Art der umfassenden, verteilungspolitisch motivierten Solidarität auch eine andere Lesart möglich. Der risikounabhängige Beitrag der GKV muss sich die Kritik gefallen lassen, das Einfallstor für den leichtfertigen Umgang mit der eigenen Gesundheit zu bilden. Dem bestehenden System fehlt jede Möglichkeit, die bewusste oder unbewusste Gesundheitsschädigung zu sanktionieren: Will man Zivilisationskrankheiten wirksam bekämpfen, erfordert dies eine wirksame Verhaltens- und Verhältnisprävention. Ein wesentliches Erfolgskriterium hierbei ist die Selbstverantwortlichkeit des Patienten, einschließlich der bereits angesprochenen Verantwortung für die Gestaltung der eigenen Lebensumstände. Solange die Gesellschaft im Rahmen der GKV allerdings für nahezu jedes individuelle Fehlverhalten haftet, werden sich die Versicherten wenig gesundheitsbewusst verhalten. Die Kosten individuellen Fehlverhaltens werden der Sozialversicherung oder den Arbeitgebern aufgebürdet. Um kurzfristige Beitragssatzsenkungen dennoch zu ermöglichen, beschreitet die Politik daher immer entschlossener den Weg der Budgetierung und Preisregulierung. Die zentrale Lenkung des Gesundheitsmarktes verkommt zunehmend zur Mangelverwaltung und hemmt den Anreiz, Innovationen zu entwickeln oder anzuwenden. Fixpreise für Arzneimittel auf Generika-Niveau machen es kaum noch
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attraktiv, neue verbesserte Produkte zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Ähnlich ist die Situation bei den Leistungserbringern. Beherrscht von der Angst eines Regresses bestimmen immer häufiger Kostenüberlegungen den Therapieverlauf. Die Folge: Die Qualität der Versorgung in der GKV nimmt ab. Die Hemmung und Verhinderung innovativer Therapien schafft entsprechende Negativ-Anreize für die forschende Industrie, insbesondere im Bereich Pharma. Die Entwicklung eines neuen Arzneimittels ist zeitaufwendig und risikoreich. Bevor diese sich amortisieren kann, kostet sie zunächst in erheblichem Maße Geld und Ressourcen. Andererseits helfen gerade innovative Medikamente, Kosten einzusparen – beispielsweise durch verringerte Krankenhausaufenthalte, verminderten Pflegebedarf oder geringere Kosten für die Behandlung von Nebenwirkungen. Innovationen, die von der forschenden Arzneimittelindustrie entwickelt werden, kommen dem Gesundheitswesen zugute. Dabei umfasst der Begriff „Innovation“ keineswegs nur die Entwicklung gänzlich neuer Therapieprinzipien, sondern auch die Weiterentwicklung bestehender Ansätze – etwa durch Wirkungsteigerungen oder gezieltere Fokussierung auf einzelne Krankheitsbilder oder Patientenbedürfnisse. Kurzfristige Eingriffe und staatliche Preisregulierung, wie z. B. Zwangsrabatte und Erstattungsobergrenzen, nehmen den Unternehmen die Planungssicherheit, dass das hohe Investment, das mit der Entwicklung jedes neuen Präparates verbunden ist, sich innerhalb der Patentlaufzeit amortisieren kann. Die Folge: Deutschland ist bei der Diffusion von Innovationen zum europäischen Schlusslicht geworden. Dennoch gibt es kaum eine Medikamenten-Neueinführung, bei der sich nicht kritische Stimmen zu den Kosten erheben. Dabei sollte die Debatte über die Leistungen der Arzneimittelhersteller neben den Kosten eigentlich den tatsächlich erreichten gesundheitlichen Gewinn durch innovative Medikamente zum Gegenstand haben: Wenn etwa durch eine gute Blutdruckeinstellung die Zahl der Herzinfarkte und Schlaganfälle deutlich vermindert wird oder durch Cholinesterase-Hemmer die Selbstständigkeit von Alzheimer-Kranken länger erhalten werden kann, ist das ein Gewinn an Lebensjahren sowie an Lebensqualität für Betroffene und ihre Angehörige. Dass Menschen heute immer älter und dabei immer „gesünder“ älter werden, ist nicht zuletzt auch Arzneimittelinnovationen zu verdanken. Verantwortliche in Gesundheitswesen, Politik, Forschung und Wissenschaft sind aufgerufen, die Weichen für die Zukunft so zu stellen, dass der kontinuierliche Nachschub von Innovationen sichergestellt wird. Das Beispiel der forschenden pharmazeutischen Industrie verdeutlicht, stellvertretend für viele andere Bereiche, dass das deutsche Gesundheitswesen einen echten Paradigmenwechsel benötigt, um das Vertrauen der Bevölkerung nicht zu verlieren. Sollen die Beteiligten, in erster Linie aber die Patienten, von der Zukunftsbranche Gesundheit profitieren, so kann dies nur geschehen, wenn sie als informierte Kunden der angebotenen Leistungen aktiv ihre Versorgung mitgestalten.
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Statt den Leistungsumfang über Beschränkungen zu regulieren, müsste der nachfragende Kunde das Angebot von Leistungen und Qualitäten bestimmen. Für die daraufhin erbrachte Leistung müssen freie, am Markt orientierte Preise gezahlt werden, um Innovationen und Qualität zu fördern. Nur so kann ein echter, qualitätsorientierter Wettbewerb unter den verschiedenen Anbietern und den verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens wachsen.
VI. „Mehr Markt“ erfordert stabile Rahmenbedingungen Das bislang nur beschriebene Ideal des mündigen, informierten Patienten muss schrittweise Einzug in die Realität halten. Dazu gehört auch, dass der Patient die Verantwortung für bestimmte Risiken, die in seiner Person begründet liegen, selbst zu tragen bereit ist statt sie, wie bisher, überwiegend der Allgemeinheit aufzubürden. Dem Makel eines solchen Systems, dass Fehleinschätzungen des tatsächlichen Versicherungsumfangs unter Umständen zu einer unzureichenden Versorgung im Krankheitsfall führen, kann und muss die Politik durch die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht begegnen, die einen obligatorischen Mindestumfang (Grundleistungskatalog) vorschreibt. Ein derartiges Modell hätte den Vorteil, dass staatliche Eingriffe erst dort erforderlich werden, wo sich Risiken tatsächlich manifestieren, etwa bei der Entstehung unterschiedlicher Versorgungsniveaus oder der finanziellen Überforderung sozial Schwacher. Natürlich lässt sich die Idee des freien Verbrauchers nur so weit und so lange durchhalten, wie dieser sich nicht schon in einer Zwangslage befindet. Der gesunde Versicherte hat stets eine höhere Entscheidungsfreiheit als der bereits erkrankte Patient. Hier setzt wieder die Verantwortlichkeit der Leistungserbringer an, die den bereits Erkrankten als Sachkundige der richtigen Therapie zuführen. Für die Versorgung mit Arzneimitteln bedeutet das eine langfristig verbesserte Perspektive, bei der nicht der alleinige Preis der Medikation im Mittelpunkt steht, sondern ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis für die gesamte Versorgungskette. Der zielgerichtete Einsatz von Innovationen wird erleichtert und bewirkt ein allgemeines, positives Investitionsklima, das über seine positiven konjunkturellen Effekte letzten Endes auch der GKV zugute kommt. Dass ein solcher Paradigmenwechsel nicht ohne entsprechende staatliche Rahmenbedingungen erfolgen kann, versteht sich von selbst. Die marktwirtschaftliche Ausrichtung des Gesundheitswesens erfordert stabile und klare Rahmenbedingungen. Dazu gehört das Verbot irreführender und unlauterer Werbung, um Verbraucher vor Fehlinformationen und Fehlinvestitionen zu bewahren. Auch eine verpflichtende Rückversicherung für private Krankenversicherer ist eine absolute Notwendigkeit, um das finanzielle Risiko der Kunden zu minimieren.
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Es ist zudem notwendig, dass Leistungsanbieter, Krankenkassen und Versicherungen vollständig dem Wettbewerbs- und Kartellrecht unterstellt werden. So ausgestattet könnte der Gesundheitssektor endlich die erheblichen Innovations-, Wachstums- und Beschäftigungspotenziale ausschöpfen, die schon viel zu lange ungenutzt geblieben sind. Auf diese Weise hielte die Qualität der Versorgung erstmals Einzug in eine deutsche Gesundheitsreform.
Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern Rechtsfragen des europäischen Wettbewerbsund Vergaberechts* Von Ingwer Ebsen
I. Verstärkung von Wettbewerb durch den Ausbau selektiver Vertragsbeziehungen im Leistungserbringungsrecht der GKV Das Leistungserbringungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) regelt die Rechtsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und ihren Verbänden auf der einen Seite und den verschiedenen Gruppen von Freiberuflern, gewerblichen Unternehmen oder auch staatlichen und freigemeinnützigen Institutionen und deren jeweiligen Verbänden andererseits, deren unmittelbare Erbringung von Dienstleistungen oder Abgabe von Sachen an die Versicherten im Verhältnis zwischen diesen und ihrer Kasse als „Sachleistung“ letzterer gelten. Durch dieses Dreiecksverhältnis der Sachleistung wird in der deutschen GKV die im Wesentlichen unternehmerische tatsächliche Leistungserbringung mit der letztlich „staatlichen“ Ausgestaltung des Sozialversicherungsverhältnisses zwischen Kasse und Versichertem zu einer Einheit verschmolzen.1 Dieses Leistungserbringungsrecht findet sich – getrennt nach den Sektoren oder Leistungsarten – im Wesentlichen im Vierten Kapitel (§§ 69 – 140h) des SGB V. Noch vor wenigen Jahren war dieses GKV-Leistungserbringungsrecht nahezu exklusiv durch kollektive beziehungsweise staatliche Zulassung und Regulierung geprägt. Die Elemente dieser auch heute noch dominanten Struktur bestehen darin, dass in den meisten Sektoren – am ausgeprägtesten für die vertragsärztliche Versorgung, aber mit gewissen Einschränkungen auch bei den anderen Leistungsarten – wesentliche Inhalte der einschlägigen Rechtsbeziehungen durch gemeinsame kollektive Regulierungen auf Verbandsebene, das heißt im Wege der sog. „gemein* Der Beitrag stützt sich insbesondere zu den vergaberechtlichen Frage auf ein Rechtsgutachten des Verfassers vom Sommer 2004. 1 Dazu ausführlicher Ebsen, Ingwer, Der Behandlungsanspruch des Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung und das Leistungserbringungsrecht, in: Festschrift für Otto Ernst Krasney zum 65. Geburtstag, 1997, S. 81 ff.
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samen Selbstverwaltung“, gestaltet werden und dass der Zugang zur Leistungserbringung in der GKV auf Zulassungsakten basiert, die entweder ebenfalls in den Händen der gemeinsamen Selbstverwaltung oder derjenigen der Verbände der Krankenkassen liegen oder – bei Krankenhäusern – im Wesentlichen von den Ländern entschieden werden. Soweit solche Zulassungsakte nicht gebundene Entscheidungen sind, durch welche lediglich die Anerkennung und Einhaltung der generellen rechtlichen Bindungen gesichert werden, sondern echte Elemente einer Auswahl enthalten wie bei den Krankenhäusern und – insbesondere bei Überversorgung – den Vertragsärzten, beruhen sie wiederum auf staatlicher oder kollektiver Bedarfsplanung. In diesen Systemen der GKV-Versorgung stehen die Leistungserbringer grundsätzlich – das kann natürlich im Einzelfall wegen Knappheit des Angebots und damit faktisch monopolähnlicher Stellung von Leistungserbringern auch einmal anders sein – im Wettbewerb miteinander um Patienten oder Kunden. Dies liegt daran, dass mit der Zulassung zur Leistungserbringung lediglich die Befugnis – und grundsätzlich auch die Pflicht – begründet wird, Leistungen an Versicherte zu Lasten der Krankenkassen anzubieten, dass aber die Entscheidung über die Wahl des konkreten Leistungserbringers in den Händen der Versicherten liegt. In diesem System konkurrieren also Leistungserbringer um die Nachfrage bei den Versicherten. Hingegen kommt es – abgesehen von der Mitwirkung der Kassenverbände bei Entscheidungen im Rahmen der Bedarfsplanung, also auf der Kollektivebene – auf positive Auswahlentscheidungen der Kassen nicht an. Diesem hier nur skizzenhaft als Kontrastfolie dargestellten Grundmuster für den Zugang zum Markt der Leistungserbringung in der GKV ist durch die letzte größere Reform, das GMG2, ein anderes Modell an die Seite gestellt worden, für welches die Beteiligten optieren können. Es ist dasjenige der sog. „selektiven Verträge“ oder auch des „Vertragswettbewerbs“.3 In verschiedenen Leistungssektoren, aber insbesondere auch sektorübergreifend sieht das SGB V nunmehr vor, dass Krankenkassen, unter Umständen auch deren Verbände, mit einzelnen Leistungserbringern oder mit Gemeinschaften von diesen in unterschiedlichen Rechtsformen Verträge über die Leistungserbringung für die jeweiligen Versicherten schließen, wobei weder auf Seiten der Kassen noch auf Seiten der Leistungserbringer Kontrahierungszwang besteht. Solche Gestaltungen haben durchaus eine gewisse Tradition in der GKV, nämlich bei der Auswahl von Rehabilitationseinrichtungen nach § 40 Abs. 3 S. 1 SGB V und auch schon hinsichtlich des vorgelagerten Versorgungsvertrages mit solchen Einrichtungen nach § 111 SGB V, wo allerdings das 2 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung – GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) v. 14. 11. 2003, BGBl. I S. 2190. 3 Dazu Steinmeyer, Heinz-Dietrich, Vertragswettbewerb und Einzelverträge in der Gesundheitsreform 2003, in: GSP 2003, 9 ff.; Ebsen, Ingwer / Greß, Stefan / Jacobs, Klaus / Szecsenyi, Joachim, Vertragswettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: SozSich 2003, 128 ff.; Ebsen, Ingwer, Kartell- und vergaberechtliche Aspekte des vertraglichen Handelns der Krankenkassen, in: KrV 2004, 95 ff.
