187 21 36MB
German Pages 83 [94] Year 1989
HERAUSGEBER HUBERT FEGER K L A U S HOLZKAMP GEROLD MIKULA AMÉLIE MUMMENDEY B E R N H A R D ORTH
BAND
19 1988 H E F T 4
VERLAG HANS HUBER BERN STUTTGART TORONTO
Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, Band 19, Heft 4 INHALT Zu diesem
Heft
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Theorie und Methoden REHM, J.: Welchen Beitrag leistet das Konzept der Zusammenhangstäuschung («illusory correlation») zum Erkenntnisfortschritt in der Stereotypenforschung? N U N N E R - W I N K L E R , G.: Selbstkonzept forschung und Identitätskonstrukt - Ein Vergleich zweier Ansätze aus der psychologischen und der soziologischen Sozialpsychologie
236 243
Empirie Zur strukturellen Repräsentation alltagssprachlicher Personen- und Verhaltensbeschreibungen L A U C K E N , U . , M E E S , U . & CHASSEIN, J . : Logographie der Gegenwehr
K R O L A K - S C H W E R D T , S.:
255 264
Diskussion HAISCH, J. & HAISCH, I.: Z u r E f f e k t i v i t ä t s s t e i g e r u n g v e r h a l t e n s t h e r a p e u t i s c h e r G e w i c h t s r e d u k -
tions-Programme durch sozialpsychologisches Wissen: Entwicklung und P r ü f u n g attributionstheoretischer M a ß n a h m e n bei Übergewichtigen D R E I E R , O . : Zur Sozialpsychologie der Therapie von Übergewichtigen. Bemerkungen zum Aufsatz von H A I S C H & H A I S C H HAISCH, J. & HAISCH, I.: Kritik als Selbstbestätigung - Oder wie ein kritischer Psychologe ein «schwerwiegendes Problem» zu leicht nimmt
275 287 296
Literatur Neuerscheinungen Titel und Abstracta
301 302
Nachrichten und Mitteilungen
306
Autoren Gesamtverzeichnis Band 19 (1988) Namens- und Sachregister Band 19 (1988)
307 310 312
Copyright 1988 Verlag H a n s H u b e r Bern Stuttgart Toronto Herstellung: Lang Druck AG, Liebefeld Printed in Switzerland Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Library of Congress Catalog Card N u m b e r 78-126626 Die Zeitschrift für Sozialpsychologie wird in Social Sciences Citation Current Contents / Social and Behavioral Sciences erfaßt.
Index
(SSCI) und
235
Zeitschrift f ü r Sozialpsychologie 1988, 235
Zu diesem Heft Dieses Heft bringt eine ausführliche Diskussion einer Fragestellung aus dem Bereich der angewandten Sozialpsychologie. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände und den Wunsch der Herausgeber, das Erscheinen der Arbeiten
nicht noch länger zu verzögern, stellt die Replik von HAISCH & HAISCH die Antwort auf eine frühere Fassung des Diskussionsbeitrages von DREIER d a r .
H U B E R T FEGER
Anschrift: Prof. Dr. H U B E R T Habelschwerdter Allee 45.
FEGER,
H
Institut für Psychologie, Freie Universität Berlin,
Manuskripte bitte an die Redaktion: Dipl.-Psych. A N N E. AUHAGEN, Psychologisches Institut I, Universität Hamburg, von-Melle-Park 6, D-2000 Hamburg 13.
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Rehm: Z u s a m m e n h a n g s t ä u s c h u n g und Erkenntnisfortschritt
Theorie und Methoden Welchen Beitrag leistet das Konzept der Zusammenhangstäuschung («illusory correlation») zum Erkenntnisfortschritt in der Stereotypenforschung?1 JÜRGEN REHM Universität M a n n h e i m , z.Z. Bundesgesundheitsamt Berlin Untersucht wird der Beitrag des Konzepts der Z u s a m m e n hangstäuschung («illusory correlation») zum Erkenntnisfortschritt im Bereich der Stereotypenforschung. Dabei stellt sich heraus, d a ß insbesondere im Bereich der Entstehung und Beibehaltung von Stereotypen neue Erklärungen angeboten werden. Der Stellenwert dieser Erklärungen wird einer kritischen P r ü f u n g unterzogen. Als Ergebnis kann festgehalten werden, d a ß es verfrüht erscheint, das Konzept der Z u s a m menhangstäuschung als Erkenntnisfortschritt im Bereich der Stereotypisierung zu werten. Folgerungen in bezug auf zukünftige empirische Forschungsstrategien bilden den Schluß der Erörterungen.
Contributions of the concept of illusory correlation for the growth of scientific knowledge in the area of stereotyping research are examined. T h e results are as follows: Firstly, it can be shown, that new explanations have been offered within the area of stereotype f o r m a t i o n and maintenance. Secondly, the exact reach of these explanations cannot be assessed so far. Therefore it seems premature to speak of growth of scientific knowledge in the research area of stereotyping. Implications concerning possible future empirical research are demonstrated.
In den letzten Jahren hat sich das Forschungsprogramm der sozialen Informationsverarbeitung in der Sozialpsychologie - und nicht nur dort - als äußerst erfolgreich erwiesen (vgl. z.B.
1. Erkenntnisfortschritt wird immer am Prozeß der Stereotypisierung festgemacht. Das heißt, «klassische» Bereiche wie Diskriminierung oder die Debatte, inwieweit Vorurteile einen wahren Kern enthalten («kernel of truth»; vgl. als Einführung BRIGHAM, 1971), wurden bislang weitgehend ausgeblendet (vgl. REHM, 1986a, 1986b; s.a. HAMILTON, 1987). 2. In allen angeführten Publikationen (MARKUS
OSTROM, 1 9 8 4 ; M A R K U S & ZAJONC, 1 9 8 5 ; REHM,
1986b). Als Begründung für den Erfolg wird oft angeführt, daß dieses Forschungsprogramm in wichtigen Teilbereichen der Sozialpsychologie Erkenntnisfortschritt gebracht habe, wobei exemplarisch häufig der Bereich der Vorurteilsforschung herangezogen wird (vgl. allgemeiner M A R K U S & ZAJONC, 1985; STRACK, 1988; spezieller für den Teilbereich Stereotypisierung HAMILTON & I k o L i E R , 1986, oder HAMILTON, 1987). Betrachtet man die entsprechenden Arbeiten genauer, lassen sich zwei Gemeinsamkeiten feststellen:
1 Diese Arbeit basiert teilweise auf einem Vortrag auf der 1. Tagung der Fachgruppe Sozialpsychologie in Münster (1987) und hat sich durch die Diskussion dort erheblich verändert. D a f ü r möchte ich mich bei allen Diskussionsteilnehmern bedanken. Weiterhin gilt mein D a n k Susanne BISSON, Volker GADENNE, Waldemar LILLI u n d einem anonymen Gutachter für weitere wichtige Hinweise zur Revidierung des Textes.
& ZAJONC, 1 9 8 5 ; HAMILTON, 1 9 8 1 ; HAMILTON
wird das Konzept der Zusammenhangstäuschung («illusory correlation») als wichtiger oder sogar wichtigster Beitrag zu diesem Erkenntnisfortschritt genannt.
& ISOLIER, 1 9 8 6 ; STRACK, 1 9 8 8 )
Das Ziel dieser Arbeit liegt darin, die oben skizzierte Argumentationslinie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dazu scheint zunächst eine Klärung des wissenschaftstheoretischen Konzepts «Erkenntnisfortschritt» notwendig. Es folgt eine Erörterung, inwieweit das Konzept der Zusammenhangstäuschung zum Erkenntnisfortschritt im Bereich der Stereotypisierung beigetragen hat. Schließlich sollen Folgerungen - auch
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in bezug auf zukünftige Forschung - diskutiert werden.
Zur Anwendung der Forschungsergebnisse der Zusammenhangstäuschung auf den Bereich der Stereotypisierungsforschung
Zur Definition von Erkenntnisfortschritt
Wie oben schon angedeutet, wird bei einer Evaluation des Beitrags von Theorien der sozialen Informationsverarbeitung zur Vorurteilsforschung im allgemeinen bzw. zur Forschung über Stereotype im besonderen meist auf Forschungen zur Zusammenhangstäuschung oder «illusorischen Korrelation» («illusory correlation», vgl. C H A P M A N , 1967; HAMILTON, 1981) verwiesen. Welches sind die wichtigsten Gründe für diese Auswahl? Zum einen bietet das Konzept der Zusammenhangstäuschung in einem wichtigen Phänomenbereich der klassischen Vorurteilsforschung - Formierung und Beibehaltung von Stereotypen - prototypisch eine rein kognitive Erklärung an 2 , die sich zudem experimentell bewährt hat (vgl. z.B. NISBETT & Ross, 1980; M A R KUS & Z A J O N C , 1985, oder S T E P H A N , 1985), zum anderen wurde an diesem Konzept seit über 10 Jahren (seit dem Erscheinen von HAMILTON & G I F F O R D , 1976) kontinuierlich weitergearbeitet, so daß man inzwischen von einer ausgearbeiteten «Minitheorie» mit sehr geringem Geltungsbereich sprechen kann.
Wie kann Erkenntnisfortschritt für die hier beschriebenen Ziele definiert werden? In Anlehnung an M U S G R A V E (1979; als erste Einführung vgl. D I E D E R I C H , 1980) liegt ErkenntnisFortschritt dann vor, wenn die neuen Theorien Phänomene besser erklären als bisherige Theorien oder wenn sie nicht nur die Phänomene erklären, die auch von den bisherigen Theorien erklärt werden, sondern darüber hinausgehend neue Phänomene. Im Kern dieser Definition des Erkenntnisfortschritts liegt also ein Theorienvergleich hinsichtlich ihrer Erklärungskraft. Was bedeutet eine solche Festlegung für die Fragestellung dieser Arbeit? Erkenntnisfortschritt läge erstens dann vor, wenn durch das Konzept der Zusammenhangstäuschung die Phänomene und Probleme der Forschung über Stereotype besser als bisher erklärt würden. Eine zweite Möglichkeit bestünde darin, daß die Phänomene dieses Forschungsgebietes in gleicher Güte wie bisher erklärt würden, aber durch neu entdeckte und erklärte Phänomene Erkenntnisfortschritt gegeben wäre. Drittens würde Erkenntnisfortschritt dann bestehen, wenn man die alten Probleme und/oder Phänomene der Stereotypisierungsforschung als scheinbare entlarven könnte (vgl. REHM, 1985). Ein reiner Paradigmenwechsel im Sinne von bei dem auch die zu erforschenden Phänomene neu festgelegt werden, stellt dagegen keinen Erkenntnisfortschritt in diesem Sinne dar, weil zwischen alten und neuen Forschungsproblemen kein gemeinsamer Vergleichsmaßstab existiert. Bei genauer Durchsicht der relevanten Literatur wird deutlich, daß die meisten Forscher im Bereich Stereotypisierung - und wohl auch in der Sozialpsychologie allgemein - Erkenntnisfortschritt und nicht bloßen Paradigmenwechsel anstreben. Diese Sichtweise wird auch von David HAMILTON geteilt, wenn er fordert, daß sich die Fruchtbarkeit der «Social Cognition»-Forschung gerade an klassischen Problemen wie der Debatte um den wahren Kern von Stereotypen erweisen müßte (1987, p. 11). K U H N (1979),
Als Zusammenhangstäuschung oder «illusorische Korrelation» wird nach C H A P M A N (1967) ein kognitiver Prozeß bezeichnet, bei dem zwei Ereignisklassen oder Kategorien als korreliert wahrgenommen werden, die in Wirklichkeit (a) nicht miteinander zusammenhängen oder (b) wesentlich weniger zusammenhängen, als dies wahrgenommen wird. Das Konzept der Zusammenhangstäuschung bezieht sich also auf einen Spezialfall der Wahrnehmung von kovariierenden Ereignissen oder Kategorien (vgl. dazu allgemein ALLOY & T A BACHNIK, 1984). Es versucht, Randbedingungen dafür anzugeben, wann Zusammenhangstäuschungen auftreten. Theoretisch hat schon C H A P M A N (1967) die zwei wichtigsten dieser Randbedingungen aufgeführt: Distinktheit und kognitive Verbundenheit («distinctiveness» und 2 Die rein kognitive Erklärung wird allgemein im Forschungsprogramm der sozialen Informationsverarbeitung angestrebt, weil sie als sparsamer gilt als motivationale bzw. gemischte kognitiv-motivationale Erklärungen (Vgl. NISBETT & Ross, 1980). Diese Auffassung wird weiter unten in Frage gestellt.
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Rehm: Zusammenhangstäuschung und Erkenntnisfortschritt
«associativeness»). Derzeit ist noch unklar, ob die kognitive Verzerrung beim Enkodieren, bei der Verarbeitung oder beim Abrufen auftritt (vgl. dazu CROCKER, 1 9 8 1 ; FIEDLER, HEMMETER & H O F M A N N , 1 9 8 4 ; HAMILTON, D U G A N & ISOLIER, 1 9 8 5 ; M C A R T H U R , 1 9 8 0 ) . Für die Stereotypenforschung scheint diese Unterscheidung zunächst auch nicht sehr bedeutsam (eventuell könnte sich dies ändern, wenn praktische Maßnahmen gegen die Entstehung von bestimmten Stereotypen vorgeschlagen werden). Konkret sind vor allem drei prototypische Fälle zu diskutieren (anschließend wird ein weiterer Ansatz dargestellt, der Zusammenhangstäuschungen nicht mit Hilfe der Prinzipien von Assoziiertheit und Distinktheit erklärt): (1) Das Konzept der Zusammenhangstäuschung kann unter bestimmten Randbedingungen (s.u.) erklären, wie es zum Entstehen von Stereotypen kommt. Ein solches Entstehen wird dann vorausgesagt, wenn zwei distinkte Ereignisse zusammen auftreten. Ein häufig angeführtes Beispiel wäre die Verbindung von Zugehörigkeit zu einer bestimmten Minoritätengruppe wie den Türken - und auffälligem Verhalten - wie Kriminalität. Dieses Beispiel ist direkt vergleichbar mit der Arbeit von HAMILTON und GIFFORD (1976), weil hier wie dort beide Kategorien «seltener» sind, d.h. Distinktheit wird in beiden Fällen durch relative Seltenheit operationalisiert (kriminelles Verhalten ist zusätzlich distinkt, weil es negativ besetzt ist; es konnte jedoch gezeigt werden, daß Zusammenhangstäuschung auch für positiv besetzte Verhaltensweisen auftritt, vgl. HAMILTON & GIFFORD, 1 9 7 6 ) . Nach dem Konzept der Zusammenhangstäuschung (zur Übertragung auf den Bereich der Stereotypisierung vgl. HAMILTON e t a l . ,
1 9 8 5 ; HAMILTON & GIFFORD,
1976) läßt sich bei dieser Konstellation vorhersagen, daß das gemeinsame Auftreten beider Ereignisklassen (Türken und Kriminalität) überschätzt werden müßte. Zusätzlich - kein Stereotyp besteht nur aus der Verbindung von Gruppenbezeichnung und einem Attribut - sollte die evaluative Komponente auf andere Urteilsdimensionen generalisiert werden ( A C O R N , HAMILTON & SHERMAN,
1986).
Nach den bisherigen Forschungen müßten folgende zusätzliche notwendige Randbedingungen für das Auftreten von Zusammenhangstäuschung erfüllt sein:
- Serielle Präsentation der Reize (vgl. HAMILTON et al., 1985; allgemein ALLOY & TABACHNIK, 1984), - relative Komplexität und/oder geringe Transparenz der Urteilssituation (vgl. LILLI & REHM, 1984), sowie - keine vorliegende Stereotype in der entgegengesetzten Richtung (vgl. M C A R T H U R & FRIEDMAN, 1980), da im allgemeinen die schemaoder theoriegeleiteten Hypothesen stärker gewichtet werden als aus den Daten generierte Hypothesen (vgl. NISBETT & Ross, 1980; ALLOY & TABACHNIK, 1984). Insbesondere die letzte Annahme scheint bei der Entstehung der meisten bestehenden Stereotype nicht zuzutreffen. In jeder Gesellschaft existieren bestimmte Bilder und/oder Vorannahmen über Gruppen von Menschen, die auf verschiedenste Weise kulturell vermittelt werden (vgl. WESTIE, 1964; M I L N E R , 1984; R E H M , 1986b) und im allgemeinen den komplizierten Prozeß der Entstehung von Stereotypen via illusorische Korrelation nicht zur Geltung kommen lassen. Man kann also zu diesem Punkt mit NISBETT und Ross (1980, p. 239) folgern, «that it is cultural transmission in its various forms that is chiefly responsible for sowing the seeds of prejudice». Ein möglicher Einwand gegen dieses Argument bestünde in der Aussage, daß das Konzept der Zusammenhangstäuschung das allererste Auftauchen von bestimmten Stereotypen erklären könnte. Doch hier bleibt die Frage offen, welche der kovariierenden distinkten Ereignisse als Grundlage für Stereotype benutzt werden. Da im täglichen Leben gleichzeitig jeweils Hunderte von Ereignissen distinkt sind und kovariieren, müßten spezifische Erklärungen dafür existieren, welche kovariierenden Ereignisse als Basis für Zusammenhangstäuschungen bewußt oder unbewußt «ausgewählt» werden. Warum bietet sich «krimineller Türke» an und nicht «krimineller Professor» oder «hilfsbereiter Türke»? An diesem Punkt wird man wieder auf kulturell vorhandene Bilder bzw. auf motivationale Zustände zurückgeworfen (vgl. L E V I N E & CAMPBELL, 1972, als ersten Überblick über Theorien, wie Vorurteile und Stereotype entstehen). (2) Das Konzept der Zusammenhangstäuschung kann erklären, wie bereits bestehende Stereotype durch assoziative Verbindungen er-
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Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 236-242
halten oder gestärkt werden, selbst wenn die vorhandenen Informationen dagegen sprächen. Dieser P u n k t bezieht sich auf das P h ä n o m e n der Resistenz von Vorurteilen und/oder Stereotypen. Verschiedene Studien haben gezeigt, daß bei entsprechenden assoziativen Verbindungen bestimmte Wahrnehmungserwartungen entstehen und die vorhandenen Informationen auf verschiedenen Ebenen der Informationsverarbeitung in die erwartete Richtung verzerrt werden ( v g l . z . B . FIEDLER e t a l . , 1 9 8 4 ; HAMILTON & ROSE, 1 9 8 0 ; SPEARS, VAN DER PLIGT & EISER,
1986;
SPEARS e t a l . , 1 9 8 7 ; ISOLIER & HAMILTON, 1 9 8 6 ) .
Gerade dieses P h ä n o m e n der Beeinflussung von Wahrnehmung und Urteil durch Erwartungen war schon lange bekannt (vgl. Wahrnehmungsexperimente mit Kippfiguren oder Untersuchungen in den 40er und 50er Jahren; als Überblick LILLI, 1978). Die Hypothesentheorie der sozialen W a h r n e h m u n g (vgl. ALLPORT, 1955; LILLI, 1978)
kann die erwähnten P h ä n o m e n e gehaltvoller erklären als das Konzept der Zusammenhangstäuschung. Zusätzlich kann mit der Hypothesentheorie erklärt werden, warum gerade die + / + - Z e l l e einer Vierfeldertafel verstärkte Aufmerksamkeit und Verarbeitungsdauer erfährt. Die Forschung zur Zusammenhangstäuschung im engeren Sinne hat also auch zu diesem Punkt wenig Neues beigetragen.
(3) Das Konzept der Zusammenhangstäuschung kann erklären, wie bereits bestehende Stereotype durch Distinktheit der relevanten Ereignisse gestützt werden. In diesem Punkt liegt meiner Meinung nach der Hauptbeitrag des Konzepts der Zusammenhangstäuschung für die Stereotypenforschung. Einige Forschungsarbeiten haben gezeigt, daß vorhandene Stereotype lediglich durch Distinktheit von Einzelereignissen (z.B. Minoritätengruppen, bestimmte Verhaltensweisen) gestärkt werden (vgl. MCARTHUR & FRIEDMAN, 1980; SPEARS et al., 1986). M i t a n d e -
ren Worten, die Kovariation der distinkten Ereignisse ist keine notwendige Voraussetzung dafür, daß bestehende Stereotype aufrechterhalten werden. Distinktheit kann dabei auch anders als durch numerische Unterlegenheit operationalisiert werden. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Experimente von SPEARS et al. (1985, 1986), in denen Distinktheit über Relevanz für das Selbst operationalisiert wurde. Allerdings liegt hier die Vermutung nahe, daß moti-
vationale Prozesse (z.B. Streben nach Konsistenz und/oder nach positiver Identität), eine entscheidende Rolle spielen. Dies wirft die Frage auf, ob nicht allgemeinere motivational-kognitive Theorien, wie TAJFEL und TÜRNERS «Social Identity Theory» (1979) solche P h ä n o m e n e ebenfalls erklären können. Dennoch ist das Konzept der Zusammenhangstäuschung für diesen Teil des Phänomenbereichs der Stereotypisierungsforschung sicherlich wichtig und sollte weitergeführt und spezifiziert werden.
(4) In jüngster Zeit wurde versucht, die Beibehaltung von Stereotypen durch Zusammenhangstäuschungen zu erklären, die durch individuelle Vorstellung («imagination») von stereotypen Bildern entstehen (vgl. SLUSHER & A N D E R SON, 1987). Dieser Ansatz ist theoretisch mit dem Konzept der Zusammenhangstäuschung nur noch lose verbunden; allerdings gilt dieser Einwand der mangelnden Verbindung schon für die theoretischen Begriffe «Distinktheit» und «Verbundenheit» im ursprünglichen Konzept bei CHAPMAN (1967). In beiden Fällen scheint es sich lediglich um eine Addierung von «oder»-Verbindungen als Antezedenzbedingung zu handeln, die gleiche Folgen haben. Versuche einer umfassenderen theoretischen Integration sind bisher nicht erfolgt (in bezug auf unterschiedliche theoretische Ansätze im Feld der Zusammenhangstäuschung
vgl.
KAHNEMAN,
CHAPMAN,
1973;
SANBONMATSU e t a l . ,
1967;
SPEARS
et
TVERSKY
al.,
1986
&
oder
1987).
Kurz zusammengefaßt beruht die Arbeit von SLUSHER u n d
ANDERSON
(1987)
auf
der
An-
nahme, daß Stereotype auch durch bildhafte Vorstellungen aufrechterhalten werden, die lediglich in der Phantasie des Stereotypisierenden existieren und nicht in der «externen Realität» (vgl. p. 653). Zur P r ü f u n g wurden durch geschickte Operationalisierung zum einen Sätze vorgegeben, die bestimmte (stereotype) Vorstellungen evozierten; zum anderen wurden Sätze dargeboten, die direkte stereotype oder neutrale Kombinationen von Berufsrollen und Eigenschaften beinhalteten. Es konnte gezeigt werden, daß die Häufigkeit der tatsächlich vorgekommenen stereotypen Berujsrollen-/Eigenschafts-Kombinationen überschätzt wurde ( = ü b l i c h e AV in Experimenten zur Zusammenhangstäuschung) und daß dieser Effekt z.T. durch individuelle bildhafte Vorstellung («imagination») bedingt war.
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Rehm: Z u s a m m e n h a n g s t ä u s c h u n g und Erkenntnisfortschritt
Obwohl die Arbeit von SLUSHER und A N D E R SON (1987) nicht mehr als einen A n f a n g für spätere Forschungstätigkeiten darstellen kann, scheint sie doch wichtige Perspektiven für den Bereich der Stereotypisierung zu eröffnen. Es könnte sein, daß Gruppen von Personen, die sich durch visuell wahrnehmbare Charakteristika abheben, stärker stereotypisiert werden als vergleichbare andere, weil sie leichter bildhafte Vorstellungen auslösen. Viele andere Fragen bleiben jedoch offen, u.a. auf welche Charakteristika die Aufmerksamkeit gelenkt wird und warum.
Folgerungen Welche Folgerungen für die Forschung über Stereotype lassen sich nun aus den Beiträgen des Konzepts der Zusammenhangstäuschung ableiten? Allgemeines: Es erscheint verfrüht, die Beiträge der Forschung zur Zusammenhangstäuschung als Erkenntnisfortschritt zu werten: 1. Zum einen hat sich durch das Forschungsprogramm der sozialen Informationsverarbeitung auch im Bereich der Stereotypisierung zunächst nur eine Verschiebung der untersuchten P h ä n o m e n e ergeben, so daß Urteile über Erkenntnisfortschritt im definierten Sinne (noch?) nicht möglich sind 3 . 2. Zum anderen können die Beiträge des Konzepts der Zusammenhangstäuschung in ihrer Bedeutung für die Stereotypisierungsforschung nicht eindeutig eingeordnet werden (s. auch die Punkte 1-4 oben). Diese Probleme werden im folgenden weiter erörtert. Beim Versuch einer solchen Evaluation stößt man häufig an eine Grundproblematik: Gewisse Phänomene sind aus verschiedenen Theorien 3 Damit soll natürlich weder gesagt werden, daß das Forschungsprogramm insgesamt keinen Erkenntnisfortschritt bringt (vgl. dazu STRACK, 1988), n o c h d a ß kognitive Prozesse keine Rolle bei der Vorurteilsforschung spielen. Letzteres wäre s c h o n allein deshalb unsinnig, weil der (kognitive) Prozeß der Kategorisierung zentral für alle Stereotype u n d V o r u r t e i l e i s t ( v g l . LILLI & R E H M , 1 9 8 8 ; H J R N E R , 1 9 8 7 ) ;
eine Position, die allerdings schon Jahre vor dem «categorization approach to Stereotyping» bekannt war (vgl. TAJFEL & W I L K E S , 1 9 6 3 o d e r LILLI & L E H N E R , 1 9 7 1 , i m V e r g l e i c h z u TAYLOR, F I S K E , ETCOFF & R U D E R M A N , 1 9 7 8 , b z w . TAYLOR,
1981).
heraus erklärbar, und diese Theorien haben sich auch bei Forschungen, z.T. im gegebenen Phänomenbereich, empirisch (oft experimentell) bewährt, wenn auch meist nur unter verschiedenen Randbedingungen (vgl. als Beispiel die Erklärung zur Entstehung von Stereotypen weiter oben). Wie sollen nun die alternativen Theorien - alternativ vielleicht nur für den speziellen Phänomenbereich - gegeneinander abgewogen werden? Die Modelle der Wissenschaftstheorie helfen hier nicht unbedingt weiter, weil sie fast immer von der Entwicklung in ganz anderen, weiter entwickelten Wissenschaftsbereichen (prototypisch: Physik) ausgehen. Das derzeit bestehende Modell der Bevorzugung von rein kognitiven Prozeßtheorien aus Gründen der Einfachheit ist nicht nachvollziehbar. Als wichtigstes Gegenargument mag gelten, daß Einfachheit im Bereich der Psychologie kaum eindeutig festlegbar ist. Warum sollten beispielsweise kognitive Theorien einfacher sein als behavioristische oder motivationale? 4 Auch der Ausweg, daß alle für den Phänomenbereich «Stereotyp» bestehenden Theorien gültig sind und nur unterschiedliche Randbedingungen als Voraussetzung haben, scheint wenig befriedigend. Demnach wäre jedes experimentell geprüfte und bewährte Konzept Erkenntnisfortschritt und «die Z u k u n f t » würde schon für Ordnung und Integration sorgen. Als möglicher alternativer Ausweg wird hier die verstärkte Anwendung von Feldstudien und Feldexperimenten im jeweiligen Phänomenbereich vorgeschlagen (vgl. A R O N S O N et al., 1985). So sollten beispielsweise die verschiedenen Theorien zur Entstehung von Stereotypen vor allem bei Kindern in Alltagssituationen mit geeigneten Methoden untersucht werden. Die vorgeschlagene Strategie impliziert die Parallelität von experimenteller Grundlagenforschung (z.B. im kognitiven Bereich) und phänomen- (anwendungs-) bezogener Feldforschung, um zu prüfen, ob und inwieweit die bisher im Labor geprüften Antezedenzbedingungen nicht im Feld von anderen Faktoren überlagert werden. Theoretisch bezieht 4 Ironischerweise spielt « E i n f a c h h e i t » in anderen Wissenschaften keine Rolle mehr bei der Evaluation von Theorien. Im Gegenteil ist es häufig so, daß komplexere Theorien (z.B. Einsteins Relativitätstheorie) die einfacheren abgelöst haben (vgl. BUNGE, 1963, der v o m « M y t h o s der Einfachheit» spricht).
