Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post-DDR-Literatur: Literarische Figurationen von Zeitwahrnehmung im Werk von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck [1 ed.] 9783737013451, 9783847113454


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German Pages [295] Year 2021

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Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post-DDR-Literatur: Literarische Figurationen von Zeitwahrnehmung im Werk von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck [1 ed.]
 9783737013451, 9783847113454

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 28

Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte

Carola Hähnel-Mesnard

Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post-DDR-Literatur Literarische Figurationen von Zeitwahrnehmung im Werk von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von Univ. Lille, ULR 1061 – ALITHILA – Analyses Littéraires et Histoire de la Langue, F-5900 Lille, France und der Université de Lille. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Philippe Mesnard Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-1345-1

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 1989 als Zeitenbruch . . . . . . . . . . . . . . 2. Literarische Wahrnehmung des Zeitenbruchs 3. Ereignis und Repräsentation . . . . . . . . . 4. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Korpus und Herangehensweise . . . . . . . . 6. Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Im »Schichtenwerk der Zeit«. Vergegenwärtigung von Vergangenem und Zeit des Übergangs in Lutz Seilers Prosa . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Wenn Geschichte verschwindet. Zur Dynamik von Gegenwartserfahrung und Vergangenheit in Lutz Seilers Prosaband Die Zeitwaage (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Die Stillstellung der Gegenwart als Zugang zur Vergangenheit: Liminalität, Detemporalisierung und Enthistorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liminalität und Zeitlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Objekte mit »Portalfunktion« und Zeitspeicher . . . . . . . Motive des Archaischen und Mythischen . . . . . . . . . . . Geschichte als Palimpsest und Funktion des Mythischen . . Plädoyer für die Langsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Walter Benjamins Jetztzeit und die Unterbrechung linearer zeitlicher Ordnung in der Erzählung »Gavroche« . . . . . . »Jetzt der Erkennbarkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Metalepse und Durchbrechung linearer Zeitstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingedenken und Rettung von Geschichte . . . . . . . . . . 1.1.3. »Die Zeitwaage«: Rettung eines (auch literarischen) Symbols . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Begegnung mit dem Arbeiter und beginnender Schreibprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das »Geheimherz der Uhr«: Weitergabe von Erfahrung und Lebenszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hommage an Wolfgang Hilbig . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4. Fazit: Vergangenheit als Stillstellung und Rückversicherung 1.2. Inseltopos und Eigenzeiten im Roman Kruso (2014) . . . . . . . . 1.2.1. Funktion der Insel, Zeitlosigkeit und Liminalität . . . . . . 1.2.2. Mythisch-archaische Verortung in der Vorzeit . . . . . . . . 1.2.3. Naturzeit, dichterische Berufung und poetische Zeitlosigkeit 1.2.4. Heterochronie: die Insel als Idylle, Utopie oder Heterotopie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idylle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heterotopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5. Der Einbruch der historischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . 1.2.6. Fazit: Die Insel als Übergang und Zwischenzeit . . . . . . . 1.3. Zeit des Umbruchs und des Übergangs in Stern 111 (2020) . . . . 1.3.1. Zeitverwirrung: Orientierungslosigkeit und genealogische Verkehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Zeit der Hoffnung und der Utopie . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Poetische Eigenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4. Fazit: Gegenwart als zukünftige Vergangenheit? . . . . . . . 2. Vom »Bruch im Leben«. Transformationserfahrung im Werk von Julia Schoch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Eigenzeit: Individuelle und kollektive Zeitsetzungen zwischen DDR, Mauerfall und ›Nachwende‹ in Der Körper des Salamanders (2001) und Verabredungen mit Mattok (2004) . . . . . . . . . . . 2.1.1. Abschied von der Zukunft: Zeiterfahrung in der DDR . . . . Imagination und poetische Eigenzeit . . . . . . . . . . . . . Motive des Archaischen und Heterochronie . . . . . . . . . 2.1.2. Wahrnehmungen des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bilder gesellschaftlichen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . Der Umbruch von 1989: Kontinuität oder Zäsur? . . . . . . 2.1.3. Die Gegenwart als Endlosschleife: Verabredungen mit Mattok (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.2. Prägungen: »Erstreckte« Gegenwart, Faszination des Vergangenen und nicht gelebte Zukunft in Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Der »rasende Stillstand« der Gegenwart . . . . . . . . . . . 2.2.2. Flucht in die Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Zukunftsvisionen: Versteppung und Naturzustand . . . . . 2.2.4. Zeitgestaltung, Erzählhaltung und Erinnerung . . . . . . . . 2.2.5. Zugang zur Vergangenheit als Imagination . . . . . . . . . . 2.3. Das Glücksspiel als Metapher der Gegenwart, Geschichte als Episode: Selbstporträt mit Bonaparte (2012) . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Zeitlosigkeit des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Vergangenheit als »Kuriosität« . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Episodenhafte Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom »Umkippen der Zeit«. Formen und Funktionen zeitlichen Wandels bei Jenny Erpenbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. ›Wende‹ und Zeit der Verwandlung: Geschichte vom alten Kind (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Erste Interpretationen, Zeitthematik und Metamorphose als Zugang zum Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Verwandlung: die Wieder(er)findung der Kindheit . . . . . Körperlicher Wandel und Regression . . . . . . . . . . . . . Auslöschung und Neubeginn: Kindheit als Ideal . . . . . . . 3.1.3. Gegenwart und Zeitlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwurf einer individuellen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen der Eigenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4. Erzählte Zeit und Erzählzeit: Linearität, Gegenläufigkeit und Atemporalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählte Zeit I und Erzählzeit: Linearität und Progression . Erzählte Zeit II: Gegenläufigkeit der Figurenperspektive . . Atemporalität: Qualität des Präsens . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5. Die Verwandlung als Text: Zeit, Intertext, Genre . . . . . . Das Präsens als »Zwischenzeit« der Verwandlung . . . . . . Intertextuelle Anverwandlungen . . . . . . . . . . . . . . . Hybridität des Genres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.6. Vergangenheit als Abjektes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.7. Fazit: Zeitlicher Wandel und Figur der Verwandlung . . . .

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Inhalt

3.2. Verstrickung von Lebens- und Geschichtszeit: Zeitenwechsel, Zufall und mögliche Geschichte in Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Übergangszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Genealogische Brüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Geschichtszeit und Lebenszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Einbruch von Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensgeschichte und Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4. Naturzeit und mythische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5. Zeit der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollektives Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scheitern eines intergenerationellen Gedächtnisses . . . . . Schreiben als Fortsetzung und Korrektur des Familiengedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6. Fazit: Abschied von der Utopie . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schluss: Zeitwahrnehmung im ostdeutschen Erfahrungshorizont . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Primärliteratur Korpus . . . . . . . . 1.2. Essays und Selbstaussagen (Korpus) 1.3. Weitere Primärliteratur . . . . . . . 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel und damit das Ende des Staates DDR und seiner politischen, ökonomischen und soziokulturellen Besonderheiten eingeläutet wurde, änderte sich auch die Wahrnehmung der Zeit, die bisher den Erfahrungshorizont der Ostdeutschen gebildet hatte. So notiert Durs Grünbein in seinem Zyklus »Sieben Telegramme« unter dem Datum »12/11/89«: »Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist offen jetzt. / Wehleid des Wartens, Langeweile in Hegels Schmalland / Vorbei wie das stählerne Schweigen… […].« Und: »Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede geht anders.«1 In Grünbeins Gedicht steht einer durch »Warten« und »Langeweile« geprägten Zeitwahrnehmung in der DDR ein neues, mit dem Mauerfall einsetzendes Zeitgefühl gegenüber: die offensichtlich stillstehenden Uhren kommen langsam, doch auch mit unterschiedlichem Takt wieder in Gang, nach einer kollektiven Zeit des Stillstands scheint Zeit nunmehr wieder individuell und je anders erfahrbar zu werden. Auch Christa Wolf nimmt die Veränderungen im »Wendejahr« als Zeitenwende wahr, durch die die bekannten Kategorien und Ordnungen plötzlich durcheinandergeraten: »Als sei ihm [dem Wendejahr] eine Achse eingezogen, um die herum die Zeit sich ›wendet‹. Nun liegt unten, was vorher ›oben‹, also sichtbar war, und das – uns – bisher Unsichtbare liegt obenauf.«2 Thomas Rosenlöcher schließlich unterstreicht den Beschleunigungsschub, dem die Gesellschaft plötzlich unterlag: »Die einstmals stillstehende Zeit ist in einen Galopp übergegangen, als wollte sie die verlorenen 40 Jahre wieder einholen.«3 Diese drei Zeugnisse aus der unmittelbaren Zeit des Umbruchs von 1989 bestätigen einen Unterschied in der Zeitwahrnehmung, den Heiner Müller bereits Anfang der 1980er Jahre registriert hatte: Wenn ich vom Übergang Friedrichstraße zum Bahnhof Zoo in Westberlin fahre, fühle ich einen großen Unterschied, einen Unterschied von Zivilisationen, von Epochen, von 1 Grünbein 1991, S. 61. 2 Wolf 2005, S. 459 (Eintrag vom 27. 9. 1990). 3 Rosenlöcher 1990, S. 44.

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Einleitung

Zeit. Es gibt da verschiedene Zeitebenen, verschiedene Zeit-Räume. Man fährt da wirklich durch eine Zeitmauer.4

An anderer Stelle charakterisiert Müller diese Differenz als ein Aufeinandertreffen »unterschiedliche[r] Zeitzonen«: »Im Westen herrscht das Prinzip der Beschleunigung, im Osten das der Verlangsamung, des Aufhaltens von Prozessen.«5 Zeit, so ist zunächst festzuhalten, ist eine »grundlegende Dimension […], in der sich der Mensch sowohl als biologisch-physikalisches wie auch als geistiges Wesen verortet«.6 Einerseits ist die physikalische Zeit objektiv messbar, andererseits kann Zeit individuell unterschiedlich wahrgenommen werden.7 Als 1989 mit der Berliner Mauer auch eine »Zeitmauer« zusammenbrach, zeigten die Uhren in Ost und West weiterhin dieselbe Zeit an, doch veränderte sich deren Wahrnehmung für die Ostdeutschen, die plötzlich mit einer anderen Zeitordnung konfrontiert wurden. Wie dieser Zeitenwechsel und Zeitenbruch in der Literatur reflektiert und ästhetisch verarbeitet wird, möchte die vorliegende Arbeit anhand des Werks von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck erörtern.

1.

1989 als Zeitenbruch

Der lebensweltlich erfahrene Zeitenbruch wurde auf unterschiedliche Weise metaphorisch versinnbildlicht und zeitsoziologisch erklärt. Lothar Baier zufolge hatte die Mauer »nicht nur eine Bevölkerung von der Außenwelt abgeschnitten, sondern auch eine Zone schwacher, im Überfluß vorhandener Zeit geschützt.«8 Der »Einbruch der westlichen Zeit« habe »die Lebenszeit der DDR-Deutschen mit einem neuen Maß« versehen.9 Baier beschreibt den Zeitenwechsel mit einem plastischen, physikalischen Bild als »Druckausgleich«10: Mit dem Verschwinden der räumlichen Grenzen zwischen Ost und West ist auch die Abschottung gefallen, die zwei verschiedene Zeitsphären, eine von den Kapitalverwertungsprozessen und eine von ideologischen Prämissen und territorialer Abschottung bestimmte, voneinander trennte. Die expandierende Zeit des Westens strömt mit un4 Müller 10, 2008, S. 175. 5 Müller 11, 2008, S. 414. Zur Frage der Zeitwahrnehmung in Heiner Müllers in der DDR entstandenen Stücken und zur Inszenierung von »Hamlet/Maschine« im März 1990 am Deutschen Theater als Moment der Entschleunigung und als »Zeitspeicher« vgl. Baillet 2018. 6 Sieroka 2018, S. 10. 7 Ebd., S. 10f. 8 Baier 1990, S. 103. 9 Ebd., S. 107. 10 Ebd., S. 103.

1989 als Zeitenbruch

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hörbarem Zischen durch die plötzlich geöffneten Ventile in die bisher geschlossenen Räume des Ostens wie in eine undicht gewordene Unterdruckkammer.11

Baier macht bereits deutlich, dass Zeitvorstellungen von den jeweiligen Gesellschaftsformationen abhängen und sich Zeitempfindung und Zeitverständnis beim Übergang in ein neues gesellschaftliches System ändern. Zeit funktioniert als »kognitives Schema«, als »präformierendes Wahrnehmungsmuster«, und in diesem Sinne können »Konkurrenzen zwischen verschiedenen kollektiven Zeitkonstruktionen sowie zwischen kollektiver Zeit und individuellem Zeitbewusstsein auftreten.«12 Zeit ist »kulturell konstruierte Zeit«, so Aleida Assmann, durch »Zeitkonstruktionen werden Sinnhorizonte entworfen, in die das einzelne menschliche Leben immer schon eingebettet ist.«13 Welche zeitlichen Sinnhorizonte trafen nun 1989 aufeinander? Heiner Müller hatte von den Zeitzonen der Beschleunigung und der Verlangsamung gesprochen, wobei das östliche Prinzip der Verlangsamung eher das Produkt gesellschaftlicher Realitäten als des staatlich verkündeten Zeitmodells war. Denn die Zeitkonstruktion der DDR-Gesellschaft vereint eine »östlich sozialistische Variante« des Modernisierungsparadigmas14 und ein ideologisch besetztes Fortschrittskonzept. Einerseits herrscht das Zeitregime der Moderne vor, insofern in der sozialistischen Gesellschaft »das physikalische Zeit-Konzept des linear irreversiblen ›Zeitpfeils‹ zur verbindlichen Grundlage«15 der Zeitordnung wurde. Auch die propagierte Dynamik von »Wandel und Veränderung« sowie die Abgrenzung vom »Alten«16 – hier in der ideologischen Variante des ›neuen Menschen‹ – gehören zu den Grundpositionen der Moderne. Während jedoch, wie Hartmut Rosa unterstreicht, in der »funktional differenzierten Gesellschaft der Hochmoderne […] ein lineares Zeitbewusstsein mit offener Zukunft vor[herrscht]« und die historische Entwicklung nicht auf ein bestimmtes Ziel zuläuft,17 erscheint die Zukunftsorientierung im Falle des sozialistischen (marxistischen) Zeitregimes und des ihm zugrunde liegenden »Geschichtstelos als feststehend bzw. geschlossen«.18 Das ideologisch geprägte Fortschrittskonzept der DDR sah den Sozialismus als »heilsgeschichtliche[n] Hoffnungsort«, er vertrat die »Hoffnung auf den Besitz von Zukunft«.19 Diese teleologische Ausrichtung 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Ebd., S. 25. Wodianka 2005, S. 179f. Assmann 1999, S. 1, 4. Assmann 2013, S. 82. Die Modernisierungstheorie sei »die gemeinsame Grundlage« gewesen, »die die konkurrierenden Systeme unterschwellig miteinander verband.« Ebd. Ebd., S. 24. Ebd., S. 23f. Rosa 2005, S. 27. Hervorhebungen im Original. Ebd. Sabrow 2009, S. 188.

12

Einleitung

auf eine vermeintlich bessere Zukunft prägte Generationen, doch die konkrete Umsetzung dieser Fortschrittsideale im Realsozialismus erwies sich als unzulänglich und führte dazu, dass sich statt Bewegung und ständigem Vorwärtsschreiten nach und nach ein Gefühl der »zeitlichen Anarchie«20 und der Stagnation ausbreitete. Begriffe wie Geschichte, Entwicklung oder Fortschritt, von Reinhart Koselleck aufgrund ihres semantischen Potentials der Bewegung und Beschleunigung als »Bewegungsbegriffe«21 bezeichnet, verloren in der DDR ihre Zugkraft, die ideologischen Prämissen und die subjektive Wahrnehmung von Zeit fielen auseinander. Sowohl Durs Grünbein als auch Thomas Rosenlöcher verweisen in den eingangs zitierten Beispielen auf die individuelle Wahrnehmung eines Stillstands in einer Phase gesellschaftlicher Stagnation. Die neue Zeitordnung, mit der die Ostdeutschen nach dem Mauerfall konfrontiert wurden, war vor allem durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Beschleunigung und fehlende Zukunftsorientierung. Zeitsoziologen wie Hartmut Rosa zufolge zeichnete sich die Zeit um 1989 durch »das Zusammentreffen dreier historischer Entwicklungen« aus: die politische Revolution im Ostblock, die durch die Etablierung des Internets ermöglichte digitale und mobile Revolution sowie die ökonomische Revolution des Turbo-Kapitalismus.22 Dadurch vollzog sich definitiv der Übergang von der Moderne in die Spätmoderne, wobei die grundlegende Zeitwahrnehmung nunmehr die eines Beschleunigungsschubs in allen gesellschaftlichen Bereichen war. Gleichzeitig wird eine Tendenz der »gesellschaftlichen Erstarrung«23 wahrgenommen, die sich aus fehlenden Zukunftsoptionen ergibt. Bereits 1989 hatte die Soziologin Helga Nowotny dargelegt, inwiefern sich in den westlichen Gesellschaften der offene Zukunftshorizont, der für Fortschritt und Verbesserung der Lebensverhältnisse stand, auflöste bzw. »flach und unbeweglich« blieb.24 »Die Erwartungen an die Zukunft sind bescheiden geworden«,25 schreibt auch Aleida Assmann, die Zukunft sei »von einem Gegenstand der Erwartung und Hoffnung zu einem Gegenstand der Sorge«26 geworden. Assmann unterstreicht zudem, dass das zukunftsorientierte Zeitregime der Moderne von einer Zeitordnung abgelöst wird, die zunehmend die Vergangenheit fokussiert, welcher in der Gegenwart ein immer größerer Platz

20 Kott 2001, S. 296. Kott hat in ihrer Untersuchung über ostdeutsche Betriebe auf den Gegensatz zwischen der genormten und regulierenden Zeitlichkeit des Plans und der von den Industriearbeitern tatsächlich empfundenen verlorenen Zeit des Wartens aufmerksam gemacht (ebd., S. 295–318). 21 Koselleck 1989, insbes. 339–348. 22 Rosa 2003, S. 335f. 23 Ebd., S. 41. 24 Nowotny 1989, S. 51. 25 Assmann 2013, S. 12. 26 Ebd., S. 13.

1989 als Zeitenbruch

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eingeräumt wird.27 Diese Feststellung hatte bereits Hans Ulrich Gumbrecht getroffen, demzufolge »Vergangenheiten unsere Gegenwart [überschwemmen], wobei die Perfektion elektronischer Gedächtnisleistungen eine zentrale Rolle spielt.«28 Die hier kurz skizzierten Entwicklungen betrafen sowohl die westlichen als auch die sich im Umbruch befindenden östlichen Gesellschaften, doch wurde die besondere Zeiterfahrung der Spätmoderne im Osten durch den Zusammenbruch des alten und den Übergang in ein neues Gesellschaftssystem noch einmal potenziert wahrgenommen. In diesem Sinne erinnert Rosa an einen Kommentar aus dem Film Good Bye, Lenin! (2003), in dem die Wendezeit mit einem »Teilchenbeschleuniger« verglichen wird, und spricht von einer »schockhafte[n] Dynamisierung vormals statischer ›realsozialistischer‹ Zeitstrukturen«.29 Die Gründe für diesen »Zusammenprall der Zeitkulturen«30 hat Wilhelm Hofmann in den spezifischen Zeitfaktoren ausgemacht, die die ostdeutschen Lebenswelten kennzeichneten und die dazu führten, dass das Lebenstempo tatsächlich als langsamer empfunden wurde als in westlichen Gesellschaften und Zeit eine reichlich vorhandene Ressource war.31 Eine Umfrage zum Zeitempfinden aus den Jahren 1995 und 2002 hat dementsprechend bestätigt, dass »in Ostdeutschland mehr Menschen die subjektive Einschätzung vertraten, die Zeit rase, als in Westdeutschland«,32 wobei jedoch der Unterschied im Laufe der Jahre geringer geworden ist. Dies verweist darauf, dass vor allem in der Zeit nach dem gesellschaftlichen Umbruch »die Diskrepanz zwischen den Anforderungen aus der Umwelt und den eigenen Möglichkeiten offensichtlich am größten war« und in dieser Phase das »Lebenstempo in Ostdeutschland rasant zugenommen« habe.33 Der von den Ostdeutschen 1989 erfahrene Zeitenbruch ließe sich so zusammenfassen: auf den gesellschaftlichen Stillstand folgt ein doppelter Beschleunigungsschub, da der Eintritt des Ostens in die dynamischere Zeitkultur des Westens noch einmal von den sich zu diesem Zeitpunkt global akzentuierenden Beschleunigungsphänomenen überlagert wird, die Hartmut Rosa für die Spätmoderne analysiert hat. Hinzu kommt, dass die Beschleunigung des Lebens27 Ebd. Assmann sieht diese Entwicklung nicht als unbedingt negativ an, sondern leitet daraus auch die Bedeutung der von ihr vertretenen Gedächtnisforschung ab. 28 Gumbrecht 2010, S. 16. 29 Rosa 2004, S. 12. 30 Hofmann 2004. 31 Zu diesen Faktoren gehören u. a. eine hohe Strukturiertheit der Zukunft, um die man sich nicht sorgen musste, was Zeitressourcen für die Gegenwart freigesetzt habe, eine stärkere soziale Synchronisation mit regelmäßigen Tagesabläufen, eine Kultur des Wartens sowie die zeitsparende Einschränkung von Auswahlmöglichkeiten und Handlungsoptionen. Ebd., S. 63–67. 32 Ebd., S. 68. 33 Ebd., S. 69.

14

Einleitung

tempos nicht in eine offene, mitzugestaltende und individuell auszuschöpfende Zukunft führt, sondern diese Zukunft als zunehmend blockiert erscheint. Diese Entwicklung geht mit einer gesellschaftlichen Aufwertung der Vergangenheit einher, wobei jedoch gerade die spezifisch ostdeutsche Geschichte durch den Systemwechsel weitgehend negativ besetzt ist und grundlegend in Frage gestellt wird, sodass auch die eigene Vergangenheit keine Anhaltspunkte mehr bietet. Über die beschriebene Beschleunigungserfahrung hinaus erscheint das »In-derZeit-Sein«34 der Ostdeutschen nach 1989 als problematisch, da sich die drei wesentlichen Zeitkoordinaten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – nunmehr als höchst instabil erweisen.

2.

Literarische Wahrnehmung des Zeitenbruchs

Dass sich die Literatur des lebensweltlich erfahrenen Zeitenbruchs von 1989 sehr schnell angenommen hat, haben die eingangs erwähnten Beispiele bereits angedeutet. Auf ganz unterschiedliche Weise haben Autoren der »Wende«- und »Nachwendeliteratur«35 die Veränderungen der Zeitverhältnisse reflektiert und literarisch dargestellt, und damit auch »narrative Entwürf[e]« geschaffen, in denen »Alltagszeit, biographische Zeit und historische Zeit zueinander in Beziehung gesetzt und wechselseitig kritisiert und gerechtfertigt werden.«36 Dies soll hier nur an einigen Beispielen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit skizziert werden.

34 Rosa zufolge wird »die Art und Weise unseres ›In-der-Zeit-Seins‹« von der »Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Zeitperspektive)« und »zeitlichen Muster[n] unseres Handelns« bestimmt. Rosa 2005, S. 34. 35 Lüdeker und Orth (2010, S. 7f.) schlagen eine Unterscheidung zwischen »Wende-Narrationen« und »Nach-Wende-Narrationen« vor, wobei erstere primär die historischen Ereignisse des Mauerfalls und der Wiedervereinigung fokussieren und letztere die Zeit danach sowie ihre kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen. In weniger thematischer als chronologischer Perspektive versteht Arne Born unter Wendeliteratur die Literatur der 1990er Jahre, die »Augenzeugin, Zeitgenossin, Teilhaberin, Akteurin« war, und unter Nachwendeliteratur nach 2000 verfasste Texte, die im »Retrospektionsmodus« Wendeereignisse »im Rückblick und in der Erinnerung« darstellen (Born 2019, S. 26). Diese Unterscheidung von »Mitsicht« und »Übersicht/Rückblick« für die Literatur der 2000er Jahre mag einer Tendenz entsprechen, sie ist aber nicht immer schlüssig. In dieser Arbeit wird der Begriff der Post-DDRLiteratur benutzt (s. unten S. 22f.). Die in diesem Kontext entstandene Begriffsvielfalt diskutiert Kersten 2015. 36 Rosa 2005, S. 35. Rosa unterstreicht die Notwendigkeit, auf individueller und kultureller Ebene zwischen systeminhärenten und individuellen Zeitperspektiven zu vermitteln, insofern die sozialen Akteure ständig »drei unterschiedliche Zeitperspektiven und -horizonte« (Alltagszeit, Lebenszeit und Zeit der Epoche) in Beziehung setzen und reflektieren müssen (ebd., S. 30f.).

Literarische Wahrnehmung des Zeitenbruchs

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Thomas Rosenlöcher hat sehr früh das Motiv des Wanderns und Reisens benutzt, um den Übergang von einer langsamen oder gar stillstehenden in eine beschleunigte Zeit darzustellen: dem Wanderer begegnen immer wieder schnelle Automobile,37 von ihm »Chromschiffe« genannt, eine billig erstandene analoge Ruhla-Uhr repräsentiert die alte Zeit, »von vornherein überholt von den zeigerlosen […] Leuchtschriftuhren der digitalen, westlichen Welt […]«.38 Auch Kurt Drawert nimmt das Reisemotiv Ende der 1990er Jahre noch einmal auf, um sich auf eine Art Zeitreise in die Vergangenheit zu begeben. Während einer Fahrt entlang der Elbe stellt er fest, dass die »Insignien des Überganges einer stehenden in eine beschleunigte Zeit […] sich so nur noch auf den Territorien des deutschen Osten [sic] [finden]«;39 auf einer Reise nach Polen wird ihm die alte »Zeitachse« zwischen West- und Osteuropa sowie der »verschiedene Geschichtshintergrund mit seiner beschleunigten und verlangsamten Gangart« wieder bewusst.40 »Polen würde eine Zeitreise sein«, reflektiert der Erzähler, »eine Wiederbegegnungsreise mit der biografischen Herkunft«.41 Drawert nimmt hier auch ein kulturelles Motiv auf, das dem Osten und seinen Landschaften im Kontext von Modernisierung und Industrialisierung die Eigenschaft des Außerzeitlichen, Übergeschichtlichen und Vergangenen zuschreibt: die östlichen Landschaften unterliegen gewissermaßen einer »Imperfektisierung«.42 Doch nicht nur in essayistischen Texten wird die veränderte Zeitwahrnehmung problematisiert, auch Lyrik43 – angefangen mit Grünbeins Gedicht – und Prosa beschreiben den Zeitenbruch. So reflektiert die Erzählerin in Brigitte Burmeisters Roman Unter dem Namen Norma (1994) die destabilisierende Dynamik der neuen Zeit, welche dem ehemaligen Stillstand und der Zeitlosigkeit ein Ende setzt: »Vor drei Jahren ist die Ewigkeit zusammengebrochen, die Zeit seitdem entfesselt, und wir geistern durch die alten Räume und versichern uns, hier zu sein, als wüssten wir noch, wo das ist.«44 Rita Kuczynski lässt in staccato (1997) ihre nach dem gesellschaftlichen Umbruch wahrlich aus der Zeit und ihrem Leben gefallene Erzählerin im Internet gleich eine ganze Salve von Zeitkomposita entdecken, die ihren eigenen Zustand widerspiegeln: »Zeitschlinge, Zeitbruch, Zeitwende, Zeitende, Zeitschub. Zeitschleuse kannte ich noch nicht.«45 37 Zum Motiv der Autofahrt als Metapher zur Beschreibung von Lebenswelten in Ost und West und der Darstellung von Verlangsamung und Beschleunigung vor und nach dem Mauerfall vgl. Katthage/Schmidt 1997. 38 Rosenlöcher 1991, S. 24, 36. 39 Drawert 2001, S. 22. 40 Drawert 2001, S. 47, 49. 41 Ebd., S. 48. 42 So Joachimsthaler 2007, S. 75. 43 Zu weiteren Beispielen aus dem Bereich der Lyrik vgl. Grub 2003, S. 628–631. 44 Burmeister 1994, S. 79. 45 Kuczynski 1997, S. 141.

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Einleitung

In den Texten, die die ›Wende‹ und ›Nachwendezeit‹ als Hintergrund haben, ließen sich zahlreiche weitere Aussagen über den durch den Übergang in eine neue Zeitordnung verursachten kognitiven Bruch finden, der aus der Perspektive der Erzähler oder einzelner Figuren thematisiert wird.46 Doch wird der Zeitenbruch nicht nur in Texten gestaltet, die tatsächlich das Ereignis des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989 sowie dessen Folgen erzählerisch darstellen und auf realistische Weise repräsentieren oder Zeitwahrnehmung thematisieren. Die Erfahrung eines Wechsels der Zeitordnungen kann literarisch auch durch Symbole, Metaphern, Allegorien, narrative Konstruktionen oder intertextuelle Verweise figuriert werden. Dabei wird nicht mehr unbedingt nur der Gegensatz von Langsamkeit und Beschleunigung dargestellt, sondern allgemein ein Bruch, ein Wechsel, eine Veränderung der Zustände angedeutet. In Wolfgang Hilbigs Erzählung Alte Abdeckerei (1991) zum Beispiel implodiert am Ende das Territorium von »Germania II«, Symbol der unterschiedlichen Schichten deutscher Vergangenheit. Der Zusammenbruch der DDR wird allegorisch durch Bilder der Apokalypse dargestellt,47 ein symbolisch zu lesendes »Herbstgewitter« legt den Horizont für eine neue Zeit frei.48 In Hilbigs Die Kunde von den Bäumen (1992) repräsentieren Verdoppelungs- und Spiegelungsstrategien und die Aufspaltung der Erzählinstanz den Orientierungsverlust einer Figur, deren Zeitwahrnehmung in der DDR durch andauernde Stagnation verunsichert wurde: »[…] die Zeit [war] für uns keine relevante Größe […]«,49 reflektiert der Erzähler. Nach dem Umbruch von 1989 unternimmt dieser den mühsamen Versuch, die vom Vergessen bedrohten vergangenen Geschichten zu retten, während sich in seiner Erinnerung die Zeitkategorien immer wieder verwischen.50 Elemente des Fantastischen tragen in der Erzählung ebenfalls zur Darstellung der Erfahrung einer Zeitverwirrung bei. Auch Christa Wolfs Medea. Stimmen (1996), ein Roman, der auf den ersten Blick weder auf eine Gegenwartsproblematik deutet noch Zeit explizit thematisiert, setzt in zwei Paratexten mit einer Reflexion über die Zeitproblematik ein. Ein Zitat der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk zur Achronie verweist auf sinnstiftende Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Epochen, ein kursiv gedruckter Text einer kollektiven Erzählinstanz suggeriert Verbindungen zwi46 Für weitere Beispiele vgl. die Analyse der Zeitthematik in Werken von Bernd Schirmer (Janine Ludwig), Reinhard Jirgl (Johanna Vollmeyer), Christoph Hein (Fanny Perrier) und Christa Wolf (Matthias Kandziora) in: Hähnel-Mesnard 2021. Einige Beiträge des Themenhefts gehen auf ein auf dem 26. Deutschen Germanistentag 2019 in Saarbrücken (»Zeit«) organisiertes Panel zurück. 47 Vgl. dazu Terrisse 2013. 48 Hilbig 2010, S. 193. 49 Hilbig 2010, S. 229. 50 Für eine Analyse des Textes aus zeittheoretischer Perspektive vgl. Ostheimer 2018, S. 301–318.

Ereignis und Repräsentation

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schen der mythischen Figur Medea und der Gegenwart.51 War der Rückgriff auf den Mythos bereits in Kassandra (1983) ein Mittel, auch Gegenwartsprobleme zu spiegeln, so suggeriert Wolfs Hervorhebung der Zeitproblematik gleich zu Beginn des Romans ebenso wie die Charakterisierung von Medea als »Gestalt auf einer Zeitengrenze«,52 dass der Mythos diesmal ein besonderes literarisches Mittel ist, den Epochenbruch von 1989 darzustellen.53 Die wenigen Beispiele aus den 1990er Jahren deuten auf eine starke Präsenz des Themas Zeit in der Literatur hin, das in den Texten sowohl explizit thematisiert oder durch abstraktere Formen repräsentiert wird, in denen der konkrete lebensweltliche Aspekt in den Hintergrund tritt. Die vorliegende Arbeit wird anhand eines Korpus erzählender narrativer Werke zeigen, dass die literarische Problematisierung von Zeit als Reflexion über die Zeitenwende von 1989 und deren Folgen auch in den darauffolgenden Jahrzehnten nicht abgebrochen ist. Der eingangs unter Rückgriff auf soziologische und ideengeschichtliche Erklärungsmodelle dargestellte Zeitenbruch soll keineswegs suggerieren, dass Literatur als simple Illustration zeitsoziologischer Erkenntnisse verstanden wird. Es soll hingegen gefragt werden, wie Literatur als fiktionale Verarbeitung kultureller Erfahrungen, als »ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften« und »ästhetische Codierung von Sachverhalten«54 diesen Zeitenwechsel und die damit verbundene Zeitwahrnehmung reflektiert und mit den ihr eigenen ästhetischen Mitteln darstellt. Die hier untersuchten Werke verbinden dabei die oben angedeuteten Tendenzen: einerseits kommt es zu einer erzählerischen Thematisierung von Zeitwahrnehmung, andererseits leisten sie eine ästhetische Überformung derselben.

3.

Ereignis und Repräsentation

Die Begriffe Zeitenbruch und Zeitenwechsel stehen für die Veränderung der Zeitwahrnehmung als Folge der gemeinhin als ›Wende‹ bezeichneten gesellschaftlichen Veränderungen. In der folgenden Arbeit wird nicht der populäre,

51 »Neben uns, so hoffen wir, die Gestalt mit dem magischen Namen, in der die Zeiten sich treffen, schmerzhafter Vorgang. In der unsere Zeit uns trifft.« Wolf 1996, S. 10. 52 Wolf 1998, S. 50. 53 Insofern Wolf in ihrem Roman auch die bisherige Überlieferung der Medea-Figur in Frage stellt und an die Vielfalt möglicher Interpretationen vor einer historischen Festschreibung des Mythos erinnert, erscheint ihre implizite Deutung des Zeitenbruchs von 1989 auch als Erinnerung an mögliche Optionen kurz nach dem Mauerfall, bevor der Lauf der Geschichte und mit ihm deren Interpretation in eine einzige Richtung gelenkt wurden. 54 Böhme 1998, S. 480.

