Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer: Vorträge im Rahmen der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 16. und 17. Juni 2003 [1 ed.] 9783428513857, 9783428113859

Seit langem befindet sich die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Deutschland in einer strukturellen und vor allem

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Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer: Vorträge im Rahmen der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 16. und 17. Juni 2003 [1 ed.]
 9783428513857, 9783428113859

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Schriften zum Gesundheitsrecht Band 1 HELGE SODAN (Hrsg.)

Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer Vorträge im Rahmen der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 16. und 17. Juni 2003

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

HELGE SODAN (Hrsg.)

Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer

Schriften zum Gesundheitsrecht Band 1 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin

HELGE SODAN (Hrsg.)

Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer Vorträge im Rahmen der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht am 16. und 17. Juni 2003

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 3-428-11385-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der nach wie vor erhebliche Reformbedarf im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung ist zu einem zentralen Thema in Deutschland geworden. Zwar existiert insoweit teilweise bereits ein durchaus umfangreiches Schrifttum; dies gilt besonders für das ärztliche Berufsrecht. Bemühungen um eine umfassendere Betrachtung des Gesundheitsrechts, das einen Sammelbegriff für eine Vielzahl verschiedener Rechtsgebiete darstellt, sind bislang aber nur vereinzelt geblieben und zudem meist auf nicht mehr aktuellem Stand. Die rechtswissenschaftliche Vernachlässigung des Gesundheitsrechts steht in auffälligem Gegensatz zur Bedeutung der Gesundheit für den einzelnen Menschen und des Gesundheitsmarktes für die Erbringer von Gesundheitsleistungen. Die mit dem vorliegenden Band eröffnete neue Publikationsreihe „Schriften zum Gesundheitsrecht“ versteht sich als Forum für Diskussionen über die dringend erforderliche nachhaltige Modernisierung des deutschen Gesundheitssystems. Aufgenommen werden können nicht nur Tagungsbände, sondern auch herausragende Dissertationen und andere besondere wissenschaftliche Abhandlungen. Der Band 1 der Schriften zum Gesundheitsrecht gibt die Vorträge wieder, welche im Rahmen der „1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht“ am 16. und 17. Juni 2003 im Hotel Hilton Berlin gehalten wurden; diese Veranstaltung befasste sich mit dem zentralen Thema „Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer“. Bei den Berliner Gesprächen zum Gesundheitsrecht handelt es sich um eine neue Reihe wissenschaftlicher Tagungen der Freien Universität Berlin. Auf die 1. Veranstaltung folgten am 3. und 4. Juli 2003 die 2. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht, die sich mit dem Thema „Krankenkassenreform und Wettbewerb“ beschäftigten, sowie am 15. und 16. September 2003 die 3. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht, welche dem Thema „Zukunftsperspektiven der vertragszahnärztlichen Versorgung“ gewidmet waren. Die im Rahmen dieser beiden Veranstaltungen gehaltenen Vorträge werden in den Bänden 2 und 3 der Schriften zum Gesundheitsrecht veröffentlicht werden. Die Gründung der Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht beruht wesentlich auf folgender Erkenntnis: Nicht wenige andere Veranstaltungen leiden darunter, dass das so genannte einfache Gesetzesrecht mehr oder minder unkritisch hingenommen wird. Fundierte verfassungs- oder europarecht-

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Vorwort

liche Kritik, konzeptionelles, interdisziplinäres Denken über die Weiterentwicklung des Gesundheitsrechts unterbleiben leider häufig. Dies wollen die Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht anders und besser machen. Bereits der Einladung zu den 1. Berliner Gesprächen zum Gesundheitsrecht sind viele herausragende Experten gefolgt. Unter den Teilnehmern dieser Tagung befanden sich Mitglieder des Deutschen Bundestages, der rechtspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin, Verfassungs- und Sozialrichter, der Präsident der Freien Universität Berlin, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler, Vertreter der Medien, der Vorsitzende des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, der Vorsitzende des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, ein Vertreter des Bundesversicherungsamtes, Repräsentanten der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung, darunter Vorstände von Krankenkassen und der Geschäftsführer des Verbandes der privaten Krankenversicherung e. V., zahlreiche Repräsentanten der pharmazeutischen Industrie, Vertreter der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und von Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, des Hartmannbundes und des Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte e.V. sowie Rechtsanwälte. Die Finanzierung der Tagung erfolgte ausschließlich durch so genannte Drittmittel in Form von Spenden und Teilnehmergebühren. Herzlicher Dank für großzügige Zuwendungen gebührt: Pfizer Deutschland GmbH, BristolMyers Squibb GmbH, Lilly Pharma Holding GmbH und MSD Sharp & Dohme GmbH. Ein ganz besonderer Dank für vielfältige Unterstützung gilt Herrn Michael Klein LL.M., dem Direktor Recht der Pfizer Deutschland GmbH, Karlsruhe. Die Förderung dieser Veranstaltung knüpfte an die intensiven Verbindungen der Freien Universität Berlin zu den Vereinigten Staaten von Amerika an. Die Freie Universität verdankt bekanntlich ihre Entstehung wesentlich der Hilfe durch die USA. Nicht von ungefähr trägt das zentrale Gebäude der Freien Universität Berlin den Namen „Henry-Ford-Bau“ – zum Gedenken daran, dass dieser Bau, in dem sich u. a. das Auditorium Maximum befindet, mit Mitteln der Ford-Foundation errichtet wurde. Für vielfältige Unterstützung bei der Konzeption, Vorbereitung und Durchführung der Tagung danke ich besonders meinem langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiter Olaf Gast. Für unermüdliche organisatorische Hilfe gebührt ferner großer Dank meiner Sekretärin Astrid Tüzel und meiner Mitarbeiterin Sophia Rogall, letzterer überdies für die stets zuverlässige und engagierte redaktionelle Bearbeitung des vorliegenden Tagungsbandes. Berlin, im März 2004

Helge Sodan

Inhaltsverzeichnis Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer – eine Einführung Von Helge Sodan, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung – ein grundgesetzliches Gebot? Von Walter Leisner, Erlangen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers Von Friedhelm Hufen, Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung Von Raimund Wimmer, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stärkung des Wettbewerbs für mehr Effizienz im Gesundheitssystem. Überlegungen für eine wettbewerbliche Neuorientierung im deutschen Gesundheitswesen Von Stefan Oschmann, Haar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Reform der Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung im Widerstreit der Meinungen Von Eberhard Wille, Mannheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aktueller Reformbedarf in der gesetzlichen Krankenversicherung Von Eike Hovermann, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verfasserverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer – eine Einführung Von Helge Sodan Seit langem befindet sich die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland in einer strukturellen und vor allem finanziellen Krise. Allein seit 1977 und damit in mittlerweile über 25 Jahren hat der Gesetzgeber diese Sozialversicherung durch über 50 größere Gesetze mit mehr als 7.000 Einzelbestimmungen zu sanieren versucht – jedoch ohne dauerhaften Erfolg und mit erheblichen Belastungen der Leistungserbringer, wie etwa von Ärzten und Zahnärzten, Apotheken sowie pharmazeutischen Unternehmen. Dass die Probleme nicht dauerhaft gelöst wurden, zeigen die in immer kürzeren Abständen erfolgenden neuen Reformen. Vor allem in den letzten Jahren schlug sich die Novellierungswut des Gesetzgebers in so genannten Reformwerken nieder, ohne dass ein Systemwechsel insbesondere zu mehr Marktlichkeit im Gesundheitswesen auch nur im Ansatz erkennbar wurde. Ein deutliches Beispiel dafür ist das so genannte Gesetz zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz – BSSichG) vom 23.12.20021. Dieses Gesetz hielt eine Mehrheit im Deutschen Bundestag für erforderlich, „um die Finanzgrundlagen der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung zu stärken, das Beitragssatzniveau zu stabilisieren und insbesondere im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung finanziellen Spielraum für notwendige strukturelle Reformmaßnahmen zu schaffen“2. Das Beitragssatzsicherungsgesetz legt etwa – um nur einige Vorschriften kurz anzusprechen – die so genannte Nullrunde für Vertragsärzte sowie Vertragszahnärzte fest, belastet durch die Regelung von Zwangsrabatten für Arzneimittel erheblich pharmazeutische Unternehmen und hebt die Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung deutlich an.3 Die Verabschiedung des Gesetzes erfolgte gegen den Willen des Bun1

BGBl. I, 4637. So die Begründung der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum entsprechenden Gesetzentwurf, BT-Drucks. 15/28, S. 11. 2

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Helge Sodan

desrates, der seine Zustimmung verweigerte. Bereits dieser Umstand verdeutlicht, wie umstritten gegenwärtig Veränderungen des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung sind. Der Bundeskanzler wies in seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 vor dem Deutschen Bundestag darauf hin, dass die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung „der wichtigste, auch notwendigste Teil der innenpolitischen Erneuerung“ sei4. Eine wesentliche Hilfestellung versprach sich die Bundesregierung durch die im November 2002 erfolgte Einsetzung der „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“, die nach dem Namen ihres Vorsitzenden als „RürupKommission“ bezeichnet wird. Entgegen den hohen Erwartungen, die viele an die Arbeit dieser Kommission genüpft hatten, lösten jedoch deren Vorschläge schon bald nach ihrem Bekanntwerden bei den meisten Experten Enttäuschung aus. Der große Wurf ist der Rürup-Kommission nicht gelungen, deren Tätigkeit mittlerweile aus der Diskussion verschwunden zu sein scheint. Um so mehr richtete sich der Blick auf den von den Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Juni 2003 eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitssystems5, der den Anspruch erhebt, das Gesundheitswesen grundlegend zu erneuern. Insbesondere mit diesem Gesetzentwurf beschäftigt sich der Beitrag von Eike Hovermann, der Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion sowie des Bundestagsausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ist. Der Titel seiner im Rahmen der Tagung gehaltenen dinner speech lautet: „Aktueller Reformbedarf in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Die Notwendigkeit von Reformen der chronisch defizitären gesetzlichen Krankenversicherung wird stets mit dem Bestreben begründet, deren finanzielle Überlebensfähigkeit zu sichern. Ihre jährlichen Ausgaben sind mittlerweile auf insgesamt 142 Milliarden Euro gestiegen. Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung verweist darauf, Deutschland habe damit nach den USA und der Schweiz das drittteuerste Gesundheitssystem 3 Siehe dazu näher Sodan, Helge, Das Beitragssatzsicherungsgesetz auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, in: NJW 2003, 1761 ff. 4 http://www.bundesregierung.de/regierungserklaerung,-472179/Regierungserklae rung-von-Bunde.htm. 5 BT-Drucks. 15/1170. Siehe dazu die dem Bundestagsausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung vorgelegte schriftliche Stellungnahme von Sodan, Helge, Ausschussdrucks. 0248(96) vom 30.06.2003. Zu den späteren „Eckpunkten der Konsensverhandlungen zur Gesundheitsreform“, welche die Grundlagen für das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003 (BGBl. I, 2190) bildeten, Sodan, Helge, „Gesundheitsreform“ ohne Systemwechsel – wie lange noch?, in: NJW 2003, 2581 ff.

Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung – Einführung

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der Welt. Trotz der erheblichen finanziellen Aufwendungen bleibt die deutsche gesetzliche Krankenversicherung selbst eine Dauerpatientin. Gesundheitsnachfrage, Morbiditätswachstum und medizinisch-technischer Fortschritt führen einerseits zu steigenden notwendigen und wirtschaftlichen Leistungen. Diesem Ausgabenpotential stehen andererseits stagnierende bzw. sinkende Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung etwa durch demografische Entwicklung, Standortprobleme und Massenarbeitslosigkeit gegenüber. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in einem Beschluss aus dem Jahre 1984 die „Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung“ – allerdings ohne Begründung – als „eine Gemeinwohlaufgabe“ bezeichnet, „welche der Gesetzgeber nicht nur verfolgen darf, sondern der er sich nicht einmal entziehen dürfte“; ihr diene die Kostendämpfung im Gesundheitswesen6. In neueren Senats- und Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts findet sich die Formel von der „Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung“ als einem „Gemeinwohlbelang von hinreichendem Gewicht“7. Diese stereotyp wiederholte, nie näher begründete Formel diente zur Rechtfertigung erheblicher Grundrechtseingriffe zu Lasten von Leistungserbringern: Ob es – um nur zwei Beispiele zu nennen – um die Rechtfertigung einer Altersgrenze für den Zugang zur vertragsärztlichen Tätigkeit8 oder die vom Gesetzgeber wiedereingeführten Zulassungsbeschränkungen für Vertragsärzte wegen vermeintlicher Überversorgung9 ging – stets zogen die bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung als entscheidendes Argument für die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Vorschriften heran. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung ist damit geradezu zum Dreh- und Angelpunkt der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Eingriffen in Grundrechte der Leistungserbringer geworden. Diffizil begründete, sich nicht selten auf über hundert Seiten erstreckende Verfassungsbeschwerden scheitern an einer Verfassungsauslegung, die das Bundesverfassungsgericht letztlich auf einen einzigen Satz zu reduzieren vermag. Es gehört zu den vornehmen Aufgaben der Wissenschaft, Dogmen zu hinterfragen – auch wenn diese vom höchsten deutschen Gericht stammen. 6 BVerfGE 68, 193 (218). Vgl. etwa auch BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 2000, 1871. 7 Siehe etwa BVerfGE 103, 172 (184); BVerfG DVBl 2002, 400 (401). 8 Siehe BVerfGE 103, 172 (184 ff.). 9 Siehe BVerfG DVBl 2002, 400 (401).

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Helge Sodan

Die 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht beschäftigen sich daher mit dem Spannungsverhältnis, in dem sich seit langem die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und die – demgegenüber grundgesetzlich gewährleisteten – Grundrechte von Leistungserbringern befinden. Als Ausgangspunkt der diesbezüglichen Erörterungen dient der Beitrag von Walter Leisner: Er ist der Frage gewidmet, ob die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung ein grundgesetzliches Gebot darstellt. Dabei befasst sich Leisner wesentlich auch mit dem Aspekt der „sozialen Schutzbedürftigkeit“ als Rechtfertigung und zugleich Begrenzung von Versicherungszwang sowie solidarischer Umverteilung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. In engem Zusammenhang damit stehen die beiden anderen juristischen Vorträge. Friedhelm Hufen beschäftigt sich mit dem Thema: „Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers“. Dieser Gestaltungsspielraum wird vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung hervorgehoben. Er soll gerade in der Gesetzgebung auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts besonders groß sein. Im Schrifttum heißt es sogar, weder das Grundgesetz noch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts machten dem Gesetzgeber Vorgaben für die Ausgestaltung des Krankenversicherungssystems10. Wie aber verträgt sich eigentlich eine solche „Blankovollmacht“ zugunsten des Gesetzgebers mit den Grundrechten der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung? Stößt der Gesetzgeber in diesem Bereich auf keine Grenzen bei der Einschränkung von Grundrechten? Hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hier jede Wirksamkeit verloren? Wie steht es um Art. 19 Abs. 2 GG, demzufolge kein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf? Hufen jedenfalls sieht den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zur Durchführung weiterer „systemerhaltender“ und rein kostenorientierter Reformmaßnahmen geringer, als durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konzediert. Für Missverständnisse wie die bereits genannte, im Schrifttum aufgestellte Behauptung, weder aus dem Grundgesetz noch aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ließen sich Vorgaben für die Ausgestaltung des Krankenversicherungssystems herleiten, sind möglicherweise nicht unbedingt gerichtliche Entscheidungen selbst, sondern Äußerungen von Richtern ursächlich, die außerhalb der Rechtsprechung erfolgen. Früher galt einmal in Deutschland ein eherner Grundsatz: Der Richter spricht durch seine Entscheidung. Kommentierungen der eigenen Entscheidungen, die bis zur 10 Empter, Stefan, Vorwort, in: ders./Sodan (Hrsg.), Markt und Regulierung. Rechtliche Perspektiven für eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, S. 7 (8).

Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung – Einführung

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Rechtsberatung für künftige Fälle reichen können, galten – zu Recht – als verpönt. Hier ist in letzter Zeit ein beachtlicher Wandel festzustellen. Der Reigen der juristischen Vorträge wird geschlossen durch die Ausführungen von Raimund Wimmer zum Grundsatz der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung. Nach § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V haben die Vertragspartner auf Seiten der Krankenkassen und der Leistungserbringer die Vereinbarungen über die Vergütungen so zu gestalten, dass Beitragssatzerhöhungen ausgeschlossen werden, es sei denn, die notwendige medizinische Versorgung ist auch nach Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven ohne Beitragssatzerhöhungen nicht zu gewährleisten. Im Hinblick speziell auf die vertragsärztliche Versorgung bestimmt § 85 Abs. 3 S. 2 SGB V, dass bei der Vereinbarung der Veränderungen der Gesamtvergütungen durch die Vertragsparteien des Gesamtvertrages der Grundsatz der Beitragssatzstabilität in Bezug auf das Ausgabenvolumen für die Gesamtheit der zu vergütenden vertragsärztlichen Leistungen zu beachten ist. Nach der Rechtsprechung des 6. Senats des Bundessozialgerichts soll der Grundsatz der Beitragssatzstabilität gegenüber anderen Kriterien bei der Festsetzung der Vergütungen vorrangig sein und damit den „entscheidenden Gesichtspunkt“ darstellen11. Zugleich geht dieser Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, ein Vertragsarzt oder -zahnarzt habe (regelmäßig) keinen Rechtsanspruch auf eine angemessene Vergütung seiner Tätigkeit, sondern nur einen Anspruch auf eine angemessene Teilhabe an der Verteilung der Gesamtvergütung12, obwohl § 72 Abs. 2 SGB V bestimmt, dass die vertragsärztliche Versorgung u. a. so zu regeln ist, dass die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden. Das Bundesverfassungsgericht hingegen stellte bereits im Jahre 1993 ausdrücklich fest, die grundrechtlich geschützte Freiheit, einen Beruf auszuüben, sei „untrennbar verbunden mit der Freiheit, eine angemessene Vergütung zu fordern“; gesetzliche Vergütungsregelungen seien „daher am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen“13. Mit der Bedeutung gerade auch des Grundrechts der Berufsfreiheit im Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Beitragssatzstabilität beschäftigt sich Wimmer in seinem Beitrag. Bei der Auslegung und Anwendung des Rechts – ganz besonders des Verfassungsrechts – kann die Einbeziehung von Erkenntnissen anderer Fachdisziplinen grundsätzlich sehr förderlich sein. Den interdisziplinären 11 So BSGE 86, 126 (135 ff., 139). Anders hingegen Sodan, Helge/Gast, Olaf, Die Relativität des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität nach SGB V, Verfassungsund Europarecht, NZS 1998, 497 ff. 12 Siehe etwa BSGE 75, 187 (189 ff.); 77, 279 (288); BSG SozR 3-2500 § 85 Nr. 12 S. 82; BSGE 83, 205 (217). 13 BVerfGE 88, 145 (159); vgl. auch bereits BVerfGE 54, 251 (271); 68, 193 (216); 83, 1 (13).

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Ansatz der Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht unterstreicht zunächst der Vortrag von Stefan Oschmann zum Thema „Stärkung des Wettbewerbs für mehr Effizienz im Gesundheitssystem“. Aus der Perspektive eines hochrangigen Repräsentanten eines weltweit tätigen amerikanischen Pharmakonzerns werden Überlegungen für eine wettbewerbliche Neuorientierung im deutschen Gesundheitswesen entwickelt. Diese setzen nicht an den Kosten an, sondern an den Einnahmen und am medizinisch notwendigen Bedarf. Aus der Sicht eines auf Gesundheitsökonomie spezialisierten Wirtschaftswissenschaftlers, der zum Zeitpunkt der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht Vorsitzender des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen war, beleuchtet Eberhard Wille die „Reform der Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung im Widerstreit der Meinungen“. Bereits seit Beginn der achtziger Jahre leidet die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung, welche im Wesentlichen aus Arbeitseinkommen und Rentenzahlungen besteht, an einer Wachstumsschwäche. Daher sieht Wille die mangelnde fiskalische Nachhaltigkeit als Ausgangspunkt der Reformdiskussionen. Er zeigt verschiedene Vorzüge auf, welche Pro Kopf-Pauschalen bzw. kassenspezifische Grundbeiträge gegenüber den geltenden einkommensabhängigen Beiträgen aufweisen. Angesichts der Thematik der 1. Berliner Gespräche zum Gesundheitsrecht liegt ein inhaltlicher Schwerpunkt naturgemäß auf dem Verfassungsrecht. Daher soll diese Einführung mit einem Zitat aus Goethes Werk „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ beschlossen werden. Darin heißt es: „Eines Tages machte die Baronesse die Bemerkung, daß man nicht deutlicher sehen könne, wie ungebildet in jedem Sinne die Menschen seien, als in solchen Augenblicken allgemeiner Verwirrung und Noth. Die bürgerliche Verfassung, sagte sie, scheint wie ein Schiff zu sein, das eine große Anzahl Menschen, alte und junge, gesunde und kranke, über ein gefährliches Wasser, auch selbst zu Zeiten des Sturms, hinüber bringt; nur in dem Augenblicke wenn das Schiff scheitert, sieht man wer schwimmen kann, und selbst gute Schwimmer gehen unter solchen Umständen zu Grunde.“14

Es bleibt zu hoffen, dass unsere freiheitliche Verfassung – gerade im Hinblick auf das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung – kraftvoll wirken und keineswegs – in den Worten Goethes – scheitern wird.

14 Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 18, 1895, S. 100.

Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung – ein grundgesetzliches Gebot? Von Walter Leisner I. Thesen gibt es, für die wird ihre Aktualität zur Begründung – um eine solche geht es hier: Keine höheren Abgabenbelastungen für den Bürger! Wäre noch politischer Dissens möglich, weil Umverteilungsbereite Steuern nicht senken, sondern sogar noch schwerere Gewichte auf die viel berufenen „starken Schultern“ bürden wollten, so wird die These von der nicht zu erhöhenden Belastung zum politischen Unisono in einer Richtung: keine höheren Sozialabgaben! Hier ertönen die Rufe einer eigenartigen, einer heiligen oder unheiligen Allianz von Links und von Rechts, von Oben und von Unten: Dem Bürger – das heißt dem Wähler – darf „nicht noch mehr abverlangt werden“ an Leistungen für seine soziale Sicherheit, vor allem nicht für seine Gesundheit! Für die Vertreter eines abgabensenkenden Liberalismus – in allen Parteien – ist dies eine Selbstverständlichkeit schon deshalb, weil Sozialabgaben volkswirtschaftlich längst als wesentlicher Teil der Gesamtabgabenlast erkannt sind. Mit Blick nicht zuletzt auf sie werden Lohnerhöhungen in Tarifverhandlungen beschlossen. Und die Unternehmer müssen sie noch immer, weithin bis zur Hälfte, mittragen – sie erhöhen daher, und dies entscheidend, die konkurrenzschädlichen Lohnzusatzkosten.1 Die politischen Anwälte der Schwächeren sehen gerade hier diese Schwächeren immer noch schwächer werden, weit mehr als durch eine Steuergesetzgebung, die immerhin nach Progression erfolgt: Für Sozialabgaben gibt es keine prozentuale Degression. Am Gefährlichsten erscheint dieser Unisono-Koalition jede weitere Steigerung der Belastung mit Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung: Zu 1 Dazu vertiefend Leisner, Walter, Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen – dargestellt am Beispiel der Personalzusatzkosten, 1996.

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Walter Leisner

befürchten steht ja, dass alle dies hinnehmen, im Namen des höchsten der irdischen Güter, der Gesundheit. Widerstand gegen Erhöhungen erlahmt auch, sieht er sich, wie hier, einer High-Tech-Front von Ärzten und Pharmaherstellern gegenüber, welche Beitragssteigerungen mit gestiegenen allgemeinen Kosten, vor allem mit der doch von jedermann gewünschten Qualitätsverbesserung begründen. Angesicht einer so schwierigen Argumentationslage gegen höhere Gesundheitskosten – also auch steigende Kassenbeiträge – helfen die alten, schlechten Solidaritätsappelle wenig und die Verfolgung preistreibender Sünder nicht genug. „Da ist die Politik gefordert“. Und sie fordert denn auch, mit einer in einer freiheitlichen Demokratie schon fast beklemmenden Einmütigkeit: „Die Krankenkassenbeiträge dürfen nicht steigen – nicht weiter. Die Grenze des Erträglichen ist erreicht, überschritten“. II. „Hier stock’ ich schon“: War denn die Steigerung dramatisch, droht sie es wenigstens zu werden? Davon kann keine Rede sein. Von 1960 bis 1991 ist die Belastung mit gesetzlichen Gesundheitskosten um etwa 4,6% gestiegen, auf 13,1%, also um etwa 0,15% im Jahr.2 Nahezu gleich blieb sie bis 1995; seither hat sich der Anstieg in kaum erhöhtem Rhythmus fortgesetzt. Steigerungsdramatik war da nicht, ob sie in Sicht ist, darüber streiten die Experten seit langem. Vor allem aber: Das Gesundheitsbewusstsein, die Bedeutung der Gesundheit für jedermann hat doch in über vier Jahrzehnten entscheidend zugenommen – darf dem dann, muss dem nicht sogar verstärkte Leistungsbereitschaft für diesen Wert entsprechen? Der Durchschnitt der Menschen lebt erheblich länger – muss das nicht größere Anstrengungen schon in der Jugend zur Folge haben3? Überdies ist die Qualitätsverbesserung bei der Gegenleistung der sozialen Gesundheitsdienste doch insgesamt unstreitig, wenn auch im Einzelnen kaum exakt messbar.4 Wer aber so viel mehr erhält, von dem kann doch prozentual auch mehr verlangt werden, sogar nach seinem Gesamteinkommen. Oder sollen den Volkswagenwerken die Käfer2 Vgl. Sodan, Helge/Gast, Olaf, in der für die folgende Untersuchung grundlegenden Abhandlung „Die Relativität des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität nach SGB V, Verfassungs- und Europarecht“, in: NZS 1998, 497 (501) m. Nachw. 3 Bei einer kapitalgedeckten Versicherung würde dies bereits in jungen Jahren ein verstärktes Ansparen verlangen; eine Generationen-Solidarität, wie sie der GKV zugrunde liegt, erfordert ähnliche, erhöhte Anstrengungen schon in der Jugend, aus einer Haltung „sicherer Erwartung“ heraus. 4 Siehe dazu Sodan/Gast (Fn. 2), S. 500 m. Nachw.

Stabilität der Krankenversicherung – ein grundgesetzliches Gebot?

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preise von 1960, inflationsbereinigt, abverlangt werden? Wer will fordern, dass alle Einkommenszuwächse immer nur in Eisdielen enden oder an südlichen Stränden? Doch die Politik verlangt unbedingt den Steigerungsstopp. Und wenn das Argument, ihre Vertreter würden sonst nicht mehr gewählt, nicht jedermann überzeugt, so muss das Recht herhalten – in einem Rechtsstaat eben, am besten gleich das Grundgesetz. III. So erreichen wir unser Rechtsproblem: Verlangt das Grundgesetz „Stabilität der Gesundheitskosten“ und, wenn dies denn anders nicht zu erreichen ist, einen Beitragsstopp für die Bürgerleistungen an die gesetzlichen Krankenkassen? Anders ist diese Stabilität, so die Politiker enttäuscht, offenbar ja nicht zu verwirklichen: Ärzte und Pharmahersteller weisen auf ihre Kosten und die Wertigkeit ihrer Leistungen hin; die Patienten drohen den Politikern mit Wahlvergeltung, wenn diese Zuzahlungen in größerem Umfang vorsehen wollten. Wenn aber nun das Grundgesetz selbst ein Verfassungsgebot aufstellte, dass Krankenkassenbeiträge „stabil bleiben“ müssen, eine magische Grenze von 15% etwa nicht überschreiten dürfen – wäre dann nicht alles gelöst? Ärzte und Pharmaproduzenten müssten Billigarbeit leisten,5 damit die Krankenkassengemeinschaften subventionieren6, ihre Verfassungsbeschwerden dagegen würden am Verfassungsstopp für Beiträge scheitern; und vor allem wäre eines die für die Politiker bequeme Folge: Sie bräuchten, sie dürften nicht einmal mehr weiter an der Zuzahlungsschraube drehen. Das Verfassungsrecht könnte doch hier, wie es scheint, leicht helfen: Ist nicht „die Volksgesundheit“ ein „überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“, nach der Rechtsprechung eben jenes Bundesverfassungsgerichts, dem auch bei allen Streitigkeiten aus einer solchen Beitragserhöhung stets das letzte Wort zustünde?7 Lässt sich nicht die Gesundheitsversorgung von weit über vier Fünfteln der Bürgerschaft als „Volksgesundheit“ begreifen, ja mit die5 Insbesondere über Festbetragsregelungen kann dies dann faktisch, wenn nicht gar rechtlich, erzwungen werden; vgl. zu diesen für viele Axer, Peter, Europäisches Kartellrecht und nationales Krankenversicherungsrecht, in: NZS 2002, 57 ff.; Beck, Jürgen, Festsetzung von Festbeträgen in der GKV, in: Soz Sich 2003, 50 ff. 6 Zutreffend als quersubventionierende Preisintervention erkannt von Kübe, Hanno/Palm, Ulrich/Seiler, Christian, Finanzierungsverantwortung für Gemeinwohlbelange, in: NJW 2003, 927 (929). 7 Grundlegend das Apothekenurteil, BVerfGE 7, 377 (408).

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ser schlechthin gleichsetzen?8 Dies alles ist zu bejahen. Dann bleibt nur noch, wie es scheint, eine Frage: Ist nicht eine Volksgesundheit gefährdet, wenn ihre Sicherung „unerschwinglich“ wird? Die letzte Frage führt in Probleme: Hat das Grundgesetz eine Schwelle für die Unerschwinglichkeit fixiert, gestattet oder gebietet es sogar einer Staatsgewalt, sie unüberschreitbar festzulegen, im Namen der höchsten Normen des Staates? Das ist unser Thema. IV. Alles Verfassungsrecht endet heute nicht nur in Karlsruhe, es beginnt dort bereits. Das Bundesverfassungsgericht hat sich, schon früher, in letzter Zeit aber immer häufiger, zu dem geäußert, was es die „Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung“ nennt. Es sieht darin eine „Gemeinwohlaufgabe, welche der Gesetzgeber nicht nur verfolgen darf, sondern der er sich nicht einmal entziehen dürfte“9. In ihrem Namen können die Mindesteinnahmegrenzen bei selbständigen und unselbständigen Versicherten unterschiedlich festgelegt werden;10 Kostenbegrenzungen bei den Kassen durch Leistungskürzungen sind mit solcher Begründung legitim;11 mit Blick auf sie darf Ersatz für hausärztliche und fachärztliche Versorgung unterschiedlich geregelt werden. Der Gesetzgeber mag „Leistungen (der Kassen) kürzen, den Umfang von Ansprüchen oder Anwartschaften vermindern oder diese umgestalten“.12 Was aber ist nun – dies bleibt die entscheidende Frage – jene „finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung“, deren so unbedingte Sicherung das Oberste Gericht kategorisch verlangt? Es hat dies vor kurzem mehrfach und unmissverständlich ausgesprochen, gerade vor wenigen Monaten: „Das Leistungssystem der Krankenversicherung muss funktionsfähig bleiben“.13 Schon vorher war dies mehrmals angeklungen: die „Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems müsse erhalten werden“14, die „finanzielle Stabilität und damit Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung“.15 8 Das BVerfG sieht denn auch gerade in der Gesundheit der in der GKV Versicherten ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut, vgl. etwa NJW 1998, 1776. 9 BVerfGE 68, 193 (218). 10 BVerfGE 103, 392. 11 BVerfGE 103, 172. 12 BVerfGE 53, 257 (293). 13 BVerfG DVBl. 2003, 325 (327). 14 BVerfG NJW 1997, 2444. 15 BVerfG DStR 2001, 1581.