241
Zeitschrift f ü r Sozialpsychologie 1988, 236-242
sich dieser Vorschlag auf die UnVollständigkeit psychologischer Hypothesen (vgl. G A D E N N E , 1984). Für die Forschung zur Stereotypisierung böte sich dann auch die Möglichkeit, genauer als bisher die Relevanz des Beitrags von Forschungen aus dem «Social Cognition»-Bereich abzuschätzen.
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243
Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 2 4 3 - 2 5 4
Selbstkonzeptforschung und Identitätskonstrukt - Ein Vergleich zweier Ansätze aus der psychologischen und der soziologischen Sozialpsychologie1 GERTRUD
NUNNER-WINKLER
Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung München Psychologische und soziologische Sozialpsychologie haben ein unterschiedliches wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis. Dies wird an HABERMAS' Idee expliziert, daß verschiedenen Theorietraditionen unterschiedlich komplexe Weltvorstellungen (nur die «objektive Welt» beobachtbarer Sachverhalte im frühen Behaviorismus, auch die «soziale Welt» geteilter Bedeutungen im Strukturfunktionalismus, sowie die «subjektive Welt» innerer Erfahrungen in der Ethnomethodologie und die «geistige Welt» wahrer Sachverhalte in PIAGETS kognitiver Entwicklungstheorie) unterliegen. Diese Idee wird auf die Analyse von Forschungsmethoden übertragen. Anhand eines Vergleichs von Forschungsarbeiten von HORMUTH versus DÖBERT und mir wird zu zeigen versucht, daß eine «Zwei-Welten-Methodologie» (Beobachtung, Experiment, standardisierte Befragung) einem «MehrWelten-Konstrukt» wie Identität (das mittels hermeneutischrekonstruktiver Verfahren die Erfassung der Innenperspektive des Subjekt sowie eine Analyse makrosoziologischer und sozialhistorischer Entwicklungen voraussetzt) nicht gerecht wird.
Psychologische und soziologische Sozialpsychologie sind wie zwei Geschwister aus einer gescheiterten Ehe, die getrennt aufgewachsen sind, voneinander kaum Kenntnis haben und sich einseitig nur an jeweils einem der beiden Elternteile orientieren. Will man ihre unterschiedlichen Orientierungen nachzeichnen, ist es hilfreich, von der jeweiligen Herkunftsdisziplin auszugehen. Dies ist zwar nicht ganz unproblematisch: denn es gibt weder die Soziologie noch die Psychologie als einen einheitlichen Kanon. Die Soziologie - so ein neuerer Handbuchartikel - bietet «das Bild einer pragmatischen Beliebigkeit theoretischer Orientierungen... Nebeneinander existieren kritische, philosophische, phänomenologische, anthropologische und - vereinzelt - makrosozio-
1 Dies ist eine überarbeitete Fassung eines Vortrags anläßlich des Sozialwissenschaftlichen Kolloquiums zum 250jährigen Jubiläum der Universität Göttingen am 8.7.1987, abgedruckt in: «Göttinger Sozialwissenschaften heute». Für die Fragestellung sowie konstruktive Kritik an einer ersten Fassung dieses Aufsatzes bin ich Wolfgang SCHOLL zu Dank verpflichtet.
Psychological and sociological socialpsychology differ in their basic «philosophy o f science» assumptions. In the following article this is explicated by making use o f HABERMAS' idea that different theoretical traditions are based on more or less complex «world assumptions»: in early behaviorism only the «objective world» o f observable facts is assumed, structural-functional theory adds the «social world» o f shared meanings, ethnomethodology the «subjective world» of inner experiences, PIAGET'S theory of cognitive development the «spiritual» world o f true facts. This idea is applied to an analysis o f social science research methods. In a comp a r i s o n o f research by HORMUTH a n d DOBERT &
NUNNER-
WINKLER it is shown that a «two-world-methodology» (observation, experiment, standardized interviewing) cannot do justice to a «multi-world-idea» such as identity. This can only be adequately grasped by using a hermeneutic reconstructivist methodology and an analysis o f macrosociological and social historical developments.
logische Entwürfe» (ROLSHAUSEN, 1984). Und auch in der Psychologie stehen neben den klassischen Teildisziplinen, wie allgemeine, différentielle, experimentelle Psychologie, auch Richtungen wie «humanistische Psychologie», «Reflexionspsychologie», «existentialistische Psychologie» (DORSCH, 1982, p. 532ff.). Faktisch also zeigt sich ein Bild diversifizierter, an den Rändern überlappender Orientierungen in beiden Disziplinen. Dennoch wird man - schematischvergröbernd - von akademisch etablierten Kernbereichen in beiden Fächern ausgehen dürfen, die sich in zweierlei Hinsicht unterscheiden: 1. durch das Aggregationsniveau der Variablen, 2. durch die Reichhaltigkeit der in den Konstrukten implizierten Weltbezüge. Diese beiden Unterschiede seien i.f. systematisch skizziert.
244
Nunner-Winkler: Selbstkonzeptforschung und Identitätskonstrukt
I. Disziplinare Unterschiede /. Aggregationsniveau
der Variablen
Die Psychologie ist streng individualistisch, d.h. Explanans wie Explanandum sind Individuen bzw. Merkmale von Individuen (HOUSE, 1977, S. 161 ff.; KLIEMT, 1986, p. 211ff.). Typischerweise werden Verhaltensweisen oder Leistungen eines Individuums aus bestimmten seiner Eigenschaften oder Zustände abgeleitet. So etwa ist die Gedächtnisleistung abhängig von weitgehend stabilen Merkmalen eines Individuums wie Gedächtnistypus (eher visuell, auditorisch, motorisch) oder spezielle Veranlagungen (hohe Merkfähigkeit für das Behalten von Namen, Vokabeln, Zahlen), von nur langfristig sich verändernden Bedingungen (Alter, spezifische Ansprechbarkeit auf inhaltliche Wertgebiete) und schließlich von kurzfristig schwankenden Zuständen (wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Ermüdungsgrad und körperlicher Gesamtzustand). In der Soziologie hingegen sind Explanans und Explanandum Merkmale nicht von Individuen sondern von Assoziationen von Individuen. So etwa interessierte sich Dürkheim in seiner klassischen Analyse des Selbstmords nicht für individuelle Selbstmord-Handlungen und ihre Motive, sondern für Selbstmord-Ztote«, die für unterschiedliche soziale Kategorien (Geschlecht; Familienstand), Gruppen und Institutionen (Militär, Kloster) oder Gesellschaften (traditionale, moderne Gesellschaften) charakteristisch sind. Ursachen für Unterschiede in der Selbstmord-Häufigkeit sucht er in Strukturmerkmalen dieser Gruppierungen: so führt er beispielsweise den «altruistischen» Selbstmord auf extrem hohe, den «egoistischen» Selbstmord auf extrem niedrige Gruppenkohäsion zurück. Die Sozialpsychologie bildet die Brücke zwischen diesen beiden Disziplinen. Ihr geht es um die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft: individuelles Verhalten soll durch Soziales erklärt werden und umgekehrt Soziales als Produkt der Handlungen von Individuen abgeleitet werden. Psychologische und soziologische Sozialpsychologie unterscheiden sich nicht in dieser globalen Stoßrichtung ihrer Fragestellung - sie unterscheiden sich in der Art und Weise, wie «das Soziale» gefaßt und was unter «Erklärung von Individuellem» verstanden
wird. Die psychologische Sozialpsychologie fragt nach den sozialen Einflüssen konkreter Anderer auf ein gegebenes, letztlich monadisch konzipiertes (vgl. STÄUBLE, 1984) Individuum, die soziologische Sozialpsychologie nach der gesellschaftlichen Konstitution des Individuums. Diese unterschiedlichen Zugangsweisen seien am Beispiel unterschiedlicher Erklärungen der Genese von Leistungsmotivation illustriert: eher der Psychologie nahe stehen Erklärungen, die Unterschiede in der Höhe der kindlichen Leistungsmotivation auf Unterschiede in Persönlichkeitsmerkmalen (Wärme) oder Verhaltensweisen (Liebesentzugstechnik, Unabhängigkeitstraining
[vgl. SEARS & MACCOBY,
1957])
der
Mutter zurückführen; der Soziologie näher steht die Erklärung kindlicher Leistungsmotivation durch Variablen, die sich auf Strukturmerkmale des Arbeitskontextes der Väter beziehen (Grad der Bürokratisierung und Hierarchisierung des B e t r i e b e s [vgl. KOHN & SCHOOLER, 1 9 8 3 ] ) .
Ge-
nuin soziologisch schließlich sind Ansätze, die nicht individuelle Differenzen in der Höhe der Leistungsmotivation, sondern Ursachen des gesellschaftlichen Auftretens von Leistungsmotivation überhaupt zu erklären suchen, und diese in Veränderungen gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge finden (z.B. formales Bildungssystem [vgl. ZNANIECKI, 1936], protestantische Ethik [WEBER, 1956]).
2. Komplexität der
Weltbezüge
Die zweite Dimension, in der sich Theorieansätze in den Sozialwissenschaften unterscheiden, ist die Komplexität der in den theoretischen Konstrukten unterstellten Weltbezüge. Diese Dimension hat HABERMAS (1981) in seiner Analyse der ontologischen Voraussetzungen verschiedener Konzepte von «sozialem Handeln» herausgearbeitet. Lose an POPPER anknüpfend unterscheidet HABERMAS drei Welten: die objektive Welt existierender Sachverhalte, die alle physisch beobachtbaren Gegenstände und Ereignisse umfaßt; die soziale Welt geteilter Bedeutungen, die symbolische Gebilde, insbesondere auch geteilte Normen umfaßt; die subjektive Welt mentaler Ereignisse und innerer Episoden. Das teleologische wie das strategische Handlungsmodell entscheidungs- oder spieltheoretischer Ansätze
245
Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 243-254
stellt eine Ein-Welten-Theorie dar: der einsame Aktor orientiert sich an vorfindlichen Daten, wobei auch Mitspieler und deren Entscheidungen als bloß faktisch einzukalkulierende Randdaten in den Blick kommen. Das normengeleitete Handlungsmodell des soziologischen Strukturfunktionalismus ist eine Zwei-Welten-Theorie: neben die Welt objektiver Sachverhalte tritt die Orientierung an einer geteilten Symbolwelt, an Sprache, Werten und Normen. Normen werden dabei vom Handelnden nicht als bloß faktisch vorhanden zur Kenntnis genommen, sondern als «gültig» erachtet. Die Ethnomethodologie fügt eine dritte Welt hinzu: die «subjektive Welt». Bedeutungen gelten nun nicht mehr einfach als intersubjektiv oder kulturell jeweils schon vorgegeben, sondern werden als Produkt der Strukturierungsleistungen der Gesellschaftsmitglieder erkennbar. Die beiden genannten Dimensionen sind analytisch unabhängig voneinander. Es gibt individualpsychologische wie soziologische Ein-Welten-Theorien. Der frühe Behaviorismus etwa reduziert alles menschliche Verhalten auf Faktoren bloß der objektiven Welt: als «wissenschaftlich» gelten allein Aussagen über beobachtbares und meßbares Verhalten; subjektive Intentionen und Interpretationen gelten als inexistent oder zumindest irrelevant; die Orientierung an sozialen Normen wird als bloßes Produkt von Konditionierung und Sanktionsvermeidung gedeutet und mit einer Orientierung an faktischen Verhältnissen gleichgesetzt (SKINNER, 1974). Ein Analogon auf soziologischer Analyseebene bilden vulgärmarxistische Theorieansätze, in denen gesellschaftliches Sein als primär ökonomisch determiniert gilt, Normen als Epiphänomene und kollektive Deutungssysteme als bloßes Produkt der objektiven Verhältnisse begriffen werden. Dennoch gilt faktisch, daß in der akademischen Psychologie a u f g r u n d ihres stärker am Modell der Naturwissenschaften orientierten methodologischen Selbstverständnisses zumeist nur Ein- oder Zwei-Welten-Konzepte verwendet werden; in der Soziologie hingegen überwiegen, aufgrund ihrer stärkeren Orientierung an hermeneutischen Traditionen, Ansätze, die mit komplexeren Weltbezügen arbeiten. Die unterschiedlichen Ausrichtungen von Soziologie und Psychologie schlagen auch auf die Orientierungen der beiden Teildisziplinen der
Sozialpsychologie durch. Dies soll i.f. am Beispiel der unterschiedlichen Behandlung ein und desselben Problems, des Identitätsproblems, durch psychologische und soziologische Sozialpsychologie belegt werden. Das Identitätskonzept eignet sich besonders gut, denn es ist ein genuin sozialpsychologisches Konzept, sofern es sich zwar auf Individuen bezieht, soziale Einflüsse aber zugleich immer mitgedacht sind, sofern es also als Explanandum einen Individualterm, als Explanans aber soziale Faktoren unterstellt. Soziologisch und psychologisch orientierte Konzeptualisierungen von Identität unterscheiden sich in der ersten Dimension durch die Art, wie Soziales gefaßt wird: als Einfluß je konkreter Anderer auf das Selbstbild oder als Konstitution der Persönlichkeit durch die Art der Integration in je verschieden strukturierte Sozialsysteme; in der zweiten Dimension unterscheiden sie sich durch die Vielfalt der unterstellten Weltbezüge. Diese allerdings, so will ich zu zeigen versuchen, wird nicht auf der Ebene theoretischer Reflexion sondern auf der Ebene der faktisch verwendeten Erhebungs- und Auswertungsmethoden bestimmt 2 . Ich gehe wie folgt vor: Zunächst soll kurz der eher der psychologischen Sozialpsychologie verpflichtete Ansatz der Selbstkonzeptforschung von HORMUTH dargestellt werden; dabei will ich versuchen zu zeigen, daß die weitgehende Beschränkung auf standardisierte Forschungsverfahren das Selbstkonzept, das auf der theoretischen Ebene als Drei-Welten-Theorie angelegt war, faktisch auf ein Zwei-Welten-Konstrukt reduziert. In einem zweiten Schritt soll dann gezeigt werden, daß in der eher soziologisch orientierten Identitätstheorie, die DÖBERT, HABERMAS und
ich
(DÖBERT &
NUNNER-WINKLER,
DÖBERT, HABERMAS & NUNNER-WINKLER,
1975; 1980)
vorgelegt haben, zu der objektiven Welt beobachtbarer Sachverhalte, der sozialen Welt geteilter Bedeutungen und der subjektiven Welt innerer Ereignisse noch zwei weitere Dimensionen
2 Eine analoge These hat Hans ANGER in seiner Analyse der Psychologie Wilhelm WUNDTS vorgetragen. Wie ANGER darstellt, hat WUNDT ursprünglich einen recht komplexen Begriff von Individualität entfaltet. Mit der Entscheidung, als Forschungsmethode nur das Experiment zuzulassen, reduzierte er dann aber den Gegenstand der empirisch arbeitenden Psychologie auf den Menschen «als Naturwesen» (ANGER, 1979, p. 34ff.).
246
Nunner-Winkler: S e l b s t k o n z e p t f o r s c h u n g und Identitätskonstrukt
hinzutreten, die in der psychologischen Sozialpsychologie nicht oder kaum auftauchen: die normative Dimension universeller Geltungsansprüche und die entwicklungstheoretische Perspektive, die historisch auf gesellschaftliche Evolution und biographisch auf individuelle Entwicklung bezogen wird.
II. Ökologische Selbstkonzeptforschung ein Ansatz aus der psychologischen Sozialpsychologie H O R M U T H S (1986a; 1986b) ökologischer Selbstkonzeptansatz nimmt auf dem Kontinuum von rein psychologischer zu rein soziologischer Sozialpsychologie eher eine mittlere Position ein: die theoretischen Überlegungen sind explizit auch an soziologischen Autoren orientiert; er meidet die vielfach kritisierte Artifizialität von Laborexperimenten zugunsten einfallsreich angelegter Quasiexperimente im natürlichen Feld (Umzugsparadigma), und präferiert Methoden nicht-reaktiver Messung. Lassen sich also dennoch Unterschiede zu Ansätzen der soziologischen Sozialpsychologie nachweisen, so sind diese jedenfalls nicht einer besonders eng psychologistischen Auffassung zu attribuieren, sondern kennzeichnen genuine Differenzen zwischen den beiden Teildisziplinen der Sozialpsychologie.
Wie sieht nun das theoretische Konstrukt «Selbstkonzept» aus? Das Selbstkonzept umfaßt «the cognitive representation of a person's social experiences» (1986, p. 11); die Konstituentien des Selbst sind: «others, as the sources of direct social experience, objects as symbols and representations of social experiences and environments, as the setting for social experiences. They are reflected in self-related cognitions.» (1986a, p. 1). Die theoretische Konzeptualisierung des Selbstkonzepts basiert also auf einer Drei-Welten-Theorie: sie enthält die objektive Welt des Wahrnehmbaren (Objekte, Umwelten), die soziale Welt geteilter Bedeutungen (andere gelten als Modelle für Verhalten, die in Regeln und Verhaltenserwartungen generalisiert und symbolisiert werden [1986a, p. 2]) und die subjektive Welt des reflexiven Selbstbezugs. H O R M U T H interessiert sich für Stabilität und Wandel des Selbstkonzepts bei Veränderungen des Selbst-Umwelt-Bezugs. In ei-
nem quasi experimentellen Forschungsdesign untersucht er selbstkonzeptbezogene Verhaltensweisen und Einstellungen vor, während und nach einem Umzug. Veränderungen im Selbstkonzept werden dabei auf verschiedene Weise erhoben: 1. In Interviews werden mobile und immobile Vps gebeten, auf einer 10-Punkte-Skala vorgegebene Aspekte der Lebensführung nach ihrer subjektiven Bedeutsamkeit zu bewerten. 2. Bei der Methode der Erfahrungsstichprobe notieren die Befragten in zufälligen Abständen über eine Woche lang ihre eigenen Aktivitäten in einem standardisierten Fragebogen und bewerten sie auf einer Skala nach Annehmlichkeit und Freiwilligkeit. 3. Bei der Methode der Autophotographie legen die Probanden selbst aufgenommene Photos von Personen, Dingen oder Umgebungen vor, die sie als Teil oder Ausdruck ihres Selbst begreifen; diese können sie frei kommentieren. Welche «Weltbezüge» unterliegen nun diesen drei Verfahren? Das Interview setzt neben der objektiven Welt existierender Sachverhalte eine soziale Welt geteilter symbolischer Bedeutungen voraus: das Medium der Erhebung ist schließlich die Sprache. Wird darüber hinaus aber auch die «subjektive Welt» innerer Erfahrungen und Deutungen erfaßt? Diese subjektive Perspektive, an der H O R M U T H aufgrund seiner theoretischen Überlegungen sehr gelegen ist, meint er dadurch erfaßt zu haben, daß es die Befragten selbst sind, die die subjektive Bedeutsamkeit der verschiedenen Aspekte der Lebensführung bewerten. Allerdings - so meine These - restringiert die standardisierte Befragung die Möglichkeit subjektiver Bedeutungsgebung in doppelter Weise: zunächst treten als überhaupt relevante Aspekte der Lebensführung nur die vom Theoretiker vorgängig ausgewählten und vorformulierten Dimensionen in den Blick: bei H O R M U T H sind dies soziale Kontakte (insbesondere mit Freunden und Verwandten), bedeutsame Objekte und Umwelten. HORM U T H hat also die für das Selbstkonzept relevanten sozialen Erfahrungen faktisch auf Interaktionserfahrungen mit konkreten Personen, physisch greifbaren Objekten und nahen Umwelten eingegrenzt. Einflüsse, die von Strukturmerkmalen des politischen, ökonomischen oder kulturellen Systems ausgehen und die Persönlichkeit prägen, bleiben unthematisiert. Damit entfällt für
Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 2 4 3 - 2 5 4
das Subjekt die Möglichkeit eines affirmativen oder kritischen Selbstbezugs auf Rollen, durch die es in das politische oder ökonomische System integriert ist (z.B. Ich bin gerne/ungerne ein guter/schlechter Lehrer/Unternehmer etc.) oder auf kollektiv geteilte oder subkulturelle Deutungsmuster (z.B. Ich bin Anhänger der MunSekte/der Grünen; ich glaube an ein Leben nach dem Tode etc.). Bestimmte Arten des Selbstverständnisses sind also schon vorgängig ausgeschlossen. Doch selbst wenn sich jemand innerhalb der vorgegebenen Dimensionen zu lokalisieren vermag, so sieht er sich einer zweiten Einschränkung der Möglichkeit subjektiver Bedeutungsgebung konfrontiert: die spezielle Bedeutung, die Konzepte aufgrund individueller Erfahrungen oder Reifungsprozessen für ihn gewonnen haben, kann er nicht einbringen. Die Logik standardisierter Befragungen basiert ja gerade auf der Unterstellung, die Identität der Stimulusvorgabe sei durch die Identität der verwendeten Worte zu sichern. Diese Unterstellung ist nicht haltbar. Eher trivial ist der Verweis auf Studien, die zeigen, daß schon so einfache Begriffe wie «oft», «selten» etc. mit ganz unterschiedlicher Bedeutung gebraucht werden: so etwa bezeichnete ein Viertel aller Befragten ein Verhalten nur dann als «häufig», wenn es bei 80% aller relevanten Gelegenheiten an den Tag gelegt wird, ein Viertel auch dann noch, wenn es nur mit 40%iger Wahrscheinlichkeit auftritt ( S I M P S O N , 1974). Gewichtiger aber sind Bedeutungsunterschiede, die inhaltliche Konzepte aufgrund differentieller Lebenserfahrung gewinnen, in denen sich also zentrale identitätsrelevante Persönlichkeitsunterschiede widerspiegeln. An einem Beispiel sei dies kurz erläutert. Eine Vorgabe von H O R M U T H lautet: «Wie wichtig ist Ihnen die Fähigkeit, neue Freunde zu gewinnen?» «Freund» bedeutet nun aber für verschiedene Personen je Unterschiedliches. Untersuchungen über die soziokognitive Entwicklung des Kindes zeigen, daß das kleine Kind zunächst als Freund jemanden begreift, der physisch nahe ist und über einen attraktiven Besitz verfügt; dann jemand, mit dem zu kooperieren den eigenen Interessen dient; später wird Freundschaft als enges wechselseitiges Vertrauensverhältnis verstanden, das einen Austausch über intimste Gedanken und Probleme erlaubt; erst sehr spät wird Freundschaft als offene, flexible Beziehung begriffen, die die
247 Individualität beider Partner zu sichern hilft, wobei wechselseitig Bedürfnisse sowohl nach Abhängigkeit wie nach Autonomie zugestanden und erfüllt werden können ( S E L M A N , 1979). Zweifellos gibt es auch bei Erwachsenen noch ganz unterschiedliche Weisen, Freundschaft zu verstehen. Solche Unterschiede treten jedoch in einem standardisierten Interview nicht zutage. Gleichwohl dürfte, was jemand unter «Freund» versteht, mehr über seine Identität aussagen, als etwa die Information, wie wichtig er es findet, neue Freunde zu gewinnen. Auch für die Methode der «Erfahrungsstichprobe» gilt: zwar ist es der Befragte selbst, der die Beobachtung seiner Tätigkeiten und Interaktionen durchführt; dies ist jedoch kontingent, denn er registriert sein eigenes Verhalten - auch innere Ereignisse - aus der Perspektive des objektiven Beobachters und kann sie nur gemäß dem vorgegebenen standardisierten Fragebogenraster notieren. Die Methode der «Autophotographie» ist etwas offener. Sie erlaubt freie Motivwahl und Kommentierung und eröffnet damit einen gewissen Zugang zur «subjektiven» Welt, der jedoch durch zwei Momente restringiert bleibt: durch den Zwang, das, was als wichtig gilt, bildlich greifbar darstellen zu müssen, und durch eine Auswertungsprozedur, die für «abstraktere» Selbstdeutungen nur zwei formale Kategorien vorsieht. Es bleibt also unerfaßt, in bezug auf welche Realitätsdimensionen ein Befragter seine eigene Identität lokalisiert: in bezug auf konkrete Rollensysteme, weltanschauliche oder politische Überzeugungen etc. Läßt sich nun aber die subjektive Welt innerer Erfahrungen und Selbstdeutungen überhaupt erfassen? Ich möchte behaupten, daß dies nur durch offene Interviewformen möglich ist. Auch H O R M U T H diskutiert solche Verfahren, kritisiert aber deren ungesicherte Reliabilität (und damit Validität): Selbstaussagen - so zeigen etliche Untersuchungen, die H O R M U T H anführt - sind durch situative Umstände beeinflußbar und können daher nicht als ein zuverlässiges Instrument zur Erfassung des Selbstkonzepts gelten. Es stellt sich also folgendes Dilemma: einerseits ist der Zugang zur subjektiven Welt nur durch offene Verfahren möglich, d.h. durch Verfahren, in denen das Subjekt und nicht der Forscher die für sein Selbstverständnis bestimmenden Realitätsdimensionen benennt; andererseits aber stehen
248
Nunner-Winkler: Selbstkonzeptforschung und Identitätskonstrukt
solche Selbstäußerungen unter dem Vorbehalt situativer Manipulierbarkeit. Zwei Auswege aus diesem Dilemma scheinen möglich: Der eine besteht darin, in erster Linie Sin//:/«nnomente von Selbstaussagen zu berücksichtigen; Strukturen sind der Niederschlag langjähriger Entwicklungs- und Lernprozesse und kurzfristig situativ nicht steuerbar. Der zweite besteht darin, durch den Nachweis theoretisch sinnvoll interpretierbarer Interkorrelationen der Selbstaussagen mit anderen Variablen die Aussagekraft der Ergebnisse zu stützen: Konstruktvalidität wäre bei hoch unreliablen Daten nicht zu sichern. Diese beiden Wege haben DöBERT und ich bei der Auswertung von mehrstündigen Intensivinterviews mit 112 14-22jährigen männlichen und weiblichen Jugendlichen unterschiedlicher Schichtherkunft beschritten: Theoretisch sinnvoll interpretierbare Korrelationsmuster können zeigen, daß es auch für qualitatives Material intersubjektiv ausweisbare Prüfverfahren gibt: die Reliabilität der Codierung ist überprüfbar, die Validität der Messung läßt sich durch Konstruktvalidierung zumindest plausibilisieren. Offene Befragung scheint unumgänglich für die angemessene Erfassung eines Konstrukts, das definiert ist als kognitive Repräsentationen, die ein Subjekt über sich selbst hat, für ein Konstrukt also, das neben der objektiven und der sozialen Welt eine subjektive Welt voraussetzt. Standardisierte Erhebungsmethoden nämlich erlauben einen Zugang nur zur objektiven und sozialen Welt - einen Zugang zur subjektiven Welt eröffnen sie nicht. Dies läßt sich auch zeigen (vgl. D Ö B E R T & NUNNER-WINKLER,
1975;
NUNNER-WINKLER,
1985): U.a. nämlich baten wir unsere Befragten, sich selbst zu beschreiben. An diesem Material kann die Ausgangsthese von HORMUTH, nach der der Bezug auf andere, auf Objekte und Umwelten zentrale Bestandteile des Selbstkonzepts darstellen, überprüft werden. Sie ließ sich allerdings nicht bestätigen: nur ein gutes Drittel der Befragten erwähnt überhaupt (positiv oder negativ) Beziehungen zu anderen (z.B. «Ich bin kontaktfreudig, nicht schüchtern» [Vp 27]; «bin allein, da ich keine Freundinnen hab» [Vp 19]); Objekte benannte explizit niemand und auch spezifische Hobbies oder Neigungen, die durch Objekte symbolisierbar wären, erwähnten nur gute 10% der Befragten (z.B. Vp 23: «Meine Hobbies sind
Musik, Sport, Fotografieren»), Ein Bezug auf Umgebungen tauchte vernachlässigbar selten auf (z.B. «ich leb in München» [Vp 29]). Dieses Ergebnis lese ich als Bestätigung der Behauptung, standardisierte Vorgaben erlaubten keine angemessene Erfassung der subjektiven Welt; ja, gravierender noch: sie scheinen gar zu verhindern, daß falsche Vermutungen über sie aufgedeckt werden können. Damit erweist sich, daß ein theoretisches Konstrukt nicht komplexer sein kann, keine reichhaltigeren Weltbezüge aufweisen kann als die Verfahren, die zu seiner Erfassung verwendet werden. III. Das Identitätskonstrukt in der soziologischen Sozialpsychologie
/. Unterschiede in der Begriffsbestimmung Selbstkonzept und Identität
von
Das Selbstkonzept der psychologischen Sozialpsychologie ist nicht identisch mit dem Identitätskonstrukt, wie es in der soziologischen Sozialpsychologie - dort allerdings auch in verschiedenen Varianten - verwendet wird. Das Selbstkonzept genießt den umstrittigen Vorteil relativ präziser Begriffsdefinition; demgegenüber hat das Identitätskonstrukt einen weit umfassenderen - möglicherweise auch «notorisch unscharfen» (KOHLI, im Druck) Bedeutungsgehalt. Einige Dimensionen, in denen Selbstkonzept und Identität sich unterscheiden, seien kurz benannt: Bewußtseinsfähigkeit Das Selbstkonzept wird als kognitive Repräsentation definiert, d.h. es umfaßt nur solche Aussagen über das Selbst, die der betreffenden Person reflexiv zugänglich sind. Das Identitätskonzept ist nicht auf bewußte Anteile beschränkt. E R I K S O N etwa begreift «Identitätsbildung . . . (als) lebenslange Entwicklung, die für das Individuum und seine Gesellschaft weitgehend unbewußt verläuft» (ERIKSON, 1973, p. 141); an anderer Stelle vermerkt er: «das Identitätsgefühl (hat) einen vorbewußten A n t e i l . . . (und) unbewußte A n t e i l e . . . » (ebda, p. 148).