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Einleitung

doch politisch konnotierte Begriff der ›Wende‹55 benutzt, sondern es soll neutraler vom gesellschaftlichen Umbruch56 die Rede sein. In diesem Begriff klingt der durch die Veränderungen verursachte lebensweltliche Erfahrungsbruch mit, er schließt eine Betrachtung der längerfristigen Folgeerscheinungen in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft57 und darüber hinaus nicht aus. Dass die Veränderungen tatsächlich als tiefgreifender Bruch wahrgenommen wurden, zeigen Aussagen der beiden Autorinnen und des Autors, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Lutz Seiler spricht von einer »Zeitenwende mitten im eigenen Leben. Am Ende: als hätte man in zwei verschiedenen Welten gelebt.«58 Jenny Erpenbeck beschreibt ihre eigene Lebenszeit vor 1989 als unzugänglich: »Und es gibt einen Bruch, an dem man an die Zeit nicht mehr anknüpfen kann.«59 Julia Schoch schließlich bringt die Unterschiede zur gleichaltrigen Generation der Westdeutschen auf den Punkt: »Es ist nicht die DDR, die den Westdeutschen fehlt. Es ist die Erfahrung eines absoluten Bruchs – und die Wende war so ein Bruch. Es ist die grundlegende Erfahrung, dass das, was da ist, nicht selbstverständlich ist.«60 Das grundlegende und einschneidende Ereignis dieses gesellschaftlichen Umbruchs war die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989, ein Ereignis, das selbst gelegentlich Gegenstand literarischer Darstellung wurde, vor allem aber stark medial aufbereitet und vermittelt wurde.61 Die in den Medien vorherrschende euphorische Darstellung findet sich vor allem in literarischen Texten wieder, deren erzählte Zeit in der DDR liegt und in denen der Mauerfall am Ende als Höhepunkt erscheint, so in Thomas Brussigs Helden wie wir (1995) oder in Uwe Tellkamps Der Turm (2008). Sehr viel häufiger stehen der lebensweltliche Bruch und dessen Auswirkungen auf das Individuum im Mittelpunkt, häufig verbunden mit einer durch die Plötzlichkeit und Radikalität des Umbruchs, durch den Einbruch einer neuen Zeit und eines anderen gesellschaftlichen Systems erzeugten Verlusterfahrung.

55 So wurde der Begriff von Egon Krenz als Signal für einen Kurswechsel innerhalb der SED verwendet, Christa Wolf assoziiert ihn dementsprechend in ihrer Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 mit Opportunismus. Vgl. Wolf 1990. 56 Vgl. zu den diversen Bezeichnungen Jarausch 2009. 57 Über das Jahr 1989 hinaus sind damit die grundlegenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen im Zusammenhang mit dem Systemwechsel gemeint. Vgl. u. a. Mau 2019. 58 Kasaty 2007, S. 380. 59 Reif/Erpenbeck 2009. 60 Leinemann/Schmelcher 2002. 61 Inwiefern »unsere Vorstellungen von zeitgeschichtlicher Wirklichkeit« »das Produkt einer bildtechnischen Medialität« sind und wie Literatur damit umgeht, zeigt Deupmann 2013, S. 14. Zum Mauerfall S. 283–313.

Ereignis und Repräsentation

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Insofern ist die Öffnung der Mauer nicht nur ein einmaliges historisches Geschehen, sondern sie muss aus einer grundlegenderen Perspektive als »Ereignis« betrachtet werden. Dem Philosophen Martin Seel zufolge geschieht ein Ereignis »unerwartet«, es »widerfährt« den Menschen und bewirkt unabhängig von seiner Bewertung als positiv oder negativ eine »Irritation«; die Veränderungen »stoßen« den Menschen »nicht allein physisch, sondern […] immer auch metaphysisch zu« und bewirken eine »Umstellung [ihrer] Orientierung«, ihres Verhältnisses zur Welt: »Ereignisse sind umstürzende Veränderungen in der Welt und im Weltverständnis zugleich.«62 Sich unter anderem auf den Mauerfall beziehend, unterstreicht Seel auch die zeitlichen Implikationen eines Ereignisses: »Ereignisse dieser Art sprengen das Kontinuum der Zeit, indem sie die in ihrem Bereich herrschende Konstellation des Möglichen und Unmöglichen, des Wichtigen und Unwichtigen stürzen.«63 Sie »[zerschlagen] […] die geläufige Brücke von der Vergangenheit zur Zukunft« und »verändern […] das kollektive Bewußtsein der Gegenwart einer historischen Zeit.«64 Demnach ist das Ereignis des Mauerfalls mehr als ein spektakulärer, medial herausgestellter Moment der Geschichte, mehr als der Übergang von einer Zeitordnung in eine andere: es destabilisiert die Verortung des Menschen in der Zeit insgesamt. Der Zeitpfeil aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird unterbrochen, Vergangenheit wird neu evaluiert, Zukunftshorizonte verändern sich und der Alltag der Gegenwart wird plötzlich zum historischen Moment, er muss ebenfalls neu bewertet werden und verliert seine stabilisierende Wirkung. So schreibt Jenny Erpenbeck in ihrer ersten Bamberger Vorlesung »Zur ›Geschichte vom alten Kind‹«: »[…] unser Alltag war plötzlich kein Alltag mehr, sondern ein Museum […]. Das Selbstverständliche hörte innerhalb weniger Wochen auf, das Selbstverständliche zu sein.«65 Dass die Literatur es unternimmt, dieser zeitlichen Verunsicherung Ausdruck zu verleihen, dass sie dabei die neu zu bewertende Konstellation aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinterfragt, soll in der folgenden Arbeit unter Rückgriff auf das Zeitparadigma dargestellt werden. Dabei wird auch deutlich, dass die Konsequenzen des Umbruchs literarisch zum Ausdruck kommen, ohne dass die historischen Ereignisse selbst repräsentiert werden müssen. Diese Frage hatte Stephan Pabst in seiner Arbeit über Schreibweisen und Poetologien nach 1989 problematisiert und bedauert, dass den literaturwissenschaftlichen Arbeiten, »die mit den Auswirkungen historischer Ereignisse auf literarische Texte befasst sind«, ein Konzept der »Vermittlung« fehle und der »Zusammenhang 62 63 64 65

Seel 2003, S. 39. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Erpenbeck 2018, S. 158.

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Einleitung

zwischen Geschichte und Literatur« lediglich über »die Repräsentation des Ereignisses im Text nachzuweisen« sei.66 Pabst unternimmt einen gattungspoetologischen Zugriff auf sein Korpus, der die Auswirkungen geschichtlicher Veränderungen auf die Werke auch dort nachzuweisen vermag, wo das Ereignis gar nicht thematisiert wird. In dieser Arbeit soll deutlich werden, dass Ähnliches auch bei der Analyse der Darstellung von Zeitlichkeit und Zeiterfahrung in literarischen Texten gilt und die Kategorie der Zeit auch als ein »Konzept [der] Vermittlung«67 zwischen Geschichte und Literatur dienen kann. Anders als bei einem gattungspoetologischen Zugang kann dabei jedoch auf die Repräsentation bestimmter Aspekte der Geschichte oder auf eine Thematisierung nicht ganz verzichtet werden, da Zeit selbst Vektoren der Darstellung benötigt, um fassbar zu werden.

4.

Forschungsstand

In den zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die entweder zeitgleich zu den literarischen Werken entstanden oder seit Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre als Monografien die Literaturentwicklungen nach 1989 mit größerem Abstand analysierten, wurde die Frage der Zeitwahrnehmung bzw. der literarischen Darstellung von Zeit im Kontext des Epochenbruchs von 1989 nur ganz am Rande gestellt.68 Das mag einerseits damit zusammenhängen, dass das Raumparadigma seit dem »spatial turn« der 1980er Jahre die wissenschaftliche Diskussion prägte und die Theoretiker der Postmoderne die für die Moderne grundlegende Kategorie der Zeit vorerst verabschiedet hatten.69 Andererseits dominierten thematische Zugänge zur ›Wende-‹ bzw. ›Nachwendeliteratur‹, die nach der literarischen Darstellung des historischen Ereignisses fragten, Literatur als »Gedächtnis des gelebten Lebens«70 betrachteten bzw. in ihr die Konstituierung eines »Geschichtsbewusstseins« bzw. »kollektiven Gedächtnisses«71 wahrnahmen und dies an einem sich jeweils ähnelnden Korpus von damals weniger bekannten Autoren der vorwiegend jüngeren Generationen darstellten.72 66 Pabst 2016, S. 24. 67 Ebd. 68 Deshalb wird hier auf einen ausführlichen Forschungsüberblick zur ›Wende‹-, ›Nachwende‹und Post-DDR-Literatur verzichtet, es werden lediglich die Werke erwähnt, die auch das ZeitParadigma berücksichtigen. 69 Bachmann-Medick 2006, S. 284. 70 Kormann 1999, S. 391. 71 Bremer 2002, S. 31. 72 Autoren wie Thomas Brussig, Kerstin Hensel, Jens Sparschuh, Thomas Rosenlöcher und Helga Königsdorf werden in den ersten Monografien zum Thema immer wieder herangezogen, oft werden auch dieselben Texte analysiert. Vgl. Kormann 1999 und Bremer 2002.

Forschungsstand

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Eine Ausnahme bei der Thematisierung von Zeitwahrnehmung ist Julia Kormanns erste Monografie zum Thema »Literatur und Wende« aus dem Jahre 1999, die auch die Frage nach dem »Wechsel der Zeiten« und der »enteilenden Zeit«73 stellt und dies anhand der bereits erwähnten Werke von Thomas Rosenlöcher analysiert,74 ohne der Problematik allerdings eine größere Bedeutung beizumessen. Auch Frank Thomas Grubs 2003 erschienenes umfangreiches Handbuch zur ›Wendeliteratur‹ enthält ein Kapitel zum »Motiv der Zeit«, das Beispiele unterschiedlicher Gattungen anführt, doch steht hier nicht eigentlich die Zeitwahrnehmung nach 1989 im Vordergrund, sondern die Einordnung der ›Wende‹ in größere historische Zeiträume.75 Arne Borns jüngste »Literaturgeschichte der deutschen Einheit«76 enthält hingegen keine spezifischen Hinweise auf die Zeitthematik. Ungeachtet der theoretischen Dominanz des Raumparadigmas, das in der germanistischen Literaturwissenschaft vor allem seit Beginn der 2000er Jahre großen Zuspruch erhielt,77 haben sich die Forschungen zur Zeitthematik nie wirklich erschöpft, sei es im Zusammenhang mit der Erforschung der Moderne,78 sei es hinsichtlich der Frage nach der ästhetischen Repräsentation von Zeiterfahrung.79 Ralf Kühn geht davon aus, dass gerade der Jahrtausendwechsel auch ein neues Nachdenken über die Zeit bewirkt habe.80 Ab den 2010er Jahren findet man auch Arbeiten zur Gegenwartsliteratur, die verstärkt das Paradigma der Zeit berücksichtigen und dabei teilweise auch die literarische Gestaltung der Zeitwahrnehmung des Umbruchs von 1989 mit einbeziehen. Dies gilt für Johannes Pauses grundlegende Untersuchung Texturen der Zeit (2012), die den Spuren eines durch zunehmende Pluralisierung von Zeitvorstellungen in die Krise geratenen subjektiven und objektiven »Zeitgefüges« in der Gegenwartsliteratur nachgeht, Parallelen zur Zeit-Thematik um die Jahrhundertwende von 1900 anstellt und anhand der Werke unterschiedlicher Autoren westdeutscher Herkunft die literarische Darstellung einer dekonstruierten Zeit analysiert.81 In einem kurzen Kapitel über die Literatur nach 1989 verweist Pause auch auf 73 Kormann 1999, S. 174, S. 180–184. 74 Ebd., S. 271–306. Auch Reimann (2008, S. 79–98) geht später noch einmal auf Rosenlöchers Texte und die Frage der Zeitwahrnehmung ein. 75 Vgl. Grub 2003, S. 619–635. Der Überblickscharakter der Studie bietet außerdem kaum Platz für genauere Textanalysen. 76 Born 2019. 77 Köppe/Winko 2013, S. 323f. 78 Vgl. aus historischer Perspektive zu den Voraussetzungen des modernen Zeitbewusstseins Alliez 1999; aus vor allem interdisziplinärer Perspektive Simonis/Simonis 2000 und Göttsche 2016. 79 Vgl. zum Zusammenhang von Zeiterfahrung und Romanästhetik in historischer Perspektive am Beispiel des englischen und amerikanischen Romans Middeke 2002. 80 Kühn 2005, S. 21. 81 Pause 2012, S. 10, 15.

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Einleitung

»Symptome temporaler Desorientierung […], die auf einen Gegensatz zwischen ost- und westdeutschem Zeitempfinden und eine nach wie vor unvollständige gesamtdeutsche Synchronisation hinweisen.«82 Er verweist bereits auf die fehlende zeitliche Kontinuität vor und nach 1989, die dazu führe, dass die DDRVergangenheit wie ein »Fremdkörper« erscheint und auch in der Literatur als entfremdet dargestellt wird.83 Die Kategorie der Zeit ist auch Gegenstand einiger Beiträge in dem von Silke Horstkotte und Leonhard Herrmann veranlassten Band zu Poetiken der Gegenwart (2013), der sich von thematischen Zugängen zur Gegenwartsliteratur abwendet und poetologische Fragen in den Mittelpunkt stellt, wobei »literarische Formen von Geschichtlichkeit« auch wieder unter dem Aspekt des Zeitparadigmas untersucht werden.84 In diesem Zusammenhang interessierte sich Anne Fuchs für »Poetiken der Entschleunigung« u. a. bei zwei ostdeutsch sozialisierten Autorinnen: Julia Schoch und Judith Zander.85 In dem spezifisch der Zeitdarstellung in der Gegenwartsliteratur gewidmeten Band Zeit, Stillstellung und Geschichte im deutschsprachigen Gegenwartsroman (2016),86 der auch Beiträge zu Eugen Ruge, Kathrin Schmidt und Jenny Erpenbeck enthält,87 fasst Tanja van Hoorn noch einmal konzis vier aktuelle Forschungstendenzen und -gegenstände zur Zeitthematik zusammen: Erinnerungsund Familienromane, welche Geschichte und Zeitgeschichte sowie deren Zäsuren literarisch verarbeiten, die Präsenz von philosophischen, physikalischen oder sozialwissenschaftlichen Zeitdiskursen und damit einem bestimmten Zeit-Wissen in der Literatur, die literarische Darstellung von individueller, subjektiver Zeit-Erfahrung (z. B. Traumatisierung) sowie auf übergeordneter Ebene erzähltheoretische Fragen zur Analyse diegetischer Zeit.88 Die vorliegenden Arbeit wird bestimmte Elemente dieser verschiedenen Tendenzen berücksichtigen. Auch spezifische Untersuchungen zur ›Nachwende-Literatur‹, die nunmehr unter dem auch in der vorliegenden Arbeit benutzten Begriff der Post-DDR-

82 Ebd., S. 155. Das Kapitel ist »Die kaputten Uhren der Stunde Null. Zäsuren 1989/1945« betitelt und behandelt ebenfalls Romane, die sich mit der Zäsur von 1945 auseinandersetzen. 83 Ebd., S. 159. 84 Horstkotte/Herrmann 2013, S. 9. 85 Fuchs 2013. Kulturelle Antworten auf Veränderungen der Zeitwahrnehmung, vor allem zunehmender Beschleunigung, stehen ebenfalls im Mittelpunkt eines von Fuchs herausgegebenen Bandes, der sich für die temporalen Knotenpunkte nach 1900 und nach 1989 interessiert. Vgl. Fuchs/Long 2016 und den darin enthaltenen Artikel von Pye (2016) zu Angela Krauß. 86 Van Hoorn 2016. 87 In den Beiträgen geht es primär jedoch nicht um die Darstellung eines Zeitenwechsels bzw. Zeitenbruchs nach 1989, sondern um Formen der Darstellung von Geschichte und Zeitgeschichte sowie der Vergegenwärtigung von Vergangenem. 88 Van Hoorn 2016, S. 8f.

Forschungsstand

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Literatur behandelt wird,89 interessieren sich seit den 2010er Jahren verstärkt für Aspekte der Zeitlichkeit und Zeitwahrnehmung. So enthält Asako Miyazakis Studie Brüche in der Geschichtserzählung (2013) über die literarische Inszenierung von Erinnerungen an die DDR ein Kapitel, das die »[m]ehrschichtige Zeitlichkeit der Erinnerung« anhand von Werken von Thomas Rosenlöcher, Angela Krauß, Julia Schoch und Durs Grünbein analysiert.90 Miyazaki bezieht sich u. a. auf die Beschleunigungstheorien von Hartmut Rosa und interessiert sich anhand des Topos der Industrielandschaft für die früheren Potentiale einer Zukunftsorientierung, die nunmehr abhandengekommen ist.91 Dabei unterscheidet die Analyse zwischen unterschiedlichen Zeitebenen der Erinnerung, und zwar der Zeitlichkeit der Gegenwart, in der die Erinnerung stattfindet, die Ebene der Vergangenheit, an die erinnert wird sowie die Ebene des Möglichen, die den ehemaligen Zukunftsvorstellungen entspricht. Dadurch zeigt Miyazaki die durch den neuen Zeitkontext auftretenden Diskontinuitäten auf.92 Neben diversen Aufsätzen, die Aspekte der Zeitlichkeit anhand einzelner Autoren verhandeln,93 hat sich jüngst vor allem Michael Ostheimer in seiner Studie Leseland. Chronotopographie der DDR- und Post-DDR-Literatur (2018) mit Fragen der Wechselwirkungen zwischen Zeit und Raum auseinandergesetzt. Ostheimers Arbeit entstand im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms »Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne« (2013–2020), das seit 2013 unterschiedliche kulturelle Darstellungsformen von

89 Dieser Begriff hat den Vorzug einer gewissen semantischen Offenheit, da er Chilese/Galli (2015, S. 12) zufolge unterschiedliche Aspekte umfasst, wie die geographische Herkunft der Autoren »aus dem östlichen Teil der Republik«, die politische Komponente der früher dort existierenden DDR, die zeitliche Komponente einer nach dem Ende der DDR entstanden Literatur und eine thematische Komponente, insofern die Texte »in irgendeiner Weise von der DDR, als Erinnerung, als Folie, als Projektion« handeln. 90 Miyazaki 2013, S. 61–85. 91 Diese thematische Ausrichtung ist vor allem für Julia Schochs Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009) problematisch, da dort keinerlei Industrielandschaft dargestellt wird, lediglich eine aus dem Nichts gestampfte moderne Wohnsiedlung und ein Truppenübungsplatz der Armee. 92 Miyazaki 2013, S. 62. 93 Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen Mirjam Gebauers zum Interesse an Texten über die DDR, welches auch durch die Zeiterfahrung der Gegenwart motiviert sei. Es ließe »sich verstehen, dass bestimmte Rückblicke auf die DDR unvermeidbar eine gewisse Nostalgie beim Betrachter auslösen, da sie eine indirekte Kritik unserer beschleunigten Spätmoderne enthalten. Durch die eingeschränkte Reisefreiheit sah man sich in der DDR mit einer Begrenzung im Raum konfrontiert, genoss jedoch noch einen Reichtum an Zeit. Dem spätmodernen Subjekt westlicher Gesellschaften sind wenige Begrenzungen im Raum gesetzt. Doch der permanente Zeitmangel lässt viele Optionen als fiktiv erscheinen […].« Gebauer 2016, S. 188.

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Einleitung

Zeit erforscht.94 Unter Rückgriff auf Bachtins Konzept des Chronotopos als künstlerisch dargestellte Zeit- und Raumbeziehung95 interessiert sich Ostheimer hauptsächlich für die DDR-Literatur, in der sich das spezifische Zeit-RaumGefüge der DDR-Gesellschaft widerspiegele: einerseits der politisch abgeschottete Raum des Staatsterritoriums der DDR, andererseits die auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtete Arbeitswelt, die den hauptsächlichen Lebensraum in der sozialistischen Gesellschaft darstelle.96 Unter Rückgriff auf in der Literatur gestaltete Orte ganz unterschiedlicher Art definiert Ostheimer für die DDR-Literatur drei Chronotopoi, die einer jeweils dominanten Zeiterfahrung entsprechen: den utopischen Chronotopos als »Wahrnehmung des Werdenden (Gegenwärtigkeit der Zukunft)«,97 den durch Hiddensee und den insularen Raum repräsentierten idyllischen Chronotopos als »Aufgehen in der Gegenwart (Gegenwärtigkeit der Gegenwart)« und den durch Mauer und Grenze entstandenen liminalen Chronotopos als »Stillstand der Zeit (Stagnation)«.98 Zukunftsausgerichtetheit, eigenzeitliche Gegenwartsorientierung und Erfahrung von Stagnation sind demnach die Formen der Zeitwahrnehmung, die in der DDR-Literatur zum Ausdruck kommen und die auch nach 1989 noch erinnert werden, wie es Miyazakis Studie in Ansätzen bestätigt. Für die Post-DDR-Literatur arbeitet Ostheimer zwei Chronotopoi heraus, die ebenfalls mit konkreten Orten in Verbindung stehen: den memorialen Chronotopos, in dem der »ursprünglich[e] Georau[m] der DDR in Gestalt einer imaginären Erinnerungslandschaft […]« – hier der sächsischen Tagebaugebiete und der Wismut – wieder vergegenwärtigt wird,99 sowie den transformatorischen Chronotopos, in dem die »Wende der Zeit« und damit die »Wahrnehmung des geschichtlichen Wandels und einer Zeitenwende«100 am Beispiel der in Ingo Schulzes Werk literarisierten Stadt Altenburg im Mittelpunkt steht. In Ostheimers Analyse spielen die realen Orte des geographischen Raums DDR, die Eingang in die DDR-Literatur gefunden haben, oft eine größere Rolle als die Darstellung von Zeitwahrnehmung in der Literatur, dies ist auch dem Konzept des Chronotopos geschuldet. Zeitwahrnehmung und Zeiterfahrung kommen bei der Darstellung des transformatorischen Chronotopos im Zusammenhang mit Ingo Schulzes Werk stärker in den Blick, denn dort wird die Veränderung des subjektiven Zeitverständnisses der Figuren nach dem 94 Die verschiedenen Einzelprojekte sind hier zugänglich: https://www.aesthetische-eigenzei ten.de/ [08. 07. 2020]. Vgl. auch das zum Projektabschluss veröffentlichte Lexikon von Gamper/Hühn/Richter 2020. 95 Zur Ausdifferenzierung von Bachtins Konzept vgl. auch Detmers/Ostheimer 2016. 96 Ostheimer 2018, S. 11f. 97 Historische Orte wie Buchenwald und Bad Frankenhausen stehen hier neben genuin sozialistischen Orten wie Eisenhüttenstadt und Halle-Neustadt. 98 Ostheimer 2018, S. 453. 99 Ebd., S. 57, S. 453. 100 Ebd., S. 453.

Korpus und Herangehensweise

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gesellschaftlichen Umbruch ebenso beachtet wie die verwendete, genuin literarische Symbolik.101 Ostheimer bedauert in seiner Studie, dass »[s]elten […] die kulturelle Fremdheit der Ostdeutschen im vereinigten Deutschland auf der Ebene der Zeiterfahrung reflektiert und als temporale Entfremdung artikuliert [wurde].«102 Als einschlägige Autoren und Beispiele nennt er Heiner Müller, Wolfgang Hilbig und Ingo Schulze, deren Werk er in seiner Arbeit analysiert.103 Dass sich nach 1989 eine Vielzahl anderer Autoren diesem Thema angenommen haben, wurde bereits angedeutet, ebenso das Forschungsdesiderat in der germanistischen Literaturwissenschaft. Die vorliegende Arbeit möchte anhand des Werks von Jenny Erpenbeck, Julia Schoch und Lutz Seiler, dem die Frage der Zeitwahrnehmung und -darstellung durchgehend eingeschrieben ist, den ersten Forschungsansätzen in diesem Bereich einen Baustein hinzufügen und dadurch die Relevanz des neuen temporal turn für die Analyse der Post-DDR-Literatur unterstreichen. Dabei wird sie durch textnahe Analysen vor allem der Frage nach der literarischen Repräsentation des Zeitenbruchs und Zeitenwechsels nachgehen.

5.

Korpus und Herangehensweise

Das in dieser Arbeit analysierte Korpus besteht aus Werken eines Autors und zweier Autorinnen, die im Zeitraum der letzten zwanzig Jahre erschienen sind und im Unterschied zu den eingangs erwähnten ereignisnahen Reflexionen von Grünbein, Rosenlöcher und anderen aus einer gewissen historischen Distanz heraus weiterhin den Zeitenbruch von 1989 reflektieren. Dadurch wird besonders deutlich, wie grundsätzlich prägend diese Erfahrung war. Die ersten Werke zum Thema, die hier berücksichtigt werden, entstanden um die Jahrtausendwende, so Jenny Erpenbecks Geschichte vom alten Kind (1999) und Julia Schochs Der Körper des Salamanders (2001), und blicken aus dem Abstand von zehn Jahren auf die Ereignisse zurück, das jüngste Werk ist Lutz Seilers 2020 erschienener Roman Stern 111, der dreißig Jahre nach dem gesellschaftlichen Umbruch diesen noch einmal zum Thema macht.

101 So das Symbol des Schnees in Schulzes Neue Leben (2005) als »zwischen unterschiedlichen Sphären vermittelndem Transformationssymbol«. Ebd., S. 439. 102 Ebd., S. 385. 103 Ein jüngerer Beitrag Ostheimers verweist noch einmal auf die Bedeutung der »Zeitenwende« von 1989 und analysiert kurz Werke von Volker Braun, Julia Schoch und Ingo Schulze. Vgl. Ostheimer 2019.

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Einleitung

Die drei AutorInnen traten um das Jahr 2000 in das literarische Feld der Bundesrepublik ein, ihre Debüts104 wurden von der Literaturkritik sofort enthusiastisch begrüßt. Seitdem gehören sie zu den wichtigsten Vertretern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, deren Werk durch Literaturpreise gewürdigt und durch den Eingang in Literaturgeschichten einer ersten Kanonisierung unterzogen wurde. In ihrem gesamten Werk ist die Frage der Wahrnehmung von Zeit im Kontext des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989 oder hinsichtlich des Erfahrungshintergrunds der DDR zentral. Hinzu kommt, dass alle drei AutorInnen auch ein essayistisches Werk vorlegen, das die Zeitthematik ebenfalls reflektiert. Insofern bietet sich ihr Werk für eine eingehendere Auseinandersetzung mit dieser Problematik besonders an. Lutz Seiler (*1963), Jenny Erpenbeck (*1967) und Julia Schoch (*1974) gehören einer Generation an, die zwar je nach Geburtsjahr in der DDR sehr unterschiedliche Erfahrungen machen konnte, deren allgemeine Wahrnehmung der DDR jedoch durchaus ähnlich war. Die zwischen 1960 und Anfang der 1970er Jahre Geborenen wurden als »entgrenzte« oder »distanzierte« Generation bezeichnet, deren am Westen orientierter Lebensstil weit über den in der DDR vermittelten Wertehorizont hinausreicht; die ab 1973 Geborenen wurden je nach Generationenmodell auch den »Wende-Kindern« zugeordnet.105 In Bezug auf die DDR galten sie als eine Generation der »Nicht-mehr-Eingestiegenen« und als »unbelastete Generation«, da sie ein eher distanziertes Verhältnis zur ihr hatten.106 Trotz individueller Prägungen und familiärer Besonderheiten, die in globalen Generationenmodellen kaum Beachtung finden, teilen die drei AutorInnen hinsichtlich der DDR-Vergangenheit einen »Erfahrungsraum« ebenso wie einen »Erwartungshorizont«, der 1989 durchbrochen wurde und neue Erfahrungen stiftete.107 Dies gilt sowohl für das Zeitregime der DDR und die darin vermittelten Zukunftsorientierungen als auch für die neue zeitliche Konstellation nach dem gesellschaftlichen Umbruch. Trotz dieser relativen Erfahrungskongruenz ist der intragenerationelle Unterschied zwischen Lutz Seiler und Julia Schoch dennoch groß genug, um auch nach Differenzen in der Geschichts- und Zeitwahrnehmung zu fragen.

104 Lutz Seilers bereits 1995 erschienener erster Gedichtband berührt/geführt wurde von der Kritik und dem Literaturbetrieb kaum wahrgenommen, ganz im Gegensatz zu seinem 2000 erschienen Gedichtband pech & blende. Im Gegensatz zu den beiden Autorinnen wurde er zunächst durch seine Lyrik bekannt und begann erst später Prosa zu schreiben. 105 Für Ahbe/Gries (2006) umfasst die »entgrenzte Generation« die Jahrgänge von 1960–1972, danach sprechen sie von »Wende-Kindern« (1973–1984). Bei Lindner (2003) entspricht die »distanzierte Generation« den Jahrgängen 1960–1975. 106 Lindner 2003, S. 38. 107 In Anlehnung an Kosellecks »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« (Koselleck 1989, S. 358).

Korpus und Herangehensweise

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Der Verzicht auf eine exhaustive Bearbeitung des Themas bzw. auf ein weiter gefasstes Korpus ist dem Ziel dieser Arbeit geschuldet, die Frage nach der Wahrnehmung der Zeit in engem Zusammenhang mit ihrer literarischen Figuration zu behandeln, was eine textimmanente Herangehensweise nahelegt. Vor allem die bereits erwähnte Tendenz einer teilweise nicht-mimetischen Darstellung des gesellschaftlichen Umbruchs durch die Problematisierung einer Zeiterfahrung verlangt nach einem primär ästhetische Formen und Darstellungsweisen fokussierenden Zugang. Denn die lebensweltliche Zeitwahrnehmung wird – über eine explizite Thematisierung hinaus – zu einer »fiktional kon- und refigurierten Zeiterfahrung.«108 Wenn nach der Darstellung von Zeit oder auch Zeiterfahrung gefragt wird, muss zunächst in Erinnerung gerufen werden, dass Zeit »unsichtbar, gewissermaßen latent bleibt« und »einer unmittelbaren Anschauung« nicht zugänglich ist,109 wie Michael Gamper und Helmut Hühn es im Grundsatzpapier des Schwerpunktprogramms 1688 »Ästhetische Eigenzeiten« der DFG ausführen.110 Zeit kann »nur [erscheinen], insofern sie sich darstellt und an Gegenständen wahrnehmbar wird.« »Zeiterfahrung und Zeitreflexion sind deshalb unhintergehbar an die Darstellungskraft von ästhetischen Verfahrensweisen, […] an das Zusammenspiel von sinnlich perzipierbaren Techniken, Symbolen, Medien und Institutionen gebunden.«111 Auch Claudia Öhlschläger verweist auf die in unterschiedlichen Epochen entworfenen Vorstellungen und Darstellungsweisen von Zeit und fragt, »[w]oran […] sich historische Transformationen von Zeit ablesen [lassen], wie […] sie aus[sehen]?« Die Antwort liege in der Ästhetik, in Literatur und Künsten, »in denen […] Paradoxien, Momente der langen Dauer, des Zögerns, aber auch Strategien der Vergegenwärtigung und des präsentischen Augenblicks entfaltet und modelliert werden können.«112 Und wenn Tanja van Hoorn die gegenwärtigen Forschungstendenzen zur Zeitthematik zusammenführt, so in folgender, bestimmte Leitfragen aufnehmenden Problemstellung. Es sei zu fragen, […] wie aktuelle deutschsprachige Romane welche Zeit bearbeiten und ob und wenn ja wie sie die artifizielle Zeithaftigkeit des Erzählens und des Erzählten ausstellen. Wo wird 108 Middeke 2002, S. 1. Die Kategorien der kon- und refigurierten Erfahrung von Zeit gehen auf Paul Ricœurs von der Zeitphänomenologie inspirierte Untersuchung zum Verhältnis von Erzählzeit und Lebenszeit in Temps et récit (1983–1985) zurück. 109 Die philosophischen Prämissen, die diesen Überlegungen zu Grunde liegen, können hier nicht erläutert werden. Für einen kurzen Überblick über das philosophische Zeitdenken von Kant bis zur Phänomenologie des 20. Jahrhunderts und die wesentlichen Etappen einer Subjektivierung, Pluralisierung, Universalisierung und Affirmierung der Zeit, vgl. Theunissen 1991, S. 38–40. 110 Gamper/Hühn 2014, S. 11f. 111 Ebd., S. 12. 112 Öhlschläger 2013, S. 7.

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zu welchem Zweck Chronologie suggeriert, wo werden hingegen antilineare Verfahren wie Anachronie, Achronie und Enthistorisierung privilegiert? In welchem Tempus wird erzählt? Wo wird Zeit inhaltlich diskutiert und wie wird dies ggf. in spezifischer Weise formal umgesetzt? Mit welchen musikalischen (Rhythmus, Pause, Leitmotivik, Variation, Tempowechsel) oder narratologischen Kategorien (Ordnung, Dauer, Frequenz) können die textinternen Zeitverhältnisse beschrieben werden?113

Die hier von unterschiedlichen Literaturwissenschaftlern im Kontext des in den letzten zehn Jahren neu erwachten Interesses für die Kategorie Zeit vorgeschlagenen Fragestellungen sind auch für die vorliegende Arbeit richtungsweisend, da sie auf konkrete ästhetische und narrative Darstellungsweisen und Figurationen von Zeit verweisen. Dies betrifft sowohl die individuell wahrgenommene als auch die historische Zeit, zwei Ebenen, die sich in den Texten des Korpus oft überlagern. Es kann und soll hier nicht darum gehen, vorab bestimmte philosophische, soziologische oder naturwissenschaftliche Theorien der Zeit zu referieren. Auch die literaturwissenschaftliche Zeitforschung kann nicht in ihrer Komplexität und Vielfalt nachgezeichnet werden. In den folgenden Kapiteln werden bestimmte Konzepte und Zusammenhänge ad hoc eingeführt, wenn sie als Hintergrund und Analysekategorie für die in den Texten literarisch konstruierte Zeit relevant sind. Dies gilt auch für narratologische Kategorien, die für die ästhetische ›Übersetzung‹ lebensweltlicher Zeiterfahrung im literarischen Text zwar zentral sind (so Genettes Kategorien der Ordnung, der Dauer und der Frequenz), deren systematische Analyse für die behandelten Texte aber nicht unbedingt einen Erkenntnisgewinn bringen würde. Zudem wurde gerade in jüngeren narratologischen Arbeiten moniert, dass »sich die Erzählforschung bislang der semantischen Dimension temporaler Phänomene [verschließt], die beispielsweise in Providenz und Kontingenz als Erklärungsmodellen ebenso enthalten ist wie in ›Plötzlichkeit‹ oder ›Präsenz‹ als ästhetischen Programmen.«114 Es sei auch verstärkt nach dem »temporalen Nukleus« von Themen und Motiven und deren erzählerischer Bedeutung zu fragen,115 oder nach dem Verhältnis von Zeit und Figur.116 Je nach Analysebedarf und Relevanz in Bezug auf die einzelnen Texte wird auf solche Aspekte hier ebenso geachtet wie auf Elemente der ›klassischen‹ Narratologie. Helmut Hühn hat seinerseits darauf aufmerksam gemacht, dass eine »literaturwissenschaftliche Poetik der Zeit […] immer nur anlässlich der oder innerhalb von Poetiken bestimmter, aisthetisch konkretisierter Konzepteinheiten 113 114 115 116

Van Hoorn 2016, S. 9. Weixler/Werner 2015, S. 13. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20.