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Auswahlermessen von den Kassenverbänden auf Landesebene gemeinsam auszuüben ist. Auswahlspielräume gibt es auch für Modellvorhaben (§ 64 Abs. 1 SGB V), die Versorgung mit Haushaltshilfe (§ 132 SGB V), häuslicher Krankenpflege (§ 132a Abs. 2 SGB V) und Soziotherapie (§ 132b SGB V). Erst das GMG hat dieses Modell selektiver Verträge aber so weiterentwickelt, dass man es nun als eine eigene, neben das Kollektiv- und Zulassungsmodell tretende, alternative Struktur bezeichnen kann. Im Einzelnen geht es um folgende Vertragsoptionen: die Beschaffung von Hilfsmitteln zur leihweisen Überlassung an die Versicherten nach § 33 Abs. 5 (§ 127 Abs. 2 SGB V); hausarztzentrierte Versorgung (§ 73b SGB V); die Durchführung von Leistungen mit besonderen Qualitätsanforderungen (§ 73c Abs. 2 S. 2 SGB V); ambulante Versorgung durch Krankenhäuser, die an strukturierten Behandlungsprogrammen nach § 137g SGB V teilnehmen oder die hochspezialisierte Leistungen anbieten (§ 116b SGB V); die Einbeziehung von Apotheken in vertraglich vereinbarte Versorgungsformen (z. B. integrierte Versorgung) (§ 129 Abs. 5b SGB V); die Versorgung mit sozialmedizinischen Nachsorgemaßnahmen (§ 132c SGB V); integrierte Versorgung (§§ 140a ff. SGB V; diese hat es zwar schon zuvor gegeben; jedoch wurde die integrierte Versorgung erst durch die Veränderungen aufgrund des GMG zu einer den einzelnen Kassen und Leistungserbringern nach ihrem alleinigen Ermessen offen stehenden Gestaltungsoption); Sachleistungserbringung im EG- und EWR-Ausland (§ 140e SGB V).
Mit der Ausweitung solcher Möglichkeiten zur wechselseitigen Auswahl von Leistungserbringern und Kassen als – gegenüber anderen bevorzugten – Vertragspartnern verändert sich die Stellung der Leistungserbringer, der Kassen und der Versicherten. Die Leistungserbringer haben insoweit nicht mehr einen durch Zulassungsakt langfristig gesicherten Status, sondern erhalten Berechtigungen, welche stärker individualisiert und stärker zeitlich begrenzt auf Vertrag beruhen. Der Flexibilität beim Status der Leistungserbringer korrelieren Flexibilität sowie Gestaltungs- und Verhandlungsspielraum auf Seiten der Kassen. Bei den Versicherten ist der Wandel komplex und nur in der Zusammenschau des Verhältnisses zu den Leistungserbringern und zu den Kassen angemessen zu verstehen. Im unmittelbaren Verhältnis zum Leistungserbringer reduzieren sich die Auswahlspielräume. Wer sich auf hausarztzentrierte Versorgung – vielleicht sogar eingebaut in Modelle integrierter Versorgung – einlässt, hat vordergründig einen geringeren Spielraum. Entsprechendes gilt, sofern die Kasse die Hilfsmittelversorgung so organisiert, dass die Nachfrage auf bestimmte Versorger kanalisiert wird.
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Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Durch die neuen Verträge dürfte zugleich die Möglichkeit individueller Gestaltungen im Verhältnis zwischen Kassen und Leistungserbringern, verbunden mit dem auf den Wahlrechten der Versicherten beruhenden Wettbewerb der Kassen um Versicherte, für diese zu einer größeren Bandbreite von Optionen führen – entweder indem die Kassen intern diese Optionen ermöglichen oder indem die Versicherten die Kassen wechseln können. Insofern führen die stärker differenzierbaren Gestaltungen selbst bei Beibehaltung eines einheitlichen gesetzlich vorgegebenen Leistungskatalogs zu einer gewissen Ausweitung des Kassenwettbewerbs, der derzeit ganz überwiegend ein „Preiswettbewerb“ ist, nämlich ein solcher mit Beitragssätzen, zu einem Leistungswettbewerb. Schließlich ist zu beachten, dass wegen des Kassenwettbewerbs um Versicherte die Kassen darauf angewiesen sind, „gute“ Leistungserbringer unter Vertrag zu haben, was diesen einen Wettbewerbsvorteil und eine größere Verhandlungsmacht gegenüber den Kassen schafft und sie motiviert, bei ihren Versicherten „anerkannt“ zu sein. Gemeinsames Element der Veränderungen hin zu einer durch selektive Verträge geprägten Landschaft der Sachleistung in der GKV ist insofern die Verstärkung von Wettbewerb auf allen drei Seiten des Leistungsdreiecks. Mit der geschilderten Entwicklung, die zunächst noch vorrangig eine solche der gesetzlichen Möglichkeiten ist, die aber sicherlich im Laufe der nächsten Jahre auch zu entsprechenden Veränderungen der Wirklichkeit in den Beziehungen von Kassen, Leistungserbringern und Versicherten / Patienten führen wird, treten neue Probleme oder neue Facetten bereits seit längerem thematisierter Rechtsprobleme auf, mit denen sich dieser Beitrag befassen will. Zum einen legt ein gesetzgeberisches Konzept, welches explizit auf wirtschaftlichen Wettbewerb in den Leistungserbringungsbeziehungen setzt4, eine erneute Befassung5 mit der Frage nahe, inwieweit nationales und / oder europäisches Wettbewerbsrecht in diesen Beziehungen eine Rolle spielt. Das ist eine neue Auflage einer älteren Diskussion, die immer wieder Literatur und Gerichte beschäftigt hat. Zum anderen fragt sich, ob nicht im Bereich der selektiven Verträge nunmehr das Vergaberecht – ebenfalls national und / oder gemeinschaftsrechtlich – einen neuen Anwendungsbereich erhält und insofern eine weitere Bestätigung für jene bringt, die schon seit einer Reihe von Jahren von einem in Entstehung begriffenen und sich rechtlich konkretisierenden Sozialwirtschaftsrecht sprechen6.
4 Im Entwurf mit amtlicher Begründung des GMG (BT-Drucks. 15 / 1525) kommt das Wort „Wettbewerb“ entweder allein oder in Kombinationen ca. 60 Mal vor. 5 Zu früheren Diskussionen siehe Ebsen, Ingwer, Öffentlich-rechtliches Handeln von Krankenkassen als Gegenstand des Wettbewerbsrechts? Probleme materiellrechtlicher und kompetenzrechtlicher Koordinierung, in: ZSR 2000, 298 ff. 6 Dazu zusammenfassend und weiterführend Hänlein, Andreas, Sozialrecht als Wirtschaftsrecht, in: NZS 2003, 617 ff.
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II. Rechtliche Anforderungen an den selektiven Vertragsbereich im Hinblick auf einen fairen Wettbewerb 1. Zur Anwendbarkeit nationalen Wettbewerbsrechts Am einfachsten dürfte immer noch die Frage zu beantworten sein, inwieweit nationales Wettbewerbsrecht, das heißt das Missbrauchsrecht des GWB und das Lauterkeitsrecht des UWG, in den leistungsrechtlichen Beziehungen der GKV anzuwenden ist. Denn die Antwort, welche § 69 SGB V hierauf bereit hält, wird durch die neuen Entwicklungen nicht berührt. Zentrale Vorschrift für die Anwendbarkeit nationalen Rechts – und damit auch des Wettbewerbsrechts des GWB (und ebenso des hier nicht weiter behandelten UWG) – auf die Verträge über selektives Kontrahieren in der GKV ist § 69 SGB V. Nach Satz 1 dieser Vorschrift regelt das Vierte Kapitel des SGB V die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu allen Leistungserbringern dieses Kapitels – und das sind alle, die hier relevant sind – „abschließend“. Die in der Vorschrift genannten Ausnahmen spielen hier keine Rolle. Damit – und das war auch der aus den Materialien erkennbare Sinn der 1999 durch das GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 getroffenen Regelung – ist das Wettbewerbsrecht des GWB für die hier erörterten Verträge gesetzlich ausgeschlossen. In der amtlichen Begründung zur Änderung von § 69 SGB V7 war seinerzeit erklärt worden, § 69 SGB V stelle klar, dass die dort genannten Rechtsbeziehungen ausnahmslos „nicht privatrechtlicher Natur“ seien und dass deshalb die Kassen insoweit „nicht als Unternehmen im Sinne des Privatrechts, einschließlich des Wettbewerbs- und Kartellrechts“ handelten und dass diese Qualifizierung auch gelte, soweit Rechte Dritter betroffen seien. Deshalb seien auch die Sozialgerichte für Rechtsstreitigkeiten aus diesen Beziehungen zuständig. Der in der Rechtsprechung entwickelten sog. „Doppelnatur“ von Handlungen der Kassen – zugleich öffentlich-rechtlich und privatrechtlich je nach Blickrichtung8 – wird jedenfalls auf der Grundlage des neu gefassten § 69 SGB V eine Absage erteilt. Obgleich § 69 SGB V so deutlich formuliert ist, dass Missverständnisse hinsichtlich der Qualifikation der einschlägigen Rechtsbeziehungen und damit auch der dem folgenden Gerichtszuständigkeiten eigentlich nicht mehr möglich sind, hat dies dem Gesetzgeber nicht genügt. Aufgrund einer erst im zuständigen Ausschuss eingefügten Ergänzung9 wurde dem § 51 Abs. 2 S. 1 SGG noch der Halbsatz angefügt: „§§ 87 und 96 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen finden keine Anwendung“, und damit dies auch von niemandem übersehen wird, wurde dieselbe Regelung noch einmal in § 87 Abs. 1 GWB eingefügt. Dieses ungewöhnliche Verhalten des Gesetzgebers war eine Reaktion auf gerichtliche 7 8 9
BT-Drucks. 14 / 1245, S. 67 f. Dazu mit weiteren Nachw. Ebsen (Fn. 5). Siehe BT-Drucks. 14 / 1977, S. 131.