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Verlangen diese Formulierungen einen gesetzlichen Erhöhungsstopp für Kassenbeiträge von Verfassungs wegen? V. Zunächst einige Klarstellungen: „Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems“ sind zu sichern; dies kann man zwar auch auf die gesetzliche Krankenversicherung beziehen, als seinen Teil – also auf „das“ System der sozialen Sicherung. Ein Unterschied zwischen „Funktions- und Leistungsfähigkeit“ lässt sich dabei aber nicht ausmachen: Ein Versicherungssystem, das nicht leistungsfähig ist, „funktioniert“ auch nicht – und umgekehrt. Beide Begriffe verlangen dasselbe: Die gesetzlichen Kassen müssen „insgesamt“, eben in ihrer System-Einheit gesehen, die ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllen können. Um welche, damit verfassungsrechtlich angesprochenen, Aufgaben handelt es sich? Es sind im Einzelnen die, welche der einfache Gesetzgeber festlegt, indem er den Erstattungsrahmen für gesundheitssichernde Maßnahmen festlegt. Dieser Rahmen aber kann seinerseits wieder zur Sicherung der Funktions- und Leistungsfähigkeit bestimmt und – auch tiefgreifend – verändert werden. Auf den ersten Blick mag es also scheinen, dass der Hinweis auf die Sicherung von Funktions- und Leistungsfähigkeit des Kassensystems verfassungsrechtlich nur einen logischen Zirkel verdecke, oder bare Selbstverständlichkeit: Was der Gesetzgeber einer Kasse an Aufgaben stelle, müsse diese auch erfüllen können, kein Gesetz dürfe sie daran hindern. Auf eine solche Banalität lässt sich die Formel des Bundesverfassungsgerichts aber nicht reduzieren; sie ist vielmehr wie folgt zu verstehen: Das Grundgesetz hat prinzipiell die Möglichkeit der Schaffung und Aufrechterhaltung einer „gesetzlichen Krankenversicherung“ eröffnet, und damit deren beide Grundformen gebilligt16: Zwangsmitgliedschaft aller versicherungsmäßig Schutzbedürftigen und deren „Versicherung auf Gegenseitigkeit“, im Wege einer, auch massiven, Umverteilung zwischen wirtschaftlich mehr oder weniger Leistungsfähigen17 – genannt „Solidarität“.18 16 Dem Grundsatz nach ist dies seit langem anerkannt, vgl. bereits Leisner, Walter, Sozialversicherung und Privatversicherung, dargestellt am Beispiel der Krankenversicherung, 1974, insbesondere S. 50 ff., 68 ff., 161 ff. 17 Und zwar um auch auf einer „zweiten Stufe“, zwischen den Kassen, über den Risikostrukturausgleich, vgl. dazu grundlegend, Sodan, Helge/Gast, Olaf, Umverteilung durch „Risikostrukturausgleich“. Verfassungs- und europarechtliche Grenzen des Finanztransfers in der Gesetzlichen Krankenversicherung, 2002.

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Ein solches gesetzlich geregeltes Versicherungssystem muss es nicht geben, es durfte aber vom Gesetzgeber geschaffen und es darf von ihm aufrechterhalten werden. Soweit das zuständige Parlament diese Aufgabe den Trägern der Sozialversicherung stellt, muss ihnen dafür aber auch die nötige finanzielle Grundlage geboten werden. Hier nun schreibt das Grundgesetz, nach der Formel des Obersten Gerichts, mehr vor als nur die Selbstverständlichkeit, dass Aufgabenstellungen auch die zu deren Erfüllung nötige Mittelzuweisung und deren Sicherung fordern: Die Verfassung stellt der gesetzlichen Krankenversicherung als mögliche Aufgabe nicht nur, ganz allgemein, die einer Krankenvorsorge irgend welcher Bürger, oder schlechthin „der Bürger überhaupt“: Sie begrenzt diesen Auftrag auf die „Sicherung sozial Schutzbedürftiger“, die also auf andere Weise, durch Selbstzahlen oder private Versicherung, diesen Schutz nicht hinreichend sicherstellen könnten. Diese „soziale Schutzbedürftigkeit“19 als Rechtfertigung und zugleich Begrenzung von Versicherungszwang und solidarischer Umverteilung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, ist zwar vom Gesetzgeber immer weiter ausgedehnt worden20 – auf Landwirte etwa und Künstler, vor allem durch die Erhöhung der Pflichtversicherungsgrenze. Dabei ist, gerade neuerdings, erstaunlicher- und höchst bedauerlicherweise, politisch die doch unumgängliche, von der Verfassung nun wirklich geforderte Diskussion gar nicht vertiefend geführt worden, ob denn alle diese in den Versicherungszwang einbezogenen Bevölkerungskreise auch „wirklich schutzbedürftig“ seien21; nur dann ist ja deren medizinische Versorgung über gesetzliche Krankenkassen eine vom Gesetzgeber gestellte und auch nur insoweit eine verfassungsrechtlich notwendige Aufgabe der gesetzlichen Kassen. Damit erhält dann aber die „Funktions- und Leistungsfähigkeit“, die der Gesetzgeber bei den gesetzlichen Kassen sicherstellen muss, nicht nur darf, einen guten, verfassungsrechtlichen Sinn: Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass diese Kassen, im Namen ihrer gesetzlichen Aufgabenerfüllung der Versorgung Schutzbedürftiger, nicht mehr zu erstatten haben, als sie an 18

Das BVerfG betont seit langem Solidarität und sozialen Ausgleich als Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung, vgl. etwa BVerfGE 58, 81 (110); 79, 223 (237 f.). 19 Dazu näher schon Leisner (Fn. 16), S. 55 ff. 20 Vgl. neuerdings Sodan, Helge, Das Beitragssatzsicherungsgesetz auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, in: NJW 2003, 1761 (1765 f.). 21 Vielmehr wurde ganz offen zugegeben, dass diese Ausweitung lediglich der Mittelbeschaffung diene, und weil dies nach Verfassungsrecht bei der Einbeziehung von Beamten problematisch werden könnte, zeigt sich denn auch Zurückhaltung gegenüber diesem Vorhaben. Damit läuft die gesamte Diskussion an der verfassungsrechtlichen Legitimation der Sozialversicherung vorbei.

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Beiträgen einnehmen; sie dürfen also, das ist die betriebswirtschaftlich selbstverständliche Folge, durch ihre gesetzliche Aufgabenstellung nicht in die Insolvenz getrieben werden. Und der Gesetzgeber muss eine solche nicht etwa durch Staatszuschüsse zur gesetzlichen Krankenversicherung abwenden, die es herkömmlich in diesem Bereich nie oder nur marginal gegeben hat. Für einen etwaigen Beitragserhöhungsstopp bedeutet aber dies nun gerade keinerlei Rechtfertigung, im Gegenteil: Alle Mittel, die zur Erfüllung des gesetzlichen Auftrags der Sicherung der „sozial Schutzbedürftigen“ erforderlich sind, dürfen auch, müssen sogar von den Mitgliedern der Versichertengemeinschaft gefordert werden. Nicht mehr und nicht weniger ergibt sich aus dem Begriff der „finanziellen Stabilität“ der Gesetzlichen Krankenkassen. Aus diesem Begriff heraus lässt sich also das Problem der Betragslücke nicht lösen. VI. Wie nun aber, wenn gerade diese „soziale Schutzbedürftigkeit“ eine Erschwerung der Beitragslast nicht mehr zulässt? Eben dies behaupten ja, wenn auch, wie dargelegt, mit problematischer Begründung, die Vertreter des Erhöhungsstopps. Die Problematik verlagert sich dann von der Funktionsfähigkeit in den Begriff der sozialen Schutzbedürftigkeit. Hier aber sehen sich die Vertreter des Erhöhungsstopps vor einer Schwierigkeit, der sie in Widersprüche zu verwickeln droht. Gerade um den gesetzlichen Kassen die angeblich oder wirklich erforderlichen Mittel zuzuführen, haben sie ja bisher den Begriff der Schutzbedürftigkeit mehr als großzügig gehandhabt, und ihn immer weiter, auf offensichtlich nicht mehr entfernt „sozial Schutzbedürftige“ ausgeweitet22. Dieselben Kräfte sind es auch, die sogar eine Ausweitung des Versicherungszwangs bis zur Volksversicherung fordern. Damit aber müssen sie in einer mehr als problematischen Position enden: Alle Bürger, alle Versicherungspflichtigen sind dann ex definitione „sozial schutzbedürftig“, niemand kann – und daher darf – sich mehr privat oder selbstzahlend gegen Krankheit versichern – nicht einmal das Vorstandsmitglied, welches viele Millionen verdient; und die private Krankenversicherung, seit Generationen die „zweite Säule des Systems“23, wird zur verfassungswidrigen Alternative, weil „jedermann von Verfassungs wegen sozial schutzbedürftig geworden ist“. Dass dies soziologisch und ökonomisch absurd ist, liegt auf der Hand. Noch abwegiger wäre die Annahme, durch 22

Vgl. Sodan (Fn. 20), S. 1765 f. Zur „bipolaren Versicherungsverfassung“ vgl. bereits Leisner (Fn. 16), S. 161 ff. m. Nachw. 23

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etwas wie ein ökonomisches Wunder wäre nun diese durchgehende soziale Schutzbedürftigkeit gerade in einem bestimmten Jahr aufgetreten oder vom Gesetzgeber erkannt und daher von ihm verkündet worden. All dies scheitert verfassungsrechtlich schon daran, dass es auf der durch nichts gerechtfertigen Behauptung beruhen müsste, private Krankenvorsorge sei „in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen“. Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. VII. Doch die Vertreter des notwendigen verfassungsrechtlich gerechtfertigten oder gar erzwungenen Beitragserhöhungsstopps mögen doch noch einen Strohhalm finden: „Diese Medizin ist eben für die Bürger schlechthin nicht mehr erschwinglich“; und sie werden dann gerade die Einbeziehung der „Reichen“, ja der „Superreichen“ in den Versicherungszwang, die sie ja betreiben, umgekehrt als Rechtfertigung des Beitragserhöhungsstopps anführen: Es könne doch selbst diesen „stärkeren Schultern“ nicht mehr zugemutet werden, so schwere Lasten in sozialer Umverteilung zu tragen. Damit aber ziehen sich die Vertreter des Beitragserhöhungsstopps, wie Münchhausen, am eigenen Schopf aus dem Sumpf: Sie rechtfertigen den Erhöhungsstopp mit der einfachen Behauptung, „diese Medizin sei zu teuer geworden“, nicht nur für die Schutzbedürftigen – die sie ja als begrenzte Gruppe nicht mehr anerkennen – sondern für jedermann, an sich, jedenfalls „für die Volkswirtschaft“. Dem lässt sich die bereits eingangs erwähnte Entwicklung entgegenhalten: Die Gesundheitsversorgung ist „so überteuert gar nicht“. Der Gesetzgeber eines Beitragsstopps wird sich zwar auf sein wirtschaftlich-soziales Prognoseermessen24 berufen, das ihm die Verfassung einräume: die Kosten seien eben doch untragbar, nicht nur für viele, sondern für alle – unzumutbar. Dem können nun aber die Gegner einer Verfassungsverpflichtung zu einem verfassungsrechtlichen Beitragserhöhungsstopp den entscheidenden Einwand entgegenhalten: Ein so weitgehender Ersatz von Krankenversorgungskosten, wie er gegenwärtig durch die Kassen geboten werde, sei tatsächlich-wirtschaftlich gar nicht nötig, die Patienten könnten doch in erheblichem Umfang zuzahlen; und für sozial besonders Schutzbedürftige könne ja diese Zuzahlungspflicht abgeschwächt werden oder gar entfallen. 24 Das gerade im Bereich der Berufsordnung eine erhebliche Rolle spielt, vgl. etwa BVerfGE 25, 1 (12 f.); 39, 210 (230); 57, 139 (160). Zu Prognoserecht und verfassungsrechtlicher Kontinuitätsverpflichtung vgl. neuerdings Leisner, Anna, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 355.

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Demgegenüber versagt jede vernunftgetragene Argumentationsmöglichkeit der Befürworter des Beitragserhöhungsstopps: Ein Gesundheitsminister kann dem nurmehr ein nacktes Machtwort entgegensetzen, wie es denn auch geschieht: An der Solidarfinanzierung der Gesundheit werde nicht gerüttelt; was für den Bürger erschwinglich sei oder nicht, bestimme hier allein der Gesetzgeber, er habe beschlossen, dass dem Bürger seine Gesundheit so viel nicht wert zu sein brauche. Die Verfassung verlange die „billigere Gesundheit“; die Leistungserbringer hätten sie eben zu ermöglichen, zu den Kosten, welche die gesetzlichen Kassen, bei Meidung der Insolvenz, auf der Grundlage einer bestimmte, gesetzlich fixierten Beitragshöhe, noch erstatten könnten. Mehr brauche der Bürger dafür nicht zu bezahlen, und dies gestatte, es befehle vielleicht gar das Grundgesetz – damit den Erhöhungsstopp. „Soziale Schutzbedürftigkeit“ bedeutet dann nicht mehr, dass ein Bürger tatsächlich mehr nicht zahlen kann, sondern dass er mehr nicht zu zahlen braucht, nach der sozialpolitischen Entscheidung des Gesetzgebers. VIII. Liberale Sozialpolitiker, Vertreter der freien Arzt- und Versicherungswahl – und damit der Freiheit schlechthin – für die das alles eine soziale Revolution bedeuten muss, mögen nun aber vor der eigenen Tür kehren, bevor sie ihrer – durchaus berechtigten – Entrüstung Ausdruck verleihen: Ihr permissives laissez-faire, laissez-passer gegenüber dem Sozialgesetzgeber während mehr als einem Jahrhundert hat eine solche Entwicklung vorbereitet und dient heute als Rechtfertigung des Beitragserhöhungsstopps. Die Gesundheit ist ein so hohes Gut, so hieß es Generationen lang, sie kostet soviel, dass der „arme Arbeiter“ hier grundsätzlich völlig, jedenfalls in ganz anderer Weise kostenmäßig zu entlasten ist als bei der Bestreitung aller anderen privaten Lebensbedürfnisse. Dies hat zum Sachleistungsprinzip geführt, dieses wahre Axiom wirkt noch heute nach, obwohl seine sozialpolitische Ausgangslage längst ferne Vergangenheit ist. Nie traf es übrigens ohne Einschränkung zu, stets schwang hier viel von einer Sozialromantik mit. Doch sie hat immerhin bewirken können, dass das Axiom vom vollen Versicherungsschutz nach dem Sachleistungsprinzip und damit von der „teueren“, der „für Arme unerschwinglichen Medizin“, sich immer weiter hat unausgesprochen halten und damit die gesetzliche Krankenversicherung geradezu zu einem Sturmbock der gesamten Sozialversicherung hat werden lassen: ‚Immer mehr‘ kann dann als „unerschwinglich“ bezeichnet werden für immer mehr Bürger, von der Wohnung bis zur Bildung; der Sozialgesetzgeber wird zum Gesetzgeber der Erschwinglichkeit wirtschaftli-

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cher Leistungen. Damit wird aber Sozialgesetzgebung zu einem völligen aliud: zur wirtschaftslenkenden Preisgesetzgebung, der Beitragsstopp wird zum Preisstopp für medizinische Versorgungsleistungen. Das jedoch hat der Grundgesetzgeber nicht gewollt, weder in Einzelbestimmungen einer Verfassung, die deutlich die Kompetenzen einer Sozialgesetzgebung von denen einer Wirtschaftsgesetzgebung trennt25, noch auch durch die Anerkennung einer auf Schutzbedürftigkeit gegründeten sozialen Krankenversicherung. IX. Um es zusammenzufassen: Verfassungsrechtlich ließe sich ein Beitragserhöhungsstopp nur rechtfertigen, wenn eine von zwei Vorstellungen sich aus der Verfassung ableiten ließe: – entweder der „sozialen Schutzbedürftigkeit“ kommt überhaupt keine rechtliche Bedeutung mehr zu, – oder der Begriff dieser „sozialen Schutzbedürftigkeit“ wird derart ausgeweitet, dass er sich einfach gleichsetzen lässt mit dem einer „wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“26 aller Bürger für die Tragung gerade von Kosten medizinischer Versorgung – die dann aber der einfache Gesetzgeber jeweils festlegt. Das Erstere widerspricht der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; das Letztere verwandelt den Sozialversicherungsgesetzgeber in den Gesetzgeber eines Wirtschaftsrechts, das beliebig gesetzlichen Preisstopp für Produkte und Leistungen zu privater Lebensführung verordnen darf. X. Beides ist unvereinbar mit dem Grundgesetz. 1. Die völlige Vernachlässigung jeder sozialen Schutzbedürftigkeit bei der Rechtfertigung des Versicherungszwangs der Sozialversicherung öffnet den Weg in ein begründungsloses Zwangsmonopol, ja in die Zwangs25 Vgl. einerseits Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, GG andererseits Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, wo das „privatrechtliche Versicherungswesen“ ausdrücklich erwähnt wird. 26 Dies dann in einem ganz anderen Sinn als dem der „wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“, wie sie das Steuerrecht beherrscht (dazu noch immer grundlegend Birk, Dieter, Das Leistungsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983): hier geht es um staatliche Teilhabe an privatem Wirtschaftserfolg – dort um die Verteuerung von Gesundheitsleistungen.

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verbandlichkeit27 der Staatsgewalt. Ihr steht es dann frei, Erstattungs-, damit aber letztlich öffentliche Leistungsmonopole für die Deckung anderer privater Lebensbedürfnisse zu schaffen. Im Bildungsbereich ist dieser Weg bereits im Schulzwang beschritten worden, wenn auch weithin auf ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Grundlage. Er könnte im Verbandszwang des Beitritts zu öffentlich-rechtlichen Einkaufsgenossenschaften für Güter der Lebens-Grundversorgung enden, in einem völlig staatlich nicht nur gelenkten, sondern organisierten Gütervertrieb, vom Brot bis zum Kraftfahrzeug. 2. Will man aber, andererseits, soziale Schutzbedürftigkeit schon immer dann bejahen, wenn der staatliche Gesetzgeber dekretiert, „der Bürger könne mehr für gewisse wichtige Güter und Leistungen nicht bezahlen“, so ist jedenfalls der Weg frei in eine schrankenlose staatliche Preisstoppgesetzgebung. Sie braucht sich dann nicht mehr zu rechtfertigen aus gelegentlichen, bereichsweise eng begrenzten privaten Missbräuchen, aus sozialer Not oder aus einem allgemeinen ökonomischen Notstand. 3. Die Folgen wären schlicht unabsehbar und verheerend für die wirtschaftliche Freiheit, für die Marktwirtschaft schlechthin: Sogleich könnte der Gesetzgeber zum vollen Mietstopp, ja zum totalen Preisstopp für alle Wohnimmobilien übergehen, mit der einfach aus dem Gesundheitsbereich entlehnten Begründung, mehr als zum Beispiel 20% seines Einkommens brauche kein Bürger für sein Grundbedürfnis der Wohnungsversorgung aufzuwenden. Ein entsprechendes System wäre dann über staatliche Wohnungs- und Eigenheim-Zwangsverbände zu realisieren. Es könnte entsprechende „soziale Bedarfsdeckung“ für alle lebenswichtigen Güter folgen, vom Bier bis zum Telefon. Am Ende stünde der volle nicht mehr nur Umverteilungs- sondern Verteilungsstaat früherer östlicher Prägung. 4. Die Antwort auf die Themenfrage des Vortrags lautet also eindeutig: Das Grundgesetz verlangt die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, solange sich eine solche aus sozialer Schutzbedürftigkeit rechtfertigt; es verlangt aber nicht, dass dies durch einen Beitragserhöhungsstopp geschehe, solange die erforderlichen Mittel noch auf anderen Wegen, durch Erstattungskürzungen bei den Kassen und durch Zuzahlung seitens der Patienten, zu beschaffen sind.

27 Dazu näher für viele Kemper, Michael, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl. 1999, Bd. 1, Art. 9 Rn. 78 ff. m. Nachw.

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XI. Ein Ausblick: Man sollte alle diese Sorgen nicht abtun als KassandraRufe und auch nicht als konservatives Bemühen um Besitzstandswahrung für „Reiche“ – Ärzte, Pharmahersteller, private Versicherer. Hier geht es um die Freiheit aller Bürger, hier muss den Anfängen ihrer Aushöhlung begegnet werden, bei jener Gesundheit, mit der das Leben beginnt und endet. Der Staat hat nicht in seiner Verfassung bestimmt und er hat in ihr keinem Gesetzgeber erlaubt festzulegen, was wir für dieses unser in der Tat höchstes irdisches Gut ausgeben können – oder gar ausgeben wollen. Der Staat schützt den Schwächeren, aber nicht alle Bürger sind schwächer. Und wir wollen doch alle stärker werden – fortes fortuna adiuvat – damit uns das Glück helfe; denn nicht nur unsere Wirtschaft – unsere Gesundheit braucht: viel Glück.

Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers Von Friedhelm Hufen I. Einleitung Die bereits in Kraft befindlichen und mehr noch die geplanten Maßnahmen der „Gesundheitsreform“1 werfen auf Seiten der Leistungserbringer (Ärzte, Krankenhausträger, Apotheker, Pharmaunternehmen usw.) zahlreiche verfassungsrechtliche Probleme auf. Deren Lösung wird durch eine im Vergleich zur sonstigen Rechtsprechung inkonsistente Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts erschwert. Diese betont partiell durchaus stärker als früher das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG). Dafür wenige Beispiele: Das Bundesverfassungsgericht hat in neuerer Zeit Werbeverbote für Ärzte, Apotheker und Anwälte erheblich gelockert2; es hat unter Berufung auf Art. 12 GG die Führung auch mehrerer Facharzttitel erlaubt3; es hat (wenn auch nur aus Kompetenzgründen) die Frischzellentherapie gerettet4; es hat Sozietätsverboten beim Anwaltsnotar und Wirtschaftprüfer eine Absage erteilt5 und die Singularzulassung von Rechtsanwälten beim Oberlandesgericht für verfassungswidrig erklärt6. Selbst „Heilige Kühe“ des deutschen Berufsrechts wurden, wenn nicht geschlachtet, so doch erheblich in Frage gestellt: so etwa im Bereich 1 Gesundheitsstrukturgesetz, BGBl. I 1992, 2266; Einführung von Altersgrenzen für Kassenärzte durch § 95 Abs. 7 S. 2 SGB V und § 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB V; Beitragssatzsicherungsgesetz, BGBl. I 2002, 4637. 2 BVerfGE 94, 372 (388) – Apotheker; BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 2000, 3195 – Rechtsanwälte; BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 2001, 2788 – Zahnarzt; allgemein zur Erschaffung der Kontrolldichte auch Lorz, Alexander, Die Erhöhung der verfassungsrechtlichen Kontrolldichte gegenüber berufsrechtlichen Einschränkungen der Berufsfreiheit, in: NJW 2002, 169; Sodan, Helge, Verfassungsrechtsprechung im Wandel – am Beispiel der Berufsfreiheit, in: NJW 2003, 257. 3 BVerfG DVBl. 2003, 62. 4 BVerfGE 102, 26. 5 BVerfGE 98, 49 (58). 6 BVerfGE 103, 1 (9 ff.).

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des Spielbankmonopols7, beim uneingeschränkten Meisterzwang8 und beim Ladenschluss – dort freilich nicht insgesamt, sondern nur im schmalen Segment der Apotheken9. Die Basis dieser Rechtsprechung bildet eine zunehmend differenzierte und dogmatisch sorgfältig argumentierende Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Zurückdrängung und Ausdifferenzierung der früher auf „vernünftige Belange des Gemeinwohls“, „wichtige“ und „überragend wichtige Gemeinschaftsgüter“ fixierten und die Berufsausübungsfreiheit vernachlässigenden „Dreistufentheorie“10. Dasselbe Gericht und insbesondere die zuständigen Kammern vernachlässigen die Berufsfreiheit aber geradezu notorisch, wenn es um die Kostenbegrenzung und den Erhalt des derzeitigen Systems der gesetzlichen Krankenversicherung geht11. Hier hat das Gericht in einer ganzen Kette von Entscheidungen Maßnahmen gegenüber den Leistungserbringern für verfassungskonform gehalten. Insbesondere hat es Altersgrenzen für die Zulassung zum Vertragsarzt bestätigt12, das Verbot der Simultanzulassung von Hausarzt und Facharzt für gerechtfertigt erklärt13 und die neuen Maßnahmen des Beitragssatzsicherungsgesetzes jedenfalls in Kraft treten lassen14. Die Begründung war dabei immer gleich: Die gesetzliche Krankenversicherung und die Kostenbegrenzung seien überragend wichtige Gemeinschaftsgüter, die Eingriffe in die Rechte der Betroffenen rechtfertige. Die Gründe dieser zunehmenden Diskrepanz sind allein mit methodischen Erwägungen oder gar mit einem spekulativen Blick auf die Zusammensetzung der zuständigen Kammern im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts nicht zu erklären. Den Hintergrund bildet vielmehr die umfassende Diskussion um die Krankenversicherung und deren Verankerung in einem bestimmten Verständnis von Sozialstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität. Dabei besteht über die Reformbedürftigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung als solches kaum mehr Streit15. Streit besteht jedoch über die Durchsetzung zweier weitgehend inkompatibler Reformmodelle, die sich 7

BVerfGE 102, 197 (213). BVerfG (Kammerbeschl.) NVwZ 2001, 187. 9 BVerfGE 104, 357. 10 BVerfGE 7, 377 (406); 39, 210 (225); 77, 308 (332). 11 Überblick über die Problemfälle bei Clemens, Thomas, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Bd. I, 1. Aufl. 2002, Anhang zu Art. 12 Rn. 68 ff. 12 BVerfG NJW 1998, 1776; BVerfG NJW 2001, 1779. 13 BVerfG NJW 1999, 2730. 14 BVerfG vom 26.03.2003, 1 BvR 112/03 – Pflichtrabatt; BVerfG vom 14.01.2003, 1 BvQ 51/02 – Absenkung der Preise für zahntechnische Leistungen; BVerfG vom 15.01.2003, 1 BvQ 53/02 – Rabattregelungen zu Lasten der Apotheker sowie 1 BQ 54/02 – Abschläge der pharmazeutischen Großhändler; BVerfG NVwZ-RR 2002, 802 – Vertragszahnärzte. 8

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vereinfachend wie folgt kennzeichnen lassen: Stärkung der Eigenverantwortung und der Marktkräfte auf der einen Seite16 und „Rettung“ des derzeitigen Systems durch Verbreiterung der Beitragsbasis und Kostensenkung auf der anderen Seite. Die derzeitige Politik – flankiert durch das Bundesverfassungsgericht – versucht fast um jeden Preis, die letztgenannte Lösung durchzuhalten. Den geistesgeschichtlichen und anthropologischen Hintergrund des derzeit noch „herrschenden“ Modells bildet das seit dem absolutistischen Zeitalter überkommene und auf den gegenwärtigen Sozialstaat projizierte Bild des patriarchalischen, für das Wohl seiner Bürger verantwortlichen Wohlfahrtsstaates. Volksgesundheit wird als öffentliche Aufgabe deklariert; Gerechtigkeit spielt insofern eine besondere Rolle. Dieses Bild erfreut sich nach wie vor erheblicher Akzeptanz und ordnet im Grunde die Werte „Sicherheit und Gerechtigkeit“ den Werten „Freiheit und Eigenverantwortung“ vor17. In diesem Modell haben Leistungserbringer grundsätzlich schon deshalb einen schweren Stand, weil die Leistungsverhältnisse entindividualisiert, distanziert und bürokratisiert sind. Es existiert kein Vertragsverhältnis zwischen Arzt und Patient; auf Seiten des Patienten entsteht Kostenbewusstsein nur in Hinblick auf die Höhe der Beiträge, nicht aber hinsichtlich der Kosten, die er verursacht. Das fördert das Anspruchsdenken und erfordert Apparate. Der Historiker Paul Nolte nennt dies das „System kollektiver Unverantwortlichkeit“18. Dagegen sind die Triebkräfte jeden Marktes unternehmerische Freiheit, Eigeninitiative und Gewinnstreben im Gesundheitsbereich nicht der gewollte und geschützte Normalfall, sondern ein im Grunde unmoralischer Versuch, „an der Krankheit der Menschen Geld zu verdienen“. Leistungsansprüche der Leistungserbringer gelten als im Grunde unangemessener Teilhabeanspruch am „Sozialbudget“. Die soziale „Verteilungsmentalität“ schlägt sich bis in literarischen Äußerungen von Sozialministern und sogar bis in die Begründungen von Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nieder, so etwa wenn bei „Vielverdienern“ die Berechtigung der honorarmäßigen Abstufung betont19 oder wenn erwähnt 15 Zur fehlenden Finanzierbarkeit etwa bereits Krämer, Walter, Medizin muss rationiert werden, MedR 1996, 1 ff. 16 So etwa Henke, K. D., Zukunftsbranche statt Kostenfaktor, FAZ vom 03.05.2003, S. 11; Haft, Fritjof, Reformbedarf beim System der gesetzlichen Sozialversicherung, in: ZRP 2002, 457 ff.; Merten, Detlef, Krankenversicherung zwischen Eigenverantwortung und Staatsversorgung, in: NZS 1996, 593 ff.; Maaß, Rainald, Wieviel Reform braucht die gesetzliche Krankenversicherung?, in: ZRP 2002, 462 (463). 17 Nolte, P., FAZ, Sonntagszeitung, 27.04.2003, S. 13; (zwischen Ost und West allerdings unterschiedliche Bevorzugung des „Sicherheits- und Gerechtigkeitsideals“ vor dem „Freiheitsideal“) Noelle, E., FAZ vom 27.11.2002. 18 Nolte (Fn. 17).

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wird, dass die progressiven Abschläge bei den Zahnarzthonoraren mit Blick auf deren Einstufung im oberen Segment des Einkommens besonders gerechtfertigt seien20. Erstes Ziel dieses Beitrags ist vor dem geschilderten Hintergrund die Besinnung auf die grundrechtliche Basis der Leistungserbringung in der gesetzlichen Krankenversicherung und die in den Grundrechten liegende Grundtendenz zur Selbständigkeit, die durch das System der „Leistungserbringer“ verloren zu gehen scheint21. Im folgenden wird es auf der Basis strikter Grundrechtsdogmatik darum gehen, Schutzbereiche, Eingriffe und Schranken der Berufsfreiheit zu verdeutlichen und schon vorhandene oder geplante Maßnahmen zu beurteilen. Der Schwerpunkt wird dabei auf der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) liegen, da die an sich nahe liegende Frage, ob Art. 14 GG nicht auch die „eingerichtete und ausgeübte Arztpraxis“ schützt, von der Rechtsprechung bisher stets verdrängt wurde22. Vernachlässigt werden kann auch die Prüfung der verschiedenen Varianten des Gleichheitssatzes. Sie läuft nach der neueren Rechtsprechung letztlich auf eine Verhältnismäßigkeitskontrolle von Ungleichbehandlungen hinaus23 und erfolgt damit im wesentlichen parallel zu Art. 12 GG. Ausgeklammert werden auch die europarechtlichen Bezüge24. Von großem verfassungsrechtlichen Interesse, hier aber nicht zu prüfen, sind ferner die eng mit der Grundrechtsproblematik zusammenhängenden „formellen“ Fragen, wie die der Gesetzgebungskompetenz25 und der Reichweite des Gesetzesvorbehalts gegenüber Änderungssatzungen der Exekutive in der Sozialversicherung26.