Korpus und Herangehensweise

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gedacht werden [kann]« und »Zeit immer nur als Eigenzeitlichkeit auftritt«,117 mithin »zeitpoetologische Überlegungen […] nicht ›übertragbar‹ zu sein scheinen: Sie sind irreduzibel an die Texte, die Autorenpoetiken und die thematischen Fokussierungen gebunden.«118 Insofern wird auch in dieser Arbeit kein übergreifendes Analysemodell vorgeschlagen, sondern versucht, die in den Texten dargestellte Zeitwahrnehmung in Einklang mit den jeweiligen Autorenpoetiken induktiv herauszuarbeiten und dabei den jeweiligen thematischen und formalen Akzentsetzungen der Werke gerecht zu werden. Wenn in den folgenden Kapiteln das Werk von Jenny Erpenbeck, Julia Schoch und Lutz Seiler auf die Darstellung der Wahrnehmung des Zeitenbruchs von 1989 hin untersucht wird, dann geschieht dies nicht nur in Hinblick auf den Moment bzw. die Phase des Umbruchs. Denn die veränderte Zeitwahrnehmung entsteht vor dem Hintergrund des bisher Bekannten und die Texte reflektieren neben dem Neuen ebenso das Alte, die Zeiterfahrung in der DDR. Es ist also in synchroner wie in diachroner Perspektive zu fragen, in welcher Beziehung die Figuren zum jeweils dominanten Zeitregime stehen und wie sich das Verhältnis von Alltag, Lebenszeit und geschichtlicher Zeit jeweils artikuliert. Dabei zeichnet sich ab, dass die Texte fiktionale Figuren konstruieren, denen eine »Eigenzeit« eingeschrieben ist, die sich sowohl dem alten als auch dem neuen Zeitregime entzieht: auf der Ebene der erinnerten bzw. rekonstruierten Vergangenheit kommen nicht nur Prägungen, sondern auch eine Distanz zum Zeitregime der DDR zum Ausdruck, auf der Ebene der erzählten Gegenwart ein Unbehagen an der neuen Beschleunigung, sodass die persönliche Vergangenheit auch zum Rückzugsort werden kann, um die zunehmende Empfindung von Diskontinuität der subjektiven Erfahrung nach 1989 zu verarbeiten. Der Begriff der »Eigenzeit« stammt von der Soziologin Helga Nowotny, die darunter ursprünglich die Herausbildung einer individualisierten Ich-Zeit in Abgrenzung zur Zeit der sozialen Umwelt in der bürgerlichen Gesellschaft versteht, einer sozialen Zeit, die umso vielschichtiger wird, je komplexer die Gesellschaft ist.119 Der Begriff eignet sich also, um in den untersuchten Werken das Heraustreten der Figuren aus einer gesellschaftlich geregelten und normierten Zeit sowohl vor als auch nach 1989 und die Suche nach Möglichkeiten eigener Zeitverortung zu beschreiben. Im Zusammenhang mit dem DFG-Schwerpunktprogramm »Ästhetische Eigenzeiten« wurde der Begriff der Eigenzeit in den letzten Jahren verstärkt im Zusammenhang mit ästhetischen Darstellungsformen und -prozessen in Zusammenhang gebracht, die für »die Erfahrung und Refle-

117 Hühn 2018, S. 578. 118 Ebd., S. 579. 119 Nowotny 1989, S. 13, 8.

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xion von Zeit« eine grundlegende Bedeutung haben.120 Insofern wird auch in dieser Arbeit gefragt, welche genuin literarischen Formen zur Darstellung der Zeiterfahrung in einem besonderen geschichtlichen Zusammenhang eingesetzt werden, wie Zeit literarisch und sprachlich inszeniert wird, auf welche kulturellen Modelle die Texte zurückgreifen und wie künstlerische Verfahren und ästhetische Inhalte im Sinne einer »Semantisierung literarischer Formen«121 korrelieren.

6.

Gliederung

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile, die der Zeitdarstellung im Kontext der jeweiligen Autorenpoetik gewidmet sind. Der Verzicht auf eine autorenübergreifende Analyse resultiert einerseits aus der Absicht, den ästhetischen Eigenheiten der Werke genügend Platz einzuräumen und Entwicklungen und Variationen hinsichtlich des Themas innerhalb des Gesamtwerks eines Autors oder einer Autorin zu berücksichtigen. Andererseits hätte eine transversale, thematische Analyse, die sich z. B. an der Trias Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft und entsprechenden Figurationen der jeweiligen Zeitwahrnehmung orientiert, eine zu starke Fragmentierung des Korpus nach sich gezogen. Denn obwohl diese verschiedenen Zeitphasen als erzählte Zeit in allen Werken auf unterschiedliche Weise dargestellt werden, sind sie doch immer wieder stark miteinander verwoben. Alle hier analysierten Texte setzen sich mit der nach 1989 problematisch gewordenen Konstellation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander, doch werden jeweils ganz bestimmte Aspekte unter Rückgriff auf bestimmte Darstellungsformen ins Zentrum gestellt. Obwohl Lutz Seiler seinen Erzählband Die Zeitwaage aus dem Jahre 2009 erst ungefähr ein Jahrzehnt nach Jenny Erpenbecks und Julia Schochs ersten Texten veröffentlichte, steht sein Werk am Anfang dieser Arbeit, da in ihm die an die DDR gebundene Zeitwahrnehmung am stärksten zum Ausdruck kommt. Insofern wird hier die Dynamik zwischen Vergangenheit und Gegenwart am deutlichsten sichtbar und Zeitwahrnehmung immer wieder doppelt reflektiert: in synchroner Perspektive als die Wahrnehmung der Gegenwart in ihrer Beziehung zur Vergangenheit, in diachroner Perspektive als die in der erzählten Welt entfaltete Wahrnehmung des Zeitregimes der DDR. In einigen Erzählungen der Zeitwaage wird eine oft negative Zeiter120 Gamper/Hühn 2014, S. 38. 121 Insofern als »die Analyse formaler Darstellungsverfahren Aufschluß […] über die […] Frage der Sinnorientierung und Sinndimensionen literarischer Werke« geben kann und u. a. die Zeitdarstellung im Werk bedeutungstragend ist. Vgl. Nünning 2004, S. 604f.

Gliederung

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fahrung in der Gegenwart zum Auslöser von Erinnerungen an die Vergangenheit, wobei die Inszenierung von Schwellenerfahrungen eine besondere Bedeutung erlangt. Deren Zeitlosigkeit und der dadurch erzeugte Zwischenzustand gehören ebenso wie Motive des Archaischen und Mythischen zu Strategien der Detemporalisierung, die sowohl auf die Ebene der erzählten Gegenwart als auch auf die Ebene der Vergangenheit zu beziehen sind und dort unterschiedliche Funktionen haben. Seilers Rückgriff auf Konzepte der Benjamin’schen Geschichtsphilosophie lenkt einerseits den Blick auf die Diskontinuitäten der Geschichte, andererseits auf Potentiale der Vergangenheit, die es in der Gegenwart als spezifische Erfahrung zu ›retten‹ gilt, wie es in der literarisch überzeichneten Figur des Arbeiters in der titelgebenden Erzählung der Fall ist.122 Während in den Erzählungen Zeiterfahrung vorwiegend als explizite und implizite Darstellung eines Bezugs zur geschichtlichen Zeit analysiert wird und dadurch individuelle Geschichte und Vergangenheit auch als Verlusterfahrung nach dem Epochenbruch von 1989 beschrieben werden kann, fokussiert Lutz Seilers erster Roman Kruso (2014) stärker die Frage einer möglichen Eigenzeit im Rahmen der DDRGesellschaft im Umbruchsommer 1989. Der Inseltopos123 steht für eine gelebte Anderszeitlichkeit des Protagonisten und erlaubt ihm eine Zeiterfahrung, die diesmal zum Auslöser einer ästhetischen und poetischen Zeitlosigkeit und Eigenzeitlichkeit wird, die nicht nur der noch erlebten DDR-Gegenwart entgegensteht, sondern auch der im November 1989 plötzlich einbrechenden Geschichte, die nur distanziert wahrgenommen wird. Die Insel Hiddensee als Ort des Übergangs und die dort ermöglichte Zeiterfahrung, so die Hypothese, figurieren einen Zwischenzustand und eine Zwischenzeit, die auch paradigmatisch für den Zeitenwechsel von 1989 stehen. In Lutz Seilers jüngstem Roman Stern 111 (2020) wiederum steht im Anschluss an Kruso der gesellschaftliche Umbruch von 1989 im Mittelpunkt, wobei auch hier Zeit wieder unterschiedlich repräsentiert wird: als Orientierungslosigkeit, als utopischer Raum der Möglichkeiten und erneut als poetische Eigenzeit, die auch Bilder des Übergangs und der »Passage« aufruft. Der zweite Teil dieser Arbeit ist dem Werk Julia Schochs gewidmet, in dem ebenfalls die Behauptung einer eigenen, selbstbestimmten Lebenszeit angesichts 122 Im Folgenden werden für die drei AutorInnen immer wieder explizite und implizite Bezüge zur DDR-Literatur sowie Kontinuitäten und Diskontinuitäten herausgearbeitet, insofern damit auch zeitliche Implikationen verbunden sind. Das durchaus bemerkenswerte Phänomen eines Rückbezugs auf ganz unterschiedliche Aspekte der DDR-Literatur, was sich teilweise auch in einem emphatischen Literaturverständnis auszeichnet, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich und gesondert behandelt werden. 123 Die Tatsache, dass Zeit im untersuchten Korpus gelegentlich auch an eine bestimmte Raumsemantik gebunden ist, ändert nichts an der temporalen Ausrichtung der Analyse. Raumsymbole gehören zu den ästhetischen Möglichkeiten der Repräsentation von Zeit.

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Einleitung

unterschiedlicher gesellschaftlicher Realitäten im Mittelpunkt steht. Diese Eigenzeit wird sowohl im Kontext der DDR als auch in der Zeit des Umbruchs und in den darauffolgenden Transformationsjahren verteidigt. Im Gegensatz zu Seilers Werk ist die Zeit nach 1989 in Julia Schochs Erzählungen und Romanen zentral, so dass dieser Teil der Arbeit eine Akzentsetzung auf die Analyse der Zeitwahrnehmung der ›Gegenwart‹ nach 1989 unternimmt, wobei die Prägungen durch die Vergangenheit jedoch eine wesentliche Rolle spielen. Zunächst wird anhand der Erzählungen aus Schochs Debüt Der Körper des Salamanders (2001) nach der Zeiterfahrung in Bezug auf die DDR und nach der Wahrnehmung des gesellschaftlichen Umbruchs als Zäsur oder Kontinuität gefragt. Julia Schochs Romane entwerfen dann unterschiedliche Szenarien der Auseinandersetzung mit einer als unzulänglich empfundenen Gegenwart nach 1989. Während Lutz Seilers Werk poetologischen Mikroanalysen unterzogen wird, die Aufschluss über dessen semantisches Potential hinsichtlich der Figuration von Zeitwahrnehmung vor und nach 1989 geben, können Julia Schochs Texte stärker im Zusammenhang mit zeitsoziologischen Befunden gelesen werden. So werden Figuren und Handlungszusammenhänge entworfen, die vor dem Hintergrund bestimmter soziologischer und zeitphilosophischer Konzepte wie der »erstreckten« oder »breiten« Gegenwart (Helga Nowotny, Hans Ulrich Gumbrecht), dem »rasenden Stillstand« (Paul Virilio) oder der »situativen Identität« und dem Spielertypus (Hartmut Rosa) verstanden werden können, ohne dass die Texte simple Illustrationen solcher Konzepte wären. Während in Julia Schochs erstem Roman Verabredungen mit Mattok (2004) ein Schiffbruch samt Umweltkatastrophe zur Parabel einer blockierten Zukunft wird und die Figuren in einer Gegenwart leben, die ihnen als »Endlosschleife« erscheint, wird in ihrem zweiten Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009) eine Figur konstruiert, die an dieser Gegenwart zugrunde geht, nachdem sie vergeblich versuchte, sich in vergangene Zeiten und frühere Zukunftsvorstellungen zu flüchten. Die nicht gelebte Zukunft als Möglichkeitsraum ist hier ein wichtiger Topos, die Figur wird zu einem in der Vergangenheit verankerten »Zeitträger«.124 Auch Selbstporträt mit Bonaparte (2012) entwirft Figuren und Situationen mit einem bestimmten zeitsemantischen Potential, die hier als Spielertypen in einer von Zufall und Unbeständigkeit geprägten Gegenwart fungieren und deren Vorstellung von Geschichte sich durch den erfahrenen gesellschaftlichen Bruch und das plötzliche Abbrechen einer vorgezeichneten Linearität als episodenhaft herausstellt. Obwohl auch Julia Schochs bisher letzter Roman Schöne Seelen und Komplizen (2018) den gesellschaftlichen Umbruch von 1989 thematisiert, wird dieser Roman nicht in das Korpus aufgenommen. Durch sein multiperspektivisches Erzählen, das den Blickwinkel unterschiedlicher Figuren einer Schulklasse in den 124 Vgl. La˘can 2015.

Gliederung

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Jahren von 1989–1992 und circa dreißig Jahre später wiedergibt, kann er als beispielhaft für die »Aushandlung von Kollektivgedächtnis, von kollektiver Identität und Alterität«125 gelten, doch werden Zeitreflexionen lediglich im Erzähldiskurs der Figuren thematisiert, ohne dass dieser Zeitthematik im Roman eine eigene künstlerische Form verliehen würde. Der dritte und letzte Teil erweitert mit dem Werk Jenny Erpenbecks noch einmal den Blickwinkel, da es über den Kontext des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989 hinausgeht. Die drei hier untersuchten Texte repräsentieren paradigmatisch unterschiedliche Formen des Wandels der Zeit und stellen in ihrer chronologischen Abfolge stilistisch sowie thematisch auch eine Entwicklung im Schreiben der Autorin dar.126 Erpenbecks ohne Genrebezeichnung veröffentlichtes Debüt Geschichte vom alten Kind (1999) repräsentiert zeitlichen Wandel durch das literarische Motiv der Verwandlung. Obwohl der Text offen und relativ frei von außertextuellen Referenzen ist, kann er als Figuration des Umbruchs gelesen werden, insofern das Motiv der Metamorphose auch den Konflikt von Lebenszeit und historischer Zeit sowie deren Auswirkungen auf das Individuum hinterfragt. Während Lutz Seilers und Julia Schochs Figuren trotz einer reduzierten außertextuellen Referenzialität der Texte lebensweltliche Erfahrungen und Fragen einer möglichen Erinnerung an Vergangenes repräsentieren, erscheint die Figur bei Erpenbeck von solchen Aspekten losgelöst, das Experiment der Verwandlung stellt gewissermaßen eine literarische Versuchsanordnung dar, die als paradigmatisches Beispiel einer nichtreferentiellen Darstellung des Umbruchs von 1989 gelesen werden kann. Da die erzählerischen Verfahren in diesem Text in Hinblick auf die Zeitproblematik stark bedeutungstragend sind, wird die Erzählung im Gegensatz zu den anderen Werken des Korpus einem close reading und einer genaueren narratologischen Analyse unterzogen, wodurch erkennbar wird, wie Zeit hier erzählt wird. In den beiden darauffolgenden Romanen ändert sich die Perspektive, da sie weit über das Thema des gesellschaftlichen Umbruchs hinausgehen, wobei Erpenbecks Schreibweise an Referenzialität gewinnt und stärker in historischen Realitäten verankert ist. Die Einbeziehung in das hier analysierte Korpus erklärt sich sowohl aus der Tatsache, dass die historischen Erfahrungen des Epochenumbruchs von 1989 dennoch in einzelnen Kapiteln verarbeitet werden und auch allgemein als Reflexion über die gescheiterten Utopien des zwanzigsten Jahr125 Zum Verfahren der Multiperspektivität in diesem Kontext vgl. Neumann 2005, S. 166, 167– 169. 126 Einige Erzählungen aus Tand (2003) werden ebenfalls einbezogen. Auf die Analyse der Romane Wörterbuch (2005) und Gehen ging gegangen (2015) wurde wegen der jeweiligen besonderen thematischen Ausrichtung auf die argentinische Militärdiktatur bzw. die Flüchtlingsthematik verzichtet, obwohl auch dort Überlegungen zum Thema Zeit eine wichtige Rolle spielen.

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hunderts in die Texte eingehen. Außerdem enthalten die Romane Themen und ästhetische Elemente, die in der Erfahrung des Zeitenbruchs gründen. Der Roman Heimsuchung (2008) geht vor der Folie einer Verflechtung von natürlicher, mythischer und historischer Zeit dem Schicksal eines Grundstücks sowie dem darauf errichteten Haus und dessen Bewohnern in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kontexten nach, während der Roman Aller Tage Abend (2012) Alternativgeschichten ein und desselben Lebens entwirft und dadurch Fragen nach einer möglichen, immer wieder neu einsetzenden Geschichte aufwirft. Die biographische Grunderfahrung des Umbruchs von 1989 und eines Einschnitts in die bisher gelebte Zeit wird in beiden Werken literarisch vermittelt und bildet sozusagen eine erzählerische Matrix, die auf unterschiedliche Weise variiert wird. Insofern bewirkt der erlebte Zeitenbruch auch eine Ästhetik des Bruchs, die über das Ereignis 1989 hinaus auf die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts bezogen wird und auch die durch die Romane vermittelte Geschichtsvision prägt.

1.

Im »Schichtenwerk der Zeit«. Vergegenwärtigung von Vergangenem und Zeit des Übergangs in Lutz Seilers Prosa

Das Thema der Zeit ist in Lutz Seilers Werk durchgehend präsent, von seiner Lyrik über die Essays bis hin zu den Erzählungen und Romanen. Seilers erster Prosaband Die Zeitwaage (2009) trägt bereits im Titel Hinweise auf die Bedeutung von Zeit und Zeitwahrnehmung in den dort versammelten Erzählungen. Handelt es sich bei der Zeitwaage um ein Gerät, das der Uhrmacher benutzt, um Unregelmäßigkeiten beim Gang einer Uhr festzustellen, so entfaltet der Begriff bei Seiler seine ganze metaphorische Tiefe: was wiegt die Zeit, wie schwer wiegt Zeit, vornehmlich die vergangene Zeit vor dem Erfahrungshintergrund der DDR. Wie kann Literatur Zeit wahrnehmbar machen, wie kann sie – darin der mechanischen Zeitwaage verwandt – die Diskontinuitäten, die »schwankende[n] Momente«127 der Geschichte aufzeichnen? Lutz Seiler wurde zunächst als Lyriker bekannt, in seinen Gedichten ist Zeit von Anfang an ein wiederkehrendes Motiv, so in dem 2000 erschienenen Band pech & blende: Zeit erscheint dort als Erinnerungsspeicher für Vergangenes und Rückzugsgebiet des Ichs, als drohende, das Lebensende anmahnende Uhr oder als eine sich dem Regelwerk der Uhr gerade entziehende Zeit.128 Poetologisch hat Seiler die zeitliche Dimension des Gedichts als Spannungsraum zwischen Gegenwart und Vergangenheit in ganz Benjamin’schem Duktus einmal so beschrieben: »Jedes Gedicht ist auf der Suche nach einer Vergangenheit, die zu dem Moment der Gegenwart gehört, in dem es erstmals aufleuchtete. Sein Faszinosum ist, dass Zeit vergeht.«129 Im Gespräch mit Michael Opitz hat Seiler dieses »Faszinosum« der vergehenden Zeit noch einmal genauer als eine den Schreibprozess animierende Distanz und eine besondere Dynamik zwischen Gegenwart und Vergangenheit umrissen: 127 Seiler 2009, S. 269. Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf den Band Die Zeitwaage beziehen, mit der Sigle ZW direkt im Text angeführt. Alle Hervorhebungen im Original. 128 So z. B. in den Gedichten »haldenglühn« (S. 19), »pech & plende« (S. 37) oder »potjomkins dorf« (S. 43), in: Seiler 2000. 129 Kasaty 2007, S. 385.

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Im »Schichtenwerk der Zeit«

Das ist unglaublich, dass Zeit vergeht. Und indem Zeit vergeht, gibt es einen Abstand und der Abstand macht etwas. Er verändert die Figuren, er verändert uns selbst. Es gibt eine neue Korrelation im Blick aus der Gegenwart in die Vergangenheit hinein, und das ist das Feld des Schreibens. […] Genau diese Spanne aus gegenwärtigem Schauen, Denken, Überlegen, hin zu dem, was wir glauben, was in der Vergangenheit gewesen sein soll.130

Auch in Lutz Seilers 2004 unter dem Titel Sonntags dachte ich an Gott versammelten Aufsätzen findet man durchgehend Reflexionen zur Zeit, zum Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart im Gedicht, zur Arbeit am Gedicht als »Investition von Zeit«, zur »Zeitkraft des Gedichts« und dem dortigen »Entfalten der Zeitschichten«.131 Doch reflektieren die Essays auch die Veränderungen, die der gesellschaftliche Umbruch nach 1989 mit sich brachte. In dem Peter Huchel und seinem Haus in Wilhelmshorst gewidmeten Aufsatz »Im Kieferngewölbe« (2003) beschreibt Seiler, wie der Ort – einst weit entfernt vom Machtzentrum Ost-Berlin und Symbol einer widerständigen Eigenzeitlichkeit – nach 1989 in den Sog der grundlegenden Veränderungen gerät, wobei »Unruhe« die Landschaft und Vegetation ergreift und den viel beschriebenen Beschleunigungszuwachs der neuen Zeit versinnbildlicht: Eine Unruhe scheint unter den Hügeln der Moränen zu liegen, ein Gemurmel, Beschwörungen bis in die Spitzen der Nesseln, bis in die Köpfe der Vermesser, bis in ihre Pflöcke. Bei jedem Hinsehen ist etwas verschwunden, Banderolen an den Stämmen zeigen an, was jetzt zu roden ist. Lückenbebauung, Ausweitung der Besiedlungsgrenze, Ausschreibung der neuen Bauerwartungsräume.132

Seiler fasst die Mentalität der Zeit des Umbruchs in einem dichten Bild zusammen: Altes verschwindet, Leerstellen – die auch mögliche Öffnungen und Freiräume des Denkens repräsentieren – werden schnell ausgefüllt und die Räume der Zukunft zugebaut. Zeit existiert nunmehr rein marktwirtschaftlich. Erscheinen die neuen ökonomischen Umstände nach 1989 und die Veränderung einer ganzen Infrastruktur in den Essais als Ursache einer Verschiebung der lebensweltlichen und biographischen Orientierungspunkte,133 so öffnen sie gleichzeitig den Blick auf Vergangenes und verstärken das Bewusstsein für die 130 131 132 133

Opitz 2011. ›Im Ankerglas‹, in: Seiler 2004, S. 125f. Zur Zeitthematik in den Essais vgl. Banoun 2011. ›Im Kieferngewölbe‹, in: Seiler 2004, S. 27. In dem Jürgen Becker gewidmeten Aufsatz ›Nie hört die Nachkriegszeit auf‹ (2003) schreibt Seiler über dessen Gedichte, sie thematisierten »das Gewordensein der Landschaft in der Geschichte, historische Zäsuren als Umwälzungen von Biographien und Landstrichen«. Zwar ist hier von der Nachkriegszeit die Rede, doch scheint diese Beschreibung auch auf Seilers eigene Erfahrungen zuzutreffen. Vgl. Seiler 2004, S. 67. Auch in Lutz Seilers Laudatio auf Jürgen Becker (2014) anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises scheinen Parallelen zu seinem eigenen Verständnis von Geschichte und vom Schreiben über Vergangenes auf.

Im »Schichtenwerk der Zeit«

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eigene Verortung in der Zeit. So werden zum Beispiel durch Straßenarbeiten auf der ehemaligen Transitstrecke Berlin-Wilhelmshorst »verschiedene Schichten, verschiedene Zeiten« freigelegt: »was dabei alles verschwand in kurzer Zeit und gleichzeitig sichtbar wurde. Eine archäologische Situation, ideal für ein Gedicht.«134 Aleida Assmann hat ein solches »Durchstoßen der Schichten«, eine historische Metapher seit der Renaissance, auch als einen »Sprung durch die Zeit«135 beschrieben. Das Bildfeld der Ausgrabung und der Archäologie ist zugleich eine Metapher für die nun möglich werdende Erinnerung, Walter Benjamin hat das Bild des Grabens, Ausgrabens und Umwühlens in seinem kurzen Text »Ausgraben und Erinnern« in den Denkbildern eindrücklich beschrieben.136 Im Huchel-Essai berichtet Seiler auch davon, dass er Anfang Januar 2000 seinen Christbaum in den Garten pflanzte, »meine erste eigene Pflanzung, die nun in diesem Schichtenwerk der Zeit den Jahrtausendwechsel markiert.«137 Verschiedene Schichten der Zeit werden durch die plötzlichen Veränderungen freigelegt und vermessen, gleichzeitig bringt der gesellschaftliche Umbruch das Bedürfnis hervor, sich selbst stärker in eine Zeit einzuschreiben, im Fortgang der Zeit seine eigene Existenz zu markieren. Lutz Seiler hat den gesellschaftlichen Umbruch von 1989 als »Zeitenwechsel« und »Zeitenwende mitten im eigenen Leben« beschrieben, die für ihn auch literarisch »verlockend« gewesen sei.138 Dabei geht es ihm vornehmlich darum, durch die Literatur erneut Zugang zu einer Vergangenheit zu finden, die definitiv beendet ist: Ein Teil der eigenen Geschichte ist plötzlich weg. Das ist auch eine Erfahrung, die die Wende beispielsweise mitbringt. Ein Teil der eigenen Geschichte verschwindet, wird unsichtbar, wird in relativ kurzer Zeit völlig überzeichnet, und das ist immer eine ständige Herausforderung für das Schreiben. Die Rekonstruktion von dem: Was war denn eigentlich? Was ist gewesen, wo komme ich her und wer war ich damals selbst?139

Wie diese Spannung zwischen einem Vorher und einem Nachher literarisch vermittelt wird, soll im Folgenden für Lutz Seilers Prosa untersucht werden. Dabei stehen einerseits im Erzählband Die Zeitwaage (2009) Fragen des Zugangs zur Vergangenheit und der ›Rettung‹ plötzlich verschwundener Geschichte im Zentrum, andererseits werden in den Romanen Kruso (2014) und Stern 111

134 Kasaty 2007, S. 386. Zur »vertikale[n] Dynamik« bei der »Erkundung des Gedächtnisraums« in Seilers Lyrik vgl. Di Rosa 2019, S. 175. 135 Assmann 2003, S. 172f. 136 Benjamin IV.1, 1991, S. 400f. Zum Benjamin-Bezug in Seilers Huchel-Aufsatz s. bereits Di Rosa 2019, S. 185. 137 ›Im Kieferngewölbe‹, in: Seiler 2004, S. 29. 138 Kasaty 2007, S. 364, 380. 139 Opitz 2011.

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(2020) Formen einer Zeit der Latenz und des Übergangs dargestellt, die den gesellschaftlichen Umbruch von 1989 figurieren.

1.1. Wenn Geschichte verschwindet. Zur Dynamik von Gegenwartserfahrung und Vergangenheit in Lutz Seilers Prosaband Die Zeitwaage (2009) Am Beispiel ausgewählter Erzählungen aus dem Band Die Zeitwaage werden zunächst drei Aspekte der literarischen Darstellung von Zeitwahrnehmung untersucht: erstens die erzählerische Inszenierung von Momenten des Übergangs als Stillstellung, die den Zugang zum Vergangenen ermöglicht, sowie Strategien der Detemporalisierung und der Enthistorisierung der Vergangenheit, zweitens die erzählerische Übersetzung des Benjamin’schen Konzepts des »Jetzt der Erkennbarkeit« in Formen narrativer Diskontinuität in der Erzählung »Gavroche« und drittens der ebenfalls auf Walter Benjamin zurückgehende Gedanke der literarischen ›Rettung‹ des Vergangenen und seiner nicht genutzten Potentiale in »Die Zeitwaage«.

1.1.1. Die Stillstellung der Gegenwart als Zugang zur Vergangenheit: Liminalität, Detemporalisierung und Enthistorisierung In mehreren Erzählungen des Bandes Die Zeitwaage erscheint die Gegenwart als vorwiegend unbefriedigend und problematisch: erzählt werden Trennungen, Vereinzelung, auch die Erfahrung von Aggressionen, die auf eine krisenhafte Wahrnehmung der gegenwärtigen Zeit durch die jeweiligen Figuren verweisen. In den ersten beiden Erzählungen »Frank« und »Im Geräusch«140 offenbart sich die trostlose Gegenwart während einer Urlaubsreise, die ein Paar kurz vor seiner Trennung mit der gemeinsamen Tochter an die Westküste der USA unternimmt. Anstatt die Pazifikküste zu genießen, fixiert die Hauptfigur in »Frank« nur den Asphalt, die unerträgliche Hitze und eine sich in einer Mülltonne verfangende Möwe (ZW, 8, 10, 11), die zum Symbol des Stillstands und des Gefangenseins in der Gegenwart wird. In der Folgeerzählung »Im Geräusch« führen die brennende Sonne und das intensive Licht zur Wahrnehmung einer »böse[n], ätzende[n] Gegenwart« (ZW, 23). Während die DDR und der ehemalige Osten in der amerikanischen Gegenwart in »Frank« als exotisches Restaurant mit »thüringischen 140 Diese Anordnung bezieht sich auf die Erstausgabe der Texte aus dem Jahr 2009. In der 2015 erschienenen Taschenbuchausgabe stehen die beiden Erzählungen an zweiter und dritter Stelle, während »Der Kapuzenkuss« den Band einleitet.

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Spezialitäten« präsent ist sowie als entpolitisierter Deko-Kitsch wohlhabender Amerikaner, die ein halbes Haus voller Leninbüsten besitzen (ZW, 10), scheint der Erzähler von »Im Geräusch« angesichts des Unbehagens an der Gegenwart und des Gedankens an ein »trostloses Später« (ZW, 33) immer wieder in eine Vergangenheit abzutauchen, die ihm Orientierung bietet und für ihn das einzig Authentische und Greifbare ist. Insofern empfinden Seilers Figuren, was Johannes Pause für zahlreiche Texte der Gegenwartsliteratur festgestellt hat: ihre prägende Erfahrung sei »[e]in regelrechtes Gefangensein in einem bildlichen, präsentischen, nicht distanzierbaren Jetzt« und die Sehnsucht nach einer »verlorenen zeitlichen ›Ordnung‹«.141 Diese Suche nach Anhaltspunkten relativiert in »Im Geräusch« auch die lang ersehnten politischen Veränderungen nach 1989: »Seit es für sie möglich geworden war, zu reisen, hatten sie sich mit jedem Ziel weiter hinausgewagt und, wie ihm schien, weiter voneinander entfernt, jetzt sehnte sich Färber nach irgendeiner Grenze.« (ZW, 36)142 Von einer Reise – diesmal in Richtung Osten – handelt auch die Erzählung »Turksib«: mit dem gleichnamigen Zug begibt sich der Erzähler auf eine Vortragsreise über »Städte im Nichts«, »Brasilia, Nairobi und dann zum Wesentlichen hin, dem Wunder Astana, der ›Hauptstadt der Steppe‹.« (ZW, 43, 44) Auch hier kommt eine gewisse Trostlosigkeit der Gegenwart zum Ausdruck, denn es ist von Orten die Rede, die nicht natürlich gewachsen sind und die durch fehlende historische Verwurzelung an Marc Augés Nicht-Orte143 erinnern, daher eher Unbehaustheit evozieren als Resonanzverhältnisse144 mit und in der Gegenwart. Schließlich wird auch in der Erzählung »Der Stotterer« die Gegenwart als eine Zeit und Welt dargestellt, von der sich die Erzählerfigur abzuschotten versucht. Der offenbar als Hausmeister arbeitende Erzähler zieht sich regelmäßig in seine eigene Welt zurück: »Ich schlurfe zwei oder drei Runden, und irgendwann bin ich wirklich allein, abwesend von allem, was vorn geschieht, vorn im Haus, auf der Straße oder sonstwo vorn auf der Welt.« (ZW, 135) Diese fehlende Teilhabe an der Gegenwart wird etwas später vom Erzähler mit ähnlichen Worten wiederholt und dadurch noch einmal akzentuiert: »Aber jetzt stehe ich hier, in meiner Garage hinter dem Haus; […] während die Dinge ihren Gang gehen, vorn im Haus und vorn auf der Straße und sonstwo vorn in der Welt.« (ZW, 145) In den Erzählungen weicht diese als unzulänglich und nicht sinnhaft empfundene Gegenwart plötzlich Erinnerungen an die Vergangenheit, die für die Figuren zu einem Zufluchtsort wird. Auffällig ist die Gestaltung des Moments des

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Pause 2012, S. 120f. Zum Thema der Grenze in einem ähnlichen Kontext vgl. das Kapitel zu Julia Schoch (2.1.3.). Augé 1994. Vgl. dazu Rosa 2016.