Innenperspektive/Außenperspektive Das Selbstkonzept ist ein aus der Innenperspektive definiertes Konstrukt, Identität hingegen wird sowohl aus der Innen- wie aus der Außen-
249
Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 243-254
Perspektive konzeptualisiert. Dabei können beide Perspektiven faktisch auseinanderklaffen: so etwa in KENISTON'S Analyse der Young Radicals (KENISTON, 1968), die nach allen Außenkriterien ihre Adoleszenzkrise äußerst erfolgreich bewältigt hatten, und dennoch ihr Leben vor ihrer Politisierung als «sinnlos und moralisch bedeutungslos» erfuhren; als unauflöslich miteinander verzahnt begriffen werden: so etwa, wenn ERIKSON Ich-Identität definiert als «das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und K o n t i n u i t ä t . . . aufrechtzuerhalten» (ERIKSON, 1973, p. 107). Sie können schließlich zu analytisch vollständig unabhängiger Begriffsbildung Anlaß geben. So etwa unterscheidet GOFFMAN (1967, p. 73f.) «personale Identität», i.e. die numerische Identifizierung (qua Daumenabdruck, Paß etc.) einer Person von außen, und «soziale Identität», i.e. prädikative oder qualitative Identifizierung von außen (z.B. weißer Mittelschicht-Mann) von «Ich-Identität», i.e. der qualitativen und numerischen Selbstidentifizierung eines Individuums aus der Innenperspektive («subjektives Empfinden . . . der eigenen Eigenart»),
Deskriptives Prädikat /Identität als Aufgabe Das Selbstkonzept ist ein deskriptiver Begriff, der auf alle redefähigen Personen Anwendung finden kann: die Kognitionen, die eine Person über sich hat, sind ihr Selbstkonzept. Demgegenüber wird Identität als Aufgabe begriffen, die von einigen erfolgreich bewältigt wird, an der andere aber scheitern. Identität wird also nur bestimmten Personen zugesprochen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht begreift ERIKSON die Identitätsbildung als Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz. Sie wird bewältigt, indem der Jugendliche sich seiner eigenen Fähigkeit, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität aufrechtzuerhalten, gewiß wird und Anerkennung in seiner sozialen Welt findet (ERIKSON, 1973, p. 107). Ein Scheitern kann sich auf unterschiedliche Weise äußern: in einer Unfähigkeit zu Festlegungen (identity diffusion); in der Unfähigkeit, die eigenen Triebe zu kontrollieren; oder in der Unfähigkeit, sich von der Tyrannei eines rigiden übermächtigen Über-Ichs zu lösen (identity foreclosure).
Soziologische Theoretiker leiten Identität als Aufgabe zur Aufrechterhaltung von Kontinuität und Konsistenz aus den Funktionsnotwendigkeiten moderner Gesellschaften ab (KRAPPMANN, 1 9 6 9 ; DÖBERT & NUNNER-WINKLER, 1 9 7 5 ; DÖBERT, HABERMAS & N U N N E R - W I N K L E R ,
1980;
gesellschaftliche Arbeitsteilung führt zu sozialer Differenzierung, d.h. zur Herausbildung je unterschiedlicher Normen, Einstellungen, Interpretationsmuster. Sollen Interaktionen unter Bedingungen unzureichender sozialer Kontrollmöglichkeiten (Anonymisierung, Segmentierung von Lebensbereichen) und pluralistischer Wertorientierungen auf Dauer stabilisierbar sein, so müssen Individuen als «zuverlässige Interaktionspartner» gelten können; dies verlangt, daß sie Konsistenz und Kontinuität herzustellen vermögen. Denn soziale Zurechenbarkeit von Verantwortlichkeiten und die Planung des eigenen Verhaltens sind nur möglich, wenn jeder heute zu dem steht, was er gestern sagte und in überlappenden Sozialkontexten keine widersprüchlichen Positionen vertritt. Das Scheitern von Identitätsbildung ist aus soziologischer Sicht an der Qualität von Interaktionsbeziehungen oder der Funktionsfähigkeit von Organisationen abzulesen. Das normative Moment, das in der Konzeptualisierung von Identität als «Aufgabe» impliziert ist, ist also sowohl auf individualpsychologischer wie soziologischer Ebene in die Sprache empirisch überprüfbarer Hypothesen übersetzbar. Damit aber wird zugleich ersichtlich, daß Identität ein komplexes Konstrukt darstellt: es handelt sich nicht einfach um eine theoretische Variable, vielmehr ist es Teil eines Systems von Hypothesen, die sich auf den Zusammenhang zwischen der Aufrechterhaltung von Kontinuität und Konsistenz mit Indikatoren des psychischen Wohlbefindens einzelner bzw. der Stabilität sozialer Beziehungen oder der Funktionsfähigkeit von Institutionen beziehen. HABERMAS,
1981):
Ahistorische/historische
Begriffsbildung
Das Selbstkonzept formuliert eine quasi universelle, d.h. in allen Kulturen und historischen Epochen in gleicher Weise .erfaßbare Variable. Demgegenüber wird in identitätstheoretischen Ansätzen betont, d a ß es sich bei «Identitätsbildung» um ein spezifisch modernes Problem handle eine Folge der «zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft», « . . . der zunehmenden Plura-
Nunner-Winkler: Selbstkonzeptforschung und ldentitätskonstrukt
250
lisierung der Rollenverpflichtungen des typischen Individuums» (PARSON, 1980). Das spezifisch Moderne am Problem der Identitätsbildung ist die Tatsache, daß die Herstellung und Sicherung individueller Kontinuität und Konsistenz dem Individuum selbst anvertraut/angelastet wird. Die soziologische Problemsicht eröffnet Fragen, die den Rahmen individuumsbezogener Selbstkonzeptforschung transzendieren: insbesondere die Frage nach funktionalen Äquivalenten zur Lösung des Problems der «Identitätssicherung». Diese Frage kann sowohl in sozialhistorischer wie in entwicklungstheoretischer Richtung verfolgt werden; beide Richtungen sind theoretisch miteinander verzahnt und führen zu ähnlichen Ergebnissen, nämlich zu einer Analyse anderer Formen von Identitätsbildung, in denen nicht-reflexive, vorbewußte und unbewußte Anteile überwiegen und Identität von außen festgestellt und hergestellt wird. Ich will die beiden Analyserichtungen sowie die jeweils verwendeten Forschungsverfahren kurz skizzieren.
2. Stufen der Identitätsentwicklung - die entwicklungstheoretische Perspektive DÖBERT,
HABERMAS
und
ich
(1980;
DÖBERT
&
haben ein Modell der Stufenentwicklung der Identitätsbildung vorgelegt. Die Identitätsentfaltung verläuft danach von der natürlichen leibgebundenen Identität des kleinen Kindes über die rollengebundene Identität des Heranwachsenden zur Ich-Identität. Die natürliche Identität verdankt sich der Abgrenzung des Leibes von seiner Umgebung; Kontinuität ist gesichert durch den zeitüberwindenden Charakter eines grenzerhaltenden Organismus. Zur Person bildet das Kind sich erst in dem Maße, in dem es sich die wenigen fundamentalen Rollen in seiner Familienumgebung (Geschlechts- und Generationsrolle) und später die Handlungsnormen größerer Gruppen (durch Integration in konkrete Institutionen und Gruppierungen wie Kindergarten, Schule, Freundschaftsgruppen etc.) zu eigen macht. So gewinnt es eine Rollenidentität, die als konventionelle Berufsrollenidentität die charakteristische Identitätsformation auch für viele Erwachsene noch darstellt. Kontinuität beruht auf der Stabilität der in den NUNNER-WINKLER,
1975)
Rollen institutionalisierten Verhaltenserwartungen. Diese konventionelle Rollenidentität zerbricht, wenn Widersprüchlichkeiten zwischen Verhaltenserwartungen, denen das Indviduum sich aufgrund eines komplexen Rollenhaushaltes oder seiner Teilhabe an unterschiedlichen subkulturellen Lebenswelten ausgesetzt sieht, nicht mehr einfach durch kulturell sanktionierte klare Rollen- oder Normenhierarchisierungen aufgelöst werden können, sondern nach individueller Konfliktlösungsfähigkeit verlangen. Identität läßt sich dann nur über die abstrakte Fähigkeit stabilisieren, sich in beliebigen Situationen als jemand zu repräsentieren, der auch angesichts widersprüchlicher Verhaltenserwartungen Konsistenz und Kontinuität aufrechterhalten kann und zwar dank einer Orientierung an universelle Gültigkeit beanspruchenden Prinzipien. Diese erlauben, die eigene Identität trotz biographischer Veränderungen durchzuhalten, sich als verläßlicher Interaktionspartner zu präsentieren und Kommunikationsstörungen und Konflikte zwischen konkreten Rollenerwartungen aufzulösen. Mit der Einführung einer Orientierung an Normen (den konventionellen Normen im Rahmen integrierter Rollenidentität, den postkonventionellen Prinzipien auf der Stufe der IchIdentität) als Medium der Sicherung von Kontinuität und Konsistenz, wurde eine theoretische Leerstelle geschlossen, die im symbolischen Interaktionismus und in ethnomethodologischen Ansätzen offen geblieben war. Zwar galt auch dort als Erfordernis von Identität: «das Individuum solle divergierende Erwartungen in seinem Auftreten berücksichtigen und dennoch Konsistenz und Kontinuität behaupten. Es soll als Interaktionspartner zuverlässig erscheinen» ( K R A P P M A N N , 1969). Aber es blieb offen, wie dies Erfordernis erfüllt werden kann, welchen der konfligierenden Erwartungen der Vorrang gebührt, welche Kriterien eine Kompromißbildung, die Intersubjektivität aufrechtzuerhalten erlaubt, anleiten können. Mit der theoretischen Entscheidung, die Orientierung an Normen und Prinzipien als konsistenzsichernd einzuführen, werden Forschungen zur Entwicklung des moralischen Bewußtseins in die Identitätsdiskussion integriert. Diese Forschungen verwenden Verfahren, die über die bislang diskutierten qualitativen Verfahren (Zugeständnis offener Antwortmöglichkeiten) hin-
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Z e i t s c h r i f t für S o z i a l p s y c h o l o g i e 1988, 2 4 3 - 2 5 4
ausgehen. Für die Rekonstruktion entwicklungslogischer Lernprozesse wird das hermeneutischrekonstruktivistische Verfahren verwendet, das an PIAGETS Methode des klinischen Interviews anschließt. Dabei handelt es sich um eine offene Gesprächssituation: Mißverständnisse können also bemerkt und aufgeklärt, Bedeutungsübereinstimmungen ausgehandelt und erzielt werden, kurz: die subjektiven Welten können in eine soziale Welt integriert werden. In diesen Gesprächen geht es nicht um die Aufzeichnung bloß flüchtiger Denkinhalte, sondern um die Rekonstruktion von Denkstrukturen. Relevant sind also nur Antworten, die wohlüberlegten Überzeugungen entsprechen, nicht jedoch bloße Zufallsreaktionen, spontane Phantastereien oder suggerierte Antworten, d.h. relevant sind nur Antworten, an denen der Befragte trotz Gegeneinwänden mit Gründen festhält. Diese zu erkennen erfordert einen diskursiven Argumentationsprozeß, in dem der Forscher aus der bloßen Beobachterrolle heraustritt und als Gesprächsbeteiligter in «performativer Einstellung» zu den vorgetragenen Gründen Stellung nimmt. Als «Grund» nämlich ist eine Überlegung nur aus der Teilnehmerperspektive zugänglich; aus der Beobachterperspektive kann ein Grund nicht als Grund verstanden, sondern nur als Faktum registriert werden. Im Laufe ihrer Entwicklung verwenden Kinder unterschiedliche Begründungen für ihre Lösungsvorschläge für moralische Dilemmata. Die Abfolge dieser Begründungen läßt sich als entwicklungslogischer Lernprozeß rekonstruieren. Das bedeutet: theoretisch läßt sich zeigen, daß «höhere» Stufen (i.e. der Rekurs auf allgemeine Prinzipien statt auf je konkret geltende Rollenvorschriften oder gar nur pragmatische Nützlichkeitserwägungen) «bessere» (im Sinne erweiterter Zustimmungsfähigkeit) Problemlösungen ermöglichen; und empirisch läßt sich nachweisen, daß Individuen Lösungen auf höherem Niveau präferieren. Die These von entwicklungslogischen Lernprozessen fügt den drei bislang unterschiedenen Weltbezügen (auf die objektive, die soziale und die subjektive Welt) einen weiteren hinzu: den Bezug auf die geistige Welt wahrer Erkenntnisse3. 3 A u c h PIAGETS M e t h o d e der R e k o n s t r u k t i o n der k o g n i t i v e n E n t w i c k l u n g d e s K i n d e s basiert a u f einer Vier-WeltenT h e o r i e : «There are three f a c t o r s in t h e p r o b l e m , n a m e l y
3. Identitätsbildung Perspektive
in
sozialhistorischer
Die Aufgabe der Identitätsbildung wird nur in modernen Gesellschaften durch individuell zu erbringende Ich-Leistungen erfüllt; in einfachen Kulturen und traditionalen Gesellschaften ist die Definition und Aufrechterhaltung von Identität überwiegend durch sozialstrukturelle Arrangements gesichert. Erst in der Moderne kann das Individuum selbst über Aspekte seiner Lebensführung entscheiden, die traditionellerweise vorgängig geregelt und qua Geburt zugeschrieben waren. In modernen Industriegesellschaften etwa kann das Individuum vergleichsweise frei unter ca. 25 000 Berufen wählen, während früher ständische Regelungen bestimmten und ohnehin 80% der Bevölkerung bäuerlicher Tätigkeit nachging. Es kann unter Rekurs auf das moderne Konzept der romantischen Liebe seinen Partner wählen, während früher Eheschließung durch die am Diktat der ökonomischen Vernunft orientierte Entscheidung der Eltern erfolgte (vgl. ROSENBAUM, 1978); es kann über seine Religionszugehörigkeit selbst entscheiden, wo früher der Leitsatz galt: cuius regio eius religio; es kann schließlich seine Lebensführung gestalten, wo früher Standesvorschriften bis ins Detail etwa den Stil der Kleidung oder Formen der Gästebewirtung regulierten (BOLTE, 1970): ja, es hat überhaupt einen zunehmend sich erweiternden Anteil frei verfügbarer Lebenszeit, während es früher eine strikte Trennung von Arbeit und Freizeit überhaupt nicht gab, sondern der Wechsel zwischen produktiver Tätigkeit, Erholung, Gebet und Geselligkeit in einem kollektiv organisierten Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus kulturell normiert und vorgegeben war (STEMLER & W I E GAND, 1982). Das Durchhalten einmal getroffener Lebensentscheidungen als Aufrechterhaltung von Kontinuität in der biographischen Perspektive, von Konsistenz trotz simultaner Invol-
the w o r l d t o w h i c h t h e child a d a p t s itself (i.e. die o b j e k t i v e Welt), t h e child's o w n w o r l d o f t h o u g h t s (i.e. die s u b j e k t i v e Welt) a n d t h e a d u l t s o c i e t y w h i c h i n f l u e n c e s his t h o u g h t » (die s o z i a l e Welt) (PIAGET, 1965). D i e 4. Welt, d i e g e i s t i g e Welt o b j e k t i v i e r b a r e r E i n s i c h ten, ergibt s i c h a u s PIAGETS e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e r P o s i tion: « K n o w l e d g e is n o t a c o p y o f t h e w o r l d , but a reconstit u t i o n o f reality by t h e c o n c e p t s o f the s u b j e c t w h o progress i v e ^ a p p r o a c h e s o b j e c t i v i t y (i.e. d i e g e i s t i g e Welt) w i t h o u t ever a t t a i n i n g it.» (BRINGUIER, 1980, p. 6 4 ) .
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Nunner-Winkler: Selbstkonzeptforschung und Identitätskonstrukt
viertheit in z.T. weit divergierende Rollenkontexte oder Lebensformen ist zunehmend weniger sozialstrukturell abgesichert. Dies ist Folge der steigenden Vielfalt konkurrierender Angebote an Wertorientierungen und Deutungsmuster (soziale Bewegungen, religiöse Sekten etc.); der wachsenden Akzeptanz von Revisionen einmal getroffener Entscheidungen (vgl. etwa die Liberalisierung des Ehescheidungsrechts oder die erhöhte Zulässigkeit von midlife-Krisen); des sich ständig noch beschleunigenden sozialen Wandels bei gleichzeitig stark gestiegenen Lebenserwartungen (von durchschnittlich 32 Jahren um 1840 auf ca. 70 Jahre heute), der zu gewaltigen Umorientierungen in zentralen Wertvorstellungen und politischen Orientierungen führt. Solche eher makrosoziologisch orientierten Thesen, die sich auf Veränderungen individuell verfügbarer Handlungsspielräume oder geteilter Wertorientierungen beziehen, bedürfen zu ihrer Fundierung anderer methodischer Verfahren als die bislang skizzierten: neben survey-Verfahren und Experiment treten sozialhistorische Methoden narrativer und statistischer Art. Dieser Ausbau des zulässigen Methodenkanons bedeutet in zweierlei Hinsicht eine sachliche Erweiterung: zum einen tritt mit der Einbeziehung der historischen Perspektive die Zeit als eigenständige Variable in den Blick; damit relativiert sich die implizite Unterstellung der Allgemeingültigkeit sozialpsychologischer Aussagen und zugleich wird das eigene Tun noch reflexiv einholbar; die Entstehung von Sozialpsychologie als Analyse individuellen Handelns wird so als Produkt von Modernisierungsprozessen erkennbar. Zum anderen wird mit der Verwendung sozialstatistischer Verfahren die Einschränkung des methodologischen Individualismus, nach dem allein Individuen Datenträger und Erklärungsvariablen sein können, explizit durchbrochen: erhoben werden Merkmale von Gruppierungen, Institutionen, Gesellschaften, in inhaltsanalytischen Verfahren werden Sinnzusammenhänge analysiert. Die benannten Unterschiede zwischen der eher psychologisch orientierten Selbstkonzeptforschung und der eher soziologisch orientierten Identitätstheorie seien nochmals kurz zusammengefaßt. Die Ansätze differieren in der theoretischen Grundbegrifflichkeit: die Selbstkonzeptforschung geht aus von der Vorstellung eines letztlich monadisch gefaßten Individuums, auf
das Einflüsse von konkreten Personen oder Gruppierungen einwirken, bzw. das seine Beziehungen zu diesen aktiv gestaltet; die Identitätsforschung basiert auf konstitutionstheoretischen Vorstellungen: der Mensch als individuierte Person ist Korrelat zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung. Die beiden Ansätze differieren aber auch und vor allem in der Spannbreite der als zulässig geltenden Methoden. Für die psychologische Sozialpsychologie sind nur Methoden akzeptabel, die am Individuum ansetzen und intersubjektive Überprüfbarkeit und experimentelle Kontrollierbarkeit garantieren. In der soziologischen Sozialpsychologie hingegen wird aus einem breiteren Spektrum von verschiedenen in den Human-Wissenschaften verwendeten Methoden eklektizistisch übernommen, was unter dem Gesichtspunkt der verfolgten Fragestellung dienlich scheint, also etwa auch hermeneutische und rekonstruktivistische Verfahren, sozialhistorische und -statistische Analysemethoden. In dieser unterschiedlichen Methodenorientierung spiegelt sich die Entstehungsgeschichte der beiden Herkunftsdisziplinen wider: in der Phase ihrer Etablierung als eigene wissenschaftliche Disziplin hat sich die Psychologie stark am Modell experimenteller Naturwissenschaften orientiert; dank ihres, der neopositivistischen Konzeption der Einheitswissenschaft nahestehenden Wissenschaftsverständnisses hat sie sich klar von philosophisch-spekulativen oder alltagsweltlichumgangssprachlichen Ansätzen abgegrenzt. Die Soziologie hingegen entstand als Krisenwissenschaft in Reaktion auf den Zusammenbruch der feudalstaatlichen Ordnung und das Aufklärungspathos bürgerlicher Revolutionen: «Das Interesse an einer systematischen Erörterung gesellschaftlicher Probleme (entzündete sich) an Krisensituationen sozialer Ordnungszustände, am Unbehagen über die Brüchigkeit und die Radikalität neuer Ordnungsideen oder am menschlichen Leiden unter bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen» (HARTFIEL, 1976). Als Wissenschaft grenzt die Soziologie sich nicht wie die Psychologie durch strikte Methodenorientierung ab, sondern definiert sich durch ihren Problembezug: das Verstehen und Erklären von gesellschaftlichen Problemen (WEBER). Gilt «Verstehen» als zentrale Aufgabe der Soziologie, so ist der Rückgriff auf hermeneutisch-interpretative Verfahren legitimiert. Die Abgrenzung gegen
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Zeitschrift f ü r Sozialpsychologie 1988, 2 4 3 - 2 5 4
philosophische Interpretationen und alltagsweltliche Deutungen ist nicht strikt vollzogen, ja, sie kann überhaupt nicht vollständig vollzogen (sondern nur reflektiert) werden: der Forscher selbst ist Teil des sozialen Systems, das er untersucht, die Alltagssprache ist unhintergehbar letztes Medium der Verständigung". Die größere Methodentoleranz in der Soziologie verdankt sich somit zwei Momenten: dem prinzipiellen Moment des wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses, aber auch dem pragmatischen Moment einer stärkeren Bezogenheit auf praktisch-politische Problemlagen. Es ist dies letzere Moment, das auch H O U S E (1977) als Auslöser für besonders fruchtbare Phasen sozialpsychologischer Forschungen diagnostiziert hat: das Interesse an der Lösung konkreter Probleme erzwingt die Kenntnisnahme konkurrierender Erklärungsansätze und methodische Verfahren werden weniger unter Bezug auf die Reinheitsgebote eines wissenschaftstheoretisch abgeleiteten Vorschriftenkatalogs als vielmehr unter Bezug auf ihren Beitrag zu einer angemessenen Klärung anstehender Probleme diskutiert. Weitgehend unfruchtbare Abgrenzungsstreitigkeiten über unterschiedliche Zugangsweisen zum Gegenstand, durch die Teildisziplinen ihre jeweilige Identität (und das heißt auch: ihren eigenen Absatzmarkt) zu sichern suchen, treten zurück. Insofern ist H O U S E zu folgen, wenn er vorschlägt, der Auseinanderentwicklung unterschiedlicher Theorieansätze in der Sozialpsychologie durch die Bearbeitung gemeinsamer Problemfelder zu begegnen. Und in diesem Sinne hat W. SCHOLL die Behandlung eines Problems aus der jeweiligen Sicht der beiden sozialpsychologischen Teildisziplinen in das Zentrum dieses Colloquiums zur Feier des Göttinger Universitätsjubiläums gestellt.
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b e i t s z e i t g e s e t z g e b u n g u n d d e r A r b e i t s z e i t in D e u t s c h l a n d seit d e r I n d u s t r i a l i s i e r u n g . In: WIEGAND, E . & ZAPF, W. ( H r s g . ) : W a n d e l d e r L e b e n s b e d i n g u n g e n in D e u t s c h l a n d . New Y o r k / F r a n k f u r t .