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LSG Baden-Württemberg, MedR 1996, 237. BVerfG NVwZ-RR 2002, 802. 21 Quaas, Michael, Zur Berufsfreiheit des Freiberuflers, insbesondere der Ärzte, in: MedR 2001, 34 ff. 22 Vgl. bereits BGH NJW 1996, 2377. 23 BVerfGE 91, 389, 401; Jarass, Hans, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. 2002, Art. 3 Rn. 27. 24 Dazu Pitschas, Rainer, Die Rolle des europäischen Wettbewerbsrechts für die Leistungserbringung im Gesundheitswesen, 2000; Kingreen, Thorsten, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003. 25 Zur fehlenden Gesetzgebungskompetenz zur bundeseinheitlichen Einführung von ärztlichen Qualitätssicherungssystemen etwa Riedel/Derpa, Kompetenzen des Bundes und der Länder im Gesundheitswesen, 2002. 26 Dazu Schnapp, Friedrich, Kompetenzkonflikte durch Normerlass im Kassenarztrecht, in: NZS 1997, 152; Axer, Peter, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000; Hebeler, Timo, Verfassungsrechtliche Probleme „besonderer“ Rechtsetzungsformen funktionaler Selbstverwaltung, in: DÖV 2002, 936. 20

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II. Der Schutzbereich der Berufsfreiheit 1. Der Leistungserbringer: Träger eines Freien Berufs – nicht „Gesundheitsbeamter“ Die Berufsfreiheit schützt nicht die staatlich geprägten Berufe des „Leistungserbringers“, des „Vertragsarztes“ oder des „Arzneimittelversorgers“, sondern nach wie vor die freien Berufe des Arztes, Apothekers oder Pharma-Unternehmers27. Auch die weitgehende staatliche Monopolisierung der Gesundheitsfürsorge macht aus Trägern dieser Berufe weder eine Art von staatlich „Beliehenen“28 oder gar „Halbbeamte“29. Vertragsärzte üben keine Hoheitsgewalt aus, sondern sie tragen das volle unternehmerische Risiko für sich selbst und ihre Mitarbeiter. Man kann nur hoffen, dass die im Jahre 1998 von einer Kammer des Bundesverfassungsgerichts angedeuteten „Systemzweifel“ nicht auf eine verfassungsgerichtlich sanktionierte halbstaatliche Alternative zum freien Beruf hinauslaufen30. 2. Freiheitsrecht, nicht Teilhaberecht Angesichts der bestehenden Abhängigkeit der Ausübung des Arztberufs von der vertragsärztlichen Zulassung und des hohen Anteils der Leistungen des „Systems“ am Einkommen des Arztes könnte die Frage nahe liegen, ob es im Hinblick auf die Grundrechtsposition noch um klassische Freiheitsrechte oder um im Grunde genommen bereits um die Teilhabe an staatlichen Leistungen geht. Wäre letzteres der Fall, dann wäre die Berufsfreiheit nicht mehr in ihrer klassischen Abwehrfunktion geschützt; es ginge nur um derivative Teilhaberechte am öffentlichen Leistungssystem31. 27 Exemplarisch BVerfGE 11, 30 (39); Hufen, Friedhelm, Inhalt und Einschränkbarkeit vertragsärztlicher Grundrechte, in: MedR 1996, 396; Sodan, Helge, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, S. 91 ff.; Schulin, Bertram, Verträge mit Leistungserbringern im Pflegeversicherungsrecht?, in: VSSR 1994, 285 (357, 360); Wigge, Peter, in: Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrecht, S. 21; Schnapp, Friedrich, ebenda, S. 65; Quaas (Fn. 21), S. 34; Boecken, Winfried, Der Status des Vertragsarztes: Freiberufler oder arbeinehmerähnlicher Partner im System der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Staat, Kirche, Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, 2001, S. 1091; jetzt auch Clemens (Fn. 11), Rn. 6 ff. 28 So dem Sinne nach aber Manssen, Gerrit, Das Kassenarztzulassungsrecht des SGB V, in: ZfSH/SGB 1994, 1 ff.; ähnlich K. Schmidt, Der Arzt ist kein freier Beruf, in: MMW 2001, 40. 29 Bogs, Harald, Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Spiegel des Arztsystems, in: Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, 1993, S. 715 (719). 30 BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 1998, 1776.

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Auch hier aber hat das Bundesverfassungsgericht schon früh klar gestellt, dass es bei der Zulassung zur Vertragsärzteschaft um die Ausübung eines Freiheitsrechts, nicht um Teilhabe an einem sozialen Sicherungssystem geht32. Das gilt nicht trotz, sondern gerade wegen der weitgehenden Verstaatlichung des Gesundheitswesens. Hier ist die Möglichkeit der Berufsaufnahme als solche von der Zulassung zum monopolisierten System abhängig. Der Zugang zum Status des Vertragsarztes berührt also die berufliche Existenz als solche und damit die Berufsfreiheit in ihrer „klassischen“ Abwehrfunktion, nicht lediglich in der Funktion als Teilhaberecht oder objektivrechtlicher Schutzauftrag. Nichtzulassung und Existenzgefährdung durch nicht kostendeckende Gegenleistungen sind also Grundrechtseingriffe, nicht lediglich Einschränkungen eines (stets nur derivativen, d. h. unter dem Vorbehalt des finanziell Möglichen stehenden) Teilhabeanspruchs. 3. Angemessene Vergütung Erfüllt ein Grundrechtsträger öffentliche Aufgaben und ist ihm das vertragliche Aushandeln des Preises mit dem unmittelbaren Leistungsempfänger verwehrt, so gehört der Anspruch auf eine angemessene, mindestens kostendeckende, Vergütung zum Schutzbereich von Art. 12 GG. Auch dies ist ein vergleichsweise einfacher, unter dem Kosten- und Einspardruck der budgetierten Leistungspauschalen und Punktsysteme der gesetzlichen Krankenversicherung aber anscheinend mehr und mehr in Vergessenheit geratender Grundsatz. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht schon früh den Zusammenhang von öffentlicher Aufgabenerfüllung und angemessener Vergütung herausgearbeitet und zuletzt im Falle der Vereinsbetreuer bestätigt33. Vergütungsregeln sind Eingriffe in die Freiheit der Berufswahl, wenn ein Existenzminimum unterschritten wird.34 Kostendämpfende Maßnahmen dürfen also nicht dazu führen, dass der Leistungserbringer Leistungen „unter Selbstkostenpreis“ anbieten muss. Hier ist eine deutliche verfassungsrechtliche Grenze gegen „Nullrunden“ und ähnliche „Kostenbremsen“ formuliert. Zu erwägen sind durchaus Leistungsverweigerungsrechte, wenn Leistung nicht angemessen honoriert wird35. Jedenfalls ist bei allen Sparmaßnahmen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einzuhalten36. Dessen Grenzen sind überschritten, wenn, systematisch und beab31 Zu den Grundlagen BVerfGE 33, 303 (329); zu den Grenzen BVerwG DVBl. 1997, 611 – Zahnarztausbildung; BerlVerfGH NJW 1998, 3632 – Behindertenfahrdienst. 32 BVerfGE 11, 30 (45) – Kassenarzt. 33 BVerfG NJW 2002, 2091; zuvor schon NJW 1999, 1621. 34 BVerfGE 47, 285 (321).

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sichtigt, Mehrleistungen nicht nur nicht honoriert werden, sondern sogar degressiv wirken. 4. Artikel 12 GG und die Preisbindung Die derzeitige „Reformgesetzgebung“ ist durch eine Fülle von Eingriffen in die ohnehin nicht mehr frei kalkulier- und aushandelbaren Preise für Gesundheitsleistungen und Medikamente gekennzeichnet. Nach den Kostendämpfungsmaßnahmen für die Ärzte geht der Druck seit einiger Zeit vor allem auf die Preisbildung für Medikamente. Unabhängig davon, ob solche Maßnahmen gerechtfertigt sind: Sie berühren jedenfalls den Schutzbereich von Art. 12 GG. Wettbewerb und Preisbildung über den Markt sind auch im Gesundheitswesen die durch Art. 12 GG geschützte Regel. Eingriffe durch Preisbindung, Negativ- und Positivlisten usw. sind auch hier die begründungsbedürftige Ausnahme. 5. Schutz gegen Monopolbildung und Monopolausweitung Die lange Geschichte der sozialen Pflichtversicherung lässt den grundrechtlichen Ausgangspunkt kaum noch erkennen: Jede Pflichtversicherung ist ein staatliches (Teil)-Monopol, das in den entsprechenden privaten Versicherungsmarkt eingreift und entsprechend rechtfertigungsbedürftig ist. Berufsfreiheit und Freiheit des Wettbewerbs schützen grundsätzlich vor der Bildung und Aufrechterhaltung staatlicher Monopole. Das wurde erst kürzlich sogar für den Schutz privater Ethikkommissionen gegenüber öffentlichen Ethikkommissionen bestätigt37. Jede Vermehrung der Zahl der Pflichtversicherten durch Anhebung der Bemessungsgrenze der staatlichen Pflichtversicherung stellt daher stets die Frage der Berufsfreiheit. Auch im Gesundheitswesen und in der Krankenversicherung schützt Art. 12 GG gegen die Ausdehnung der Versicherungspflicht zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung. Das gilt erst recht, wenn unter dem verharmlosenden Begriff der „Bürgerversicherung“ das öffentliche Monopol auf alle potentiellen Versicherungsnehmer ausgedehnt werden soll. 35 Wimmer, Raimund, Der Rechtsanspruch von Vertragsärzten auf angemessene Vergütung, in: MedR 1998, 533; ders., Dürfen Vertragsärzte unrentable Leistungen verweigern?, in: NZS 2000, 588; ders., FAZ vom 22.01.2003, S. 8. 36 BVerfGE 101, 331 (347). 37 VGH Mannheim DÖV 2003, 162; zuvor bereits Schenke, Wolf-Rüdiger, Verfassungsrechtliche Probleme einer öffentlichrechtlichen Monopolisierung der ethischen Beratung bei klinischen Versuchen am Menschen, NJW 1996, 745.

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III. Eingriffe 1. Berufswahl und Berufsausübung Grundrechtseingriffe durch Maßnahmen der Gesundheitsreform und deren Rechtfertigung sind nach den allgemeinen Regeln der Grundrechtsdogmatik und der Interpretation von Art. 12 GG zu unterscheiden und zu beurteilen. Nach diesen wiegen Eingriffe in die Freiheit der Berufswahl schwerer als Eingriffe in die Berufausübung38. Zu beachten ist aber, dass Berufsausübungsregelungen einzeln oder erst recht kumulativ ein solches Gewicht erreichen können39, dass sie den Leistungserbringer in seiner beruflichen Existenz gefährden. Dann – so hat das Bundesverfassungsgericht schon früh entschieden – liegen nicht nur einer oder mehrere Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit vor, es kommt vielmehr zu einem Eingriff in die Berufswahl40. Insofern kann sich selbst die von Clemens41 angebotene „Fünf-Stufen-Theorie“ als nicht hinreichend differenziert erweisen. 2. Altersgrenzen als (objektiver) Berufswahleingriff Altersgrenzen und bedarfsorientierte Zulassungsschranken zur gesetzlichen Krankenversicherung wurden vom Bundesverfassungsgericht42 als Berufsausübungsregeln betrachtet. Gedanklicher Hintergrund ist wohl die Vorstellung, der Arzt könne seinen Beruf auch unabhängig von der Vertragsarztzulassung ausüben. Eine solche Argumentation ist bei einem Versorgungsgrad von annähernd 90% der Bevölkerung und der abnehmenden Zahl von „Privatpatienten“ nicht nur lebensfremd, sondern auch verfassungsrechtlich nicht haltbar. Auch in einem weiteren Punkt ist die Rechtsprechung inkonsequent: Während subjektive Berufszulassungsschranken stets mit „Beeinflussbarkeit“ gleichgesetzt werden und objektive dem entsprechend mit „nicht beeinflussbar“, geht die Rechtsprechung seit langem davon aus, dass Alters38

BVerfGE 7, 377 (406). Dazu Hufen, Friedhelm, Diskussionsbeitrag zum Thema „Der Grundrechtseingriff“, in: VVDStRL 57 (1998), 131; Lücke, Jörg, Der additive Grundrechtseingriff sowie das Verbot der übermäßigen Gesamtbelastung des Bürgers, in: DVBl. 2001, 1469. 40 Hufen, Friedhelm, Berufsfreiheit – Erinnerung an ein Grundrecht, NJW 1994, 2913 (2918); zum Arztrecht Laufs, Adolf, Immer weniger Freiheit ärztlichen Handelns, NJW 1999, 2717. 41 Clemens (Fn. 11), Rn. 86 ff. 42 BVerfG NJW 1998, 1776. 39

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grenzen subjektive Zulassungskriterien sind43. Dabei wird zum einen verkannt, dass der Einzelne sein Alter nicht beeinflussen kann. Gravierender aber ist die eigentliche Motivation: Es geht nicht um Qualifikation, Leistungsfähigkeit usw. (wie in den angesprochenen Fällen der Altersgrenze für Busfahrer, Flugkapitäne usw.), sondern um eine schlichte Bedarfssteuerung, also die besonders strengen Rechtfertigungsanforderungen unterliegende „klassische“ objektive Berufszulassungsschranke44. 3. Weitere typische Eingriffe Das Verbot der simultanen Zulassung als Haus- und als Facharzt stellt in ähnlicher Weise einen Eingriff in die Berufswahlfreiheit dar. Es zwingt dazu, entweder eine verfassungsrechtlich geschützte erworbene (Facharzt-) Qualifikation nicht wahrnehmen zu können, oder aber wichtige Teile der Patientenschaft nicht betreuen, also einen erlernten Beruf teilweise nicht ausüben zu können. Auch dies darf nicht als „reine Berufsausübungsregelung“ verharmlost werden45. Demgegenüber stellen Honorarbegrenzungen, Zwangsrabatte, Positivund Negativlisten für Medikamente usw. – jedenfalls unterhalb der Schwelle der Existenzgefährdung – Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung dar46. Hier geht es nicht etwa um in größter Freiheit aushandelbare Preise im Rahmen eines „fiskalischen Hilfsgeschäfts“, sondern um einen hoheitlichen Eingriff in einen grundsätzlich privat bestimmten Markt. In einem staatlich fast völlig monopolisierten Bereich handelt es sich bei Preisgrenzen eben nicht nur um reduzierte Leistungsangebote, sondern um ein einseitiges Diktat, das durch die ohnehin illusorische Preisbildung im nicht monopolisierten Bereich für Hersteller und Apotheker nicht kompensierbar ist47. Nicht einmal der Schutzbereich soll nach der „Glykolweinentscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts48 berührt sein, soweit es um bloße Patienten- und Verbraucheraufklärung geht. Auch diese ist ein wichtiges Mittel 43 BVerfGE 9, 338; 64, 72 (82); BVerfG NJW 1998, 1776; auch Pieroth, Bodo/ Schlink, Bernhard, Staatsrecht II, 19. Aufl. 2003, Rn. 832a. 44 BVerfGE 7, 377 (408). 45 So aber BSG NJW 1999, 888; BVerfG MedR 1999, 560. 46 So auch Link, Christoph/de Wall, Heinrich, Verfassungsanforderungen an die Honorarverteilung im Vertragsarztrecht – insbesondere im Blick auf ärztliche Minderheitsgruppen, in: VSSR 2001, 69. 47 Gerechtfertigt durch BSG NJW 1999, 2762; entgegen Axer, Peter, Die Vorschlagsliste nach § 33a SGB V, in: NZS 2001, 225. 48 BVerfGE 105, 252 (265 ff.).

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im Rahmen der Gesundheitsreform. Demgegenüber ist aber jedenfalls daran festzuhalten, dass konkrete produktbezogene Warnungen und Vergleiche sehr wohl den Grad des rechtfertigungsbedürftigen Eingriffs in Art. 12 GG annehmen können49. 4. Änderung der Bemessungsgrenze – Einführung der „Bürgerversicherung“ Wie jede Einrichtung oder Erweiterung staatlicher Monopole stellen auch die Änderung der Bemessungsgrenze der Pflichtversicherung sowie erst recht die Einführung einer alle Bürger erfassenden Zwangsversicherung und andere Formen der Ausdehnung der gesetzlichen Pflichtversicherung Eingriffe in die Berufsfreiheit privater Versicherungsunternehmen dar. Auch hier ist die in den letzten Jahren erheblich strengere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu anderen Bereichen zu beachten: Während dieses Gericht in der Anfangszeit eher großzügig mit der Rechtfertigung staatlicher Monopole umging50, hat es selbst im Spielbankbereich kürzlich von objektiven Zulassungsschranken gesprochen51. Schon früher war unbestritten, dass jedenfalls die Betätigung für freie Unternehmer möglich bleiben muss und staatliche „Konkurrenz“ der Rechtfertigung bedarf52. Dagegen spricht auch nicht die Bestätigung der obligatorischen Pflegeversicherung durch das Bundesverfassungsgericht53. Zum einen betrifft die Pflegeversicherung insofern einen Sonderfall, als es hier eindeutig um die Verhinderung des Entstehens zahlreicher Sozialhilfefälle geht; zum anderen gab es im Bereich der Pflegeversicherung nicht bereits ausgeprägte und leistungsfähige private Versicherungssysteme vergleichbaren Ausmaßes, die es erlauben würden, dass sich Deutschland auch im Hinblick auf die Kranken49 Spaeth, Wiebke, Grundrechtseingriff durch Information, 1995, S. 79 ff.; Murswiek, Dietrich, Staatliche Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriffe, in: DVBl. 1997, 1021; ders., Das BVerfG und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe, in: NVwZ 2003, 1 ff; Lege, Joachim, Nochmals: Staatliche Warnungen, in: DVBl. 1999, 569. 50 BVerfGE 10, 141; 14, 105 (111) – Branntwein und Zündwaren. 51 BVerfGE 102, 197 (213). 52 Breuer, Rüdiger, Freiheit des Berufs, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, § 148 Rn. 66 f.; Papier, Hans-Jürgen, Staaliche Monopole und Berufsfreiheit – dargestellt am Beispiel der Spielbanken, in: Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 543; Pieroth/Schlink (Fn. 43), Rn. 829; gegen das Postmonopol mit überzeugenden Argumenten Kämmerer, Jörn Axel, Die Verlängerung der Exklusivlizenz der Deutschen Post AG – ein Privatmonopol im Zwielicht, in: DVBl. 2001, 1705. 53 BVerfG NJW 2001, 707.

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versicherung als Land der „Weltmeister der öffentlichrechtlichen Assekuranz“ erweist54. Zumal die derzeit vieldiskutierte „Bürgerversicherung“, also die Einbeziehung aller Bevölkerungs- und Einkommenskreise in die gesetzliche Krankenversicherung wäre nicht nur ein Eingriff in die Rechte der Betroffenen, bei dem es nicht etwa um die Segnung sozialer Absicherung, sondern um nichts anderes als die Erschließung neuer Finanzquellen und die Komplettierung eines bedenklichen Versicherungsmonopols geht. Zu prüfen wäre hier, ob es sich bei einer solchen Zwangsversicherung nicht in Wirklichkeit um eine verkappte Sonderabgabe handelt, die nach der insofern durch das Bundesverfassungsgericht immer wieder bestätigten Rechtsprechung nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist55.

IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Eingriffe – Spielraum des Gesetzgebers 1. Eine immer deutlichere Diskrepanz Betrachtet man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur „Gesundheitsreform“, so fällt auf, dass diese die in anderen Bereichen geltenden Kriterien und Prüfungsmaßstäbe zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Berufsfreiheit nicht einhält. Hier wird jedes nur denkbare Argumentationsmuster zur Zurücknahme des verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstabs eingesetzt, um die Rechtfertigung von Eingriffen zu begründen. Insbesondere die selbst gesetzten Prämissen einer ansonsten immer strikteren Prüfung der Verhältnismäßigkeit geraten aus dem Blick. Immer wieder bestätigt sich der Eindruck, dass sich das Gericht auf die Erhaltung des gegenwärtigen Systems der Krankenversorgung ohne Beachtung denkbarer Alternativen festgelegt und die Kostenstabilität als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut56 installiert hat – bei durchgängiger Vernachlässigung anderer Rechtsgüter und Ziele von Verfassungsrang. Das geht sogar soweit, dass die Kontrollierbarkeit der Kosten ausdrücklich als Rechtfertigungsgrund für kostenorientierte Eingriffe gesehen wird57, obwohl in anderen Bereichen die effizientere Kontrolle von Verwaltungsmaßnahmen gerade keinen Grund für Eingriffe bieten soll58. Die Kostenersparnis wird pauschal 54 55 56 57 58

Steiner, U., FAZ vom 03.06.2003, S. 7. BVerfGE 81, 156 (187); 101, 141 (146). BVerfG NJW 2001, 1779 (1780). Beispiel: GmbH-Verbot für Gemeinschaftspraxen. LSG Berlin MedR 1995, 512; BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 1998, 2811.

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als Gemeinwohlbelang betrachtet59, die Summe der Härten für den einzelnen Betroffenen wird dabei nicht gesehen. 2. Die missverstandene „Einschätzungsprärogative“ Bei der Prüfung von Eingriffen im Bereich der gesetzliche Krankenversicherung zieht sich das Bundesverfassungsgericht nahezu völlig aus der „Eignungskontrolle“ zurück und verwendet dabei die in anderen Bereichen entwickelte Formel von der „Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers“60. Stereotyp wird betont, das Bundesverfassungsgericht dürfe seine eigene Erwartung auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen61. Verkannt wird dabei aber der Ausgangspunkt dieser Formel: Dieser ist die sich dem Gesetzgeber stellende unklare „Beweislage“ und die Notwendigkeit wirtschafts- und sozialpolitischer Prognosen für bestimmte Maßnahmen. Im Bereich der Gesundheitsreform erscheint dieser Gedanke aber auch fortwährend außerhalb solcher Prognoseentscheidungen, das heißt bei konkreten Eingriffen, und verselbstständigt sich62. Dabei muss der Grundsatz gelten: Je konkreter der Eingriff, desto konkreter die Eignungskontrolle63. Das Gericht verschließt sich aber ständig die Möglichkeit zu einer wenigstens oberflächlichen Plausibilitätskontrolle und wird blind für durchaus nicht mehr ungewisse Misserfolge und negative „Streueffekte“. Hingewiesen sei nur auf den Hamsterradeffekt bei Praxisbudgets, die massenhaften Mitnahmeeffekte64, die Erhöhung der Kosten des einzelnen Arztbesuches bzw. der einzelnen Packung durch pauschale Rezeptgebühr und „Arztbesuchsgebühr“, die Flucht in verschreibungsfähige Medikamente durch die fehlende Erstattungsfähigkeit nicht verschreibungsbedürftiger Medikamente65, die Behinderung der integrativen Medizin durch die strikten Fachgebietsbegrenzungen66 und die im Einzelfall durchaus kostenträchtige Wirkung des vorgeschalteten Hausarztbesuches vor dem Weg zum Facharzt. 59 Exemplarisch BVerfG (Kammerbeschl.) vom 26.3.2003, 1 BvR 112/03 – Medikamentenrabatt. 60 BVerfGE 77, 84 (106); 87, 363 (383). 61 Kritisch Papier, Hans-Jürgen, Art. 12 GG – Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, DVBl 1984, 804; Tettinger, Peter, Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung, in: DVBl. 1999, 679. 62 BVerfGE 77, 308 (332); 90, 145 (173); BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 1997, 791. 63 BVerfGE 87, 363 (382). 64 Prinz/Vogel, FAZ vom 17.11.2001, S. 15. 65 FAZ 10.6.2003. 66 Zu deren Zulässigkeit bereits LSG Berlin MedR 1995, 418.

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Darüber hinaus sei die Frage erlaubt, ob nicht insgesamt die fehlende Eignung der Reform nach zwanzigjähriger Dauer der Reform und mehr als 7.000 Gesetzesänderungen67 auch „verhältnismäßigkeitsrelevant“ längst erwiesen ist. 3. Erforderlichkeit und Zumutbarkeit: Kein Blick auf mildere Mittel Während in anderen Bereichen wenigstens auf der Erforderlichkeitsstufe die Prüfung strenger wird, vernachlässigt das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung von Maßnahmen der „Gesundheitsreform“ geradezu systematisch den Blick auf mildere, d.h. für den Einzelnen weniger eingreifende Alternativen, sobald diese als „Systemwechsel“ erscheinen. So vermutet das Gericht etwa im Beschluss über Festbeträge für Leistungen68, die Abkehr vom Sachleistungsprinzip sei ein gravierender Eingriff in das System der Krankenversorgung, fragt aber nicht, inwiefern gerade die Festbeträge ein gravierender Eingriff in die Freiheit der Leistungserbringer sind. Durchweg werden also der Eingriffscharakter von Kostendämpfungs- und Umverteilungsmaßnahmen innerhalb staatlich regulierter und monopolisierter Berufsfelder verkannt und damit subjektive Härten fehlerhaft eingeschätzt, die notwendige Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bzw. der Zumutbarkeit wird verkürzt. Da werden Umsatzschmälerungen erst gar nicht als Eingriff, sondern nur als wirtschaftlicher Reflex69 gesehen, die Praxiszulassung als bloße Erwerbschance abgetan70. Entsprechendes gilt für Höchstpreise für Arzneimittel und die Sicherung der finanziellen Existenzgrundlagen der Ärzte. Demgegenüber erscheint die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung als alles überragender Gemeinwohlbelang71, ja es wird sogar als gleichheitswidrig dargestellt, wenn im Falle eines schwerwiegenden Einzeleingriffs eine punktuelle Korrektur durch das Gericht erfolgen würde72.

67 Sodan, Helge, Das Beitragssatzsicherungsgesetz auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, in: NJW 2003, 1761. 68 BVerfG NJW 2003, 1232. 69 BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 1997, 791. 70 BVerfGE 70, 1 (23). 71 Letztlich verselbstständigt sich sogar der Aspekt gesellschaftlicher Solidarität: Wenn alle Opfer bringen müssen zur Sanierung der Krankenversicherung, dann ist es pauschal zumutbar, dass z. B. „Ärzte als Besserverdienende“ einen Beitrag zu dieser Sanierung leisten. 72 BVerfG (Kammerbeschl.) vom 26.03.2003, 1 BvR 112/03.

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V. Konsequenzen für einzelne Reformmaßnahmen Würde das Bundesverfassungsgericht die eigenen strengen Kriterien zu Art. 12 GG auch bei der Beurteilung von Maßnahmen der Gesundheitsreform anlegen, so hätte dies folgende Konsequenzen: – Altersgrenzen bei dem Zulassungs- und Versorgungssystem aus reinen Bedarfsgründen wären als verfassungswidrig abzulehnen. Altersgrenzen in Bezug auf abnehmende Leistungsfähigkeit wären Sachen des Arztrechts und hätten im Sozialversicherungsrecht nichts zu suchen. Die Kritik der Literatur ist insofern nahezu einhellig73. – Ebenso wenig haltbar wäre das Verbot der gleichzeitigen Zulassung als Haus- und als Facharzt und ähnliche gesetzliche Eingriffe in erworbene und verfassungsrechtlich geschützte Qualifikationen. Wenn das Gericht – sehr zu Recht – darauf hinweist, dass aus Art. 12 GG das Recht zur Führung gegebenenfalls mehrerer Facharztqualifikationen nebeneinander abzuleiten ist74, dann ist nicht einzusehen, warum die gleichzeitige Zulassung als Hausarzt und als Facharzt nicht erlaubt sein soll75. – Streng ist das Gericht in neuerer Zeit auch mit Sozietätsverboten umgegangen. Aufgehoben wurde ein solches für Anwaltsnotare und Wirtschaftsprüfer76. Das Verbot der Führung einer Praxis in Form einer juristischen Person wurde aber wie selbstverständlich entgegen der nahezu vollständigen Fachliteratur77 gehalten78. 73 Becker, Ulrich, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Vertragsärzte am Beispiel der zulassungsbezogenen Altersgrenzen, in: NZS 1999, 521; Zur unteren Altersgrenze Hufen (Fn. 27), S. 402; Sodan (Fn. 27), S. 344; Muschallik, Thomas, Zur Verfassungsmäßigkeit der Altersgrenze von 55 Jahren für die vertragszahnärztliche Zulassung, in: MedR 1997, 109; zur Gebietsbeschränkung bereits Hidien, Jürgen, Anmerkung zu BVerfG vom 27.4.2001, 1 BvR 1282/99, in: DVBl. 2002, 402; Nussberger, Angelika, Altersgrenzen als Problem des Verfassungsrechts, in: JZ 2002, 524; zum Problem einer enteignenden Wirkung Boecken, Winfried, Art. 14 GG und die Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung wegen Erreichens der Altersgrenze, in: Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, Festschrift für Winfried Brohm zum 70. Geburtstag, 2002, S. 231, anders aber BVerfG NJW 1998, 1776 – Höchstaltersgrenze 68; BVerfG NJW 2001, 1779 – Altersgrenze 55; Schnapp/Wigge (Fn. 27), S. 72; Gitter, Wolfgang, Gesetzliche Altersgrenezn für die Zulassung und Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit, in: Europas universale rechtsordnungspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends, Festschrift für Alfred Söllner zum 70. Geburtstag, 2000, S. 367 ff. 74 BVerfG NJW 2003, 879. 75 Anders BSG NJW 1999, 888 und BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 1999, 2730. 76 BVerfG NJW 1998, 2269. 77 Taupitz, Jochen, Zur Verfassungswidrigkeit des Verbots, ärztliche Praxen in Form einer juristischen Person des Privatrechts zu führen, in: NJW 1996, 3033; Preißler, Reinhold, Das verfassungswidrige Verbot der überörtlichen Ärztesozietät,

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– Honorarbegrenzungen staatlicher Art kämen nur als Korrelat zu geringerer Leistungserbringung und Aufgabenwahrnehmung in Betracht. Sie dürften die wirtschaftliche Existenzgrundlage von Arztpraxen und Apotheken nicht gefährden79. – Höchstpreise, Zwangsrabatte, Positiv- und Negativlisten wären durchweg unverhältnismäßige, weil undifferenzierte Markteingriffe, denn sie stellen in der Regel nur auf den bloßen Preisvergleich und allenfalls die Wirksamkeit, nicht aber auf die unternehmerische Gesamtleistung – auch im Bereich der Forschung und Innovation – ab. Das beweist nicht zuletzt der Blick auf die bereits vorhandenen gesetzlichen Preisregelungen in den §§ 78, 79 AMG, die die Sicherung der Arzneimittelversorgung auch in Krisenzeiten sicher stellen sollen. Reine Kostenersparnis ist hier weder ein gesetzlicher Grund, noch sind die Regelungen undifferenziert. § 78 Abs. 2 AMG bezieht vielmehr ausdrücklich berechtigte Interessen der Beteiligten ein. § 79 greift zum äußersten Mittel der Pauschalierung nur in Krisenzeiten. Festpreise und Zwangsrabatte laufen im Übrigen immer auf eine Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte, also einem Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz hinaus80. Im Übrigen hat auch bereits die EU-Kommission die Frage der Vereinbarkeit der von den Mitgliedsstaaten auf dem Gebiet der Arzneimittel-Preiskontrolle und Kostenerstattung getroffenen Maßnahmen mit Art. 30 EGV aufgeworfen81. Auch hier zeigt also der Vergleich zu anderen Fällen und Problemgruppen, dass die undifferenzierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Arzneimittelpreisbegrenzung und insbesondere die stereotype Wiederholung der Kostenbegrenzung als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut letztlich keinen Bestand haben kann82. Es wird sogar die Unzuin: MedR 2001, 543; Römermann, Volker/Schulte, Mark, Werberecht und Verbot der überörtlichen Gemeinschaftspraxis nach der neuen ärztlichen Musterberufsordnung, in: MedR 2001, 178; skeptisch auch Schnapp, Friedrich/Kaltenborn, Markus, Die gemeinschaftliche Berufsausübung niedergelassener Ärzte aus berufsrechtlicher, vertragsarztrechtlicher und verfassungsrechtlicher Perspektive, in: SGb 2001, 101 ff. 78 BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 2001, 3416; zum Problem Wahl, Andreas, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, 2001; Schnapp, Friedrich, Rechtsfragen der gemeinschaftlichen Berufsausübung von Vertragsärzten, 2002. 79 So zu Recht Wimmer (Fn. 35, MedR), S. 533; ders. (Fn. 35, NZS), S. 588; zu den degressiven Punktwerten auch Wigge, Peter, Der degressive Punktwert in der vertragszahnärztlichen Versorgung, in: NZS 1995, 529. Zur Existenzgefährdung zahlreicher Kassenarztpraxen FAZ vom 27.03.2002, S. 15. 80 Ähnlich kritisch zur Positivliste auch Axer (Fn. 47), S. 233. 81 ABl. EG Nr. 10 vom 04.12.1986, 310; Hanika, Heinrich, Europäisches Arzneimittelrecht, MedR 2000, 63 (67). 82 BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 1999, 3404; BVerfG (Kammerbeschl.) NJW 2000, 1781.