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Entscheidungen, welche trotz der eigentlich auch schon zuvor recht klaren Rechtslage das GWB gegen Verhaltensweisen von Kassenverbänden oder Einrichtungen der gemeinsamen Selbstverwaltung in Stellung gebracht hatten. Hinsichtlich der Gerichtszuständigkeiten gibt es inzwischen keine ernsthaften Zweifel mehr.10 Demgegenüber wird zur materiellrechtlichen Frage weiterhin vertreten, trotz der klaren Aussage in § 69 S. 1 SGB V, die dort genannten Rechtsvorschriften seien „abschließend“, und trotz des nunmehr zweifelsfrei öffentlich-rechtlichen Charakters der dort genannten Rechtsbeziehungen könnten das nationale Wettbewerbsrecht des GWB und das (hier nicht relevante) UWG hier angewandt werden.11 Dies ist – abgesehen von dem entgegenstehenden klaren Wortlaut des § 69 S. 1 SGB V – auch aus allgemeinen Gründen kaum begründbar, wenn die gesetzliche Qualifikation der in der Vorschrift geregelten Rechtsbeziehungen als öffentlich-rechtlich anerkannt wird. UWG und Kartellrecht setzen mit den Tatbestandserfordernissen des „geschäftlichen Verkehrs“ (§ 1 UWG) und der Eigenschaft als „Unternehmen“ als Adressaten der Pflichten des GWB-Kartellrechts nach nationalem Recht privatrechtliches Handeln voraus. Wer als dem Staat zuzurechnende Stelle öffentlichrechtlich, also hoheitlich handelt, ist nicht Adressat von nationalem UWG- oder Kartellrecht. 12
2. Zur Anwendbarkeit der Art. 81 ff. EG Der Ausschluss nationalen Wettbewerbsrechts durch § 69 SGB V kann ebenso wenig die Anwendbarkeit europäischen Wettbewerbsrechts auf das Handeln der Krankenkassen ausschließen wie die gesetzgeberische Qualifikation ihres Handelns als öffentlich-rechtlich. Das folgt aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der allein gemeinschaftsrechtlichen Begrifflichkeit der einschlägigen Tatbestände. Gemeinschaftsrechtlich geht es insbesondere um die Anwendbarkeit von Art. 81, 82 und 86 Abs. 2 EG. Kernfragen sind hier, ob – beziehungsweise ge10 Siehe BGH (Kartellsenat), NJW 2000, 2749, mit Anmerkung von Kummer, Peter, Rechtsweg für Streitigkeiten aus Beziehungen zwischen gesetzlichen Krankenkassen und Leistungserbringern, in: SGb 2001, 138 ff. 11 Siehe Koenig, Christian / Engelmann, Christina, Internetplattformen im Gesundheitswesen auf dem Prüfstand des Kartellrechts, in: WRP 2002, 1244 ff.; ähnlich auch Engelmann, Klaus, Sozialrechtsweg in Streitigkeiten zwischen Institutionen der gesetzlichen Krankenversicherung und Leistungserbringern bei wettbewerbs- und kartellrechtlichem Bezug, in: NZS 2000, 213 ff. (220 f.); siehe auch Steinmeyer, Heinz-Dietrich, Kartellrecht und Krankenversicherung, in: SDSRV 48 (2001), 101 (119), der allerdings auch so verstanden werden kann, dass § 69 SGB V das GWB-Kartellrecht lediglich insoweit nicht ausschließe, als es um die Beziehungen der Leistungserbringer untereinander und um Beziehungen der Kassen außerhalb des Sozialrechts gehe, was wohl ganz unstreitig sein dürfte. 12 Siehe auch BSGE 89, 24; ob das obiter dictum in BSGE 86, 223 (230), die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hätten gegebenenfalls zu prüfen, ob das Verhalten von Institutionen der GKV „materiell kartellrechtswidrig“ sei, eine unmittelbare Anwendbarkeit des GWB meint, ist nicht klar.
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nauer: in welchen Konstellationen – die Krankenkassen oder ihre Verbände Unternehmen beziehungsweise Unternehmensverbände i. S. d. EG-Wettbewerbsrechts sind. Soweit man dies bejaht, geht es um die Frage, inwieweit eigentlich nach Art. 81, 82 EG verbotene Verhaltensweisen nach Art. 86 Abs. 2 EG gerechtfertigt sind, weil dies zur Erfüllung der den Körperschaften übertragenen besonderen Aufgaben erforderlich ist. Die Anwendbarkeit des EG-Wettbewerbsrechts hängt also von der Überwindung zweier hintereinandergeschalteter Hürden ab. Ausgangspunkt ist der sog. „funktionelle Unternehmensbegriff“, den auch Hoheitsträger, die in ihrem eigentlichen Aufgabengebiet keine Unternehmen sind, erfüllen, soweit sie sich wirtschaftlich betätigen.13 Für sie kommt es auf die konkreten Tätigkeiten an, um sie entweder dem Bereich der staatlichen Aufgabenerfüllung zuzuordnen oder wegen der Qualifikation der Tätigkeit als „wirtschaftlich“ als Unternehmen i. S. d. EG-Wettbewerbsrechts einzustufen.14 Im Gemeinschaftsrecht kommt noch hinzu, dass prinzipiell auch die Unterscheidung von öffentlichrechtlichem und privatrechtlichem Handeln nach innerstaatlichem Recht keine Rolle spielen darf, da der Unternehmensbegriff des Art. 81 EG allein gemeinschaftsrechtlich bestimmt werden kann. Hier kann es deshalb auch nicht darauf ankommen, ob der deutsche Gesetzgeber nunmehr einzelne Beziehungen öffentlich-rechtlich ausgestaltet oder nicht.15 Die auch gemeinschaftsrechtlich erforderliche Abgrenzung von wirtschaftlichem oder „hoheitlichem“, von Staats wegen regelndem Handeln muss nach inhaltlichen Kriterien erfolgen, wobei die Haltung des Europäischen Gerichtshofs einiges für sich hat, dies im Wege der Abwägung der jeweiligen für und gegen eine Unternehmensqualifizierung sprechenden Gesichtspunkte zu tun. Die Aufgabenerfüllung von Sozialversicherungsträgern gegenüber ihren Versicherten wurde in der Poucet / Pistre-Entscheidung von 199316 nicht als wirtschaftlich eingestuft. In diesem Fall hatte der Europäische Gerichtshof im Hinblick 13 Besonders deutlich die Entscheidung des EuGH vom 23. 04. 1991, Rs. C-41 / 90 – EuGHE 1991-I, S. 1979 (Höfner / Elser). 14 Ein ausführlicher Überblick über die einschlägige Rechtsprechung bei Benicke, Christoph, Zum Unternehmensbegriff des Europäischen Wettbewerbsrechts, in: EWS 1997, 373 ff.; siehe auch Haverkate, Görg, Der Ordnungsrahmen für Wettbewerb innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, in: VSSR 1999, 177 ff.; Pitschas, Rainer, Europäisches Wettbewerbsrecht und soziale Krankenversicherung, in: VSSR 1999, 221 ff.; Steinmeyer (Fn. 11); Axer, Peter, Europäisches Kartellrecht und nationales Krankenversicherungsrecht, in: NZS 2002, 57 ff.; Storr, Stefan, Die Stellung der Sozialversicherungen im europäischen Wettbewerbsrecht am Beispiel der gesetzlichen Krankenversicherungen, in: ZESAR 2003, 249 ff. 15 Hierzu mit weiteren Nachw. Bieback, Karl-Jürgen, Die Kranken- und Pflegeversicherung im Wettbewerbsrecht der EG, in: EWS 1999, 361 (366), der selbst allerdings die Frage offen lässt, ob eine öffentlich-rechtliche Ausgestaltung durch den nationalen Gesetzgeber automatisch die gemeinschaftsrechtliche Qualifikation als hoheitlich nach sich zieht. 16 EuGH vom 17. 02. 1993, Rs. C-159 / 91, C-160 / 91 – EuGHE 1993-I, S. 637; im Wesentlichen ebenso in der Rs. Cisal, EuGH vom 22. 01. 2002 – EuGHE 2002-I, S. 691 (mit Anmerkung Lübbig, Thomas, Staatliche Unfallversicherungsanstalt kein Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG, in: EuZW 2002, 149 f.).
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auf Sozialversicherungsmonopole französischer Kranken- und Rentenversicherungsträger ausgeführt, unter welchen Voraussetzungen im weiteren Sinne „staatliche“ Träger der Sozialversicherung nicht als Unternehmen i. S. v. Art. 85 (heute Art. 81) EG anzusehen seien. Ausgeschlossen vom Anwendungsbereich seien „die bei der Verwaltung der öffentlichen Aufgabe der sozialen Sicherheit mitwirkenden Einrichtungen, die eine Aufgabe mit ausschließlich sozialem Charakter erfüllen und eine Tätigkeit ohne Gewinnzweck ausüben, die auf dem Grundsatz der nationalen Solidarität beruht“. In Anwendung dieser Grundsätze und ihrer Abgrenzung gegenüber den Entscheidungen in den Rechtssachen Höfner / Elser17 sowie Fédération Française18 und Albany19 lässt sich sagen, dass die Qualifikation von Sozialleistungsträgern als Unternehmen i. S. d. EG-Wettbewerbsrechts umso weniger gerechtfertigt ist, je mehr die folgenden Eigenschaften zu bejahen sind, und dass jedenfalls keine Unternehmensqualifikation in Betracht kommt, wenn alle folgenden Merkmale vorliegen: keine Gewinnorientierung; Abdeckung typischer sozialer Risiken; Verwirklichung von Solidarausgleich durch Abweichung von versicherungstechnischer Äquivalenz und dadurch Sozialtransfer von den finanziell Leistungsfähigeren zu den weniger Leistungsfähigen; Finanzierung des Systems im Umlageverfahren und nicht im Wege von Kapitalansparung und -ertrag; weitgehende Bestimmung der Beiträge und Leistungen durch staatliche Regulierung.