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Übergangs und die besondere Zeitlosigkeit, die diesem Moment des Innehaltens eignet. Liminalität und Zeitlosigkeit In einem Aufsatz zu Jürgen Becker hat Lutz Seiler in dessen Texten die »magischen Orte der Kindheit« hervorgehoben, die dort eine »›Portalfunktion‹ für das Erzählen« haben und zum »Medium fürs Eintauchen in die Geschichte«145 werden. Ein ähnliches »Eintauchen« in die Vergangenheit erleben auch die Figuren in Seilers Erzählungen, doch sind es dort neben Orten auch gegenwärtige Geräusche und Gerüche, Wörter aus der Kindheit sowie der sinnliche Kontakt mit bestimmten Gegenständen, die die Protagonisten der Gegenwart entziehen und ihnen den Zugang zur Vergangenheit gewähren. Für die Erzählungen gilt, was Michael Opitz bereits zu Lutz Seilers Lyrik angemerkt hatte: in ihr komme »Worten die Funktion von Weckrufen« zu, welche »Bilder wieder hervorrufen, die vergessen wurden.« Dabei erfolge »der Zugang zum Erinnerungsreservoir häufig über das Ohr. […] Im allgemeinen Gegenwartsrauschen sorgen seine Wörter für Störungen. Wie durch einen Handstreich können sie Gegenwärtiges wegwischen und Vergangenes zum Vorschein bringen.«146 In den hier analysierten Erzählungen wird der Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit durch Schwellenerfahrungen markiert, die angesichts der Beschleunigungserfahrung in der Gegenwart einer Verlangsamung und einer Stillstellung147 gleichkommen und zu Momenten der Zeitlosigkeit führen. Zur Beschreibung dieser besonderen Übergangserfahrung eignet sich das aus der Ethnologie stammende Konzept des Schwellenzustands,148 das hier aus seinem ursprünglichen Kontext der Übergangsriten und des sozialen Wandels herausgelöst wird, um die rein individuelle Wahrnehmungsebene der fiktionalen Protagonisten zu beschreiben.149 Victor Turner hat die spezifische Zeiterfahrung des Schwellenzustands mit dem Begriff der »anti-temporality« bezeichnet, was einem Herausfallen aus jeglicher zeitlichen Ordnung entspricht. Turner erinnert daran, dass Rituale darauf abzielen, die messbare Zeitlichkeit aufzuheben, um 145 ›Nie hört die Nachkriegszeit auf‹, in: Seiler 2004, S. 64. 146 Opitz 2015, S. 189. 147 Formen der Stillstellung, die – wie im nächsten Kapitel erläutert wird – auch mit Konzepten aus Benjamins Geschichtsphilosophie korrespondieren. 148 Als Schwellenzustand versteht man die mittlere Phase eines Übergangsrituals, das von Arnold van Gennep (Les rites de passage, 1909) als Prozess in drei Phasen beschrieben wurde (Ablösungs-, Zwischen- und Integrationsphase). Victor Turner hat im Anschluss an van Gennep diese Schwellenphase unter dem Begriff der Liminalität weiter theorisiert. Vgl. Wiest-Kellner 2004, S. 385f. 149 Victor Turner selbst verstand Literatur als bevorzugtes »Ausdrucksmedium liminaler Zustände«. Vgl. Wiest-Kellner 2004, S. 673.

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die Gegenwart von ihren Fehlern und Makeln zu befreien.150 Seine Untersuchung bezieht sich dabei auf die Funktion kultureller Repräsentationen, dank derer soziale Konflikte des Alltags durch eine Unterbrechung des normalen Rhythmus und durch Momente ritualer Zeitlosigkeit verarbeitet werden. Der Zustand der Liminalität entspreche einer »Zeit außerhalb der Zeit«, in der es erlaubt sei, mit Elementen soziokultureller Erfahrung zu spielen und sich von diesen zu lösen.151 Der Schwellenzustand entzieht sich den logischen Formen der alltäglichen Zeitrechnung und bietet Momente einer oft regenerierenden Zeitlosigkeit. Diese allgemeinen Überlegungen lassen sich auf die Protagonisten in Seilers Erzählungen übertragen, denen es auf individueller Ebene darum geht, den Rhythmus eines negativ erfahrenen Alltags zu unterbrechen. Die Figuren erleben plötzlich Momente, in denen sie sich – entsprechend der Zeitlichkeit liminaler Zustände – »[ j]enseits vertrauter Raum- und Zeitbegriffe«152 befinden, in einem »Zwischen als einem Übergangsort und einer Übergangszeit«.153 In der Erzählung »Im Geräusch« wird der bei einem Spaziergang am Pier einer kalifornischen Küstenstadt dem Gedränge und starker Reizüberflutung ausgesetzte Protagonist durch einen bestimmten Moment der Wahrnehmung, durch einen Ruf vom nahegelegenen Jahrmarkt, in einen anderen Zustand versetzt. Das Geräusch stellt die Gegenwart für einen Augenblick still und ermöglicht die Rückkehr in die Kindheit, den Übergang in eine wohltuende Vergangenheit: »[…] ein Schrei wie aus den Freibädern der Kindheit, der die Welt für eine Zehntelsekunde in Bernstein goß und den Blick freigab in einen kühlen Raum voller Abwesenheit, in den einzutreten sich Färber augenblicklich sehnte: weggehen, von allem.« (ZW, 21) Walter Benjamin hat in einem Fragment seines Passagen-Werks darauf hingewiesen, dass »[d]ie Schwelle […] ganz scharf von der Grenze zu scheiden [ist]. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen.« [O 2a, I].154 Benjamins Flutmetapher scheint in der Erzählung eine entsprechende Veranschaulichung zu finden, wird der Schwellenzustand in der Wahrnehmung des Protagonisten doch zunächst mit den kühlen Freibädern der Kindheit assoziiert, bevor sich der Protagonist in Gedanken von dem Geräusch treiben lässt, das plötzlich unter dem Pier von Wasserfluten erzeugt wird: Es brach mit einem Mal unter dem Pier hervor, ansatzlos, als hätte sich eine unsichtbare Schleuse geöffnet. Ein grauer Schwall umschloß den Unterbau, eine blasentreibende

150 Turner 1982, S. 244. 151 Ebd., S. 253. »But liminality is […] also […] a time outside time in which it is often permitted to play with the factors of sociocultural experience […]«. 152 Wiest-Kellner 2004, S. 385. 153 Waldenfels 2015, S. 218. 154 Benjamin V.1, 1991, S. 618.

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Flut, die aufs Meer hinauslief. In ihrem Strömen war alles verschmolzen […] … alles verschmolzen in einem einzigen, endlosen Geräusch. (ZW, 39)

Das rätselhafte Ende der Erzählung suggeriert ein Treiben der Figur im Wasser, oder auch nur im Geräusch, denn die Grenzen zwischen Traum und Realität werden unscharf. Während der Erzähler zunächst vom Rückflug der Familie und von der darauffolgenden Trennung des Paars berichtet,155 was literarisch in Form einer stark kondensierten und scheinbar »zukunftsgewissen Vorausdeutung«156 dargestellt wird, nimmt er dies im Anschluss wieder zurück: »So träumte es Färber, während er weiter hinaustrieb, eingehüllt, schwebend im Geräusch – ohne Luzie, ohne Teresa.« (ZW, 40) Dieser erzählerische Widerruf der »zukunftsgewissen Vorausdeutung« und deren Umkehrung ins gänzlich Ungewisse unterstreicht die Aufhebung jeglicher Zukunftsvorstellung und betont die Zeitlosigkeit der dargestellten Situation. Ein Treiben, ein Schweben im Wasser oder nur im Geräusch – entworfen wird ein Raum des Übergangs, der dem in der Erinnerung ersehnten »Raum voller Abwesenheit« (ZW, 21)157 ähnelt. Es ist ein Raum ohne jegliche Präsenz, ein zeitloser Raum, in den sich der von der Gegenwart bedrängte Protagonist zurückzieht. Eine weitere Form zeitloser Liminalität wird in Seilers Erzählung »Turksib« dargestellt. Dort ist es der sich durch menschenleere Landschaften in Richtung Osten und anscheinend in die Vergangenheit bewegende Zug gleichen Namens, der den Erzähler aufnimmt und verändert. Der Zug sei der eigentliche Protagonist, heißt es in der Diskussion der Jury zum Ingeborg-Bachmann-Preis, er führe die surreale Verfremdung herbei, die der Leser verspürt, ebenso eine »Zeitverwirrung« im Nebeneinanderstellen von »uralten kasachischen Bräuchen« und DDR-Erfahrungen.158 Der Zug wird als eine »Karawane vorsintflutlicher Blechkarossen« beschrieben, »Korridor um Korridor fügte sich zu einem provisorischen Schacht, der in eine zähe, ältere Zeitform zu führen schien.« (ZW, 48). Auch der Zug erscheint als ein Ort des Übergangs, der den Erzähler aus der Gegenwart

155 »Kurz vor Mitternacht flogen sie nach Hause, trennten sich, hatten eine schwere Zeit und dann wieder bessere Tage.« (ZW, 40). 156 Martinez/Scheffel (2009, S. 35–37) vervollständigen Genettes Überlegungen zu erzählerischen Anachronien unter Verweis auf Eberhard Lämmerts älteren und präziseren Ansatz, welcher im Falle der Genett’schen Prolepse eine »zukunftsgewisse« von einer »zukunftsungewissen Vorausdeutung« unterscheidet. 157 Der »Raum voller Abwesenheit« verweist in Seilers Werk auch immer wieder auf den Raum der Poesie, dem ebenfalls eine bestimmte Zeitlosigkeit eignet. Vgl. dazu die Analyse des Romans Kruso in Kap. 1.2.3. 158 So Martin Ebel in: Radisch 2007, S. 35.

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in die Vergangenheit befördert und ihm eine Zeitreise in die eigene Erinnerung erlaubt.159 Um den Zug betreten zu können, erwirbt der Erzähler vor der Abfahrt von »einem vermummten Händler« einen Geigerzähler, denn »[a]m Ende kam niemand umhin, für irgend etwas zu bezahlen; der Zähler war mein Einlaß in den Zug gewesen.« (ZW, 42) Doch der Geigerzähler hat nicht nur eine »Portalfunktion« im Sinne eines Tributs, das es vor der Reise zu entrichten gilt. Er wirkt wie ein rituales Objekt, das den Erzähler durch die von ihm hervorgebrachten Geräusche »verzaubert«, wie Seiler es im Gespräch formuliert, der »den Reisenden in andere Bewusstseinszustände [bringt]. […] Er möchte sich erinnern.«160 Er versetzt den Erzähler in einen besonderen Übergangszustand, der seine Wahrnehmung schärft. In der Erzählung selbst heißt es, dass »die Stimme des Zählers« dem Erzähler »offenbar [etwas] mitteilen wollte«, dieser ist »gebannt von einem außerordentlich tröstlichen Bild«, das die »wundersam[e] Melodie« des Geräts in ihm aufkommen lässt: »etwas, das ich nicht ganz erfassen konnte, ein Gesicht vielleicht, das noch schemenhaft blieb […]« (ZW, 42f.). Der Geigerzähler fördert vergessene Erinnerungen zu Tage,161 er verwandelt sich in einen »kleinen Erzähle[r]« (ZW, 44), der wie beim Aufspüren der Radioaktivität Unsichtbares registriert und übersetzt.162 Die ausschlaggebende Situation zur Wiedererlangung verdrängter Erinnerungen ist die Begegnung mit dem Heizer des Zugs, die ebenfalls in der für Schwellensituationen charakteristischen Zeitlosigkeit stattfindet, so als wären die beiden »mitten in ihrem Gruß aus der Zeit gefallen« (ZW, 52). Das unerwartete Zusammentreffen fördert beim Erzähler Erinnerungen zu Tage; vor allem der Geruch der Heizeruniform vergegenwärtigt vertraute Bilder und sinnliche Erfahrungen der Vergangenheit: Panisch rief ich mir Begriffe wie »Begegnung«, »Religion«, »Gastland«, »Befreier«, »Baikonur« und »Amur« ins Gedächtnis und augenblicklich, als hätte ich irgendwo auf meiner ziellosen Jagd tatsächlich das Zauberwort getroffen, offenbarte sich etwas Vertrautes: Im sauren, meine Nasenschleimhäute beizenden Geruch der Heizeruniform, aus den Ingredienzien dieses atemberaubenden Dunstes erstand das alte Sowjetkasino. Ich roch das Waffenöl und das Linol unterm Knie […]. (ZW, 54) 159 Die in den 1990er Jahren z. B. bei Kurt Drawert essayistisch beschriebenen »Zeitreisen« werden hier fiktionalisiert. Zur Reise in der Turksib als »rite de passage« und Metapher für einen Geburtsprozess, vgl. Egger 2015, S. 261. 160 Lutz Seiler im Gespräch mit Michael Opitz am 25. 01. 2008. Zitiert in: Opitz 2015, S. 190. 161 Miyazaki (2013, S. 132) interpretiert den Geigerzähler als eine »Figur, die auf den Druck der verdrängten DDR-Erinnerung verweist.« Dabei fokussiert sie realgeschichtlich die politische und militärische Vergangenheit der Uranlieferungen der DDR an die Sowjetunion, die der Erzähler verdrängen wolle (S. 184) und achtet kaum auf den poetologischen Gehalt des Geigerzählers bzw. auf die Fiktionalität und Parabelhaftigkeit der Erzählung. 162 Vgl. Opitz 2015, S. 190.

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Die Evokation der Proust’schen »mémoire involontaire« verbunden mit dem Eichendorff ’schen Zauberwort verleihen der Szene eine literaturgeschichtlich potenzierte Intensität, eine ästhetische Zeitlosigkeit,163 die den Gedanken eines Übergangs, das Übertreten einer Schwelle und den Eintritt in die vergangene Zeit metaphorisch noch einmal symbolisiert und akzentuiert. Sebastian Kleinschmidt hat für die besonderen Wahrnehmungszustände von Seilers Figuren, die den Blick auf die Welt verändern, den von den russischen Formalisten theorisierten Begriff der »Entautomatisierung« der Wahrnehmung in die Diskussion eingebracht.164 Dabei handelt es sich ursprünglich um die Möglichkeit der Kunst, die durch alltägliche Gesten und Gewohnheiten automatisierte Wahrnehmung von Dingen, die nicht mehr wirklich gesehen, sondern »an ihren ersten Merkmalen« erkannt werden, durch Verfahren künstlerischer Verfremdung aus diesem »Automatismus der Wahrnehmung« herauszulösen.165 Auf Figurenebene entsteht diese Entautomatisierung dadurch, dass einzelnen Gestalten eine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit zugeschrieben wird, die den Zugang zur Imagination, aber auch zur Erinnerung ermöglicht und sie auch in eine andere als die gegenwärtige Zeitlichkeit versetzt.166 Gleichzeitig werden in den Erzählungen alltägliche Situationen literarisch stark verfremdet und dadurch einer gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung entzogen. Während im oben zitierten Beispiel aus »Turksib« in den ideologisch belasteten Begriffen der Vergangenheit und dem penetranten Geruch einer Uniform literarische Anspielungen und dadurch poetische Elemente mitschwingen, so entsteht die literarische Verfremdung in den meisten Erzählungen durch die Poetisierung konkreter Alltagsgegenstände. Bei Viktor Sˇklovskij heißt es, dass »[d]er Gegenstand […] gleichsam verpackt an uns vorbei [geht]. Nach dem Platz, den er einnimmt, wissen wir, daß er da ist, aber wir sehen nur seine Oberfläche. Unter dem Einfluß einer solchen Wahrnehmung trocknet der Gegenstand aus […].«167 In Lutz Seilers Erzählungen hingegen werden die Gegenstände zum Leben erweckt, wie es das prominente Beispiel des Geigerzählers, des »kleinen Erzählers« 163 Vgl. dazu auch Kap. 1.2.3. 164 Kleinschmidt bezog dies zunächst auf die Narbe in der Erzählung »Der Kapuzenkuß«, ein infolge von Unfall und Krankheit entstandenes Wahrnehmungssensorium. Sebastian Kleinschmidt in der Diskussion auf der Lutz-Seiler-Tagung am 22. März 2019 im HeinrichHeine-Haus in Paris. Zu den Motiven des Unfalls, der Narbe und der sich daraus ergebenden verschärften Wahrnehmung, vgl. Arlaud 2020, insbes. S. 290f. 165 Sˇklovskij 1971, S. 13, 15. 166 Der von Miyazaki (2013, S. 184f.) für die Erzählung »Turksib« eingeführte Begriff des »Modus der halb-bewussten Erinnerungserzählung« wird dem besonderen Wahrnehmungszustand des Erzählers zwar gerecht, reduziert diesen Modus jedoch wie bereits angedeutet auf einen Ort historisch-konflikthafter Erinnerung. Vgl. auch Miyazaki 2013 (in: Goudin-Steinmann/Hähnel-Mesnard). 167 Sˇklovskij 1971, S. 13.

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(ZW, 44), der die Figur auf die Spuren ihrer Vergangenheit verweist, zeigt. Seilers Fokussierung auf Alltagsgegenstände entspricht Sˇklovskijs Vorstellung von einem künstlerischen Prinzip, dessen Merkmal es ist, »daß es absichtlich für eine von Automatismen befreite Wahrnehmung geschaffen ist […] und […] daß die Wahrnehmung bei ihm aufgehalten wird und ihre höchstmögliche Kraft und Dauer erreicht […].«168 Das »allgemein[e] Gesetz der Kunst« sei »Bremsung, Verzögerung«.169 Eine solche Verzögerung gegenwärtiger und alltäglicher Zeit ist Seilers Texten durch die Stillstellung von Wahrnehmung eingeschrieben, auf sein Plädoyer für die Langsamkeit in schnelllebiger Zeit wird noch zurückzukommen sein. In den Erzählungen gibt es jedoch noch zahlreiche andere Gegenstände, die nicht nur den Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit ermöglichen wie der Geigerzähler, sondern denen auch eine eigene Zeitlichkeit eingeschrieben ist. Objekte mit »Portalfunktion« und Zeitspeicher Auf die Bedeutung von Dingen und konkretem Material in seiner Lyrik ist Lutz Seiler im Gespräch mit Olga Kasaty eingegangen. Das Faktische und Konkrete diene in erster Linie dazu, dem Text eine bestimmte Aura zu verleihen. Dabei seien die »Dinge […] nicht in ihrer vergangenen Realität von Bedeutung, sondern als ein Bestandteil des Hörens oder Sehens, der Empfindung, die sie geprägt haben. Und diese Empfindung ist gegenwärtig, ist Gegenwart, nicht Vergangenheit.«170 Dinge sind nicht einfach materielle Zeugen der Vergangenheit, sondern auch hier spielt das »Faszinosum Zeit« hinein, der notwendige zeitliche Abstand, der die mit den Dingen verbundenen Empfindungen nach ihrer Beständigkeit und poetischen Wertigkeit befragt. In seinem Essay »Heimaten« hat Lutz Seiler auf die Bedeutung von Dingen in seiner Herkunftswelt aufmerksam gemacht, auf die »Dingwelt von gestern«,171 der er auf dem Hof der Großeltern begegnete, auf das traumhafte Spiel und die Gespräche mit den Dingen, die sich dadurch »veränderten« und »ihre persönliche Qualität [verrieten].«172 Diesen ganz besonderen Bezug zur Dingwelt, der Bernard Banoun zufolge durch eine »kontemplative Wahrnehmung« entsteht und auf eine genaue »Übereinstim-

168 Ebd., S. 31. 169 Ebd., S. 35. 170 Kasaty 2007, S. 393. Eine fast gleichlautende Passage findet man in Lutz Seilers Aufsatz ›Heimaten‹, in: Seiler 2004, S. 39. 171 Ebd., S. 38. 172 Ebd.

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mung zwischen dem Ich und den Dingen«173 abzielt, findet man auch in Seilers Prosatexten. In der Erzählung »Der Stotterer« sind zum Beispiel alltägliche Objekte von Bedeutung, zu denen der Erzähler im Gegensatz zum zufällig erworbenen Geigerzähler eine persönliche Beziehung hat. Die Erzählung beginnt mit der Beschreibung einer Garage, in der ein »fremd« wirkender Wagen, »[w]ie ein riesiges, glattes Fossil« (ZW, 128) steht. Es ist der Shiguli des Vaters, der Wagen aus DDR-Zeiten, den der Erzähler über die Jahre aufbewahrt hatte. Immer wieder zieht er sich auf dessen Rückbank zurück und erinnert sich dabei an vergangene Reisen: »ich liege eingerollt, die Knie angehockt, wie das Kind auf Reisen.« (ZW, 129) In der bereits beschriebenen Situation einer Gegenwart, die für den als Hausmeister arbeitenden Erzähler keine Sinnangebote enthält, erscheint der Wagen aus der Vergangenheit als eine Art schutzbietende Matrix und der Erzähler in der Position des ungeborenen Kindes. Zum Shiguli gehört auch das Werkzeug, eine besondere Bedeutung kommt dabei dem »Abstandsmesser« zur Prüfung der Zündkerzen zu, auch »Fühllehre« (ZW, 128) genannt – wie bei der »Zeitwaage« handelt es sich um einen der von Lutz Seiler geschätzten metaphorischen Begriffe, die sich auf ganz konkrete Werkzeuge beziehen, sich aber auch im übertragenen Sinne verwenden lassen.174 Die Berührung dieses kleinen Fächers aus Metallzungen und das »wundersam[e] Geräusch« beim Zusammenklappen erzeugen beim Erzähler »eine Erregung« und führen dazu, dass er »zurückfinde[t] in den Zustand der alten Andacht.« (ZW, 129) Eine ähnliche Wirkung hat das Wort Bowdenzüge: »(Bowdenzüge – wie ich dieses Wort noch immer liebe, eigentlich müßte das doch genügen, Bowdenzüge, und alles wäre gesagt.)« (ZW, 131). Der Shiguli, der Abstandmesser, das Wort Bowdenzüge sind in dieser Erzählung Gegenstände und Wörter, die den Erzähler in einen Zustand besonderer Wahrnehmungsfähigkeit versetzen und eine Zugangsmöglichkeit zur Vergangenheit bieten: Sie lösen in der Erzählung die Erinnerung an die titelgebende Figur des »Stotterers« aus, den rätselhaften und für die Entwicklung des Erzählers bedeutsamen Garagennachbarn der Kindheit. In seinem 2004 veröffentlichten Essai »Sonntags dachte ich an Gott« sind die in »Der Stotterer« beschriebenen Garagenerlebnisse aus autobiographischer

173 »Le but recherché est une parfaite adéquation entre le moi et les choses, une perception contemplative.« Banoun 2011, S. 539 (Falls nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von C. H.-M.). Banoun erwähnt ebenfalls die Bedeutung von Francis Ponge sowie Bezüge zwischen Seilers Poetik der Wahrnehmung und der romantischen Tradition der Einheit mit den Dingen. 174 Zur Bedeutung dieser »Matrix im Denken, die sich sowohl auf Apparaturen und Werkzeuge gelegt hat als auch in die Philosophie abgewandert ist« und den Einfluss der Kybernetik eines Max Bense, vgl. Studio LCB 2009 (Diskussion I), ab 22:00 min.

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Perspektive bereits literarisch präfiguriert.175 Über den Abstandsmesser liest man dort, dass er »zu den heiligen Dingen [gehört], zu einer Zeit, in der die Garage eine Art Kirche war.«176 Auch hier scheint dem Objekt eine fast rituelle Funktion zugesprochen zu werden, doch hat es eine zusätzliche Bedeutung, da es als eine Art Zeitspeicher fungiert. In ihm sind die Erfahrungen der Vergangenheit aufgehoben: das handwerkliche Wissen des Vaters, das dieser dem Sohn weitergab und das nun Teil von dessen Geschichte und Identität ist.177 Ein Zeitspeicher aber auch in dem Sinn, als das Werkzeug an eine Zeit erinnert, die Seiler als das »mechanische Zeitalter« bezeichnete,178 mit »völlig anderen Daseins- und Wahrnehmungsweisen, wenn man Dinge versteht, diese zum Begleiter werden, aus einer anderen Generation kommen«.179 Der »zeitliche Index« der teils veralteten Gegenstände verweist hier nicht etwa auf deren Endlichkeit und Geschichtlichkeit,180 sondern auf den ihnen inhärenten Reichtum generationaler Erfahrung.181 Der Philosoph Bernhard Waldenfels hat in seine Beschreibung der »Modi sozialer Erfahrung« die »Mitwirkung der Dinge«182 miteinbezogen und davor gewarnt, dass der »Geschichtsverlust der Dinge auf das menschliche Leben [zurückschlägt]«: »Das Leben verliert seine zeitliche Tiefe und verarmt, wenn die Kurzlebigkeit zunimmt.«183 Gerade einer solchen Kurzlebigkeit stehen Seilers poetisierte Dinge entgegen, sie werden wie die Werkzeugkiste aus »Der Stotterer« »mitgeschleppt durch die Zeit« (ZW, 128), speichern diese Zeit ebenso wie Erfahrungen und haben eine eigene Biographie.184 Der Abstandsmesser, in der Erzählung ein Gegenstand mit »Portalfunktion«, der in einen anderen Wahrnehmungszustand und in die Vergangenheit überleitet, stellt der leeren Gegenwart eine sinnhafte Zeitlichkeit entgegen. 175 Seiler erklärt im Gespräch mit Kasaty (2007, S. 392), dass er »[ü]ber die Aufsätze […] ins Erzählen gekommen [ist], sie sind ja selbst schon mehr erzählende Texte.« Einige Passagen aus den Aufsätzen findet man fast wortwörtlich in den Erzählungen wieder. 176 Seiler 2004, S. 143. 177 Eine ähnliche Funktion kommt den Dingen auch in Seilers Roman Kruso zu. Als Ed zufällig auf altes Maurerwerkzeug stößt, kommen ihm folgende Zeilen aus Georg Trakls Gedicht »Anif« (1913) in den Sinn: »… das alte Gerät / Der Väter. / Dieses erschüttert die Brust des Fremdlings…«. (Seiler 2014, S. 173). 178 Vgl. Studio LCB 2009 (Gespräch), 20:00–21:00 min. 179 Lutz Seiler im Gespräch mit Studierenden an der Sorbonne Université, Paris, 21. 03. 2019. 180 Vgl. zu dieser Interpretation der Zeitlichkeit von Gegenständen Hühn 2014, S. 41. 181 Im Gegensatz dazu hat Stephan Pabst in Lutz Seilers Lyrik Spuren des »Veralten[s] lebensweltlichen Wissens« herausgearbeitet, die zur Hermetik seiner Gedichte beitragen. Es handelt sich um DDR-spezifische Erfahrungen, die als »veraltetes Minderheitenwissen immer weniger kommunikabel« sind. Seilers Lyrik bilde insofern auch den »Prozess des Hermetischwerdens eines bestimmten Wörterbuchs [ab].« Pabst 2019, S. 213, 214, 217. 182 Waldenfels 2015, S. 230. 183 Ebd., S. 254. 184 Zur Bedeutung des biographischen Werts von Objekten in der jüngeren Anthropologie vgl. Debary 2019, S. 136f.

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Bisher wurde für die untersuchten Erzählungen beschrieben, wie die Figuren sich negativen Gegenwartserfahrungen entziehen, indem sie über Geräusche, Gerüche und bestimmte Gegenstände in einen Schwellenzustand der Zeitlosigkeit geraten, der ihre Wahrnehmung verändert und dadurch Zugang zu Bereichen der Vergangenheit ermöglicht. Dadurch entsteht im Grunde eine paradoxe Situation: die Übergangssituation eines liminalen Zustands entspricht in der Regel einer Bewegung vom Bekannten ins Unbekannte,185 während hier die Rückkehr in die vertraute Vergangenheit, oft die Kindheit, eingeleitet wird. Allerdings haftet den liminalen Situationen ebenso wie den Erinnerungen an die Vergangenheit selbst etwas Fremdes an, das durch den wiederkehrenden Rückgriff auf Motive des Archaischen und Mythischen erzeugt wird. Die für den Schwellenzustand beschriebene Zeitlosigkeit wird dadurch in eine andere Form der entzeitlichten Wahrnehmung übergehen, die einerseits die gegenwärtige Zeiterfahrung der Figuren betrifft und andererseits der Symbolisierung des Vergangenen dient. Motive des Archaischen und Mythischen Auf der Ebene der erzählten Gegenwart dienen die Motive des Archaischen und Mythischen einer Abschottung von dieser als negativ erfahrenen Zeit. In der Erzählung »Im Geräusch« werden durch die seltsame Seifenblasenmaschine eines Indios plötzlich Kindheitserinnerungen hervorgerufen. Die geheimnisvolle Essenz der Maschine enthält die »Botschaft der Ahnen« (ZW, 26) und lässt auch bei der Figur synästhetische Bilder aus der Vergangenheit aufsteigen: »er roch die Schlafkammer seiner Großeltern, er roch, wie er als Kind zwischen ihnen gelegen hatte […]« (ZW, 27). Sowohl der die Maschine betreibende Indio mit traditioneller Körperbemalung als auch die »Stammesmaschine« (ZW, 39) selbst scheinen archaischen Urzeiten zu entspringen. Die »einen verwirrenden Anblick« bietende Maschine aus zahlreichen Einzelteilen, »die auf undurchsichtige Weise ineinandergriffen« (ZW, 25), erinnert an Claude Lévi-Strauss’ Konzept des »bricolage« als Ausdruck eines »wilden Denkens« und mythischer Weltvorstellung.186 Während sich der Protagonist durch den Indio entmächtigt fühlt, da dieser seine Tochter in einer übergroßen Seifenblase verschwinden lässt, ist er gleichzeitig wie gebannt. Hatte ihn der »Hello father, hello!«-Ruf (ZW, 25) des Mannes bereits seltsam berührt, so betören ihn die Worte des Indios zunehmend:

185 Waldenfels definiert im Kapitel »Fremdheitsschwellen« die Schwelle als »Zwischenzone, die zwei heterogene Bereiche voneinander scheidet, von denen der eine als der eigene und vertraute, der andere als der fremde, fremdartige und dubiose markiert wird.« (Waldenfels 2015, S. 211). 186 Vgl. Lévi-Strauss 1990.

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Aber das Father-Vater füllte ihn angenehm aus, es war das alte, das älteste Sprechen, es stimmte ihn ein auf a, auf ach, auf ja, auf jenes staunende, stöhnende, köstliche a-a-a… ein Urklang, der ihn taub machte für das Geschrei, den Beifall und das ganze unsinnige Treiben ringsum […]. (ZW, 37)

Das durch den Indio bis zu ihm getragene »älteste« Sprechen, der archaische »Urklang« schotten den Protagonisten ab und verbinden ihn mit einer mythischen Urzeit, die ihn schützend einhüllt und der hektischen Gegenwart entzieht. So entspricht die durch das Sprechen und die Töne evozierte mythische Zeitkapsel fast spiegelbildlich der gesamten Seifenblasenszene. Die überdimensionierte und dadurch irreal wirkende Seifenblase, die sich über dem Scheitel der Tochter schließt und mit den Worten Seilers einen »umgekehrten Geburtsvorgang« darstellt,187 wurde von Ursula März auch als im Entstehen begriffene Allegorie bezeichnet.188 In diesem Sinne wäre die Seifenblase nicht nur die das eigene Kind verschlingende Seifenlauge, die den Protagonisten verunsichert und ängstigt, sondern auch der Sehnsuchtsort der Kindheit, die Zeit des eigenen Ursprungs und Werdens, zu dem es ihn unausweichlich hinzieht. Als Lutz Seiler 2007 mit der Erzählung »Turksib« den Ingeborg-BachmannPreis gewann, unterstrichen die Mitglieder der Jury einstimmig die mythische Dimension des Textes.189 Gleich zu Beginn der Erzählung lassen die vom Zug und den Stößen der Gleise verursachten Töne bereits an eine Art »Urgeräusch« bzw. »anthropomorph-mythische Geräusche«190 denken und erzeugen eine Atmosphäre des Unheimlichen und Irrealen: »Aus dem kotbespritzten Stahlpott dröhnte ein metallisches Winseln und Fauchen auf, in dem sich ab und zu auch Gelächter Luft zu machen schien […]« (ZW, 41). Aus archaischen Urzeiten tauchen auch der kasachische Dombraspieler und seine dreizehnjährige Tochter auf, die »kleine, glänzende Mumie« (ZW, 43) – beide erinnern entfernt an Mignon und den Harfner aus Goethes Wilhelm Meister. Der Samowar im Waggon ähnelt – wie bereits die Seifenblasenmaschine – einem vorsintflutlichen Gerät, vor dessen Ausströmungen sich der Erzähler wie vor unsichtbaren Dämonen zu schützen versucht: Sein Kessel war eingebunden in ein Geflecht aus Rohren und Ventilen, wo pausenlos ein fettig schillernder Dampf austrat, der den Gang hinunterwaberte. In der Befürchtung irgendeiner Berührung, von etwas Feuchtem, Lebigen vielleicht, das es auf der Stelle abzuschütteln gälte, hielt ich die Lippen fest aufeinandergepreßt. (ZW, 47) 187 Vgl. Studio LCB 2009 (Diskussion I), ab 20:00 min. 188 Ebd., ab 18:50 min. 189 So ist in der Diskussion der Jury vom »Übergang von sinnlicher Wirklichkeit zum Mythos« die Rede (Iris Radisch), vom »mythischen Zug« (Daniela Strigl), der »mythische[n] Ebene« (Ilma Rakusa) und von »mythisch starke[n], archaische[n] Gefühle[n]« (Ijoma Mangold). Radisch 2007, S. 34, 36, 38. 190 So Renner 2011, S. 6f.