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mutbarkeit des pauschalen Preisabschlags bestätigt; dies aber nur bei privat verkauften Arzneimitteln – nicht bei vorwiegend in der gesetzlichen Krankenversicherung verordneten. – Direkte produktbezogene Warnungen und Vergleiche sind nur gerechtfertigt, wenn sie auf Grund sachgerechter Recherche erfolgen, inhaltlich wahrheitsgemäß und verhältnismäßig sind und den Vorrang eigener Maßnahmen des betroffenen Unternehmers beachten. – Die Heraufsetzung der Pflichtversicherungsgrenze und andere Formen der Ausdehnung der gesetzlichen Pflichtversicherung wären unverhältnismäßige Eingriffe in die Berufs- und Wettbewerbsfreiheit der Versicherer, würde die ansonsten so konsequente Rechtsprechung zum Verstoß von Monopolen gegen Art. 12 GG auch auf den Gesundheitsbereich angewandt werden83. Die Vergrößerung des Beitragsaufkommens kann wie andere fiskalische Maßnahmen aus rein kostenorientierten Gründen jedenfalls kein staatliches Monopol und dessen Erweiterung rechtfertigen84. VI. Schlussbemerkung: Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Durchführung wirklicher Reformen 1. Kein Spielraum für weitere Eingriffe in Grundrechte der Leistungserbringer Betrachtet man die Summe der schon eingetretenen Belastungen für die Leistungserbringer im Gesundheitswesen und ihre Unvereinbarkeit mit den bei der Interpretation der Berufsfreiheit in anderen Bereichen maßgeblichen Kriterien, dann wird deutlich, dass – auch verfassungsrechtlich gesehen – der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zur Durchführung weiterer „systemerhaltender“ und rein kostenorientierter Reformmaßnahmen geringer ist, als durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konzediert. Würde dasselbe Gericht seine Rechtsprechung zu anderen Bereichen der Berufsfreiheit auf die gesetzliche Krankenversicherung anwenden, dann wären viele der ergriffenen Maßnahmen verfassungswidrig. Da aber nach dem Dafürhalten der meisten Experten die Strategie des „Systemerhalts um jeden Preis“ schon angesichts der demographischen Entwicklung der Bevölkerung nicht funktionieren wird85, wird sich auch die Formel der Kostenbegrenzung als „überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ von selbst erledi83

BVerfGE 102, 197 (213). BVerfGE 102, 197 (213). 85 Vgl. die Aussage der zuständigen Ministerin, wonach die nächste Reform bereits in wenigen Jahren unabdingbar sein wird. 84

Grundrechte der Leistungserbringer und Gestaltungsspielraum

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gen. Gleiches gilt für „Reformen“, die allein auf eine Verbreiterung der Einnahmenseite zielen und unter dem geradezu verbrauchertäuschenden Etikett der „Bürgerversicherung“ das Versicherungsmonopol des Staates ausdehnen wollen: „Mehr Versicherte erzeugen mehr Ansprüche“ – mit dieser simplen Formel wird eine ernstzunehmende Eignungsprüfung das verfassungsrechtliche „Aus“ für solche Modelle einläuten. 2. Großer verfassungsrechtlicher Spielraum für wirkliche Reformen Dagegen wäre der gesetzgeberische Spielraum zur Durchführung einer wirklichen Reform der Krankenversicherung aus verfassungsrechtlicher Sicht erheblich größer als oft dargestellt. Das gilt sowohl für die Verwirklichung von Modellen einer gesetzlichen „Grundversorgung“ und einer eigenverantwortlichen markt- und wettbewerbsorientierten Zusatzversorgung als auch für „Bonusoptionen“, die beim Versicherten Interesse an preiswerten Leistungen erzeugen. Wichtig ist es insbesondere, das Verhältnis von Patient und Leistungserbringer der Anonymität und wechselseitiger finanzieller Unverantwortlichkeit zu entreißen, in denen es sich nach der derzeitigen Rechtslage befindet. Eigenverantwortung und nur subsidiäre Haftung der Solidargemeinschaft für wirklich Bedürftige statt kostenloser „Rundumversorgung“ für alle – so lautet die langfristige Perspektive auch in der gesetzlichen Krankenversicherung. Anders als bei Teilen der Rentenversicherung86 bildet Art. 14 GG bei der Krankenversicherung insofern keine Schranke. Als typische Risikoversicherung ohne Existenz sichernde Funktion werden hier keine Eigenleistungen angespart, die in ihrer Substanz durch Art. 14 GG geschützt sind. Werden die Rechte von chronisch Kranken und an Behinderungen leidenden Patienten angemessen abgesichert, dann bestehen auch im Hinblick auf die Schutzpflicht gemäß Art. 2 Abs. 2 GG für Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 3 Abs. 3 GG und das Sozialstaatsprinzip keine Bedenken. Für die betroffenen Leistungserbringer mag es angesichts der geschilderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegenwärtig geradezu „hoffnungslos“ erscheinen, das so wichtige Grundrecht der Berufsfreiheit vor dem Bundesverfassungsgericht geltend zu machen87. Umso mehr kommt es darauf an, auf die inneren Wi86 Zum Eigentumsschutz für bestimmte – allerdings nur durch Eigenleistung erworbene – Anwartschaften exemplarisch BVerfGE 69, 272 (304); zu den Grenzen BVerfGE 97, 271 (285) – Hinterbliebenenrente; Übersicht bei Lenze, Anne, Die Rentenanpassung unter dem Eigentumsschutz des Grundgesetzes, in: NJW 2003, 1427. 87 Ähnlich kritisch Bonvie, Horst, Aktuelle Fragen des ärztlichen Berufsrechts, in: MedR 2002, 338 (345).

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dersprüchlichkeiten und die zunehmende Distanz zur sonstigen Rechtsprechung desselben Gerichts hinzuweisen. Hoffnung entsteht vielleicht aus Europa oder daraus, dass die Systemfehler der gegenwärtigen gesetzlichen Krankenversicherung so offenkundig werden, dass sich wirkliche, die Freiheiten der Leistungserbringer wahrende Reformen nicht mehr aufschieben lassen.

Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung Von Raimund Wimmer I. Rechtsquellen des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung Die gesetzliche Krankenversicherung finanziert sich ausschließlich aus den Beiträgen der Mitglieder und der Arbeitgeber (§ 3 SGB V). Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und die damit einhergehenden Kosten haben die Beitragssätze so ansteigen lassen, dass der Bundesgesetzgeber seit rund 15 Jahren nicht endenwollende Maßnahmen zur Systemstabilisierung ergriffen hat1. Die wohl gravierendste war die gesetzliche Verankerung einer streng einnahmeorientierten Ausgabenpolitik im SGB V mittels des Gebots strikter Beitragssatzstabilität. Das GesundheitsReformgesetz hat dieses Gebot zunächst zum 01.01.1989 in Ansätzen eingeführt. Das Gesundheitsstrukturgesetz hat den Grundsatz 1993 verfestigt, und das GKV-Gesundheitsreformgesetz hat ihm seine ab dem Jahre 2000 geltende Fassung gegeben. Jüngstes Produkt zur Sicherung der Beitragssatzstabilität ist das am 01.01.2003 in Kraft getretene Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG)2; es will durch eine Vielzahl von Maßnahmen ebenfalls Beitragssatzerhöhungen verhindern und damit die Finanzgrundlage der Krankenversicherung bis zu einer grundlegenden Reform stabilisieren. Dessen Artikel 5 und 7 schließen für 2003 Beitragserhöhungen nahezu gänzlich aus. Schließlich will der vorliegende Entwurf eines Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes (GMG-Entwurf) durch zahlreiche Systemveränderungen die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung wieder bezahlbar machen. Nach § 4 Abs. 4 SGB V sind Beitragserhöhungen ausgeschlossen, es sei denn, die notwendige medizinische Versorgung wäre auch nach Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven ohne Beitragssatzerhöhungen nicht zu 1

Vgl. etwa deren Auflistung in BVerfGE 103, 172 (186 ff.). Das Gericht stellt fest, keine dieser Maßnahmen hätte „nachhaltig“ gewirkt, a. a. O., S. 189. 2 Vom 23.12.2002, BGBl. I S. 4637, vgl. dazu die Eilentscheidungen des BVerfG vom 14. und 15.01.2003, 1 BvQ 51, 53 und 54/2002.

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gewährleisten. Die zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern jährlich abzuschließenden Vergütungsvereinbarungen können nur noch über dieses „ausgebremste“ Beitragsvolumen disponieren (§ 85 Abs. 3 S. 2, § 141 Abs. 2 S. 3 SGB V)3. § 71 Abs. 2 und 3 SGB V legt das Verfahren fest, nach dem die hiernach möglichen jährlichen Veränderungsraten auf der Grundlage der jeweils vorjährigen Einnahmeentwicklung zulässig sind. Für die stationäre Versorgung hat der Grundsatz der Beitragssatzstabilität in § 6 Abs. 3 Bundespflegesatzverordnung Eingang gefunden; dort finden sich auch (geringfügige) Ausnahmemöglichkeiten. II. Auswirkungen des Stopps von Beitragserhöhungen für Versicherte und Leistungserbringer Die gesetzlichen Regelungen haben den Anstieg der Beitragssätze der Versicherten verlangsamt. Immerhin beträgt aber der bundesdurchschnittliche Beitragssatz unterdessen 14,3% des Bruttolohnes. Er dürfte in diesem Jahre auf 14,8%, möglicherweise bis auf 15% ansteigen. Die nur noch geringfügig gewachsenen Einnahmen haben ab 2001 zu Milliardendefiziten des Systems, zu einer Verschuldung der gesetzlichen Krankenkassen von angeblich 11,3 Milliarden e und auch zu Leistungseinschränkungen für die Versicherten geführt, die allerdings – aufs Ganze gesehen – noch nicht als einschneidend zu bezeichnen sind4. Hingegen beklagten die Leistungserbringer, unter ihnen insbesondere die Vertragsärzte, das System der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung sei spätestens durch das gesetzliche Beitrags-Erhöhungsverbot massiv unterfinanziert. Die Folge sei, dass die in den einzelnen KV-Bezirken gemäß § 85 Abs. 4 SGB V durch die Honorarverteilungsmaßstäbe zur Verfügung stehende Verteilungsmasse einer wachsenden Zahl von Vertragsarztgruppen keine auskömmliche Vergütung mehr gewährleiste. Die KV-Honorare deckten für deren Mitglieder nicht einmal mehr die Kosten ihrer sparsam und wirtschaftlich geführten, voll ausgelasteten vertragsärztlichen Praxen und ließen keinen oder nur einen äußerst geringen „Arztlohn“ übrig. Die im Beitragssatzsicherungsgesetz für das Jahr 2003 angeordnete „Nullrunde“ bei den vertragsärztlichen Vergütungen hat diese Klagen noch verschärft. 3

Von den geringfügigen Ausnahmen des § 71 Abs. 1 S. 2 SGB V abgesehen. Z. B. werden bestimmte – durchaus notwendige – Arzneien und Hilfsmittel nicht mehr als Sachleistungen zur Verfügung gestellt (§ 34 SGB V); es werden Rezeptgebühren (§ 31 Abs. 3 SGB V) und Zuzahlungen zu den Kosten der Krankenhausbehandlung (§ 39 Abs. 4 SGB V) und der Rehabilitation (§ 40 Abs. 5 und § 41 Abs. 3 SGB V) erhoben; § 30 Abs. 2 SGB V sieht eine Selbstbeteiligung bei Zahnersatzleistungen vor. 4

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Ob sie berechtigt sind, ist zwischen den Partnern der Gesamtverträge, manchmal auch zwischen Vertragsarztgruppen und Kassenärztlichen Vereinigungen, hoch umstritten. Streitig ist im Einzelnen z. B., wie die Ertragslage der verschiedenen Vertragsarztgruppen tatsächlich ist. Die 23 Kassenärztlichen Vereinigungen besitzen keinerlei Daten über die durch ihre Honorarverteilungsmaßstäbe jeweils bewirkte Einkommenslage ihrer Mitglieder, und die Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, des Statistischen Bundesamtes und des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung, die nicht die einzelnen KV-Bezirke betreffen, genügen den Mindestanforderungen an statistische Verlässlichkeit nicht. Umstritten ist weiter, welche Wirtschaftlichkeitsreserven das Gesamtsystem noch in sich birgt; es ist ja unterdessen nur noch von wenigen Spezialisten verstehbar und in Teilen kaum kontrollierbar. Ebenso streitig ist, ob in die Betrachtung der vertragsärztlichen Ertragslage auch Erträge aus nicht-kassenärztlicher Arzttätigkeit einzubeziehen beziehungsweise wie jeweils die Praxiskosten der einen und der anderen Gruppe zuzuordnen sind. Angesichts dieser Wirrnisse hat der Richter des Bundesverfassungsgerichts Udo Steiner auf die grundsätzliche Schwierigkeit dieses Gerichts (und wohl der Rechtsprechung generell) hingewiesen, ob es „glauben“ dürfe, wenn ihm vorgetragen werde, eine bestimmte gesetzliche Maßnahme der Kostendämpfung berühre die Berufsund Gewerbefreiheit des Verfassungsbeschwerdeführers existenziell. Zu viele Verfassungsbeschwerdeführer hätten in den letzten 50 Jahren beim Bundesverfassungsgericht Existenzbedrohung durch Gesetzeseingriffe im Gesundheitswesen geltend gemacht und – dankenswerterweise – solche gesetzlichen Eingriffe überlebt5. Ich unterstelle bei meinen folgenden Überlegungen, dass die Klagen vertragsärztlicher Leistungserbringergruppen über zunehmend extrem niedrige vertragsärztliche Vergütungen prinzipiell zutreffen, und dass diese u. a. dadurch bedingt sind, dass im (ausschließlich beitragsfinanzierten) System der gesetzlichen Krankenversicherung die Bereitstellung höherer Gesamtvergütungen infolge des Gebots der Beitragssatzstabilität untersagt ist. Für diese Unterstellung spricht u. a., dass die gegenwärtig geführte breite Reformdiskussion weithin Gleiches annimmt, wenn sie auch weniger auf eine Anhebung der vertragsärztlichen Vergütungen als vielmehr darauf abzielt, Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen, Einzelverträge mit den Kassen vorzusehen, krankenversicherungsfremde Leistungen auf andere Aufgabenträger zu verlagern, „Verschiebebahnhöfe“ innerhalb der Teilsysteme der 5 Steiner, Udo, Das Bundesverfassungsgericht und die Volksgesundheit, in: MedR 2003, 1 (6); auch in der Entscheidung des BVerfG vom 15.01.2003, 1 BvQ 54/02 betreffend den Zwangsrabatt von 3% auf pharmazeutische Großhandelspreise nach Art. 11 BSSichG bezweifelt das Gericht eine wirtschaftliche Gefährdung der antragstellenden Großhändlerin.

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Sozialversicherung zu beseitigen, den Leistungskatalog einzuengen und die Beitrags- durch eine teilweise Steuerfinanzierung zu ergänzen6. Das könnte dann allerdings dazu führen, dass die übrig bleibenden Leistungen der ärztlichen Leistungserbringer wieder angemessen vergütet würden. III. Rechtliche Aspekte der Deckelung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung Das Bundessozialgericht entnimmt den genannten Vorschriften des SGB V eine verbindliche Deckelung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung, der im Verhältnis zu den anderen Kriterien für die Festsetzung der Gesamtvergütung Vorrang zukomme7. Es versteht den Gesetzgeber des SGB V damit wohl richtig und legt das Gesetz zutreffend aus. Es unterlässt aber die Auseinandersetzung mit der Frage, ob das Einfrieren der einzigen Finanzierungsquelle der gesetzlichen Krankenversicherung mit den Berufsgrundrechten der Leistungserbringer aus Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist. Die Folge der Deckelung im Interesse einer Beitragssatzstabilität ist ja – wie von mir unterstellt – dass ganzen Vertragsarztgruppen keine angemessene Vergütung für die von ihnen erbrachten Leistungen mehr gezahlt werden kann. Man wird dazu erwägen müssen: 1. Vertragsärztliche Ansprüche auf angemessene Vergütung Die § 72 Abs. 2, § 85 Abs. 2 S. 4, Abs. 3 S. 1 und Abs. 4 S. 3 SGB V begründen in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG für Vertragsärzte gegen die Kassenärztlichen Vereinigungen subjektive Rechte auf angemessene Vergütung der von ihnen erbrachten Leistungen. Diese Vergütung besteht aus der Erstattung der aufgewandten Kosten und einem Entgelt für die aufgewandte Arbeitszeit (so genannter Arztlohn). Angesichts der verfassungsrechtlichen Ableitung dieser Ansprüche sind sie jedenfalls dem Grunde nach einfachrechtlich nicht abdingbar. Dies ist die nahezu einhellige Ansicht der verfassungs- und sozialrechtlichen Literatur; auch zwei Sozialgerichte haben sich dem unterdessen dem Grunde nach angeschlossen8. 6

Vgl. zu den Reformoptionen neben Vielen das Gutachten 2003 des Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Kurzfassung, S. 24 ff. und den Entwurf des GMG. 7 BSGE 86, 126; vorher bereits vom 03.03.1999, SozR 3-2500 § 85 Nr. 1, zustimmend wohl Daubenbüchel, Rainer, Anmerkung zu BSG vom 10.5.2000, BG KA 20/99 R, in: SGb 2001, 689; ablehnend Wimmer, Raimund, Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung – und keine angemessene vertragsärztliche Vergütung?, in: MedR 2001, 361; ebenso bereits früher Sodan, Helge/Gast, Olaf, Die Relativität des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität nach SGB V, Verfassungs- und Europarecht, in: NZS 1998, 497 (503 ff.).

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Das Bundessozialgericht und – ihm mit den genannten Ausnahmen folgend – die untergerichtliche Rechtsprechung teilt sie aber nicht. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts haben Vertragsärzte nicht einmal dem Grunde nach einen Rechtsanspruch auf angemessene Vergütung. Etwas anderes soll allerdings – und nur dann – gelten, wenn durch eine zu niedrige Vergütung ärztlicher Leistungen das kassenärztliche Versorgungssystem als Ganzes und als dessen Folge auch die berufliche Existenz der an ihm teilnehmenden ärztlichen Leistungserbringer gefährdet wäre9. Das Bundessozialgericht hat sich leider – trotz vielfacher Kritik aus der Literatur – bis heute mit den verfassungsrechtlichen Aspekten seiner Rechtsprechung kaum auseinandergesetzt10. Vielmehr ist seine Haltung gesundheitspolitisch motiviert und primär unter diesem Aspekt verstehbar. Das Gericht befürchtet, die Anerkennung verfassungsrechtlich grundgelegter Vergütungsansprüche von Leistungserbringern brächte das derzeitige Finanzierungssystem der 8 Z. B. Isensee, Josef, Das Recht des Kassenarztes auf angemessene Vergütung, in: VSSR 1995, 321 (342, 350) m. w. Nachw.; Axer, Peter, Der Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit im Kassenarztrecht, in: NZS 1995, 536; ders., Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 265; ders., in: Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2002, S. 174 Rn. 36; Heinze, Meinhard, Die rechtlichen Rahmenbedingungen der ärztlichen Heilbehandlung, in: MedR 1996, 252 (255); Sodan/Gast (Fn. 7), S. 503 f.; Spoerr, Wolfgang, Haben Ärzte ein Recht auf ein angemessenes Honorar?, in: MedR 1997, 342; Püttner, Günter, Zur angemessenen Honorierung der zytologisch tätigen Ärzte, Rechtsgutachten Tübingen (vervielfältigt), 1997, S. 18 ff.; Link, Christoph/de Wall, Heinrich, Verfassungsanforderungen an die Honorarverteilung im Vertragsarztrecht, in: VSSR 2001, 69, 89; Wimmer, Raimund, Der Rechtsanspruch von Vertragsärzten auf angemessene Vergütung, in: MedR 1998, 533 ff.; ders., Unzulängliche vertragsärztliche Vergütung aus Gemeinwohlgründen?, in: NZS 1999, 480; Maaß, Reinald, Die Angemessenheit der Vergütung der vertragsärztlichen Leistung, in: NZS 1998, 13 (20); ders., Zum degressiven Punktwert und zur angemessenen Vergütung vertragszahnärztlicher Leistungen, in: NJW 1999, 2719 f.; ders., Fragen der Proportionalität und des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes bei Wirtschaftlichkeitsprüfung, Regress und Honorarverteilung in der vertragsärztlichen Praxis, in: NZS 2000, 119; Schachtschneider, Karl Albrecht/Emmerich-Fritsche, Angelika, Rechtsgutachten zum Recht der Vertragsärzte nach dem SGB V, Stuttgart 2000 (vervielfältigt), S. 107 ff.; Hess, Rainer, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand 1998, § 85 SGB V Rn. 52; Schmiedl, Wolfgang, Das Recht des Vertrags(zahn)arztes auf angemessene Vergütung in Zeiten der Budgetierung, in MedR 2002, 116 (117 ff.); vgl. auch die Kritik des Präsidenten des Bundesversicherungsamtes Daubenbüchel (Fn. 7), S. 689 (690 f.) an der derzeitigen vertragsärztlichen Vergütung; ebenso SG Magdeburg vom 19.09.2001, S 7 KA 444/00; SG Hannover vom 20.03.2002, S 10 KA 1082/98. 9 BSGE 75, 187; 77, 279 (288); BSG, SozR 3-2500 § 85 Nr. 12 S. 82; BSGE 83, 295; 84, 235. 10 Vgl. aber BSGE 80, 223 (225); in dieser Entscheidung wird die Geltung des Art. 12 Abs. 1 GG für die Vergütung von Vertragsärzten (und zwar nicht nur im Kontext mit Art. 3 Abs. 1 GG) ausdrücklich bejaht.

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gesetzlichen Krankenversicherung einschließlich des Verbots der Beitragserhöhung zum Einsturz. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten bewegt sich das Bundessozialgericht aber abseits der allgemeinen berufsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Die Freiheit, einen Beruf auszuüben, ist untrennbar verbunden mit der Freiheit, hierfür eine angemessene Vergütung zu fordern11. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seiner die Vergütung kassenärztlicher Berufstätigkeit betreffenden Basisentscheidung12 keinen Zweifel daran gelassen, dass Art. 12 Abs. 1 greift, dass die Vergütung angemessen sein muss und dass die Vorschriften der RVO Kassenärzten entsprechende subjektive öffentliche Rechte vermittelten. Hieran hat sich eine umfängliche Rechtsprechung betreffend Vergütungsansprüche von Notaren13, Vormündern14, Zahntechnikern15, Lieferanten von Heil- und Hilfsmitteln16, Konkursverwaltern17, Betreuern18, Betreuungsvereinen19 und Architekten20 angeschlossen, bei der zwar vielfach die Höhe, niemals aber die verfassungsrechtliche Grundlegung der geltend gemachten Ansprüche im Zweifel stand. Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur angemessenen Vergütung von Rechtsanwälten, die ihre Kanzlei in den neuen Bundesländern eingerichtet haben21, bestätigt diese Rechtsprechung. Clemens22 hat gemeint, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts behandele „anders gelagerte Fälle“. Ich meine das nicht. Vertragsärzte üben – wie die anderen genannten Berufe – einen freien Beruf aus. Es unterscheidet sie auch nicht von Notaren, Zahntechnikern, Lieferanten von Heilund Hilfsmitteln, dass ihnen aus der gesetzlichen „Kanalisierung“ der Versicherten zu den Vertragsärzten hin Vorteile erwachsen. Auch sichere, insol11 BVerfGE 54, 251 (271); 68, 193 (216); 83, 1 (13); 88, 145 (159); BVerfG NJW 1999, 1621 f.; zuletzt vom 28.01.2003, NJW 2003, 737 f.; Schmidt-Bleibtreu, Bruno, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 9. Aufl. 1999, Art. 12 Rn. 5 a; Jarass, Hans, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. 2002, Art. 12 Rn 11; Manssen, Gerrit, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl. 1999, Bd. I, Art. 12 Rn. 171. 12 BVerfGE 33, 171 (182 ff.). 13 BVerfGE 47, 285; 69, 373 (378). 14 BVerfGE 54, 251 (271). 15 BVerfGE 68, 193 (218, 221). 16 BVerfGE 70, 1 (28). 17 BVerfGE 88, 145 (159). 18 BVerfG NJW 1999, 1621; BVerfGE 101, 331. 19 BVerfG vom 07.11.2001, 1 BvR 325/94. 20 BVerfGE 58, 283. 21 BVerfG NJW 2003, 737, auch BVerfGE 97, 12 (31). 22 Clemens, Thomas, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar, 1. Aufl. 2002, Anhang zu Art. 12 Rn. 178.

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venzgeschützte Einnahmen von einem öffentlich-rechtlichen Schuldner23 machen die verfassungsrechtliche Grundlegung ihrer Vergütungsansprüche nicht zunichte. Sie schließen die Anwendung des Art. 12 Abs. 1 GG jedenfalls dem Grunde nach nicht aus. 2. Einschränkbarkeit vertragsärztlicher Vergütungsansprüche Dass das Grundrecht auf angemessene vertragsärztliche Vergütung verfassungsrechtlich zulässigen gesetzlichen Einschränkungen unterliegen kann, steht außer Frage. Diskutiert werden kann aber m. E. nur die Einschränkbarkeit des so genannten Arztlohnes, also der Vergütung für die Arbeitsleistung des Arztes. Hingegen ist die Erstattung der ihm entstehenden Kosten (Sachkosten, Abschreibungen, Personal usw.) nicht einschränkbar. Es gehört zum unverzichtbaren Kern, gleichsam zum Wesensgehalt des Berufsgrundrechts, dass niemand – auch nicht Angehörige des öffentlichen Gesundheitswesens – unter Selbstkosten arbeiten muss. Die Ansicht des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, „sollte ein Vertragsarzt persönlich, organisatorisch, kalkulatorisch, betriebswirtschaftlich usw. nicht in der Lage sein, die dem Kernbereich seines Fachgebietes zuzuordnenden Leistungen kostendeckend in seiner Praxis als Sachleistungen anzubieten und zu erbringen, ist er als Vertragsarzt nicht geeignet“24,

halte ich für unhaltbar; Gerd Krieger bezeichnet sie als zynisch25. Ich gehe davon aus, dass seit einigen Jahren ganze Arztgruppen unterhalb ihrer gruppenspezifischen und typisierten vertragsärztlichen Selbstkostengrenze arbeiten. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat unlängst offen gelegt, dass dem für vertragsärztliche Radiologen seit 1997 so sei26. Die Verfassungsrechtslage gestattet derartige Kernverletzungen unter keinen Umständen. Die Schwierigkeiten, sie darzulegen, liegen allerdings mehr im Tatsächlichen. Die Einschränkbarkeit des Vertragsarztlohnes – und davon abhängend der Gesamtvergütung, aus der er sich speist – bedarf unter zwei Gesichtspunkten der Erörterung:

23 Auf welche das Urteil des BSG vom 14.03.2001, NZS 2002, 217 (219) hinweist. 24 LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.10.1998, 11 B 35/98 KA. 25 Krieger, Gerd, Die Behandlungsverweigerung bei Kassenpatienten, insbesondere wegen unzureichender Honorierung, MedR 1999, 519. 26 Vgl. Hamm, Klaus, Neubewertung radiologischer Leistungen, in: Der Radiologe 2002, S. 63 ff. mit amtlichen Grafiken der KBV.

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a) Ist die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung als grundrechtseinschränkender Gemeinwohlbelang anzuerkennen? Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts wendet auf die Einschränkung vertragsärztlicher Vergütungen die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Stufenlehre an und hält vertragsärztliche Vergütungsansprüche für einschränkbar, weil sonst ein überragendes Gemeinschaftsgut, nämlich die Finanzierbarkeit und Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung bedroht sei; sie operiert also auf der sensibelsten Eingriffsstufe, weil viel dafür spricht, dass es sich um Eingriffe in eine jedenfalls in der Nähe des Berufszugangs liegende Grundrechtsposition handeln kann27. Dabei handelt das Bundesverfassungsgericht in der Regel von der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung28, während das Bundessozialgericht in mehreren Urteilen auf das bestehende Vergütungssystem als überragenden Gemeinwohlbelang abhebt29. Dazu, wann ein Gemeinwohlbelang hinreicht, um ein Berufszugangsrecht zu „überragen“, gibt es zwar eine kaum noch zu überschauende verfassungsgerichtliche Kasuistik. Woher solche Gemeinwohlbelange aber ihre Legitimationskraft und ihren Rang beziehen, um nach Maßgabe der differenzierten Verhältnismäßigkeitsprüfung eine gesetzlich bewirkte oder fundierte Beschränkung der Berufsfreiheit rechtfertigen zu können, bleibt auch nach unverändert kontroversen Diskussionen in der Literatur unklar30. Insbesondere ist kaum nachvollziehbar, wieso die „Funktionsfähigkeit“ eines vom einfachen Gesetzgeber geschaffenen Kran27 Das BVerfG hält den Entzug der Kassenzulassung (und damit wohl auch der Einnahmen aus dieser) für eine Maßnahme, die der Beschränkung der Berufswahl nahekomme, BVerfGE 69, 233 (244); BVerfG NJW 1998, 1776; BVerfG DVBl. 2001, 979; BVerfGE 103, 172; auch BSGE 73, 226; 82, 43. 28 Renate Jaeger definiert diesen Gemeinwohlbelang als „Gesamtbegriff für das Ziel, auch wirtschaftlich Schwachen den vollen Zugang zu ärztlicher Behandlung, Krankenhausversorgung, Arznei- und Heilmitteln und sonstigen therapeutischen Einrichtungen zu finanziell tragbaren Bedingungen tatsächlich zu gewährleisten“, in: Welches System der gesetzlichen Krankenversicherung wird durch das Grundgesetz geschützt?, in: Empter/Sodan (Hrsg.), Markt und Regulierung. Rechtliche Perspektiven für eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, S. 15 (37). 29 Vgl. etwa BVerfGE 68, 193 (219); 70, 1 (29); 82, 209 (230); BSG vom 03.03.1999, B 6 KA 6/98 R, S. 8 der amtlichen Urteilsausfertigung; BSG vom 16.05.2001, B 6 KA 20/00 R, S. 15; ebenso vom 15.05.2002, B 6 KA 33/01 R und speziell in Bezug auf Beitragssatzstabilität BSGE 86, 126 (142). Dabei lässt das BSG im übrigen außer Betracht, dass nach seiner Rechtsprechung Ansprüche auf angemessene Vergütung schon dem Grunde nach nicht bestehen, so dass man sich fragt, warum es dann noch einer Abwägung gegen einen Gemeinwohlbelang bedarf. 30 Vgl. grundlegend Breuer, Rüdiger, in: Handbuch des Staatsrechts VI, 1. Aufl. 1989, § 147 S. 966 ff. m. w. Nachw.