Diese – auch in der Rechtssache Cisal20 bestätigten – Kriterien werden durch die deutsche GKV sicherlich genauso stark erfüllt wie durch die französischen Sozialversicherungsträger, die in der Rechtssache Poucet / Pistre nicht als Unternehmen angesehen wurden. Solange darum Reformen der GKV nicht dazu führen, dass die soziale Umverteilung durch Solidarausgleich (insbesondere die Entkoppelung von Beitrag und Risiko) weitgehend beseitigt wird, ist das durch die Pflichtversicherung in der GKV begründete Monopol nicht an den Maßstäben des EGWettbewerbsrechts rechtfertigungsbedürftig. Allerdings ist es wegen des funktionalen Unternehmensbegriffs nicht zwingend, diese Qualifikation auch auf die Beziehungen zu den Leistungserbringern zu bezieSiehe Fn. 10. EuGH vom 16. 11. 1995 – C-244 / 94 – EuGHE 1995-I, S. 4013. 19 EuGH vom 21. 09. 1999 – C-67 / 96 – EuGHE 1999-I, S. 5751. 20 EuGH vom 22. 01. 2002 – C-218 / 00 – EuGHE 2002-I, S. 691; dazu auch BSGE 91, 263; kritisch Giesen, Richard, Das BSG, der EG-Vertrag und das deutsche Unfallversicherungsmonopol, in: ZESAR 2004, 151 ff. 17 18
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hen. Dieses Verhältnis stand in dem Verfahren zu den Festbetragsregelungen nach § 35 SGB V auf dem Prüfstand des Europäischen Gerichtshofs. Hier hatte der Generalanwalt Jacobs in seiner Stellungnahme vom 22. 05. 200321 in den verbundenen Rechtssachen C-264 / 01, C-306 / 01, C-354 / 01 und C-355 / 01 die Krankenkassen als Unternehmen qualifiziert, wobei er nicht etwa auf den funktionalen Unternehmensbegriff und die Besonderheiten des Leistungserbringungsverhältnisses abstellte, sondern die deutschen Kassen wegen der inzwischen eingeführten Wettbewerbselemente und ihrer Gestaltungsspielräume im Wettbewerb untereinander sowie wegen des auf die freiwillig Versicherten bezogenen Wettbewerbs mit der PKV ganz generell und gerade für ihr „Kerngeschäft“ als Unternehmen qualifizierte. Dem ist der Europäische Gerichtshof nicht gefolgt. Mit Urteil vom 16. 03. 200422 hat er entschieden, dass weiterhin die Kriterien der Poucet / Pistre-Entscheidung für die Abgrenzung wirtschaftlicher Tätigkeit und sozialer Aufgabenerfüllung und damit auch für die Unternehmensqualifikation Geltung hätten und dass hiernach die deutschen Krankenkassen grundsätzlich nicht Unternehmen seien. Die Tätigkeit der Spitzenverbände im Rahmen der Festbetragsfestsetzung wurde wegen der staatlichen Vorgaben und der Einbindung dieser Aufgabe in das Gesamtsystem der Leistungsbeziehungen ebenfalls nicht als „wirtschaftlich“ angesehen. Damit war die Unternehmenseigenschaft zu verneinen. Folglich war die Festbetragsfestsetzung gar nicht an den Art. 81 ff. EG zu messen, so dass es auf die Voraussetzungen einer ausnahmsweisen Rechtfertigung eines Kartells nach Art. 86 Abs. 2 EG nicht ankam.23 Allerdings hat der Europäische Gerichtshof auch in dieser Entscheidung den relativen (funktionellen) Unternehmensbegriff bestätigt und ausdrücklich betont, dass in anderen Konstellationen eine Qualifikation von Aktivitäten der Kassen als wirtschaftlich und damit ihre Einordnung als Unternehmen sehr wohl in Betracht komme.24 Angesichts der bewusst zur Verstärkung wettbewerblicher und marktlicher Möglichkeiten geschaffenen Neuerungen im Leistungserbringungsrecht spricht einiges dafür, gerade in den Bereichen selektiven Kontrahierens, in denen http: / / www.curia.eu.int / de / content / juris / index_form.htm. EuGH, EuZW 2004, 241 ff. 23 Zu diesem viel beachteten Urteil siehe auch Krajewski, Markus, Festbetragsregelung, Krankenkassen und europäisches Wettbewerbsrecht, in: EWS 2004, 256 ff.; Gassner, Ulrich, Arzneimittel-Festbeträge – Luxemburg locuta – causa finita, in: WuW 2004, 1028 ff.; Schenke, Ralf, Die AOK-Bundesverband-Entscheidung des EuGH und die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung. Europäisches Wettbewerbsrecht als Reformmotor oder Reformbremse des Sozialversicherungsrechts?, in: VersR 2004, 1360 ff.; Koenig, Christian / Engelmann, Christina, Das Festbetrags-Urteil des EuGH – Endlich Klarheit über den gemeinschaftsrechtlichen Unternehmensbegriff im Bereich der Sozialversicherung, in: EUZW 2004, 682 ff. 24 Rn. 58 des Urteils lautet: „Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die Krankenkassen und die sie vertretenden Einheiten, das heißt die Kassenverbände, außerhalb ihrer Aufgaben rein sozialer Art im Rahmen der Verwaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit Geschäftstätigkeiten ausüben, die keinen sozialen, sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben. In diesem Fall wären die von ihnen zu treffenden Entscheidungen möglicherweise als Beschlüsse von Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen anzusehen.“ 21 22
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große Spielräume zu eigenständigen Gestaltungen bestehen, die Kassen als Unternehmen einzuordnen. Man denke etwa an die Möglichkeiten der integrierten Versorgung nach §§ 140a ff. SGB V, wo Kassen durch ihre Verträge einerseits ein spezifisches Profil im Wettbewerb entwickeln können und andererseits im Verhältnis zu den Leistungserbringern weitgehend von den Bindungen des 4. Kapitels SGB V befreit sind. Das soll hier aber nicht weiter vertieft werden. Wenn man dem folgte, wären hier die Kassen grundsätzlich an die Ver- und Gebote der Art. 81 und 82 EG gebunden. Dies bedeutete z. B., dass Zusammenschlüsse mehrerer Kassen zum Abschluss selektiver Verträge als Kartelle an Art. 81 EG zu messen wären. Entsprechendes dürfte wohl auch für die teilweise gesetzlich vorgesehenen entsprechenden Vertragsschlusskompetenzen auf der Verbandsebene gelten. Ob allerdings dann die drei kumulativen Kriterien erfüllt würden, dass die Zusammenschlüsse eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, dass sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und dass sie spürbare Auswirkungen auf den Wettbewerb und den Handel haben, müsste im jeweiligen Einzelfall geprüft werden. Dabei dürfte die zwischenstaatliche Relevanz häufig kaum zu bejahen sein, könnte aber bei integrierter Versorgung oder bei Hilfsmittelverträgen leicht gegeben sein. Abgesehen von den – hier beiseite gelassenen – Möglichkeiten, eine Freistellung durch die Kommission nach Art. 83 EG und dem dazu ergangenen Sekundärrecht zu erlangen, kommt dann noch Art. 86 Abs. 2 EG ins Spiel. In dem erwähnten Festbetragsverfahren hat Generalanwalt Jacobs die „gemeinsam und einheitlich“ ergehenden Festbetragsfestsetzungen zwar als Beschlüsse nach Art. 81 Abs. 1 EG qualifiziert, sie aber im Ergebnis nach Art. 86 Abs. 2 EG gerechtfertigt, wobei er für die in diesem Rahmen anzustellende Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht sonderlich strenge Maßstäbe angelegt und dies u. a. mit der Ausgestaltungskompetenz der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Gesundheitssysteme gerechtfertigt hat. Auf dieser Linie könnten daher insgesamt bestimmte Spezifika des deutschen Systems zur Rechtfertigung herangezogen werden – für gemeinsames Handeln von Kassen etwa die große Divergenz der Kassenlandschaft mit einerseits regional „kompakt“ aufgestellten Kassen wie insbesondere den AOKen und andererseits nach Kassenarten strukturierten großflächiger, dafür aber weniger „kompakt“ aufgestellten Kassen, die in den einzelnen Regionen bestimmte Vertragstypen sinnvoll nur im Verbund anstreben können. Hier würde es gegebenenfalls genauerer Untersuchungen im Einzelfall bedürfen. Im Übrigen sind die potentiellen Vertragspartner der Kassen auch im Bereich selektiver Verträge nicht schutzlos. Die Kassen sind wegen ihres hoheitlichen Status an den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und an die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) gebunden.25 Sie besitzen keine Privatautonomie, sondern müssen – auch im Wettbewerb untereinander, in welchen sie der Gesetzgeber ge25
Dazu auch BSGE 89, 24 (33 f.).
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stellt hat – alle ihre Entscheidungsspielräume in Erfüllung ihrer Aufgaben nach pflichtgemäßem, am Zweck der Ermächtigung ausgerichtetem Ermessen treffen. Hiermit sind sie mindestens in gleicher Weise gebunden wie nach den Missbrauchsvorschriften des Kartellrechts. Weiterhin brauchen die Kassen und ihre Verbände für ihr Handeln Ermächtigungsgrundlagen. Aus dem allgemeinen Grundsatz des § 30 Abs. 1 SGB IV und der Gesetzessystematik des Vierten Kapitels des SGB V, in welchem jeweils genau gesagt ist, wer die Befugnis zu selektiven Verträgen hat, ist darüber hinaus zu schließen, dass die Verbände der Krankenkassen nur insoweit das selektive Kontrahieren auf ihre Ebene ziehen können, wie sie gesetzlich dazu ermächtigt sind. Das ist etwa der Fall bei den Verträgen über ambulante Krankenhausbehandlung nach § 116b SGB V, über Soziotherapie nach § 132b SGB V und über sozialmedizinische Nachsorge nach § 132c SGB V. Es liegt auch durchaus nahe, die in jahrzehntelanger Praxis entfaltete Rechtsprechung der Kartellgerichte daraufhin zu würdigen, ob nicht bei spezifischen Teildogmatiken als Antworten auf spezifische Konflikt- und Interessenlagen auch im Rahmen der Anwendung öffentlich-rechtlicher Grundsätze Anleihen zu machen sind.26
III. Vergaberechtliche Probleme der Auswahl von Leistungserbringern für selektive Verträge Neben dem Wettbewerbsrecht ist zunehmend auch das Vergaberecht ein Gegenstand der Diskussion im Zusammenhang mit den selektiven Leistungserbringungsverträgen in der GKV.27 Auch hier geht es einerseits um die Anwendbarkeit des nationalen Vergaberechts. Und zum anderen stellt sich auch hier, wie beim Wettbewerbsrecht, die Frage der direkten Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts. Für die Vergabe öffentlicher Aufträge trifft das europäische Gemeinschaftsrecht in einer Reihe von Richtlinien, welche der Verwirklichung des Binnenmarktes (Art. 14 26 Dazu auch Diekmann, Thomas / Wildberger, Niels, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche im Rahmen von § 69 SGB V, in: NZS 2004, 15 ff.; in diesem Sinne könnte auch das oben (Fn. 12) angesprochene obiter dictum des 6. Senats des BSG zumindest in seiner sachlichen Zielrichtung gedeutet werden. 27 Siehe etwa Becker, Frank / Bertram, Oliver, Die Anwendbarkeit des Vergaberechts auf die Zulassung eines Krankenhauses zur Krankenhausbehandlung, in: KH 2002, 541 ff.; Koenig, Christian / Steiner, Ulrike, Die Anwendbarkeit des Vergaberechts auf die Leistungsbeziehungen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen, in: ZESAR 2003, 98 ff., 150 ff.; Koenig, Christian / Busch, Christiane, Vergabe- und haushaltsrechtliche Koordinaten der Hilfsmittelbeschaffung durch Krankenkassen, in: NZS 2003, 461 ff.; Koenig, Christian / Engelmann, Christina / Hentschel, Kristin, Die Anwendbarkeit des Vergaberechts auf die Leistungserbringung im Gesundheitswesen, in: MedR 2003, 562 ff.; Stelzer, Dierk, Sind Dienstleistungsaufträge im Rahmen des Leistungserbringungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung nach europäischem öffentlichen Vergaberecht europaweit öffentlich auszuschreiben beziehungsweise im „Offenen Verfahren“ oder anderweitig zu vergeben?, in: ZESAR 2004, 269 ff.; Kingreen, Thorsten, Vergaberechtliche Anforderungen an die sozialrechtliche Leistungserbringung, in: SGb 2004, 659 ff.
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EG) dienen und insbesondere auf (heute) Art. 95 EG gestützt sind, detaillierte Vorschriften. Der Umsetzung dieser Vorschriften in das nationale Recht dient das sog. GWB-Vergaberecht, welches aus den Vorschriften des Vierten Teils des GWB (§§ 97 – 129), der auf § 127 GWB gestützten Vergabeverordnung (VgV) und den durch statische Verweisung (§§ 4 – 7 VgV) in diese Verordnung inkorporierten Verdingungsordnungen (Verdingungsordnung für Bauleistungen [VOB], Verdingungsordnung für Leistungen [VOL] und Verdingungsordnung für freiberufliche Leistungen [VOF]) besteht.
1. Zur Anwendbarkeit nationalen Vergaberechts Auch in diesem Rechtsbereich – wie im Kartellrecht – stellt sich zunächst die Auslegungsfrage, ob § 69 SGB V als „abschließende“ Regelung das GWB-Vergaberecht der §§ 97 ff. GWB ausschließt. Diese – in der Literatur28 verneinte – Frage lässt sich jedenfalls nicht so klar bejahen, wie es hinsichtlich des Kartellrechts der Fall ist. Der öffentlich-rechtliche Charakter von Verträgen ist schon nach gemeinschaftsrechtskonform ausgelegtem deutschem Recht kein Argument gegen die Anwendbarkeit von Vergaberecht, da der Begriff des „öffentlichen Auftrags“ nach seinem Wortlaut keinen Grund zum Ausschluss öffentlich-rechtlicher Verträge bietet und umgekehrt das einschlägige Gemeinschaftsrecht eine Einbeziehung auch öffentlich-rechtlicher Verträge verlangt, sofern nur die inhaltlichen Kriterien des öffentlichen Auftrags erfüllt sind.29 Weiterhin ist auch für die Auslegung von § 69 SGB V das Verhältnis von nationalem und europäischem Vergaberecht zu beachten. Anders als im Wettbewerbsrecht kann die Lösung dieses Verhältnisses nicht schlicht im Vorrang des Gemeinschaftsrechts gesucht werden. Im Vergaberecht geht es nämlich darum, dass der nationale Gesetzgeber die einschlägigen Richtlinien30, welche nach Art. 249 S. 3 EG grundsätzlich31 nicht unmittelbar gel28 Koenig / Steiner; Koenig / Busch; Koenig / Engelmann / Hentschel; Kingreen (alle Fn. 27). 29 Dazu – unter Verweis auf EuGH vom 12. 07. 2001, EuZW 2001, 532 – BayObLG (Vergabesenat) vom 28. 05. 2003, BayObLGZ 2003, 129; siehe auch Würfel, Wolfgang / Burr, Mark, Ausschreibungspflicht für städtebauliche Verträge – oder – Schaut man einem geschenkten Gaul doch ins Maul?, in: NVwZ 2003, 153 ff. 30 Hier geht es vor allem um die Richtlinie 92 / 50 / EWG vom 18. 06. 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209 vom 24. 07. 1992, S. 1) (DKR), die Richtlinie 93 / 36 / EWG vom 14. 06. 1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (ABl. L 199 vom 09. 08. 1993, S. 1) (LKR) und die Richtlinie 89 / 665 / EWG vom 21. 12. 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395 vom 30. 12. 1989, S. 33) (RKR), welche jetzt auch für Dienstleistungen gilt. 31 Zur unmittelbaren Geltung von Richtlinien und deren Voraussetzungen bei mangelhafter Umsetzung durch Mitgliedstaaten siehe etwa Streinz, Rudolf, Europarecht, 5. Aufl. 2001, Rn. 398 ff.