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Im »Schichtenwerk der Zeit«

Im undurchsichtigen Nebel des Samowars erscheint dem Erzähler die Figur des Heizers, Sinnbild der eigenen verdrängten Vergangenheit, so als käme er aus der Tiefe einer mythischen Zeit. Die bereits beschriebene Erinnerungsszene wird von Heines Loreley überlagert und verdichtet, einer ebenfalls mythischen und märchenhaften Figur. Dieses »Märchen aus alten Zeiten« ist das dem Heizer ganz eigene »Klagelied« (ZW, 52), das auch den Erzähler in Bann hält, da er ihm den vergessenen Vers in Erinnerung rufen muss: »Das-kommt-mir-nicht-aus-demSinn« (ZW, 52). Im Anschluss an eine ungewollte Umarmung mit sozialistischem »Bruderkuss« und einem Sturz im engen Korridor des Waggons sieht der Erzähler nunmehr nur noch eine weitere irreale Szene, denn der Heizer und der Kondukteur gingen »den vernebelten Korridor hinunter und lösten sich auf im Wasserdampf des Samowars« (ZW, 58). In seinem Abteil erscheint ihm der Heizer in Gedanken dann selbst als mythische und archaische Figur, die Assoziation mit Ofen und Feuerklappen evoziert den Eintritt in die Unterwelt: »[…] ich schmeckte den Heizer, ich sah, wie er die Feuerklappe aufriß und ohne Halt Kohle in seinen Ofen warf […]« (ZW, 58). Am Ende der Erzählung ist der ganze Waggon in eine mythisch anmutende Feuerglut eingetaucht, zwischen den Gardinen entdeckt der Erzähler »eine Flut von dunkelroten Punkten – aber das war nur ein Schweif von Glut, der den Waggon umhüllte.« (ebd.) Wenn die roten Punkte wieder an den Geigerzähler erinnern, der den Erzähler als Resonanzraum der wiedererlangten Erinnerung begleitet, so suggeriert die gesamte Szene, dass diese Erinnerung nunmehr »fortglomm« (ebd.), wie es heißt, doch in einem außerhalb der gegenwärtig erfahrbaren Zeit liegenden Raum, auf gewisse Weise zeitenhoben. Diese scheinbar mythologische Zeit, die die Erzählung einer realen Zeitlichkeit entzieht und ihr dadurch auch allegorische Züge verleiht, wird außerdem vom Rhythmus der literarischen Zeit sekundiert, da die Begegnungen und Erinnerungen vorwiegend literarisch vermittelt werden, durch Heines »Loreley«, Goethes Mignon, Kafkas Heizer und Eichendorffs Zauberwort. Während in den Erzählungen »Im Geräusch« und »Turksib« die Begegnung mit archaischen Figuren und die Evokation mythischer Zeitlichkeit auf einer gegenwärtigen Handlungsebene erfolgt und das Archaische und Mythische als Allegorien eines Urzustands gelesen werden können, in den sich die Protagonisten zurücksehnen und in dem sie wie in einem Schutzraum zu sich selbst kommen, wird in anderen Erzählungen die erzählte Vergangenheit selbst in mythische Sphären getaucht. Fast spiegelbildlich zur Figur des Indios in der Erzählung »Im Geräusch« erscheint die Figur des Stotterers aus der gleichnamigen Erzählung. Doch nicht das archaisch wirkende fremde Andere bannt den Erzähler beim Kontakt mit dieser Figur, sondern das Naiv-Kindliche des eigenartigen Garagennachbarn, dem der Erzähler in seiner Kindheit jeden Sonntag begegnete. Der Stotterer führt

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seltsame, unverständliche Gespräche mit seinem Wagen und gibt dabei unartikulierte Laute von sich: Ich folgte der auf- und abwogenden Melodie seiner Stimme, alles in allem eine ganz normale Stimme, aber es gab auch eigenartig hohe, silbrige Töne darin, geformt in jahrhundertelanger Isolation, fern jeder Zivilisation… Regungslos phantasierte ich in die fensterlose Tiefe der Garage, wo sich die Eingeborenen versammelten, um dem Palaver ihres Ältesten zu lauschen. (ZW, 132)

Auch hier spielen das für Seilers Poetik wichtige Geräusch, ein »ältestes Sprechen« und eine Stimme, eine wesentliche Rolle. Sie faszinierten den Erzähler in seiner Jugend, als er sich den Nachbarn in eine mythische Ferne und an den Anfang der Zivilisation imaginiert. Die Begegnung mit dem Stotterer bekommt im Laufe der Erzählung die Funktion eines Initiationsritus: während der Erzähler dem Nachbarn auf dem Nachhauseweg heimlich folgt und dabei dessen Zigarettenrauch einatmet, wird er im Windschatten dieses seltsamen Stotterers erwachsen: Auf meinem Weg von der Garage nach Hause entfernte ich mich auf unumkehrbare Weise von dem, was mein bisheriges Leben ausgemacht hatte. Ich betrat einen leeren und erinnerungslosen Raum und kam gut darin voran, Schritt für Schritt, und gewissermaßen, Zug um Zug. Je tiefer ich einatmete, umso entschlossener fühlte ich mich. Im Rücken des Stotterers hatte ich den guten, bitteren Vorgeschmack einer künftigen Zeit auf der Zunge. […] Ich war unterwegs, ein Mann, der vorankam […]. (ZW, 144)

Wieder ist es eine archaische, fast mythische Figur, die zunächst eine Art zeitlosen Raum entstehen lässt, doch während sich in der Erzählung »Im Geräusch« in dieser Zeitlosigkeit die Verheißungen der Kindheit abzeichneten, sind es hier noch diejenigen der Zukunft, die jedoch nicht dem geradlinigen Zeitstrahl offizieller Versprechen folgt, sondern individuell bestimmt ist und auch einen »bitteren« Geschmack haben kann. Mythische Elemente charakterisieren auch die Erzählung »Der Kapuzenkuß«, die sich der in »Turksib« entwickelten Unterweltperspektive annähert, denn auch hier spielt eine Heizung eine wesentliche Rolle. Die Gegenwartsperspektive ist hier nur in den Kommentaren des Erzählers präsent, der sich gelegentlich zu vergangenen Ereignissen äußert. Dass die erzählte Kindheit in mythischer Ferne liegt, wird zunächst durch die Beschreibung des Schulgebäudes suggeriert. Die »verschiedenen Längs- und Querflure« erscheinen dem Kind als Labyrinth, das es nicht überblicken kann und in dem sich klare Gedanken in »Träumerei« verwandeln (ZW, 60). Um in das Gebäude zu gelangen, muss man ein Portal durchschreiten, über das zwei »braun[e] Steinkinder« wachen, »Hans und Margarethe«, die Wappenkinder der früheren Anstalt (ZW, 62). Auch hier wird der Zutritt zur Schule als Schwelle beschrieben, frisch gefallener Schnee macht zeitweise »die Stufen zur Schultür unberührbar.« (ZW, 65). Zentral für das Kind

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Im »Schichtenwerk der Zeit«

ist der Keller, die sogenannten »Katakomben«, aus dem es »den betörenden Geruch der Verbrennungen ein[sog]…« (ZW, 66). Dort befindet sich das Büro des Hausmeisters, der in Anlehnung an Victor Hugos Quasimodo als Glöckner bezeichnet wird und die Kinder verängstigt, wenn sie bei ihm vorstellig werden, um verlorene Sachen wiederzubekommen. Der Erzähler beobachtet die »stählernen Feuerklappen der Zentralheizung« hinter dem »Lehnstuhl des Hausmeisters« (ZW, 69), der mit dem Kinderopfer verlangenden Gott Moloch assoziiert wird: Manchmal schnellte er unvermittelt von seinem Thron aus Kinderstühlen empor, und wie eine Drohung ließ er die Ofenklappe zur Zentralheizung aufspringen, um eine Schaufel Kohle oder Koks in die Glut zu schleudern […]. (ZW, 70)

Während die durch die Schulheizung verursachten Rauchschwaden die ganze Schule in einen dichten Nebel hüllen, verändern diese auch die Wahrnehmungsfähigkeit des Kindes, das in ihnen – darin dem Samowardampf in »Turksib« nicht unähnlich – »seltsam körperlich[e], fettglänzend[e] Gebilde« (ZW, 79) erkennt. Geschichte als Palimpsest und Funktion des Mythischen Wird die erinnerte Kindheit ins Irreale und in mythische Ferne versetzt, reflektiert der Text dennoch auch konkrete Alltagsgeschichte. Da sind zum Beispiel die regelmäßigen Ranzenkontrollen, denen sich die Schüler unterziehen müssen und die an den DDR-Alltag erinnern, als es untersagt war, Fußballbilder, Aufkleber und Comics aus dem Westen, sogenannten »Schund&Schmutz« (ZW, 82), mit in die Schule zu bringen. Die Tatsache, dass trotz dieser autoritären Maßnahmen die Flut verbotener Gegenstände nie abbrach, wird im Rückblick vom Erzähler als »echte Teilhabe, eine klar erkennbare Rolle im Regelkreis der Schule« (ZW, 83) bezeichnet, als »Schuld, die sinnvoll zu unserem Leben beitrug, weil sie uns Konturen verlieh im grau dahinströmenden Magma dieser Zeit« (ZW, 83). Das Übertreten von Gesetzen und das Brechen von Regeln sind konstitutiv für die Herausbildung einer eigenen Identität, die sich dem alltäglichen Gleichmaß der Dinge und der Zeit entzieht, und gleichzeitig den Ofen des Hausmeisters nährt: das eingangs beschriebene mythische Bild der Opferung wird hier fortgesetzt. Die so auf sich genommene Schuld steht jedoch einer anderen Schuld gegenüber, »einer diffusen, ganz allgemeinen und offensichtlichen Schuldigkeit, die uns von Kindesbeinen an niederdrückte.« (ZW, 83) Seiler verweist auf die Schuldgefühle, die von autoritären Systemen vermittelt werden: in der DDR wurden »schon bei kleinsten Vergehen […] den Kindern […] die toten Antifaschisten vor Augen

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gehalten, die für ihre Zukunft gestorben seien… Eine schwere Hypothek«.191 Dieser Schuld sei nur zu entkommen, indem man tatsächlich schuldig würde.192 Trotz der mythischen und märchenhaften Grundstimmung werden DDRspezifische Prägungen reflektiert, wobei auch das Eingeschriebensein in eine ältere Geschichte, in verschiedene Zeitschichten, deutlich wird. So erfährt man über die Herkunft der Bewohner der sogenannten »Atomsiedlung«, zu der auch die Eltern des Erzählers gehören, dass sie alle »aus einem Dorf namens Culmitzsch, das man für den Uranbergbau geschleift hatte« (ZW, 64), stammten und ihnen »noch das laute Sprechen der ehemaligen Dörfler« (ZW, 80) zu eigen war.193 Das alte Leben muss dem neuen weichen – ein DDR-spezifischer Topos, der paradigmatisch in der Eingangsszene von Heiner Carows Film Die Legende von Paul und Paula aus dem Jahre 1973, ungefähr der Handlungszeit der Erzählung, dargestellt wird, als ein altes Haus gesprengt wird und den Blick auf Neubauten freigibt. Dazu schreibt Wolfgang Engler: »Das Neue stürzt das Alte ins Vergessen und wird bald selbst vergessen sein. Was droht, ist ein Gedächtnisverlust riesigen Ausmaßes, kollektive Amnesie. So wie die Häuser und Städte werden sich die Menschen gleichen, und eines Tages wird niemand mehr sagen können, wer er ist und woher er stammt.«194 Seilers Erzählungen, ebenso wie seine Gedichte, bewahren diese Herkunftsspuren bis heute. Zu diesen Spuren gehört auch die vor der Gründung der DDR liegende Zeit des Nationalsozialismus, an die nicht nur aus offizieller Perspektive durch den Antifaschisten Bruno Kühn als Namensgeber der Schule (ZW, 78) erinnert wird, sondern auch durch diskrete Hinweise auf die noch am Schulgebäude vorhandenen Zeichen aus dieser Zeit, so die im Heizungskeller durchschimmernde »alte Aufschrift […]: ›Luftschutzkeller‹« (ZW, 67) oder die »Steinkinder« über dem Portal der Schule, welche an nationalsozialistische Wertvorstellungen erinnern: »Hans schien Großes vorzuhaben. Er hatte etwas Grobes, Grimmiges, was zu einer, wie ich annahm, anderen, lange vergangenen Zeit gehörte; sein Anblick bereitete mir Unbehagen.« (ZW, 63)195 Seilers Erzählung stellt Geschichte als ein Palimpsest dar, dessen Schichten in der 191 Lutz Seiler in einem Brief an die italienische Literaturwissenschaftlerin Anna Chiarloni vom 24. 5. 2011. Zitiert in Chiarloni 2015, S. 179. 192 Ebd. Zum Motiv der Schuld in Seilers Werk, zur »eigenen Verschuldung« als »Weg in die Literatur« vgl. Arlaud 2020, S. 292f. 193 Banoun (2013, S. 258–260) hat unterstrichen, dass Seiler in seinen Texten die DDR nicht als gleichförmiges politisches Ganzes behandelt, sondern unterschiedliche Raum-Zeit-Gebilde darstellt, so z. B. das Dorf, das in der rückblickenden Erzählung als eine »Provinzheterotopie« erscheint. 194 Engler 1999, S. 175. 195 Die Beschreibung der Portalfiguren sowie anderer Szenen aus der Erzählung »Der Kapuzenkuß« finden sich poetisch kondensiert in Seilers Gedicht »beton« wieder (Seiler 2003, S. 49). Ein Foto des Portals der Schule findet man unter https://lindgren-gs.de/schule/chro nik/ [12. 08. 2021].

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Im »Schichtenwerk der Zeit«

Gegenwart sichtbar sind: der offizielle antifaschistische Diskurs kann die Spuren der nationalsozialistischen Geschichte nicht tilgen, die auf die Zukunft ausgerichteten Verheißungen eines neuen Lebens löschen die Erinnerungen an Vergangenes ebenso wenig aus wie einen über Generationen entstandenen Habitus. Die Darstellung der Vergangenheit bzw. des Erinnerungsprozesses im Kontext archaischer und mythologischer Figuren und Situationen lässt Vergangenes in einer überzeitlichen Perspektive erscheinen, die den Abstand zur Gegenwart unterstreicht. Trotz einer Verankerung der Erzählungen in historischen Realitäten steht bei der Erinnerung an die Vergangenheit nicht der historische Zeitsinn im Vordergrund, sondern der mythische, um zwei von Jörn Rüsen unterschiedene »Logiken der Sinnbildung über Zeiterfahrung« zu bemühen.196 Während beim historischen Zeitsinn die Deutung »innerweltlicher Ereignisketten« im Zentrum steht und »sich das ereignishafte Geschehen in der Welt selber – im Zeithorizont der Erinnerung und aktuellen Wahrnehmung – als sinnträchtig erweist oder so angesehen wird«,197 so steht hinter dem mythischen Zeitsinn eine Sinnbildung »vom ›Anfang‹ her, vom Ursprung aller Dinge (Arché). Das, was im Zeitverlauf der Welt gegenwärtig geschieht, lässt sich von seinem Ur-Anfang her deuten und verstehen.« Die »Vergangenheit des Ursprungs ist in ihrer Sinnträchtigkeit der Gegenwart […] übergeordnet«, sie ist »als Sinnquelle gegenwärtig und wirksam.«198 Betrachtet man Seilers Erzählungen, so werden aus der Vergangenheit heraus in der Tat keine sinnhaften Ereignisketten erinnert, die in den Texten dargestellten lebensweltlichen Brüche scheinen dies ganz unmöglich zu machen. Es geht Seiler nicht um die »Rekonstruktion von DDR-Zuständen und DDR-Geschichte«, wie der Autor es im Interview mit Maren Schuster und Martin Paul formulierte, sondern um »diese besonderen Momente, die unabhängig von Gesellschaftsformationen zu existieren scheinen.«199 Für die Darstellung solcher allgemeinmenschlichen Erfahrungsmomente eignet sich wiederum der Mythos, der es im Sinne Franz Fühmanns erlaubt, die »individuelle Erfahrung, mit der man ja wiederum allein wäre, an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen.«200 Das erzählerische Abtauchen in mythische Zeiten dient in Seilers Texten keineswegs einer Idealisierung der Vergangenheit oder einem nostalgischen Blick auf die Kindheit. Das Irritationspotential der Vergangenheit wird unter anderem durch Erzählerkommentare aus der Gegenwartsperspektive angedeutet. Vielmehr erscheint das Mythische und Archaische als Fixpunkt und Gegengewicht zur wechselhaften Zeiterfahrung der erzählenden Figuren. In einem 196 197 198 199 200

Rüsen 2003, S. 32ff. Ebd., S. 34. Ebd., S. 33. Schuster/Paul/Seiler 2010. Fühmann 1983, S. 96.

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Kommentar zu Seilers Gedicht »mein jahrgang, dreiundsechzig, jene« aus dem Band pech & blende deutete Anna Chiarloni das Ende des Gedichts in eben diesem Sinne. Eine »negative historische Bilanz« gepaart »mit dem Bild der DDRAgonie« führten zu einer Rückkehr in die Welt der Kindheit und dem »Drang nach einer archaischen Welt«, einer »Sehnsucht, die in den Ursprung des Lebens zurückströmt, hinter die Schwelle der Zeit.«201 Hinter die Schwelle der Zeit zu treten bedeutet, dass die gewöhnliche zeitliche und geschichtliche Ordnung durch- und unterbrochen wird, da diese sich nicht als »sinnträchtig« erweist, wie es bei Rüsen heißt. Dabei erscheint die semiotische Aufwertung des Archaischen und Mythischen zusammen mit der Darstellung von zeitenthobenen Schwellenzuständen als Übergangsphasen als ein ästhetisches Mittel, um der negativen Gegenwartserfahrung etwas gegenüberzustellen, das zu einer Entschleunigung und Detemporalisierung beiträgt. Plädoyer für die Langsamkeit In seinem Essay »Heimaten« hat Lutz Seiler in Bezug auf die DDR die besondere Prägung der dort lebenden Menschen beschrieben, die sich angesichts staatlicher Abwertung des einzelnen zugunsten eines Kollektivs »eine grundsätzlich andere Welt des Ichs« errichteten als es in pluralistischen Gesellschaften der Fall war. Das »Eigene, Differente [mußte] ›in sich‹ gehalten werden«, was zur Ausprägung eines »auf besondere Weise resistente[n] und bis dahin von Moden, Moderne und Lifestyle weitgehend unbedrohte[n], archaische[n] Ich[s]«202 führte, das angesichts der heutigen schnelllebigen Gegenwart nicht unbedingt negativ konnotiert ist. Dieses Ich als widerständiger Rückzugsort der Individualität scheint in den archaischen Figuren der Erzählungen als eine Art Reservoir des Authentischen und Überzeitlichen immer wieder durch. Das kritische Potential des Archaischen und Mythischen wirkt im Sinne der Entschleunigung und Detemporalisierung in zwei Richtungen: die erzählte DDRVergangenheit und die Gegenwart. Dem auf eine bessere Zukunft ausgerichteten Fortschrittsdenken und dem geschichtsphilosophischen Optimismus Marx’scher Prägung wird ein zeitloses, auf den immergleichen mythischen Ursprung gerichtetes Denken entgegengesetzt.203 Wie Sebastian Kleinschmidt bemerkte, gehören die Figuren Seilers nicht zur Avantgarde, sie seien die »Nachhut«, die »Arrièregarde«,204 was er am Gedicht »wer hinten geht« aus dem Band im fel201 Chiarloni 2015, S. 185. 202 ›Heimaten‹, in: Seiler 2004, S. 47. 203 Dadurch wird auch Marx’ Postulat der »Überwindung mythischen Denkens in der sozialistischen Gesellschaft« in Frage gestellt. Vgl. Hofmann 2009, S. 231. 204 Kleinschmidt 2020, S. 309. Zur Charakteristik von Seiler als »Nachhut« vgl. bereits Müller 2015.

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Im »Schichtenwerk der Zeit«

derlatein belegt. Dort heißt es: »[…] wer // hinten geht, durchmißt den tag / den du vergessen hast / den eignen tag, die eigne welt / die er vertritt […]«.205 Wer hinten geht, blickt nicht in eine kollektive Zukunft,206 sondern betrachtet – auch im Sinne der Romantik – die Bilder des eigenen Inneren, »[…] auf dem weg / der sich nach innen zieht, längst / überfüllt mit dingen, die // nicht weiter wußten […]«.207 Wer hinten geht, blickt in sein eigenes »archaisches Ich« und erfährt die Zeit anders. Auch angesichts der gegenwärtigen Zeit wirkt die Besinnung auf den Ursprung der Dinge, auf das Archaische und Mythische, als willkommene Verzögerung. Wie das an den russischen Formalismus erinnernde künstlerische Verfahren der Verlangsamung verweist dieser Aspekt poetologisch auf den Autor zurück. Im Interview nach dem langsamen Rhythmus seiner Erzählungen gefragt, antwortet Seiler, dass er als Autor »einen gewissen Widerstand gegen die Beschleunigung, die einen umgibt«, entwirft: »Man muss diesen Widerstand leisten, um wahrzunehmen, worauf es einem eigentlich ankommt, um das wahrzunehmen, was für das eigene Schreiben, für die Literatur, entscheidend ist.«208 Bereits in seinen »Wiener Vorlesungen zur Literatur«, in denen Seiler von den typischen Wahrnehmungszuständen seiner Kindheit, von Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere berichtet, verwies der Autor auf Joseph Hanimanns Essay Vom Schweren, das von einer »andere[n], ›zweite[n]‹ Moderne« handelt, die »das lange verachtete Schwere, das heißt auch Langsame, Müde, Sperrige usw. als Qualitäten der Dinge und des Daseins neu […] entdeck[t]«.209 Gerade in diesem Langsamen und Schweren steckt wohl auch Seilers Potential, Vergangenes und Vergessenes wieder wachzurufen. Milan Kundera paraphrasierend, heißt es bei Hanimann: »Geschwindigkeit läuft ins Vergessen, Langsamkeit bewahrt die Erinnerung.«210 In diesem Sinne charakterisiert auch Lothar Müller Seilers Werk: »An die Stelle vibrierender, von Erwartungsspannung durchzogener Gegenwart tritt darin das Nachbild einer vergangenen Gegenwart […]«.211 Vergangenheit wird vergegen-

205 Seiler 2010, S. 88. Eine ähnliche Passage findet sich bereits im Gedicht »vertigo«: »[…] wer / hinten ging, der hatte seine eigne welt, ein / warmes ohr zur sonne hin […]«. Seiler 2003, S. 12. 206 So auch Kleinschmidt (2020, S. 309): »Avantgarde sind die andern, die Kollektiven, die immerfort im Angriff sind und nur die Gegner ihrer utopischen Visionen sehen. Die sich Verzögerung nicht leisten können. Sie kennen nicht die Kunst der Defensive, die Geduld, das träumerische Wartenkönnen, die Ankunft, das Andante con moto der hügligen Provinz. Und kennen nicht die Tonspur der geschmeidigen Verteidigung des Eigenen, der nur der Einzelne im Rückraum folgen kann.« 207 Seiler 2010, S. 88f. 208 Schuster/Paul/Seiler 2010. 209 ›Und unter den Füßen liegen Vergangenheiten‹, in: Seiler 2004, S. 77f. 210 Hanimann 1999, S. 97. 211 Müller 2015, S. 6.

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wärtigt, aktualisiert und angesichts einer Tendenz zur Abwertung dieser spezifischen Erfahrungen auch positiv aufgeladen. Die zeitlosen, liminalen Zustände der Figuren und ihr Abdriften ins Archaische und Mythische entsprechen den »poetologischen Axiomen« des Autors, eben jener Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere als »Wahrnehmungszustände[n] im Lebensraum der Kindheit«, die noch heute wie Medien weiterwirken und »in denen die verlorene Welt unmittelbar spürbar blieb«, wie Sebastian Kleinschmidt es in seiner Laudatio zum Anna-Seghers-Preis formuliert hat. Weiter heißt es: Auch für Lutz Seiler sind Müdigkeit und Schwere Momente eines klaräugigen Beisichseins. Müdigkeit ist Innehalten, eine Naturtechnik der Verzögerung, sie verschiebt die Wahrnehmungsperspektiven der Welt, verlangsamt den Rhythmus, dehnt die Zeit, beruhigt den Raum.212

1.1.2. Walter Benjamins Jetztzeit und die Unterbrechung linearer zeitlicher Ordnung in der Erzählung »Gavroche«213 Ein weiteres poetologisches Instrument, das wie die Darstellung liminaler Zeitlosigkeit und wahrnehmungsbedingter Verlangsamung oder der Rückgriff auf Archaisches und Mythisches auf die Infragestellung einer vorgegebenen zeitlichen Ordnung abzielt, entwickelt Lutz Seiler anhand von Walter Benjamins Konzept des »Jetzt der Erkennbarkeit«, auf das er sich in der Erzählung »Gavroche« (ZW, 174–217) aus dem Zyklus »Schachtrilogie« bezieht. Benjamin-Reminiszenzen liefert Seiler aber auch beim Nachdenken über seine Dichtung in zahlreichen Essays, was die Bedeutung des Philosophen für den Autor verdeutlicht.214 Zunächst soll gezeigt werden, wie Seiler das Benjamin’sche Konzept ästhetisch nutzt, um einerseits die in der DDR dominante Zeiterfahrung eines auf die Zukunft gerichteten Zeitpfeils zu hinterfragen und ihr andererseits privilegierte Momente individueller Eigenzeit entgegenstellt. Im Anschluss daran wird gefragt, inwiefern die narrative Metalepse in der Erzählung als Unterbrechung zeitlicher Ordnung diese Zeiterfahrung ästhetisch und metaliterarisch spiegelt.

212 Kleinschmidt 2003, S. 275. 213 Für eine leicht gekürzte Version dieses Teilkapitels vgl. Hähnel-Mesnard 2020. 214 Lutz Seiler hat diesen Einfluss Benjamins bestätigt. Er habe Benjamin bereits zu DDR-Zeiten in der von Sebastian Kleinschmidt veranlassten Edition gelesen (Walter Benjamin: Allegorien kultureller Erfahrung, Ausgewählte Schriften 1920–1940, Leipzig, Reclam, 1984) und selbst einen (unveröffentlichten) Text über das Konzept des »Jetzt der Erkennbarkeit« geschrieben. Gespräch mit der Verfasserin anlässlich der Lutz-Seiler-Tagung am 22. 03. 2019 in Paris.

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Im »Schichtenwerk der Zeit«

Zum Schluss wird der Einfluss von Benjamins Gedankenwelt auf Seiler allgemein unter dem Aspekt der Bewahrung von Geschichte und Erinnerung betrachtet. »Jetzt der Erkennbarkeit« Die Erzählung »Gavroche« handelt von dem Verhältnis eines namenlosen IchErzählers zu einer Frau namens Gavroche im Halle des Jahres 1986. Die Beziehung kreist um das Schachspiel der professionell spielenden Freundin, das der Erzähler vorgibt nicht zu beherrschen. Eines Tages hatte Gavroche in einer Schachzeitschrift ein Foto entdeckt, »auf dem zwei kleine Männer Schach spielten, ein Philosoph und ein Schriftsteller« (ZW, 194). Aus den kurz darauffolgenden Benjamin-Zitaten kann man schließen, dass es sich bei den beiden Männern um Walter Benjamin und Bertolt Brecht beim gemeinsamen Schachspiel in Brechts dänischem Exil in Svendborg 1934 handelt.215 Gavroche hatte begonnen, sich für den Philosophen zu interessieren: […] inzwischen versuchte sie, dessen Überlegungen zur Technik des Erwachens auf das Schachspiel anzuwenden: »Das Jetzt der Erkennbarkeit ist der Augenblick des Erwachens.« Oder: »Das kommende Erwachen steht wie das Holzpferd der Griechen im Troja des Traums.« Solche Sätze hatte ich auf Zetteln entdeckt, auf denen sie lange Folgen möglicher Spielzüge von Schwarz und Weiß notierte. (ZW, 195)

Beide in den Text einmontierten Zitate stammen aus Walter Benjamins PassagenWerk, das erste aus dem Konvolut N (»Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts«), das zweite aus dem Konvolut K (»Traumstadt und Traumhaus, Zukunftsträume, Anthropologischer Nihilismus, Jung«).216 Liest man dieses Interesse für Benjamin nicht nur als plötzliche Laune der Figur, deren erster Blick beim Erwachen am Morgen dem Schachbrett gilt und für welche von einem »gelungene[n] Erwachen« der »ganze Tag abhängen [konnte]« (ZW, 196), sondern als allgemeine geschichtsphilosophische Überlegung, ließe sich dahinter auch ein Kommentar zur Geschichts- und Zeitauffassung in der erzählten Welt erkennen. Unabhängig von beiden Zitaten erinnert die Situation des Schachspiels zunächst an die erste von Benjamins Thesen aus der Abhandlung »Über den Begriff der Geschichte«, in der ein Schachautomat beschrieben wird, in dessen Innerem ein »buckliger Zwerg« die Fäden einer Puppe zieht, die gegen jeden Spieler gewinnt.217 Benjamin benutzt dieses Bild als Analogie zum »historischen Materia215 Einen Hinweis auf das gemeinsame Schachspiel findet man z. B. in Benjamins Tagebuchaufzeichnungen »Gespräche mit Brecht« unter dem Eintrag »Svendborg, 1934 (1)« vom 12. Juli. Vgl. Benjamin 1971, S. 155. 216 Benjamin V.1, 1991, S. 608 [N 18,4]; S. 495 [K 2,4]. 217 Benjamin I.2, 1991, S. 693.

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lismus« als Puppe, die es mit jedem aufnehmen kann, sobald sie die kleine und hässliche Theologie in ihren Dienst nehme.218 Die erste geschichtsphilosophische These Benjamins hat zahlreiche Interpretationen veranlasst. Der Deutung Gérard Raulets folgend ist in Benjamins Augen der historische Materialismus selbst nur noch ein Automat, der durch das Formulieren unfehlbarer historischer Gesetze einem Mechanismus erlegen ist und dessen Fortschrittsglaube jeglichen kritischen Potentials entbehre. Aus einer politischen Praxis sei eine Weltanschauung geworden.219 Die in den weiteren Thesen entwickelten Vorstellungen verweisen auf die Arbeit eines »historischen Materialisten«, der den Fortschritt als »eine homogene und leere Zeit« denunziert.220 Benjamins Kritik an der Vorstellung einer linearen Geschichts- und Zeitauffassung lässt sich unschwer auf die DDR übertragen. Das Schachspiel in Seilers Erzählung – verbunden mit den erwähnten Benjamin-Anspielungen – könnte man also auch als eine Allegorie auf das in der DDR herrschende, auf die Zukunft ausgerichtete Fortschrittsdenken lesen, das sich nur noch im Selbstlauf befindet und dessen ursprünglich utopiegeleitete Anfänge nunmehr keine Sinnangebote mehr bereitstellen. Als Alternative zu dieser von ihm kritisierten sterilen Geschichtskonzeption entwickelt Benjamin ein Denken, das Gegenwart und Vergangenheit in eine enge Beziehung setzt, wobei der Vergangenheit allein dadurch eine Bedeutung zugesprochen wird, dass sie in der Gegenwart als relevant erkannt wird und Vergangenheit und Gegenwart in eine signifikante Konstellation miteinander treten. In Seilers Essay zu Jürgen Becker liest man in diesem Sinne: »Es sind die normalen und konkreten Dinge, an denen die Geschichte für einen Moment lesbar wird, in einer augenblicklich treffgenauen, nicht wiederholbaren Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart.«221 Geschichte ist Benjamin zufolge »Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.«222 Ebenso wenig wie Geschichte als Abfolge und Verkettung unterschiedlicher Momente angesehen werden kann, ist die Gegenwart als ein »Übergang« zu betrachten, der sich in diese lineare Abfolge einreiht. Deshalb benötigt Benjamins historischer Materialist »den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist«.223 Wesentlich bei dieser Konzeption der stillgestellten 218 Ebd. 219 Raulet 2000, S. 60 (»En prétendant énoncer des lois historiques infaillibles, le matérialisme historique a succombé au mécanisme. […] Mais il y a pire : la croyance au progrès […] a transformé le matérialisme historique de pratique politique en Weltanschauung.«). 220 Vgl. vor allem die XIII. These in Benjamin, I.2., 1991, S. 700f. 221 ›Nie hört die Nachkriegszeit auf‹, in: Seiler 2004, S. 69. 222 Benjamin, I.2., 1991, S. 710 (XIV. These). 223 Ebd., S. 702 (XVI. These). Wie im vorigen Kapitel gezeigt, spielt die zum Stillstand gekommene Gegenwart als Zustand der Liminalität in einigen Erzählungen eine besondere Rolle, ohne dass dort direkte Verweise auf Benjamin zu finden wären.

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Gegenwart ist der Moment der persönlichen Erfahrung: der Historiker schreibt für seine Person Geschichte und erlebt eine einzigartige Erfahrung in Bezug auf die Vergangenheit.224 Das von Seilers Figur Gavroche notierte Zitat zum »Jetzt der Erkennbarkeit« entspricht diesem Gedanken einer stillgestellten und erfahrungsgeladenen Gegenwart; in ihm erscheint das Vergangene als Bild, das nur in diesem »Augenblick seiner Erkennbarkeit […] aufblitzt«,225 einem Augenblick, in dem die Gegenwart das Potential der Vergangenheit ebenso erkennt wie deren nichterfüllte Wünsche und Sehnsüchte: »das in der Geschichte Angelegte, aber nicht Eingelöste«226, wie Rolf Tiedemann es formuliert. Dass dieses »Jetzt der Erkennbarkeit« gleichzeitig »der Augenblick des Erwachens« ist, wie es im Zitat heißt, entspricht einem Gedanken, den Benjamin in der Auseinandersetzung mit der surrealistischen Traumtheorie entwickelt hat. Während die Surrealisten jedoch »im Traumbereiche beharr[en]«, wie Benjamin in Bezug auf Aragons Paysan de Paris schreibt, geht es ihm darum, »die Konstellation des Erwachens«227 zu finden. Dieses Erwachen entspricht eben jener Aktualisierung der Vergangenheit in der Gegenwart, wobei das Konzept der Aktualisierung wiederum dem des Fortschritts gegenübergestellt wird.228 Benjamins Aphorismus über das »Holzpferd der Griechen« unterstreicht dann noch einmal die Plötzlichkeit, aber auch den möglichen Schock, den das »Erwachen« verursacht. Überlegungen zum »Jetzt der Erkennbarkeit« als zukünftigem Erwachen findet man bereits in Seilers poetologischem Essay »Im Ankerglas«, in dem er davon berichtet, wie er im Augenblick einer Schaffenskrise seine Manuskripte zerschneidet und für später konserviert: Ich verlegte mein Material auf ein »ideales Jetzt« in der Zukunft, eine kommende Gegenwart mit wunderbaren Schreib-Augenblicken, die dieses Material hervorrufen würde, wenn ich ihm dann neu begegnen könnte – Momente des Erwachens, jenes Zugriffs vor dem Begriff, den das Gedicht braucht, um Gedicht zu sein: in den Gläsern steckten die Phantasien einer Zukunft meines Schreibens.229

In Seilers Erzählung »Gavroche« stehen Benjamins geschichtsphilosophische Überlegungen nicht im Mittelpunkt, doch bewegen sich die Figuren in der erzählten Welt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Zukunfts- und Fortschrittsvorstellungen, deren »Kontinuum«, um noch einmal Benjamins Begriff zu verwenden, es durch ganz persönliche Erfahrungs- und Hoffnungsmomente 224 225 226 227 228 229

Ebd. Ebd., S. 695 (V. These). Tiedemann 1983, S. 31. Benjamin, V.1, 1991, S. 571 [N 1,9]. Ebd., S. 574 [N 2,2]. Seiler 2004, S. 126.