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kenversicherungssystems gegen Grundrechte abwägungsfähig sein soll. Es gibt allerdings Institutionen und Systeme, die das Grundgesetz selbst schützt. Zu ihnen gehören z. B. Ehe und Familie, das Recht zur Errichtung von privaten Schulen, die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts (Art. 115 g S. 2 GG), die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr31 oder auch das Funktionieren von Rundfunk und Presse sowie die Koalitionsfreiheit. Man kann auch erwägen, ob das Grundgesetz die Funktionsfähigkeit weiterer in ihm aufgeführter Einrichtungen schützt, etwa die Rechtspflege, die Volksvertretung, die Regierung, die kommunale Selbstverwaltung, die Länderautonomie, die Europäische Gemeinschaft oder das Berufsbeamtentum32. Nicht einsehbar ist hingegen, dass Grundrechte zum Schutz einfachrechtlicher Einrichtungen eingeschränkt werden könnten, die die Gesetzgeber schaffen, aber auch wieder ändern können33. Zwar ist ein finanziell funktionierendes System der öffentlichen Gesundheitsfürsorge prinzipiell durch das Sozialstaatsgebot der Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 2 GG legitimiert. Nachvollziehbar, weil ebenfalls im Sozialstaatsprinzip begründbar, ist auch ein Gemeinwohlbelang, der auf eine Begrenzung der Belastbarkeit der Allgemeinheit und der Versicherten mit Beiträgen abhebt. Überzeugend ist schließlich, dass der in Art. 2 Abs. 2 GG wurzelnde Belang der „Volksgesundheit“ von verfassungsrechtlicher Relevanz ist. Diese Gesichtspunkte verpflichten den Gesetzgeber zwar zur Schaffung einer öffentlich verantworteten Gesundheitsvorsorge und Krankenversorgung. Das von ihm konkret gewählte System als solches, das sich nach seinem Willen alleine aus Beiträgen finanzieren soll, ist aber verfassungsrechtlich nicht geschützt. Es ist ja auch von ihm selbst innerhalb eines weiten Gestaltungsspielraums veränderbar34. Die Ansicht, dieser dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen zukommende Spielraum zur Institutionalisierung, Systematisierung und Ausdifferenzierung mache jedes von ihm gewählte System der öffentlichen Gesundheitsversorgung eo ipso zu einem grundrechtseinschränkenden überragenden Gemeinwohlbelang35, verkehrt die Dinge in ihr Gegenteil: Zum verfassungskonformen Funktionieren eines derartigen Systems gehört zwingend die erforderliche Respektierung der grundrechtlichen Positionen der an ihm Beteiligten36. 31

BVerfGE 28, 243 (261); 32, 40 (46); 48, 127 (159 f.); 69, 1 (21). Vgl. hierzu Lerche, Peter, „Funktionsfähigkeit“ – Richtschnur verfasungsrechtlicher Auslegung, in: BayVBl 1991, 519 ff. 33 So bereits Häberle, Peter, „Gemeinwohljudikatur“ und BVerfG, in: AöR 95 (1970) S. 86, (101 f.). 34 BVerfGE 44, 70; 70, 278 (288); BSG NJW 1987, 463; Schnapp, Friedrich, Die Sozialstaatsklausel – Beschwörungsformel oder Rechtsprinzip?, in: SGb 2000, 341. 35 So im Ergebnis die Rechtsprechung des BSG. 36 So zutreffend Lerche (Fn. 32), S. 522 in Bezug auf das System der Rechtspflege. 32

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Ich meine also, dass das bestehende Krankenversicherungssystem als solches kein vom Grundgesetz gewolltes und geschütztes Verfassungsgut ist und dass es auch nicht als Abwägungsmaterie gegen vertragsärztliche Grundrechte taugt. Vielmehr ist das System nur verfassungskonform, wenn es diese Grundrechte wahrt37. Der Gesetzgeber hat daher von Verfassungs wegen ein System zu wählen, das finanziell stabil ist und das die Grundrechte der an ihm Beteiligten, also der Versicherten und der Leistungserbringer, respektiert und verwirklicht. Dass der Gesetzgeber bei der Auswahl solcher Systeme ein großes Maß an Freiheit hat, versteht sich von selbst. Schafft er aber etwas Verfassungswidriges, so ist das nicht schutzwürdig, sondern schutzwürdig sind diejenigen, die der einfache Gesetzgeber in ihren Grundrechten verletzt38. Jedenfalls dann muss ein einfach-rechtliches Regelwerk auch verfassungsgerichtlich judikabel sein. Die These von Renate Jaeger, nicht die Verfassung, sondern die Politik entscheide, welches der richtige Weg zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sei39, findet ihre Grenze, wenn der einfache Gesetzgeber um eines von ihm verfolgten politischen Zieles willen Berufsgrundrechte von Leistungserbringern im System der gesetzlichen Krankenversicherung verletzt. b) Wann ist der Arztlohn „angemessen“? Dass vertragsärztliche Leistungserbringer von Verfassungs wegen nicht auf ihre angemessene Vergütung verzichten müssen, weil der einfache Gesetzgeber dem die Schranke so genannter Beitragssatzstabilität vorgeschoben hat, bedeutet nun allerdings nicht, dass sie in Zeiten wirtschaftlicher Bedrängnis darauf bestehen könnten, „angemessen“ sei ein besonders hoher Arztlohn. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat im Jahre 1994 ihren (angeblichen) betriebswirtschaftlichen Kalkulationen für den EBM einen angemessenen Arztlohn von 180.000,00 DM (nach Kostenerstattung) jährlich zugrunde gelegt40. Darüber, ob das damals zuviel oder zuwenig war und was unter den heutigen Umständen „angemessen“ ist, kann man treff37 Ebenso Ossenbühl, Fritz, Verfassungsrechtliche Fragen des Regelungsinstrumentariums der gesetzliche Krankenversicherung, Gutachten, 1998, S. 97 ff.; auch Fischer, Bianca, Funktionieren öffentlicher Einrichtungen – ein Verfassungsmaßstab?, in: DVBl. 1981, 518 ff. 38 Vgl. schon BVerfGE 13, 97 (107): Das BVerfG darf den Anschauungen des Gesetzgebers dann nicht folgen, wenn sie mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind. 39 Jaeger (Fn. 28) sowie bei der 34. Richterwoche des BSG 2002, über welche Mecke, Christian, Wieviel Vermögen zur Alterssicherung dürfen Hilfeempfänger behalten?, in: ZfS 2003, S. 89 berichtet.

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lich streiten. Man wird heute durchaus in Betracht ziehen müssen, dass die Gesamtvergütung jedenfalls aus Beiträgen nicht mehr steigerungsfähig ist; andererseits treten in der Reformdiskussion zahlreiche politische Möglichkeiten zutage, wie Finanzmasse und Finanzbedarf einschließlich des erforderlichen Vertragsarztlohnes wieder deckungsgleich gestaltet werden könnten. Auf der Seite der Vertragsärzte greifen die Erwägungen, die das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bei Vergütungseinschränkungen für öffentlich gebundene Berufe anstellt. Eine Einschränkung von Notargebühren hat es beispielsweise dadurch gerechtfertigt, dass Notare öffentliche Aufgaben wahrnehmen, dabei Inhaber einer Monopolstellung sind und – wegen der bestehenden Zulassungsbeschränkungen – eine gewisse Einkommensgarantie genießen41. Auch für Zahntechniker hat das Bundesverfassungsgericht eine Untergrenze markiert, bis zu der der Gesetzgeber ihre Vergütung unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten befristet reduzieren dürfe42. In Bezug auf vertragsärztliche Leistungserbringung führt das Gericht aus, sie unterlägen „in erhöhtem Maße den Einwirkungen sozialstaatlicher Gesetzgebung“. Staatliche Regulierungen des Berufsrechts eröffneten ihnen die Beteiligung an einem umfassenden sozialen Leistungssystem, von dem sie auch profitierten43. Das könne zur Folge haben, dass der Gesetzgeber die Höhe ihrer Vergütungen absenken dürfe44. Diese Rechtsprechung, der ich ausdrücklich zustimme, ist nichts anderes als eine Inhaltsbestimmung dessen, was unter den gegebenen Umständen „angemessen“ ist. Sie läuft letztlich auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinaus. Allerdings bleibt es dabei, dass Regelungen mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht im Einklang stehen, die bewirken, dass Vertragsärzte keinen oder einen Arztlohn in einer Höhe erhalten, der deutlich unter den üblichen Vergütungen vergleichbarer Tätigkeit liegt45. Im Kassenarztsenat des Bundessozialgerichts wird die Meinung vertreten, eine „Schmerzgrenze“ sei erst erreicht, „wenn für die ärztliche Tätigkeit insgesamt oder für die Gesamttätigkeit an einem Behandlungsfall überhaupt keine Vergütung gewährt würde“46. Dies hat freilich auch mit einem bescheideneren Verständnis des Begriffes „angemessen“ nichts mehr zu tun; ich halte diese Auffassung nicht für verfassungsverträglich. Ebenso wenig teile ich die schon zitierte 40

KBV, Darstellung der von der KBV angewandten Methodik zu orientierenden betriebswirtschaftlichen Kostenkalkulation ärztlicher Leistungen, Köln, Dezember 1994. 41 BVerfGE 47, 321. 42 BVerfGE 68, 193 (218, 221). 43 BVerfGE 103, 172 (185 f.). 44 BVerfGE 68, 193 (221). 45 Dies ist der Maßstab des BSG in BSGE 68, 291 (296). 46 So jedenfalls Clemens (Fn. 22).

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Ansicht des Bundessozialgerichts im 75. Band, S. 187, wonach eine zu niedrige Vergütung nur dann rechtlich unverträglich sei, wenn durch sie das kassenärztliche Versorgungssystem als Ganzes und als deren Folge auch die berufliche Existenz der an ihm teilnehmenden ärztlichen Leistungserbringer gefährdet wäre. Das ist keine Inhaltsbestimmung des Begriffs „angemessene Vergütung“, sondern es verwirft den bestehenden Vergütungsanspruch gänzlich und zu Unrecht. Das Ergebnis meiner Überlegungen ist, dass die den ärztlichen Leistungserbringern in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung gestellte Gesamtvergütung so bemessen sein muss, dass sie aus ihr „nach einer Mischkalkulation sowohl ihren Kostenaufwand als auch ihren Lebensunterhalt bestreiten können“47. Sie muss daher in der Nähe der üblichen Vergütungen vergleichbarer Tätigkeiten liegen48. Dabei mag es zulässig sein, in Zeiten finanzieller Enge der öffentlichen Haushalte temporär den Begriff der angemessenen Vergütung restriktiv zu definieren. Ein angeblich überragendes Gemeinschaftsgut „finanzielle Stabilität und Funktionieren der gesetzliche Krankenversicherung“ indes gestattet nicht, die Finanzierung der gesetzliche Krankenversicherung so zu deckeln, dass die vertragsärztlichen Leistungserbringer keinen angemessenen Arztlohn mehr erhalten. IV. Zusammenfassung 1. Vertragsärzte haben – abweichend von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – gegen die Kassenärztlichen Vereinigungen verfassungsrechtlich begründete Ansprüche auf angemessene Vergütung ihrer Leistungen für Versicherte. 2. Diese Ansprüche sind nicht dadurch ausgeschlossen, dass ihre Befriedigung die finanzielle Stabilität des bestehenden Systems der gesetzlichen Krankenversicherung gefährdete oder zerstörte. Denn die Stabilität des einfach-rechtlichen Systems der gesetzliche Krankenversicherung ist von Verfassungs wegen kein Gemeinwohlbelang, der Vergütungsgrundrechte der Vertragsärzte zunichte zu machen vermöchte. 3. Wenn der seit dem Jahre 2000 gesetzlich beschränkte Ausschluss von Beitragserhöhungen in der gesetzliche Krankenversicherung aus Gründen der Beitragssatzstabilität zur Folge hat, dass den Vertragsärzten keine angemessene Vergütung mehr gezahlt werden kann, ist dieser Ausschluss nicht verfassungskonform. 47

So das BVerfG betreffend Rechtsanwälte vom 28.01.2003, NJW 2003, 738 mit Rückverweisungen. 48 Dies ist der Maßstab des BSG in BSGE 68, 291 (296) bei der Anwendung des Art. 3 GG.

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4. Wann vertragsärztliche Vergütungen noch „angemessen“ und damit verfassungsverträglich sind, bestimmt sich nach den objektiven Gestaltungsund Finanzierungsmöglichkeiten des Gesetzgebers einerseits, der Interessenlage der vertragsärztlichen Leistungserbringer andererseits. Bei den letzteren können deren Einbindung in ein sozialstaatliches Versorgungssystem ebenso gewichtet werden wie wirtschaftliche Vorteile, die ihnen hieraus erwachsen. Allerdings darf das Interesse des Staates an einer finanzierbaren gesetzlichen Krankenversicherung nicht zu Vertragsarzteinkommen führen, die deutlich unter denjenigen vergleichbarer Berufsgruppen liegen. Honorare unter der Selbstkostengrenze und ohne „Arztlohn“ sind schlechthin unzulässig.

Stärkung des Wettbewerbs für mehr Effizienz im Gesundheitssystem Überlegungen für eine wettbewerbliche Neuorientierung im deutschen Gesundheitswesen Von Stefan Oschmann I. Grundbedürfnisse des Menschen und Solidarität Unser Gesellschaftsmodell beruht auf einem ausgewogenen Verhältnis von Solidarität und Eigeninitiative. Dieses bewährte Prinzip führt in vielen Bereichen, in denen menschliche Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Sicherheit abgedeckt werden, zu einem Mischsystem aus solidarischer Grundabsicherung und freier Entscheidung durch mündige Bürger, die zwischen Leistungen, die im Wettbewerb erbracht werden, auswählen. Der Ursprung unseres Gesundheitssystems lag im 19. Jahrhundert in der Fürsorge für Arme, die durch schwere Krankheit nicht in finanzielle Notlagen kommen sollten. Dies ist auch heute unbestritten. Keinem Bedürftigen darf der Zugang zur medizinischen Versorgung aus finanziellen Gründen verschlossen sein. Allerdings weitet unser heutiges Gesundheitssystem den Begriff der Solidarität extrem aus. Dadurch werden notwendige Eigenvorsorge und die Bereitschaft zur individuellen Verantwortung systematisch unterdrückt und ein beinahe grenzenloses Anspruchsdenken gestärkt. Die demografische Entwicklung, der an sich notwendige und begrüßenswerte medizinisch-technische Fortschritt, die angespannte Wirtschaftslage mit zunehmender Entkopplung der Arbeitseinkommen von der Wirtschaftsleistung und sektorales Budgetdenken machen unser gegenwärtiges Gesundheitssystem unbezahlbar. Hinzu kommt die apodiktische Prämisse der Politik, dass die Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung als Teil der Lohnnebenkosten nicht weiter steigen dürfen bzw. sinken müssen. Politiker leugnen die bereits massenhaft unkontrolliert stattfindende Rationierung von Leistungen anstatt der Bevölkerung mitzuteilen, dass nicht mehr alles, was medizinisch notwendig, unter den gegenwärtigen Strukturen des Systems auch bezahlbar ist.

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II. Reglementierung statt Wettbewerb Stattdessen werden von Politikern und Funktionären der Krankenkassen immer gleiche Vorurteile bedient. Das beinahe alljährliche Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung beruhe vor allem auf den ständig wachsenden Ausgaben für innovative Arzneimittel; die forschenden Hersteller würden ständig neue, d.h. patentgeschützte und hochpreisige Arzneimittel auf den Markt bringen, ohne dass diese einen wesentlichen Mehrnutzen gegenüber vorhandenen Wirkstoffen hätten. Diese „Schrittinnovationen“ oder „Me-toos“ könnten sich nur verkaufen, weil die Mechanismen eines freien und transparenten Marktes hier wie im gesamten Gesundheitssystem versagen und die Hersteller mit der geballten Werbemacht ihrer Außendienstmitarbeiter diese Produkte in den Markt drücken würden. Den Verordnern fehle die Preissensitivität für die von ihnen verursachten, aber nicht zu bezahlenden Leistungen und den Patienten das notwendige Fachwissen, um mitentscheiden zu können. Diese stereotyp vorgetragenen Aussagen waren in den vergangenen Jahren Anlass für den Gesetzgeber, mit immer neuen Reglementierungen in das Gesundheitssystem und hier vor allem in den Arzneimittelmarkt einzugreifen. Stets war eines der vordergründig genannten Ziele, die Qualität der Versorgung verbessern und eine Zwei-Klassen-Medizin verhindern zu wollen. Seit Jahren müssen die niedergelassenen Vertragsärzte fürchten, bei Überschreiten der so genannten „Richtgrößen“ von den Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen in Regress genommen zu werden. Richtgrößen bezeichnen ein Budget, das der einzelne Arzt für Arzneimittelverordnungen pro Patient und Quartal zur Verfügung hat. Dabei handelt es sich um einen Durchschnittswert über alle Patienten eines Arztes. Verordnet der Arzt einem Patienten ein Arzneimittel, dessen Preis über der Richtgröße liegt, muss er die Differenz bei anderen Patienten wieder ausgleichen. Die Höhe der Richtgrößen differiert erheblich je nach Fachgebiet des Arztes und Kassenärztlicher Vereinigung. So darf zum Beispiel ein Berliner Orthopäde seinen sozial versicherten Patienten mit 11,42 e (Mitglieder und Familienangehörige; Rentner: 20,15 e) für mehr als den fünffachen Betrag Arzneimittel im Durchschnitt pro Quartal verordnen als sein Kollege in Hessen, der dafür nur 2,23 e (Rentner: 5,33 e) zur Verfügung hat. Die unterschiedlichen Beträge sind nicht sachlich-medizinisch begründet, sondern sind Folge von Verhandlungen und spiegeln den Einfluss der einzelnen Facharztgruppen innerhalb einer Kassenärztlichen Vereinigung wider. Das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) fordert von den Krankenkassen die Zahlung eines Bonus an die Vertragsärzte, wenn sie die Richtgrößen für

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verordnete Leistungen einhalten. Im Klartext bedeutet das eine zusätzliche Bezahlung derjenigen Ärzte, die in ihrem ärztlichen Handeln im Einzelfall wirtschaftliche Aspekte stärker berücksichtigen als die medizinische Notwendigkeit. Das ist unethisch und widerspricht den Prinzipien des medizinischen Berufs! Überreglementierungen im Arzneimittelmarkt, die nur auf Preise und Kosten innerhalb des Arzneimittelsektors ausgerichtet sind, erzeugen eine verzerrte Wahrnehmung des Nutzens, der von pharmazeutischer Innovation ausgeht. Ein auf Effizienz ausgerichteter Wettbewerb im Arzneimittelmarkt ist durch Deregulierung der Preise und der Erstattungsfähigkeit gekennzeichnet. Innovative Arzneimittel leisten vor allem dann einen Beitrag zu höherer Effizienz im Gesamtsystem, wenn die Wettbewerbsmöglichkeiten zwischen den Sektoren geöffnet und nicht durch sektorale Budgets blockiert sind. Der Patentschutz ist der Motor für Innovation. Die biologische Komplexität des menschlichen Körpers und gesetzliche Anforderungen an Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit neuer Arzneimittel erfordern einen hohen finanziellen Einsatz für Forschung und Entwicklung. Ohne das zeitlich befristete exklusive Vermarktungsrecht durch Patente würde kein Unternehmen in die wirtschaftlich riskante Forschung für neue Arzneimittel investieren. Die im GMG vorgesehene Ausdehnung der Festbetragsregelung auf patentierte Arzneimittel höhlt den Patentschutz aus und vermindert die Planungssicherheit für zukünftige Investitionen. Es ist eine zu kurze und im Übrigen auch falsche Betrachtungsweise zu behaupten, die Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel hätten in den vergangenen Jahren stärker zugenommen als für billigere generisch verfügbare Wirkstoffe, deshalb seien diese teureren Arzneimittel die Kostentreiber im System der gesetzlichen Krankenversicherung und müssten aus diesem Grund stärker reglementiert werden. Dies unterstellt, es sei egal, welche Arzneimittel verordnet werden. Genau so, als sei es egal, mit welchen Autos wir fahren. Da interessiert uns dann aber doch, ob ABS, Airbag und Klimaanlage an Bord sind. Dass Fortschritt für unsere Gesellschaft notwendig ist, wird praktisch in allen Bereichen anerkannt. Im Gesundheitswesen aber nur, wenn er nichts kostet. Dabei ist das Gesundheitswesen die JobMaschine in Deutschland und praktisch die einzige größere Branche, die noch nicht kaputt gewirtschaftet wurde. Arzneimittel, die gerade mal 17% der gesamten Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung ausmachen, stehen immer wieder im Mittelpunkt von Sparmaßnahmen. Allein in den vergangenen zwei Jahren wurden vier Gesetze mit wesentlicher Wirkung auf den Arzneimittelmarkt erlassen. Vorläufiger Höhepunkt ist jetzt ein Zwangsrabatt der Hersteller an

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die gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 16% auf verschreibungspflichtige Arzneimittel, die noch nicht Festbeträgen unterliegen. Das trifft die noch wenigen in Deutschland tätigen forschenden Arzneimittelhersteller in dramatischem Ausmaß, während die Mehrheit der Generika-Hersteller davon kaum berührt wird. III. Folgen dieser Fehlentwicklung Unter dem Deckmantel, eine „Zwei-Klassen-Medizin“ verhindern zu wollen, ist längst der Weg in eine drittklassige Versorgung für alle beschritten. So lange es auch nur eine Osteoporose-Patientin gibt, die ohne Behandlung gemäß dem anerkannten Standard eine lebensgefährliche Hüftfraktur erleidet und so lange Patienten am Herzinfarkt oder Schlaganfall sterben, weil ihr Cholesterin oder ihr Blutdruck nicht im erforderlichen Umfang gesenkt wurden, kann niemand ernsthaft von einer ausreichenden oder gar bedarfsgerechten Versorgung sprechen. Jedes Jahr gibt es in Deutschland ca. 1100–2200 Todesfälle bei Sozialversicherten durch Magen-Darmblutungen verursacht von älteren, nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR). Neuere NSAR, mit einem deutlich geringeren gastrointestinalem Risiko wie die Coxibe, könnten zur Lösung eines auf Bevölkerungsebene gravierenden Qualitätsproblems beitragen, wenn sie in bedarfsgerechtem Umfang eingesetzt würden.1

IV. Bevormundung wie zu Kaisers und Bismarcks Zeiten Die staatlich verordnete Bevormundung ist nirgends weitreichender als im Gesundheitssystem. Man darf sich nach individueller Vereinbarung mit seiner Bank hoch verschulden, um ein Haus zu bauen oder Ratenkredite bis zur Zahlungsunfähigkeit aufnehmen. Ein Drittel aller Ehen in Deutschland wird geschieden, oft mit katastrophalen Folgen für alle Betroffenen. Trotzdem hält sich der Staat bei der Auswahl der Ehepartner raus. Bei der Krankenversicherung ist alles bis ins Kleinste geregelt. Genauestens ist festgelegt, welche Leistungen von den Krankenkassen getragen werden müssen und welche nicht erbracht werden dürfen. Detailliert geregelt sind die Maßnahmen, die beitragen sollen den Finanzrahmen einzuhalten, während Aussagen zu Umfang und Qualität der Leistungen sich eher mit Allgemeinplätzen begnügen. 1 Bolten Wolfgang W./Lang, Bernhard/Wagner, Alexander/Krobot, Karl J., Konsequenzen und Kosten der NSA-Gastropathie in Deutschland, in: Aktuelle Rheumatologie, Heft 24, 1999, S. 127–134.

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Quelle: s. Fn. 2. Abbildung 1: Der Anteil an Hypertonikern ist in Deutschland doppelt so hoch wie in den USA. Aber nur halb so viele davon werden behandelt.2

Quelle: Krobot, Karl/Ulrich, Volker/Wagner, Alexander/Zeidler, Henning, Health Insurance-related access to Cycooxygenase-II-selective Treatment in Germany, in: Annals of Rheumatic Diseases, Heft 62 (Suppl. 1), 2003, S. 347. Abbildung 2: Ungleiche Versorgung von GKV- und PKV-Patienten: Die Chance, ein Coxib statt einem anderen nicht-steroidalen Antirheumatikum (NSAR) zu erhalten, ist für GKV-Patienten (n = 122 377) bei gleicher Indikation um 55–69% geringer als für PKV-Patienten (n = 9 755).

2 Wolf-Maier, Katharina/Cooper, Richard S./Banegas, Jóse R., Hypertension Prevalence and Blood Pressure Levels in 6 European Countries, Canada, and the United States, in : Journal of the American Medical Association, Heft 289, 2003, S. 2363–2369.

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Statt Versicherungstarife mit unterschiedlichen oder ganz ohne Zuzahlungen zuzulassen, haben die Versicherten keine Wahl, auch wenn sie im Einzelfall etwas anderes für ihr Geld wollten. Der Arzt entscheidet und der Patient muss zuzahlen oder er verzichtet unter Gefährdung des Therapieerfolgs auf die Leistung. V. Sektorale Budgets statt bedarfsorientierte Versorgung Bei all den Reglementierungen werden immer der Bedarf an und die sich verändernden Möglichkeiten durch medizinische Dienstleistungen und Güter übersehen. Von den rund 30.000 heute bekannten Krankheiten kann ungefähr ein Drittel zumindest teilweise behandelt werden. Der medizinischtechnische Fortschritt bewirkt, dass neue Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen, die oft gefährliche Operationen überflüssig machen und ambulante Behandlungen ermöglichen, wo früher wochenlange Krankenhausaufenthalte Realität waren. Das heißt, immer mehr aufwändige und teure Leistungen können vom Krankenhaus in den ambulanten Bereich verlagert werden. Häufig sind innovative Arzneimittel der Anlass dafür. Die Konsequenz daraus, nämlich, dass der Leistung aus dem Krankenhaus auch das Geld in den ambulanten Sektor folgt, wird nicht gezogen. Die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen DRGs (diagnosis related groups) wird zusätzliche Verlagerungen in den ambulanten Sektor bewirken, wenn sich die Verweildauern der Krankenhausaufenthalte verkürzen. Schon jetzt steht fest, dass die Krankenhäuser für diese Leistungsverlagerung kein Geld an den ambulanten Sektor abgeben müssen. Stattdessen steigen die Krankenhausausgaben fast ungestört weiter, während die Arzneimittelausgaben mit ständig neuen Reglementierungen begrenzt werden. So als wären Arzneimittel nicht nur nicht notwendig, sondern selbst eine Krankheit des Systems. Die undurchlässigen sektoralen Budgets für Krankenhäuser und den ambulanten Bereich sind wesentliches Hemmnis für eine effizientere Versorgung. Richtig wäre es, den Bedarf an guter (d.h. wirksamer und verträglicher) Therapie und den Nutzen von neuen Arzneimitteln anzuerkennen. Diese haben nach langer, aufwändiger, risikoreicher und kostenintensiver Forschung ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit nicht nur gegenüber Placebo (Scheinmedikament ohne Wirkstoff), sondern auch gegenüber bewährten vorhandenen Wirkstoffen im arzneimittelrechtlichen Zulassungsprozess nachgewiesen. Es gibt Nachholbedarf, auch im internationalen Vergleich.

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VI. Festbeträge für innovative Arzneimittel Die Verhandlungsparteien der Gesundheitsreform haben u. a. vereinbart, dass patentierte Arzneimittel mit Festbeträgen belegt werden sollen, wenn sie keinen zusätzlichen Nutzen gegenüber bereits vorhandenen Arzneimitteln haben. Festbeträge sind Erstattungshöchstgrenzen, die bisher im Wesentlichen für generisch verfügbare Arzneimittel (= Wirkstoffe, deren Patentschutz abgelaufen ist und die von mehreren Firmen angeboten werden) von den Krankenkassen festgelegt werden. In der Realität bedeuten sie Preisobergrenzen, da die Patienten im Allgemeinen nicht bereit sind, die Differenz zwischen dem Festbetrag (Erstattungshöchstbetrag) und einem höheren Preis zu bezahlen. Aus guten Gründen gibt es seit 1996 keine Festbeträge mehr für patentgeschützte Arzneimittel. Die forschenden Arzneimittelhersteller haben seitdem über 10.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Der Aufwand für ein neues Arzneimittel ist enorm. Bis zur Zulassung vergehen im Schnitt 10 Jahre und es werden rund 750 Mio. e für die Forschung und Entwicklung verbraucht. Durch Preisobergrenzen wie Festbeträge oder Zwangsrabatte wird den innovativen Herstellern die Finanzierungsgrundlage entzogen, neue Entwicklungen werden behindert oder unmöglich. Mit der Ausweitung der Festbetragsregelung auf patentierte Arzneimittel wollen die gesetzlichen Krankenkassen 1 Mrd. e jährlich zusätzlich einsparen. Für die innovativsten Firmen in der Branche, die fast ausschließlich patentgeschützte Arzneimittel anbieten, bedeutet diese Ausweitung der Festbetragsregelung erhebliche Umsatzeinbußen. Gleichzeitig bedeutet die Beschränkung der Erstattungspreise einen Verlust an Planungssicherheit. Investitionen am Standort Deutschland werden damit zum Roulettespiel für internationale Konzerne. Den deutschen Länderchefs der einzelnen Firmen sind alle Argumente im Konkurrenzkampf der weltweiten Niederlassungen genommen, Investitionen internationaler Konzerne nach Deutschland zu holen. Die Kostenreduzierungen werden durchgereicht. Folgen sind Einnahme- und Steuerausfälle auf allen Ebenen, eine noch prosperierende Industrie wird kaputt gespart; die, die den besten Job machen, werden am härtesten bestraft. Das fatale Signal an eine der innovativsten Branchen lautet: Patente sind am Standort Deutschland nichts mehr wert. Die Sicherung des Patentschutzes und die wettbewerbliche Preisbildung für innovative Produkte sind essenziell für die Forschungsanstrengungen pharmazeutischer Unternehmen und die Attraktivität eines Standortes.

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Quelle: Schwabe,Ulrich/Paffrath,Dieter, Arzneiverordnungs-Report 2000, Berlin, Heidelberg, New York 2003. Darstellung: Verband der forschenden Arzneimittelhersteller. Abbildung 3: „Me-Too“-Arzneimittel führen zu Preis- und Qualitätswettbewerb

Die vorgesehene Festbetragsregelung für patentgeschützte, so genannte Analogpräparate verhindert einen noch effektiveren Preis-Wettbewerb, wie er bereits jetzt vom Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen bestätigt und anerkannt wird. Patentgeschützte Arzneimittel ohne oder mit vergleichsweise geringfügigem zusätzlichem Nutzen werden im Durchschnitt wesentlich preisgünstiger angeboten als das erste Produkt einer Wirkstoffklasse. VII. Bürgerversicherung als Sackgasse Die konsequente Bürgerversicherung, d.h. die zwangsweise Einbeziehung aller in Deutschland Einkommen erzielenden Personen als Beitragszahler in die gesetzliche Krankenversicherung, bedeutet einheitliches Mittelmaß für alle statt Wettbewerb um die qualitativ beste und preisgünstigste Versorgung.