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ten, sondern zur Umsetzung an die Mitgliedstaaten gerichtet sind, durch eigenes Recht umsetzt. Soweit darum der Ausschluss des GWB-Vergaberechts durch § 69 SGB V bewirken würde, dass Deutschland seine Pflicht zur Umsetzung von Vergabe-Richtlinien verletzt, könnte der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung32 des nationalen Rechts zu einer restriktiven Deutung von § 69 SGB V führen. Auf der anderen Seite steht der klare Wortlaut des § 69 SGB V. Wenn die dort genannten Vorschriften die Rechtsbeziehungen in den Leistungserbringungsverhältnissen „abschließend“ regeln, ist nicht ersichtlich, wie damit eine Geltung der §§ 97 ff. GWB mit dem hierauf (genauer: auf den Ermächtigungen in § 97 Abs. 6 und § 127 GWB) beruhenden untergesetzlichen Recht – VgV und den durch statische Verweisung in die Geltung der VgV einbezogenen Verdingungsordnungen (hier relevant VOL und VOF) – in diesen Leistungserbringungsverhältnissen vereinbar sein sollte. Hinzu kommt – dies sei hier schon im Vorgriff auf alsbald zu Vertiefendes gesagt –, dass nach der gesetzgeberischen Konzeption die Verträge, um die es hier geht, allenfalls in Randbereichen und nur dann, wenn die Vertragsparteien ganz bestimmte Gestaltungen wählen, einmal das für die Anwendung von Vergaberecht erforderliche Merkmal des „öffentlichen Auftrags“ (§ 99 GWB) erfüllen und dass, selbst wenn dies der Fall ist, jedenfalls im Bereich von Dienstleistungen das Gemeinschaftsrecht weniger Anforderungen stellt als die §§ 97 ff. GWB mit VgV und Verdingungsordnungen.33 Aus diesem Grunde ist auch nicht der Schluss gerechtfertigt, weil der Gesetzgeber mit den §§ 97 ff. GWB die einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Koordinierungsrichtlinien umfassend habe umsetzen wollen, sei trotz des Wortlautes von § 69 SGB V davon auszugehen, das Kartell-Vergaberecht sei hiervon nicht erfasst.34
2. Zur Bedeutung des Gemeinschaftsvergaberechts für die selektiven Verträge in der GKV Gemeinschaftsrechtlich geht es um mehrere Richtlinien. In Zukunft wird die gemeinschaftsrechtliche Rechtslage etwas weniger unübersichtlich sein, da im Jahre 2004 zwei das EG-Vergaberecht vereinheitlichende und modernisierende Richtlinien in Kraft gesetzt worden sind, welche aktuell allerdings lediglich eine Umsetzungspflicht der Mitgliedstaaten bis Ende Januar 2006 bestimmen. Von diesen betrifft die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge vom 31. 03. 200435 von ihrem Gegenstand her grundsätz32 Dazu etwa Ehricke, Ulrich, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: RabelsZ 59 (1995), 598 ff.; Schoch, Friedrich, Die Europäisierung der Verwaltungsrechtsordnung, in: VBlBW 1999, 241 ff. 33 Dazu noch genauer weiter unten. 34 So aber Koenig / Engelmann / Hentschel (Fn. 27), S. 563.
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lich auch die GKV. Diese neue zusammenfassende Vergabekoordinierungsrichtlinie (VKR)36 ist am Tage ihrer Veröffentlichung in Kraft getreten (Art. 83 VKR). Allerdings bindet sie, wie es für Richtlinien vorgesehen ist (Art. 249 EG), allein die Mitgliedstaaten in dem Sinne, dass diese verpflichtet werden, die Richtlinie bis zum 31. 01. 2006 in innerstaatliches Recht umzusetzen (Art. 80 VKR). Mit diesem Datum treten die BKR, die LKR und die DKR außer Kraft (Art. 82 VKR). Trotz der neuen VKR sind deshalb für die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an die Auswahl von Leistungserbringern in den genannten Fällen weiterhin die DKR und die LKR das einschlägige Recht. Die RMR ist ohnehin kaum von der Umgestaltung des EG-Vergaberechts berührt. Auf sie wird in Art. 81 VKR bekräftigend verwiesen. Im Übrigen bringt die VKR für die Rechtsbeziehungen der Kassen zu den Leistungserbringern praktisch keine Veränderungen mit sich, sondern führt lediglich in einigen Fällen zu Klarstellungen. Erste Voraussetzung dafür, überhaupt Vergaberecht auf die Leistungserbringungsbeziehungen der GKV anwenden zu können, ist die Qualifikation von Kassen (bzw. gegebenenfalls deren Verbänden) als öffentliche Auftraggeber i. S. d. Vergaberechts. Dies richtet sich nach den Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 1b) Abs. 1, der in der BKR, LKR und DKR gleich lautet.37 Bei Krankenkassen und ihren Verbänden ist erstens problematisch, ob sie Aufgaben „nicht gewerblicher Art“ erfüllen, da es hierfür darauf ankommt, ob sie auf dem Markt, um den es geht, nicht in hinreichendem Maße in einem für gewerbliche Unternehmen typischen Wettbewerb stehen, der die besonderen Sicherungsmechanismen des Vergaberechts für eine faire und wirtschaftliche Auswahl als überflüssig erscheinen lässt.38 Ohne diese Frage hier zu vertiefen, dürfte einigermaßen klar sein, dass Einheiten, die in ihrem Hauptgeschäft keine Unternehmen sind, weil ihre Tätigkeit nicht wirtschaftlicher Art ist,39 jedenfalls i. S. d. Vergaberechts nichtgewerbliche Tätigkeiten ausüben. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass die Krankenkassen in einem Wettbewerb um Mitglieder stehen. Denn dieser Wettbewerb ist dadurch relaABl. 2004 Nr. L 134, S. 114. Zur neuen Rechtslage siehe Knauff, Matthias, Die Reform des europäischen Vergaberechts, in: EuZW 2004, 141 ff.; Leinemann, Ralf / Maibaum, Thomas, Die neue europäische einheitliche Vergabekoordinierungsrichtlinie für Lieferaufträge, Dienstleistungsaufträge und Bauaufträge – ein Optionsmodell, in: VergabeR 2004, 275 ff. 37 „Als ,Einrichtung des öffentlichen Rechts‘ gilt jede Einrichtung, – die zu dem besonderen Zweck gegründet wurde, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben zu erfüllen, die nicht gewerblicher Art sind, und – die Rechtspersönlichkeit besitzt und – die überwiegend vom Staat, von Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts finanziert wird oder die hinsichtlich ihrer Leitung der Aufsicht durch letztere unterliegt oder deren Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan mehrheitlich aus Mitgliedern besteht, die vom Staat, von Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts ernannt worden sind.“ 38 EuGH vom 10. 11. 1998, Rs. C-360 / 96 – EuGHE 1998-I, S. 6821 Rn. 43 ff., 49. 39 Dazu oben Abschnitt II.2. 35 36
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tiviert, dass sie nicht gewinnorientiert handeln, dass sie über ihre Verbände und durch das staatliche Recht in einem Geflecht gemeinsamen Handelns und gemeinsamer Regulierung verbunden sind und dass über den Risikostrukturausgleich die Bedingungen des Wettbewerbs erheblich verkompliziert sind. Insofern hat bei ihnen der Wettbewerb eher den Charakter des Einbaus ökonomischer Anreize in die staatliche Verwaltung als Form des „New Public Management“40, nicht aber denjenigen von Wirtschaftsunternehmen. Zweitens fragt sich, ob Krankenkassen entweder überwiegend vom Staat finanziert sind oder hinsichtlich ihrer Leitung der Aufsicht durch denselben unterliegen. Dies hat der Vergabesenat des BayObLG41 mit Bezug auf die gleichlautende Bestimmung des § 98 Nr. 2 GWB mit dem Argument verneint, die Finanzierung erfolge aus Beiträgen und die Rechtsaufsicht, auf welche sich bei den Kassen als Selbstverwaltungskörperschaften die Aufsicht beschränke, genüge nicht, um das Merkmal der „Aufsicht“ zu erfüllen. Dem dürfte entgegenzuhalten sein, dass Staatsfinanzierung nicht identisch ist mit Steuerfinanzierung und dass ein System beitragsfinanzierter gesetzlicher Pflichtversicherung nach Art der GKV faktisch eine staatliche Finanzierungsgarantie ist. Auch dürfte die staatliche Rechtsaufsicht über die Kassen als Selbstverwaltungskörperschaften nicht ohne den zusätzlichen Aspekt zu würdigen sein, dass ihre Organe selbst in einem System von Vorschlagsrechten und Wahlen hervorgebracht werden, welches sie wie andere Einrichtungen der sog. „funktionalen Selbstverwaltung“ in ihrer Entscheidungsstruktur in die Nähe von Gebietskörperschaften bringt. Folgte man der restriktiven Interpretation des Bayerischen Obersten Landesgerichts, beträfe dies z. B. auch die sonstigen Sozialversicherungsträger (abgesehen von der Bundesagentur für Arbeit) und praktisch die gesamte berufsständische Selbstverwaltung. Damit würden wesentliche Teile dessen, was in Deutschland (mittelbare) Staatsverwaltung ist, vom Vergaberecht ausgenommen. Eine solche Interpretation verfehlt den Sinn des Gemeinschaftsvergaberechts. Wenn man Krankenkassen grundsätzlich als öffentliche Auftraggeber ansieht, ist als nächstes zu klären, inwieweit deren selektive Vertragstätigkeiten „öffentliche Aufträge“ darstellen und welche Rechtsfolgen sich aus einer Bejahung ergeben. Hierfür sind gemäß dem Gemeinschaftsrecht zwei Unterscheidungen wichtig, nämlich diejenige zwischen Lieferungen und Dienstleistungen und im Hinblick auf Dienstleistungen diejenige zwischen öffentlichem Auftrag und Dienstleistungskonzession. Für Lieferungen von Sachen gilt die LKR. Nach deren Art. 1 ist ein „öffentlicher Lieferauftrag“ ein mit einem öffentlichen Auftraggeber geschlossener schriftlicher entgeltlicher Vertrag über Kauf, Leasing, Miete, Pacht oder Raten-
40 Siehe etwa Zimmer, Annette / Nährlich, Stefan, Krise des Wohlfahrtsstaates und New Public Management, in: ZSR 1997, 661 ff.; Budäus, Dietrich / Finger, Stefanie, Stand und Perspektiven der Verwaltungsreform in Deutschland, in: Verw 32 (1999), 313 ff. 41 BayObLG vom 24. 05. 2004 –Verg 6 / 04 – NZS 2005, 26 ff. mit Anmerkung von Gaßner, Maximilian / Braun, Christian.