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zu sprengen gilt. Dies betrifft zunächst Gavroche, die Schachmeisterin, die von klein auf, oft gegen ihren Willen, von ihrem Vater trainiert wurde und Mitglied des Vereins »Lokomotive Halle« war, der sie regelmäßig zu Schachturnieren entsendete (ZW, 193f). Als der Erzähler Gavroche im Studentenwohnheim begegnete, war sie der Mittelpunkt von spontan organisierten Turnieren, bei denen sie die anderen herausforderte, »simultan an drei Brettern [spielte]« (ZW, 174) und jederzeit gewann, darin der Puppe bzw. dem Zwerg des Benjamin’schen Schachautomaten nicht unähnlich. Inmitten einer in den Endachtziger Jahren stagnierenden und wirtschaftlich zugrunde gehenden DDR, deren materielle Unzulänglichkeiten in der Erzählung immer wieder beschrieben werden, erscheinen Gavroches Schachsiege für ihren Verein, nicht zuletzt auf einer Reise durch die Sowjetunion, als letzte Demonstration sozialistischer Erfolge. Die Beziehung zum Erzähler erscheint ebenso als ein Ausbrechen aus ihrer bisherigen Welt wie die ganz persönliche, fast rituelle Beziehung, die sie jeden Morgen beim Aufwachen mit ihrem Schachbrett verbindet: der bereits erwähnte »erst[e] Blick« (ZW, 194) des Tages, durch den sich ihr neue Schachzüge zu erkennen geben. Persönliche Erfahrungs- und Erkenntnismomente in der Gegenwart stehen einem zukunftsorientierten Fortschrittsdenken entgegen, wobei nicht zuletzt die für die Moderne charakteristische Momenterfahrung gegenüber historischen Kontinuitäten aufgewertet wird. Narrative Metalepse und Durchbrechung linearer Zeitstrukturen Kann Benjamins Konzept des »Jetzt der Erkennbarkeit« auf der Ebene der erzählten Zeit und Welt als implizites Korrektiv der dort dominanten Zeitkonzeption gelesen werden, so entwickelt es ebenfalls auf der Ebene der Erzählzeit ein besonderes Potential, da der Erzähler/Autor es für die eigene Erzählung poetologisch ausweitet. Benjamins Gedanke, in der Vergangenheit ein nicht realisiertes Potential zu finden, das erst in der Gegenwart zum Ausdruck kommt, wird in einem Wechselspiel zwischen intra- und extradiegetischer Ebene der Erzählung verhandelt. Der dritte und vierte Teil von »Gavroche« stehen unter dem Zeichen der Metalepse, zweier längerer Einschübe, in denen die Erzählung plötzlich unterbrochen wird und der Erzähler als Autor aus einer besonders markierten Gegenwartsperspektive heraus die Umstände seines Schreibens über Gavroche reflektiert: Dritter Advent 2007: Nur ein Zufall hatte mich auf Schach gebracht, und jetzt schrieb ich über Gavroche. Der schwedische Kulturattaché in Berlin hatte darum gebeten, eine kurze Episode zum Thema »Das letzte Mal« zu verfassen […]. Der Sieg gegen meinen Vater, dem nichts gefolgt war, keine Revanche und kein anderes Spiel, nur das Ende der Kindheit, wie ich es heute nenne ([…]), in jedem Fall war es jenes »letzte Mal«, an das ich sofort denken mußte. (ZW, 203f.)

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Die Gleichsetzung zwischen Erzähler und realem Autor wird durch die Erwähnung des Themas »Das letzte Mal« suggeriert, das dem Titel und Inhalt der gleichnamigen ersten Erzählung in Seilers »Schachtrilogie« in Die Zeitwaage entspricht, wobei die Identifizierung zwischen dem Erzähler auf intradiegetischer und dem Autor auf extradiegetischer Ebene nichts darüber aussagt, ob das auf der extradiegetischen Gegenwartsebene Erzählte der »realen Welt« zuzuordnen ist oder nicht.230 Die Metalepse, die durch die plötzliche Gegenwartsperspektive als besondere literarische Figuration der Benjamin’schen Konzepte der Aktualisierung gelesen werden kann, hat auch im Erzählzusammenhang insgesamt zeitliche Implikationen. Deshalb soll sie nicht allein in ihrer von Gérard Genette bestimmten Bedeutung als Grenzüberschreitung zwischen unterschiedlichen narrativen Ebenen betrachtet werden,231 sondern auch in ihrer ursprünglichen rhetorischen Bedeutung. Als rhetorisches Stilmittel bedeutet »metalepsis« »›Vertauschung‹ oder ›Umstellung‹ im zeitlichen Sinne«,232 sie ist die »spezifische Trope zeitlicher Verschiebungen«, deren »semantische Bedeutung die eines Spiels zwischen dem Vorher und dem Nachher, zwischen Prämisse und Konsequenz, Voraussetzung und Ergebnis«233 ist. Dadurch stellt die Metalepse auch auf narrativer Ebene den Gedanken einer »Geschichte als kontinuierlichem und linearem Ablauf, als Ganzheit, die eine die Zukunft ankündigende Vergangenheit und eine durch die Vergangenheit aktualisierte Zukunft zusammenfasst«, in Frage.234 Ähnlich wie Philippe Roussin in seinen von der antiken Rhetorik inspirierten Überlegungen verweisen weitere Vertreter der Narratologie auf die zeitliche Dimension der Metalepse und deren Irritationspotential in der Erzählung. Für Christine Baron stellt die narrative Metalepse eine Unterbrechung dar, durch die sich die Erzählung als Gegenstand eines Aushandlungsprozesses erweist, so dass der Text 230 Genette beschreibt das Verhältnis zwischen Rahmen- und Binnenerzählung in Fiktionen als das Verhältnis zwischen einer als real angenommenen Erzählebene und einer als fiktional akzeptierten Ebene: »comme relation entre un niveau (prétendu) réel et un niveau (assumé comme) fictionnel« (Genette 2005, S. 31), wobei er dazu neigt, im Falle der sogenannten Autormetalepse die extradiegetische Ebene mit der Lebenswelt des Autors gleichzusetzen (ebd., S. 34). Jean Bessière (2005, S. 288) hingegen plädiert dafür, die angeblich »reale« Rahmenerzählung ebenfalls als fiktional zu betrachten, wobei für ihn jede Erzählung einen metaleptischen Charakter besitzt und Grenzüberschreitungen zwischen Erzählebenen mehr oder weniger ausgeprägt inszeniert werden. 231 Und zwar der Ebene, in der man erzählt und der Ebene, von der erzählt wird. Vgl. Genette 1972, S. 245. 232 Klimek 2010, S. 18. 233 »le trope spécifique des transferts temporels« und »Le rapport sémantique est ici celui du jeu sur l’avant et l’après, l’antécédent et le conséquent, le préalable et le résultat.« Roussin 2005, S. 44. 234 »[…] remettent […] en question l’idée de l’histoire comme cours continu et linéaire, totalité récapitulant un passé annonçant un avenir et un avenir mis à jour par la passé.« Ebd., S. 52.

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bzw. das Schicksal der Figuren als nur eine von zahlreichen möglichen Varianten erscheinen. Dadurch verhindere die Metalepse, dass ein teleologisch geschlossenes fiktionales Universum entsteht, auch biete sie ein Modell der Realität an, in dem diese als kontingentes Geschehen erscheint. Ebenso werden die Linearität der Erzählung und einfache Kausalitäten in Frage gestellt.235 Philippe Daros hingegen reflektiert die Figur der Metalepse im Zusammenhang mit der Positionierung des Erzählers gegenüber der historischen Zeit, über die er berichtet. Der Rückgriff auf die Metalepse erfolge dann, wenn der Eingriff des Erzählers eine zeitliche Diskrepanz hervorheben soll, eine Problematisierung der Lesbarkeit der historischen Zeit, die nicht mehr durch stabile Repräsentationen dargestellt werden kann. Dabei sei die Metalepse ein rhetorisches Dispositiv, das die Komplexität unserer Beziehung zur Vergangenheit unterstreicht und eine Vielzahl heterogener Zeiten aufscheinen lässt.236 Daros zitiert auch eine in diesem Kontext relevante Überlegung Roland Barthes’ in Bezug auf den »Diskurs der Geschichte«, demzufolge Spuren von Äußerungen des Historikers im Geschichtsdiskurs – die Daros als metaleptisch bezeichnet – weniger auf eine gewollte Subjektivität verweisen als vielmehr dazu dienen, den »historischen ›Faden‹ zu entchronologisieren« und eine »komplexe, […] keineswegs lineare Zeit« wiederherzustellen.237 Den angeführten theoretischen Überlegungen ist gemeinsam, dass sie die Metalepse in ihrer zeitlichen Dimension sowohl als Infragestellung einer linearen und kontinuierlichen, teleologisch konzipierten Erzählung als auch der in ihr widergespiegelten Geschichtszeit betrachten. Diese Merkmale korrespondieren mit der in Seilers Erzählung »Gavroche« reflektierten und bisher in Benjamin’schen Konzepten analysierten Zeitlichkeit: die Metalepse figuriert diese Konzepte literarisch in der Struktur der Erzählung selbst, indem sie Diskontinuitäten und Brüche, Zufälle und Kontingenzen sowohl auf der synchronen Erzählebene als auch metaphorisch auf der diachronen Ebene der Darstellung von Vergangenheit suggeriert. Im oben angeführten Auszug, der dem Beginn der Metalepse in der Erzählung entspricht, steht eben diese Erzählung ganz im Zeichen des Zufalls. Der Zufall eines literarischen Auftrags brachte den Autor auf das Thema Schach, das zunächst in der dem Schachsieg über den Vater gewidmeten ersten Erzählung der »Schachtrilogie«, »Das letzte Mal«, literarisiert wird, und nur der Zufall lässt ihn an seine ehemalige Geliebte Gavroche denken, die nun Gegenstand der vorlie235 Baron 2005, S. 301f. 236 Daros 2005, S. 316, 322. 237 Ebd., S. 316f. Vgl. auch Barthes 1984, S. 156f. : »[…] en somme la présence, dans la narration historique, de signes explicites d’énonciation viserait à ›déchronologiser‹ le ›fil‹ historique et à restituer […] un temps complexe, paramétrique, nullement linéaire, dont l’espace profond rappellerait le temps mythique des anciennes cosmogonies.«

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genden Erzählung ist. Die Illusionsdurchbrechung, die der Leser durch den Autorkommentar erfährt, verdeutlicht, dass die Erzählung, die er bisher fließend mitverfolgen konnte, für den Erzähler/Autor nicht selbstverständlich ist; er erfährt, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit insofern problematisch ist, als die sogenannte »Schachlüge« noch immer auf ihm lastet: »[…] – ich konnte über Gavroche und unser Schachproblem schreiben, und also, warum nicht, konnte ich, wenn ich wollte, auch einmal mit ihr darüber sprechen, ich konnte ihr meine Lüge gestehen.« (ZW, 204) Die auktoriale Allmacht (»konnte ich, wenn ich wollte«), die auch in der Metalepse selbst als Illusionsdurchbrechung seitens einer extradiegetischen Erzählinstanz zum Ausdruck kommt, wird von Bedenken des Erzählers/Autors begleitet, ob er das Recht habe, über Gavroche zu schreiben: »ich schrieb über Gavroche, und ich hielt es für richtiger, nicht ohne ihr Einverständnis fortzufahren.« (ZW, 204f.) Von einem Anruf bei ihr erhofft er sich, wie es in einem metafiktionalen Kommentar heißt, zum Wesentlichen zurückzukehren und das Abdriften der Erzählung ins Romaneske aufzuhalten: Insgeheim schien mir der Anruf als eine Art Rettung, ein Weg, zum eigentlichen, zur Schachgeschichte, die von den Episoden unseres gemeinsamen Wohnens in der Wolfstraße überwuchert zu werden drohte (Frau Krause, die sich mit aller Kraft ins Geschehen stemmte und das Ganze ins Romanhafte trieb), zurückzufinden und den roten Faden wiederaufzunehmen. (ZW, 205)

Doch gerade diesen »roten Faden« wird der Erzähler/Autor nicht wiederfinden. Anstatt die reale Gavroche in den Erzählprozess mit einbeziehen zu können, erfährt der Autor von ihrem Tod bei einem Autounfall vor mehr als zwei Jahren. Der Text inszeniert durch seine Selbstreflexivität exemplarisch unterschiedliche Aspekte der Autorschaft, neben dem Gefühl der Allmacht auch die Beziehung des Autors zu seinem Material. Dem implizit ausgedrückten Gedanken, dass der Tod der Figur Voraussetzung für den Schreibprozess ist, begegnet man auch in der Erzählung »Die Zeitwaage« mit dem Tod des Arbeiters. Im Gespräch mit Lutz Seiler bemerkte Ursula März, dass man hier das »Urthema der Literatur«, die »Versündigung am Material«238 wiederfinde. Der Erzähler/Autor wolle mit Gavroche telefonieren, um noch mehr Material aus dieser Geschichte herauszuholen, sie sei gestorben, weil er sie als Material verwendet hat. Die durch Gavroches Unfalltod entstandene Unmöglichkeit, die Erzählung auf diegetischer Ebene wie geplant fortzusetzen, korrespondiert formal mit der metaleptischen Konstruktion des plötzlichen Innehaltens im Erzählfluss, die dem von Christine Baron theorisierten Potential der Metalepse entspricht, die teleologische Gesamtkonstruktion einer Erzählung in Frage zu stellen. Die zeit238 Vgl. Studio LCB 2009 (Diskussion II), ab 7:00 min.

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liche Kohärenz, der bisher relativ homogene und lineare Erzählfluss werden unterbrochen und in einen Moment plötzlichen persönlichen Erkennens überführt, in welchem dem Erzähler die Unmöglichkeit der Fortsetzung seiner Geschichte vor Augen tritt. Auf diachroner, historischer Ebene wiederum wird durch die Metalepse deutlich, dass die erinnerte geschichtliche Zeit entgegen der damaligen geschichtsphilosophischen Prämissen keineswegs als lineare und homogene Zeit erscheint, die metaleptische Struktur gibt ihr im Nachhinein ihre Komplexität zurück, indem sie Elemente wie Zufall und Kontingenz in die Betrachtung der Vergangenheit einführt. Die Metalepse wirkt – um wieder zu Benjamins Konzepten zurückzukehren – als Symbol einer absoluten Vergegenwärtigung des Vergangenen, das aus der relativ homogenen erzählten und erinnerten Welt plötzlich herausaustritt und den Erzähler/Autor in der Gegenwart überraschend und sprunghaft trifft, bevor es reflektiert wird. Im darauffolgenden vierten Kapitel münden die Überlegungen des Erzählers/Autors über den Schreibprozess in der Tat wieder in Benjamin’sche Gedanken. Das bisherige Erzählen über seine Beziehung zu Gavroche entsprang einer »naive[n] Hoffnung, daß in den Dingen der Vergangenheit noch etwas steckt, daß sie etwas bereithalten, etwas, wohin wir einmal kommen könnten oder sollten« (ZW, 209). Benjamins Vorstellung, dass die Gegenwart die unerfüllten Hoffnungen der Vergangenheit realisiert, werden hier auf das Erzählen selbst übertragen, das die »Verheißungen« der Vergangenheit retrospektiv erkennt und artikuliert: Beim Erzählen über Gavroche hatte ich die Glocken des Roten Turms auf dem hallischen Markt gehört mit seinem Westminster-Abbey-Glockenspiel, ich war beim Erzählen einer Verheißung gefolgt, die dieses Glockenspiel damals und, wie ich zu glauben begonnen hatte, noch immer bedeuten konnte – sicher, nicht mich und Gavroche betreffend, aber uns in einem weiteren Sinne, jeden von uns, in dem, was er für sich selbst noch vor sich sah. Aber tatsächlich geläutet hatten nur die Totenglocken, schon Jahre zuvor, und weder ich noch der Erzähler, in dessen Rolle ich derart unbedacht eingetreten war, hatten sie gehört. (ZW, 209)

Um nun Gavroches Geschichte trotz des durch ihren Tod verursachten Erzählbruchs zu Ende zu bringen, versucht der Erzähler/Autor »eine Art Abschied [zu] finden«, einen »Schlußstein«, »keinen roten Faden, kein Ende, vielleicht nur ein Bild, das stillstehen konnte in meinen Augen, etwas, woran die Gavroche-Geschichte zur Ruhe kommen konnte.« (ZW, 211) An die Stelle einer nunmehr unmöglich gewordenen linearen Erzählung tritt ein Bild. Auch hier gibt es wieder Anklänge an Walter Benjamin und an seine Konzeption eines Bildes, in dem »das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. […] Bild ist Dialektik im Stillstand« [N 3,1].239 Im Kontext der Erzählung relevant ist dabei 239 Benjamin V.1., 1991, S. 578.

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die Tatsache, dass diese dialektischen, stillgestellten Bilder Benjamin zufolge auch »Wunschsymbole« sind: »In ihnen ist zugleich mit der Sache selbst ihr Ursprung und ihr Untergang vergegenwärtigt«.240 Die Erzählung endet mit der Trennung des Paares und mit Gavroches Feststellung: »Es ist schade, weißt du. Es ist ja nur sehr schade.« (ZW, 216) In diesem Wort »schade« scheint die Geschichte in der Tat zum Stillstand zu kommen, das Bedauern über die auseinandergegangene Beziehung schließt gleichermaßen ihren Anfang und ihr Ende mit ein, und lässt ebenfalls Platz für etwas Neues, nämlich ein »Murmeln«, das im Erzähler plötzlich »begonnen« hatte (ZW, 216): »Es hatte mit diesem Wort zu tun, das Gavroche in dieser Nacht für uns erfunden hatte. In diesem Wort stand ich ihr sehr nah, obwohl sie nicht da war, obwohl sie gegangen war und nicht wiederkehren würde« (ZW, 217). Dieser letzte Satz der Erzählung verweist auf die Inspiration des Schreibenden, dessen »Murmeln« in der erzählten Zeit begonnen hatte und der ebenjene Erzählung erst Jahre später, in einer der Erinnerung und der Erkenntnis günstigen »Jetztzeit« zu Papier bringt. Das letzte Bild, eigentlich ein Wort, enthält in nuce bereits den kommenden Text. Eingedenken und Rettung von Geschichte Benjamins Konzept des »Jetzt der Erkennbarkeit« ist ein messianisches Element eingeschrieben, das man sowohl in Seilers Erzählungen als auch in seinen Essays wiederfindet, allerdings wird es dort von der geschichtsphilosophischen Ebene auf eine biographische bzw. poetologische Ebene verlagert. In Benjamins geschichtsphilosophischer Abhandlung »Über den Begriff der Geschichte« heißt es in der zweiten These zunächst, dass die Vergangenheit die »Erlösung« erwarte, dass »zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem [eine geheime Verabredung besteht]« und dass der gegenwärtigen Generation »eine schwache messianische Kraft mitgegeben« sei, »an welche die Vergangenheit Anspruch hat«.241 Indem der historische Materialist die bestimmte Konstellation zwischen seiner eigenen Zeit und der Vergangenheit erfasst, heißt es am Ende der Thesen, begründet er »einen Begriff der Gegenwart als der ›Jetztzeit‹, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.«242 An gleicher Stelle liest man über die jüdische Religion und deren Verbot, »der Zukunft nachzuforschen«, dass diese den Juden dennoch nicht zur »homogenen und leeren Zeit« wurde: »Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.«243 In 240 241 242 243

Ebd., V.2, S. 1217 (Nr. 12). Benjamin I.2, 1991, S. 694. Ebd., S. 704 (Anhang A). Ebd. (Anhang B).

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einem Fragment zu dieser These heißt es weiter: »Die Angel, in welcher sie [die Pforte] sich bewegt, ist das Eingedenken.«244 Hinter Benjamins Geschichtsphilosophie steht in fine die Hoffnung, durch das Aufsprengen des homogenen Geschichtsverlaufs und durch das Bewusstsein von dessen Unabgeschlossenheit revolutionäre Momente zu befreien.245 Dies ist jedoch auf einer auf die Zukunft und den Fortschritt ausgerichteten Zeitachse unmöglich, sondern kann erst im Moment des »Eingedenkens« und des Stillstellens von Geschichte geschehen, in dem die messianischen Elemente der Erlösung der Geschichte aufscheinen können.246 Seiler, der sich ausführlich mit Benjamins Philosophie auseinandergesetzt hat, überträgt diesen messianischen Gedanken auf die Ebene seiner Figuren. Dies wurde in der Erzählung »Gavroche« deutlich, wird aber auch in »Die Zeitwaage« eine Rolle spielen, bei der Seiler selbst von einer »Art Messianismus in der Geschichte«247 spricht. Wichtig scheint jedoch auch der Benjamin’sche Begriff des Eingedenkens,248 den Seiler selbst nicht verwendet, der aber hinter seinem Verhältnis zum Erinnern durchscheint. Im Gespräch im Literarischen Colloquium beschreibt Seiler das Erinnern als eine »Lust am Dasein« und eine »Lust an zukünftiger Zeit«. Man erinnert sich an Dinge, auch an »Situationen des Verlusts« oder der »Vergeblichkeit«, und durch das Erzählen, durch die »Arbeit am Erinnern«, entsteht daraus ein »Moment der Verheißung«, als »könnte später aus dem negativen Moment ein quasi utopischer Moment entspringen«.249 Im Erinnern, im Eingedenken, wird man sich der nicht realisierten, utopischen Momente der Vergangenheit bewusst, die in diese Gegenwart des Erinnerns drängen und auf eine Art messianische Erlösung warten. Ein weiteres literarisches Beispiel eines solchen Benjamin’schen Eingedenkens und des Zusammenspiels zwischen Vergangenheit und Gegenwart findet man auch in der 2010 veröffentlichten Erzählung »Im Kinobunker«, in der sich der Ich-Erzähler an die Zeit seines Wehrdienstes erinnert. Als er Jahre später das Passbild in seinem Wehrdienstausweis betrachtet, taucht vor ihm die Situation des Fotografiertwerdens wieder auf, ebenso empfindet er Wut darüber, dass er sich damals in dieser Situation befand. Beim erneuten Betrachten des Fotos

244 245 246 247 248

Benjamin I.3, 1991, S. 1252. Vgl. dazu Tiedemann 1983, S. 36f. Vgl. Raulet 2000, S. 62–65. Studio LCB 2009 (Diskussion II), ab 8:50 min. Benjamin unterscheidet zwischen den Begriffen Erinnerung, Gedächtnis und Eingedenken, wobei Raulet zufolge allein letzteres in der Lage ist, im Gedächtnis bewahrte Elemente plötzlich wieder hervorzubringen. Dieses Eingedenken ist mit der »Jetztzeit« eng verbunden, es entspricht der modernen, messianischen Form einer Rettung der Erfahrung. Vgl. Raulet 2000, S. 95. 249 Studio LCB 2009, ab 4:00 min.

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einige Tage später »änderte sich für einen Moment der Richtungssinn des Ganzen«: Plötzlich war es der zwanzigjährige Soldat, der mich ansah. […] und sofort tauchte die Frage auf, ob er mich mit diesen leicht zusammengekniffenen Augen schon damals gesehen haben könnte, vor fünfunddreißig Jahren […]: Ein Blick in die Zukunft – und deshalb sein Lächeln? […] Ich von damals ermunterte mich von heute, zurückzuschauen in den Verschlag mit der Fotografin und dem Unteroffizier, […], zurück auf die Scham im Augenblick der Fotografie. Für einen Moment erkannte ich den Umriss einer Wahrheit, die ganz aus dem weichen, unnachgiebigen Stoff der Geduld gemacht war: Im Leben ging es um Geduld. Es ging um den Sinn, auf den alles, was uns irgendwann einmal geschehen ist, geduldig wartet.«250

Mit diesem Satz endet die Erzählung. Auch erniedrigende Momente der Vergangenheit haben demnach einen Sinn, der sich jedoch erst später offenbart, in diesem besonderen Moment der Gegenwart, in dem die Signale der Vergangenheit erkannt werden. Liest man Lutz Seilers Erzählung »Gavroche« vor dem Hintergrund von Benjamins geschichtsphilosophischen Aussagen, so kann man einerseits durch die Aufwertung der Jetztzeit auf der gesellschaftlichen Makroebene der erzählten Welt eine Positionierung gegen das mitgedachte Kontinuum eines zukunftsorientierten Zeitstrahls finden. Auf individueller Ebene bedeutet diese Jetztzeit eine Betonung der konkreten Erfahrbarkeit von Geschichtsmomenten, welche ihrerseits auf eine Zukunft verweisen, in der ihr Potential erst wahrgenommen wird und die sich auch im Akt des Erzählens selbst manifestiert. Denn diese Zukunft entspricht der Erzählgegenwart, die sich der plötzlich auftauchenden Bilder der Vergangenheit annimmt, diese bewahrt, im Benjamin’schen Sinne stillstellt und »im Augenblick der Gefahr«251 rettet. Denn sich schreibend erinnern bedeutet auch, angesichts einer entschwindenden Geschichtszeit, angesichts der 1989 stattgefundenen vollständigen Ablösung eines lebensweltlichen Kontextes durch einen anderen, eigene Erfahrungszeit im Eingedenken zu retten, wie Benjamins Historiker Vergangenheit retten sollte.252 Seiler hat diesen Gedanken ähnlich formuliert: »Das Erinnern ist eine Art, das eigene Leben für sich zu gewinnen, ein Leben zu haben in der Vergangenheit. Alles, was ich erinnern kann, ist auch gewesen. Oder nicht?«253 Das Erinnern und das Schreiben erscheinen als Rückversicherung, dass es die eigene Vergangenheit tatsächlich gab. Wichtig dabei ist jedoch auch, wie Silvia Ulrich bemerkt, dass das Individuum durch den Prozess der Erinnerung seine 250 251 252 253

Seiler 2018, S. 63. Benjamin I.2, 1991, S. 695 (VI. These). Vgl. dazu die ›Einleitung des Herausgebers‹ in: Benjamin V.1., 1991, S. 22. Kasaty 2007, S. 385.

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Autonomie zurückerlangt, denn durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit könne es sich aus der Unfreiheit des sozialistischen Kollektivs ebenso befreien wie aus der nicht weniger entfremdenden des Kapitalismus, zwei Extremen, nach denen sich die Ostdeutschen gegen ihren Willen richten mussten.254 Ein Beispiel für eine solche Autonomie des Erinnerns findet man in Seilers titelgebender Erzählung »Die Zeitwaage«, in der sich die allgemeine Frage nach der Bedeutung von Lebenszeit, aber auch gesellschaftlich erlebter Zeit, mit einem ursprünglich sehr ostdeutschen und höchst ideologischen Thema verbindet, nämlich dem Erbe der Arbeiterschaft. Seilers Erzählung befreit dieses Thema aus seinem ideologischen Rahmen und bekräftigt durch eine positive Aufwertung nachträglich dessen Bedeutung für die DDR. Gleichzeitig fragt er nach dem Verbleiben des Arbeiters in der neuen bundesrepublikanischen Gesellschaft nach 1989. Die Wege der Erinnerung folgen hier einem gewissen Eigensinn, indem der Autor aus der DDR-Gesellschaft rettet, was ihm als erinnerungswürdig erscheint und gleichzeitig einen kritischen Blick auf die Gegenwart richtet.

1.1.3. »Die Zeitwaage«: Rettung eines (auch literarischen) Symbols Am Ende des zu Beginn der 1960er Jahre entstandenen und 2007 posthum veröffentlichten Romans Rummelplatz von Werner Bräunig stirbt ein älterer, antifaschistischer Arbeiter während des Aufstands vom 17. Juni 1953. Daraufhin fragt der Erzähler: »Was bleibt, wenn ein Arbeiter stirbt? Seine Arbeit? Das, was er geschaffen hat? […] Da ist keiner, so arm er gewesen sein mag, der bei seinem Tode nicht etwas hinterläßt.«255 Bei Bräunig hat der Tod des Arbeiters symbolischen Wert: sein Opfer scheint auf dem Weg zum Sozialismus notwendig, es bleiben – so die implizite Botschaft des Romans – seine Ideale und die Utopie, an die er glaubte. Auch in Lutz Seilers Erzählung »Die Zeitwaage« stirbt ein Arbeiter. Mit über vierzigjährigem Abstand wird hier ein Thema, das der DDR-Gesellschaft und der DDR-Literatur fest eingeschrieben war, spiegelbildlich verhandelt: der Arbeiter, Hoffnung und Symbol einer Gesellschaft, die nicht mehr existiert und der mit dieser nun selbst verschwindet. In Seilers Erzählung stirbt der Arbeiter nicht im Kampf um eine bessere Zukunft, er stirbt aufgrund eines absurden Unfalls, sein Tod ist nicht sinnhaft wie bei Bräunig. Dieser Tod repräsentiert das Ende einer 254 »Il percorso a ritroso del rievocare restituisce, perciò, una certa autonomia all’individuo; attraverso il confronto con il passato esso può liberarsi dalla schiavitù del colletivismo socialista e da quella, non meno alienante, del capitalismo, due estremi cui i tedeschi orientali hanno dovuto, loro malgrado, conformarsi.« Ulrich 2003, S. 219f. 255 Bräunig 2007, S. 621.

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Epoche, das Ende einer die DDR-Gesellschaft prägenden Realität. In dem bereits mehrfach erwähnten Gespräch im Literarischen Colloquium hat Lutz Seiler die auch für ihn persönlich relevante Bedeutung des Themas Arbeiterschaft angesprochen. Nach dem Umbruch von 1989 sei das in der DDR und auch in der DDRLiteratur ideologisch überformte Bild des Arbeiters plötzlich weg gewesen, dieses Verschwinden empfand Seiler selbst als Verlust. Es stellte sich die Frage, wo die Würde des Arbeiters, der Stolz des Arbeiters in der gegenwärtigen Literatur eigentlich noch vorkomme, wobei der Verlust dieser Ikone nicht nur durch den ideologischen Umbruch bedingt sei, sondern auch durch das Ende des mechanischen Zeitalters.256 Das Interesse an der Figur des Arbeiters ist auch biographisch bedingt, Seiler hatte – aus freier Entscheidung, wie er betont – zunächst den Beruf des Maurers gelernt und auf dem Bau gearbeitet, bevor er während seiner Armeezeit zu lesen und gleichzeitig auch zu schreiben begann. In dieser Zeit nahm er auch an Treffen des »Zirkels Schreibender Arbeiter« der LeunaWerke teil.257 Während seines Studiums führte ihn die beginnende schriftstellerische Tätigkeit dann im August 1985 auch zum Poetenseminar nach Schwerin.258 Begegnung mit dem Arbeiter und beginnender Schreibprozess In »Die Zeitwaage« wird zunächst ein Erzähler vorgestellt, der sich Anfang 1990 in dem sich täglich verändernden Ost-Berlin niederlässt und als Kellner und Küchenkraft in der damals in einem Keller in der Oranienburger Straße tatsächlich existierenden Kneipe »Assel« arbeitet259. Dort begegnet er einem Arbeiter, der täglich frühstücken kommt und ohne zu zahlen wieder geht, was der Erzähler stillschweigend akzeptiert, da der Mann seit seiner ersten überwältigenden »epiphanischen Erscheinung«260 im Türrahmen des Lokals eine immer stärkere Faszination auf ihn ausübt. Denn er erinnert ihn an seine eigene Vergangenheit als Arbeiter, obwohl er es nie geschafft hatte, diesem Milieu tatsächlich anzugehören: »Alles, was er tat, trug die Zeichen jener Gravität, wie ich sie, das konnte ich eingestehen, selbst nie erreicht hatte. Nie hatte ich wirklich

256 Studio LCB 2009, ab 19:00 min. 257 Ebd., ab 15:00 min. Zu Seilers Teilnahme an diesem Zirkel vgl. auch Bernhardt 2011 und 2016 (Kapitel »Freiheit und Arbeit in einem Roman, der den »Deutschen Buchpreis 2014« erhielt. Zu Lutz Seilers Roman Kruso«, S. 229–268). 258 Davon zeugt ein Sonderheft der Reihe Poesiealbum (Sonderheft. Poetenseminar 1985, hg. v. Hannes Würtz, Berlin, Verlag Neues Leben, 1986), das eine Auswahl der während des Seminars vorgetragenen Texte versammelt und in dem Seiler – neben u. a. Stefan Schütz und Johannes Jansen – mit dem Gedicht »Die Herrin des Hundes« (S. 14) vertreten ist. 259 Seiler nimmt dieses Thema in seinem bisher letzten Roman Stern 111 wieder auf. 260 So Ursula März in Studio LCB 2009 (Diskussion II), ab 5:00 min.

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Eingang gefunden in den inneren Kreis der Arbeiterschaft, ihre heilige Sphäre […]« (ZW, 273). Die Gegenwart dieses Arbeiters bewirkt nun beim Erzähler den Beginn einer Metamorphose und wird zum Auslöser eines Schreibprozesses. Nach dem »Stadium der Verpuppung« (ZW, 270), in dem sich der Erzähler bei seiner Ankunft in Berlin befand, »knisterte [es] in [s]einem Kokon« (ZW, 273), bis er beim Beobachten des Arbeiters plötzlich in einen traumhaften Zustand verfällt und auf einem Notizblock am Kühlschrank der allererste Satz entsteht: Ohne meinen Blick tatsächlich abwenden zu können, trat ich zurück, zwei, drei Schritte vom Tresen in die Küche […], ein beinah eleganter, traumhafter Rückzug, der alles in einen neuen, erlösenden Zusammenhang brachte: »Der Arbeiter sitzt unter dem Fenster, seine Hand hält eine Tasse in die Luft…« Ich schrieb auf den Block für die Essenbestellung; es war mein allererster Satz. (ZW, 273f.)