Identitätskonstrukt
WEBER, M . 1956. A s k e t i s c h e r P r o t e s t a n t i s m u s u n d k a p i t a l i stischer Geist, in: ders., Soziologie, W e l t g e s c h i c h t l i c h e A n a l y s e n , P o l i t i k , S. 3 5 7 - 3 8 1 . S t u t t g a r t . ZNANIECKI, F. 1936. Social a c t i o n s . N e w York.
H
Zeitschrift f ü r Sozialpsychologie 1988, 255-263
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Empirie Zur strukturellen Repräsentation alltagssprachlicher Personen- und Verhaltensbeschreibungen1 SABINE K R O L A K - S C H W E R D T Universität des S a a r l a n d e s U n t e r s u c h t w u r d e die semantische O r g a n i s a t i o n alltagssprachlicher E i g e n s c h a f t s b e g r i f f e , die zu Personen- und Verhaltensbeschreibungen benutzt werden. 40 studentische Vpn aller F a k u l t ä t e n der Universität des S a a r l a n d e s wurden mit 117 A d j e k t i v e n k o n f r o n t i e r t , die e n t s p r e c h e n d den Ergebnissen f r ü h e r e r Studien a u s diesem Sprachbereich in « f r e i e n » Beschreibungen h ä u f i g g e n a n n t werden, u n d gebeten, diese nach subjektiv e m p f u n d e n e r Ähnlichkeit in Klassen aufzuteilen. U m die resultierenden s e m a n t i s c h e n Ähnlichkeitsrelationen zwischen den untersuchten Begriffen zu analysieren u n d eine strukturelle Repräsentation der Beziehungen zwischen allen A d j e k t i v e n zu erhalten, w u r d e n hierarchische Clusteranalysen u n d m u l t i d i m e n s i o n a l e Skalierungen d u r c h g e f ü h r t . Dabei k o n n t e n die zwischen verschiedenen clusteranalytischen Verfahren weitgehend ü b e r e i n s t i m m e n d e n Clusterform a t i o n e n auf zwei unterschiedlichen A u f l ö s u n g s e b e n e n interpretiert werden, u n d es ergab sich eine d i m e n s i o n a l e Konfig u r a t i o n , die eine Analyse der Inter-Cluster-Relationen gestattet.
T h e present p a p e r is focused o n the topic of a s t r u c t u r a l representation of adjectives describing i n t e r p e r s o n a l behavior in o r d i n a r y language. 40 s t u d e n t s of the University of S a a r l a n d were presented 117 adjectives selected o n the basis of studies in the d o m a i n of verbal behavior descriptions by considering the concept of frequency of use. S u b j e c t s were asked to p a r t i t i o n this set of adjectives into g r o u p s u n d e r the aspect of similarity of m e a n i n g . In order to analyse t h e relations between the investigated words a n d to provide a representation of all relevant relations simultaneously, the d a t a of the sorting-task were inspected by hierarchical clustering a n d m u l t i d i m e n s i o n a l scaling techniques. T h u s a d i m e n sional c o n f i g u r a t i o n reflecting inter-class-relations was obtained a n d various clustering m e t h o d s generated c o n c o r d a n t classes of adjectives which a p p e a r e d to be interpretable at two different levels of analysis.
1. Einleitung
haltens in G r u p p e n s i t u a t i o n e n oder der sozialen Interaktion in der Familie klassifizieren h ä u f i g die Bedeutung sprachlicher Inhalte und verlangen vom Beobachter eine Interpretation der gehörten Ä u ß e r u n g e n (VON C R A N A C H & F R E N Z , 1975) entsprechend den Regeln des benutzten Beobachtungssystems. Hier ergibt sich die Notwendigkeit, das beobachtete Verhalten als zeitliches u n d inhaltliches Geschehen in Einheiten a u f z u l ö s e n (FASSNACHT, 1979), der Beobachter registriert, interpretiert u n d kodiert d a n n herausgelöste «Teilstücke» des Gegenstandes Verhalten je Zeit- bzw. inhaltlicher Einheit. D a m i t wird die Möglichkeit der Betrachtung von aus dem sprachlichen Z u s a m m e n h a n g isolierten Sätzen oder sogar Einzelbegriffen vorausgesetzt. Wird etwa die Analyse der F u n k t i o n u n d Bedeutung sprachlicher Elemente angestrebt, so entstehen P r o b l e m e der Unterbestimmtheit u n d U n s c h a r f e (ORLIK, 1986) vor allem konnotativer K o m p o -
Gegenstand der vorliegenden Studie ist die U n tersuchung der S t r u k t u r alltagssprachlicher Eigenschaftsbegriffe, die zu Personen- und Verhaltensbeschreibungen benutzt werden. Im R a h m e n der Analyse interpersonellen Verhaltens wird die überragende Wichtigkeit sprachlicher kommunikativer A k t e betont (WIGGINS, 1979; VON CRANACH & F R E N Z , 1975), und vor allem von psycholinguistischer Seite werden dabei die bedeutungsdefinierenden M e r k m a l e des sprachlichen Kontextes, in den ein Begriff eingebettet ist, akzentuiert. U n t e r s u c h u n g e n beispielsweise des Ver1 Diese Arbeit ist im R a h m e n eines P r o j e k t e s e n t s t a n d e n , das von der Zentralen F o r s c h u n g s k o m m i s s i o n der Universität des S a a r l a n d e s finanziert wurde. Die Verfasserin d a n k t H e r r n P r o f . Dr. P. ORLIK, H e r r n Dr. A KOHLER u n d H e r r n Dr. T. ECKES f ü r wesentliche u n d wertvolle Hinweise bei der D u r c h f ü h r u n g der U n t e r s u c h u n g .
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Krolak-Schwerdt: Alltagssprachliche Personen- und Verhaltensbeschreibungen
nenten der Einzelbegriffe, wenn die semantischen Ähnlichkeitsbeziehungen des relevanten Sprachbereichs nicht geklärt sind; der Beobachter ist zur Übersetzung der Begriffe in das Medium seines Kodierungssystems gezwungen ohne sie innerhalb einer semantischen Klassifikation des entsprechenden alltagssprachlichen Bereichs lokalisieren zu können. Nicht übereinstimmende Interpretationen und Kodierungen verschiedener Beobachter (ORLIK, 1986) sind häufig die Folge.
2. Fragestellung Seit den Arbeiten von Trier werden semantische Relationen zwischen Wörtern als vermittelnd zwischen dem umfassenden Wortschatz und der Ebene der Einzelwörter interpretiert (STRUBE, 1984). Begriffe, die enge Beziehungen zueinander aufweisen, konstituieren sich dabei in Wortfeldern, in Gruppen von Wörtern, die als zusammengehörig begriffen werden. Hierdurch wird impliziert, daß sich der betrachtete Sprachbereich in abgrenzbare Wortfelder differenzieren läßt und ferner, daß alle Begriffspaare eines Wortfeldes durch bedeutungsmäßige Ähnlichkeiten charakterisiert sind (GRIMM & SCHÖLER, 1976). Die Bedeutung eines einzelnen Begriffs ist abhängig von den übrigen Begriffen desgleichen Feldes und ist definiert durch Verbindung und Kontrastierung mit anderen Wörtern. In der vorliegenden Studie werden nun semantische Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen ausgewählten Begriffen aus dem Bereich alltagssprachlicher Eigenschaftsbegriffe zur Personenund Verhaltensbeschreibung durch Konzepte der empirischen Wortfeldanalyse untersucht. Der in diesem Rahmen wohl berühmteste Ansatz, ein Modell auf empirischer Grundlage zu begründen und darin Begriffe nach konnotativer Ähnlichkeit einzuordnen, stellt OSGOODS «Semantischer Raum» dar; jedoch steht dieses Modell in der Tradition rein dimensionaler Ordnungsstrukturen und beinhaltet keine umgrenzbaren Teilräume besonders hoher Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Begriffen etwa in Form von Clusterstrukturen. Zu diesem Untersuchungsfeld zählt auch das Circumplex-Modell von LEARY (1957), in dem eine Analyse von Begriffen, die sich eher auf Persönlichkeitseigenschaften beziehen, angestrebt wurde. Auch die SYMLOG-Kon-
zeption von BALES (1982) aus dem Bereich der Kleingruppenforschung ermöglicht eine Zuordnung sprachlicher Inhalte zu spezifischen Dimensionen, thematisiert aber ebenfalls keine Analyse von Begriffen des Sozialverhaltens als Konstituenten von Wortfeldern. Im Gegensatz zu diesen Modellen zeigt sich eine Weiterführung des von Trier begonnenen Ansatzes mit ROSENBERGS neueren Analysen zur Personwahrnehmung (1982) und CANTORS Untersuchungen zur funktionalen Beziehung zwischen sozialer Interaktion und Kognition (1981). Es wird davon ausgegangen, daß interpersonale Kommunikation die Manifestation sozialer Kognitionen darstellt (KRAUT & WIGGINS, 1984). Ferner konstituiert sich die soziale Kognition aus der Struktur des individuellen kognitiven Systems, der Struktur des wahrgenommenen sozialen Kontextes und vermittelnden Prozessen zwischen Erwartungen und aktuellen sozialen Stimuli (CANTOR, 1981). Innerhalb des kognitiven Systems organisieren Prototypen in Form von normativen konzeptuellen Schemata verfügbare Informationen über Personen und Verhalten; alltagssprachliche Begriffe zur Personen- und Verhaltensbeschreibung sind im semantischen Gedächtnis repräsentiert und operieren als konzeptuelle Prototypen (CANTOR &MISCHEL, 1977). Im Unterschied zu Rosch's Definition der Prototypen (GARNHAM, 1985) wird hier jedoch nicht von der Verfügbarkeit eines zentralen, ausgezeichneten Exemplars ausgegangen, sondern von einer Menge abstrakter semantischer Merkmale, die auf alle einem Prototypen zugeordneten Begriffe in unterschiedlichem Ausmaß zutreffen. Nach CANTOR (1981) erscheint diese Auffassung von Prototypen geeignet im Bereich der Personenund Verhaltensbeschreibungen, da sich dieser Bereich durch besonders vielfältige Kombinationen von Merkmalen auszeichnet und diese Vielfalt durch Mengen von Merkmalen besser repräsentiert werden kann als durch die Annahme einer gegebenen Anzahl ausgezeichneter Exemplare. Empirisch konnte gezeigt werden, daß bezüglich verschiedener sozialer Verhaltensweisen hoch strukturierte «konsensuelle» Prototypen aktiviert werden; Personen scheinen hinsichtlich der Kombinationen von Merkmalen, die durch soziale Stimuli experimentell aktiviert wurden, in hohem Maße übereinzustimmen (CANTOR, 1981). Die Organisation der Prototypen erfolgt we-
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Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 255-263
sentlich nach dem Prinzip der Inklusion. Es wird eine hierarchische Struktur angenommen, deren untere Ebenen spezifische Begriffe mit eher konkreten Inhalten umfassen, während die höheren Ebenen der Hierarchie diese spezifischen Begriffe in abstrakteren und umfassenderen Konzepten vereinen. Je höher die betrachtete hierarchische Ebene angeordnet ist, desto abstrakter und umfassender sind die ihr entsprechenden P r o t o t y p e n (CANTOR & MISCHEL, 1 9 7 7 ) .
Dabei
eignen sich offenbar solche Prototypen als Ordnungsgesichtspunkte sozialer Kognitionen, die auf einem mittleren Abstraktionsniveau ( « m i d d l e - l e v e l - c a t e g o r i e s » , CANTOR, 1 9 8 1 ) a n g e -
ordnet sind. Auf mittlerer Ebene sind genügend Prototypen repräsentiert, die der Reichhaltigkeit sozialer Verhaltensweisen entsprechen im Gegensatz zu den höheren Niveaus, auf denen nur eine geringe Anzahl unterscheidbarer prototypischer Konzepte verfügbar ist. Auch die unteren Ebenen der Hierarchie sind als Referenzpunkte wenig geeignet, da sich hier viele Überlappungen einzelner Merkmale, die verschiedenartige Konzepte definieren, ergeben. Es wird angenommen, daß die Zuordnung wahrgenommener Stimuli zu prototypischen Konzepten nach dem «prototypematching»-Modell vorgenommen wird. D.h. eine Person charakterisiert ein bestimmtes Objekt, indem sie die Merkmale des Objektes mit den Merkmalen der Prototypen, die sich für das Objekt eignen könnten, vergleicht. Das Objekt wird dann jenem prototypischen Konzept zugeordnet, für das sich eine maximale Überschneidung der entsprechenden Merkmale ergibt (CANTOR, 1981). Insgesamt liegt dieser theoretischen Position die Annahme zugrunde, daß die kognitive Organisation von Begriffen zur Personen- und Verhaltensbeschreibung der Struktur von Prototypen folgt, die hier definiert sind durch spezifische Dimensionen bzw. Merkmale, entlang derer die Begriffe eines Konzeptes mehr oder weniger variieren können, und die in sich hierarchisch aufgebaut sind. Um Aufschluß darüber zu gewinnen, wie solche Relationen zwischen Begriffen beschrieben werden können, werden im Rahmen empirischer Analysen vor allem Untersuchungstechniken angewendet, die eine Bestimmung der hierarchischen Abfolge der Begriffe gestatten. Hierzu zählen Verfahren, die die Erhebung von Ähnlichkeitswerten zwischen allen zu untersuchenden
Begriffspaaren ermöglichen. In der Literatur wird eine Fülle von Datenerhebungstechniken zur Bestimmung von Ähnlichkeitswerten diskutiert, die zu unterschiedlichen Operationalisierungen bei der Erfassung semantischer Ähnlichkeitsrelationen führen und die darüberhinaus an die Versuchspersonen verschiedenartige Anforderungen stellen (STRUBE, 1984). Unter dem Gesichtspunkt der Datenerhebung sei im Vorgriff auf das in der vorliegenden Studie verwendete Untersuchungsmaterial erwähnt, daß es angebracht erschien, mit einer umfangreicheren Begriffsmenge zu arbeiten und daher 117 Eigenschaftsbegriffe in die Analyse einbezogen wurden. So konnten Erhebungsmethoden wie das Rangordnungsverfahren und die Paarvergleichstechnik, die hier ca. 50 Millionen Einzelvergleiche erfordert hätte, nicht eingesetzt werden, um den Aufwand für die Versuchspersonen in vertretbaren Grenzen zu halten. Im Zusammenhang mit unserer Fragestellung wurde eine direkte Erhebung der Ähnlichkeitsbeziehungen durch das bereits bewährte und ökonomische Sortierverfahren (STRUBE, 1984) gewählt. Im folgenden werden nun die Ergebnisse der vorliegenden Studie dargestellt unter den Fragestellungen: a. durch welche prototypischen Konzepte bzw. Cluster lassen sich die Begriffe beschreiben? b. welche Merkmale bzw. Dimensionen charakterisieren die Inter-Cluster-Relationen? c. in welcher Beziehung stehen die Ergebnisse zu klassifikatorischen Befunden der Interaktionsforschung?
3. Methode Auswahl der Begriffe Die Auswahl der zu untersuchenden Begriffe sollte gewährleisten, daß Adjektive selegiert werden, die im Rahmen alltagssprachlicher Verhaltensbeschreibungen relativ häufig benutzt werden, und möglichst alle Aspekte interpersonaler Verhaltensbeschreibungen durch die gewählten Begriffe repräsentiert werden. Zur Berücksichtigung dieser Kriterien erfolgte die Eingrenzung der Eigenschaftsbegriffe auf der Grundlage der Untersuchungen von KLAPPROTT ( 1 9 7 2 ) und Busz et al. (1972), welche die Analyse von Verhal-
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K r o l a k - S c h w e r d t : Alltagssprachliche Personen- und Verhaltensbeschreibungen
tensbeschreibungen studentischer Versuchspersonen als auch nach Sachgruppen geordneter Adjektive hinsichtlich sprachstatistischer Kennwerte zum Gegenstand hatten. Dabei wurden von KLAPPROT «freie» Beschreibungen von 80 studentischen Versuchspersonen erhoben, die bezüglich der sozialen Erwünschtheit und Prägnanz der subjektiven Vorstellung jedes Einzelbegriffs untersucht wurden. Ferner wurde ausgezählt, wie häufig jeder Begriff in allen Beschreibungen enthalten war. Hieraus wurden in die vorliegende Studie solche Adjektive einbezogen, die häufiger genannt wurden als der Durchschnitt der Begriffe. Zusätzlich steht die Häufigkeit, mit der ein Begriff genannt wurde, in engem korrelativen Zusammenhang mit der Prägnanz der Vorstellung, die ein Eigenschaftsbegriff auslöst von KLAPPROTT mit einer zwei-Punkte-Skala mit den Polen eindeutig und klar versus unklar und von Busz et al. mit einer sechs-Punkte-Skala von sehr prägnant und klar bis sehr verschwommen und unklar operationalisiert; je häufiger ein Adjektiv zur Beschreibung von Persönlichkeitsmerkmalen und Verhalten benutzt wird, desto eindeutiger und prägnanter ist die Vorstellung, die mit dem Adjektiv verbunden wird (KLAPPROTT, 1972). Daher wurden im Rahmen der vorliegenden Studie auch solche Adjektive ausgewählt, deren Prägnanz von den Versuchspersonen in den genannten Untersuchungen höher eingeschätzt wurde als der Durchschnitt der Begriffe. Hieraus ergab sich eine Liste von insgesamt 117 Adjektiven (vgl. Abb. 2), die zusätzlich den gesamten Bereich der sozialen Erwünschtheit umfaßt, von extrem negativ eingeschätzten Begriffen (z.B. taktlos, lieblos, feige) bis zu sehr positiv beurteilten Eigenschaften (tolerant, zuverlässig, treu). Versuchsmaterial Jeder der 117 Begriffe wurde auf eine ca. 5 x 7 cm große Karte geschrieben und mit einer Identifikationsnummer versehen. Zu jedem Set von Karten, in dem die Adjektive jeweils in zufälliger Reihenfolge angeordnet wurden, gehörte ein DINA-4-Blatt mit der Versuchsinstruktion und ein weiteres Blatt mit mehreren numerierten Zeilen zur Eintragung der sortierten Gruppen durch jede Vp.
Versuchspersonen durchführung
und
Untersuchungs-
40 Studenten aus allen Fakultäten der Universität des Saarlandes, 18 männliche und 22 weibliche Studenten, nahmen an dem Sortierversuch teil. Jede Vp erhielt das Versuchsmaterial mit der in diesem Rahmen bewährten Instruktion (ECKES, 1986), die Begriffe nach subjektivem Empfinden in Gruppen aufzuteilen, so daß Adjektive zur gleichen Gruppe gehören, die eine ähnliche Bedeutung haben, während einander unähnliche Begriffe unterschiedlichen Gruppen zuzuordnen seien. Dabei war den Vpn die Anzahl und Größe der von ihnen gebildeten Gruppen wie auch die benötigte Zeit freigestellt; jedoch durfte jeder Begriff nur einer Gruppe zugewiesen werden. Für die Bearbeitung der Sortieraufgabe wurde im Mittel etwa 90 Minuten benötigt.
4. Auswertung und Ergebnisse Entsprechend dem theoretischen Ansatz, demzufolge Begriffe «alltagssprachlicher Personenund Verhaltensbeschreibungen» in Form von hierarchischen Systemen prototypischer Konzepte organisiert sind, wurden für das hier angestrebte Ziel einer Analyse und strukturellen Repräsentation der Sortierdaten hierarchisch-agglomerative Clusteranalysen ausgewählt. Zur Erstellung einer Matrix der Ähnlichkeiten zwischen allen untersuchten Begriffspaaren wurde im ersten Auswertungsschritt über alle Versuchspersonen die Häufigkeit der Zuordnung in eine gemeinsame Gruppe für jedes Begriffspaar ausgezählt. Die resultierenden Ähnlichkeitswerte wurden anschließend durch Subtraktion der entsprechenden Werte von der Gesamtzahl der Versuchspersonen in Distanzen transformiert, wobei die Zellen der dadurch entstandenen Distanzmatrix allgemein die Bedingungen einer Metrik erfüllen (MILLER, 1969). Zur Untersuchung der hierarchischen Struktur der Distanzmatrix, die Grundlage aller weiteren Auswertungen war, wurden drei Clusteranalysen durchgeführt mittels der Wardschen Methode, des Group-Average-Verfahrens (jeweils implementiert in der SPSS-Version X , 1986) und der Clustroid-Analyse (ORLIK, 1987), welche die clusteranalytische Betrachtungsweise mit einer dimensionsanalyti-
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sehen Darstellung kombiniert. Ein Vergleich der Ergebnisse verschiedener clusteranalytischer Techniken erschien hier notwendig, da einerseits der Literatur zufolge unterschiedliche Verfahren favorisiert
wurden
(FISHER &
VAN
NESS,
1971;
MILLIGAN, 1980), andererseits jedoch keine Einigkeit darüber besteht, welches Verfahren in diesem Kontext vorzuziehen sei (SEBER, 1984; STRUBE, 1984). Zusätzlich erlaubt eine Beurteilung des konsensuellen Anteils der entsprechenden Clusteraufteilungen die Identifikation übereinstimmend klassifizierter, «stabilerer» Clusterformationen. Als Kriterien für die angemessene Clusterzahl wurden die punktbiseriale Korrelation zwischen den Zuordnungen aller Begriffspaare zu den Clustern und den entsprechenden Werten der empirischen Distanzmatrix auf jeder der
116 F u s i o n s s t u f e n
(MILLIGAN
&
COOPER,
1985) wie auch der Kurvenverlauf der Werte des Fusionskriteriums für jedes der verwendeten Clusterverfahren zugrundegelegt. Abbildung 1 stellt die Veränderungen des Fusionskriteriums für die Wardsche Methode und Group-Average in Form eines Struktogramms dar, in dem die Größe des Agglomerationskoeffizienten als Funktion der Fusionsschritte aufgetragen ist.
Wards Method* W«rt d«a F u t i o n a 200
X
100
102
104
10«
108
110
112
114
11«
Group-Av«r*9*: W«rt d * t F u t i o n » hriUnum»
X
104
10«
Abb. I: Struktogramm für Wards Methode und GroupAverage
Hierbei zeigt sich ein Anstieg des Fusionskriteriums auf zwei Ebenen, nach dem 108ten Fusionsschritt, welches neun näher zu betrachtende Cluster ergibt, und nach dem 112ten Fusionsschritt, wobei hier die Gesamtzahl der Begriffe in fünf Cluster kondensiert wird. Die punktbiseriale Korrelation beläuft sich bei einer neunCluster-Lösung auf 0.695 und auf 0.67 bei einer fünf-Cluster-Lösung für Group-Average; die entsprechenden Werte betragen 0.658 und 0.604 für Wards Methode. Vergleicht man zusätzlich die Zugehörigkeit der Begriffe zu den Clustern, welche durch Group-Average, Wards Methode und Clustroid erzeugt werden, so zeigt sich auf den oben genannten Fusionsstufen eine weitgehende Übereinstimmung. Im einzelnen werden bei einer Aufteilung in neun Cluster 86% der Begriffe identisch klassifiziert, bei der gröberen Darstellung in fünf Cluster werden 97% übereinstimmend den jeweiligen Clustern zugewiesen. Im folgenden seien nun die sehr kompakten Lösungen nach Ward mitgeteilt. Abbildung 2 stellt den Ausschnitt aus dem Dendrogramm dar, der die Clusterformationen auf der Ebene von 17, 9 und 5 Begriffsgruppen verdeutlicht. Dabei wird die Lösung, die 17 Cluster umfaßt, nicht näher betrachtet; sie zeichnet sich zwar durch eine relativ hohe inhaltliche Homogenität der Klassen aus, jedoch folgt der ihr entsprechenden Fusionsstufe kein wahrnehmbarer Zuwachs des Agglomerationskoeffizienten (vgl. Abb. 1). Zunächst zeigt sich auf gröbster Auflösungsebene eine Differenzierung der Begriffe entsprechend ihrer sozialen Erwünschtheit; negativ bewertete Eigenschaften und Verhaltensweisen sind repräsentiert durch die Cluster « R ü c k z u g » und «Rücksichtslosigkeit», während die Cluster « s o ziale Leistung», «Sympathie» und «individuelle Leistung» den neutralen bis positiven Bereich der sozialen Erwünschtheit umfassen. Zusätzlich wird in beiden Bereichen eine Unterteilung nach unterschiedlichen Ausprägungen der Einflußnahme deutlich, indem die Begriffe der Gruppen «Rücksichtslosigkeit» und « S y m p a t h i e » den Aspekt der Aktivität betonen, die Cluster « R ü c k z u g » und «individuelle Leistung» teilweise durch Passivität charakterisiert sind bzw. eher das Ausmaß der Ziel- und Aufgabenorientierung in den Vordergrund stellen (im Vorgriff auf die dimensionale Repräsentation vgl. hierzu Abb. 3).