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kauf, mit oder ohne Kaufoption, von Waren. Diese Lieferung kann auch Nebenarbeiten wie das Verlegen und Anbringen umfassen. Nach Art. 1a DKR ist „öffentlicher Dienstleistungsauftrag“ ein Auffangbegriff, der alle zwischen einem Dienstleistungserbringer und einem öffentlichen Auftraggeber geschlossenen schriftlichen entgeltlichen Verträge umfasst, sofern sie nicht in einem Ausnahmekatalog der dortigen Vorschrift erfasst sind; dabei ist die hier allein relevante Ausnahme diejenige für öffentliche Lieferaufträge. Offensichtlich kommt für die meisten selektiven Verträge im Leistungserbringungsverhältnis der GKV von vornherein allenfalls die Einordnung als öffentlicher Dienstleistungsauftrag in Betracht, da es zumeist nicht um die Lieferung von Waren, sondern um Dienste geht. Lediglich für Arzneimittel, Hilfsmittel und Medizinprodukte kommt etwas anderes in Betracht. Insofern könnten Verträge mit Hilfsmittellieferanten nach § 127 Abs. 2 SGB V und solche über die Einbeziehung von Apothekern in vertraglich vereinbarte Versorgungsformen nach § 129 Abs. 3b SGB V vom Gegenstand her öffentliche Lieferaufträge sein. Die Unterscheidung zwischen beiden Auftragsarten ist im Bereich der GKV von großer Bedeutung, da hier für Dienstleistungsaufträge nur relativ unwesentliche Vorgaben bestehen. Während die „Allgemeinen Vorschriften“ des ersten Abschnitts der DKR (Art. 1 – 7) allgemein gelten, aber für den hier interessierenden Bereich außer Begriffsbestimmungen nur in Art. 3 sehr pauschale Verhaltensanforderungen normieren, bestimmt Art. 9 DKR, daß für bestimmte Bereiche, welche in Anhang IB der Richtlinie aufgeführt sind, von den Bestimmungen über das Vergabeverfahren lediglich die Art. 14 (Bestimmungen über die Verwendung technischer Spezifikationen) und 16 (Bestimmungen über die nachträgliche Bekanntmachung erteilter Aufträge an das Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften) zu beachten sind, während die übrigen Bestimmungen über Vergabeverfahren und Wettbewerbe, Bekanntmachungen und inhaltliche Anforderungen an die Vergabeentscheidung, also nahezu alle wesentlichen Bestimmungen für diese Bereiche nicht anzuwenden sind. Insofern kommt die Regelung für die im Anhang IB genannten Tätigkeitsfelder einer Bereichsausnahme sehr nahe. Grund für diese Zurückhaltung des europäischen Gesetzgebers ist die Absicht, die in Anhang IB aufgeführten Dienstleistungsaufträge zunächst nur zu beobachten. Darum sollte für diese lediglich das für die Gewinnung einschlägiger Information erforderliche Instrumentarium geschaffen werden.42 In den Anhang IB fällt auch die Kategorie 25 „Gesundheits-, Veterinär- und Sozialwesen“.43 Damit gelten 42 Siehe die einschlägige Begründungserwägung der DKR: „Die volle Anwendung dieser Richtlinie muß für eine Übergangszeit auf die Vergabe von Aufträgen für solche Dienstleistungen beschränkt werden, bezüglich deren ihre Vorschriften dazu beitragen, das Potential für mehr grenzüberschreitende Geschäfte voll auszunutzen. Aufträge für andere Dienstleistungen müssen für eine gewisse Zeit beobachtet werden, bevor die volle Anwendung dieser Richtlinie beschlossen werden kann. Das notwendige Beobachtungsinstrument muß geschaffen werden. Es sollte gleichzeitig auch dazu genutzt werden, den interessierten Kreisen die einschlägigen Informationen zugänglich zu machen.“
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für Dienstleistungsaufträge im Leistungserbringungsbereich der GKV44 kaum relevante Anforderungen, die der nationale Gesetzgeber erfüllen muss, um hier das einschlägige sekundäre Gemeinschaftsrecht umzusetzen, zumal die allgemeinen Pflichten des Art. 3 DKR, soweit sie an öffentliche Auftraggeber adressiert sind, sich hier praktisch auf das Diskriminierungsverbot reduzieren, welches für Krankenkassen ohnehin auch aus Art. 3 Abs. 1 GG gilt. Aber selbst die derart reduzierten Anforderungen bei Dienstleistungsaufträgen gelten nur, wenn der Vertrag inhaltlich ein solcher ist. Das wirft insbesondere die Frage einer Abgrenzung gegenüber sog. „Dienstleistungskonzessionen“ auf. Während ein „öffentlicher Auftrag“ ein „entgeltlicher“ Vertrag ist, das heißt ein solcher, bei welchem der Auftraggeber den Auftragnehmer dafür bezahlt, dass dieser ihm eine Leistung erbringt, ist eine Dienstleistungskonzession ein Vertrag, aufgrund dessen der Konzessionär das Recht erhält, auf eigene Rechnung eine durch die Konzession gewährte exklusive Befugnis zur Erbringung einer Dienstleistung zu verwerten. Solche Dienstleistungskonzessionen sind – nicht unbedingt zwingend nach dem Wortlaut, wohl aber zweifelsfrei aufgrund der Entstehungsgeschichte der DKR – aus dem Anwendungsbereich derselben auszuschließen.45 Die selektiven Verträge, um welche es hier geht, sind typischerweise so ausgestaltet, dass sie das Wahlrecht der Versicherten hinsichtlich der Leistungserbringer zwar einschränken oder die Versicherten durch Einwirkung auf ihre Entscheidungsgrundlagen mehr oder minder intensiv lenken – als Beispiel mag die Auswahl von Vertragspartnern für die hausarztzentrierte Versorgung nach § 73b SGB V dienen –, dass aber weiterhin die Erbringung und die Bezahlung der Leistungen vom Nachfrageverhalten der Versicherten abhängt, die sowohl entscheiden können, ob sie für die hausarztzentrierte Versorgung optieren, als auch zwischen den beteiligten Hausärzten wählen können. Wäre eine solche Gestaltung mit einem 43 Dies wird definiert durch Bezugnahme auf die Gruppe 93 der „Central Product Classifications“ der Vereinten Nationen, welche ihrerseits in den Untergruppen 931 „Human health services“, 932 „Veterinary services“ und 933 „Social services“ genauer definiert ist. 931 teilt sich seinerseits auf in 9311 „Hospital services“, 9312 „Medical and dental services“ und 9319 „Other human health services“. Diese Untergruppen sind dann ihrerseits inhaltlich definiert. 44 Für Abgrenzungsprobleme und Überlagerungsfelder ist die Entscheidung des EuGH vom 24. 09. 1998, Rs. C-76 / 97 – EuGHE 1998-I, S. 5357 relevant; dazu auch Benedict, Christoph, Abgestufte Harmonisierung im Vergaberecht, in: EuZW 1999, 77 ff. 45 Siehe insbes. EuGH vom 07. 12. 2000, Rs. C-324 / 98 – EuGHE 2000-I, S. 10745 (Teleaustria) und EuGH vom 30. 05. 2002, Rs. C-385 / 00 – EuGHE 2002-I, S. 4685 (BuchhändlerVereinigung); siehe auch Gröning, Jochem, Der Begriff der Dienstleistungskonzession, Rechtsschutz und Rechtsweg. Zugleich Besprechung des Beschlusses des VG Neustadt an der Weinstraße vom 06. 09. 2001 – Stadtmöblierung, in: VergabeR 2002, 24 ff.; kritisch Enzian, Sabine, Zur Frage, ob das Vergaberecht auf Dienstleistungskonzessionen anwendbar ist, in: DVBl. 2002, 235 ff. Die neue VKR definiert in Art. 1 Abs. 4: „ Dienstleistungskonzessionen‘ sind Verträge, die von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen nur insoweit abweichen, als die Gegenleistung für die Dienstleistung ausschließlich in dem Recht zur Nutzung der Dienstleistung oder in diesem Recht zuzüglich der Zahlung eines Preises besteht.“ Für sie wird nun in Art. 17 explizit die Anwendbarkeit der Richtlinie ausgeschlossen.
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Kostenerstattungssystem verknüpft, bei welchem die Kasse dem Versicherten das von ihm entrichtete Entgelt für die ärztliche Leistung erstattet oder bei dem sie ihn von seiner Schuld freistellt, gäbe es keinen Zweifel, dass diese Gestaltungen der Auswahl der Ärzte durch die Kassen Konzessionen und nicht Aufträge wären: Die ausgewählten Ärzte erhielten lediglich das Privileg, an den Versicherten zu verdienen, die ihrerseits wieder versicherungsmäßig abgedeckt wären. Hier haben wir allerdings ein Sachleistungssystem vor uns, bei welchem die reale Aktivität des Leistungserbringers rechtlich eine Leistung der Kasse an den Versicherten und zugleich eine Leistung des Leistungserbringers an die Kasse ist. Damit stellt sich die Frage, ob und eventuell unter welchen zusätzlichen Voraussetzungen ein Vertrag öffentlicher Dienstleistungsauftrag ist, bei welchem die Kasse durch ein vorgeschaltetes Selektionsverfahren den Kreis auswählt, aus welchem dann erst durch die Nachfrage der Versicherten diejenigen bestimmt werden, welche konkrete abrechnungsfähige Leistungen erbringen. Ausgehend davon, dass mit dem Auswählen einer Gruppe von „privilegierten“ Leistungserbringern noch kein verbindlicher Auftrag verbunden ist und dass mit dem weiterhin bestehenden Auswahlspielraum der Versicherten es auch in dieser Konstellation diese sind, welche letztendlich über den wirtschaftlichen Erfolg des Leistungserbringers entscheiden, dürfte es grundsätzlich auch hier bei der Einordnung als Dienstleistungskonzession und damit auch beim Ausschluss des EG-Vergaberechts bleiben.46 Lediglich wenn im Einzelfall aufgrund der Lenkungswirkung der Rahmenbedingungen für die Versicherten und / oder der geringen Menge von Leistungserbringern, unter denen auszuwählen ist, faktisch doch schon mit der Auswahlentscheidung durch die Kasse auch über die Menge der Dienstleistungen im Wesentlichen entschieden ist, dürfte nach den allgemeinen Voraussetzungen des „Auftrags“ ein solcher zu bejahen sein. Immerhin ist zu erwägen, ob nicht nach Sinn und Zweck für derartige, einen Kreis privilegierter Anbieter heraushebende Rahmenverträge der Begriff des „öffentlichen Dienstleistungsauftrags“ nach Art. 1 DKR zu erweitern ist, um sie zur Verhinderung des Missbrauchs auf der Vorstufe des eigentlichen Auftrags einzubeziehen. Dem steht allerdings das Kriterium entgegen, dass der Vertrag „entgeltlich“ sein muss, um ein Auftrag zu sein. Und dieses Kriterium ist noch nicht durch einen Vertrag erfüllt, durch welchen weder konkrete Dienstleistungspflichten noch Entgeltpflichten begründet werden. Es kommt hinzu, dass der europäische Gesetzgeber das Problem sehr wohl gesehen hat. In der Richtlinie 93 / 38 / EWG (Sektorenkoordinationsrichtlinie, SKR) wird der Begriff der „Rahmenübereinkunft“ definiert47 und werden dafür Sonderregelungen48 getroffen, welche erkennen lassen, dass grundsätzlich solche Rahmenübereinkommen gerade nicht als öffentliche 46 Siehe hierzu auch noch EuGH vom 10. 11. 1998, Rs. C-360 / 96 – EuGHE 1998-I, S. 6821; EuGH vom 09. 09. 1999, Rs. C-108 / 98 – 1999 I, S. 5219, insbes. die Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom 18. 03. 1999. 47 Art. 1 Nr. 5: „Rahmenübereinkunft: eine Übereinkunft zwischen einem Auftraggeber im Sinne des Artikels 2 und einem oder mehreren Lieferanten, Unternehmen oder Dienstleistungserbringern, die zum Ziel hat, die Bedingungen für die Aufträge, die im Laufe eines
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Aufträge anzusehen sind. Dies wird allerdings etwas anders mit der neuen vereinheitlichten VKR, welche in Art. 1 Abs. 5 generell die Rahmenvereinbarung definiert und in Art. 32 i. V. m. Art 53 für sie Anforderungen formuliert. Hier wird eine Abgrenzung zur Dienstleistungskonzession nötig werden. Es dürfte aber dabei bleiben, dass die Verträge über die Einbeziehung in einen Kreis privilegierter Anbieter für bestimmte von der Nachfrage der Versicherten abhängige Dienstleistungen nicht dem Gemeinschaftsvergaberecht unterliegen, wenn sie nicht faktisch bereits die definitive Entscheidung über ein bestimmtes Abrechnungsvolumen darstellen. Für Lieferungen von Produkten, also den Bereich der LKR, für welche es anders als bei der DKR die großen Ausnahmen vom Anwendungsbereich für den Gesundheitssektor nicht gibt, ist die Unterscheidung von Konzession und öffentlichem Auftrag von größerer Bedeutung als bei Dienstleistungen. Dies kann am Beispiel von Verträgen nach § 127 Abs. 2 SGB V verdeutlicht werden. Hier sind Verträge vorstellbar, welche besondere Preisgestaltungen und damit verbunden besondere Anreize für die Versicherten so attraktiv für letztere machen, dass faktisch bereits der Vertrag nach § 127 Abs. 2 die Entscheidung darüber darstellt, welcher Hilfsmittellieferant für die Versicherten der jeweiligen Kassen in einer jeweiligen Region „das Geschäft macht“. Allerdings müsste, damit die LKR anwendbar ist, eine Beschaffung der jeweiligen Hilfsmittel durch die Kasse selbst vorliegen. Und das ist nur vorstellbar bei einem Hilfsmittelpool, welchen die Kasse (oder ein Verband) selbst betreibt, was seinerseits nach § 140 Abs. 2 SGB V grundsätzlich verboten ist. Wenn aber ein Hilfsmittelpool im Auftrag und für Rechnung einer Kasse oder eines Verbandes von Dritten betrieben wird, ist dies schon wieder Dienstleistung mit der dargelegten, das Vergaberecht auf Marginalien reduzierenden Konsequenz. Immerhin sind Lieferaufträge nicht gänzlich ausgeschlossen. Und wenn dann der gemeinschaftsrechtliche Schwellenwert überschritten wird49, bewirkt der Ausschluss des nationalen Vergaberechts insoweit ein Defizit bei der nationalen Umsetzung der Richtlinie. Denn insoweit ist die schlichte Normierung in § 127 Abs. 2 S. 2 SGB V, dass die „Aufforderung zur Abgabe eines Angebots unter Bekanntgabe objektiver Ausschreibungskriterien öffentlich ausgeschrieben werden“ muss, sicherlich keine hinreichende Umsetzung der Richtlinie.