Gleich bei ihrer ersten Begegnung wird der Arbeiter zur Quelle des Schreibens, er ist von nun an unabdingbar und wird für den Erzähler immer mehr zu einer Bestätigung seiner eigenen Existenz: Jede seiner Gesten schien augenblicklich zum Verständnis meines eigenen Daseins beizutragen, der verlorengegangenen Ganzheit, wie es mir sinnlos durch den Kopf schoß, […]: Satz für Satz entnahm ich seiner Gestalt und dem schimmernden Treibgut meiner Erregung. Verheißung war das Wort dieser Zeit. (ZW, 276)

Während der Erzähler eine romantisch inspirierte Verlusterfahrung hinsichtlich eines ganzheitlichen Lebens zum Ausdruck bringt, erscheint die Begegnung mit dem Arbeiter wieder im Benjamin’schen Sinne als Konstellation, in der Gegenwart und Vergangenheit sinnstiftend aufeinandertreffen, und zwar als plötzliche Anerkennung der arbeiterlichen Vergangenheit des Erzählers und als Realisierung der in der Vergangenheit enthaltenen Verheißung, selbst zu schreiben. Die Verheißung als Prophezeiung schneller Veränderungen in der Umbruchszeit nach 1989/1990 war sicher »das Wort dieser Zeit«, doch ist hier vor allem der Schreibprozess gemeint, der sich – für die damalige Zeit paradox – gerade dem arbeiterlichen Potential der Vergangenheit zuwendet: »[…] ich schrieb: seine Würde, sein Stolz, seine Haltung – darauf kam es an. Seine Gesten schienen mir rein und vollkommen. Und ihre Summe, das spürte ich bereits, würde viel mehr ergeben.« (ZW, 275) Auf diese »Verheißung« eines längeren Schreibprozesses folgen Momente der Hoffnungslosigkeit, da der Arbeiter nicht mehr regelmäßig in die Kneipe kommt und es dem Erzähler nicht gelingt, ohne dessen Anwesenheit zu schreiben. Zu Hause auf der ihm als Schreibtisch dienenden und dadurch symbolischen »Werkbank«261 blickt er auf eine in der Zeitung gefundene 261 Diese Werkbank wird auch in Seilers Text »Der Flötenspieler« über das gleichnamige Gemälde von Rik Wouters erwähnt, in dem der Autor autobiographisch auch von seiner

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Abbildung des Arbeiters während seines Einsatzes und reflektiert erneut den Verlust der Arbeiterschaft im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen: Noch einmal übermannte mich der Eindruck eines verlorenen, anscheinend unbeschreibbaren Fundus, den ich in seinem Bild erkannt zu haben glaubte – ein ganzer Kontinent des Guten und Richtigen, der abgebrochen und in die Tiefe gesackt, aber nun riesig und dunkelvertraut wieder auftauchte vor meinen Augen, Rekonstruktion der emotionalen Bestände auf Höhe des Hackeschen Markts hieß die Bildunterschrift, und unbegreiflich war, daß ich das bisher übersehen hatte. (ZW, 279)

Die »Rettung« dieses Fundus der Arbeiterschaft wird der Erzähler schreibend übernehmen. Die hinsichtlich der Reparaturen an der Oberleitung einer Straßenbahn reichlich diskrepante Bildunterschrift charakterisiert umso besser dessen Schreibprojekt. Dies setzt jedoch erst in dem Moment wirklich ein, als der Arbeiter stirbt und nunmehr der Erzähler für die Vermittlung von dessen Erfahrungen bürgt. Die Uhr des Arbeiters, die wiederum mit dem titelgebenden Instrument der Zeitwaage eng zusammenhängt, wird dabei zu einem symbolischen Gegenstand. Das »Geheimherz der Uhr«: Weitergabe von Erfahrung und Lebenszeit Jedes Mal, bevor der Arbeiter seinen Kaffee trank, legte er seine Armbanduhr ab, so als handle es sich um eine »gelassen und behutsam ausgeführt[e] Operation, mit der ein lebenswichtiges Organ für eine notwendige Zeit entfernt und an einem dafür lange vorbestimmten Ort deponiert wird.« (ZW, 275) Beim letzten Frühstück, kurz vor seinem Unfalltod, lässt der Arbeiter seine Uhr auf dem Tisch liegen und der Erzähler hofft, dass er gleich wiederkommen werde »und dann – dann vielleicht, bei der Übergabe seiner Uhr, unser Gespräch [begänne].« (ZW, 280) Dazu wird es nicht mehr kommen, doch bleibt die Uhr das Bindeglied zwischen dem Arbeiter und dem Erzähler, der nun sowohl für den korrekten Gang der Uhr Sorge trägt als auch – dank seines Schreibens – für den Fortgang der Geschichte des Arbeiters. Ähnlich wie in der Erzählung »Gavroche« wird auch hier der Tod der Figur die Fortsetzung und Weiterentwicklung des gerade begonnenen Schreibprozesses gewährleisten. Seiler bemerkt dazu, dass der Arbeiter sterben müsse, »damit das Erzählen beginnen kann«, »damit die Fiktion gelingen kann«.262 Tatsächlich entsteht der erste längere und zusammenhängende Text des Erzählers – vorher

ehemaligen Wohnung in der Rykestraße spricht: »Die Werkbank war mein Schreibplatz – die Bank zum Werk, so dachte ich damals.« Es folgt eine Beschreibung, die derjenigen in der Erzählung »Die Zeitwaage« ähnelt. Seiler 2018, S. 23. 262 Studio LCB 2009 (Diskussion II), ab 7:00 min.

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notierte er nur einzelne Sätze – nach dem Tod des Arbeiters, den er am Kühlschrank der »Assel« detailliert beschreibt: Um dem Geschehen noch einmal näher zu sein, möchte ich jetzt mit dem Wortlaut jener ersten Bleistiftnotizen fortfahren, die ich damals, nur wenig später, auf dem Kühlschrank der Assel machte – eine allererste, grobe Niederschrift, die ich hier ohne Nachbearbeitung wiedergebe: »Er war bereits verschwunden, als ich kam. […]«. (ZW, 281)

Es folgt die genaue Beschreibung der Ereignisse, so dass die Illusion eines realen Augenzeugenberichts entsteht. Die Metamorphose des Erzählers scheint vollendet, nach der Verpuppung und dem Knistern im Kokon entfaltet sich nun das Schreiben. Gleichzeitig ist diese Passage ein erneutes Beispiel für das Spiel zwischen Autor und Erzähler, da Teile der Szene aus autobiographischer Perspektive fast gleichlautend bereits in Seilers Aufsatz »Sonntags dachte ich an Gott« festgehalten worden sind.263 Auffällig in der Erzählung ist dabei das stärkere Herausarbeiten des arbeiterlichen, auf die DDR bezogenen Kontextes, denn während im Essay die Frage gestellt wird, warum das »Team«264 des Mannes – der dort im Gegensatz zur Erzählung nie als Arbeiter bezeichnet wird – ihm nicht zu Hilfe kam, so spricht der Erzähler der »Zeitwaage« von »Brigade« (ZW, 282). Am Ende gleitet die Uhr auf das Polster, daneben ein neuer Streifen Blindenschrift. Zuerst verwahre ich die Schrift. Wie ich dann das Armband verschließe über dem Puls, sorgsam, gelassen, der Arm gestreckt wie zur Blutabnahme und die Hand ganz dicht über dem Verkaufstisch, zeige ich Walinski, daß ich weiß, wie man mit einer Uhr umgeht. (ZW, 283)

In der Zwischenzeit hat die Uhr ihre Geheimnisse preisgegeben, und zwar dank der »Zeitwaage«, einem Gerät, das jede Art von Unregelmäßigkeit ausfindig macht und aufzeichnet: »Fehlerhafter Abfall und schwankende Momente, unrunde Räder und streifender Anker – es ist der verborgene Zustand, das Geheimherz, wie Walinski es nannte an diesem Tag.« (ZW, 269)265 In seiner Dankesrede zum 2010 für den Erzählband Die Zeitwaage erhaltenen Fontane-Preis nimmt Seiler den aus Elias Canettis autobiographischen Aufzeichnungen stammenden Begriff des »Geheimherzens« noch einmal auf: »Schon 263 Seiler 2004, S. 144–146. 264 Ebd., S. 146. 265 In der kurzen Erzählung »Mann mit Uhr« (2013) geht Seiler der Herstellung von Uhren in früheren Zeiten nach, als noch Schweineborsten und nicht Federn den Gang der Uhren regulierten. Auch diese Uhren hatten bereits ein »Geheimherz«, das den Herzschlag der getöteten Tiere aufnahm. Die Figur der Erzählung »[…] trennte sich nicht mehr von seinem kleinen tickenden Kästchen. Vor dem Schlafen presste er den kühlen Bergkristall des Deckels an sein Ohr und war sofort geborgen. Hier lag er und lauschte in seine eigene Höhle. Im Traum war es ein kleiner Sarg aus Glas. Dann ein gutes warmes Tier, sein Herzschlag und das Borstenhaar, in das die Zeit eingeschlossen war.« Seiler 2018, S. 12f.

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als Kind also war ich sicher, daß Uhrwerke eigenen Melodien folgen, es gab einen Geheimniszustand der Uhr, ein ›Geheimherz‹, wie Canetti es nannte.«266 Diese ganz »eigen[e] Melodi[e]« einer Uhr wird durch den Apparat der Zeitwaage in Töne, aber auch in Schrift übersetzt; für Seiler bekommt er eine poetologische Bedeutung: »[…] und schließlich bildeten dieser Apparat und vor allem sein Geräusch den eigentlichen Ausgangspunkt für das Erzählen.«267 Was sich hier als Schreib- und Erzählimpuls des Autors darstellt, wird in »Die Zeitwaage« wiederum auf die Erzählerfigur übertragen. Für diesen liefern die Uhr und deren »Geheimherz« »die Schrift«, wie es im oben angeführten Zitat heißt, die der Erzähler »[z]uerst verwahr[t]« (ZW, 283). Diese zunächst mechanische »Blindenschrift« (ebd.), die sich aus dem Inneren der Uhr offenbart, ist das Erbe des Arbeiters, es ist dessen symbolische Botschaft, die der Erzähler nun in wirkliche Schrift und in eine Erzählung umwandelt. Dabei geht es auch um eine Rettung von Zeit, und zwar der Zeit, die der Arbeiter noch bezeugte. Die Geräusche, die die Zeitwaage von sich gibt, beschreibt der Erzähler durch das bewusst gewählte Wortfeld der Arbeit in sprachlichem Einklang mit dem verstorbenen Arbeiter: »Der maschinenhafte Ton, klar und stark, als schlüge etwas gegen die Verstrebungen der Zeit […]« (ZW, 266f.). Die »Verstrebungen«, eigentlich Bauelemente, die sich gegenseitig stützen und diagonale Verbindungen herstellen, betreffen nun die Zeit, und es scheint die Aufgabe des Erzählers zu sein, die vielfältigen und nicht immer geradlinigen Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart aufrecht zu erhalten und Vergangenes zu bewahren. Seit der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehen Uhren in der Literatur als Zeichen einer Diskrepanz zwischen individueller und gesellschaftlicher Zeit. Auch in der Gegenwartsliteratur ist die Uhr, wie Johannes Pause zeigt, eine »Kernmetapher«, die das Verhältnis zwischen subjektivem Zeitempfinden und gesellschaftlicher Zeitordnung reflektiert268, jedoch seien die Uhren im Gegensatz zur Literatur der Moderne nicht mehr »Repräsentanten einer vereinheitlichten Macht«, sondern unterschiedlichster individueller Eigenzeiten, die einer vereinheitlichten Zeit entgegenstehen.269 In diesem Sinne symbolisiert auch die vom Erzähler aufbewahrte Uhr des Arbeiters eine Eigenzeit, die als offensichtlicher Speicher einer anderen, früheren Zeit der Zeiterfahrung der Gegenwart widersteht und diese in Frage stellt. Dabei repräsentiert diese gespeicherte Zeit weder ein nostalgisches Früher noch die optimistische Zukunftsausrichtung des 266 Seiler 2011, S. 133. In Canettis Aufzeichnungen findet man im Jahr 1983 den Aphorismus »Niemand bekannt das Geheimherz der Uhr.«, der in zahlreiche Überlegungen über das Alter eingebettet ist. Vgl. Canetti 1987, S. 168. 267 Seiler 2011, S. 133. 268 Vgl. Pause 2012, S. 137f. 269 Ebd., S. 138.

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»linearen« und »homogenen« Zeitpfeils offizieller Geschichtsvorstellungen, sondern sie ist durch die Figur des Arbeiters an einen individuellen Erfahrungskontext gebunden und figuriert erneut im Benjamin’schen Sinne ein in der Vergangenheit vorhandenes, aber uneingelöstes Potential. Seiler selbst kommentiert die Szene der Uhrenübergabe so: der Erzähler müsse glauben, dass der Arbeiter ihm die Uhr hinterlassen hat, dass es »eine Art Staffelstab ist, die er von dem Arbeiter […] wie eine Erbschaft mitbekommen hat, und wenn er die Uhr auf die Zeitwaage legt, dann hört er den Herzschlag des Arbeiters.« Deshalb müsse er sich immerzu um die Uhr kümmern, um das Geräusch des Herzens des Arbeiters zu hören, damit sie nie aufhöre zu schlagen. Der »tote Arbeiter in Gestalt der Uhr verbrieft ihm, dass er als Schreibender, als jemand, der die Geschichte des Arbeiters […] schreiben kann, weiter existieren kann.« Es gebe »eine Art Messianismus in dieser Geschichte«, schließt Seiler.270 Als der Erzähler nach dem Unfalltod des Arbeiters durch Berlins nächtliche Straßen läuft, hält er an einem Gebäude inne, dessen Fassade noch zahlreiche Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg aufweist.271 Die Erinnerung an seine eigenen Kenntnisse als Maurer stellen sofort eine Nähe zum Arbeiter her: Ein Stück rostendes Metall schlägt durch mit der Zeit, durch jede neue Fassade, es blüht aus, wie man es sagt unter Maurern, soviel wußte ich noch. Sofort hatte ich den Glanz des Leuchtkittels vor Augen. Er hatte alles für mich getan. Er war in die Assel gekommen, er hatte mir Zeichen gegeben und meine Arme gehoben. […] Langsam zog ich meinen Finger aus dem Einschußloch. Das erste Mal seit meiner Kindheit hatte ich ernsthaft den Gedanken zu beten. Nicht nur für den Arbeiter, um ehrlich zu sein, auch für den Fortgang meiner Geschichte. (ZW, 285)272

Der »Fortgang« der Geschichte meint einerseits die begonnene literarische Erzählung über den Arbeiter, doch gleichzeitig geht es auch um die Fortsetzung der eigenen Lebensgeschichte des Erzählers, als Arbeiter oder einfach nur als übrig Gebliebener aus einer Zeit, die nun definitiv vergangen ist. In diesem Sinne repräsentieren die Einschusslöcher und die damit geöffnete tiefere Zeitschicht des Zweiten Weltkriegs vielleicht die Zeichen einer Vergangenheit, die gegenwärtig noch einmal »blitzhaft« aufscheint und an die verratenen Ideale und vertanen Chancen der Gründerjahre der arbeiterlichen DDR-Gesellschaft erinnern.273

270 Studio LCB 2009 (Diskussion II), ab 8:20 min. 271 Es handelt sich hier um das ehemalige Gebäude, in dem sich in Ost-Berlin die Institute für Romanistik und Germanistik der Humboldt-Universität befanden. 272 Für eine biblische Interpretation dieser Szene vgl. Opitz 2015, S. 199f. 273 Haase (2015, S. 402) zufolge verweise die Uhr des Arbeiters und deren ›Geheimherz‹ auf »die durch den Mauerfall vollzogene Entkopplung von Geschichte und individueller Biographie« im Sinne des von Hans Ulrich Gumbrecht beschriebenen Endes des »Chronotops des

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Hommage an Wolfgang Hilbig Nicht aus ideologischen Gründen muss der Arbeiter geopfert werden, wie in Werner Bräunigs eingangs erwähntem Roman, sondern um den Schreibprozess des Erzählers in Gang zu bringen. Doch gerade dadurch wird der Arbeiter gerettet: als literarische Gestalt, die in und dank der Literatur überlebt, während die Gesellschaft nun auf ihn verzichten kann. Seiler setzt in seiner Erzählung die in der DDR begonnene Literaturgeschichte des Arbeiters gerade im Moment ihres Verschwindens fort, wobei er sie von ihren ideologischen Belastungen befreit. Denn seiner Geschichte eines Arbeiters ist die Figur des vielleicht einzigen wahrhaftigen ›Arbeiterschriftstellers‹ der DDR eingeschrieben, der sich kontinuierlich jeglicher Vereinnahmung entzog: Wolfgang Hilbig. Seilers Text ist nicht nur eine literarische Rettung des Arbeiters, sondern gleichzeitig eine Hommage an Hilbig, der für den Autor Lutz Seiler eine wichtige Referenz274 darstellt und auch in anderen Erzählungen implizit präsent ist.275 »Die Zeitwaage« steht unter einem Motto aus Hilbigs 1985 veröffentlichter Erzählung »Die Angst vor Beethoven«: »Leider war es in unserer Familie Brauch, die Hauptstadt aufzusuchen…« (ZW, 261). Während sich der Satz in Hilbigs Erzählung auf die Familie des Blumenverkäufers und historisch auf das 18. Jahrhundert bezieht,276 überlagert sich die Bezeichnung »Hauptstadt« für Berlin sowohl bei Hilbig als auch bei Seiler mit Ost-Berlin, der »Hauptstadt der DDR«. In dieses Ost-Berlin der Nachwendezeit begibt sich auch Seilers Figur in der »Zeitwaage«, so dass hier über Hilbigs Erzählung erneut unterschiedliche Zeitschichten offengelegt werden. Weitere Verweise auf Hilbig bzw. dessen Erzähluniversum sind die für seine Erzählungen und Romane charakteristische Figur »C.« (ZW, 261), die Kellerkneipe »Assel« als Pendant zu Hilbigs langjährigen Arbeitsplätzen in den Kellern der Kombinate, wo er als Heizer tätig war, oder das nächtliche, oft unfruchtbare Schreiben des Erzählers an der Werkbank, das auch Hilbig kannte.277 In der physischen Beschreibung des Arbeiters wird auch Hilbig porträtiert: »Das Gesicht eines Boxers, dachte ich, eines Arbeiters

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›historischen Denkens‹«. Seilers Text zielt jedoch gerade darauf ab, eine bestimmte Geschichte anhand individueller Erfahrung zu ›retten‹. Vgl. dazu das Interview mit Kasaty 2007, S. 370, in dem Seiler als einen seiner bevorzugten Texte auch Hilbigs Langgedicht »prosa meiner heimatstraße« erwähnt (S. 390). So z. B. durch die physische Beschreibung des Stotterers in der gleichnamigen Erzählung. Hilbigs schwieriges Verhältnis zur eigenen Autorschaft scheint Hintergrund der Erzählung »Der Badgang« (ZW, 152–160) zu sein, dort gibt es auch die für Hilbigs Erzählungen und Romane charakteristische Figur C. Auch in der im vorigen Kapitel analysierten Metalepse in »Gavroche« kann man narrative Affinitäten zu Hilbig sehen, dessen Werk häufig auf Metalepsen zurückgreift. Vgl. dazu Terrisse 2019, S. 209–283. Vgl. Hilbig 2009, S. 300. Zu Hilbigs Biographie, seinem Schreiben und Werk, vgl. Opitz 2017.

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jedenfalls.« (ZW, 272),278 auch gibt es Anspielungen auf dessen »altmodische Stirnlocke« (ZW, 273). Während der mit dem Schreiben beginnende Erzähler in Seilers »Zeitwaage« im Nachwende-Berlin mit seiner Vergangenheit als Arbeiter ringt, einer Klasse, der er nie wirklich angehörte, weil ihm, wie er vermutet »ein bestimmtes, entscheidendes Merkmal, ein Geruch, eine Tonlage vielleicht… » (ZW, 273) fehlte, denkt der als Nachtwächter und Heizer arbeitende Erzähler in Hilbigs kurzer Erzählung »Über den Tonfall« über einen »Tonfall« in der Lyrik nach, der gerade nicht dem gesellschaftlichen Realitätsprinzip unterliegen möge.279 Die Suche nach den arbeiterlichen Wurzeln bei Seilers schreibendem Erzähler steht spiegelbildlich zur Suche nach einer möglichen literarischen Ausdrucksweise bei Hilbigs ›schreibendem Arbeiter‹, der zwischen zwei Existenzweisen – als Arbeiter und als Schriftsteller – hin- und hergerissen ist. Nicht zuletzt ist auch der dem Arbeiter ganz eigenen und mehrmals fokussierten Geste des Kaffeetrinkens Hilbigs Präsenz eingeschrieben.280 In einem kurzen, Wolfgang Hilbig nach seinem Tod gewidmeten Text, berichtet Seiler über eine Begegnung mit Hilbig anlässlich einer gemeinsamen Lesung in Erfurt und erwähnt das dort entstandene »Bild, das ich zuerst sehe, wenn ich an Wolfgang Hilbig denke […]«: »ein einzelner Mann, der, halb aufgestützt, an der kleinen Theke […] stand und, wie es schien, mit schwerer Hand, eine Kaffeetasse zum Mund hob […]«.281 Schließlich ist das Datum des Tages, an dem der Arbeiter zum letzten Mal in der Assel frühstückt und an dem er zu Tode kommt, nicht zufällig gewählt: »Das letzte Frühstück machte ich ihm am 31. August […]. Das Datum verdanke ich meinem Notizbuch […]« (ZW, 279f.). Sicher ist der 31. August 1990 der Tag, an dem der Einigungsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten unterzeichnet wurde, wie Michael Haase anmerkt,282 was auch das Ende einer Gesellschaft bedeutete, die den Arbeiter in den Mittelpunkt gestellt hatte. Doch ist der 31. August auch, und vor allem, der Tag, an dem Wolfgang Hilbig im Jahre 1941 geboren wurde. Die Geburt des Arbeiters und des außergewöhnlichen Schriftstellers Hilbig wird bei Seiler überlagert vom Tod eines Arbeiters, jedoch auch von der Geburt eines anderen Schriftstellers, der die Geschichte des toten Arbeiters 278 Zum »dichtende[n] Boxer Hilbig« vgl. ebd., S. 160f. 279 »Die Spürhunde der Realität haben die Sprache ausgerauft, der Tonfall der Realität ist das ätzende Agens, in dem die Stimmen der Lyrik ersticken.« Hilbig 2009, S. 75. Lutz Seiler erwähnt die Erzählung auch in seinem Hilbig gewidmeten Text »Columbo« (Seiler 2008, S. 98). 280 Es existieren kanonische Fotos von Dietrich Oltmanns, die Hilbig beim Kaffeetrinken zeigen. Vgl. die Fotoserie aus dem Jahr 1983, verfügbar unter: https://www.wolfgang-hilbig.de /wolfgang-hilbig/bilder [12. 08. 2021]. 281 Seiler 2008, S. 96, 97. 282 Haase 2015, S. 404.

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aufgreift, für sie Sorge trägt und somit indirekt auch Hilbigs Erbe fortsetzt. Und nicht zuletzt ist es wieder der Autor Lutz Seiler selbst, der durch die Erzählung in eine bestimmte Konstellation mit Wolfgang Hilbig tritt. Findet man dessen Geburtstag im Text, so verweist die Uhr, die der Erzähler vom Arbeiter erbte, eine »Glashütte SPEZIMATIC, Gehäuse: Messing vergoldet, Jahrgang: dreiundsechzig.« (ZW, 274) nicht zufällig auf Seilers Geburtsjahr, so dass es zu einer bedeutsamen Überschreibung der Lebenszeiten beider Autoren kommt. Vergegenwärtigt und aktualisiert wird in »Die Zeitwaage« demnach nicht nur die Erinnerung an die »arbeiterliche Gesellschaft«283 der DDR, wie Wolfgang Engler sie nannte, sondern auch an einen literarischen Kanon, der sich im Falle Wolfgang Hilbigs einer Unterordnung unter ideologische Prinzipien entzog und, wie Hilbigs Werk zeigt, die wahrhaftigen Widersprüche eines Arbeiterlebens im Zusammenhang mit der Suche nach einer künstlerischen Existenz in der DDR reflektierte. Das Fortschreiben dieses Kanons durch Lutz Seiler selbst garantiert ihm sein Überdauern.

1.1.4. Fazit: Vergangenheit als Stillstellung und Rückversicherung Die in Lutz Seilers Prosaband Die Zeitwaage versammelten Erzählungen setzen sich mit dem Phänomen Zeit explizit und implizit in zwei Richtungen auseinander. Einerseits werden auf der diachronen Ebene der erzählten Zeit der fortschrittsorientierten und zukunftszugewandten Geschichts- und Zeitkonzeption der DDR mythische und überzeitliche Elemente entgegengesetzt, die eine gewisse Zeitenthobenheit und damit ein Heraustreten aus der vorwärtslaufenden Geschichtszeit suggerieren. Gleichzeitig werden bei der Darstellung der Figuren individuelle Erfahrungsmomente aufgewertet, die anders als der ideologisch geprägte gesellschaftliche Zeitzusammenhang sinnstiftend sind. Auf synchroner Ebene wiederum werden einer als negativ empfundenen beschleunigten Gegenwart erfahrungsbehaftete Momente der Vergangenheit gegenübergestellt, die auch mythisch überformt sein können und der Schnelllebigkeit durch ihr überzeitliches Wirkungspotential entgegenstehen. Der Zugang zur eigenen Vergangenheit und das Erinnern werden als komplexer Prozess sichtbar gemacht, als Stillstellung und Entschleunigung, als Durchlaufen von Schwellenzuständen und Festhalten an Gegenständen und Wörtern, die als Zeit- und Erfahrungsspeicher sinnstiftend sind. Dass es dabei auch darum geht, die eigene Geschichte und die Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren, ist hier mehr als ein Gemeinplatz. Denn der plötzliche gesellschaftliche Umbruch von 1989/ 1990 zog einen radikalen Wechsel aller historischen, politischen, sozialen und 283 Vgl. das ebenso betitelte Kapitel in Engler 1999, S. 173–208.

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kulturellen Bezugspunkte und Codes nach sich, so dass im Rückblick durchaus der Eindruck entstehen kann, dass man sich seiner eigenen Vergangenheit rückversichern muss.

1.2. Inseltopos und Eigenzeiten im Roman Kruso (2014) Was in den Erzählungen des Bandes Die Zeitwaage bereits angedeutet wurde, verhandelt Lutz Seilers 2014 erschienener erster Roman exemplarisch: die Affirmation von Eigenzeitlichkeit angesichts dominanter Zeitmodelle. Dabei kommt dem Inseltopos als literarischer Figuration einer spezifischen Zeitlichkeit und als Ort des Wandels eine besondere Rolle zu, ein Thema, das auch in der jüngeren Forschung besondere Beachtung fand.284 Seilers Roman spielt fast ausschließlich auf der Insel Hiddensee, der erzählte Zeitraum umfasst im Wesentlichen die Monate zwischen Juni und November 1989. Edgar Bendler, Germanistik-Student in Halle an der Saale und angehender Trakl-Spezialist, beschließt fast ein Jahr nach dem plötzlichen Unfalltod seiner Freundin G. seinem bisherigen Leben zu entfliehen und einen neuen Aufbruch zu wagen. Hiddensee erscheint ihm dafür als einzig möglicher Ort, »ein anderes Ziel war nicht denkbar innerhalb der Grenzen.«285 In der legendären Gaststätte Zum Klausner findet er Arbeit und Unterkunft, dank der Begegnung und Freundschaft mit der titelgebenden Figur Kruso wird er in die Parallelgesellschaft der Esskaas, der auf der Insel arbeitenden Saisonkräfte, eingeführt. Im Gegensatz zu den Erzählungen des Bandes Die Zeitwaage, in denen die Gegenwartsperspektive entweder als erzählte Zeit oder durch Erzählerkommentare präsent ist und parallel zu der aus größerer Distanz erinnerten Vergangenheit reflektiert wird, liegt die erzählte Zeit des Romans Kruso hauptsächlich vor dem Umbruch von 1989, mit Ausnahme des Epilogs, dem eine besondere Funktion zukommt. Die erzählte historische Zeit wird jedoch nicht im »narrativen Modus« aus distanziert-erinnernder Perspektive betrachtet, sondern im »dramatischen Modus«, der den »Eindruck einer unmittelbaren Präsenz«286 vermittelt. Insofern versteht sich die im Roman über den Inseltopos konstruierte besondere Zeitlichkeit vor allem als Korrektiv zum Zeitverständnis in der DDR. Gleichzeitig, und obwohl außer im Epilog die Zeit nach dem Umbruch 1989 im 284 Vgl. dazu vor allem Ostheimer/Zubarik 2016. 285 Seiler 2014, S. 32. Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf Kruso beziehen, mit der Sigle K direkt im Text angeführt. Hervorhebungen im Original. 286 Martinez/Scheffel 2009, S. 50. Zur Beschreibung des Grads der Mittelbarkeit von Erzählungen unterscheiden die Autoren in Anlehnung an Genettes Kategorie der Distanz zwischen »narrative[m] Modus (= mit Distanz)« und »dramatische[m] Modus (= ohne Distanz)«. Ebd., S. 49.

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Roman als erlebte Zeit nicht existiert, wird diese vor allem von Kruso vorausimaginiert und als solche mit Skepsis betrachtet, so dass sich der Roman, wie bereits die Erzählungen, sowohl zum vergangenen als auch zum gegenwärtigen Zeitregime kritisch verhält. Im Folgenden soll die besondere Zeitlichkeit des Inseltopos im Mittelpunkt stehen, wobei erneut Elemente in den Blick geraten, die auch für die Erzählungen relevant sind. So eignet der Insel als Ort »außerhalb der Zeit« gegenüber dem Festland eine Zeitlosigkeit, die ihrer liminalen Funktion entspricht. Gleichzeitig begegnet man erneut archaischen und mythischen Elementen sowie einer zyklisch-natürlichen Auffassung von Zeit, die als Gegensatz zur linearen Geschichtszeit auf dem Kontinent gelesen werden kann. Für Ed ergibt sich daraus der Zugang zu ästhetischer Zeitlosigkeit und einer Eigenzeit, die eine persönliche Wandlung bewirken, bevor die historische Zeit auch auf der Insel Einzug hält. Diesen verschiedenen Ausrichtungen von Zeiterfahrung wird im Folgenden nachgegangen, wobei auch Konzepte wie Idylle, Utopie und Heterotopie zur Beschreibung der Inselwelt diskutiert werden.

1.2.1. Funktion der Insel, Zeitlosigkeit und Liminalität Den kulturellen Repräsentationen der Insel und Insularität ist die Vorstellung einer ganz eigenen Zeitlichkeit eingeschrieben. Christian Moser hat gezeigt, dass im okzidentalen Diskurs die Gegenüberstellung von Insel und Festland auch mit unterschiedlichen Vorstellungen von Geschichtlichkeit verbunden ist: während die »geopolitischen und kulturellen Grenzen des Festlands […] einem geschichtlichen Wandel [unterliegen]«, scheint die durch die natürliche Grenze des Meers umgebene Insel »gegen derartige Veränderungen resistent zu sein«.287 Sie bewahre ihren ursprünglichen Zustand, etabliere sich als Fluchtraum und bilde einen »Winkel der Vergessenheit« außerhalb der Zeit.288 Diese besondere Zeitlichkeit des Insel-Topos steht auch in jüngeren Untersuchungen im Mittelpunkt. So verweisen Michael Ostheimer und Sabine Zubarik auf das zunehmende Interesse der Erzählliteratur nicht nur an der Insel als »anderem« Ort, sondern an der »Anders-Zeitlichkeit« des Insularen.289 Diese besondere Zeitlichkeit der Insel ist auch in Seilers Roman Kruso ein zentraler Aspekt und wird, wie im Folgenden gezeigt wird, auf besondere Weise literarisch konstruiert.

287 Moser 2005, S. 409. 288 Ebd. Zum Topos der Insel als »places out of time«, vgl. Rod Edmond, Vanessa Smith (Hg.): Islands in History and Representation, London, New York, Routledge, 2003, S. 8 (zitiert ebd.). 289 Ostheimer/Zubarik 2016, S. 8f.

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Der Insel Hiddensee kommt im Roman die von Moser erwähnte Funktion eines Fluchtraums zu, eines marginalen Rückzugsorts am Rande der DDR: Hiddensee »[läge] im Grunde schon außerhalb […], exterritorial, eine Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen.« (K, 33) Krombach, der Leiter des Klausners, bezeichnet die Esskaas als vom »Festland ausgespuckt«, welche die Insel »aufgenommen« habe (K, 49). Die Gründe für diese Marginalisierung sind vielseitig, oft sind es Personen, die die DDR verlassen möchten, die entweder einen Ausreiseantrag gestellt haben oder, wie Speiche, Eds Vorgänger im Klausner, einen Fluchtversuch unternehmen. In diesem Zusammenhang wird die besondere Zeitlichkeit der Insel im Roman direkt thematisiert und korrespondiert mit Mosers Überlegungen über einen Raum außerhalb der Zeit. So heißt es über den Zustand des Wartens, in dem sich die Esskaas mit Ausreisantrag befinden, ihr Leben liege »längst außerhalb«, »nicht nur außerhalb des Landes, auch außerhalb der Zeit, deren zählbarer Verlauf von der Insel und ihrer Magie außer Kraft gesetzt war. Als hätte sich ihr Wartezustand zu einer Art paradiesischem Jenseits verdichtet.« (K, 167) Die Bewilligung der Anträge treffe sie dann »wie ein Schlag«: »Auf der Insel waren sie weit abgetrieben, und plötzlich hieß es, aufzutauchen und zurückzurudern in den offiziellen Ablauf der Zeit – oft blieben dafür nur wenige Tage.« (K, 167) Die Zeitlosigkeit der Insel steht der ›offiziellen‹, gesellschaftlich-geschichtlichen Zeit gegenüber, die räumliche Metapher des wegtreibenden Boots unterstreicht diese Diskrepanz. Nicht zuletzt wird die Eigenzeitlichkeit der Insel durch den Eingriff in die etablierte Zeitordnung der Gesellschaft symbolisiert: so feiern die Esskaas das Weihnachtsfest mit all seinen Bräuchen zur Sommersonnenwende, um es im Kreis ihrer Gemeinschaft begehen zu können (K, 89). Gesellschaftlich organisierte Zeit wird durch die natürliche Zeit ersetzt, ein Phänomen, das vor allem im Zusammenhang mit der Figur Edgar Bendlers eine Rolle spielt. Die im Roman thematisierte Zeitlosigkeit der Insel korrespondiert mit dem Zustand der Liminalität, der bereits für bestimmte Figuren aus Seilers Erzählungen beschrieben wurde, die sich einer negativ erfahrenen Gegenwart entziehen, um in die Vergangenheit einzutauchen. In Kruso findet man die entgegengesetzte und für Schwellenzustände typische Bewegung: das Verlassen des alten Lebens und den Eintritt in ein neues. Dies betrifft die in der Zeitlosigkeit verharrenden Esskaas, die auf ihre Ausreise warten ebenso wie die »Schiffbrüchigen«,290 Außenseiter der DDR-Gesellschaft und potentielle Flüchtlinge, derer 290 Da die nach Hiddensee kommenden Aussteiger auch dem Stillstand und der Stagnation der DDR-Gesellschaft entkommen und sich selbst entfalten wollen, kann die Insel-, Meer- und Seefahrtsmetaphorik im Roman im Sinne Blumenbergs als Metapher für die »Bewegung seines [des Menschen] Daseins im ganzen« gelesen werden, im Gegensatz zu den stabilen »Institutionen auf dem festen Lande«, welches traditionell als der »angemessene Aufenthalt des Menschen« gelte. Vgl. Blumenberg 2018, S. 9, 15.