260
Krolak-Schwerdt: Alltagssprachliche Personen- und Verhaltensbeschreibungen
1
ideenreich, einfallsreich, schöpferisch.! klug. Intelligent, begabt. Interessiert I ISympathiel
lustig, froiilich. heiter, humorvoll ~ lebhart, vital, spontan, kontaktfreudig, abenteuerlustig, reaktionsschnell, temperamentvoll, gewitzt
IZxtraversionl-
fleißig, tüchtig, strebsam, ausdauernd, beharrlich, zielstrebig, konzentriert, betriebsam
Leistung
dominant, überlegen, entschiuakräftig, entschlossen, seibstoewußt, sicher, selosLstcher
Igelassen, ausgeglichen, besonnen, ruhig gewissenhaft, /erantiiortungsbewuüt, genügsam, beiterrscht, selostkritiscn, ernst
(
zuverlässig, treu, ehrlich, aufrichtig. unaffektiert
einsichtig, einsichtsvoll, großzügig, verständnisvoll, tolerant, dufgeschlos' hlossympathisch, nett, freundlich, höfllieh, hilfsbereit, zuvorkonmend, kamerad' tschattllch
^
^
I
^
schüchtern, gehefimt, ängstlich, nervös, unsicher, verschlossen, labil, willensschwach
verweichlicht, zartbesaitet, zimperlich ¡nelancholisch, langweilig, miesepetrig, trage, priide, pinqel
I
reige, unzuverlässig, d u m , gekünstelt, unstet, schlawpiq. oberflächlich
angeberhaft, aufschneiderisch, eingebil det. unbescheiden störrisch, starrsinnig, verbohrt, egozentrlsch, egoistisch, eiqenwilllo mitleidslos, gewissenlos, kaltherzig, lieblos
•1 Rücksichtslosigkeit!
hinterlistig, bösartig, unbeherrscht, jähzornig, zankisch, unberechenbar, unverfroren, Kritiksüchtig, taktlos, anmaßend, intolerant, raffiniert, laut, herrschsüchtig, rüpelhaft
Abb. 2: Ausschnitt aus der hierarchischen Clusterlösung
Die Partitionierung der Begriffe auf dieser Fusionsebene steht in enger Beziehung zu den Befunden von
ORLIK (1986) u n d
DIEHL-BECKER
(1987); in beiden Untersuchungen wurde zur Erhebung von Ähnlichkeitsrelationen zwischen Eigenschaftsbegriffen ebenfalls der Sortierversuch eingesetzt, jedoch orientierte sich die Auswahl des Versuchsmaterials nicht an der Nennung bei «freien» Beschreibungen, sondern erfolgte theoriegeleitet anhand der von BALES (1982) berichteten Dimensionen interpersonellen Verhaltens. In beiden Arbeiten wurden vier deutlich voneinander separierte Teilbereiche identifiziert, wovon zwei Cluster - «Sympathie» und «Rückzug» - im Einklang mit der den Ergebnissen vorliegenden Studie stehen. Die beiden übrigen mit «Leistung» und «Streit» bezeichneten Gruppen unterscheiden sich insofern von der oben genannten Aufteilung, als sich «Leistung» nicht in einen sozialen und einen individuellen Aspekt differenziert und das Cluster «Streit» zusätzlich Beschreibungen regelgeleiteten und distanzieren-
den Verhaltens beinhaltet. Betrachtet man die differenziertere Lösung, die die Begriffe in neun abgrenzbare Gruppen einteilt, so zeigt sich eine weitere Auflösung des Clusters «Sympathie» in einen Kontext der «intellektuellen Kreativität», der eher stabile Dispositionen reflektiert, und in eine Gruppierung von Begriffen, die mehr den interpersonellen Aspekt in Form von Beschreibungen extravertierten Verhaltens betonen. Ferner gliedert sich der Bereich der «sozialen Leistung» auf in relativ homogene Subgruppen der «Durchsetzung», «emotionalen Integration» und «sozialen Zuwendung», die entsprechend der nachfolgend diskutierten dimensionalen Darstellung unterschiedliche Ausprägungen emotionalen und aktiven versus kontrollierten, von Passivität getragenen Verhaltensbeschreibungen akzentuieren (vgl. Abb. 3). Im Gegensatz zu der recht hohen inneren Kohärenz dieser Klassen stellt sich der Bereich «Rückzug» weit weniger konsistent dar, indem sich zwar die zu ihm gehörige Subgruppe «soziale Scheu» als kompaktes Cluster auszeichnet, aber »IchSchwäche» heterogene, weniger ähnliche Begriffe wie etwa «verweichlicht», «zartbesaitet» und «unstet», «gekünstelt» beinhaltet. Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang, daß die Elemente, die von den verwendeten clusteranalytischen Verfahren unterschiedlich klassifiziert wurden, gerade aus dieser Subgruppe stammen. Ferner weist die Clusterstruktur auf dieser Auflösungsebene einige parallele Aspekte zu d e r v o n WIGGINS (1979) e n t w i c k e l t e n T a x o n o -
mie von Eigenschaftsbegriffen auf. Unter dem Gesichtspunkt der inhaltlichen Zusammensetzung der Klassen u m f a ß t das Cluster «Durchsetzung» eine G r u p p e von Adjektiven, die im Rahmen des Systems von WIGGINS der mit «dominant» bezeichneten Klasse entspricht. Weitere inhaltliche Übereinstimmungen finden sich im Kontext der Extraversion betonenden Beschreibungen, die mit der Kategorie «extraverted» in Einklang steht und in dem Cluster «soziale Zuwendung», welches dasgleiche Begriffsfeld wie «warm», «agreeable» reflektiert. Auch «individuelle Leistung» und «soziale Scheu» sind als Substrukturen in der Taxonomie von WIGGINS repräsentiert durch «ambitious» u n d «introverted, submissive», während das Cluster «Rücksichtslosigkeit» in differenzierterer Form in die Teilaspekte «arrogant», «cold» und quarrelsome»
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Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 255-263
untergliedert wird. Darüberhinaus können die übrigen Cluster einander nicht zugeordnet werden, da die Einzelbegriffe der Cluster «intellektuelle Kreativität» und «Ich-Schwäche» in der Studie von WIGGINS keine Entsprechungen finden.
paaaly, lubmltiiv
honlrolli«rt
W i e e t w a v o n CLARK (1968) u n d FILLENBAUM
& RAPOPORT (1971) betont wurde, gestattet der
clusteranalytische Ansatz eine Separation des untersuchten Sprachbereichs in umgrenzbare semantische Klassen, jedoch beinhaltet er keine vollständige Analyse der zugrundeliegenden Daten insofern, als er keine Aussage über InterKlassen-Relationen erlaubt. So erscheint es nach FILLENBAUM & RAPOPORT in diesem R a h m e n a n -
gemessen, ergänzend zu dem clusteranalytischen Vorgehen eine zusätzliche dimensionale Analyse durchzuführen. Zu diesem Zweck wurde eine non-metrische multidimensionale Skalierung mit dem Programmpaket MINISSA (COXON, 1981) und das zuvor genannte Clustroid-Verfahren auf die Distanzmatrix aus dem Sortierversuch angewendet. Dabei lieferte das Programm MINISSA für die ein- bis vierdimensionale Lö-
akliv.dominant
Abb. 3: Die ersten drei Dimensionen der MINISSA-Lösung
sung folgende Streßwerte: 0.211, 0.125, 0.079,
0.057. Zur Beurteilung der angemessenen Dimensionalität der Konfiguration wurde das von SEBER (1984) berichtete, strenge Kriterium zu-
grundegelegt, demzufolge der ermittelte Streßwert weniger als ein Drittel der von SPENCE & GRAEF (1974) angegebenen theoretischen Werte
betragen sollte; da sich nach diesem Kriterium die entsprechenden kritischen Werte für die einbis vierdimensionale L ö s u n g a u f 0.179, 0.119,
0.089 und 0.071 belaufen und die Güte der Anpassung durch eine fünfte Dimension nur um 1% verbessert werden konnte, wurde eine vierdimensionale Lösung gewählt. Ferner wurde die Angemessenheit dieser Anpassung bestätigt durch die Varianzaufklärung der auf Hauptkomponenten rotierten Clustroid-Faktoren, die für ein- bis vier Faktoren folgende Werte, in Prozent der Spur der Distanzmatrix, annehmen: 22%, 17%, 16% und 15%. Die Extraktion weiterer Faktoren führt zu einem deutlichen Abfall der entsprechenden Varianzaufklärung. In der Abbildung 3 finden sich die ersten drei Dimensionen der MINISSA-Lösung, in der die oben genannten neun Cluster zur Kennzeichnung der Inter-Klassen-Relationen zusätzlich dargestellt sind.
Dabei differenziert die erste Dimension zwischen positiv und negativ bewerteten Begriffen; sie ist charakterisiert durch Adjektive wie «unbeherrscht», «intolerant», «lieblos» versus «kontaktfreudig», «heiter», «sympathisch», «verständnisvoll». Die zweite Dimension ist durch Begriffe charakterisiert, die die Ausprägung an Passivität versus Aktivität, Dominanz widerspiegelt, beispielsweise «verschlossen», «schüchtern», «einsichtsvoll», «zartbesaitet» versus «dominant», «betriebsam», «spontan», «temperamentvoll». Schließlich werden auf der dritten Dimension Adjektive, die kontrolliertes Verhalten ausdrücken, mit solchen der Emotionalität kontrastiert; hohe Werte ergeben sich etwa für «abenteuerlustig», «melancholisch», «labil» versus «beharrlich», «zielstrebig», «konzentriert». Die Interpretation der dreidimensionalen Repräsentation wurde gestützt durch eine Prokrustes-Rotation der Punktekonfiguration auf m a x i m a l e Ähnlichkeit mit den von BALES (1979)
beschriebenen Dimensionen interpersonellen Verhaltens, die folgende Kongruenzkoeffizienten je betrachteter Dimension ergab: 0.88, 0.82 und 0.86. Damit scheint den Ähnlichkeitsrelationen zwischen den hier untersuchten Begriffen aus
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Krolak-Schwerdt: Alltagssprachliche Personen- und Verhaltensbeschreibungen
dem Gebiet der Personen- und Verhaltensbeschreibungen eine dimensionale Struktur zugrundezuliegen, die enge Bezüge zu der S Y M LOG-Konzeption von BALES (1979) aus dem Bereich der Interaktionsdiagnostik aufweist. Jedoch ergab sich, wie zuvor berichtet, aus den Streßwerten und Varianzaufklärungen der dimensionalen Konfiguration zusätzlich eine vierte Dimension. Diese vierte Dimension liefert allerdings keinen weiteren Aspekt zur Klärung der Relationen, die zwischen den Clustern bestehen, indem sie keine deutliche Separation zwischen den Clustern zeigt. Ihre Interpretation ist problematisch, da sich substantielle Werte für die recht heterogenen Begriffe wie «ausdauernd», «zielstrebig», «spontan», «gehemmt», «raffiniert» versus «einsichtig», «sympathisch», «höflich», «aufschneiderisch» ergaben, während sich alle übrigen Begriffe um den Nullpunkt konzentrieren. Somit führt die Betrachtung der vierten Dimension sicherlich zu einer deutlichen Verbesserung der Anpassungsgüte der Konfiguration an die Daten, aber ermöglicht keine konsistente Interpretation unter inhaltlichen Gesichtspunkten.
5. Diskussion Die vorliegende Studie hat die Untersuchung und strukturelle Repräsentation von semantischen Ähnlichkeitsbeziehungen alltagssprachlicher Eigenschaftsbegriffe zum Gegenstand, die zur Charakterisierung von Personen und beobachtetem Verhalten dienen. Als Methode der Datenerhebung wurde das im Rahmen der empirischen Wortfeldanalyse erprobte Sortierverfahren (STRUBE, 1984) ausgewählt. Verschiedene clusteranalytische Auswertungen der Sortierdaten lieferten weitgehend übereinstimmende Clusterkonfigurationen, die auf zwei unterschiedlichen Auflösungsebenen interpretiert werden konnten. Aus der zu dem clusteranalytischen Vorgehen ergänzend durchgeführten nicht-metrischen multidimensionalen Skalierung resultierten drei Dimensionen, die sowohl inhaltlich interpretierbar waren als auch eine Beschreibung der Inter-Cluster-Relationen gestatteten. Dabei wurden die Gegensatzpole «positiv» versus «negativ», «aktiv, dominant» versus «passiv, submissiv» und «kontrolliert» versus «emotional» als relevante Beschreibungsmerkmale deutlich. Darüberhin-
aus erwies sich eine vierte Dimension zwar als substantiell, aber zur weiteren Interpretation wenig geeignet, da sich keine klare Differenzierung zwischen den Clustern und Einzelbegriffen ergab. In diesen Ergebnissen spiegeln sich einige parallel zwischen der Struktur alltagssprachlicher Begriffe und den genannten theoretisch und empirisch begründeten Modellen aus dem Gebiet interpersonellen Verhaltens wider; eine Reihe von Gesichtspunkten, die zur typologischen Einordnung von Begriffen in diesen Modellen herangezogen werden, scheinen auch von Personen bei der Kategorisierung verhaltensbeschreibender Begriffe aktualisiert zu werden. Daß ferner diese Organisation verhaltensbeschreibender Begriffe eng verbunden ist mit dem Konzept der Protot y p e n , k o n n t e v o n CANTOR u n d MISCHEL ( 1 9 7 7 )
im Rahmen eines Wiedererkennen-Paradigmas demonstriert werden. Dabei bestand das den Versuchspersonen dargebotene Versuchsmaterial aus Items, die den Kategorien «Extraversion» und «soziale Scheu» angehören, von CANTOR und MISCHEL mit «extrovert character» und «introvert character» bezeichnet. Im Wiedererkennungsexperiment zeigten die Versuchspersonen eine hohe Tendenz, nicht dargebotene Items, die aber einer der beiden Kategorien zugeordnet waren, als zuvor dargebotene Items zu klassifizieren. Konzepte der in dieser Studie mitgeteilten Art scheinen damit eine wichtige Determinante begrifflicher Repräsentationen sozialer Stimuli darzustellen. Jedoch unterliegen die Befunde der vorliegenden Studie mehreren Einschränkungen. So müßte die Stabilität der semantischen Strukturen an einer größeren Stichprobe von Versuchspersonen überprüft werden, da die Sortierdaten lediglich an einer kleinen Stichprobe erhoben werden konnten. Ferner wurde das Versuchsmaterial ausgewählt aufgrund der Ratingdaten studentischer Versuchspersonen aus den Untersuchung e n v o n KLAPPROTT ( 1 9 7 2 ) u n d B u s z et al. ( 1 9 7 2 ) .
Jedoch variiert etwa die Bewertung der sozialen Erwünschtheit von Eigenschaftsbegriffen j e nach Alter und Schichtzugehörigkeit der untersuchten Personen und ist sogar zeitlichen Veränderungen unterworfen (LÜCK et al., 1976). Daher könnten Daten, die beispielsweise an Personen einer anderen Altersklasse erhoben wurden, bei gleichen Auswahlkriterien zu einer abweichen-
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Zeitschrift f ü r S o z i a l p s y c h o l o g i e 1988, 2 5 5 - 2 6 3
den Itemselektion führen; es kann nicht notwendig angenommen werden, daß bezüglich solcher Begriffe, die studentischen Versuchspersonen verständlich und gebräuchlich erscheinen, auch bei Personen anderen Alters und anderer Schichtzugehörigkeit ein interindividueller denotativer Konsens besteht. Eine differenziertere Untersuchung des Einflußes dieser Variablen war jedoch im Rahmen dieser Studie nicht möglich. Die Aufdeckung der Relevanz dieser Variablen wird daher künftigen Untersuchungen offengehalten bleiben.
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Laucken et al.: Logographie der Gegenwehr
Logographie der Gegenwehr U W E LAUCKEN, ULRICH MEES, JOACHIM CHASSEIN Universität Oldenburg Es wird ein methodischer Ansatz zur Extraktion und Wiedergabe von Wissensstrukturen, die Texte konstitutiv fundieren, dargestellt. Wir sprechen von Logographie. Kernbegriffe sind: thematisches Feld, Leerstellengefüge u n d Ausfüllungsbeziehungen. Es wird dabei hier nicht je individuelles Wissen gesucht, sondern es werden kulturelle kognitive Angebote gesucht, Angebote dafür, sich die Welt, in der wir leben, überschaubar und h a n d h a b b a r zu machen. Erschlossen werden diese Angebote über individuelle Nutzungen derselben.
We are presenting a methodical approach to the extraction and reproduction of structures of knowledge which f o r m the constitutive backing to texts. The central concepts are: thematic field, structure of voids and supplementation relations. We are not searching for individual knowledge; o n the contrary, we are searching for cultural cognitive possibilities to make the world in which we live comprehensible and manageable. These possibilities are inferred by means of the individual uses m a d e of them.
Die konstitutionsanalytisch erforschten Texte sind Beschwerdebriefe über Lärm. Die Schreiber solcher Briefe stellen ihre Lebenslage als eine dar, die sie berechtigt, gegen einen Verantwortlichen vorzugehen. Sie befinden sich aus ihrer Sicht in einer Lage berechtigter Gegenwehr. Wir analysieren, wie diese geartet ist.
T h e texts which we are examining by means of constitutional analysis are letters of complaint a b o u t noise. T h e writers of such letters present their situation as one that justifies their proceeding against someone responsible. F r o m their point of view they are in a situation that justifies resistance. We analyse the nature of this resistance. With the aid of examples we shall show what the procedure is for the extraction of knowledge, we shall show what findings may be expected, and we shall show how findings may be tested prognostically.
Es wird hier beispielhaft gezeigt, wie die dem dargestellten Ansatz folgende Wissensextraktion vonstatten geht, welche Befunde erwartbar sind und wie solche B e f u n d e prognostisch p r ü f b a r sind.
Diese Arbeit entstand als Teilprojekt eines umfassenderen Forschungsvorhabens (vgl. LAUCKEN & MEES, 1 9 8 7 ) . Bei unseren Darlegungen haben wir hier des Umfangs wegen die Wahl zwischen einer eher ansatz- oder einer eher ergebnisorientierten Darstellung. Wir werden den Ansatz in den Vordergrund stellen. Wir haben unserem Ansatz den Namen «Logographie» gegeben, der Name läßt sich wörtlich nehmen: Es soll die Art und Weise erfaßt und beschrieben (graphein) werden, wie sich Menschen ihren Lebensalltag rational (logos) verfügbar machen. Wie gliedern und fügen Menschen die Welt, in der sie leben, so, daß sie sich in ihr zurechtfinden; die Logographie fragt nach der Geartetheit solcher Ordnungsmuster. Um diese Frage interessant finden zu können, bedarf es grundlegender Setzungen. Wir gehen davon aus, und erörtern dies im folgenden nicht, daß zwischen der Art und Weise, wie Menschen leben, dem, was sie denken und wissen, und den Werken, die sie schaffen, feststellbare systematische und explanativ aufschlußreiche Verweisungsbeziehungen bestehen.
1. Thematisches Feld: Gegenwehr Die Welt, in der wir leben, ist uns nicht als Totalität gegeben, sie zerfällt in thematisch abgrenzbare Bereiche. Wir sprechen von thematischen Feldern. Entsprechend ist unser Wissensfundus thematisch gegliedert. Aus der Wissenschaft ist uns dies geläufig. Wir unterscheiden Disziplinen, Paradigmen, Ansätze, Theorien, Fragestellungen usw. Bezogen auf unser Umgangswissen ist es eine eigene empirische Fragestellung, in welche thematischen Felder wir unsere soziale Welt zerlegen. Wir lassen diese Frage hier beiseite, wir greifen (nicht wahllos, sondern materialbestimmt) ein thematisches Feld heraus. Wir haben ihm den Namen «Gegenwehr» gegeben. Um es zu charakterisieren, beginnen wir mit einem Kunstwort: «Widerhandlung». Eine Widerhandlung liegt dann vor, wenn ein Mensch mit seinem Tun (das auch ein Lassen sein kann) ein Anliegen verfolgt, das dem Anliegen eines anderen Menschen zuwiderläuft; der Täter weiß dies, aber er unterläßt sein Tun nicht, sondern er führt es weiterhin aus. Isoliert, für sich betrachtet, neigen wir dazu, solche Widerhandlungen eher ablehnend zu be-
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werten, zumindest aber bedürfen sie einer Begründung (im Gegensatz zu Wohltaten). Werden Widerhandlungen recht begründet, so können sie eine Umwertung erfahren; sie werden zur Gegenwehr, zum legitimen Widerstand, vielleicht gar zur Befreiung oder zur heroischen Tat. Die Logographie der Gegenwehr sucht herauszufinden, in welchem begründenden Verweisungszusammenhang eine Widerhandlung Gegenwehr ist. Wir sprechen von der «logographen Ordnung» der Gegenwehr. Wir unterstellen bei dieser thematischen Abgrenzung, daß es einen geordneten und relativ geschlossenen Satz potentieller Begründungen gibt.
2. Material: Beschwerdebriefe über Lärm Um der logographen Ordnung eines thematischen Feldes nachspüren zu können, braucht man Material, in dem sich diese manifestiert. Vielerlei ist denkbar: Protestresolutionen, gerichtliche Plädoyers, einschlägige Parlamentsdebatten u.a.m. Uns lagen Beschwerdebriefe vor, und zwar solche über Lärm. Warum sind diese ein geeignetes Manifestationsmaterial? Bei den Briefen handelt es sich um Beschwerdebriefe vor allem an den Deutschen Arbeitsring für Lärmbekämpfung (DAL). Es ist dies eine allen Bürgern, die unter Lärm leiden, offen stehende, neutrale Auskunfts- und Beratungsinstanz. In den Briefen an den DAL versucht der jeweilige Briefschreiber den DAL zur Mithilfe bei einer Widerhandlung zu gewinnen. Da ist jemand, so sagt der Schreiber, der etwas tut, ermöglicht oder duldet; dieses Tun ist zu unterbinden, zu verbieten, ggf. gar zu bestrafen. Der Briefschreiber sucht einen Mitstreiter für die Durchsetzung seines Anliegens gegenüber dem Anliegen eines anderen. Das Schreiben des Beschwerdebriefes ist Anfang oder bereits Teil einer Widerhandlung. Um für diese Widerhandlung einen Mitstreiter zu gewinnen, muß sie berechtigte Gegenwehr sein. Nur in diesem Fall darf der Schreiber die Mithilfe des DAL erwarten. In den Briefen muß der Schreiber mithin seine Lebenslage so darstellen, daß die beabsichtigte oder in Teilen bereits vollzogene Widerhandlung berechtigte Gegenwehr ist. So gesehen, werden die Briefe zu Skiz-
265 zen widerhandlungsberechtigender Lebenszusammenhänge, und wir können fragen, wie diese Skizzen logographisch geartet sind.
3. Logographie: Transsubjektive Perspektive Bevor wir uns an die logographische Analyse des Materials machen, bedarf es der Darlegung einiger analyseleitender Gedanken: Der Logograph sucht nach den Ordnungen, die uns die Welt überschaubar und verfügbar machen. Wo sind diese Ordnungen? Als Psychologe antwortet man in der Regel sogleich: «in den Köpfen» von Individuen, als subjektives Wissen! Die Logographie subjektiven Wissens nennen wir Alphalogographie. Unser hier vorgestellter Ansatz ist anders geartet, wir sind nicht an subjektivem, sondern an transsubjektivem Wissen interessiert - wir sprechen von Gammalogographie (betalogographem Wissen entsprechen die «représentations collectives» eines DÜRKHEIM, 1898). Gammalogographisches Denken - so zeigen unsere Erfahrungen - ist Psychologen (im Gegensatz etwa zu Sprachwissenschaftlern) schwer zugänglich zu machen. Um argumentativ nicht allzu grundsätzlich und damit ausladend werden zu müssen, wollen wir es hier mit einem Gleichnis versuchen. Angenommen, wir kennen die Regeln des Schachspiels nicht, wollen diese aber kennenlernen, ferner angenommen, diese Regeln werden geheimgehalten; wir haben aber die Möglichkeit, konkrete Schachspiele zu beobachten und zu analysieren. Durch den Vergleich verschiedener Spielpartien können wir Regelhypothesen generieren, diese lassen sich an anderen Spielverläufen überprüfen, vielleicht müssen wir sie modifizieren, um sie danach erneut zu erproben, . . . und so fahren wir fort, bis wir ein Regelsystem gefunden haben, dem alle Spielpartien gehorchen. Was haben wir damit herausgefunden? Das subjektive Wissen einzelner Schachspieler? Ganz sicher nicht, denn wir haben ja ganz unterschiedliche Spieler verglichen. Das kollektive, intersubjektive Wissen der Spieler? Auch das nicht, denn dieses setzt einvernehmlich subjektives Wissen voraus. Wir haben mit dem eruierten Regelsystem ein transsubjektives Etwas erschlossen, dieses ist nicht eine Sache, sondern ein «geistiges Etwas», hier: ein System von Regeln (ver-
266 gleichbar z.B. dem System der Verkehrsregeln). Natürlich existiert dieses geistige Etwas nicht «freischwebend», sondern mannigfachst (mehr oder weniger vollständig und unterschiedlich spezifiziert) materiell verkörpert z.B. als schriftlich fixierte Spielanleitung. Wie sagte doch der Neukantianer CASSIRER ( 1 9 8 0 ) : «Das Ideelle besteht nur, insoweit es sich in irgendeiner Weise sinnlich-stofflich darstellt und sich in dieser Darstellung verkörpert» (p. 42); die Verkörperung ist dabei dann aber nicht eine Re-Definition des Verkörperten, sondern dieses ist abhängig eigenständig. Andere geistige «Etwasse» sind z.B.: wissenschaftliche Theorien, Sprachen, Kunstwerke, Institutionen usw., auch sie natürlich jeweils irgendwie verkörpert. Analog zu den Regeln des Schachspiels suchen wir nach den Regeln des «Gegenwehrspiels». Ebenfalls analog zu jenen betrachten wir diese als transsubjektive ideelle Gehalte. Natürlich ist die transsubjektive Perspektive nur im Verein mit der subjektiven (was wäre ein Vertrag ohne Vertragspartner?) interessant, aber es wäre gänzlich verkehrt, deshalb transsubjektive geistige Gebilde zu subjektivieren. Die transsubjektive Perspektive zu wählen, bringt uns einen entscheidenden Gewinn: Es ist völlig unproblematisch, Briefe verschiedener Verfasser zu aggregieren. Wir betrachten die einzelnen Briefe als mehr oder weniger partielle und spezifizierte Nutzungen eines umfassenderen und allgemeineren kulturellen Angebots, Welt zu artikulieren und zu strukturieren. Hier ergeben sich interessante Querverbindungen zu dem, was in der Geschichtswissenschaft «MentalitätenGeschichte» (vgl. z.B. RAULFF, 1987) genannt wird. 4. Struktursprache: Leerstellengefüge und Ausfüllungsbeziehungen Um logographer Ordnungen habhaft zu werden, braucht man Vorstellungen möglicher Geordnetheit. In einer früheren Arbeit ist L A U C K E N (1974) an alltägliches Reden und Argumentieren mit der Vorstellung herangetreten, Umgangswissen theorieanalog zu strukturieren, wobei er sich vornehmlich an der Theoriesprache der logischen Empiristen orientierte. Dieser Zugang hat viele Vorzüge, nicht zuletzt den, auf ein elaboriertes Begriffssystem zurückgreifen zu können, doch
Laucken et al.: Logographie der Gegenwehr
hat er u.E. einen schwerwiegenden Nachteil: Die theoretische Sprache ist «theoretisch», d.h., sie ist die Sprache eines erkenntnissuchenden Beobachters (theoros). Geht es einem darum, lebenspraktisch-performatives Wissen zu erfassen, so darf man dieses Wissen nicht exzentrisch fassen, sondern muß es zentrisch tun, d.h. aus der Sicht des im Handlungsvollzug stehenden. «Sicht» ist damit nicht als reflexive (jemand redet über sein Leben), sondern als positionale (jemand redet sein Leben) gemeint. Gesucht wird mithin eine Struktursprache, die das die gedankliche Durchdringung aktuellen Handelns ermöglichende Wissen erfaßt. Es muß dies eine sehr «anschmiegsame» Sprache sein, arm an Formvorgaben. Die von uns entwickelte Struktursprache ist von ihren Voraussetzungen her und in ihrer Begrifflichkeit sehr einfach: Wir unterscheiden begriffliche Leerstellen, die unterschiedlich inhaltlich ausgefüllt werden können, und wir sprechen davon ausgehend von Leerstellengefüge und von Ausfüllungsbeziehungen. Was (bezogen auf unser Umgangswissen) Leerstellen meinen, läßt sich recht einfach veranschaulichen: Stellen Sie sich vor, Sie erführen, daß jemand aus Notwehr gehandelt hat, und Sie wollen wissen, um was es dabei ging. Sie erhalten nun Gelegenheit, Fragen zu stellen. Unschwer fallen Ihnen einschlägige Fragen ein: Worin bestand die Notwehrhandlung? Worin bestand die Not? Wäre es wirklich zu der erwarteten Schädigung gekommen? Gab es wirklich keine Handlungsalternativen? Gibt es dafür Zeugen? Und so weiter. Jede dieser Fragen indiziert eine mögliche Leerstelle. Sie muß beantwortet werden, will man sich ein geschlossenes «Bild» von dem Notwehrfall machen können. Bleibt eine der Fragen unbeantwortet, so hat das «Bild» gleichsam weiße Flecken. Andere Fragen, z.B. die, welches Urlaubsland der in Notwehr Agierende favorisiere, erscheinen belanglos. Fragt man dennoch so, so ruft dies beim Befragten oder beim Zuhörer Verwunderung hervor: Was soll diese Frage in diesem Zusammenhang? Sie zielt offensichtlich nicht auf einen anerkannten Bereich des thematischen Feldes «Notwehr»! Jedes thematische Feld, so unterstellen wir, hat einen Satz von kennzeichnenden Leerstellen; diese Leerstellen sind nicht ein beliebiges Gemenge, sondern eine geordnete Verbindung, ein Gefüge - daher: Leerstellengefüge.