bestimmten Zeitraums vergeben werden sollen, festzulegen, insbesondere in bezug auf den in Aussicht genommenen Preis und gegebenenfalls die in Aussicht genommene Menge“. 48 Art. 5 und Art. 20 Abs. 2i. 49 Gemäß Art. 5 Abs. 1 a) (i) und b) LKR findet diese Richtlinie grundsätzlich auf öffentliche Lieferaufträge Anwendung, wenn der geschätzte Auftragswert ohne Mehrwertsteuer zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Bekanntmachung gemäß Art. 9 Abs. 2 LKR mindestens dem Gegenwert von 200.000 Sonderziehungsrechten (SZR, d. h. die Korbwährung der Weltbank) in ECU (1 ECU = 1 A) entspricht. Dabei gilt ab 01. 01. 2004 folgender Gegenwert: SZR 200.000 = 236.945 A (siehe ABl. 2003 Nr. C 309, S. 14). Nach Art. 7b) der neuen VKR wird der übliche Schwellenwert für Liefer- und Dienstleistungsaufträge in Zukunft 249.000 A betragen.
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Schließlich soll noch kurz auf den Rechtsschutz in vergaberechtlichen Fragen eingegangen werden, für welchen die RKR Vorgaben macht. Nach nationalem Recht, nämlich § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG, ist der Rechtsweg auch für solche Streitigkeiten den Sozialgerichten zugewiesen, in denen sich ein Leistungserbringer auf Vergaberecht beruft. Einer Auslegung, welche in allein nationalrechtlicher Perspektive die Spezialität der Rechtsschutz- und Rechtswegbestimmungen des GWBVergaberechts (§§ 102 – 124 GWB) mit dem rechtssystematischen Argument des Zusammenhangs von materiellem Vergaberecht und Rechtsschutz begründet50, ist die Unanwendbarkeit auch des materiellen GWB-Vergaberechts für die Leistungserbringungsbeziehungen des 4. Kapitels SGB V entgegen zu halten. Es bleibt aber die Frage, ob der Gesetzgeber für den Bereich der GKV die RKR angemessen umgesetzt hat. Praktisch würde das aber wieder nur für den Fall in Betracht kommen, dass im Hilfsmittelbereich ein öffentlicher Auftrag zu bejahen und darum die LKR anzuwenden ist. Hingegen ist nicht ersichtlich, inwiefern bei Dienstleistungen, selbst wenn es sich einmal nicht um eine Dienstleistungskonzession, sondern um einen öffentlichen Auftrag handeln sollte, vergaberechtlicher Rechtsschutz eine Rolle spielen sollte. Die Pflichten zur Information der EG-Kommission und zur Verwendung der vorgegebenen technischen Spezifikationen (Art. 14 und 16 DKR) dienen nämlich ersichtlich nicht dem Interesse jeweiliger Konkurrenten, sondern allein der Beobachtung des in Anhang IB bezeichneten Bereichs mit wettbewerbspolitischer Zielsetzung.51 Für den Anwendungsbereich der LKR könnte es zu Rechtsschutzbedarf nicht berücksichtigter Wettbewerber kommen. Beispiel mag ein beabsichtigter oder abgeschlossener Vertrag nach § 127 Abs. 2 SGB V sein. Hier könnte sich ein nicht berücksichtigter Wettbewerber oder jemand, der sich gegen die Bedingungen der nach § 127 Abs. 2 SGB V stattfindenden Ausschreibung wenden will, zur Wehr setzen wollen. Nun ist nicht ersichtlich, inwiefern ein sozialgerichtlicher Rechtsschutz nicht alle Anforderungen der RKR erfüllen sollte. Ein unabhängiges Gericht könnte ohne weiteres von jedem angerufen werden, der eine Betroffenheit in eigenen rechtlich geschützten Interessen geltend machen kann. Mit den seit Anfang 2002 geltenden Vorschriften des § 86b Abs. 2 SGG über die einstweilige Anordnung kann umfassend – auch schon vor Erhebung einer Klage in der Hauptsache – einstweiliger Rechtsschutz erlangt werden, der insbesondere auch die Aussetzung eines Vergabeverfahrens umfassen könnte. Rechtswidrige Entscheidungen in Vergabeverfahren könnten – wohl im Wege der Qualifikation als Verwaltungsakte – aufgehoben werden. Rechte von Wettbewerbern verletzende Verträge wären zumindest unter den gleichen Voraussetzungen nichtig wie zivilrechtliche Vergabeverträge (§ 58 SGB X). Die Entscheidungen der Sozialgerichte können im Wege der Vollstreckung durchgesetzt werden. Insgesamt ist insofern nicht ersichtlich, inwiefern der normale sozialverfahrensrechtliche und sozialgerichtliche 50 Siehe Koenig / Engelmann / Hentschel (Fn. 27); ebenso wohl auch ohne Begründung BayObLG (Fn. 41); offen gelassen von Kingreen (Fn. 27). 51 Vgl. auch schon oben bei Fn. 42.
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Rechtsschutz in irgendeiner Weise hinter demjenigen nach dem GWB zurückbleiben sollte. Es dürfte allerdings ein Desiderat bleiben, welches nichts mit der Gerichtsbarkeit zu tun hat, sondern ein materiell-rechtliches Gebot der RKR betrifft. Nach deren Art. 2 Abs. 1c muss das nationale Recht einen Schadensersatzanspruch derjenigen vorsehen, die durch einen Verstoß gegen Vergaberecht geschädigt wurden. Ein solcher spezifisch vergaberechtlicher, verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch ist – beschränkt auf Vertrauensschaden – in § 126 GWB für den Fall vorgesehen, dass ein vergaberechtlicher Rechtsverstoß eine „echte Chance“ auf den Zuschlag vereitelt hat. Etwas Entsprechendes fehlt für die in den Anwendungsbereich von § 69 SGB V fallenden Lieferaufträge. Insgesamt kann damit festgestellt werden, dass es in äußerst seltenen Konstellationen einige Punkte gibt, in denen für die selektiven Verträge in der GKV durch Ausschluss des GWB-Vergaberechts Lücken bei der Umsetzung der einschlägigen EG-Richtlinien entstehen können. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn – was vom Gesetz her nicht als Regel vorgesehen ist – die einschlägigen Verträge einmal die Kriterien des öffentlichen Auftrags erfüllen und nicht im Bereich der Konzession verbleiben. Und es betrifft für Dienstleistungen nur ganz marginale Vorschriften.52 Lediglich für öffentliche Aufträge über Lieferungen von Waren – das betrifft praktisch nur ganz bestimmte, durch § 140 Abs. 2 SGB V grundsätzlich verbotene, Konstellationen bei Hilfsmitteln – gibt es ein größeres Lückenproblem. Diese begrenzten Lücken sind kaum geeignet, das obige Ergebnis der Nichtanwendbarkeit der §§ 97 ff. GWB in Frage zu stellen. Es könnte aber Anlass für den Gesetzgeber sein, durch wenige Bestimmungen die aufgezeigten Lücken zu schließen.
3. Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG und gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverboten für eine faire Auftragsvergabe Wie auch schon im Kontext des Wettbewerbsrechts ausgeführt,53 kommt auch im Hinblick auf „Vergabeentscheidungen“ im weiteren Sinne, für welche die spezifisch vergaberechtlichen Anforderungen nicht gelten, ein von diesen unabhängiger Diskriminierungsschutz in Betracht. Zunächst gibt es als spezielles Recht einige Bestimmungen im SGB V, welche Verfahrensanforderungen normieren. Es handelt sich um drei Fälle, in denen die Kassenseite verpflichtet wird, die Aufforderung zur Abgabe eines Angebots unter Bekanntgabe objektiver Auswahlkriterien öffentlich auszuschreiben. Das betrifft hausarztzentrierte Versorgung (§ 73b SGB V), Versorgungsverträge mit bestimmten qualitativen oder organisatorischen Anforde52 Dies wird auf absehbare Zeit so bleiben, da auch die VKR entsprechenden Einschränkungen vorsieht. 53 Vgl. oben bei Fn. 25.