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Die Bürgerversicherung kann das Finanzierungsdebakel der gesetzlichen Krankenversicherung nicht lösen. Von den eher gering verdienenden Beamten im einfachen Dienst und vielen Kleinst-Selbstständigen darf kein großer Netto-Beitragseffekt erwartet werden. Das Hauptproblem der gesetzlichen Krankenversicherung, die durch die demografische Entwicklung untauglich gewordene Umlagefinanzierung (jetzige Beitragszahler finanzieren jetzige Leistungsausgaben), wird durch die Bürgerversicherung nicht kleiner, sondern wird sich in Zukunft dadurch dramatisch verschärfen. Die neuen Zwangsmitglieder werden auch älter und beanspruchen dann ihre Leistungen. Dies wird zu erheblichen Mehrausgaben führen, ohne dass für diese Versicherte gesunde und beitragskräftige Netto-Zahler in ausreichender Anzahl zu Verfügung stehen. Das Ziel, die bereits jetzt mehr oder weniger verdeckt praktizierte ZweiKlassen-Medizin zu verhindern, wird damit nicht erreicht. Die Mittel werden bei Umlagefinanzierung und gegebener demografischer Entwicklung bereits nach kurzer Zeit wieder zu knapp sein. Dann wird man erneut vor der Diskussion stehen, ob Leistungen rationiert oder komplett gestrichen werden müssen. Derartige Systeme, die über eine Quasi-Steuer Bürger in eine Einheitsversicherung zwingen, gibt es z. B. in Italien oder England. Der medizinisch-technische Fortschritt steht dort oft nur denjenigen zeitnah und umfassend zur Verfügung, die sich Zusatzversicherungen leisten können. Für die Menschen in diesem Land bedeutet der euphemistische Begriff „Bürgerversicherung“ die weitere Bürokratisierung eines wesentlichen Lebensbereichs. Der geplante Entzug jeder Mitsprache bei Art, Qualität und Umfang ihrer Krankenversicherung ist ein Rückfall in frühere Epochen. Die Menschen aus den neuen Bundesländern kennen diese Art der Bevormundung als „real existierenden Sozialismus“, die Menschen im Westen als „benevolenten Paternalismus“ nach Gutsherrenart. Warum denn soll die Allgemeinheit für Befindlichkeitsstörungen aufkommen, deren Krankheitswert fraglich und deren Folgen persönlich wie finanziell kein Fiasko darstellen? Selbst der Reichskanzler Bismarck, der das im Prinzip heute noch geltende System im vorletzten Jahrhundert einführte, wollte nicht soviel staatliche Bevormundung in Gesundheitsfragen, wie sie heute üblich ist. Übersolidarität führt in ein System voller Ungerechtigkeiten. In der Schule bedeutet eine ausreichende Leistung („Note 4“), wie sie das Sozialgesetzbuch für Leistungen der Krankenkassen vorschreibt, unteres Mittelmaß. Erzwungenes Mittelmaß für alle – das kann und sollte nicht Leitbild unserer Gesellschaft sein und steht im Widerspruch zum so häufig von den Politikern geforderten mündigen Bürger, der Verantwortung für seine Angelegenheiten übernimmt.

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VIII. Wettbewerb als Alternative Solidarität und Wettbewerb sind kein Widerspruch, sondern sie bewirken sich gegenseitig. Eine gerechte Gesundheitsreform muss der allgemeinen Tendenz zu mehr Selbstbestimmung nachkommen; Wettbewerb führt grundsätzlich zu mehr Effizienz und muss auch im Gesundheitswesen für dieses Ziel genutzt werden. Der Wettbewerb ist ein anerkanntes Ordnungsprinzip in unserer Wirtschaft. Wettbewerb ist allerdings kein Ziel an sich, sondern ein Mittel zum Zweck. Er soll bewirken, dass sich die Anbieter an den Wünschen und Bedürfnissen der Nachfrager orientieren und im Ergebnis die vorhandenen Ressourcen optimal eingesetzt werden. Qualitätsverbesserungen, Produktinnovationen und Preissenkungen kommen nur zustande, wenn die Anbieter einem intensiven Wettbewerb ausgesetzt sind. Wettbewerb muss deshalb auch zum Leitbild für den Gesundheitssektor werden. Ein funktionierender Wettbewerb im Gesundheitswesen beseitigt ineffiziente Versorgungsstrukturen. Er ist zugleich ein Innovationsmotor. Er trägt dazu bei, dass sich Krankenkassen und Leistungsanbieter immer wieder aufs Neue um Qualitätsverbesserungen bemühen und den Versicherten innovative Produkte und Dienstleistungen anbieten. Das deutsche Gesundheitswesen braucht eine wettbewerbliche Grunderneuerung. Etwas Wettbewerb in einigen Teilbereichen des Systems ist nicht ausreichend, um die Qualität und Kosteneffizienz zu erhöhen. Wer das Gesundheitssystem dauerhaft leistungsfähig machen will, muss Mut zu einer durchgreifenden wettbewerblichen Reform haben, die ihren Namen auch verdient. Marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen setzen auch für Leistungsanbieter positive Anreize, sich durch Qualität, Preise und Innovation im Markt zu behaupten. Hochwertige Dienstleistungen und Produkte haben in einem wettbewerblich organisierten System weitaus bessere Marktchancen als unter den Bedingungen von Honorarbudgets und starren Erstattungsregelungen in „gemeinsam und einheitlich“ geschlossenen Verträgen. IX. Informationsfreiheit und Selbstbestimmung Echter Wettbewerb im Gesundheitswesen bedeutet: Wahlfreiheit für die Versicherten, Vertragsfreiheit für Krankenversicherer und Leistungsanbieter und eine Steuerung der Beziehungen zwischen den Anbietern, Versicherern und Versicherten über Preise. Diese Prinzipien können im Gesundheitssek-

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tor gefahrlos implementiert werden, ohne dessen Besonderheiten im Vergleich zu anderen Märkten zu ignorieren. Voraussetzung für einen wirksamen Wettbewerb sind Transparenz und Information. Information ist grundsätzlich ein elementarer Bestandteil für einen funktionierenden Wettbewerb. Versicherte brauchen einen ausreichenden Informationsstand über das System und die angebotenen Leistungen, damit sie überhaupt ihre Wahlrechte wahrnehmen und zielführend ausüben können. Eine solche marktwirtschaftliche Strukturreform bedeutet ein Mehr an Selbstbestimmung für den Einzelnen. Die Versicherten und Patienten werden nicht länger bevormundet. Die Bürger von heute sind es aus vielen Lebensbereichen gewohnt, Auswahlentscheidungen zu treffen und das für sie jeweils günstigste Leistungs-Kosten-Verhältnis eines Produkts oder einer Dienstleistung zu bestimmen. Diese Verantwortung können sie – innerhalb gewisser Grenzen – auch beim Krankenversicherungsschutz übernehmen und darüber entscheiden, für welche Leistungen und in welchem Umfang sie sich absichern wollen. Der Wettbewerb der Krankenversicherungen orientiert sich in einem marktwirtschaftlichen System nicht nur am Beitragssatz, sondern auch an den angebotenen Leistungspaketen. Die Versicherten werden z. B. fragen: „Bietet mir ein Krankenversicherer ein Leistungspaket mit einer Innovationsgarantie oder mit qualitativ hochwertigen Disease-Management-Angeboten – und zu welchem Preis?“ In einem solchen System werden die Krankenversicherer mithin ein hohes Maß an Gestaltungsmöglichkeiten haben. Sie sind nicht mehr bloß Verwalter von Versicherungsbeiträgen und gesetzlichen Vorgaben. Sie sind vielmehr Dienstleister der Versicherten und bieten ihnen innovative Produkte und individuelle Beratungsleistungen an. Wettbewerb im Gesundheitswesen funktioniert nur innerhalb klarer staatlicher Rahmenvorgaben. Erforderlich ist eine sozialstaatliche Flankierung des Wettbewerbs auf Ebene der Versicherten – durch eine allgemeine Versicherungspflicht und steuerfinanzierte Prämienzuschüsse – wie auf Ebene der Krankenversicherer und Leistungsanbieter – durch die Überwachung von Qualitätsanforderungen und eine Durchsetzung des Kartellverbots. Gelingt eine solche neue Synthese aus Wettbewerb und solidarischer Absicherung, hat das deutsche Gesundheitswesen eine Zukunft. Zukunftsfähige Alternative könnte eine Pflichtversicherung ähnlich der Kfz-Haftpflichtversicherung mit steuerfinanziertem Solidarausgleich sein, die dem mündigen Bürger Wahlfreiheit bei Art, Qualität und Umfang der Krankenversicherung gewährt. Die Versicherungen stünden im Wettbewerb um die qualitativ beste und preisgünstigste Versorgung.

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X. Die Bevölkerung will Reformen Nach Einschätzung des Münchner Ifo-Instituts wird die aktuelle Gesundheitsreform nur kurzfristige Einspareffekte bringen. Die Gesundheitspolitik steht nach wie vor vor der Herausforderung, einerseits den Versicherten Freiheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen und andererseits den Solidargedanken auf eine dauerhaft finanziell tragfähige Basis zu stellen. Nötig ist jetzt endlich eine Reform, die nicht an Kosten ansetzt, sondern an den Einnahmen und am medizinisch notwendigen Bedarf. Eine konsequent wettbewerbliche Gesundheitsreform könnte die Nachhaltigkeitslücke für die zukünftigen Generationen dagegen erheblich reduzieren. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie „Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens“.3 Eine breite Mehrheit der Bevölkerung fordert nach einer Studie von Emnid vom März 2003 eine durchgreifende Reform des Gesundheitssystems: 59 Prozent der Deutschen plädieren für grundlegende Veränderungen im Gesundheitswesen. Die Befragten wünschen sich zudem flexiblere Regelungen zum Leistungsumfang: 76 Prozent sprechen sich dafür aus, dass sich die gesetzliche Krankenversicherung auf die absolut notwendigen Leistungen konzentrieren müsse und Versicherte die Freiheit erhalten, ihr Leistungspaket selbst zu gestalten.4

3 Fetzer, Stefan/Mevis, Dirk/Raffelhüschen, Bernd, Zur Zukunftsfähigkeit des Gesundheitswesens. Eine Nachhaltigkeitsstudie zur marktorientierten Reform des deutschen Gesundheitssystems, 2003. 4 TNS EMNID (Hrsg), Gesundheitspolitik März 2003. Repräsentativ-Befragung im Auftrag des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller, Berlin; 2003.

Die Reform der Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung im Widerstreit der Meinungen Von Eberhard Wille, Mannheim I. Mangelnde fiskalische Nachhaltigkeit als Ausgangspunkt der Reformdiskussionen 1. Die derzeitige Wachstumsschwäche der Finanzierungsbasis Die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung, die im Wesentlichen aus Arbeitseinkommen und Rentenzahlungen besteht, leidet seit Beginn der achtziger Jahre an einer Wachstumsschwäche. Wie Abbildung 1 zeigt, blieben die beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied in den alten Bundesländern zwischen 1980 und 2000 im Wachstum um 31 Prozentpunkte hinter dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Erwerbstätigem zurück. Die quantitative Bedeutung dieser Wachstumslücke für das Beitragsaufkommen verdeutlicht eine fiktive Berechnung, die unterstellt, dass die beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied in diesem Zeitraum mit der Steigerungsrate des BIP je Erwerbstätigem zugenommen hätten. Diese Schätzung weist für das Jahr 2000 fiktive Mehreinnahmen von 35,6 Mrd. DM aus. Mit Hilfe dieser Mehreinnahmen ließen sich die gegebenen Ausgaben bei einem durchschnittlichen Beitragssatz von knapp 11,6% decken. Dieser fiktive Beitragssatz weicht in seiner Größenordnung unwesentlich von den tatsächlichen Beitragssätzen der Jahre 1980 bis 1984 ab. Hochgerechnet auf das gesamte Bundesgebiet belaufen sich die entsprechenden fiktiven Mehreinnahmen auf fast 43 Mrd. DM.1 Für diese Wachstumsschwäche der Finanzierungsbasis in der gesetzlichen Krankenversicherung zeichnen zunächst die unterproportionale Zunahme der Arbeitsentgelte und die steigende Arbeitslosenzahl verantwortlich. Daneben trugen ein leicht zunehmender Anteil von Rentnern und diverse Verlagerungen von Defiziten zwischen den Teilen der Sozialversicherung dazu bei, dass die beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied im Wachstum 1 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität, Gutachten 2003.

Abbildung 1: Wachstum der beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied und des BIP je Erwerbstätigem seit 1980 (alte Bundesländer)

Quelle: Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Sachstandsbericht 1994, Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung, Baden-Baden 2000; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Statistisches Taschenbuch, Arbeits- und Sozialstatistik, Bonn, 1998–2000; Bundesdruckerei, STATIS, Die Zeitreihen des Statistischen Bundesamtes, CD-Rom Version 1.1, 1999; Bundesministerium für Gesundheit, Daten des Gesundheitswesens, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Band 137, Ausgabe 2001; Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik und für das Ausland, Wiesbaden 2000; Statistisches Bundesamt, D-Statis, Erwerbstätigkeit früheres Bundesgebiet, Internet, Wiesbaden 2002; Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder“, Bruttoinlandsprodukt, Internet, 2002; eigene Berechnungen.

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deutlich hinter dem BIP je Erwerbstätigem zurückblieben. Die Entwicklung der beitragsfrei Mitversicherten, d.h. die je Beitragszahler zu finanzierenden Versicherten, führte dagegen nicht zu einer Schwächung der Finanzierungsbasis und vom zunehmenden Anteil der freiwillig versicherten Mitglieder gingen sogar leicht gegenläufige bzw. fiskalisch stabilisierende Effekte aus. Ein Blick auf die zentralen Einflussfaktoren, die auf die Einnahmenbasis der gesetzlichen Krankenversicherung einwirken, lässt befürchten, dass das relativ schwache, d.h. zur Steigerung des BIP unterproportionale, Wachstum der beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied bei gegebener Beitragsgestaltung noch auf absehbare Zeit anhält. Die Wachstumsschwäche der Finanzierungsbasis geht nicht nur auf konjunkturelle, sondern auch auf eher strukturelle Faktoren zurück. Hierzu zählen u. a. – der Druck auf die Arbeitsentgelte, insbesondere in den unteren Lohngruppen, infolge der Globalisierung, – veränderte Arbeitsverhältnisse bzw. Berufskarrieren (z. B. unstete Beschäftigung, nicht versicherungspflichtige Dienst- und Werkverträge), – die Zunahme von nicht versicherungspflichtigen Teilen des Arbeitsentgeltes, vor allem durch Entgeltumwandlung im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge, – eine weitere Flucht in die illegale Schattenwirtschaft und Intensivierung der (legalen) Eigenwirtschaft bzw. Haushaltsproduktion2 sowie – eine längere Lebens- und damit Verrentungszeit. Zu den Finanzierungsproblemen der gesetzlichen Krankenversicherung trug auch die „Politik der Verschiebebahnhöfe“ bei, die innerhalb der Sozialversicherung mit dem Ziel, jeweils bestimmte Zweige finanziell zu stabilisieren, fiskalisch meist zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ging.3 Die entsprechenden diskretionären Maßnahmen resultierten eher aus momentanen fiskalischen Engpässen einzelner Sicherungszweige als aus fundierten Analysen oder Überlegungen. Obgleich sich die Effekte dieser Maßnahmen im Hinblick auf das Niveau der Sozialversicherungsbeiträge und die Lohnnebenkosten per saldo ausgleichen, macht diese fiskalisch, so2

Die im Rahmen der Schatten- und Eigenwirtschaft produzierten Güter gehen zwar selbst nicht in das BIP ein, wohl aber ihre am Markt erworbenen sächlichen Produktionsfaktoren bzw. -mittel. 3 Beske, Fritz/Drabinski, Thomas/Michel, Claus, Politische Entscheidungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung, 2002; Beske, Fritz, Die Bedeutung des Verschiebebahnhofs und der versicherungsfremden Leistungen für die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Arzt und Krankenhaus, 12/02, S. 1–4.

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zial und arbeitsmarktpolitisch fragwürdige „Politik der Verschiebebahnhöfe“ deutlich, dass die soziale Sicherung sowohl innerhalb ihrer einzelnen Zweige als auch zwischen diesen und der staatlichen Steuer- und Transferpolitik eine übergreifende Orientierung mit den notwendigen Abstimmungen vermissen lässt.

2. Die absehbare Entwicklung vor dem Hintergrund des demographischen Wandels Aus heutiger Sicht deuten weder die empirischen Entwicklungstrends noch eine Analyse jener Determinanten, die auf die Einnahmenbasis der gesetzlichen Krankenversicherung restriktiv einwirken, auf ein mittelfristiges Ende des im Vergleich zum BIP unterproportionalen Wachstums der beitragspflichtigen Einnahmen pro Mitglied hin. Die gesetzliche Krankenversicherung steht damit künftig vor folgendem Dilemma: Entweder orientieren sich ihre Ausgaben am Wachstum des BIP, dann steigen zwangsläufig die Beitragssätze. Stabile Beitragssätze setzen andererseits voraus, dass die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung schwächer zunehmen als das BIP. Die erste Alternative führt bei den Arbeitgebern zu einer Erhöhung der Lohnnebenkosten und bei den Arbeitnehmern zu einer Verminderung ihres verfügbaren Einkommens. Die zweite Alternative engt vor allem bei einer wenig prosperierenden Wirtschaftsentwicklung, die schon mit einem bescheidenen Wachstum des realen BIP einhergeht, den Finanzierungsspielraum der gesetzlichen Krankenversicherung stark ein. Die Beitragseinnahmen dürften dann trotz noch vorhandener Rationalisierungspotentiale – die es als Daueraufgabe auszuschöpfen gilt – ohne fiskalisch spürbare Reformen auf mittlere Frist kaum ausreichen, um die zentralen ausgabenseitigen Herausforderungen, wie z. B. den medizinischen Fortschritt und den demographischen Wandel, ohne eine verschärfte (derzeit implizite) Rationierung zu bewältigen. In intergenerativer Hinsicht drohen der demographische Wandel und die längere Lebenserwartung die Nachhaltigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung zu gefährden, denn ein Schrumpfen des Anteils der erwerbstätigen Bevölkerung und eine relative Zunahme von Rentnern führen ceteris paribus sowohl zu einem Rückgang der Beitragseinnahmen als auch zu Mehrausgaben. Verglichen mit der erwerbstätigen Bevölkerung verfügen Rentner einerseits bei der geltenden Beitragsgestaltung über niedrigere beitragspflichtige Einnahmen und leiden als ältere Menschen häufiger an einer oder mehreren ausgabenintensiven Krankheiten. Schätzungen jener Beitragssatzeffekte, die für die gesetzliche Krankenversicherung aus der Veränderung der demographischen Struktur bis zum Jahre 2030 bzw. 2040 er-

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wachsen, schwanken im Ergebnis zwischen 2–3 und gut 16 Prozentpunkten.4 Diese erhebliche Diskrepanz erklärt sich überwiegend dadurch, dass ein Teil dieser Schätzungen den rein demographischen Effekt veranschlagt und im Sinne einer reinen demographischen Status quo-Prognose eine Konstanz aller anderen Einflussgrößen der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung unterstellt. Jene Schätzungen, die erheblich höhere Beitragssatzsteigerungen ausweisen, beziehen dagegen die zu erwartenden Wechselwirkungen mit anderen Determinanten, insbesondere mit dem technischen Fortschritt, in die Beitragssatzprognose ein.5 Da sich der demographische Strukturwandel relativ langsam vollzieht, stellt die demographische Komponente bei isolierter Veranschlagung die gesetzliche Krankenversicherung – im Unterschied zur gesetzlichen Rentenversicherung – auch in intergenerativer Hinsicht vor keine allzu großen Probleme. Eine in quantitativer Hinsicht erhebliche Gefährdung der Nachhaltigkeit kann erst durch eine Kombination der demographischen Komponente mit anderen Einflussfaktoren, insbesondere mit dem medizinischtechnischen Fortschritt, erfolgen. Ausgabensteigernde Effekte des medizinisch-technischen Fortschritts können aber auch schon kurz- bis mittelfristig, d.h. schon mit diesem Zeithorizont, die Nachhaltigkeit gefährden. Obgleich im Gesundheitswesen in der Vergangenheit alle Varianten des medizinisch-technischen Fortschritts auftraten, dominierten in den letzten Jahrzehnten per saldo nicht die substitutiven Prozess-, sondern die ausgabensteigernden Produktinnovationen. Zu diesem Ergebnis trugen auch die ökonomischen Anreizwirkungen bei, die outcomeerhöhende Produktionsinnovationen weit stärker förderten als ressourcensparende Prozessinnovationen. Der medizinisch-technische Fortschritt vermag insofern die Nachhaltigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung stärker zu tangieren als die demographische Komponente. Unter diesem Aspekt erscheint es problematisch, den Versicherten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung auf unbestimmte Zeit unbegrenzte Leistungszusagen zu versprechen.

4 Ulrich, Volker, Medizinisch-technischer Fortschritt, demographische Alterung und Wachstum der Gesundheitsausgaben: Was sind die treibenden Faktoren?, in: Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement 2000, 5. Jg., Heft 6, S. 163–167. 5 Knappe, Eckhard, Demographischer Wandel, medizinischer Fortschritt, europäische Integration, in: Die BKK 12/2000, S. 527–533; Breyer, Friedrich/Ulrich, Volker, Gesundheitsausgaben, Alter und medizinischer Fortschritt: Eine Regressionsanalyse, in: Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 220/1, S. 1–17.

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II. Das geltende Beitragssystem unter Verteilungsaspekten 1. Die Orientierung am Solidarprinzip Der gesetzlichen Krankenversicherung gehören Pflicht- und freiwillige Mitglieder an. Zu den Pflichtmitgliedern zählen gemäß § 5 SGB V u. a. Arbeiter, Angestellte, Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe6 sowie Rentner. Die freiwillig Versicherten setzen sich im wesentlichen aus Selbstständigen sowie Arbeitern und Angestellten zusammen, deren Arbeitsentgelt die Versicherungspflichtgrenze übersteigt. Diese dynamisierte Grenze7, die im Jahre 2002 bei monatlich 3.375 e lag und bis dahin auch der Beitragsbemessungsgrenze entsprach, stieg durch das Beitragssatzsicherungsgesetz für das Jahr 2003 diskretionär auf 3.825 e an. Das Beitragssatzsicherungsgesetz führte damit zu einer Entkoppelung von Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenze. Bis zur Beitragsbemessungsgrenze von derzeit (2003) 3.450 e pro Monat greift ein proportionaler Tarif, d.h. die Beiträge eines Versicherten hängen bis zu dieser Grenze mit einem proportionalen Satz von seinem Arbeitsentgelt ab. Mitversicherte Familienangehörige mit geringem Einkommen8 bleiben beitragsfrei. Das Schwergewicht des Solidarprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung liegt somit auf der Finanzierungsseite, d.h. in der einkommensbzw. lohnabhängigen9 Beitragsgestaltung. Das Kernproblem einer wissenschaftlichen Analyse der Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung besteht darin, dass sich die geltende solidarische Finanzierung im Unterschied zum Äquivalenz- und Leistungsfähigkeitsprinzip nicht auf eine konsistente ökonomische Theorie zu stützen vermag. Sie stellt vielmehr ein historisch gewachsenes Mixtum aus Elementen der individuellen Äquiva6

Nach § 251 Abs. 4 SGB V übernehmen die Beiträge für Bezieher von Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld die Bundesanstalt für Arbeit und die Beiträge für Bezieher von Arbeitslosenhilfe der Bund. 7 Die Versicherungspflichtgrenze unterliegt ebenso wie die Beitragsbemessungsgrenze einer jährlichen Anpassung bzw. Fortschreibung. Nach § 159 SGB VI wird diese Grenze zum ersten Januar eines jeden Jahres entsprechend der Relation von Bruttolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer des vergangenen Jahres und des vorvergangenen Jahres verändert. Aus Gründen der einfacheren Handhabung erfolgt anschließend eine Aufrundung auf den nächsten durch 600 teilbaren Betrag. 8 Die beitragsfrei mit versicherten Familienangehörigen dürfen kein Gesamteinkommen beziehen, das regelmäßig monatlich 1/7 der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV (2003: 340 e) übersteigt. 9 Auf der Ausgaben- bzw. Leistungsseite manifestiert sich das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung darin, dass die Leistungsgewährung mit Ausnahme des Krankengeldes völlig unabhängig von den jeweiligen Beitragszahlungen der Versicherten erfolgt.

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lenz (z. B. Krankengeld, Beitragsbemessungsgrenze), der gruppenmäßigen Äquivalenz (Beiträge statt risikoäquivalenter Prämien oder allgemeiner Steuern) und des Leistungsfähigkeitsprinzips (einkommens- bzw. entgeltabhängige Beiträge) dar. Das Solidarprinzip, an dem sich die Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung orientiert, bildet kein theoretisch fundiertes Paradigma, aus dessen Normen sich schlüssige Aussagen über die „optimale Beitragsgestaltung“ ableiten lassen. Die spezifisch solidarische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, die sich in distributiver Hinsicht von einer privaten Versicherung mit risikoäquivalenten Prämien unterscheidet, besteht in Form einer exante-Umverteilung von – niedrigen zu hohen Gesundheitsrisiken (Risikoausgleich), – von Beziehern höherer Arbeitsentgelte zu solchen mit niedrigeren Löhnen und Gehältern (Einkommensumverteilung), – von Alleinstehenden zu kinderreichen Familien (Familienlastenausgleich) sowie – von jungen zu alten Versicherten (Generationenausgleich). Zudem unterliegen bei der gesetzlichen Krankenversicherung im Unterschied zur privaten Krankenversicherung alle Krankenkassen einem Kontrahierungszwang und einem Diskriminierungsverbot. Das solidarische Finanzierungselement erfuhr darüber hinaus noch durch den bundesweiten, kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleich (RSA) eine Ausdehnung bzw. Intensivierung, denn dieser führte zu einer deutlichen Reduktion der Beitragssatzunterschiede zwischen den einzelnen Krankenkassen. Der RSA und die unterschiedlichen Beitragssätze der einzelnen Krankenkassen grenzen auf zwei unterschiedlichen, vertikal verschachtelten Ebenen verschiedene Solidargemeinschaften voneinander ab. Die gesetzliche Krankenversicherung bildet dabei insofern die übergreifende Solidargemeinschaft, als der Verlust eines guten bzw. niedrigen Gesundheitsrisikos, z. B. durch Wechsel in die private Krankenversicherung, nicht nur der abgebenden Krankenkasse, sondern infolge des RSA der gesamten gesetzlichen Krankenversicherung, d.h. allen Krankenkassen, finanziell schadet. Unterhalb dieser übergreifenden Solidargemeinschaft stellen dann die einzelnen Krankenkassen eigene Solidargemeinschaften dar, die sich derzeit im wesentlichen durch unterschiedliche Beitragssätze und einige wenige Satzungsleistungen voneinander abgrenzen.

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2. Verteilungspolitische Verwerfungen Wie bereits erwähnt, besteht für die abhängig Beschäftigten, die generell einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen, ab dem Überschreiten der Versicherungspflichtgrenze die Möglichkeit, aus der gesetzlichen Krankenversicherung auszuscheiden und sich damit deren Umverteilungsmechanismen zu entziehen. Die geltende Versicherungspflichtgrenze in Höhe eines Arbeitsentgeltes von derzeit 3.825 e pro Monat (2003) lässt sich weder aus gesamtwirtschaftlichen Zielen ableiten, noch kann sie sich auf eine andere erkennbare sachlogische Begründung stützen. Sie erscheint im Sinne des Solidarprinzip zu niedrig und unter dem Aspekt der sozialen Schutzbedürftigkeit, die bei Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung im Mittelpunkt stand, zu hoch. Außer in den Niederlanden, die eine spürbar niedrigere Versicherungspflichtgrenze aufweisen10, existiert in den übrigen europäischen Ländern keine Versicherungspflichtgrenze und damit auch keine substitutive private Vollversicherung für Arbeiter und Angestellte. Die Versicherungspflichtgrenze zwingt somit Arbeiter und Angestellte mit einem Arbeitsentgelt unterhalb dieser Grenze zu einer Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung, während sie diesem Beschäftigtenkreis bei einem Arbeitsentgelt oberhalb dieser Grenze eine Wahlmöglichkeit zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und der privaten Krankenversicherung eröffnet. Diese funktional willkürliche Trennung in ein Versichertensegment, das einer im Prinzip redistributiven Beitragsfinanzierung unterliegt, und in einen anderen Teil, der sich für eine risikoäquivalente Prämienfinanzierung entscheiden kann, verletzt die Verteilungsgerechtigkeit durch eine zweifache Risikoselektion. Zunächst stellen Personen mit einem Arbeitsentgelt über der geltenden Versicherungspflichtgrenze und der Neigung zum Wechsel in eine Versicherung mit risikoäquivalenten Beiträgen in den Kategorien der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur einnahmenseitig, sondern auch hinsichtlich ihrer Ausgabenprofile niedrige bzw. gute Risiken dar11. Eine weitere Risikoselektion erfolgt hier noch dadurch, dass diese Beschäftigten ein Wahlrecht besitzen, das es ihnen erlaubt, sich je nach Krankheitsrisiko und Familiensituation für die gesetzliche Krankenversicherung oder die private Krankenversicherung zu entscheiden. Schließlich 10 Zudem besitzt der Versicherte in den Niederlanden bei Überschreiten dieser Grenze kein Wahlrecht, sondern muss die gesetzliche bzw. soziale Krankenversicherung verlassen. 11 Ob und inwieweit diese Risikoselektion für die gesetzliche Krankenversicherung mit fiskalisch nachteiligen Effekten einhergeht, ist insofern umstritten, als die private Krankenversicherung für gleiche Leistungen deutlich höhere Preise als die gesetzliche Krankenversicherung zahlt.