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Konkrete Antworten auf thematisch einschlägige Fragen sind mögliche Ausfüllungen von Leerstellen. Jede Leerstelle kann mannigfach inhaltlich ausgefüllt werden, doch bestehen zwischen den verschiedenen Ausfüllungen der einzelnen Leerstellen Beziehungen - wir sprechen von «Ausfüllungsbeziehungen». D.h.: Gesetzt, die Leerstelle A ist mit der Variante ai ausgefüllt, so ist ggf. die Wahrscheinlichkeit, daß die Leerstelle B mit der Variante 02 ausgefüllt ist, größer als die Wahrscheinlichkeit, daß sie mit der Variante bi ausgefüllt ist. Kennen wir von einem thematischen Feld dessen Leerstellengefüge und die innerhalb desselben herrschende Ausfüllungsdynamik, so haben
wir die logographe Ordnung dieses thematischen Feldes erfaßt.
5. Inhaltsanalytische Vollerfassung Nun können wir wieder zu unserem Datenmaterial, den Briefen, zurückkommen. Wie kommen wir von diesen zur gesuchten logographen Ordnung der Gegenwehr? Wir gehen davon aus, daß der jeweilige Briefschreiber nicht wahllos «drauflosschreibt», sondern daß er dem Empfänger, der sich ja von seiner problematischen Lebenslage ein «Bild» machen soll, gleichsam einen impliziten Frageraum unterstellt, den er, der Schreiber, durch die Aussagen in seinem Brief so ausfüllen muß, daß der Empfänger weiß, worum es geht. Wir betrachten die Briefe also als Kompositionen von Aussageeinheiten. Aussageeinheiten sind nicht lexikalisch, sondern semantisch bestimmt. Die Abgrenzung der Einheiten untereinander ergibt sich aus dem Frageraum-Modell. Eine Einheit ist die Antwort auf eine eingliedrige Frage zur «stückweisen» Erhellung eines Lärmproblems. Im Gegensatz zu den gebräuchlichen inhaltsanalytischen Verfahren betrachten wir die Brieftexte nicht als eine Oberfläche, hinter der sich etwas «psychologisch Eigentliches» (z.B. eine ethnische Einstellung) verbirgt, f ü r die die Oberfläche wertvolles Indiz ist, sondern es gilt das zu erfassen, was die Briefschreiber mit und in ihren Briefen dem Leser sagen wollen. Logographie will ja erfassen, wie thematische Felder ausgegrenzt, artikuliert und strukturiert werden. Vor
diesem Erkenntnisziel verbietet es sich, Aussagen als irrelevant auszusondern. Alles, was ein Briefschreiber mitteilt, hält er offenkundig für mitteilenswert, und wenn wir seine Artikulationsstruktur sozialer Welt erkennen wollen, so müssen wir alles, was er sagt, inhaltlich aufnehmen. Wir nennen dies das Erfordernis der Vollerfassung. Die Güte unseres inhaltsanalytischen Kategoriensystems bemißt sich wesentlich am sog. Erfas-
sungsgrad. Das von uns entwickelte Äategoriensystem zur Erfassung von /lussageeinheiten in Beschwerdebriefen über Lärm (kurz: KAL) hat einen Erfassungsgrad von 98,7% (Varianz: 7.4). Es ist uns im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, das KAL und den Umgang mit ihm darzustellen (vgl. hierzu: LAUCKEN & MEES, 1987). Hier sei nur ein formales Merkmal erwähnt: Das Kategoriensystem ist hierarchisch aufgebaut; es u m f a ß t sechs Ebenen; auf der obersten Ebene werden sechs Einheiten getrennt, auf der untersten 415 Einheiten. Bei der Kodierung einer Aussageeinheit muß der Kodierer sich jeweils «von oben nach unten» durcharbeiten: Auf der obersten Ebene m u ß er sich fragen, ob die Aussage zu einer von sechs Kategorien gehört; je nach der Einstiegskategorie m u ß er sich auf der zweiten Ebene fragen, ob die Aussage zu einer von zwei bis maximal sieben Kategorien gehört und so weiter bis zur untersten Ebene. Die Zahl der Kategorien, zwischen denen ein Kodierer jeweils von Ebene zu Ebene entscheiden muß, bleibt auf diese Weise stets überschaubar. In einem Reliabilitätstest ergab sich zwischen den Kodierern und den Eichkodierern auf der Ebene der 415 Kategorien eine Übereinstimmung von über 85%. Das Ergebnis der inhaltsanalytischen Vollerfassung besteht mithin aus 671 Aussagestrukturen. U m zur logographen Ordnung der Gegenwehr zu gelangen, müssen wir die Aussagestrukturen konstitutionsanalytisch befragen. Wir suchen demnach nach Grundstrukturen, die über Spezifizierungen die Aussagestrukturen der Briefe erzeugen. Probates Mittel, um Grundstrukturen von irgendwelchen Ausgangsstrukturen zu finden, ist der «Wegdenk-Test». Ein analoges Beispiel: Gesetzt, m a n dächte sich den Kausalitätsbegriff weg, ist d a n n naturwissenschaftliches Denken weiterhin denkbar? Nein! Also ist die Kategorie der Kausalität ein Konstituens des Konstituendums «naturwissenschaftliches Den-
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Laucken et al.: Logographie der Gegenwehr
ken». Unser Konstituens ist die logographe Ordnung der Gegenwehr und unsere Konstituenda sind die Aussagestrukturen.
6. Logographe Ordnung der Gegenwehr Die Güte des Konstituens einem Konstituendum gegenüber erweist sich zum einen darin, daß das Konstituens denknotwendige Voraussetzung der Möglichkeit der Konstituenda ist, und zum anderen darin, daß die Konstituenda sich als Spezifizierungen des Konstituens erweisen lassen.
6.1
Konstitutionsbefund
Unsere Konstituentien-Sprache ist die Sprache von Leerstellen und von Ausfüllungsbeziehungen. Das folgende Schaubild gibt das die Briefe konstituierende Leerstellengefüge wieder (s. Abb. 1). 'iL \ / x \ T r I / '" \ \ ^ I [Anschuldigung |\ j \ II li
\\ ^ ' i \
\
\
1 / Ermöglicher \ |R«chtibtltg| j \ / / r j I [ Anschuldigung
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B«L«9 Tat
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yboqtn« Linien leidbcreich : Schutdbereich : Rechtsbereich: Abb. 1: Leerstellengefüge des thematischen Feldes «Gegenwehr»
Alle gegenwehrthematischen Aussagen in den Briefen finden ihren Ort in diesem Leerstellengefüge. Anders gewendet: Dächte man sich bestimmte Leerstellen weg, so wären bestimmte Aussagenteile bestimmter Briefe sinnlos.
Im folgenden sei das Leerstellengefüge - soweit es die Briefe konstituiert - kurz erläutert. Die insgesamt 16 Leerstellen lassen sich in drei Bereiche unterteilen. Die Bereiche sind nicht unabhängig, sie bedürfen einander, deshalb sind sie nicht einander ausschließend, sondern aufeinander bezogen dargestellt. Jeder Bereich konstituiert einen umgrenzten Subbereich der thematischen Aussagen: (a) Aussagen zum Leid (b) Aussagen zur Schuld (c) Aussagen zum Recht Gemeinsam ist allen Bereichen, daß sie jeweils ein Gut voraussetzen, das als fraglos schützenswert erachtet wird. Die Bereiche unterscheiden sich durch diese selbstverständlichen Güter. Die Aussagen zum Leid stellen das Gut der leiblichseelischen Unversehrtheit fraglos, die Aussagen zur Schuld setzen das Gut mitmenschlicher Gesinnung (wechselseitiges Wohlwollen und wechselseitige Rücksicht) voraus und die Aussagen zum Recht postulieren die Existenz gültiger Richtmaße des Miteinander-Umgehens. Zu (a), dem Leidbereich: Der Bereich der leidzentrierten Aussagen zerfällt in vier unterschiedliche Leerstellen: Aussagen zu leidvollen Ursachen (z.B. «allabendliches Klavierspiel»), Aussagen zum bewirkten Leid (z.B. « I c h kann mich gar nicht mehr konzentrieren»), Aussagen zu wirksteigernden Zusätzen (z.B. «als 73jähriger bin ich nicht mehr so belastbar») und Aussagen zu Leidbelegen. Durch diese Belege wird die eine oder andere leidbezogene Aussage meist durch Hinweis auf Aussagen anderer «objektiviert» (z.B. «auch die anderen Hausbewohner haben sich schon beschwert»). Zu (b), dem Schuldbereich: Schuldaussagen fordern zunächst ein entscheidendes Umdenken des Leidbereichs. Schuldaussagen lassen sich nicht mit Aussagen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verbinden. Schuldaussagen bedürfen eines Tatzusammenhanges: eines Täters, einer Tat und einer durch die Tat eines Täters geschaffenen Tatsache. Sollen Anschuldigungen mit dem Leidbereich verbunden werden, so muß der Leidbereich bzw. es müssen Teile desselben als Tatsache bzw. als Tatsachen gedacht werden, d.h. als Ergebnis oder als Folge der Taten bestimmter Täter.
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Zur Konstitution der in den Beschwerdebriefen vorkommenden Schuldaussagen bedarf es des Zugrundelegens dreier Täterarten (Erzeuger, Ermöglicher, Garant); aus systematischen Gründen, auf die wir hier nicht weiter eingehen, enthält unser Schaubild noch eine vierte Täterart, den Zuschauer (zu weiteren Differenzierungen von Verantwortlichen s.a. M E E S , 1 9 8 8 ) . Jede Täterart kann aufgrund unterschiedlicher, sie kennzeichnender Taten (einschl. sog. Unterlassungstaten) Schuld am Leid anderer, hier der Briefschreiber, auf sich laden. - Erzeuger: Der Erzeuger ist derjenige, der durch sein Tun die Ursachen des Leids erzeugt/ schafft/macht u.a. (z.B. klavierspielender Nachbar). - Ermöglicher: Damit Erzeuger durch ihr Tun Leid erzeugen können, mag mancherlei vonnöten sein. Diejenigen, die das, was zur Erzeugung des Lärms vonnöten ist, bereitstellen, ermöglichen dadurch das Lärmen anderer. Ermöglicher sind z.B. Gaststättenbesitzer, sie ermöglichen durch ihre Gaststätten das Lärmen der Gäste. Ermöglicher sind auch Eltern von Kindern, Besitzer von Hunden, Vermieter, genehmigende Behörden usw. - Garanten: Garanten sind am Leidgeschehen deshalb mitschuldig, weil sie etwas dulden. Garanten wissen von einem Lärm (oder müßten von ihm wissen), unternehmen aber nichts dagegen, obgleich sie es (vielleicht gar von Amts wegen) verhindern müßten. Garanten sind z.B.: die Polizei, der Hausmeister, der Vorstand eines Schützenvereins. Alle drei unterschiedenen Täter können durch ihr Tun am Leidgeschehen beteiligt sein und insofern schuldig werden. Häufig werden aber nicht nur Anschuldigungen ausgesprochen, sondern sie werden auch belegt, daher gehört zu jeder tatbezogenen Leerstelle eine Belegleerstelle. Schuldbelege haben einen kennzeichnenden Charakter, sie sind quasi-operational: Es wird geschildert, wie z.B. ein Nachbar (als Erzeuger) darauf reagiert hat, als man ihn ersuchte, mit dem spätabendlichen Klavierspiel aufzuhören. Er weiß dann also um das Leid, das er erzeugt, und wenn er dann sagt: «Wenn es Ihnen nicht paßt, dann können Sie ja ausziehen!», dann ist er erwiesenermaßen rücksichtslos und insofern schuldig.
269
Zu (c), dem Rechtsbereich: Auch der Rechtsbereich bedarf, um denkbar zu sein, eines Tatzusammenhanges. Rechtlich geregelt werden nicht Sach-, sondern Tatzusammenhänge. Während nun aber Anschuldigungen der Rekonstruktion eines subjektiven Tatkalküls bedürfen, orientiert sich das rechtliche Urteilen an der faktischen Rechtsverletzung. Man kann rechtlich schuldig sein (wir sprechen dann nicht von Schuld, sondern von Rechtsverletzung), ohne moralisch schuldig zu sein. Unter Rechten verstehen wir hier nicht - im juristischen Sinne - gültiges Recht, sondern wir verstehen darunter das, was die Briefschreiber als Rechte, als «objektive» Richtmaße des Handelns geltend machen. Zur Konstitution der vorfindlichen rechtsbezogenen Aussagen brauchen wir vier Leerstellen: Allrechte, Anrechte, Sollrechte und Rechtsbelege. - Allrechte: Damit sind Richtwerte menschlichen Umgangs gemeint, die von allen Menschen geltend gemacht werden können (z.B. «der Nachbar hält sich nicht an die vorgeschriebene Mittagsruhe, das aber muß er tun»). - Anrechte: Anrechte können nicht von allen Menschen geltend gemacht werden, sondern nur von in bestimmter Weise ausgezeichneten Menschen, insbesondere von solchen, die sich im Laufe ihres Lebens bestimmte Verdienste erworben haben (z.B. «ich habe mein Leben lang hart gearbeitet, jetzt darf ich doch wohl erwarten, die letzten Jahre meines Lebens in Ruhe verbringen zu dürfen»). Ob andere, die nicht so oder anders ausgezeichnet sind, dieses Recht in gleicher Weise geltend machen können, wird zumindest offen gelassen. - Sollrechte: Damit sind Rechte gemeint, die zugestandenermaßen derzeit nicht gelten, die aber in einer Gesellschaft, die human sein will, gelten müßten (z.B. «sollte nicht die Gesundheit eines Kindes mehr wert sein als unsere sog. Verteidigungsbereitschaft?»). - Rechtsbelege: Alle argumentativ beanspruchten Rechte können natürlich noch irgendwie belegt werden (z.B. durch Hinweis auf richterliche Urteile).
270
Laucken et al.: Logographie der Gegenwehr
Das dargestellte Leerstellengefüge ist der erste und die weiteren Befunde voraussetzende Teilbefund unseres Beitrags zu einer «empirical science of meaning» ( G O O D E N O U G H , 1956). Der nächste Schritt ist die Besetzungsanalyse.
d.h., es wird gefragt, wieviele verschiedene Briefe bestimmte Koppelungen von Leerstellen (zumindest einmal) besetzen. Hierzu ein kleines Beispiel aus dem Rechtsbereich (vgl. Abb. 3). Allrechte
43.5
6.2 Besetzungsanalyse Die folgenden Befunddarstellungen haben (gemäß unserer ansatzorientierten Darstellung) vornehmlich methodisch exemplarische Funktion. Die Besetzungsanalysen ergeben, welche Leerstellen wie oft von verschiedenen Briefschreibern durch (zumindest) eine zugehörige Aussage in Anspruch genommen wurden. Es läßt sich daraus gleichsam die Affordanz, der Aufforderungsgehalt bestimmter Strukturmomente ablesen, relativ und absolut. Die Abbildung 2 zeigt die Nutzungsfrequenzen der drei geschiedenen Leerstellenbereiche. %
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I
SCHULD
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RECHT
Abb. 2: Prozentuale Besetzungshäufigkeiten der Leerstellenbereiche
Es gibt offenkundig obligatorische und fakultative Leerstellen. Der Leidbereich muß ausgesagt sein, ohne Leid keine Gegenwehr. Dieser «satte» Besetzungsbefund, und deshalb haben wir ihn hier herausgegriffen, zeigt (a), daß unser konstitutives Leerstellenraster einschlägig ist, und (b), daß für differenzierende Verweisungsanalysen zwischen den Leerstellenbereichen ein ausreichendes Datenfundament vorliegt. Zu den besetzungsanalytischen Befunden gehört auch die Erkundung sog. Besetzungsmuster,
29.1
27.4
' / A muß besetzt sein > < ] darf nicht besetzt sein Abb. 3: Prozentuale Besetzungsanteile verschiedener Koppelungen im Rechtsbereich
Anfangs hegten wir die Vermutung, daß etwa das Geltendmachen von Anrechten vor allem dann geschieht, wenn keine Allrechtsverletzungen vorliegen. Der gezeigte Koppelungsbefund widerspricht dem. Anrechte werden fast genauso häufig allein wie im Verein mit Allrechten reklamiert. Dies paßt zu anderen logographischen Befunden, die wir hier nicht alle ausführen können; diese zeigen, daß die Anrechte ein attraktives eigenständiges argumentatives Potential zur Begründung von Gegenwehr sind. 6.3
LEID
%
Anrechte
Ausfüllungsbeziehungen
Ausfüllungsbeziehungen - wir sagten es - sind Beziehungen zwischen den inhaltlichen Ausfüllungen der einzelnen Leerstellen. Werden - so wird gefragt - die Freiheitsgrade der Ausfüllung der Leerstelle B durch eine bestimmte Ausfüllung der Leerstelle A eingeschränkt; oder, anders gewendet, verweist die Ausfüllung der Leerstelle A auf eine bestimmte Ausfüllung der Leerstelle B? Wir sprechen von Verweisungshypothesen. Die Formulierung einer Verweisungshypothese setzt zweierlei voraus: (a) die Auswahl bestimmter Leerstellen und (b) die Bestimmung verweisungsträchtiger Varianten der Ausfüllung. Exemplarisch sei ein Verweisungsstrang, und auch dieser nur ausschnitthaft, erörtert: Verweisungsbeziehung zwischen Leid und Schuld. Seit den Untersuchungen von WALSTER ( 1 9 6 6 ; 1967) wird mit wechselvollem Ergebnis die Frage erörtert, ob ein argumentativer Zusammenhang bestehe zwischen der Schwere des Leids, das eine
271
Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 264-274
Tat erzeugt, und der Verantwortlichkeit, die dem Erzeuger dafür zugeschrieben wird. Die Untersuchungen von WALSTER sind durch zweierlei gekennzeichnet: (a) Es sind Untersuchungen aus der Perspektive des distanzierten Beobachters. (b) Es gibt nur die Alternative «verantwortlich oder nicht verantwortlich»; es werden keine Abstufungen der Schwere der Anschuldigung eingeführt. Im Rahmen der Erforschung der Gegenwehr ist die Beobachterperspektive weniger aufschlußreich, hier interessiert die Opferperspektive; und bei der Begründung der Berechtigung von Gegenwehr ist der Schweregrad der Schuld für zugefügtes Leid unverzichtbar. - Nun zu den Varianten der Schwere, zunächst zu denen des Leids und dann zu denen der Schuld: Varianten der Schwere des Leids: Die Leerstelle «bewirktes Leid» umfaßt zwei Schädigungsarten: (a) Unmittelbare Schädigung: Diese ist mit der aktuellen Anwesenheit des Lärms kontingent (z.B. Störung von Gesprächen). Sobald der Lärm vorbei ist, ist die Störung beendet, (b) Mittelbare Schädigung: Hier ist die Schädigung relativ überdauernd manifest geworden (z.B. Schulschwierigkeiten der Kinder). Wir haben nun zwei Varianten der Schwere des Leids so bestimmt: Eine Einfach-Schädigung (unmittelbar oder mittelbar) ist weniger gravierend als eine Doppel-Schädigung (unmittelbar und mittelbar). Varianten der Schwere der Schuld: Die in unseren Briefen thematische Schuldkategorie, die der moralischen Schuld (es gibt noch andere), unterstellt dem Verantwortlichen bedachtes Handeln, nur für solches ist er schuldfähig. Dieses Handlungskalkül kann nun mehr oder weniger beanstandungswürdig sein. Wir unterscheiden drei Intentionsmodi, also Weisen des intentionalen Handlungsbezuges. Intentionsmodus
A:
Dem Täter wird unterstellt, er sei in der Lage, und wenn man ihn daraufhin anspräche, auch bereit, den (zumindest möglichen) Leidbezug seines Tuns (dies schließt auch «Lassen» ein) zu sehen
und zu bedenken, doch tut er dies im Vollzug seiner Tat nicht. Bezogen auf den Erzeuger bedeutet dies den Vorwurf der Gedankenlosigkeit. Intentionsmodus
B:
Dem Täter ist durchaus bewußt, daß sein Tun anderen Leid bereitet. Er weiß dies, etwa weil man es ihm gesagt hat oder weil es zum Allgemeinwissen gehört. Aber obgleich er dies weiß und auch bedacht hat, unterläßt er sein leidbewirkendes Tun nicht. Er nimmt das Leid betroffener Mitmenschen in seinem Handlungskalkül bewußt in Kauf. Der Eigennutzen ist ihm wichtiger als die Vermeidung des Leids von Mitmenschen. Bezogen auf den Erzeuger bedeutet dies den Vorwurf der Rücksichtslosigkeit. Intentionsmodus
C:
Bei den Intentionsmodi A und B ist der Zweck des Tuns ein anderer als der des Zufügens von Leid. Beim Intentionsmodus C ist das einem Mitmenschen zugefügte Leid gewollt (sei es als Haupt-, sei es als gefälliger Nebenzweck). Etwas Böses, nämlich Mitmenschen Leid zuzufügen, wird nicht nur hingenommen, sondern vom Täter gewollt. Bezogen auf den Erzeuger ist dies der Vorwurf der Böswilligkeit. Beziehen wir nun die beiden Ausfüllungsvariablen (Schwere des Leids und Schwere der Schuld) verweisungsanalytisch aufeinander, so erhalten wir über alle Verantwortungsträger (Erzeuger, Ermöglicher, Garant) hinweg einen signifikanten Verweisungszusammenhang in der erwarteten Verweisungsrichtung (vgl. Tab. 1). Tab. 1: Zusammenhang zwischen «Art des Intentionsmodus» und «Schwere der Schädigung» (abs. Häufigkeiten) Intentionsmodus A B C Schädigung
einfach
7
130
18
155
doppel
1
50
20
71
8
180
38
226
(korr. Chi-Quadrat = 8.50; 2 df.; p = .05; sign.)
Dieser Verweisungszusammenhang besteht wie gesagt - über alle Verantwortungsträger hinweg. Wenn wir nach Erzeuger, Ermöglicher und Garant getrennt fragen, so zeigt sich, daß der Verweisungszusammenhang unterschiedlich eng
272
ist. Die bisherigen sozialpsychologischen Untersuchungen ziehen als Verantwortlichen überwiegend nur den Erzeuger in Betracht.
7. Vergleichende Betrachtungen An dieser Stelle mag man eine Verbindung unserer Ergebnisse mit Befunden anderer Untersuchungen erwarten. Da unsere Darstellung - wie wir eingangs sagten - eher ansatz- als ergebnisorientiert ist, werden Ergebnisse exemplarisch dargestellt; gründliche und vergleichende Ergebniserörterung erforderte aber eine umfassende Darstellung der Ergebnisse (s. dazu L A U C K E N & M E E S , 1 9 8 7 ) . Auf der Ansatzebene aber können wir durch Vergleich einige Eigenarten unseres Ansatzes nochmals hervortreten lassen: Auf den ersten Blick scheint der attributionstheoretische Ansatz ein angemessener Vergleichspartner zu sein; wir bezogen uns ja bereits punktuell auf attributionstheoretisch gefaßte Ergebnisse. Solche Bezüge sind aber kategorial problematisch. Attributionstheorien sind programmatisch daraufhin angelegt, subjektiv zuhandenes Wissen zu erforschen. Wir wollen hier nicht fragen, ob die tatsächliche Forschungspraxis diesem Anliegen gemäß ist, wir wollen hier nur für uns sagen, daß die Art unserer logographischen Analyse nicht subjektives Wissen zutage fördert. Die Aggregierung der Aussagestrukturen von 671 Briefschreibern verbietet subjektivierende Ergebnisdeutungen. Wie wir darlegten, sehen wir darin keinen Mangel; die uns gegebene Datenfülle ermöglichte es uns, gammalogographisch zu fragen: Gibt es kulturelle Ordnungsangebote zur gegenwehrthematischen Artikulierung und Strukturierung zwischenmenschlicher Lebenslagen? Attributionstheoretisches Fragen läßt sich damit verbinden; so läßt sich fragen, welche «Attributionsangebote» bestimmten gamraalogographen Ordnungen (verkörpert etwa in bestimmten sozialen Einrichtungen; vgl. Abs c h n i t t ^ innewohnen und wie diese handelnd «angeeignet» werden. Doch auch hier ist Umsicht beim Vergleichen geboten. Weshalb? Attributionstheoretiker erforschen vornehmlich subjektiv zuhandenes Erklärungswissen; sie untersuchen subjektiv theoretisches Wissen. «Theoretisches» Wissen ist «Beobachterwissen», d.h. das Wissen einer Person von einem Etwas,
Laucken et al.: Logographie der Gegenwehr
das ihr irgendwie objektiviert gegenübersteht und über das sie sich Gedanken macht, meist Gedanken des «Warum?». Das, was die Schreiber in ihren Briefen uns mitteilen, hat nicht diesen prädikativ-explanativen Status; die Briefschreiber sind nicht objektivierende Beobachter, sondern eingebundene Teilnehmer. Die Briefschreiber sagen uns, in welche «unerträgliche Lärmgeschichte» (i.S. des Geschichten-Begriffs von SCHAPP, 1959) sie verwickelt sind. Sie schreiben nicht in reflexiver Haltung über ihr Leben, sie erzählen uns in positionaler Haltung aus ihrem Leben (wobei diese Erzählungen natürlich «taktisch eingefärbt» sein mögen; dies tut unserer Interpretation hier keinen Abbruch). Eine andere Vergleichsdimension wählend können wir unsere «Struktursprache» vergleichend erörtern: Entwürfe für Struktursprachen von Umgangswissen gibt es in Hülle und Fülle; besonders bedacht und ausgefeilt sind die Wissenssprachen der Gedächtnispsychologie; es sei nur an Begriffe wie Schema, Skript, Rahmen, Story u.a. erinnert. Wir wollen hier zum Vergleich einen Ansatz herausgreifen, der unserem Anliegen besonders nahe zu kommen scheint. Gemeint ist der Begriff «story» von T k o R N D Y K E (1975). Zunächst muß auch hier wieder festgehalten werden, daß der «story»-Begriff ein Begriff zur Erfassung subjektiv zuhandenen Wissens (Gedächtnisinhaltes) ist, gleichwohl können wir aber den strukturanalytischen Begriffsapparat vergleichend betrachten. Hier wie dort werden formale Subsumptionsapparate geschaffen, die konkret Inhaltliches «assimilativ» begreifen: Die «plot structure of stories» (p. 29ff.) ist ein hierarchisch geordneter Begriffsapparat, der auf der jeweils untersten Ebene Begriffe liefert, denen sich Textteile zuordnen lassen. Die wesentlichen Bestandteile der Plot-Struktur sind Begriffe, die wir in alltäglicher Rede gebrauchen, wenn wir bewußt bedachtes, problemorientiertes Handeln bereden. Dieser problemlösungsanalytische Begriffsapparat und die in ihm eingeschlossenen Hierarchisierungsmöglichkeiten (z.B. Plan, Unterpläne) liefert die Struktursprache für die «plot structure of stories», die «stories» sind gleichsam spezifizierte Fälle von Problemlösungen. Hier wird ein Unterschied zum logographischen Ansatz deutlich: Der Subsumptionsapparat unseres Ansatzes ist erheblich offener, ärmer an Strukturvorgaben. Wir sprechen lediglich
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Zeitschrift für S o z i a l p s y c h o l o g i e 1988, 2 6 4 - 2 7 4
von: thematisches Feld, Leerstellengefüge und Ausfüllungsbeziehungen. Hierarchisierungen sind uns, sollten sie sich deskriptiv als notwendig erweisen, möglich, indem wir die Leerstellen eines thematischen Feldes zu eigenen thematischen Feldern machen können. Ob «stories» überhaupt ein thematisches Feld sind, und ob damit die Problemlösungssprache ein angemessenes Leerstellengefüge liefert, das ist uns Frage und nicht analytisches Apriori. Unsere analytischen Vorgaben sind demnach erheblich adaptationsbereiter. Betrachtet man beide Ansätze nicht vom analytischen Beginn, sondern vom Ergebnis her, so ist unser Ansatz nicht offener, sondern enger. Das Ergebis einer logographischen Analyse besteht aus einem inhaltlich bestimmten Umriß eines thematischen Feldes (z.B. thematisches Feld «Gegenwehr»), aus einem inhaltlich bestimmten Leerstellengefüge (z.B. Leerstelle «Anschuldigungen gegenüber Garanten») und aus inhaltlich bestimmten Ausfüllungsbeziehungen (z.B.: «Ist die Leerstelle A mit der Variante ai ausgefüllt, so ist es wahrscheinlicher, daß die Leerstelle B mit der Variante b2 als mit der Variante bi ausgefüllt ist»). Der Plot-Ansatz bleibt in der Konkretion viel allgemeiner; er begnügt sich mit dem Aufweis allgemeiner Subsumptionstauglichkeit, er »validiert» seinen Begriffsapparat z.B. durch erfolgreiche Behaltensvorhersagen. Dies zeigt nochmals die Problematik unseres Vergleichs, da er von der konkreten wissenschaftlichen Fragestellung weitgehend abstrahiert.