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rungen (§ 73c SGB V) und Verträge über preisgünstige Hilfsmittel (§ 127 Abs. 2 SGB V). In einem vierten Fall, nämlich der Beteiligung von Apotheken an vertraglich vereinbarten Versorgungsformen (§ 129 Abs. 5b SGB V), ist lediglich das Gebot öffentlicher Ausschreibung normiert. Die Rede von öffentlicher Ausschreibung ist nicht etwa dahingehend zu verstehen, dass – als Rückausnahme zu § 69 SGB V und ungeachtet der Tatsache, dass das EG-Vergaberecht in diesen Fällen kaum jemals anwendbar ist – auf Vorschriften des GWB-Vergaberechts verwiesen wird. Vielmehr ist es ersichtlich dem Gesetzgeber lediglich darum gegangen, in diesen Fällen selektiver Verträge eine diskriminierungsfreie Auswahl zu gewährleisten. Bemerkenswert und auch für die noch zu betrachtende unmittelbare Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG ist hieran interessant, dass der Gesetzgeber ohne bestimmte verfahrensmäßige Mindestanforderungen eine diskriminierungsfreie Auswahl nicht als gewährleistet angesehen hat. Da in der Tat ohne eine allen möglichen Interessenten bekanntgemachte Aufforderung, sich um Verträge zu bewerben, diskriminierungsfreie Auswahl schlechterdings nicht darzutun ist, handelt es sich insofern um gesetzliche Verfahrensregeln zur Durchsetzung des Gebots der Gleichbehandlung. Dieser Zusammenhang hat insofern praktische Bedeutung, als eine unmittelbare Anwendung von Diskriminierungsverboten in Fällen, in denen es für selektive Verträge keine spezielle Ausschreibungspflicht gibt, ebenfalls zu vergleichbaren Verfahrensanforderungen führen kann. Das gilt insbesondere für die Verträge über integrierte Versorgung und für diejenigen zu strukturierten Behandlungsprogrammen. Es kommen im Prinzip drei allgemeinere, von den bisher erörterten Spezialvorschriften unabhängige Quellen für inhaltliche und verfahrensmäßige Anforderungen an die Auswahl von Vertragspartnern durch Krankenkassen in Betracht. Insbesondere sind die Kassen, wie schon mehrfach betont, an das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG gebunden, das in den hier einschlägigen Fällen insofern regelmäßig berührt ist, als die Auswahl eines Interessenten als Vertragspartner und die Verweigerung eines entsprechenden Vertrages gegenüber einem anderen Interessenten immer eine Ungleichbehandlung ist, welche nach der allgemeinen Dogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG nur rechtmäßig ist, wenn es hierfür hinreichende Gründe gibt. Soweit für die Leistungen, um welche es jeweils geht, auch die Leistungserbringung aus dem EG- oder EWR-Ausland in Betracht kommt, sind neben Art. 3 Abs. 1 GG auch gemeinschaftsrechtliche Gleichbehandlungsgebote zu beachten, wobei vor allem das Verbot (auch mittelbarer) Diskriminierung wegen der Nationalität bzw. des ausländischen Standortes im Mittelpunkt steht. Allerdings ist dies regelmäßig kein Thema der selektiven Verträge, welche von vornherein nur mit jeweils zugelassenen Leistungserbringern geschlossen werden dürfen, sondern ein solches von Restriktionen der Zulassung selbst. Auf diese wird hier nicht eingegangen. Wenn allerdings – und dies dürfte insbesondere für die Hilfsmittelversorgung und für Verträge nach § 140e SGB V Bedeutung haben – auch Leistungs-
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erbringer aus dem EG- oder EWR-Ausland für selektive Verträge in Betracht kommen, so müssen die entsprechenden Diskriminierungsverbote beachtet werden. Dass diese gerade dann wichtig sind, wenn das speziellere, ebenfalls der Vermeidung von Diskriminierungen dienende Vergaberecht nicht einschlägig ist, hat der Europäische Gerichtshof in der Teleaustria-Entscheidung 54 betont. Schließlich könnte auch noch im Einzelfall ein Diskriminierungsverbot als Verbot des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht greifen. Ob Krankenkassen in ihren durch die Möglichkeit zu selektiven Verträgen geprägten Beziehungen zu Leistungserbringern Unternehmen i. S. d. europäischen Wettbewerbs (Art. 81 ff. EG) sind, ist eine offene schwierige Frage, welche durch die Festbetragsentscheidung des Europäische Gerichtshofs nicht präjudiziert ist. Diese Frage ist oben55 angerissen, aber offen gelassen worden. Unabhängig von ihrer Beantwortung sind jedoch für die Gewinnung von Standards auch für Art. 3 Abs. 1 GG die einschlägigen Anforderungen aus dem Verbot der Diskriminierung von potentiellen Vertragspartnern als eine Form des Missbrauchs einer marktbeherrschenden oder marktstarken Stellung (Art. 82 EG) zu berücksichtigen. Denn es dürfte einleuchten, dass marktbeherrschende, aber immer noch Privatautonomie besitzende Unternehmen nicht strengeren Diskriminierungsverboten unterworfen sein können als der Staat, zu dem auch die Krankenkassen rechnen. Und für den Zweck der Harmonisierung der unterschiedlichen Diskriminierungsverbote spielt es auch keine Rolle, dass § 20 GWB mit dem entsprechenden Diskriminierungsverbot im nationalen Recht wegen § 69 SGB V nicht anwendbar ist. Es spricht viel dafür, dass letztlich alle Diskriminierungsverbote auf ähnliche Anforderungen auch verfahrensmäßiger Art hinauslaufen, die letztlich in der Pflicht bestehen, das Auswahlverfahren und die Auswahlkriterien so publik und so transparent zu machen, dass eine sachliche und faire Auswahl im Prinzip belegbar ist. In verfahrensmäßiger Hinsicht bedeutet dies eine alle potentiellen Interessenten gleich behandelnde Information. Und inhaltlich geht es um die Rechtfertigung der getroffenen Auswahlentscheidung, die immer eine Ungleichbehandlung darstellt, anhand hinreichender Kriterien. Insofern muss die getroffene Entscheidung – auch im Hinblick auf auch hier möglichen, auf Art. 3 Abs. 1 GG gestützten Rechtsschutz – sachlich begründbar und entsprechend dokumentiert sein. Auf Verlangen ist auf jeweiligen Stufen nicht berücksichtigten Bewerbern auch eine Begründung zu geben. Dies folgt aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG, da ohne eine Begründung, an welcher die Kasse dann in einem gerichtlichen Verfahren festgehalten werden kann, nicht überprüfbar ist, ob die Auswahlentscheidung den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG entspricht.56 54 EuGH vom 07. 12. 2000, Rs. C-324 / 98 – EuGHE 2000-I, S. 10745 Rn. 60, 61 (Telaustria Verlag GmbH u . a. / Telekom Austria AG). 55 Bei Fn. 24. 56 Vgl. zu diesen Konsequenzen aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 19 Abs. 4 Rn. 88.
6 Sodan
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Insgesamt zeigt die Betrachtung der rechtlichen Anforderungen an die Auswahl der Vertragspartner bei den sog. „selektiven Verträgen“ im GKV-Leistungserbringungsrecht, dass es auch ohne die Anwendbarkeit des GWB-Vergaberechts hinreichende Ansätze gibt, inhaltlich diskriminierungsfreies Verhalten sowie im Vorfeld der Auswahlentscheidung die hierfür nötigen Verfahren durchzusetzen. Insofern liegt es in der Hand und ist es eine Aufgabe der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, Leitlinien zu entwickeln, aus denen ein spezifisches Vergabe- und Wettbewerbsrecht der GKV-Leistungserbringung erwächst. Von der Erfüllung dieser Aufgabe hängt das rechtspolitische Urteil über die mit § 69 SGB V und § 51 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGG getroffene gesetzgeberische Entscheidung ab.
Ökonomie und Freiheit der Berufsausübung in der Heilkunde Von Jürgen Weitkamp
I. Vorbemerkung Tausende geänderter Paragraphen, regelmäßige „große“ Reformen und alle Anregungen, die wir als Heilkundler abgegeben haben, konnten über mehr als ein Jahrzehnt hinweg nicht dazu beitragen, die wirkungsvolle Lösung für unser krankes Gesundheitssystem zu finden. Eine unserer Hauptaufgaben bei der Vertretung unseres Heil-Berufsstandes sehe ich deshalb darin, dafür zu sorgen, dass reine Ökonomie das Behandlungsszenario nicht zu sehr dominiert. Denn, auf die Nationalökonomen kann man sich verlassen: Sie kennen immer die richtigen Lösungen für die Wirtschaftprobleme der vergangenen Jahre.
II. Ökonomie und Freiheit der Berufsausübung Ökonomie und Freiheit der Berufsausübung sind also zwei Pole, die sich gegenseitig bedingen und sehr fein austariert sein müssen, damit zwischen ihnen Heilkunde im Sinne des Behandlers und Patienten funktionieren kann. Die Balance der Kräfte wird durch politische Einflussnahme ständig verschoben; wir als Vertreter eines Heilberufsstandes müssen dafür sorgen, dass sie nicht einseitig verschoben wird. Ethische Basis unserer Arbeit ist die präventionsorientierte Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde basierend auf dem Zahnheilkundegesetz, das uns mit dem Privileg ausstattet, allein für die Behandlung von Erkrankungen im Zahn-, Mund- und Kieferbereich zuständig zu sein. Dabei müssen wir immer auch die Funktion des gesamten Organismus mit seinen Wechselwirkungen zu unserem Behandlungsfeld sehen. Daraus ergibt sich auch eine klare Abgrenzung unseres freien Berufsstandes vom Gewerbe. Jede qualifizierte Ausübung eines Heilberufes ist aber nur auf einer gesunden wirtschaftlichen Basis möglich. Darüber hinaus ist der Gesundheitsbereich ein starker Wachstumsmarkt, also auch volkswirtschaftlich von größtem Interesse – umso wichtiger, hier „gesunde“ Strukturen zu erhalten. 6*
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Aus Verbraucherperspektive ist festzuhalten, dass ökonomische Auswirkungen durch weiter fortschreitende Ausgrenzungen medizinischer Leistungen auch in der privaten Krankenversicherung immer mehr zu Lasten des Patienten gehen, potenziert durch die konkrete Gefahr einer Einheitsversicherung. Die Anforderungen der Patienten an den zahnärztlichen Berufsstand ändern sich ebenfalls: Heute besteht eine Tendenz zu ästhetischen und komfortablen Versorgungswünschen. Diese müssen ebenfalls berücksichtigt werden, ohne die Grenzen des Arzttums aus dem Auge zu verlieren, um nicht auf die Ebene von Kosmetik, sog. Schönheitsoperationen oder Pseudoheilkunde abzurutschen.
III. Berufsausübung und Gesetzgebung Die Berufsausübung in der Heilkunde fußt auf zwei Säulen. Zum einen gestaltet die Approbationsordnung die Ausbildung, und zum anderen gewährleistet die Musterberufsordnung die Durchführung des Berufes. Die neue, vom zahnärztlichen Berufsstand und der Wissenschaft gemeinsam erarbeitete Approbationsordnung wird die Grundlage dafür liefern, dass unsere Ausbildung auf dem festen Fundament der Medizin steht. Forschung und Lehre bilden bedeutende gesellschaftliche Ressourcen, wenn die Hochschulen und Universitäten dazu entsprechend in die Lage versetzt werden. Durchaus zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang die internationale Entwicklung des postgraduierten Studiums, die jetzt auch an deutschen Hochschulen etabliert wird. Das Examenszeugnis als Momentaufnahme des Könnens und Wissens auf hohem Stand wird ergänzt durch eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung. Diese hohe Professionalität trägt auch dazu bei, fachlich und ökonomisch unabhängiger zu werden. Die aktualisierte zahnärztliche Musterberufsordnung versetzt alle Kolleginnen und Kollegen in den Stand, die neuen, und nicht nur die vom Gesetzgeber vorgegebenen, Praxisorganisationsformen ihren Ansprüchen gemäß im Wettbewerb zu nutzen. Dazu zähle ich auch die neuen Freiheiten der Patienteninformation und der Aufklärungsmöglichkeiten, die das Bundesverfassungsgericht gestattet hat. Allerdings werden wir darauf achten, dass mit der Möglichkeit, auf besondere Qualifikationen zu verweisen, kein Missbrauch durch Fehlinformation betrieben wird. Auch bei den neuen Finanzierungsformen mit „Fremdinvestoren“ in einer Praxis gilt für mich das Primat des Freiberuflers, dem der Patient vertraut und der entsprechend Verantwortung übernimmt, statt sich hinter einer „Firma“ zu verschanzen. Der Aspekt „Qualität in der Heilkunde“ ist von der Politik auf teils nicht seriöse Weise per Gesetz eingeführt worden, nämlich zumeist in Richtung von Einsparpotenzialen und Ähnlichem. Qualitätssicherung und -förderung sind ein bedeutendes Anliegen unseres Berufsstandes; die hohe Patientenbindung von über 80 Prozent in Umfragen beweist dies eindrucksvoll.
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Ökonomie und Freiheit der Berufsausübung in der Heilkunde werden mit der vom Gesetzgeber geplanten Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte neuen Belastungen ausgesetzt. Gesundheitskarte und Health-professional Card sind nichts, was wir uns gewünscht hätten. Bis zu ihrer Einführung muss noch allerhand geschehen, um Missstände auszuräumen und um einem Missbrauch auf dem besonders sensiblen Feld der Gesundheitsdaten vorzubeugen. Das Ganze kann ein bürokratisches und technisches Monstrum werden, das auf dem Weg zur Verwirklichung noch viele Hürden nehmen muss. Die Karte etwa mit einem Passbild zu versehen halte ich bei 70 Millionen Menschen für kaum machbar.
IV. Fazit Die politische und unternehmerische Verantwortung der zahnärztlichen Kollegenschaft wurden in den letzten Jahren staatlicherseits massiv behindert. Es zeigt sich überdeutlich, dass die ständigen Interventionen der Politik in die Wirtschaftsabläufe der Zahnarztpraxen gesellschaftspolitisch und volkswirtschaftlich kontraproduktiv sind. Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde muss gerade in der heutigen Zeit eine geschlossene Einheit bilden, vor allem mit Blick auf die ökonomische Restriktionen seitens der Politik. Entsprechende gesundheitspolitische Rahmenbedingungen und politische Verlässlichkeit sind unabdingbar. Die Lösung wäre – es kann nicht oft genug wiederholt werden – die Einforderung von mehr Eigenverantwortung und mehr autonomer Patientenentscheidung. Die Bundeszahnärztekammer wird nicht müde, die Systematik der befundabhängigen Festzuschüsse mit Kostenerstattung für den gesamten Bereich der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde und für alle Versicherungsarten, privat wie gesetzlich, zu fordern und im Sinne eines Ceterum Censeo der Politik gegenüber immer wieder zu betonen und einzufordern.
Verfasserverzeichnis Professor Dr. Ingwer Ebsen, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, inbesondere Sozialrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Walter Köbele, Vorsitzender der Geschäftsführung der Pfizer Deutschland GmbH / Pfizer GmbH / Parmacia Deutschland GmbH, Karlsruhe. Professor Dr. mult. Dr. h. c. Walter Leisner, Emeritus an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Laurenz Meyer, MdB, Mitglied der CDU / CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und Mitglied des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Arbeit, Berlin; von November 2000 bis Dezember 2004 Generalsekretär der CDU Deutschlands. Professor Dr. Helge Sodan, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht und Sozialrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin; Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin. Dr. Dr. Jürgen Weitkamp, Präsident der Bundeszahnärztekammer, Berlin.