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existiert für die Gruppe der Beamten noch ein anders geartetes Krankenversicherungssystem, das öffentliche Beihilfeleistungen mit einer anteiligen Versicherung in der privaten Krankenversicherung verknüpft. Während bei Pflichtmitgliedern die Beitragsbemessungsgrundlage in der Regel nur aus dem Arbeitsentgelt und dem Zahlbetrag der Rente besteht, setzt die Beitragsbemessung bei freiwilligen Mitgliedern an der gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an, d.h. die Referenzgröße bilden hier alle Einkunftsarten. Diese zum einen eingegrenzte und zum anderen unterschiedliche Fassung der Beitragsbemessungsgrundlage kann, wie die folgenden Beispiele zeigen, zu vielfältigen Verstößen sowohl gegen das Äquivalenz-, als auch gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip führen. Eine Familie A mit einem Beitragszahler erziele ein Arbeitseinkommen i. H. v. 50% der Beitragsbemessungsgrenze der GKV. Aus Mieteinnahmen, die aus einer Erbschaft stammen, erhält sie weitere Einkommen i. H. v. 30% der Beitragsbemessungsgrenze. Familie B verfügt ebenfalls über Einkünfte in derselben Höhe. Diese setzen sich aber aus zwei Arbeitseinkommen in Höhe von 40% der Beitragsbemessungsgrenze zusammen. Während beide Familien über das gleiche Bruttoeinkommen verfügen, unterscheiden sich die beitragspflichtigen Einnahmen deutlich. Die Grundlohnsumme von Familie B liegt bei gleichen Bruttoeinkünften um das 1,6-fache über der von Familie A. Nimmt man in diesen Kreis noch eine dritte Familie C auf, die eine Einkommensstruktur wie Familie A besitzt, aber infolge ihrer Selbständigkeit als freiwillig versichert eingestuft wird, so erweitert sich das aufgezeigte Szenario noch um eine verzerrende Komponente. Im Unterschied zu Familie A erfährt Familie C mit ihrer gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eine Beitragsbelastung, d.h. sie weist eine Grundlohnsumme wie Familie B auf. Neben der Fassung der Beitragsbemessungsgrundlage kann auch die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen zu distributiven Verwerfungen führen, die sowohl dem Äquivalenz- als auch dem Leistungsfähigkeitsprinzip zuwiderlaufen. Eine Familie D, in der beide Partner ein monatliches Arbeitsentgelt in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 3.450 e (2003) erzielen, entrichtet doppelt so hohe Beiträge wie eine Familie E, in der ein Partner 6.900 e oder sogar z. B. 12.000 e verdient und der andere Partner kein Arbeitseinkommen bezieht. Verzerrungen können daneben selbst dann auftreten, wenn in Familien mit gleichem Gesamtentgelt beide Partner einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Liegt z. B. bei Familie F das Arbeitsentgelt des einen Partners mit 5.000 e deutlich über und das des anderen Partners mit 1.900 e spürbar unter der Beitragsbemessungsgrenze, so erfährt diese Familie trotz gleichem Gesamtentgelt eine niedrigere Beitragsbelastung als Familie D. Da beide Familien bezogen auf die Arbeitsentgelte die gleiche finanzielle Leistungsfähigkeit und mit Aus-

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nahme des Krankengelds auch den gleichen Anspruch auf medizinische Leistungen besitzen, liegt hier ebenfalls ein Verstoß gegen das Leistungsfähigkeits- und das Äquivalenzprinzip vor. 3. Intransparente Verteilungswirkungen Die intragenerativen Umverteilungswirkungen, die von den vier verschiedenen Komponenten der solidarischen Beitragsgestaltung ausgehen, weisen bereits bei zeitlich horizontaler Betrachtung eine hohe Intransparenz auf. Diese (ex-ante-)Umverteilungswirkungen überlagern sich vielfach bei einem Versicherten bzw. Haushalt und können in ihren Effekten auch teilweise gegenläufige Tendenzen aufweisen. So befindet sich ein relativ gesunder Familienvater mit überdurchschnittlichem Arbeitsentgelt und einer kinderreichen Familie mit einem kranken Kind im Hinblick auf den persönlichen Risikoausgleich und die Einkommensumverteilung in der Position des Nettozahlers, hinsichtlich des „Familienlastenausgleichs“ in der des Nettoempfängers. Angesichts der vier Umverteilungselemente, die in unterschiedlichen Richtungen wirken können, bleibt der distributive Saldo eines Versicherten quantitativ intransparent und häufig auch in seinem Vorzeichen unklar. So kann ein Versicherter mit mittlerem Arbeitsentgelt und sehr guter Gesundheit die Position eines Nettozahlers und ein Versicherter mit hohem Arbeitsentgelt aber schlechter Gesundheit diejenige eines Nettoempfängers einnehmen. Diese Intransparenz verstärkt sich noch bei einer intertemporalen Betrachtung, die auf die gesamte Lebenszeit eines Individuums abstellt. In intertemporaler Hinsicht können sich sogar die Vorzeichen der distributiven Effekte für einen Versicherten im Zeitablauf bei jedem der vier Umverteilungselemente ändern. Beim Generationen- und Familienlastenausgleich geschieht dies sogar fast zwangsläufig. So entrichtet ein junges Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung einen höheren als altersadäquaten Beitrag, um dann im Alter einen niedrigeren als altersspezifischen zu zahlen. Sofern dieses Mitglied zeitlebens in der gesetzlichen Krankenversicherung bleibt und als normales Risiko eine durchschnittliche Lebenserwartung aufweist, würden hier bei gegebener demographischer Struktur im Hinblick auf das Umverteilungselement Generationenausgleich aus intertemporaler Sicht kaum distributive Effekte auftreten. Zumindest im Bezug auf das Vorzeichen der distributiven Effekte verhält es sich beim Familienlastenausgleich ähnlich, denn auch hier nimmt ein Versicherter bzw. Haushalt oft nur temporär die Position eines Nettoempfängers ein, um danach wieder in die des Nettozahlers zu wechseln. In deutlich abgeschwächter Form kann dies auch beim Risikoausgleich und der Einkommensumverteilung geschehen, obgleich ein Vorzeichenwechsel der distributiven Effekte hier nicht den Re-

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gelfall bilden dürfte. Insgesamt gesehen fallen die Umverteilungswirkungen der solidarischen Finanzierung im Längsschnitt deutlich schwächer aus, als dies bei horizontaler Betrachtung den Anschein besitzt. Diese Intransparenz über die intragenerativen Umverteilungswirkungen der Beitragsgestaltung erfahren neben den zusätzlichen intergenerativen Effekten vor allem noch dadurch eine erhebliche Verstärkung, dass im deutschen Sozialsystem die distributiven Wirkungen der einzelnen Sozialversicherungszweige in nicht erkenntlicher Koordination neben jene des Steuerund Transfersystems treten. So besitzt z. B. ein Versicherter mit einem Arbeitsentgelt von monatlich 3.400 e durch Kumulation von Sozialversicherungsbeiträgen und Einkommensteuer eine höhere Grenzabgabenbelastung als ein Individuum mit einem monatlichen Einkommen von über 10.000 e oder darüber. Im Sinne einer transparenten öffentlichen Aufgabenerfüllung fehlt es an einer klaren Trennung zwischen der allokativen Zielsetzung, das Krankheitsrisiko für jeden Bürger abzusichern, und verteilungspolitischen Funktionen. Diese können in organisatorisch konzentrierter Form und mit spezifischen Instrumenten der Steuer- und Transferpolitik zudem zielgenauer erfüllt werden. III. Zur Finanzierung des Leistungskataloges der GKV 1. Das Spektrum der Finanzierungsoptionen Zur Finanzierung des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung stehen grundsätzlich folgende Finanzierungsformen zur Diskussion: – Steuerfinanzierung, – Beitragsfinanzierung und – risikoäquivalente Prämienfinanzierung. Von diesen drei globalen Alternativen schneidet die Steuerfinanzierung im Sinne der Postulate Souveränität und Eigenverantwortung am schlechtesten ab. Die Individuen erhalten die Gesundheitsleistungen im Rahmen der Steuerfinanzierung nicht als anspruchsberechtigte Versicherte, sondern wie staatliche Transferempfänger. Zudem läuft die Steuerfinanzierung des Grundleistungskataloges faktisch auf eine Einheitskasse hinaus, so dass Individuen auch keine Möglichkeit einer Kassenwahl besitzen und ihnen damit entsprechende Freiheitsrechte vorenthalten bleiben. Eine risikoäquivalente Prämienfinanzierung geht dagegen mit inakzeptablen Verteilungswirkungen einher. So könnte z. B. ein schwerkranker Einwanderer bei diesem System keinen finanzierbaren Versicherungsschutz finden. Die Ablehnung einer risikoäquivalenten Prämienfinanzierung bezieht sich allerdings nur auf

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den Grundleistungskatalog einer Pflichtversicherung. Es steht den Individuen völlig frei, sich für darüber hinausgehende (Zusatz-)Leistungen mit Hilfe risikoäquivalenter Prämien abzusichern. Im Sinne einer zielorientierten Absicherung des Krankheitsrisikos bietet sich damit für den Grundleistungskatalog einer Pflichtversicherung eine Beitragsfinanzierung an. Innerhalb der Beitragsfinanzierung bestehen allerdings zahlreiche, überwiegend konkurrierende Alternativen: – reine Kapitaldeckung, partielle Kapitaldeckung, reine Umlagefinanzierung; – einheitliche Beiträge, alterskohortenspezifische Beiträge; – bei alterskohortenspezifischen Beiträgen: mit und ohne Ansparphase; – einheitliche Beiträge, geschlechtsspezifische Beiträge; – einkommensabhängige Beiträge, fixe Kopfpauschalen bzw. Grundbeiträge; – bei einkommensabhängigen Beiträgen: mit und ohne Beitragsbemessungsgrenze, Arbeits- oder Gesamteinkommen als Beitragsbemessungsgrundlage, mit und ohne beitragsfreie Mitversicherung von nicht-berufstätigen Ehegatten, mit und ohne Arbeitgeberanteil; – mit oder ohne beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und Jugendlichen. Unter dem Aspekt von Nachhaltigkeit und Stabilität des Finanzierungssystems weist die Kapitaldeckung gegenüber dem Umlageverfahren bei der Absicherung des Krankheitsrisikos weit geringere Vorzüge als im Rahmen der Alterssicherung auf. Die Kapitaldeckung vermag im Unterschied zum Umlageverfahren zwar Veränderungen der demographischen Struktur12 Rechnung zu tragen, was aber angesichts der zahlreichen anderen, teilweise gewichtigeren Ausgabendeterminanten der Gesundheitsversorgung, wie z. B. dem medizinisch-technischen Fortschritt, bei weitem nicht ausreicht, um eine Nachhaltigkeit der Finanzierung sicherzustellen. Die in dieser Hinsicht relativ geringen Vorzüge der Kapitaldeckung können einen Übergang von Umlageverfahren zur reinen Kapitaldeckung, auch angesichts der dabei anfallenden beträchtlichen Friktionskosten, nicht begründen bzw. rechtfertigen. Für eine partielle Kapitaldeckung auf freiwilliger Basis fehlt im Rahmen einer Pflichtversicherung mit einem weitgehend einheitlichen Grundleistungskatalog für die Versicherten jeglicher Anreiz. Die partielle Kapitaldeckung in obligatorischer Form könnte vor allem dazu dienen, 12 Einer verlängerten Lebenszeit kann auch ein kapitalgedecktes Krankenversicherungssystem nur mit Hilfe diskretionärer Anpassungen Rechnung tragen.

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künftig zu erwartende demographisch bedingte Steigerungen der Beiträge abzuschwächen. Der Aufbau einer solchen „demographischen Kapitalreserve“ setzt allerdings für eine bestimmte Zeitspanne höhere als ausgabenbzw. budgetdeckende Beiträge voraus. Diese obligatorische partielle Kapitaldeckung kann allerdings nur dann ihr angestrebtes Ziel erreichen, wenn der demographisch bedingte Beitragsanstieg künftig nur temporär auftritt, d.h. sich anschließend wieder ein entsprechendes Gleichgewicht einstellt. Das Konzept der alterskohortenspezifischen Beiträge engt verglichen mit allgemeinen Beiträgen die Versichertengruppen, in denen jeweils Umverteilungsprozesse ablaufen, ein und verstärkt damit das Prinzip der gruppenmäßigen Äquivalenz. Bei alterskohortenspezifischen Beiträgen ohne Ansparphase besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Beiträge in den höheren Alterskohorten ein Niveau erreichen, das die Zahlungsfähigkeit vieler Versicherter überfordert. Dies gilt um so mehr, je dynamischer sich der medizinisch-technische Fortschritt entwickelt und gerade für die höheren Alterskohorten ausgabenintensive Produktinnovationen entwickelt. Diesem Unsicherheitsfaktor der künftigen Ausgabenentwicklung vermögen, ähnlich wie bei der reinen Kapitaldeckung, auch alterskohortenspezifische Beiträge mit einer Ansparphase nicht gezielt bzw. wirksam zu begegnen, so dass auch bei dieser Variante mit zunehmendem Alter eine finanzielle Überforderung vieler Versicherter droht. Bei geschlechtsspezischen Beiträgen fallen bis etwa zur Altersgruppe der 55jährigen für Frauen höhere Beiträge als für Männer an, während es sich nach diesem Altersabschnitt umgekehrt verhält. Die Frauen müssten demnach gerade in jener Lebensphase höhere Beiträge entrichten, in der sie mit Geburt und Kindererziehung eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllen, indem sie u. a. zur Nachhaltigkeit umlagefinanzierter Sozialversicherungssysteme beitragen. Insofern verengt sich die Frage nach der zieladäquaten Finanzierung des Grundleistungskataloges einer Pflichtversicherung auf eine Entscheidung zwischen den beiden Varianten einkommensabhängige Beiträge und kassenspezifische Kopf- bzw. Grundbeiträge.

2. Zur Ausgestaltung einkommensabhängiger Beiträge Sofern einkommensabhängige Beiträge keine Beitragsbemessungsgrenze aufweisen, entsprechen sie im Prinzip – je nach Beitragsbemessungsgrundlage – einer Lohn- oder einer Einkommensteuer. Sie unterscheiden sich von dieser Steuer dann nur noch durch den (Beitrags-)Tarif, der nicht progressiv, sondern proportional verläuft. Bei einem gegeben Beitragsaufkommen und einem proportionalen Tarif geht eine hohe (niedrige) Beitragsbemessungsgrenze zwangsläufig mit niedrigen (hohen) durchschnittlichen Bei-

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tragssätzen einher. Distributive Aspekte sowie das Leistungsfähigkeitsprinzip sprechen für eine hohe Beitragsbemessungsgrenze, das Äquivalenzprinzip eher für eine niedrige. Die Einengung der Beitragsbemessungsgrundlage auf bestimmte Einkunftsarten, wie z. B. Löhne, Gehälter und Rentenzahlungen, verletzt sowohl das Leistungsfähigkeits-, als auch das Äquivalenzprinzip. Sie läuft auch distributiven und allokativen Zielen zuwider. Eine Beitragsbemessungsgrundlage, die alle Einkunftsarten einbezieht, besitzt demgegenüber Vorzüge13, indem sie – niedrigere durchschnittliche Beitragssätze ermöglicht, – alle Einkunftsarten gleichmäßig belastet und damit nicht Bezieher bestimmter Einkünfte, wie z. B. Arbeitsentgelte und Renten, benachteiligt, – Manipulationen zwischen den Einkunftsarten, wie z. B. Arbeits- oder Werkverträge, vorbeugt, – die konjunkturelle und strukturelle Abhängigkeit der Finanzierungsbasis vermindert sowie – zu einer gerechteren Belastung zwischen älteren Versicherten, die zumeist über mehr Zinseinkommen verfügen, und jüngeren, die mehr Arbeitsentgelte erzielen, führt. Diese Überlegungen sprechen für eine Beitragsbemessungsgrenze und für eine Beitragsbemessungsgrundlage, die alle Einkunftsarten des Versicherten einschließt. Die Beitragsbemessungsgrenze kann allerdings bei der Beitragsbemessung von Ehegatten zu distributiven Verwerfungen führen, wenn sie im Sinne des Individualprinzips die Einkünfte der Partner jeweils isoliert berücksichtigt. Dieses Problem stellt sich immer dann, wenn – wie oben unter II.2. ausgeführt – ein Partner mit seinen Einkünften oberhalb und der andere unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Im Grenzfall entrichtet eine Zweiverdienerfamilie bei gleichem Arbeitsentgelt bzw. Einkommen doppelt so hohe Beiträge wie eine Familie mit einem erwerbstätigen Partner beziehungsweise Einkommensbezieher. Diese Ungleichbehandlung löst sich auf, wenn sich die Beitragsbemessung am Haushaltsprinzip orientiert und zum sog. Splittingverfahren übergeht. Das Splittingverfahren teilt das gesamte Haushaltseinkommen auf beide Partner auf und unterwirft dann die beiden Einkommensanteile dem jeweils geltenden Beitragssatz. Das Splittingverfahren tangiert nicht die Beitragsbelastung eines Ehepaares, bei der das gesamte Einkommen, und zwar unabhängig von seiner Aufteilung auf die Partner, die Beitragsbemessungsgrenze nicht übersteigt. 13 Wille, Eberhard, Zukünftige finanzielle Absicherung des Krankheitsrisikos, in: Arbeit und Sozialpolitik, 1998, Heft 1/2, S. 16–27.

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Schließlich beseitigt das Splittingverfahren für Ehepaare den Anreiz, das gemeinsame Einkommen mit dem Ziel einer Beitragsminimierung manipulativ aufzuteilen. Ob das Splittingverfahren auch Kinder und Jugendliche einbeziehen soll oder ob diese beitragsfrei mitversichert bleiben, stellt letztlich eine (familien-)politische Entscheidung dar. Ein anteiliger Arbeitgeberbeitrag zur Absicherung des Krankheitsrisikos lässt sich weder im Sinne von Souveränität und Eigenverantwortung der Versicherten, noch mit dem Verteilungspostulat begründen. Bei der verteilungspolitischen Beurteilung des Arbeitgeberbeitrages gilt es zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber diesen zwar (vor-)finanziert, in der Regel aber nicht bzw. nur zu einem geringen Teil trägt. Er versucht, seinen Beitragsanteil wie andere Produktionskosten und Kostensteuern über die Verkaufspreise auf die Konsumenten zu über- oder auf die Arbeitnehmer in Form von Lohnsenkungen und/oder Entlassungen rückzuwälzen. Da Unternehmen konkurrierende Produkte zumeist in gleicher, zumindest ähnlicher Arbeitsintensität erzeugen, dürfte diese Überwälzung des Beitragsanteils – mit Ausnahme des Vorliegens einer sehr elastischen Nachfrage – weitgehend gelingen. Die Beitragsinzidenz fällt damit überwiegend bei den Konsumenten an, so dass auch die Versicherten über den Kauf dienstleistungsintensiver Güter den Arbeitgeberanteil letztlich mittragen. Die Vorstellung, dass sich der Arbeitgeber in der gesetzlichen Krankenversicherung mit einem Beitragsanteil an der Finanzierungslast der Gesundheitsaufwendungen solidarisch beteiligt, beruht auf einer verteilungspolitischen Illusion. IV. Einkommensabhängige Beiträge versus kassenspezifische Grundbeiträge Die Finanzierung des Grundleistungskatalogs einer Pflichtversicherung mit Hilfe von Pro-Kopf-Pauschalen bzw. kassenspezifischen Grundbeiträgen kann – wie das System einkommensabhängiger Beiträge – als Umlageverfahren erfolgen, wobei die Pauschalen den jeweiligen durchschnittlichen Gesundheitsausgaben entsprechen14. Dabei kann dieses Finanzierungssystem alle Versicherten mit gleich hohen gesundheitskostenorientierten Pauschalen belegen, aber auch mit gruppenmäßiger Äquivalenz reduzierte Beiträge für Kinder und Jugendliche oder eine beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und Jugendlichen vorsehen. Für Personen, die nur ein sehr niedriges Einkommen beziehen, übernimmt die öffentliche Hand die Finanzierung der Beiträge. In dieser idealtypischen Form beschränkt die Finanzierung über kassenspezifische Grundbeiträge im Vergleich mit dem geltenden 14 Die Höhe der kassenspezifischen Grundbeiträge variiert im Wettbewerb zwischen den Krankenkassen.

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System der gesetzlichen Krankenversicherung die ex ante-Umverteilung auf einen Ausgleich zwischen geringen und hohen Gesundheitsrisiken sowie jungen und alten Versicherten. Sie beinhaltet keine beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen – zumindest nicht von Ehepartnern – und mit Ausnahme der sozialpolitisch motivierten staatlichen Übernahme der Beitragszahlung keine Einkommensabhängigkeit. Der Unterschied zwischen kassenspezifischen Pauschalen bzw. Grundbeiträgen und einkommensabhängigen Beiträgen zerfließt, wenn der Staat die Beitragszuschüsse, wie z. B. in der Schweiz, gleitend in Abhängigkeit vom jeweiligen Einkommen eines Versicherten bzw. Haushalts gewährt.15 Der Staat bezuschusst dann den Beitrag eines Versicherten bzw. die Beitragssumme eines Haushalts (P) um den Betrag, um den dieser bzw. diese einen bestimmten Prozentsatz (x) seines Haushaltseinkommens (Yi) übersteigt. Der Beitragstarif (B) läßt sich dann durch eine Proportionalzone mit einem (impliziten) Beitragssatz in Höhe des vorgegebenen Prozentsatzes (x) und € ê beschreiben, die von der Haushaltseiner Beitragsbesmessungsgrenze ÈY größe und gegebenenfalls -struktur abhängt:  È1ê

B

€ x  Yi ; sofern Yi < Y €: P; sofern Yi > Y

In ähnlicher Weise könnte man im geltenden Beitragssystem der gesetzlichen Krankenversicherung bezogen auf einen Versicherten den Höchstbeitrag, der sich durch Multiplikation des Beitragssatzes mit der Beitragsbemessungsgrenze ergibt, als Pauschale bezeichnen: È2ê

€ und PãxY

È3ê

€ B ã x  Yi ; f u¨ r Yi  Y

Diese Überlegungen zeigen, dass kassenspezische Pauschalen in ihrer praktischen Ausgestaltung keineswegs eine Einkommensunabhängigkeit aufweisen (müssen) und sich dadurch von den „einkommensabhängigen“ Beiträgen unterscheiden. Je nach Ausgestaltung kann die Einkommensabhängigkeit dieser kassenspezifischen Pauschalen in weit höhere Einkommensregionen hineinreichen als z. B. im geltenden Beitragssystem der gesetzlichen Krankenversicherung. Die entscheidenden Merkmale der Pro-Kopf-Beiträge bestehen im Vergleich zum Beitragssystem in der gesetzlichen Krankenversicherung vielmehr darin, dass diese Finanzierung16 15 Breyer, Friedrich, Einkommensbezogene versus pauschale GKV-Beiträge – eine Begriffserklärung, in: Schmollers Jahrbuch 122, 2002, Heft 4, S. 605–616.

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– bei der Beitragsbemessung nicht nach Einkunftsarten differenziert, sondern alle Einkünfte einbezieht, – nicht auf das Individual-, sondern auf das Haushaltsprinzip abstellt, – die Beitragsbemessungsgrenze und damit auch den Beitragssatz von der Haushaltsgröße und gegebenenfalls -struktur abhängig macht, – keinen Arbeitgeberbeitrag vorsieht und – die Beitragszuschüsse und damit die Einkommensumverteilung nicht im Rahmen des Beitragssystems, sondern von außen über steuerfinanzierte Zuschüsse alimentiert. Da die Beitragsgestaltung im Rahmen der einkommensabhängigen Finanzierung, wie unter III.2. dargelegt, unter Zielaspekten ebenfalls ohne Arbeitgeberbeitrag mit Berücksichtigung aller Einkunftsarten und einer Orientierung am Haushaltsprinzip erfolgen sollte, reduziert sich der Unterschied zu den kassenspezifischen Pauschalen letztlich auf die Finanzierungsquellen der Einkommensumverteilung. Diese erfolgt bei den Pro-Kopf-Beiträgen außerhalb des (Beitrags-)Systems über Steuern, so dass die Beiträge dadurch vergleichsweise niedriger ausfallen können. Unter Berücksichtigung der Inzidenz des für die Bezuschussung benötigten Steueraufkommens lassen sich theoretisch betrachtet mit beiden Finanzierungsvarianten die gleichen verteilungspolitischen Effekte erzielen. Eine einkommensabhängige Finanzierungsform, die alle Einkunftsarten einschließt, sich am Haushaltsprinzip orientiert und keinen Arbeitgeberbeitrag vorsieht, unterscheidet sich von dem Finanzierungskonzept der ProKopf-Pauschalen bzw. kassenspezifischen Grundbeiträgen mit einkommensabhängiger Bezuschussung letztlich nur durch die Finanzierungsquellen der Einkommensumverteilung und die Erhebungsart der Beiträge. Im Unterschied zur „einkommensabhängigen“ Finanzierung führt das Konzept der Pro-Kopf-Pauschalen zu einer klaren instrumentalen Trennung zwischen der allokativen Aufgabe, das Krankheitsrisiko auf einem hinreichenden Niveau abzusichern, und der verteilungspolitischen Funktion, die dann zielgenauer erfüllt werden kann. Die soziale Krankenversicherung dient dann ausschließlich dem Ziel, für alle Bürger unabhängig von deren Einkommen eine adäquate Gesundheitsversorgung sicherzustellen, während alle (übrigen) verteilungspolitischen Aufgaben der Steuer- und Transferpolitik obliegen. Zudem ermöglicht die Finanzierungsvariante der Pro-Kopf-Pauschalen auch eine einfachere Beitragsbemessung, indem sie eine spezielle Erfassung aller Einkunftsarten erübrigt. 16

Breyer (Fn. 15).

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Insgesamt gesehen weisen Pro-Kopf-Pauschalen bzw. kassenspezifische Grundbeiträge gegenüber den geltenden einkommensabhängigen Beiträgen unter Zielaspekten somit folgende Vorzüge auf17: – höhere fiskalische Nachhaltigkeit durch Abkoppelung von einer wachstumsschwachen Finanzierungsbasis, – Resistenz gegenüber negativen einnahmenseitigen Effekten des demographischen Wandels, – wachstums- und beschäftigungsfördernde Wirkungen durch Senkung der Lohnnebenkosten, – Senkung der Anreize zu Tätigkeiten im Rahmen der Schattenwirtschaft durch Abnahme der Grenzabgabenbelastung, – mehr Transparenz über die Kosten der Gesundheitsversorgung, – transparentere und effizientere Verteilung durch Integration in die Steuerund Transferpolitik sowie – höhere horizontale und vertikale Gerechtigkeit durch Beseitigung der verteilungspolitischen Verwerfungen des geltenden Beitragssystems.

17 Breyer, Friedrich/et altera, Reform der sozialen Sicherung, Gutachten im Auftrag der Bertelsmann, der Heinz Nixdorf und der Ludwig-Erhard Stiftung e.V., Bonn, Gütersloh, 2003.

Aktueller Reformbedarf in der gesetzlichen Krankenversicherung Von Eike Hovermann I. Einleitung und erster Ausblick Lassen Sie mich mit Gedanken von Ernst-Wolfgang Böckenförde (Frankfurter Rundschau, 2. Juni 2003) zum Thema: „Was ist sozial gerecht?“ beginnen: „Dass die Reformdiskussion auch als Gerechtigkeitsdiskussion geführt wird, ist durchaus zu begrüßen. Denn stehen Veränderungen und Einschnitte an, ist die Auffassung von deren Gerechtigkeit Grundlage für ihre Legitimität und Akzeptanz. Freilich kann die Berufung auf fehlende Gerechtigkeit und die Behauptung, bestimmte Maßnahmen seien sozial ungerecht, auch zum interessengeleiteten Schutzinstrument werden, um Dinge, die einen selbst nachteilig betreffen, abzuwehren“.

In der heftigen Diskussion um die Agenda 2010 und den Entwurf des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes (GMG-Entwurf) hat man zu genau diesen Gedanken von Ernst-Wolfgang Böckenförde auf Gesprächsforen immer wieder folgendes Erlebnis mit entsprechend widersprüchlichen Aussagen – je nach Zuhörerschaft mit überdeutlich geäußerten und im Einzelfall auch durchaus nachvollziehbaren Partikularinteressen. Man hört Sätze wie: – Ja, Reformen sind unbedingt nötig. – Die Agenda 2010 gehen nicht weit genug, sie sind erst der Anfang. – Die soziale Balance fehlt; mit der Umverteilung der Krankengeldbeiträge verlassen wir endgültig die Parität. – Die Arbeitnehmer werden überproportional belastet, die Arbeitgeber nur entlastet. – Gebt den Kassen nicht zuviel Macht. – Mehr Geld in das System zur Verbesserung der Qualität. – Es gibt zu viele Krankenhausbetten (. . .aber natürlich dürfen Krankenhäuser nach Meinung der Kommunen nicht geschlossen werden). – Rot-Grün leitet das Apothekensterben ein usw.

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Je nach Zuhörerschaft mobilisieren dann Gewerkschaften, Kassenärztliche Vereinigungen, die Kassen, und zwar GKV und PKV in gleicher Weise, die Verbraucherberatungen, Patientengruppen, Apotheker und manch andere Gruppierungen, mehr noch „ihre Gutachter und Professoren“, „ihre Lebenserfahrungen und geschichtlichen Erkenntnisse“ zu den Themenfeldern: Sozialer Wandel, Einschnitte und Reformen, Grundrechte der Leistungserbringer. Addiert man all diese natürlich „immer nur gutgemeinten“ Hinweise, fügt man dazu die Ergebnisse aus Anhörungen, zu denen jede Partei in der Regel ihre Gutachter mit den schon bekannten Aussagen einlädt, dann soll eigentlich – bis auf kleine Korrekturen – alles so bleiben, wie es ist. Und jede Partei fühlt sich nach Anhörungen in der Regel (von ihren Gutachtern) voll bestätigt. Gleichzeitig wird der tief sitzende, aber menschlich eben verständliche Wunsch nach Erhalt des status quo begleitet von der immer deutlicher werdenden Erkenntnis: „Es darf nicht alles so bleiben, sonst fährt die Karre vor die Wand“.

In diesem Spannungsfeld zwischen: „Es soll alles so bleiben, wie es ist“ und „es muß sich dringend etwas ändern“, entstehen naturgemäß Gesetze – jetzt und in der Vergangenheit –, die vorhandene Widersprüche und Interessensgegensätze nicht in wirklich neue Handlungs- und Entscheidungsmechanismen überführen können und oft auch nicht wollen. Übrig bleiben Formelkompromisse und zusätzliche Regulierungen, die uns nicht den Zielen der Agenda 2010 näher bringen, nämlich: – Abbau von Überbürokratisierung, – echter Wettbewerb, – Auflösung von Verkrustungen in den Entscheidungsstrukturen, – Steigerung der Selbstverantwortung und Mündigkeit von Beitragszahlern und Patienten – jenen seltsam gespaltenen Wesen mit ihrem Wunsch nach niedrigem Beitragssatz bei gleichzeitiger Vollkaskoversorgung. Insbesondere die Auflösung von Verkrustungen und die damit verbundene Notwendigkeit neuer und effizienterer Wege in der Gesundheitsversorgung wird zusätzlich noch dadurch erschwert, dass der Bundesgesetzgeber bei allen wirklichen Strukturveränderungen von einer Mehrheit in der Länderkammer abhängig ist. Beim anstehenden GMG-Entwurf betrifft das etwa 80% des Gesetzes. Damit werden auch automatisch fast 80% der vom Ministerium angedachten Einsparvolumina zur Senkung der Beiträge berührt.