8. Prognostische Prüfmöglichkeiten Im Ansatz und exemplarisch haben wir nun das Verfahren der logographischen Analyse und die Art der zu erwartenden Befunde dargestellt. Es stellt sich nun die Frage, wie die Güte der Befunde prüfbar ist. Es sind recht unterschiedliche Wege der Prüfung denkbar. Zwei seien hier beispielhaft vorgestellt: Prüfung von Einordnungsvorhersagen und P r ü f u n g von Urteilsvorhersagen. 8.1
Einordnungsvorhersagen
Es wäre zirkulär argumentiert, wollte man aus einem Materialkorpus logographe Ordnungen extrahieren, um dann deren Güte durch die gelun-
gene Vollerfassung eben dieses Materials erweisen zu wollen. Eine echte Prüfung liegt dann vor, wenn wir z.B. aus Beschwerdebriefen die logographe Ordnung der Gegenwehr konstitutionsanalytisch erschließen und dann vorhersagen, daß eben diese Ordnung sich auch z.B. in Protestresolutionen finden lassen müßte. In diesem Fall sagten wir vorher, daß die Aussagen in Protestresolutionen sich in das Leerstellengefüge, das zu prüfen ist, einordnen lassen müßten. Solche Einordnungsvorhersagen sind falsifizierbar.
8.2
Urteilsvorhersagen
Die Güteprüfung über Urteilsvorhersagen ist voraussetzungsvoll. Wir wollen dies der Kürze wegen an unserem Schachspiel-Vergleich verdeutlichen. Haben wir ein Regelsystem erschlossen und wollen wir dessen Güte prüfen, so können wir Leuten, von denen wir annehmen, sie seien kompetente Schachspieler, bestimmte Spielzüge vorführen und sie um diverse Stellungnahmen dazu bitten (etwa: «Ist dies ein zulässiger Zug?»). Wir können vorhersagen, welche Stellungnahmen wir auf Grund des erschlossenen Regelsystems erwarten, und wir können unsere Vorhersagen auf ihr Zutreffen prüfen und damit die Güte des Regelsystems. Wir prüfen dann eine gammalogographe Ordnung (ein Regelsystem) über die Vorhersage individueller Urteile zu fallspezifischen Nutzungen des allgemeinen Regelsystems. Bei der Bewertung der Prüfqualität von Urteilsvorhersagen muß man sich dieser Voraussetzungshaltigkeit bewußt sein, so muß einem etwa auch klar sein, daß damit die positionale Referenz des Briefschreibers zu seinem Text hier nicht mehr vorliegt. Unterstellen wir aber gammalogographische Erfassungsqualität, so kann gerade dieser Referenzwechsel aufschlußreich sein. (a) Zugehörigkeitsurteile: Diese Urteile geben an, ob diese oder jene Information zu einem thematischen Feld gehört oder nicht. Aus einem Leerstellengefüge lassen sich solche Zugehörigkeitsurteile vorhersagen, und das Zutreffen der Vorhersagen läßt sich prüfen. Mit Zugehörigkeitsurteilen läßt sich gleichsam die Richtigkeit der Grenzziehung um ein thematisches Feld (innen versus außen) prüfen.
274
Aufgrund unseres Konstitutionsbefundes würden wir etwa vorhersagen, daß Personen, die sich ein Bild von einem Gegenwehrfall machen wollen, Informationen über die Musikvorlieben der Beteiligten als - fragte man sie danach - eher wenig aufschlußreich/einschlägig/erhellend o.ä. beurteilten. Das Leerstellengefüge enthält keinen unmittelbaren Platz für solche Informationen. Würde dennoch hypothesenwidrig eine solche Information als einschlägig beurteilt, so wäre zunächst des weiteren zu fragen, ob diese Information nur deshalb als einschlägig beurteilt wird, weil sie als ein Indiz für eine Information genommen wird, die zu einer Leerstelle gehört (z.B. «Wer Musik X liebt, der kann nicht böswillig sein»). Läßt sich aber eine solche Indizbeziehung zu einer vorgesehenen Leerstelle nicht ausmachen, und wird die Information gleichwohl als aufschlußreich für das Verständnis eines Gegenwehrfalles erachtet, dann ist damit das Leerstellengefüge zumindest als zu eng gefaßt erwiesen. (b) Stimmigkeitsurteile: Durch diese Urteile geben Menschen an, ob ihnen das zu einem thematischen Feld Berichtete in sich stimmig ist (zusammenpaßt, widerspruchsfrei ist u.ä.). Vorhersagen über Stimmigkeitsurteile ermöglichen es uns, das erschlossene Geflecht von Ausfüllungsbeziehungen zu prüfen. Es geht hier nicht um die Prüfung der angemessenen Abgrenzung eines thematischen Feldes, sondern um die Prüfung eines behaupteten internen Verweisungszusammenhanges (das Leerstellengefüge wird dabei fraglos gestellt).
Laucken et al.: Logographie der Gegenwehr
verkörperte soziale Objektivation. Die Sozialisanden begegnen ihr als kulturelles kognitives Angebot, Welt aufzufassen, in ihr zu handeln und sie so zu bewahren. Objektiviert und spezifiziert anzutreffen ist die Gegenwehrordnung z.B. im Gewände von Begründungen und Rechtfertigungen punitiver Erziehungsmaßnahmen. Manche Verkörperungen logographer Ordnungen haben eher Gebot- als Angebotcharakter. Dies etwa dann, wenn gesellschaftliche Einrichtungen, etwa solche des Verwaltungs- oder des Rechtsbereichs, nur dann unterstützend in Anspruch genommen werden können, wenn man seine Lebenslage als Fall berechtigter Gegenwehr artikuliert und strukturiert. Beschwerdeinstanzen fordern Beschwerden, um tätig zu werden; der Rechtsapparat interveniert in Privatangelegenheiten nur, wenn es betroffene Opfer und rechtlich Schuldige gibt. Wir sehen, daß die gegenwehrthematische Artikulation von Welt demjenigen gleichsam abgenötigt wird, der sich auf die existierenden sozialen Verhältnisse und damit deren gammalogographes Rationale einläßt.
Literatur CASSIRER, E. 1980. Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung. In: E. CASSIRER, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. Zweite Studie (S. 34-55). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (4. Aufl.). DÜRKHEIM, E. 1898. Représentations individuelles et représentation collectives. Revue de Metaphysique et de Morale, 6, 273-302. GOODENOUGH, W. H. 1956. Componential analysis and study of meaning. Language, 32, 195-216. LAUCKEN, U. 1974. Naive Verhaltenstheorie. Stuttgart: Klett. LAUCKEN, U. & MEES, U.
9. Logographe Ordnung als kulturelles Angebot Zum Abschluß sei der gammalogographischen Perspektive noch durch einige Anschlußfragen ein weiterer Horizont gegeben: Wir suchen also nach transsubjektiv konzipierten Angeboten, Welt zu haben und zu handhaben. Wir sprechen von Gammalogographie. Wir erforschen, um es analog zu DE SAUSSURE (1916) zu sagen, «la langue» und nicht «la parole» und auch nicht «le langage». Ebenso wie grammatische Strukturen liegt die «thematische Syntax» der Gegenwehr nicht irgendwo offen zutage, sondern muß konstitutionsanalytisch erschlossen werden. Die logographe Ordnung der Gegenwehr, wie wir sie erschlossen haben, ist eine mannigfach
1987. L o g o g r a p h i e
alltäglichen
Lebens. Leid, Schuld und Recht in Beschwerdebriefen über Lärm. Oldenburg: Holzberg. MEES, U. 1988. Konzeption und Erfassung menschlicher Aggression. In: U. MEES (Hrsg.), Beobachtung, Interaktionsanalyse und Modifikation aggressiven Kindverhaltens (S. 9-42). Oldenburg: BIS-Veriag. RAULFF, U. 1987. (Hrsg.) Mentalitäten-Geschichte. Berlin: Wagenbach. SAUSSURE, F. DE 1916. Cours de linguistique général. Paris. SCHAPP, W. 1959. Philosophie der Geschichten. Leer: Rautenberg. THORNDYKE, P. W. 1975. Cognitive structures in human story compréhension and memory. Santa Monica (Calif.): The Rand Paper Sériés (No. P-5513). WALSTER, E. 1966. Assignment of responsibility for an accident. Journal of Personality and Social Psychology, 3, 73-79.
WALSTER, E. 1967. «Second guessing» important events. Human Relations, 20, 239-250.
^^H
Zeitschrift f ü r Sozialpsychologie 1988, 275-286
275
Diskussion Zur Effektivitätssteigerung verhaltenstherapeutischer Gewichtsreduktions-Programme durch sozialpsychologisches Wissen: Entwicklung und Prüfung attributionstheoretischer Maßnahmen bei Übergewichtigen JOCHEN HAISCH, ILKA Universität Ulm
Haisch
Ausgehend von den eher geringen Erfolgen bestehender Gewichtsreduktions-Maßnahmen wurde verschiedentlich versucht, durch Kombination gewichtsreduzierender M a ß n a h men oder durch Differenzierung der für die Gewichtsreduktion geeigneten Übergewichtigen eine Effektivitätssteigerung bei der Gewichtsreduktion zu erreichen. In der vorliegenden Untersuchung wurde dagegen versucht, durch ein für alle Übergewichtigen und alle Gewichtsreduktions-Maßnahmen geeignetes attributionstheoretisches Vortraining bei Übergewichtigen die Motivation zu schaffen, vollständig und selbstverantwortlich an Gewichtsreduktions-Programmen teilzunehmen. In einer experimentellen Untersuchung mit 56 Übergewichtigen zeigten sich deutlich größere Gewichtsverluste im Vergleich zur Kontrollgruppe nur bei den attributionstheoretisch vortrainierten Teilnehmern eines verhaltenstherapeutischen Gewichtsreduktions-Programmes. Darüber hinaus scheint das «Attributionstraining» sich positiv auf die Abbrecherquote bei Gewichtsreduktions-Teilnehmern auszuwirken. Neben der Präsentation des Attributionstrainings in Form einer programmierten Unterweisung werden erste Befunde von weiteren 12 Übergewichtigen berichtet, die bei der Teiln a h m e an der verhaltenstherapeutischen Gewichtsreduktion das Attributionstraining als «Wandzeitung» erarbeiteten. Eine alternative Forschungsstrategie zu bisherigen Differenzierungen Übergewichtiger respektive Kombinationen von Programmen wird abschließend entworfen.
Starting f r o m the relatively small successes of many existing weight-reduction measures, it often was proposed to improve effectivity by combining various measures or by selecting the best-fitting patients. O u r research, to the contrary, tries to establish a motivation within all participants of weight-reduction measures. This motivation should support patients to participate in the measures completely and self-responsibly. T h e motivation hopefully is established by an attribution training for overweight persons. In an experimental study with 56 overweight persons, higher weight-losses of participants of a behavioral weight-loss intervention are found, if these patients additionally were submitted to the attribution training. Moreover, the additional attribution training seems to positively influence the high drop-out rates of behavioral weight-loss interventions. O u r attribution training is developped and tested in two different versions, one version to be implemented before the start of weightreduction measures, another as a measure in accompany of the therapy. O n the basis of theoretical considerations, the attribution training in accompany of the weight-reduction measures is preferred.
1. Einleitung
eine insgesamt eher geringe Effektivität der Maßnahmen zur Gewichtsreduktion nachweisen
Für Übergewichtige, die an Gewichtsreduktion interessiert sind, muß die Wahl eines geeigneten Gewichtsreduktions-Programmes einem Griff in die Lostrommel gleichen. Bei fast allen angebotenen Programmen zur Kontrolle und Reduktion des Gewichts wird ein Interessent nämlich auf Erfolgsmeldungen stoßen, die von «besonders großen» Gewichtsverlusten bei «besonders stark» Übergewichtigen berichten. Dieser Situation stehen empirische Befunde gegenüber, die
( z . B . ALIABADI & LEHNIG, 1 9 8 2 ; P U D E L ,
1982):
Entweder ist das durchschnittlich verlorene Gewicht (vor allem angesichts der Dauer mancher Programme) während der Maßnahmen gering oder die Gewichtszunähme nach Abschluß der Maßnahmen hoch. U m diese tatsächlich eher unbefriedigende Effektivität zu erhöhen ist u.a. versucht worden, (1) verschiedene Programme zu kombinieren, und (2) Übergewichtige so zu differenzieren, daß Ansätze für unterschiedliche Ge-
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Haisch & Haisch: Prüfung der attributionstheoretischer Maßnahmen bei Übergewichtigen
wichtsreduktions-Programme möglich werden. Was die Kombination verschiedener Programme angeht, vergleichen beispielsweise H A R T I G A N , B A K E R - S T R A U C H & Morris ( 1 9 8 2 ) eine Gruppe Übergewichtiger, die einer Kombination aus verhaltenstherapeutischen Maßnahmen und einem Diätprogramm unterzogen wurde, mit Übergewichtigen, die nur das Diätprogramm erhielten und einer Kontrollgruppe. Die Teilnehmer an den kombinierten verhaltenstherapeutischen und Diät-Maßnahmen verloren während sowie auch nach dem kombinierten Programm deutlich mehr Gewicht als alle anderen Übergewichtigen. Werden verschiedene Maßnahmen zur Gewichtsreduktion allerdings nacheinander angewendet (also nicht als eine Kombination), dann scheint dies eher nachteilige Effekte zu haben. G R A H A M et al. (1983) berichten nämlich umso geringere Gewichtsverluste von Übergewichtigen, je mehr sich diese unterschiedlichen Programmen nacheinander unterzogen hatten. Auch H A M B U R G & INOFF ( 1 9 8 2 ) deuten einen möglichen nachteiligen Effekt der Verbindung verschiedener Maßnahmen zur Gewichtsreduktion an. Je informierter in ihrer Untersuchung Diabetiker (Kinder) über ihre Krankheit waren, desto mehr nahmen sie sich als den Gegebenheiten schicksalhaft ausgeliefert wahr und desto weniger sahen sie sich in der Lage, Nahrung vorschriftsmäßig kontrolliert aufzunehmen (vgl. auch FERSTL, 1 9 8 0 , zur Effektivität kombinierter Maßnahmen). Informiert man also (etwa durch kombinierte Programme) zu ausführlich, so daß sich der Eindruck eines schicksalhaften «Ausgeliefertseins» entwickeln kann, dann kann durch diesen Eindruck die aktive Befolgung von Nahrungsvorschriften behindert werden. Dies kann für Übergewichtige deshalb von Bedeutung sein, da diese offenbar ihr Gewichtsproblem ohnehin als schicksalsbedingt und schwer veränderbar betrachten (z.B. L A N G E , 1 9 8 1 ) . Bezüglich (2), der Differenzierung Übergewichtiger und Zuordnung geeigneter Programme, klassifizieren P A U L & P U D E L ( 1 9 8 2 ) eine umfangreiche Stichprobe Übergewichtiger in vier Gruppen unterschiedlicher Persönlichkeitstypen. Dabei handelt es sich um (a) intrapsychisch stabile mit extravertierter Neigung, (b) emotional labile, psychosomatisch gestörte, leicht depressive, (c) depressive, leicht reizbare mit geringer Frustrationstoleranz und mangeln-
dem Selbstvertrauen und (d) selbstsichere, kontaktfähige mit Selbstvertrauen und Tendenz zur sozialen Erwünschtheit. Übergewichtige dieser unterschiedlichen Persönlichkeitstypen zeigten sehr verschiedene Erfolgsquoten bei einem verhaltenstherapeutischen Gewichtsreduktionsprogramm respektive bei einer Nulldiät. Während Übergewichtige (d) in einem verhaltenstherapeutischen Programm sehr viel erfolgreicher waren als diejenigen (c), waren bei der Nulldiät Angehörige von (a) entscheidend erfolgreicher als diejenigen von (b). Eine ganz andere Differenzierung Übergewichtiger ergibt sich im Zusammenhang mit dem Konzept der generalisierten Kontrollerwartungen, das sind individuelle «Kontrollüberzeugungen» im Sinne von Persönlichkeitseigenschaften (ROTTER, 1 9 6 6 ) . Personen, die wesentliche Aspekte ihres Lebens unter Kontrolle zu haben glauben («interne»), sollen nach dieser Vorstellung bei Gewichtsreduktions-Programmen erfolgreicher sein als übergewichtige Personen, die wichtige Lebensaspekte vom Glück oder Schicksal kontrolliert sehen («externe»). Implikation hiervon ist, für Gewichtsreduktions-Programme verstärkt «intern» kontrollierte Übergewichtige auszuwählen, um den Erfolg der Gewichtsreduktions-Maßnahmen zu garantieren (BALCH & Ross, 1 9 7 5 ) . Einige Untersuchungen berichten tatsächlich einen Zusammenhang zwischen den Überzeugungen intern oder extern kontrolliert zu sein, vollständiger Teilnahme am Gewichtsreduktions-Programm und erfolgreicher Gewichtsreduktion (BALCH & Ross, 1 9 7 5 ; PAINE, O ' N E I L e t a l . , 1 9 8 0 ; GOLDNEY &
CAME-
RON, 1981). Widersprüchlich sind die Befunde allerdings darin, ob es eher die «intern» kontrollierten sind, die eine Therapie nicht abbrechen und mehr Gewicht verlieren oder eher die «externen» Übergewichtigen. Andere Untersuchungen finden keinerlei Zusammenhang von «Kontrollüberzeugungen» und Erfolg bei der Gewichtsreduktion ( z . B . ISBITSKY & W H I T E , 1 9 8 1 ) . B R A N D & CLOTZ ( 1 9 8 2 ) schlußfolgern daher, daß sich Übergewichtige nicht durch eine andere Kontrollerwartung, als sie bei Normalgewichtigen vorliegt, auszeichnen (p. 192). S C H A C H T E R ( 1 9 7 1 ) nimmt auf eine zweite Bedeutung des Konzeptes «Internalität versus Externalität» bezug, nämlich die erhöhte Außenreizabhängigkeit Übergewichtiger. Danach sollen Übergewichtige stärker als Normalgewichtige
Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 275-268
bei der Nahrungsaufnahme von äußeren Reizen, wie z.B. dem Nahrungsangebot, der Nahrungsmenge, der Uhrzeit usw. abhängen. RODIN ( 1 9 8 1 ) verweist allerdings darauf, daß die Befunde insgesamt eine verstärkte Reaktion auf Außenreize bei Übergewichtigen nicht bestätigen. Vielmehr stellt sie zusammenfassend fest, daß die Bereitschaft, verstärkt auf äußere Reize zu reagieren, gleichermaßen bei Normal- wie Übergewichtigen anzutreffen ist (z.B. P U D E L , 1 9 8 2 ; CONGER et al., 1 9 8 0 ; H U N T & ROSEN, 1 9 8 1 ; Kritisch auch FERSTL, 1 9 8 0 ) . B R A N D & C I O T Z ( 1 9 8 2 ) schlußfolgern in ihrem Überblick dagegen daß das Schachtersche Konzept der Außenreizabhängigkeit bei Übergewichtigen sich empirisch gut bewährt hat, daß bei Adipösen also von einer Disposition ausgegangen werden kann, die sie verstärkt auf Außenreize reagieren läßt. Ohne über die empirische Bewährung der theoretischen Konzepte zu entscheiden (vgl. MIELKE, 1 9 8 2 ; K R A M P E N , 1 9 8 2 ) wird in der vorliegenden Untersuchung davon ausgegangen, daß für die Aufnahme sowie für die vollständige und erfolgreiche Absolvierung von Gewichtsreduktions-Programmen weder die generalisierte Erwartung Übergewichtiger, extern kontrolliert zu sein, noch ihre Abhängigkeit von externen Reizen förderlich sein kann. Beiderlei Schlußfolgerungen sind mit einer - zur Gewichtsreduktion erforderlichen - Veränderung des bestehenden Eß- und Trinkverhaltens unvereinbar; Beiderlei Schlußfolgerungen verhindern, daß sich Adipöse für ihr Übergewicht selbst verantwortlich fühlen. Beiderlei Schlußfolgerungen können gegebenenfalls aber verändert werden, um so die Möglichkeit erfolgreicher Verhaltensänderung zu begründen. Eine entsprechende Veränderung kann - ausgehend von SCHACHTERS Konzept der Außenreizabhängigkeit - in der Demonstration der (trotz der Abhängigkeit von externen Verhaltensauslösern) in «Extremfällen» möglichen Unabhängigkeit von externalen Reizen (z.B. bei Krankheit, Gruppendruck, Belohnung) bestehen. Eine entsprechende Veränderung hinderlicher Schlußfolgerungen wird - ausgehend von ROTTERS Konzept der generalisierten Erwartung, eigenes Verhalten sei nicht kontingent zum Verhaltensergebnis - auch erreicht, indem die Erwartungen von Verhaltenskonsequenzen beeinflußt werden (siehe B R A N D & CLOTZ, 1 9 8 2 ) . Die für eine erfolgreiche Gewichtsreduktion günstige
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Schlußfolgerung hinsichtlich der Ursachen eigenen Übergewichts kann ebenfalls durch attributionstheoretisch fundierte Maßnahmen therapeutisch hergestellt werden. In diesen Fällen wird «Internalität» respektive «Externalität» also nicht als Eigenschaft Übergewichtiger und Normalgewichtiger betrachtet, sondern die wünschenswerte Schlußfolgerung, eigenes Essen und Trinken werde durch variable innere Faktoren bestimmt, mithilfe der gezielten Vorgabe von Informationen systematisch hergestellt. Damit ist deutlich, daß die angewandten Konzepte unterschiedliche Maßnahmen zur Herstellung wünschenswerter Schlußfolgerungen nahelegen. In jedem Fall gilt aber, daß die wünschenswerte Schlußfolgerung vor den eigentlichen Gewichtsreduktions-Maßnahmen gegeben oder hergestellt sein muss. Will man hier Übergewichtige nicht nur anhand bestimmter Eigenschaften als mehr oder weniger für GewichtsreduktionsMaßnahmen geeignet klassifizieren oder längerfristige Änderungen der unerwünschten Eigenschaften betreiben, sondern will man allgemein bei Übergewichtigen die wünschenswerte Schlußfolgerung therapeutisch relativ kurzfristig herstellen, dann scheinen attributionstheoretisch fundierte Maßnahmen empfehlenswert. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang zunächst, welche Maßnahmen zur Gewichtsreduktion dieser aktiven Herstellung wünschenswerter Schlußfolgerungen nachfolgen. Wünschenswert ist nur, daß diese Schlußfolgerung bezüglich der Ursachen eigenen Übergewichts tragfähig genug ist, so daß die folgenden Maßnahmen der Gewichtsreduktions-Programme eigenverantwortlich durchgehalten und erfolgreich abgeschlossen werden können (vgl. S T U N K A R D , 1 9 7 5 ; ALIABADI & LEHNIG, 1 9 8 2 ) . Auf diese Notwendigkeit der Entwicklung entsprechender motivierender Maßnahmen für die Aufnahme und Durchführung eines GewichtsreduktionsProgrammes weist auch P U D E L ( 1 9 8 2 ) hin.
2. Das Attributions-Training für Übergewichtige Attributions-Trainingsprogramme zerfallen in mindestens zwei Klassen, (1) solche zur Herstellung rationaler Schlußfolgerungen (z.B. KELLEY, 1975) und (2) solche zur Herstellung wünschenswerter Schlußfolgerungen (z.B. PESTA et al.,
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Haisch & Haisch: P r ü f u n g der attributionstheoretischer M a ß n a h m e n bei Übergewichtigen
1982). FÖRSTERLING (1980) b e s c h r e i b t d i e a t t r i b u -
tionstheoretischen Grundlagen der Veränderung von Ursachenzuschreibungen bezüglich des eigenen Verhaltens. Das heißt, es werden genuin attributionstheoretische M a ß n a h m e n für therapeutische Situationen fruchtbar gemacht, ein Vorgehen, das von der überwiegenden Praxis in der «Attributionstherapie» (Ross et al., 1969), die Emotionstheorie
von
SCHACHTER
(1964)
zur
Grundlage von therapeutischen M a ß n a h m e n zu machen, abweicht (vgl. OTTO, 1979; LANGE, 1981).
Dabei geht FÖRSTERLING (1980) von der Attrib u t i o n s t h e o r i e v o n WEINER et al. (1971) a u s u n d
beschreibt mögliche Veränderungen von Schlußfolgerungen über eigenes Verhalten. Legt m a n als attributionstherapeutisches Ziel fest, daß Adipöse die Ursache für ihr Übergewicht in ihrer bisher ungenügend dauerhaften Anstrengung, abzunehmen (also intern-variabel bedingt) sehen sollen, dann sind drei Veränderungen der Schlußfolgerungen Übergewichtiger hinsichtlich ihres bisherigen Essens und Trinkens denkbar, nämlich (1) intern-stabil zu intern-variabel, (2) externstabil zu intern-variabel und (3) extern-variabel zu intern-variabel. Darüber hinaus m u ß diejenige Schlußfolgerung Adipöser stabilisiert werden, wonach das eigene Übergewicht von vorneherein als intern-variabel bedingt angesehen wird. Liegt eine intern-variabel Attribution bei Übergewichtigen vor, dann kann auch davon ausgegangen werden, daß sie sich für ihr Essen und Trinken selbst verantwortlich fühlen, beides aber auch als veränderlich betrachten. LANGE (1981) referiert eine Umfrage von PIORKOWSKI (1970), wonach Adipöse folgende Ursachen ihres Übergewichtes nennen: Wasserretention und Knochenbau 5%, Drüsen- und Stoffwechselschwäche 20%, Vererbung und Veranlagung 38%, Essen und mangelnde Bewegung 28% (Lange, 1981, S. 16). Das heißt, daß bei nur 28% dieser Befragten die erwünschte Ursachenzuschreibung (mein zuviel Essen, meine mangelnde Bewegung = intern-variabel) bereits vorlag, also nicht hergestellt werden müßte. Alle anderen Ursachenzuschreibungen wären dagegen nicht wünschenswert, also zu verändern. Sowohl «Vererbung und Veranlagung», «Drüsen- und Stoffwechselschwäche», als auch «Wasserretention und Knochenbau» sind nämlich eher stabile Verhaltensursachen, die in der Person von Übergewichtigen
liegen. Eventuell treten damit nicht alle drei zu verändernden Schlußfolgerungen über Verhaltensursachen bei Übergewichtigen gleich häufig auf, die nicht wünschenswerten Schlußfolgerungen überwiegen aber offenbar die wünschenswerten.
2.1 Die Methode der
Attributions-Veränderung
Entscheidend ist nun, auf welchem Wege die wünschenswerten Schlußfolgerungen hergestellt werden können. FÖRSTERLING (1980) schlägt vor, Klienten mit Informationen zu konfrontieren, wie sie sich aus der Attributionstheorie von KELLEY (1967; 1971) ergeben (Distinktheit-, Konsistenz*, Konsensus-Information). Im Rahmen der KELLEYSchen Erklärung ist es durch die Gabe aller relevanten Informationen, die mithilfe des Kovariations-Prinzips zu einem Urteil integriert werden sollen, nur möglich, interne Verhaltensursachen allgemein den externen Ursachen (raum-zeitliche Bedingungen, Anreize, andere Personen) gegenüberzustellen (vgl. SHAVER, 1975;
HERKNER,
1980;
KELLEY &
MICHELA,
1980). Für das Herstellen der Schlußfolgerung intern-variabler Ursachen für eigenes Übergewicht werden die KELLEYschen Informationsmuster daher nicht ausreichen (zumal die erwarteten mit den geschlußfolgerten Verhaltensursachen nur begrenzt übereinstimmen; z.B. ORVIS et al., 1975).
PESTA et al. (1982) schlagen im Anschluß an WEINER (1979) ein anderes Verfahren vor. Sie versuchen, erfahrungsbedingte Attributionsstile so zu verändern, daß Personen ihre zukünftigen Erfolge (Mißerfolge) kontrollieren können. Ziel ist es dabei, Erfolge eigenen Handelns «internen» oder «stabilen» Ursachen zuzuschreiben, Mißerfolge dagegen «externen» respektive «variablen» Faktoren. In Übereinstimmung mit ihrem Ansatz besteht die verändernde M a ß n a h m e dieser Autoren im wesentlichen in der Vermittlung neuer Erfahrungen und Schaffung neuer Erwartungen. Insoweit stehen diese M a ß n a h m e n in engem Bezug zu solchen Veränderungen, wie sie sich im Anschluß an ROTTERS Konzept der generalisierten Kontrollerwartungen ergeben würden. Die konkreten einzelnen Techniken, die PESTA et al. (1982) anwenden, überschreiten allerdings den Rahmen sowohl der WEiNERschen als auch der RoTTERschen Konzeption. Erfolgreiche respek-
Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 2 7 5 - 2 8 6
tive nicht erfolgreiche Diskussionsbeiträge und Kurzreferate, sowie Rollenspiele sind zusätzliche Techniken zur Zielverwirklichung, die sich nicht aus der Theorie ergeben. Diese Schwierigkeit scheint für entsprechendes theoriegeleitetes Vorgehen typisch zu sein (vgl. S T E F F E N & M Y S Z A K , 1 9 7 8 ; M C H U G H e t a l . , 1 9 7 9 ; SEJWACZ e t a l . , 1 9 8 0 ; LANGE,
1981).
Wir entwickelten daher zwei unterschiedliche Techniken, die Schlußfolgerungen, daß «externvariable», «extern-stabile» und «intern-stabile» Ursachen eigenen Übergewichts vorliegen, zur Urache «intern-variabel» hin zu verändern, respektive die gegebene Ursachenzuschreibung «intern-variabel» zu stabilisieren. Die erste Technik besteht aus Programmierter Unterweisung plus Rollenspiel plus Selbstinstruktion (1), die zweite Technik besteht in der Erarbeitung einer Wandzeitung (2). Während allerdings die Effektivität von Technik (1) bereits im Zusammenhang mit einem verhaltenstherapeutischen Gewichtsreduktions-Programm getestet wurde (siehe H A I S C H & PFLITSCH, 1 9 8 3 ) , liegen bezüglich Technik (2) bislang nur erste Ergebnisse vor. 2.1.1 Programmierte Unterweisung plus Rollenspiel plus Selbstinstruktion Bei dieser Technik zur Herstellung wünschenswerter Schlußfolgerungen über die Ursachen eigenen Übergewichts werden die Gruppensitzungen der Übergewichtigen mit standardisierten Rollenspielen der Kursleiter begonnen. In diesen Rollenspielen zum Eß- und Trinkverhalten werden den Kursteilnehmern nacheinander alle vier möglichen Schlußfolgerungen hinsichtlich eigener Übergewichts-Ursachen vorgeführt: einmal die mangelnde dauerhafte Anstrengung, die vorhandenen gewichtsreduzierenden Maßnahmen zu befolgen, einmal die mangelnde Fähigkeit, einmal die Schwierigkeit der Gewichtsreduküom-Aufgabe und einmal Pech bei bisherigen Gewichtsreduktionen. Im Anschluß sollen die Kursteilnehmer bestimmen, inwieweit eine dieser Schlußfolgerungen auch für sie zutrifft. Je nach ausgewähltem Rollenspiel, d.h. je nach ausgewählter Schlußfolgerung über die Ursachen des eigenen Übergewichts, erhalten die Teilnehmer den speziellen Teil des Mißattributions-Trainings als Programmierte Unterweisung. In diesem Teil wird jeweils von der Schlußfolgerung, so wie sie
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ein Kursteilnehmer für sich erkannt hat, ausgegangen und durch gezielte Gabe von Informationen die wünschenswerte Schlußfolgerung hergestellt. Diese Informationen bestehen in der Schilderung von «Extremsituationen» mit dem Ziel, zunächst eine «intern»-Attribution herzustellen, danach die «variabel»-Attribution. Die drei «Extremsituationen» bestanden in einer sehr hohen Belohnung für Nichtessen, eigener plötzlicher Krankheit und großem Druck von Freunden, Gewicht zu verlieren (vgl. FÖRSTERLING, 1980). Die Situationen sind so gewählt, daß die Teilnehmer mindestens bei einer davon feststellen, daß ihnen hier eine Einschränkung ihres Essens/Trinkens möglich wäre. Die Programmierte Unterweisung macht klar, daß damit offenbar die bisherige Schlußfolgerung bezüglich der Ursachen des eigenen Übergewichts nicht zutreffen kann (zumindest sofern sie nicht bereits «intern-variabel» bzw. «mangelnde Anstrengung» lautete). Es folgen dann Beispielfälle zu Tabellen, die vom Kursteilnehmer auszufüllen sind. Hierbei geht es um Situationen, bei denen es dem Einzelnen leichter oder schwerer fällt, Essen und Trinken einzuschränken. Aufgabe des Kursteilnehmers ist es, für ihn zutreffende Situationen zu benennen, die die eingeschränkte Nahrungsaufnahme erschweren oder erleichtern. Danach wird wieder auf die Bedeutung dieser Situationen verwiesen, das Nichtzutreffen aller Schlußfolgerungen festgestellt, die nicht «intern-variabel» lauten. Kursteilnehmer, die für sich die «intern-variable» Ursache ihres Übergewichts bereits geschlußfolgert hatten, werden in dieser Schlußfolgerung bekräftigt. Der abschließende Teil der Programmierten Unterweisung ist für alle Teilnehmer identisch. Hier wird ausführlich die Bedeutung intern-variabel verursachten Übergewichts für zukünftiges Essen und Trinken besprochen und darauf hingewiesen, daß damit die Möglichkeit zur selbstverantwortlichen Regulierung eigenen Essens und Trinkens vorliegt. Merksätze werden hierfür formuliert, die die Teilnehmer wiederholt sich selbst vorsprechen. Die gesamte Programmierte Unterweisung verbleibt bei den Teilnehmern für die Dauer eines GewichtsreduktionsProgrammes. 2.1.2
Wandzeitung
Mit der «Wandzeitung» werden identische Ziele wie mit der geschilderten Programmierten Un-
280
Haisch & Haisch: P r ü f u n g der attributionstheoretischer M a ß n a h m e n bei Übergewichtigen
terweisung verfolgt, nämlich die einer Teilnahme an Gewichtsreduktions-Programmen vorausgehende Schaffung der Attribution «intern-variable» Gründe eigenen Übergewichts. Die «Wandzeitung» umfaßt zwei Teile. Im ersten Teil werden individuelle Erklärungen des eigenen Übergewichts gesammelt, im zweiten Teil werden diese Bestimmungen individueller Ursachen verändert. In der ersten Kursstunde wird den Teilnehmern erklärt, daß vor Beginn des eigentlichen Gewichtsreduktions-Programmes zunächst erörtert werden soll, warum es ihnen bisher nicht dauerhaft gelungen ist, abzunehmen, welche Ursachen die Teilnehmer selbst für ihre anhaltenden Gewichtsprobleme sehen. Die eingehende Beschäftigung mit diesem Thema habe sich insofern als sinnvoll erwiesen, da sich die vermuteten Übergewichtsursachen auf den Erfolg bzw. Mißerfolg bei einem weiteren Versuch einer Gewichtsreduktion auswirken. Es ist daher die Aufgabe der Kursteilnehmer, in Kleingruppen von 2-3 Personen mögliche Ursachen für Übergewichtigkeit zu sammeln. Gegebenenfalls gibt der Kursleiter Beispiele für Ursachen der Übergewichtigkeit, alle von den Kursteilnehmern genannten Ursachen werden auf der Wandzeitung unter der Überschrift «Mögliche Ursachen von Übergewicht» gesammelt. Alle hier gesammelten Ursachen bleiben während der gesamten Dauer folgender Gewichtsreduktions-Programme auf der Wandzeitung deutlich sichtbar hängen. Anschließend überlegen die Teilnehmer, welche der an der Wandzeitung festgehaltenen möglichen Ursachen sie für ihr eigenes Übergewicht verantwortlich machen. Jede dieser individuellen Ursachenzuschreibungen notieren die Teilnehmer auf ein DIN-A-6 Kärtchen mit dem Vordruck «Für mein Übergewicht mache ich verantwortlich . . . » . Um eine intern-extern Zuordnung der individuellen Ursachen zu erreichen, werden die Kursteilnehmer gebeten, zu überlegen, welche der notierten Gründe ihrer Meinung nach eher in ihrer Person liegen bzw. welche eher von außen an sie herangetragen werden. Die Einordnung der Teilnehmer-Kärtchen an der Wandzeitung erfolgt unter die Überschriften «Ungünstige Bedingungen, die ich selbst mitbringe» (intern) und «Ungünstige Bedingungen, die sich in meiner Umgebung finden» (extern). Im nächsten Schritt geht es darum, die Kärtchen an der Wandzeitung so zu ordnen, daß sie
entweder variable oder stabile Umweltursachen respektive variable oder stabile Personenursachen darstellen. Hierzu beurteilen die Teilnehmer ihre genannten Ursachen danach, ob sie diese nach ihrer Erfahrung ändern können oder nicht (variable oder stabile Personenursachen) respektive ob sich diese Bedingungen in ihrer Umgebung ändern oder eher gleich bleiben (variable oder stabile Umweltursachen). Damit ist der erste Teil der Erstellung der Wandzeitung (erste Kursstunde) beendet. Im zweiten Teil der Erstellung der Wandzeitung geht es nun darum, die Auswirkungen der von den Teilnehmern vorgenommenen Ursachenzuschreibungen auf den geplanten Gewichtsreduktionsversuch zu verdeutlichen. Die Teilnehmer sollen erkennen, daß es zwar Bedingungen gibt, die das Abnehmen erschweren (z.B. andauernder Streß) daß jedoch keine der unter intern-stabil, extern-stabil, extern-variabel eingeordneten Ursachen das bestehende Übergewicht vollständig erklären kann und eine Gewichtsreduktion nicht von unbeeinflußbaren Faktoren sondern von dem Ausmaß der eingesetzten eigenen Anstrengung (intern-variabel) abhängt. Das «Mißattributionstraining» erfolgt in drei Schritten. Im ersten Schritt wird die Bedeutung der von den Teilnehmern in der ersten Kursstunde vorgenommenen Attribuierung ihres Übergewichts diskutiert. Teilnehmer, die überwiegend in (stabilen oder variablen) Bedingungen ihrer Umgebung die Ursachen für ihr Übergewicht sehen, werden zunächst kaum einsehen, daß das Problem nur mithilfe ihrer eigenen Anstrengung zu lösen ist. Ähnlich verhält es sich, wenn die Teilnehmer intern-stabile Gründe für ihr Gewicht verantwortlich machen. Auch hierbei erscheint eine Gewichtsreduktion aus eigener Anstrengung aussichtslos, da sich die vermeintlichen «eigentlichen Ursachen» immer wieder durchsetzen würden. Nur Teilnehmer, die die bestehenden Gewichtsprobleme mit dem eigenen wechselnden Verhalten (intern-variabel) in Verbindung bringen, haben erkannt, daß sie grundsätzlich selbst in der Lage sind, das Problem zu lösen, daß es ihnen bisher allerdings an der konstanten und sinnvoll eingesetzten Anstrengung mangelte. Der zweite Teil des Mißattributionstrainings vermittelt den Teilnehmern eine Reihe von Fakten über die Übergewichtsursachen. Ergänzend zu der zuvor geführten allgemeinen Diskussion der Be-
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deutung entsprechender Ursachenzuschreibungen geht der Kursleiter in diesem Teil speziell auf den Einfluß der angegebenen Ursachen auf Übergewicht ein. Fragen nach dem «tatsächlichen» Einfluß der Vererbung, des Stoffwechsels, von Streßsituationen, Klima usw. sollen hier anhand von empirischen Ergebnissen (z.B. PUDEL, 1982) beantwortet werden, der relative Einfluß dieser Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Übergewichts soll m.a.W. hier verdeutlicht werden. Im dritten Teil des Mißattributionstrainings geht es schließlich um die von den Teilnehmern bisher realisierten bzw. die vorstellbaren Versuche zur Beeinflussung eigenen Übergewichts. Anhand der Betrachtung des eigenen Eß- und Trinkverhaltens soll den Teilnehmern klar werden, daß auch ihr Gewichtsproblem intern-variabel bedingt und somit durch eigene Anstrengung änderbar ist. Hierzu überlegen die Teilnehmer zunächst Situationen bzw. Zeitpunkte, zu denen sie weniger essen/trinken und solche, zu denen sie besonders viel essen/ trinken (Herstellung einer variabel-Attribution). Um darüberhinaus zu erreichen, daß die Teilnehmer die Gewichtsreduktion auch von internen Faktoren abhängig sehen, werden verschiedene Extremsituationen geschildert (siehe Programmierte Unterweisung), zu denen die Übergewichtigen erfahrungsgemäß trotz aller Schwierigkeiten angeben, sich anstrengen zu wollen, um ihr Gewicht zu reduzieren. Nach der Zustimmung zu einer oder zu mehreren Situationen weist der Kursleiter darauf hin, daß damit das eigene Übergewicht offenbar internal bedingt und offenbar variabel sei. Dementsprechend hängen die Kursteilnehmer ihre individuellen Übergewichts Ursachen (Kärtchen) auf der Wandzeitung um, so daß sich ihre persönlichen Ursachen unter den Überschriften «Für mein Übergewicht mache ich Bedingungen verantwortlich, die ich selbst mitbringe und die ich nach meiner Erfahrung ändern kann» befinden. Dort bleiben die individuellen Gründe während der gesamten Dauer des folgenden Gewichtsreduktions-Programmes hängen. Für die Gruppe mit einer ursprünglichen «intern-variabel» Attribution wird in der Kursstunde deutlich, daß eventuell auftretende Schwierigkeiten bei der Gewichtsreduktion in der Vergangenheit nur aufgrund mangelnder eigener Anstrengung nicht überwunden werden konn-
ten, daß aber zukünftig eventuell auftretende Schwierigkeiten mithilfe genügend großer eigener Anstrengung bewältigt werden können. Die Übergewichtsursachen dieser Teilnehmer werden nicht umgehängt, ihre Ursachenangaben bleiben ebenfalls während des gesamten folgenden Gewichtsreduktions-Programmes auf der Wandzeitung hängen. Für alle Kursteilnehmer schließt der zweite Teil der Erstellung der Wandzeitung mit der Erläuterung, daß das folgende Gewichtsreduktions-Programm zeigt, wie die erfolgbestimmende Anstrengung gezielt einzusetzen ist. Schließlich weist der Kursleiter alle Teilnehmer darauf hin, daß mit der nunmehr gefundenen Ursache des Übergewichts die Chance besteht, aktiv und selbstverantwortlich das eigene Gewicht zu reduzieren. Die Sammlung der Übergewichts-Ursachen auf der Wandzeitung soll den Teilnehmern gleichzeitig eine Vielfalt von Problemsituationen und Schwierigkeiten (für die Dauer des Gewichtsreduktions-Programmes) zeigen und verdeutlichen, wann sie sich mithilfe der im folgenden Programm zu erlernenden Techniken besonders anstrengen müssen. Die Ursachen-Sammlung auf der Wandzeitung macht aber auch dauerhaft klar, wo die sonst häufigen «entschuldigenden Attributionen» (Knochenbau, Drüsen, Streß etc.) «richtigerweise» einzuordnen sind, nämlich «intern-variabel».
3. Das verhaltenstherapeutische Gewichtsreduktions-Programm Ein verhaltenstherapeutisches Gewichtsreduktions-Programm wurde für die Gewichtsreduktion ausgewählt, weil entsprechende Programme insgesamt vergleichsweise erfolgreich zu sein scheinen (z.B. PITTA et al., 1980; ABRAMS & FOLLICK, 1983; GRAHAM et al., 1983; JEFFERY et al.,
1983; FERSTL et al., 1978). Das Gewichtsreduk-
tions-Programm «Abnehmen - aber mit Vernunft» wurde von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit entwickelt (1981, revidierte Fassung 1983) und freundlicherweise für diese Untersuchung zur Verfügung gestellt. Die Kursleiter dieser Untersuchung (zwei Diplompsychologen) wurden ebenfalls von der Bundeszentrale für ge-
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Haisch & Haisch: Prüfung der attributionstheoretischer M a ß n a h m e n bei Übergewichtigen
sundheitliche Aufklärung in die Anwendung des Programmes eingeführt und in der Durchführung geschult. Der Kurs dauert insgesamt 23 Wochen. Die Kursteilnehmer treffen sich wöchentlich zu festen Zeiten für ca. zwei Stunden. In den ersten acht Wochen findet jedes Treffen mit dem Kursleiter statt, in den darauffolgenden Wochen ist der Kursleiter nur noch vierzehntäglich bei den Gruppentreffen anwesend. Zwischen dem 12. und dem 13. (letzten) Gruppentreffen liegt eine siebenwöchige Pause. In den ersten acht Programmwochen lernen die Teilnehmer ihre eigenen Eßgewohnheiten kennen und erfahren Regeln, wie sie diese schrittweise verändern können. Die folgenden Programmwochen dienen der Stabilisierung der veränderten Eßgewohnheiten. Im Einzelnen werden in den ersten beiden Programmwochen die eigenen Eßgewohnheiten durch die Teilnehmer beobachtet und registriert. In der dritten Programmwoche werden die Beobachtungen individuell ausgewertet und Veränderungen der Eßgewohnehiten für jeden Teilnehmer diskutiert. Die Nahrungsaufnahme für jeden Tag der folgenden Programmwoche wird für die einzelnen Kursteilnehmer festgelegt und Hilfe zur Einhaltung der Grenzen angeboten. Mit der vierten Woche erhalten die Teilnehmer ausführliche Verhaltensregeln für ihr Essen und Trinken. In der fünften Programmwoche üben die Teilnehmer die Durchsetzung eigener Interessen anhand von Rollenspielen. In der sechsten Woche wird für jeden Teilnehmer ein Belohnungsplan für eingehaltene Verhaltensregeln erstellt. In der siebten Woche ist ein sogenannter «Familienabend» zur Unterstützung des Teilnehmers durch die Familienangehörigen vorgesehen. In der achten Programmwoche werden Selbsthilfetreffen der Teilnehmer organisiert und der Wechsel zur vierzehntäglichen Kursleiter-Teilnahme an den Gruppentreffen eingeführt. In den verbleibenden fünf Kursstunden (mit Kursleiter) werden die Stundeninhalte zunehmend weniger durch das Programm vorgegeben, der Gruppe soll mehr und mehr Gelegenheit gegeben werden, Eigeninitiativen zu ergreifen bzw. Themenvorschläge für die gemeinsamen Treffen zu machen. In dieser Zeit geht es neben dem Austausch joulearmer Rezepte, der Diskussion und Vorbereitung auf kritische Eßsituationen (Feiertage, Feste) und der Anregung von mehr körperlicher Bewegung auch darum, die Beobachtungen
der ersten zwei Programmwochen mit denen der späteren Programmwochen zu vergleichen, die Motivation zur Gewichtsreduktion erneut zu überdenken sowie einzelne im Verlauf des Programmes aufgebaute Hilfen schrittweise auszublenden, um eine Stabilisierung des gelernten Verhaltens unabhängig vom Kursprogramm zu erreichen.
4. Empirische Effektivitätsprüfung 4.1 Programmierte Unterweisung plus Rollenspiel plus Selbstinstruktion Aufgrund von Aufrufen in der Lokalpresse konnten 48 weibliche und 8 männliche Probanden (Durchschnittsalter 43,66 Jahre) für die Untersuchung gewonnen werden ( H A I S C H & P F L I T S C H , 1983). Die Probanden hatten ein durchschnittliches Übergewicht von 28,50% (s = 20,94, Broca Index) und gaben an, im Durchschnitt seit 15,13 Jahren übergewichtig zu sein. Die schriftlichen Meldungen der interessierten Übergewichtigen wurden zufällig unter den vier experimentellen Gruppen aufgeteilt, jede Gruppe umfaßte 14 Probanden. An einem Wochentag fanden die Kursstunden für die Gruppen «Gewichtsreduktions-Programm» und «Programmierte Unterweisung» statt, am zweiten Wochentag wurden die Kursstunden für die Gruppen «Gewichtsreduktions-Programm plus Programmierte Unterweisung» und «Wartegruppe» (die dem Gewichtsreduktions-Programm - ebenso wie die Gruppe «Programmierte Unterweisung» - erst nach Abschluß der ersten acht Untersuchungswochen unterzogen wurde) abgehalten. Zur Durchführung der Kurse standen zwei geschulte Kursleiter (ein männlicher, ein weiblicher) zur Verfügung, die gemeinsam alle Kursstunden durchführten. Für alle experimentellen Gruppen fanden zwei Einführungsstunden statt. In diesen Stunden wurde das Gewichtsreduktions-Programm, plus die Programmierte Unterweisung, oder die Programmierte Unterweisung allein erläutert, in der «Wartegruppe» wurden die Probanden gewogen. In den darauffolgenden acht Wochen bestand die Aufgabe für die «Wartegruppe» wie für die Gruppe «Programmierte Unterweisung» nur im wöchentlichen Wiegen, die Gruppen «Gewichtsreduk-
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Zeitschrift für Sozialpsychologie 1988, 275-286
Tab. 1: Durchschnittliche Gewichte (in kg) in der ersten (ti) und nach der achten Kursstunde (t2> sowie Abbrecherquoten nach acht Kursstunden für die vier Gruppen der Untersuchung. AMV Gewichtsdurchschnitt (kg) Abbrecherquote (%)
t|
t2
86,25
84,21 57,10
tions-Programm» und «GewichtsreduktionsProgramm plus Programmierte Unterweisung» wurden wöchentlich gewogen und bearbeiteten das Programm. Nach acht Kursstunden, d.h. nach dem Erlernen der neuen Verhaltensregeln zum Essen und Trinken, wurden die Gewichtsveränderungen sowie die Abbrecherquote in den einzelnen Gruppen zum ersten Mal festgestellt. Tabelle 1 gibt die entsprechenden Werte für das Gewichtsreduktions-Programm «AMV», AMV plus Programmierte Unterweisung «LC», «LC» alleine und die Wartegruppe an. Tabelle 1 zeigt zunächst, daß sich die durchschnittlichen Ausgangsgewichte der vier experimentellen Gruppen kaum unterscheiden (F max Test insignifikant), daß die Zufallszuweisung zu den Gruppen also insofern erfolgreich war. Der größte Gewichtsverlust nach acht Wochen scheint in der Gruppe A M V + L C eingetreten zu sein, also bei der Gruppe, die Programmierte Unterweisung sowie Gewichtsreduktions-Programm erhielt. Darüberhinaus scheint bei dieser Gruppe auch eine recht geringe Abbrecherquote nach acht Wochen Kursprogramm vorzuliegen. Zur statistischen Überprüfung der Unterschiede in den Gewichtsverlusten wurden nicht-orthogonale Kontraste (Dunnett-Test; EIMER, 1978) berechnet. Dazu wurden die prozentualen Anteile der Gewichtsveränderungen bezogen auf das Ausgangsgewicht für jeden Probanden bestimmt. Es ergibt sich, daß sich nur die prozentualen Gewichtsveränderungen in der Gruppe Gewichtsreduktions-Programm plus Programmierte Unterweisung signifikant von denen der Wartegruppe (Kontrollgruppe) unterscheiden (F= 11,32; d f = l , 5 2 ; p