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Damit ist ein Verfahrens- und gleichzeitig ein Inhaltspunkt angesprochen – beide werden ja so gerne aber ebenso unsinnig getrennt –, zu dem sich Ernst-Wolfgang Böckenförde (in o. g. Artikel) so geäußert hat: „Zur Gerechtigkeit gehört Verlässlichkeit. Kaum etwas ist dem gemeinsamen Wohl aller so zuwider wie die gegenwärtige Hektik steter Gesetzesvorschläge, -modifizierungen, -rücknahmen, die vom Fehlen durchdachter Konzepte herrührt. Sie höhlt jedes Vertrauen in den Bestand geltender Regelungen aus, verhindert bei Menschen und Unternehmen längere Dispositionen, zumal Investitionen, und ist Gift für eine auf wirtschaftliches Wachstum angewiesene Gesellschaft. Wenn die längst notwendigen Reformen nun kommen – und es ist zu hoffen, dass sie endlich bald kommen, müssten sie von dem Versprechen begleitet sein, an den einschlägigen Gesetzen und Maßnahmen fünf Jahre nichts zu ändern. Das würde wieder Vertrauen entstehen lassen, Initiativen freisetzen und den Weg zur Beständigkeit und Kontinuität ebnen.“

Eins scheint mir daher vornehmlich richtig: Die Politik muß gemeinsamer als bisher auf Bundesebene handeln und darf notwendige ganzheitliche Reformen im Gesundheitswesen, die mit sich verändernden Rahmenbedingungen bei Rente und Pflege gekoppelt sein müssen, nicht ständig weiter in Kommissionen oder unter wahltaktischen Aspekten in den Vermittlungsausschuss des Bundesrates verlagern. Wir müssen uns bei dieser Arbeit mehr als bisher darin üben, Gesetze mit Hilfe von Experimentier- und Öffnungsklauseln besser und schneller an neue gesamtgesellschaftliche Entwicklungen anpassen zu können. Es darf nicht sein, dass Gesetze bei Beschlussfassung schon überholt sind. Mir ist bewußt, dass in der Forderung nach höherer Anpassungsflexibilität von Gesetzen und dem Wunsch von Ernst-Wolfgang Böckenförde nach längerer Haltbarkeit von Gesetzen ein Widerspruch liegt, der die Bereiche Planungssicherheit einerseits und Freiraum für notwendige schnelle Anpassungen andererseits berührt. Diese Spannung und der darin offenbar werdende Widerspruch muß aber ständig thematisiert werden, um das Bewusstsein dafür zu wach zu halten, dass mit statischen Instrumenten oftmals nur schlecht dynamische Entwicklungen begleitet und gesteuert werden können. Anders: In der Vergangenheit wurden unter der Prämisse und Hoffnung auf immer wieder neu einsetzendes Wachstum Leistungen und Leistungskataloge bei Rente und GKV gesetzlich – mit dynamischer Tendenz nach oben – festgelegt. Hier fehlt die gesetzliche Klausel, dass bei absinkendem oder gänzlich ausbleibendem Wachstum staatlich versprochene Leistungen und Leistungskataloge auch wieder absenkbar sind, um nicht trügerische Sicherheiten verbreiten zu müssen. Genau dies ist allzu lange geschehen, natürlich auch weil in der Politik Geben schöner ist als Nehmen. Die Mehrheit

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unserer Bürger ist auf diesem Weg unreflektierter Wachstumserwartungen aber selbstverständlich zu Nehmern und weniger zu Gebern erzogen worden. Genau damit hat die Politik nun ihre Probleme, weil das Absenken von Leistungen als Sozialklau diffamiert und bei Wegbrechen der Finanzkraft des Staates nicht als Mittel diskutiert wird, die Leistungsfähigkeit des Staates zu erhalten, um vorrangig neue Arbeitsplätze zu schaffen. II. Dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf wegen wachsenden Einflusses der EU-Gesetzgebung auch im Gesundheitssektor Ich denke hier insbesondere an den Einfluß von EuGH-Urteilen und europäischen Richtlinien zur Freizügigkeit und zum Wettbewerb im Gesundheitswesen auf EU-Ebene. Hier haben wir uns – nicht nur in der Politik, sondern auch bei Kassen, KV-en und Gutachtern – allzu lange auf die im Maastricht-Vertrag niedergelegte nationale Zuständigkeit für den Sozialbereich verlassen. Vor Jahren bin ich wegen meiner Warnungen und Vorschläge diesbezüglich belächelt worden. Die Kassen waren mit den KV-en unisono der Meinung, dass die EuGH-Urteile allenfalls Einzelfallregelungen seien, aus denen nichts ableitbar wäre, was die nationalen Regelungsmechanismen anlange. Es war leider sträflich übersehen worden (oder war es gar bewusst geschehen?), dass der Bereich Gesundheit kein eigenständiger Aufgabenbereich in der EU ist, sondern dem Sektor: Standortpolitik und freier Warenund Dienstleistung zugeordnet worden war. Jetzt wird eilig die EU-Kompatibilität überall eingebaut. Mehr nur reagierend als vorausschauend auf erwartbare und unabweisbare Entwicklungen. Ich nenne hierzu stellvertretend nur das im GMG-Entwurf geplante Institut, das mir allein schon aus europapolitischer Sicht entbehrlich scheint, weil es auf dezentrale, nationale Regelungen abhebt, während mit dem bereits bestehenden Institut EMEA in London unabweisbar zentrale Regelungen zu erwarten sind, die einen Wettbewerb mit „gleichen Spießen“ ermöglichen sollen. Nach Meinung der AOK soll die EU-Kompatibilität dagegen immer noch so konstruiert werden, dass Europa am besten die in der Bundesrepublik Deutschland gewachsenen Strukturen übernimmt – inklusive „einheitlich und gemeinsam“ und „Risikostrukturausgleich“ und „Verhandlungen via Spitzenverbände“ usw. Verständlich sind solche stets mit handfesten Fakten untermauerten Wünsche schon, weil man eben die gewohnten Wege, Trampelpfade und auch

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Schleichwege, bestens kennt und weiß, wie man auch mit dem „Gerechtigkeitsargument“ neue Wege verminen und blockieren kann. All diese national gewohnten, immer kostspieliger werdenden Regelungsund Einflussmechanismen sind Hindernisse, die im zusammenwachsenden Europa nicht mehr zu halten sein werden. Denn in diesen unüberschaubaren, nationalen Regelungsmechanismen mit ihren sorgsam behüteten Einflusssphären versacken zunehmend Beitragsgelder ohne Nutzen für den Patienten, und so erhöht sich der Beitragsdruck für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber. Eine notwendige und mögliche Steigerung von Qualität – siehe § 140 SGB (Integrierte Versorgung) – wird so ständig blockiert. Eigenverantwortliches Handeln von Kassen, einzig auf der Basis eigener Einnahmen – ohne Schielen auf immer komplizierter und vor allem Verwaltungskosten steigernde Ausgleichsmechanismen (Risikostrukturausgleich) – wird so auf Grund fehlender Strukturveränderungen nicht eingefordert. Die Wettbewerbsfähigkeit nationaler Kassen wird so à la longue geschwächt. III. Zur aktuellen Gesundheitsreform Wo sind nun aus meiner Sicht „Knackpunkte“ im GMG-Entwurf unter Berücksichtigung der Agenda 2010-Ziele versteckt? Wo tauchen im GMG-Entwurf selbst Widersprüche auf? Was wünschen sich wichtige gesellschaftliche Gruppen vom GMG-Entwurf? Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat sich auch unter Nutzung des Gerechtigkeitsargumentes sowohl gegen wichtige Passagen des GMGEntwurfs ausgesprochen, manches aber auch vehement gefordert, wie z. B. – das Hausarztmodell, – das neue Institut, – eine Erwerbstätigen-Versicherung unter Einbezug der Beamten, – die Zurücknahme von Verschiebebahnhöfen in der Vergangenheit zu Lasten der Kassen in Höhe von rd. 30 Milliarden DM, – den Erhalt des bestehenden Risikostrukturausgleichs (RSA) mit seiner Koppelung an die Desease Management Programme (DMP) und Installierung des morbiditätsorientierten RSA ab 2007 für dann etwa 70 Millionen Patienten u. a.

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1. Der RSA – Wunsch und Wirklichkeit Ich will zum RSA nur wenige grundsätzliche Bemerkungen aus meiner Sicht machen. Zunächst zum RSA selbst und dann zu seiner beabsichtigten Koppelung mit den DMP. Der RSA wurde seinerzeit in den Verhandlungen von Lahnstein 1992, die unter Leitung des seinerzeitigen Bundesministers Horst Seehofer mit der Opposition im Bundestag und den Bundesländern geführt wurden, konstruiert, um „mehr Wettbewerb unter den Kassen“ zu ermöglichen durch Öffnung des Kassenzugangs nach sinnlos gewordener berufsbezogener Zuordnung von Beitragszahlern zu „ihren“ Kassen. Mehr Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern – etwa durch selektive Verträge mit ausgewiesenen guten Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten in Bezug auf Angebot und Resultat – war seinerzeit in Lahnstein wegen vielfältigen Interessensdrucks nicht durchsetzbar. Dadurch entstand naturgemäß von Anfang an zwischen Kassen und Leistungserbringern eine schiefe Wettbewerbsebene. Die Transparenz von Geldflüssen konnte nicht zwingend mit der Qualität von erbrachten Leistungen gekoppelt werden. Es blieben kostenträchtige Schnittpunkte durch sektorale Versorgungsebene, und schlechte Leistungen mussten ebenso bezahlt werden wie gute u. a. mehr. Der RSA bekam ab 1992 die Aufgabe, einen solidarischen Ausgleich zwischen Kassen mit unterschiedlichen guten und schlechten Risiken zu begründen. Damit sollten Überlastungen einzelner Kassen vermieden werden. Solange noch genug Geld in das System floss, wurde die Problematik des RSA als reines Transferinstrument für Gelder zwischen Nehmer- und Geberkassen nicht thematisiert. Erst jetzt bei stagnierenden, respektive sinkenden Wachstumserwartungen, wegbrechenden Steuer- und Beitragseinnahmen gerät der schief konstruierte RSA in die Strukturdebatte um die Gesundheitsversorgung. Denn von 8,7 Milliarden e in 1995 ist der RSA bis 2002 auf ein Transfervolumen von 15 Milliarden e (= rd. 85%) angewachsen, ohne dass die schlechten Risiken bei einzelnen Kassen proportional ähnlich angestiegen sind. Sollte die Koppelung der Chronikerprogramme an den RSA Regulierungsinstrument im Versorgungsalltag werden, werden sich zum einen die Verwaltungskosten und Regulierungsdichten weiter erhöhen. Denn Chroniker müssen erfasst, gesteuert und überprüft werden – z. B. auch hinsichtlich

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oft fehlender compliance, die jährlich dem Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung Milliarden von Euro entzieht. Zum anderen werden sich alle Geberkassen bemühen, mit Hilfe von DMP-Projekten aus dem Geber- in den Nehmerstatus zu kommen. Schon jetzt gibt es Berechnungen, wonach sich die Verwaltungskosten für die DMP extrem erhöhen werden. Im Zuge des morbiditätsorientierten RSA ab 2007 würden dann ca. 70% der Kosten via RSA umgelegt und bezahlt. Damit wären wir rein finanztechnisch auf dem Weg in eine Einheitskasse, die bereits durch Kriterien wie „einheitlich und gemeinsam“ gut vorbereitet ist. Mit innovativem Wettbewerb, Abbau von Überregulierungen und effektivem und verantwortlichem Einsatz von eingenommenen Beiträgen hat das nichts mehr zu tun. Insoweit wird der Druck auf den Beitrag nur steigen können, anstatt auf 13% zu sinken. Insofern entstehen so im GMG-Entwurf langfristig angelegte, widersprüchliche Leitvorstellungen zu den Agenda 2010 und selbst zu den Zielen des GMG-Entwurfs: Mehr Wettbewerb um eine qualitätvollere Versorgung. Nicht unerwähnt bleiben soll hier hinsichtlich des Ziels der Senkung von Beiträgen wegen der Lohnnebenkosten, dass die Durchführung von DMP mehr Geld für Diagnose, Behandlung sowie Investitionen kosten wird. Mehr Qualität ist nicht für weniger Geld zu haben. Einsparungen werden allenfalls stark zeitversetzt eintreten können. Medizinischer Fortschritt und sich verändernde Altersstrukturen werden die Kostenvorteile aber aus meiner Sicht komplett absorbieren. Insgesamt hat das Bundessozialgericht in seinem RSA-Urteil vom 24.01.2003 nachdrücklich die Politik dazu aufgefordert, Verwerfungen innerhalb des RSA zu beseitigen. Als Alternative, die auch kassenseitig schon diskutiert wird, empfiehlt sich z. B. – eine schrittweise in einer Zeitachse festzulegende Absenkung des RSA auf einen Ausgleich nur für ältere Versicherte ab etwa 50 Jahren. – Entkoppelung des RSA von den DMP, weil sonst alle anfallenden Kosten in einem Chronikerprogramm via RSA umgerechnet werden.

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2. Hausarzt – Wunsch und Wirklichkeit Zum Hausarzt-Modell, – das im übrigen ebenso zustimmungspflichtig im Bundesrat ist wie Arzneimittelzuzahlungen, Praxisgebühr, Kollektiv- und Einzelverträge, Öffnung der Krankenhäuser für ambulante Versorgung, Zulassung von Gesundheitszentren für vertragsärztliche Versorgung, Weiterentwicklung der integrierten Versorgung via § 140 SGB V, Datentransparenz, Steuerung des Verordnungsverhaltens, Patientenbeauftragte und vieles andere mehr – ist Folgendes zu erinnern: In einem unserer Vorbildländer, Schweiz, haben sich Versicherte und Versicherungen zu 90% plus x aus dem Hausarztmodell zurückgezogen, weil es die gewünschten Qualitätskriterien (Transparenz der Geldströme, erreichte Qualität etc.) nicht erreicht hatte und überdies defizitär wirkte (= nachweisbare Mehrkosten). Mehrere Kassen bei uns distanzieren sich inzwischen auf der Basis dieser und neuerer Erkenntnisse zunehmend deutlicher von dem Hausarztmodell – auch weil sie die unklare Vertragssituation im Spannungsfeld von kollektiver und selektiver Vertragsgestaltung für falsch erachten. Der Patient muss sich gemäß GMG-Entwurf zur Erlangung von „Vorteilen“ in ein Hausarztmodell einschreiben; so erfolgen zwangsweise wieder zusätzliche Regulierungen und sektorale Versorgungsbesonderheiten für eine Versorgungsebene. Die Kassen müssen so ein Hausarztmodell vorhalten. Das kostet! All das muss nämlich auch organisiert und verwaltet werden. Das bindet so weiteres, teures Personal. Gleichzeitig „sollen“ die Kassen ihre Verwaltungskosten senken. Übrigens: Den ganzheitlichen Hausarzt als Lotsen, der die ganze Familie mit ihrem ganzen sozialen Umfeld kennt, haben wir derzeit weder von der universitären Ausbildung noch durch die Weiterbildung an den Krankenhäusern. Noch haben wir die entsprechende Vergütung der sog. „Sprechmedizin“ im Verhältnis zur „Apparatemedizin“. Als Alternative sollten wir – auch um die Eigenentscheidung des Patienten und Beitragszahlers höher zu gewichten – den Patienten seinen Hausarzt, seinen Vertrauensarzt, seinen Lotsen wählen lassen. Das kann beim Mann auch der Urologe sein?! Das kann auch der Facharzt für Allgemeinmedizin sein. Er sollte es nur nicht sein müssen u. a. wegen der viel beschworenen und eingeforderten Mündigkeit und Selbständigkeit des Patienten.

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Im Zeitalter der „Neuen Medien“ und einer intelligenten Chipkarte sind qualitätvolle und notwendige Informationen und Beratungen durchaus auch ohne Hausarztmodell zu bündeln und der ganzen Versorgungskette zur Verfügung zu stellen hinsichtlich Diagnose, Therapie, Verordnungen, Kosten und erreichter Qualität und zur Vermeidung zum Beispiel von Doppeluntersuchungen und ähnlichem, was leider immer noch viel Geld ohne wirklichen Nutzen für die Beitragszahler – Arbeitnehmer und Arbeitgeber – schluckt. Eine wirklich intelligente Chipkarte mit einem zentralen oder dezentralen Server kann aber nur dann funktionieren, wenn sie mit dem Patienten als Besitzer seiner eigenen Daten Diagnosen, Therapien und Resultate nicht verschlüsselt, sondern sie öffnet für die Einsicht in Transparenz von Geldflüssen und Qualität der Versorgung. An solchen fehlenden, aussagekräftigen Daten ist z. B. auch das Arzneimittelbudget-Ablösegesetz (ABAG) gescheitert. 3. Das neue Institut Ebenso schwierig zu verstehen ist der DGB-Wunsch nach einem neuen Institut. Denn: Die Leitung des Instituts und der „wissenschaftliche Beirat aus fünf unabhängigen Wissenschaftlern“ wird vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung direkt bestellt. Das Ganze soll auf „Empfehlung“ eines Kuratoriums geschehen, das von insgesamt 28 Institutionen mit 49 Mitgliedern beschickt wird. Damit entsteht schon bei der Berufung die intendierte Staatsferne eher nicht und zugleich beim empfehlenden Kuratorium eine so extreme Interessenspreizung, die weder harmonisierbar ist noch produktives Arbeiten erwarten lassen kann. Mehrheitsvoten werden – siehe Rürup-Kommission – kontrovers diskutiert, Minderheitsvoten nicht weniger. Deshalb gehen inzwischen auch Kassen wie beim Hausarztmodell in Distanz zum Institut, „weil dort zu viele Gruppen vertreten sind“. Zugleich entscheidet das Ministerium ohne beteiligte Hersteller, was Transparenz und motivierte Mitarbeit ausschließt und zu unnötigen Konfrontationen führt. Hinzu kommt, dass hinsichtlich des neuen Institutes und seiner Arbeit zahlreiche parallele Institute und Zuständigkeiten bestehen bleiben, die sich mit überschneidenden Aufgaben beschäftigen und diese fast alle mit einer unterschiedlichen methodischen Basis. Dazu gehören:

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– das Institut für Arzneimittelverordnung, – Wissenschaftlicher Beirat des Deutschen Zentrums für Qualität in der Medizin, – Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen mit seinen Ausschüssen und dem Koordinierungsauschuss, – das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information, – das Institut EMEA in London auf EU-Ebene und andere Einrichtungen mehr. Das Problem ist also bei weitem nicht alleine das Institut, sondern insbesondere auch die parallel agierenden Institute mit überlappenden Aufgaben. So entstehen neue, unentwirrbare Regulierungsdickichte und natürlich zusätzliche Kosten. Auch dies spricht gegen die Agenda 2010-Ziele: Abbau von Verkrustungen, Abbau von Überregulierungen, mehr echter Wettbewerb, Abbau von unnötigen Kosten, Senkung des Beitrages zur gesetzlichen Krankenversicherung und damit der Lohnnebenkosten, Sicherung des Standortes „D“. Alles in allem – man könnte noch weitere Punkte wie z. B. die Positivliste ansprechen – scheinen die DGB-Wünsche eher angebunden an eine erträumte Realität und spekulative Einnahmevorstellungen, was Einsparungen anbetrifft, als an die zu lösenden Aufgaben bei sich rapide wandelnden Verhältnissen. Allein auf Grund der Verschmelzung und Erweiterung Europas in Richtung Osten und Türkei mit stärker werdendem Wettbewerb in allen gesellschaftlichen Sektoren werden die zu lösenden Aufgaben im Gesundheitssektor nicht leichter. Nationale, starre und unflexible Entscheidungsmechanismen werden bei der Lösung dieser Aufgaben und bei der Ausgestaltung der zukünftigen Gesundheitsversorgung nicht mehr konstruktiv helfen können. Die vorhandene inkompatible Interessenvielfalt wird weiter ihr Spiel treiben mit Patienten und Beiträgen. Das sollte beim DGB intensiver diskutiert werden. Niemand hat wahrscheinlich das Innenleben des DGB ähnlich intensiv miterlebt wie Hans Jürgen Arlt, bis 2002 Sprecher des DGB, heute Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin für politische Kommunikation. Er schreibt in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Wir brauchen eine andere Gewerkschaft“: „Gewerkschaften scheinen ein besonderes Talent zu haben, die Zahl ihrer öffentlichen Freunde zu minimieren. Wie alle Dickköpfe deuten sie die Schelte in Selbstbestätigung um: Die Welt wird schlechter, das Häuflein der Gerechten und Aufrechten kleiner. Weshalb gelingt es der Gewerkschaftsbewegung nicht, ihre

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unverändert nützliche Funktion in politische Anerkennung und Mitgliederzuwachs umzumünzen?“

Die Antwort von Arlt lautet: „Gebraucht wird nicht weniger Gewerkschaft, benötigt werden andere Gewerkschaften. Die Versuchung ist groß, das Auslaufen historischer Modelle (Gewerkschaft, Tarifvertrag, Mitbestimmung, Sozialstaat) gleichzusetzen mit einem Fundamentalangriff auf die Idee und gegen Untergänge zu protestieren statt Übergänge zu neuen Modellen zu organisieren. Es klingt paradox, aber erst die kontrollierte Anpassung an die veränderten Arbeitsverhältnisse macht Gewerkschaften zukunftstauglich. Das große Problem liegt in der Grundhaltung, mit der die Gewerkschaften den weitreichenden Veränderungen der Arbeitsverhältnisse begegnet: Sie führt perspektivlose Abwehrgefechte.“

Diese Einschätzung von Arlt scheint mir auch richtig in Bezug auf die DGB-Positionen zur Gesundheitsreform. So überrascht es dann eigentlich auch nicht, wenn der Hamburger ver.diChef Wolfgang Rose in einer Veranstaltung im Juni 2003 verblüfften Hamburger Diskutanten mitteilte, „Arbeitnehmer sollten sich ruhig über höhere Lohnnebenkosten freuen“, denn „je höher die Lohnnebenkosten seien, um so mehr Geld werde dann auch für die soziale Absicherung ausgegeben“. Selbst Professor Lauterbach war ob dieser Argumente Roses verwirrt, die in der Erkenntnis gipfelten, dass steigende Lohnnebenkosten „gar nicht so schädlich für die Beschäftigung in der Volkswirtschaft seien“. Dagegen ist die Stellungnahme der Deutschen Bischöfe vom Mai 2003 enorm offen, wenn sie Überlegungen thematisieren, „den Arbeitgeberanteil zur GKV von weiteren Beitragssatzsteigerungen abzukoppeln, entweder durch sein ‚Einfrieren‘ oder durch seine einmalige Umwandlung in Lohnbestandteile. Dies würde tendenziell beschäftigungsförderlich wirken“.

Diese Diskussion der Bischöfe zu den Arbeitgeberbeiträgen wird durch die Erkenntnis begleitet, dass es „mittlerweile als gesichert gelten kann, dass die Finanzierung von Sozialsystemen durch an das Arbeitseinkommen gekoppelte Beiträge negative Folgen für die Beschäftigung hat“.

4. Andere können das aber mindestens genau so gut wie der DGB Ähnliche reflexhafte, ritualisierte Reaktionen wie vom DGB kommen vielfach auch aus dem Arbeitgeberlager, aus Kassenärztlichen Vereinigungen, von Kassen und vielen anderen Institutionen im Gesundheitswesen. Dabei geht es immer auch um die Termine für nächste Wahlkämpfe oder Vorstandswahlen, die man offensichtlich ohne eingeübte und von daher auch erwartete Formeln nicht glaubt gewinnen zu können. Auch hier ist in

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der gesellschaftlichen Streitkultur ein Teufelskreis entstanden, den offenbar weder leitende Funktionäre noch Mitglieder von Institutionen überwinden können oder wollen, weil „die Leitenden“ zur Wiederwahl immer wieder das sagen müssen, was sie ihren Mitgliedern vorher als richtig eingetrichtert haben – auch wenn sich die Realität geändert hat und mit den Leitwerten und Schlagworten von gestern die Aufgaben der Zukunft nicht mehr zu meistern sind. IV. Was wir wirklich brauchen?! Was wir wirklich brauchen ist, so Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, eine „große Koalition der Veränderungsbereitschaft“ mit dem „Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen“ (BILD vom 19.05.2003). Das alles geht meines Erachtens nur in einem Bündnis der beiden großen Volksparteien. Denn die anzustrebenden Lösungen bedürfen oft einer ZweiDrittelmehrheit und damit auch der Abschüttelung von föderalen Fesseln. Sonst kommen wir nie z. B. zu einer integrierten Versorgung, die unbestritten als optimale Lösung von allen angestrebt wird, die aber im Dickicht von föderalen Interessen verloren geht und vor allem auch scheitert, so Professor Wille, „in der starken Abschottung von ambulanter und stationärer Behandlung“ und am „starren Vertragsrecht“ und am „einheitlichen Leistungskatalog“ (Bad Orber Gespräche über kontroverse Themen im Gesundheitswesen, vom 04.–06.11.1999). Wir stehen im Jahr 2003 und sind seit 1998 z. B. in der Umsetzung des § 140 SGB V, die auch zustimmungspflichtig ist, keinen Schritt weitergekommen. In diesem Zusammenhang erscheint es mir hinsichtlich des GMG-Entwurfs richtig, sektorale Grenzen überwinden zu wollen, dies aber offensichtlich unter Zementierung sektoraler Verhandlungsebenen. Genau das aber wird die Umsetzung auch des § 140 SGB V erneut ebenso schwächen wie die Schaffung von neuen Versorgungssektoren via Hausarztmodell. Wenn schon der Beibehalt der Selbstverwaltung im Grunde ein erklärtes Ziel des GMG-Entwurfs bleibt, dann brauchen wir längerfristig zumindest „trotz aller rechtlichen und konzeptionellen Schwierigkeiten ein gemeinsames Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen unter Einschluss einer Patientenvertretung“ (Falkauer Kreis, in: „Durch Verändern bewahren“). In die notwendige Diskussion um eine echte, große Strukturreform zur Durchsetzung und Fortentwicklung der Agenda 2010 gehören aus meiner Sicht auch noch

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– eine modifizierte Festschreibung des Arbeitgeberanteils zur Absenkung der Lohnnebenkosten zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Vorgaben der Agenda und der Mittelstandoffensive mit den Vorgaben 13% und unter 40% sind das Maß. – Eine Diskussion über die zu bewältigende Aufgabe: Sinnvoller Einsatz der vorhandenen, endlichen Gelder für eine umfangreiche Versorgung. Bei Steuereinbrüchen derzeit von rd. 140 Milliarden Euro eine Rückführung der „Verschiebebahnhöfe“ in Höhe von ca. 30 Milliarden zu fordern (DGB), ist wirklichkeitsfremd. Denn erstens ist so ein Volumen in der Staatskasse jetzt und in absehbarer Zeit nicht vorhanden. Und zweitens: Die genannte Summe ist in andere Sozialbereiche und -kassen geflossen. Ohne diese Transfers wären diese defizitär gewesen mit den entsprechenden monetären Auswirkungen auf die gesetzliche Krankenversicherung. – Eine Diskussion und Beschlussfassung über mehr echten Kassenwettbewerb z. B. durch solidarische Pflichtleistungen – 80% –, die von allen Kassen angeboten werden müssen, und solidarische Gestaltungsleistungen – 20% –, über die die Kassen selbst entscheiden können. Diese genannten Aufgaben sollte nach einem offenen gesellschaftlichen Diskurs auch der Versicherte mit seinen Kassen mitschultern auf der Basis schon lange formulierter, aber zumeist nicht erledigter Aufgaben. Wie heißt es so trefflich in § 1 S. 2 SGB V: Die Versicherten „sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenhausbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. Die Krankenkassen haben den Versicherten dabei durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken“. Allein durch „non compliance“ geht jährlich nach Petermann (Compliance und Selbstmanagement, 1998) ein hoher, einstelliger Milliardenbetrag an Euro sinnlos verloren. Petermann ging schon für 1996 vorsichtig von 10 Millionen DM unnützer Ausgaben infolge non compliance aus. Das hat mit Solidarität wenig zu tun. Ähnliches gilt für jährliche Falschabrechnungen, in die auch Pharmafirmen involviert sind. Nach Kassenangaben jährlich rund 750 Millionen e plus x: Wenn ich zum § 1 SGB V noch den § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V anteilig zitiere, wird es ganz interessant. Da heißt es nämlich: „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medi-

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zinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen“. Diese in und für Zeiten des Wachstums und eher sorgloser Schuldenaufnahme formulierte Zielsetzung führt jetzt in eine Zerreißprobe, wenn wir nicht auch die unangenehmen Dinge und Aufgaben gemeinsamer als bisher überall argumentieren. Dazu gehört in aller erster Linie die zu vermittelnde Erkenntnis: Die Grenzen des Wachstums bedingen die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats. In dieser Diskussion geht es nicht um den böswilligen Abbau von sozialen Leistungen, sondern um deren Erhalt im Rahmen der vorhandenen finanziellen Ressourcen. Anders: Es wird in Zukunft nicht mehr alles so wie bisher bezahlbar sein. Der Bürger wird sich höheren Formen von Selbstbeteiligung stellen müssen. Sonst fährt der Sozialstaat vor die Wand. Wie heißt es dazu im Papier der Bischofskonferenz vom 4. Juni 2003: „Die solidarisch aufgebrachten Mittel reichen nicht mehr aus. Eine höhere Selbstbeteiligung ist nötig“.

Übrigens: Holland, ein anderes gepriesenes Vorbild, stellt in seinen nächsten Haushalt 12 Milliarden e mehr an Selbstbeteiligung ein. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich in anderen EU-Ländern ab. Das sind unangenehme Wahrheiten und Erfahrungen, die nicht mehr verdrängt werden dürfen, wenn wir gemeinsam an einer echten, strukturellen Gesundheitsreform arbeiten wollen. V. Wächst die Akzeptanz für einen Systemwechsel? Auf Grund aller bisherigen Erfahrungen ist als sicher anzunehmen, was der Club of Rome – Deutsche Gesellschaft (Im Sammelband „Die Zukunft der Gesundheit“, April 2003) gesagt hat: „Eine nachhaltige Reform des Gesundheitswesens ist ein langfristiges Vorhaben mit wenig Aussicht auf politische Lorbeeren. Am Anfang eines solchen Vorhabens müsste eine umfassende Bestandsaufnahme stehen, die dann als Grundlage einer interdisziplinären Diskussion über das System tragende Grundsätze dient. Erst nach einer solchen Grundsatzdiskussion hat es überhaupt einen Sinn, einzelne konkrete Maßnahmen zu bedenken und zu bewerten. Bisher ging man allerdings die Sache stets umgekehrt an: Man überlegte, welche Maßnahmen unter den gegebenen Umständen als geeignet erschienen, und verzettelte sich dabei in Details, ohne die Fundamente des Problems auch nur zu streifen . . . eine Systemoptimierung ist in den letzten Jahren immer wieder versucht worden, alle seit den

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70-iger Jahren realisierten Reformmaßnahmen zielten im Wesentlichen in diese Richtung. Ihr Erfolg bestand allerdings höchstens in einer kurzzeitigen Milderung der aktuellen Problematik, während sich langfristig die Situation tendenziell laufend verschlechterte . . . alle Versuche das System zu stabilisieren, haben also letztlich das Gegenteil bewirkt. Gestärkt wurde durch die dabei gemachten Erfahrungen lediglich die Akzeptanz für einen Systemwechsel“.

Ich schließe mich dieser Meinung an und ende mit einer Lieblingsgewohnheit meines ehemaligen Landesvaters aus Nordrhein-Westfalen und jetzigen Bundespräsidenten, Johannes Rau. Er nahm als Zusammenfassung wichtiger Gedanken oft einen Vers aus der Bibel und erarbeitete sich so das Attribut „Bruder Johannes“. Ich möchte als aufmüpfiger Hinterbänkler an eine Sentenz bei Timotheus erinnern, sie heißt: „Predige das Wort, steh’ dazu, sei es zur Zeit oder zur Unzeit“.

Verfasserverzeichnis Eike Hovermann, MdB, Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion und des Bundestagsausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung. Professor Dr. Friedhelm Hufen, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungsrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Mitglied des Vorstandes der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Professor Dr. mult. Dr. h. c. Walter Leisner, Emeritus an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dr. Stefan Oschmann, Vice President von MSD Europe und Vorsitzender der Geschäftsführung von MSD Sharp & Dohme GmbH, Haar; Lehrbeauftragter für Gesundheitsökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Professor Dr. Helge Sodan, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht und Sozialrecht an der Freien Universität Berlin; Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin. Professor Dr. Eberhard Wille, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Planung und Verwaltung öffentlicher Wirtschaft, an der Universität Mannheim; Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Professor Dr. Raimund Wimmer, Rechtsanwalt, zugleich Fachanwalt für Verwaltungsrecht, in der Bonner Anwaltskanzlei Busse & Miessen; Lehrbeauftragter an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.