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Kruso sich annimmt. Innerhalb weniger Tage intensiven Inselerlebens, das von Ritualen durchsetzt ist und insofern einem liminalen, zeitlosen Zwischenstadium entspricht, hofft er sie zur inneren Freiheit zu führen und so vor dem sicheren Tod in der Ostsee zu retten. Schließlich befindet sich vor allem Ed in einem Übergangsstadium. Im Gegensatz zu den meisten Esskaas, die sich im Konflikt mit dem Staat befinden und für die die Insel eine Übergangslösung auf dem Weg in den Westen darstellt, hat Ed ganz eigene Gründe, seine »eigene Geschichte, die allerdings nichts mit Ärger oder Ausspucken zu tun gehabt hatte, mehr mit einer Straßenbahn.« (K, 49) Ed ist ein Außenseiter unter Außenseitern, mehrmals wird erwähnt, dass er die »unausgesprochene Voraussetzung« für den Inselaufenthalt nicht erfüllt (K, 88, 118, 125) und weder zu den »Schiffbrüchigen« noch zur »ehrenwerten Gilde der Esskaas gehörte« (K, 133). Der Grund für Eds Flucht auf die Insel ist vermutlich sein persönliches Trauma, der Unfalltod seiner Freundin G., die ein Jahr zuvor von einer Straßenbahn überfahren wurde: er »wollte weg, abtauchen, einsam sein, aber nicht mehr allein.« (K, 48) Neben dem traumatischen Verlust der Freundin scheinen auch Eds misslungene Schreibversuche den Rückzug aus seinem bisherigen Leben zu motivieren.291 Denn der Roman ist auch ein Entwicklungs- bzw. Dichterroman, der den Weg einer künstlerischen Berufung, die Suche nach dem »eigenen Ton« beschreibt.292 In dieser Hinsicht hat die Insel für Ed noch eine andere Funktion als für die restlichen Außenseiter, sie dient nicht nur als möglicher Ort der Selbstfindung und des Auslebens einer Eigenzeit, sondern sie hat auch eine mäeutische Funktion: im Kontakt mit den natürlichen Elementen der Insel gelingt es Ed, sich von seinen »Auswendigbeständen« (K, 40), dem während seines Studiums auswendig gelernten literarischen Fundus zu befreien, zu »eigenen Gedanken« (ebd.) und Versen zu kommen und so seine künstlerische Berufung ansatzweise zu realisieren. So fungiert die Insel auch als »Stätt[e] der Verwandlung«, wie es bei Moser heißt, »wo die Besucher einer Metamorphose oder Verzauberung unterzogen werden«. In der Tat wird die Insel kulturgeschichtlich auch mit Selbstfindung assoziiert, sie ist eine notwendige Station zur »Rückeroberung des Selbst«.293 Dabei spielt für Ed, dem es durch das Schreiben auch gelingt, sein Trauma zu überwinden, die Erfahrung der spezifischen Inselzeitlichkeit ein besondere Rolle: sie öffnet ihm den Zugang zu weiteren Zeiterfahrungen, zu einer archaisch291 So erfährt der Leser von »zwanzig hölzernen Gedichte[n] aus dreizehn Schreibanfängen in hundert Jahren« (K, 13). 292 Zu Kruso als Dichterroman und Eds Suche nach einer eigenen dichterischen Stimme vgl. Banoun 2019. 293 Moser 2005, S. 413, 414. Moser zitiert hier Odyssee-Interpretationen des französischen Altphilologen Jean Peyras, der die Insel als »lieu de passage« und den Rückweg in die Heimat als »reconquête de soi« bezeichnet.

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mythischen ebenso wie zu einer natürlichen Zeitwahrnehmung, welche den Übergang in »das absolute Präsens« (Karl Heinz Bohrer), in die Zeitlosigkeit der ästhetisch-künstlerischen Zeit erlaubt.

1.2.2. Mythisch-archaische Verortung in der Vorzeit Der für Seilers Erzählungen charakteristische Rückgriff auf archaische und mythische Motive ist auch im Roman Kruso von Bedeutung. Gleich zu Beginn wird der Insel ein »mythische[r] Glanz« (K, 34) zugeschrieben, entsprechend unnahbar erscheint sie: »eine Insel, die immer weiter hinaustrieb, außer Sichtweite geriet – man musste sich beeilen, wenn man noch mitgenommen werden wollte.« (K, 34) Als Ed die Steilküste betrachtet, nimmt er dort den »Schädel eines Zyklopen« (K, 42) wahr, wobei die Anspielung auf Homers Odyssee auch auf die bereits im Titel angezeigte literarische Überformung der Insel verweist. Hinzu kommen archaische Elemente, die die okzidentale Vorstellungswelt von der Insel prägen:294 Ed sieht in der Rinde der »Weihnachtskiefer« »die Haut eines prähistorischen Tiers« (K, 89). Archaisch wirkt vor allem die Beschreibung der Figur Krusos. Er wird mit einem »Indianer« (K, 77) verglichen, hat einen »Kundschafterblick, ein[en] Blick aus anderen, früheren Zeiten, als man noch im Zelt unter Indianern wohnte« (K, 101) und seine Sprache ist eine »archaische Mischung verschiedener Zungenschläge« (K, 103). Krusos Interesse gilt den heute vergessenen »Wurzeln früherer Gemeinschaft«, deren Spuren er in den Überresten von »dreitausend Jahre alt[en] [Feuerstellen]« (K, 104) auf der Insel zu finden glaubt. Am sogenannten »Tag der Insel«, an dem die Esskaas gemeinsam ein großes Fest feiern, verteilt Kruso kleine Zettel mit rätselhaften Zeichen, »eine Art Schrift, Runen ähnlich, die in alter Zeit den Dingen und Tieren eingebrannt wurde« (K, 261). Während der Klausner in biblisch-archaischer Weise als »Arche« (K, 47) bezeichnet wird (deren zwölfköpfige »Besatzung« und der Personaltisch als Tisch des letzten Abendmahls ebenfalls die Apostelgeschichte aufrufen), charakterisiert Ed Krusos Tonfall, seinen »Unschuldston« als »biblisch, singend« (K, 217). Eds Wahrnehmung der Insel und die Begegnung mit Kruso, dessen Weltsicht auf eine Rückbindung an archaisch-natürliche Gesellschaften gerichtet ist, schaffen ein zeitliches Universum, das der konkret-geschichtlichen Zeitlichkeit des Festlandes diametral entgegensteht und eine zeitliche Tiefe auslotet, die das in der DDR dominante, fortschrittsorientierte und auf die Zukunft gerichtete

294 Als von der Zivilisation abgekoppeltes Milieu archaischer Gesellschaften, die Gegenstand von Ethnologie und Anthropologie sind. Vgl. ebd., S. 410.

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Zeitregime ignoriert. Das »Neue« wird hier durch das »Alte« zurückgedrängt, der Fortschrittsanspruch verworfen. Diese auf weit zurückliegende Vergangenheiten gerichtete zeitliche Tiefe wird auch durch die geologische Beschreibung der Insel und das Motiv der Höhle literarisch vermittelt. In ihrer Untersuchung über »Kryptopische Zeit-Räume« ist Sabine Haupt ausgehend von Novalis’ Höhlenkapitel in Heinrich von Ofterdingen der Bedeutung von verborgenen, unterirdischen Orten zur »Veranschaulichung temporaler Prozesse«295 in der Literatur nachgegangen. Solchen Orten werden unterschiedliche zeitliche Bedeutungen zugeschrieben, die von kontemplativer Zeitenthobenheit über die geologische Darstellung von Zeiträumen als Reflexion von Natur- und Menschheitsgeschichte bis hin zur Funktion eines »Reservats des Vergangenen« reichen.296 Für die Deutung der Zeitgestaltung in Kruso, der bis auf den Epilog auf den ersten Blick wenig tatsächlich »Unterirdisches« darstellt, allerdings regelmäßig auf die Höhlenmetaphorik zurückgreift, sind einige der von Haupt präsentierten Aspekte relevant. Dies betrifft zunächst den Rückgriff auf naturwissenschaftliche Konzepte zur Sichtbarmachung vergangener Zeit. Die mythisch-archaische Zeitwahrnehmung Eds wird durch die Beschreibung der Insel und der Steilküste unterstrichen, zeitliche Tiefe wird als Abfolge geologischer Schichten verräumlicht: »Die hohe ausgemergelte Küste […]. Es gab Abbrüche und Überhänge und eine Art Gletscherlandschaft, riesige mäandernde Zungen aus Lehm und Ton auf dem Weg ins Meer.« (K, 41f.) Besonders deutlich wird diese geologisch-naturwissenschaftliche Sicht in der Beschreibung des Inselteils, auf dem sich der Klausner befindet: Wie ein gestrandeter Wal […] hob sich das Hochland des Dornbuschs aus dem Meer – ein großes, langsam zerbröckelndes Tier. Unentwegt operierte die Sturmflut riesige Blöcke aus seinem Eiszeitleib heraus, Sandstein, Schiefer und Uppsalagranit, an dem sich seine frühere Heimat und die zehntausend Jahre seit seiner Ankunft ablesen ließen. (K, 115)

Zeit wird durch die verschiedenen Ablagerungen fassbar und lesbar. Wenn die Insel so in einer weit zurückliegenden, vorgeschichtlichen Zeit verortet wird, dann suggeriert die in den Beschreibungen angedeutete Vertikalität der Zeitschichten auch einen Bruch mit horizontalen Zeitmodellen historischer Evolutionsprozesse,297 wie sie die Zeitauffassung des Festlandes prägen.

295 Haupt 2005, S. 506. 296 Ebd., S. 506, 508f. 297 So heißt es bei Haupt: »An die Stelle des horizontalen Zeit- und Geschichtsbewußtseins der Aufklärung, der kausalen Ereigniskette, tritt ein vertikal-archäologisches Modell, bei dem sich Vergangenheit als unterirdisch sedimentierte, doch durchlässige Realität aktualisiert. Räumlich-hierarchische Schichten und eruptive Wiedergeburten verdrängen eine auf historische und/oder biologische Evolutionsprozesse fixierte Linearität.« Ebd., S. 507.

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Auf eine vorgeschichtliche, archaische Zeitlichkeit verweist das gehäuft auftretende Motiv der Höhle. Als Ed auf der Insel ankommt, verbringt er die zweite Nacht in einer »der hohen Einbuchtungen zu Füßen der Küste. Seine Höhle glich einem breiten frischen Riss; der Steilhang hatte sich für ihn geöffnet.« (K, 40) Die Natur nimmt Ed auf, sie bietet ihm Schutz und wird zum Versteck. Wenig später entdeckt er in unmittelbarer Nähe eine zweite Höhle, in der er einen verwesenden Fuchs wahrnimmt. Dieser sich in seiner Form verändernde, zunächst lebendig erscheinende, sich dann langsam auflösende und mit Ed sprechende Fuchs führt eine magisch-märchenhafte Komponente in den Roman ein. Die Höhle wird zu einem Ort, an den Ed regelmäßig zurückkehrt, um dem Tier seine Eindrücke und Erfahrungen anzuvertrauen und über seine Vergangenheit zu sprechen.298 In diesem Sinne symbolisiert sie analog zur Insel insgesamt einen »Raum der Selbstverständigung«299 und einen Ort, an dem Ed sich reflektierend in sich selbst zurückzieht.300 Die Höhlenmetaphorik wird im Roman auf die ganze Insel und vor allem auf den Klausner übertragen. Als Ed sich bei seiner Ankunft in Krombachs kleinem Büro befindet, fühlt er sich sofort »geborgen«: »Es hatte mit dem Geruch zu tun, von dem das Kabuff erfüllt war, ein Geruch aus einer viel früheren Zeit […]« (K, 48). Später fühlt er sich »geborgen in seiner neuen Behausung« (K, 55), dem stark verschmutzten Zimmer, in das er einquartiert wird. In einer Auseinandersetzung mit Ed wirft Kruso ihm vor, er habe »hier [s]eine Höhle gefunden« (K, 231), Ed selbst reflektiert immer wieder seine »alte Sehnsucht nach einer Behausung, einer Höhle für seine einigermaßen unbegreifliche Verlorenheit. Von Insel zu Insel, immer weiter, weiter…« (K, 237). Die genannten Beispiele301 evozieren die schutzgebende Höhle aus der Vorzeit, wobei sich Insel- und Höhlenmetaphorik überlagern: beide symbolisieren kulturgeschichtlich auch den Rückzug in den Mutterleib.302 Ein tatsächlich verborgener, unterirdischer ›kryptischer‹ Ort, der Heizungskeller, wird zu einer wichtigen Rückzugsmöglichkeit für Ed, er ist »seine Höhle, sein Versteck, voller Ruhe und Abgeschiedenheit.« (K, 106) Dort entdeckt Ed Spuren des Urklausners Alexander Ettenburg; auf den Fundamenten von dessen alter Einsiedelei war der Klausner errichtet worden (K, 47). Parallelen zur Höhle 298 Vgl. unter anderem K, 41, 120, 147, 149, 207, 236. 299 Messling/Lepper/Georget 2019, S. 12. 300 Haupt verweist auf Hans Blumenbergs Analyse in Höhlenausgänge (1989), wo der Höhle einerseits die Funktion der Herausbildung einer Kulturgeschichte zugeschrieben wird, andererseits ermögliche sie gerade auch den »Rückzug in den Innenraum« und dadurch die »Rückkehr in die Vergangenheit«. Vgl. Haupt 2005, S. 505. 301 An anderer Stelle vergleicht Kruso das Geräusch des Abwaschs mit einer »Höhle« (K, 216) und Ed nimmt Krusos Worte ebenfalls nur als »Geräusch« und »Höhle« wahr (K, 232). 302 Vgl. Cazenave 1996, S. 106, 320.

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des Einsiedlers in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen liegen nahe, zumal Seilers Roman insgesamt von romantischen Reminiszenzen durchzogen ist303 und Novalis im Epilog auch explizit erwähnt wird.304 Der romantische Einsiedler in der Höhle, der dort »ungestört [s]einen Betrachtungen nachhängen«305 wollte, beschäftigt sich mit Geschichte, mit der »geheime[n] Verkettung des Ehemaligen und Künftigen«, dem eine Vergegenwärtigung der »ganze[n] Vorzeit« vorausgeht.306 Sabine Haupt zufolge entspricht diese Darstellung des Ablaufs der Zeit ebenfalls einem »geologisch-paläontologischen Zeitraffer«, »im Erdinnern scheint das gewöhnliche Zeitgefüge aus den Angeln« zu sein, der Eremit selbst lebe in einer »mystischen Zeitlücke«.307 Die Anspielung auf die romantische Höhle und ihren Bewohner stellt insofern das Zeitgefüge der Insel noch einmal in seiner Besonderheit heraus. Die mythisch-archaischen Elemente, der Rückgriff auf geologische Beschreibungen der Zeitschichten und die Höhle als Symbol eines ursprünglichen Ortes der Menschwerdung308 sowie des »Mystischen und Mythischen, der Rückverweisung moderner Kultur auf frühe Entwicklungsstufen«,309 verleihen der Insel Hiddensee eine zeitliche Tiefendimension. Diese ruft erdgeschichtliche Zyklizität und Langzeitprozesse auf, vor deren Hintergrund die »Vorstellung einer linearteleologischen Fortschrittsgeschichte des Menschen« eher marginal erscheint, wie Michael Ostheimer es in Zusammenhang mit einem Gedicht von Wolfgang Hilbig formuliert hat.310

303 Zum Roman der Romantik und der »Romantik als Modell« vgl. Banoun 2020, insbes. S. 334– 339. 304 Auch in Krusos Verständnis einer inneren Freiheit findet man Anspielungen auf Heinrich von Ofterdingen. Sein Gedanke der Rückkehr zu den »verschütteten Wurzeln«, denen »das Bild« entspricht, »zu dem alle Bilder nach Hause wollen, ›einfach heim‹« (K, 257), erinnert an Heinrichs Frage im zweiten Teil des Romans (»Die Erfüllung«) und Zyanes Antwort: »Wo gehn wir denn hin?« »Immer nach Hause.« Novalis 1982, S. 161. 305 Ebd., S. 81. Über Ed heißt es: »Hier war sein Platz, im Keller, am Ofen. Hier konnte er allein sein, leise sein mit den Dingen.« (K, 251) In dieser Konstellation von Keller, Ofen und künftigem Schreiben kann man wieder einen impliziten Verweis auf Wolfgang Hilbig sehen. 306 Ebd., S. 83, 84. 307 Haupt 2005, S. 503. 308 Vgl. dazu Messling/Lepper/Georget 2019, S. 13. 309 Hofmann 2019, S. 43. 310 Ostheimer analysiert für Hilbigs Gedicht »das meer in sachsen« ebendiesen Zeitzusammenhang. Vgl. Ostheimer 2018, S. 334.

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1.2.3. Naturzeit, dichterische Berufung und poetische Zeitlosigkeit Seilers Roman evoziert unterschiedliche Zeitvorstellungen parallel. Neben den archaischen Zeitvorstellungen, die einem mythischen, auf die Präsenz des Ursprungs der Dinge gerichteten Zeitsinn entsprechen,311 oder geologischen Metaphern, die Zeitvorgänge erdgeschichtlich verorten und so den gesellschaftlichen Zeitmodellen gegenüberstehen, wird durch das Motiv der Höhle auch eine Zeitenthobenheit suggeriert, die für die Figur Eds den Übergang zu einer künstlerischen Eigenzeitlichkeit markiert. Neben Zeittiefe symbolisieren die Höhle und das Erdinnere in der Tat auch »zeitlos[e] Vorgänge« und einen »Stillstand der Zeit«.312 Dabei repräsentiert die zeitlose Höhle in nuce die kommende Offenbarung von Eds dichterischer Berufung, den Übergang in eine ästhetische Eigenzeit und Zeitlosigkeit. Denn bei Novalis entdeckt Heinrich in der Höhle des Eremiten ein Buch, in dem er seinen eigenen Lebensweg nach- und vorgezeichnet sieht, »ein[en] Roman von den wunderbaren Schicksalen eines Dichters«.313 Die Höhle ist »Teil der romantischen Hoffnung auf eine Poetisierung der Welt« und »poetische Gegenwelt«.314 Ed findet in seiner Kellerhöhle zwar kein Buch, doch einen alten Tisch, den er in sein Zimmer stellt und auf dem er zu schreiben beginnt. Dass Eds Leben ganz im Zeichen der Literatur steht, wird gleich zu Beginn des Romans deutlich: »Edgar Bendler hatte beschlossen, zu verschwinden, ein Satz wie aus einem Roman.« (K, 26) Die Flucht aus dem normalen Leben vollzieht sich literarisch, als Robinsonade,315 und im Gepäck hat Ed seine »Auswendigbestände« (K, 40), Gedichte und Texte, die sich seinem Gedächtnis tief eingeprägt hatten, literarisches Bildungsgut, gegen das er ankämpfen muss, um seine eigene Stimme zu finden. Eds Entwicklung zum Dichter wird auf der Insel durch seine Beziehung zu Kruso gefördert, der in ihm das Bewusstsein für einen »eigenen Ton« weckt,316 doch der Kontakt mit den Rhythmen der Natur spielt eine nicht weniger wichtige Rolle. Zwar sensibilisiert ihn auch Kruso für die Bedeutung

311 Vgl. Rüsen 2003, S. 33. 312 Haupt 2005, S. 508. Traditionell versinnbildlicht die Höhle Zeitlosigkeit, da es durch die unmögliche Unterscheidung von Tag und Nacht weder gestern noch heute gibt. Vgl. Cazenave 1996, S. 106. 313 Novalis 1982, S. 92. 314 Hofmann 2019, S. 42, 57. 315 Vgl. dazu Fuchs 2017. Seiler spricht im LCB von einer in der Dramaturgie »umgekehrten Robinsonade«, insofern Robinson am Anfang allein ist und am Ende umgeben von weiteren Personen, anders als Ed, der am Ende allein im Klausner zurückbleibt. Vgl. Kruso 2015 (Gespräch II), 4:57 min. 316 Vgl. dazu die Ausführungen von Banoun 2019, S. 176f.

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natürlicher Zyklen,317 doch noch vor ihrer Begegnung, gleich nach seiner Ankunft, ist Ed vom allumfassenden »Rauschen« fasziniert: der Klausner war »Tag und Nacht umspült […] vom Rauschen; ununterbrochen wurde das Sehen vom Hören überschwemmt, geschliffen, umgeformt. Eingeschlossen ins Geräusch, passte sich das Denken der Brandung an, dem Gang der Gezeiten.« (K, 52) Mehr und mehr lebt Ed in Einklang mit den auf der Insel erfahrbaren natürlichen Rhythmen, wie Mirjam Gebauer es unter Rückgriff auf die Rhythmus- und Resonanztheorien von Henri Lefebvre und Hartmut Rosa gezeigt hat.318 Individuelle Zeit und kosmische Naturzeit gehen ineinander über, führen zu einer – auch hier an die Romantik anklingenden – Rückkehr zur verlorenen Einheit von Mensch und Natur. Diese Verbindung bestimmt die Insel und deren Bewohner, sie wird nicht zuletzt in dem wie eine »Zauberformel« angestimmten Lied des Klausners ausgedrückt, in dem der Mensch dem zyklischen Zeitverlauf der Natur folgt: »Warum ziehen der Mond und der Mann zu zweit so bereit nach dem Meer, so bereit nach dem Meer!«319 (K, 96) Die kosmische Naturzeit der Insel hebt sich wiederum von der linearen Geschichtszeit des Festlandes ab. Das von Ed gleich zu Beginn wahrgenommene »ewige Rauschen« (K, 63) der Natur ergreift von ihm immer stärker Besitz, er ist in ihm »eingeschlossen« (K, 233), es »drang […] in ihn ein und wollte sein Gedächtnis löschen« (K, 427). Bernard Banoun hat auf die Dominanz des Gehörsinns bei Eds Entwicklung zum Dichter aufmerksam gemacht: die akustischen Eindrücke der Insel führten bei ihm zu einer »Entgrenzung der Sinne«,320 die Wahrnehmung des Rauschens, das wiederum auf die Romantik verweise, steht dem »Summen« der Auswendigbestände entgegen und signalisiert das poetische Potential Eds.321 Des Weiteren unterstreicht Banoun die symbolische Bedeutung der salzigen Meeresluft, die gelegentlich als Bild für das Entstehen von Dichtung bzw. die Wandlung zum Dichter fungiert – Hiddensee insgesamt sei der »Resonanzboden für Eds poetische Berufung«.322 Dieser Zusammenhang von ästhetischer Naturerfahrung, von aisthesis als Wahrnehmung und Empfindung, und künstlerischer Berufung steht wiederum unter dem Zeichen einer besonderen Zeitlichkeit. Die Insel erscheint als ein Ort 317 Krusos Vorbild sind dabei die lebensreformerischen Prinzipien des Urklausners Alexander Ettenburg (K, 104). So entspringt die »ewige Suppe« einem »biologische[n] Kreislauf«, die Kräuter und Pilze des »geweihte[n] Beet[s]« werden »vom Schleim der Abflüsse«, dem »Lurch«, gedüngt (K, 169). 318 Für Gebauer (2016, S. 188) ist Seilers Inselbiotop aus heutiger Sicht auch ein »Ort der Erinnerung an resonante Existenzräume in einer verlangsamten Gesellschaft.« 319 Seiler gibt hierfür seine Quelle an: Es handelt sich um die deutsche Übertragung des Gedichts »Melopee« des flämischen Dichters Paul van Ostaijen (K, 480). 320 Banoun (2019, S. 179) verweist auch auf die Parallelen zum Symbolismus. 321 Ebd., S. 180. 322 Ebd.

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der Verlangsamung, an dem die Gegenwart zum Stillstand kommt. Ed hat den Eindruck, dass »das Meer […] die Zeit [dehnte]« (K, 59), bei seinem Anblick fühlt er die »Verheißung«, nach der er »sich sehnte, eine Art Jenseits, groß, rein, übermächtig.« (K, 75). Doch nicht nach einer mystischen, religiösen oder übernatürlichen Erfahrung sehnt sich Ed, die Verheißung verweist im Roman auf seine Entwicklung zum Dichter, auf seine Suche nach einer eigenen Ausdrucksweise, einem »Denken jenseits seiner Merkkraft«, »tief unter den Beständen« (K, 114). Dementsprechend symbolisiert das ersehnte »Jenseits« vielmehr eine Zeitlosigkeit, die einem inneren Streben nach künstlerischer Eigenzeit und damit einer Tendenz zur Entzeitlichung und einem ästhetischen Zugang zur Welt entspricht. Eine solche Wahrnehmungsdisposition wurde von Karl Heinz Bohrer für die Moderne als »ästhetische[r] Bewußtseinszustand der Zeitlosigkeit«323 bezeichnet, als Verortung in einem »absolute[n] Präsens«324 der ästhetischen Eigenzeit. Auch Kruso erkennt die Notwendigkeit einer solchen Eigenzeit, wenn er von der Suche nach einer eigenen Stimme, einem eigenen Ton spricht: »Was wir aber brauchen, ist unsere Stimme, sie ist die Musik, sie lauscht den Worten die Welt ab. Was wir brauchen, ist unsere Stimme und einen Raum voller Abwesenheit – ein Ort zur Gewinnung von Zeit.« (K, 217) Dieser Satz offenbart erneut eine romantische Weltsicht, der zufolge die dichterische Stimme die Geheimnisse der Welt sichtbar und erfahrbar macht – Eichendorffs »Zauberwort« klingt auch hier nach.325 Dabei impliziert der erwünschte »Raum voller Abwesenheit« ein »Aus-der-Zeit-Herausfalle[n]«,326 wie Bohrer es bereits für die Literatur der Romantik aufgezeigt hat, sowie die Schaffung eines »eigenen Zeitraum[s] der ästhetischen Imagination, jenseits der historischen Zeit und ihrer Charakteristika«.327 Auf die Bedeutung der historischen Zeit im Roman wird noch zurückzukommen sein, wichtig ist zunächst der Versuch der Figuren, dieser Zeit zu entfliehen, wobei sich diese Flucht im Sinne ihrer künstlerischen Entwicklung vollzieht und zu einer ästhetischen Weltwahrnehmung und Eigenzeitlichkeit führt. Krusos Gedanken über einen »Raum voller Abwesenheit« als »Ort zur Gewinnung der Zeit« und als Voraussetzung dichterischen Schaffens sind im Roman insofern zentral, als sie auf poetologische Überlegungen des Dichters Lutz Seiler selbst verweisen. In seinem Essai »Im Ankerglas« (2004) berichtet er darüber, wie er anlässlich einer Schreibkrise seine Texte zerschnitten und in Ankergläsern »eingeweckt« hatte, um sie später als Material wieder zu benutzen. 323 Bohrer 1994, S. 156. 324 Ebd., S. 153. 325 Einflüsse Eichendorffs wurden bereits in der Erzählung »Turksib« festgestellt (vgl. oben). Zum Einfluss romantischer Naturlyrik auf Seilers Lyrik vgl. auch Pabst 2019, S. 216. 326 Bohrer 1994, S. 153. 327 Ebd., S. 166.

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In diesem Zusammenhang spricht Seiler auch davon, dass die Ankergläser »Gefäße zur Gewinnung von Zeit« sind, verbunden mit dem »Wunsch nach einem substantiellen Zustand der Sprache und schließlich nach einem Ort ihrer Behausung und Betrachtung, letztlich nach einem Ort für die Entstehung des Gedichts, erdnah, still, gefüllt mit Abwesenheit.«328 Die intratextuelle Referenz auf Seilers poetologische Überlegungen329 potenziert noch einmal die Bedeutung dieser Suche nach einem genuin poetischen »Ort für die Entstehung« von Literatur im Roman, ebenso wie dessen besondere Zeitlichkeit. Die von Ed und Kruso angestrebte poetische Eigenzeit als Form einer besonderen Zeitlosigkeit wird im Roman selbst auf verschiedenen Ebenen reflektiert und literarisch dargestellt. Dazu zwei Beispiele. Zunächst fällt die starke Präsenz intertextueller Referenzen auf, die den Roman in den Bereich einer literarischen, ästhetischen Zeitlichkeit versetzen. Denn die Intertextualität als »Gedächtnis der Literatur«330 aktualisiert in transhistorischer Perspektive gleichzeitig Werke aus unterschiedlichen Epochen.331 Sie verleiht ihnen dadurch eine simultane Gegenwärtigkeit, die den neuen Text in eine imaginäre Zeitlosigkeit überführt, die dem von Bohrer für bestimmte Texte der Moderne aufgezeigten »fortwährende[n] Präsens einer imaginativen Stimmung«332 entsprechen. Dabei reichen die aufgerufenen literarisch-fiktionalen Zeithorizonte von Daniel Defoes Robinson Crusoe und der Welt der Robinsonade über Georg Trakl und das frühe 20. Jahrhundert bis hin zur DDR der 1970er Jahre: hinter der Figur Edgar/Ed Bendlers steht auch Ulrich Plenzdorfs Protagonist aus Die neuen Leiden des jungen W., Edgar/Ed Wibeau, zu dessen Lieblingsbüchern im Übrigen Robinson Crusoe gehörte.333

328 Seiler 2004, S. 129f. In einem Gespräch über den Roman im Literarischen Colloquium Berlin spricht Seiler noch einmal von dem Zustand einer »konzentrierten Abwesenheit«, die er für das Verfassen von Gedichten brauche, im Gegensatz zum Roman, der eine »konzentrierte Anwesenheit« verlange. Studio LCB 2014 (Gespräch I), 20:45 min. 329 Mit Banoun (2019, S. 173f.) könnte man auch von einer impliziten narrativen Metalepse sprechen, da der Autor hier den intradiegetischen Raum betritt. Banoun zeigt auf, dass der Roman an vielen Stellen eine Identität zwischen Autor und Figur suggeriert, so wenn Seiler bei einer Beschreibung Eds auf Zeilen aus einem seiner eigenen Gedichte zurückgreift. 330 Vgl. Samoyault 2004. 331 Ebd., S. 71f. Samoyault bezieht sich hier auf Judith Schlangers Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis, das nicht wie Geschichte als konsekutive Dauer funktioniert, sondern als Kopräsenz zeitlich unterschiedlich verorteter Inhalte zu verstehen ist, die immer wieder neu aktualisiert werden müssen. Vgl. Schlanger 1992, S. 111–117. 332 Bohrer 1994, S. 154. 333 »Meine zwei Lieblingsbücher waren: Robinson Crusoe. Jetzt wird vielleicht einer grinsen. Ich hätte das nie im Leben zugegeben. Das andere war von diesem Salinger.« (Plenzdorf 1976, S. 33). Verbindungen zwischen Kruso und Plenzdorfs Roman werden am Ende eines Artikels von Schestokat (2019) herausgearbeitet.

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Diese durch die Intertextualität hervorgerufene Tendenz zur Entzeitlichung findet man auch auf der Ebene der histoire wieder, wie es das Beispiel der Figur Sonjas zeigt. Krusos ältere Schwester ist wahrscheinlich bei einem Fluchtversuch in der Ostsee ums Leben gekommen, ihren Verlust hat Kruso nie überwunden. Ihr plötzliches Verschwinden hat für ihn eine ähnlich traumatisierende Wirkung wie für Ed der Tod seiner Freundin G. und verbindet die beiden jungen Männer umso mehr, nachdem Ed Trakls Gedichte rezitiert hatte, darunter auch »Sonja« (K, 135f.). Bemerkenswert sind die im Roman auftretenden Inkohärenzen bei der Bestimmung von Sonjas Alter. Geht man den teilweise sehr konkreten Zeitangaben nach, so schwankt das Geburtsdatum der Schwester zwischen 1954 und 1957.334 Diese Tatsache, über die der Leser leicht hinwegsehen kann, scheint noch einmal die ästhetische und fiktionale Zeitlichkeit des Romans zu unterstreichen. Obwohl die abwesende Sonja im Roman exemplarisch für die toten Ostseeflüchtlinge steht, die im Epilog historisch-konkret werden, bleibt sie gleichermaßen irreal und rätselhaft. Sie scheint eine Projektionsfläche der Imagination zu sein, da auch Ed auf dem Foto, das Kruso ihm zeigt, zuerst seine eigene Freundin G. erkennt (K, 143). Diese Irrealität, zu der die Unklarheiten über Sonjas Lebensdaten beitragen, ist wiederum literarisch-ästhetisch motiviert, da die intertextuelle Doppelkodierung die Figur im Bereich des Imaginären verortet. So steht hinter »Sonja« zunächst Georg Trakl: für den expressionistischen Dichter verweist der Name auf seine Schwester Margarethe, die in dem gleichnamigen Gedicht ebenso präsent ist wie in dem ebenfalls von Ed rezitierten Gedicht »Die Verfluchten« (K, 135). Andererseits zitiert Seiler im Epilog auch Dostojewskis Figur der Sonja Marmeladowa aus Schuld und Sühne (K, 447),335 ein Kapitel des Romans trägt den Titel »Dostojewski« (K, 242–249). Auf diesen Intertext Dostojewskis rekurriert auch Trakl selbst, wobei er sich, wie Hanna Klessinger aufgezeigt hat, skeptisch mit Dostojewskis Liebesutopie auseinandersetzt und eine Figur entwirft, die im »Zeichen von Verschwinden, Abwesenheit und Tod«336 steht, Elemente, die auch in Seilers Roman die Figur von Krusos Schwester kennzeichnen. 334 Die historischen Referenzen situieren die Handlung des Romans im Jahre 1989. Kruso begeht in diesem Jahr den 35. Geburtstag seiner Schwester, den sie bereits zum 19. Mal verpasst hat (K, 353f.). Demnach wäre Sonja 1954 geboren und 1970, mit 16 Jahren, geflüchtet. An anderer Stelle erfährt man, dass die Schwester vier Jahre älter war als Kruso (K, 189), dessen Geburtsjahr also 1958 sein müsste. Andererseits war Kruso am Tag, als seine Mutter starb, dem 3. Juni 1967, »sechs Jahre alt. Sechs Jahre und einen Tag.« (K, 198) Kruso muss also am 2. 6. 1961 geboren worden sein und seine vier Jahre ältere Schwester 1957. Krusos Stiefvater Rommstedt berichtet davon, dass dieser beim Verschwinden der Schwester 9 Jahre alt war (K, 300), was wiederum mit dem Geburtsdatum 1961 und einer Flucht 1970 übereinstimmt, während die Unklarheit über das Alter der Schwester fortbesteht. 335 Ich danke Bernard Banoun für diesen Hinweis. 336 Klessinger 2007, S. 59.

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Im »Schichtenwerk der Zeit«

Seilers Roman konstruiert neben Figuren, die nach einer poetischen Eigenzeit streben, auch durch Intertexte und auf narrativer Ebene eine ästhetische Zeitlosigkeit, die den Text scheinbar dem Fluss der realen und historischen Zeit entziehen. Dass dies nicht der Fall ist und deshalb auch die teils enthistorisierenden, die Autonomie der Kunst in den Mittelpunkt stellenden Begrifflichkeiten Karl Heinz Bohrers dem Roman nur teilweise gerecht werden, wird noch gezeigt. In seiner Laudatio zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises an Lutz Seiler hat Sebastian Kleinschmidt gerade die doppelte Ausrichtung des Romans unterstrichen. Er sei […] episch durch und durch und dabei in allem poetisch. […] Das Epische braucht die Dynamik der Fabel, das Poetische hingegen die Statik der Stimmung. […] Fabel ist Handlung, Kausalität, ist spannungsgetriebener Fortgang des Geschehens. Stimmung ist Verweilen, Meditation, ist Atmosphäre und sich öffnendes seelisches Geheimnis. In dem einen regiert das weitverzweigte Nach und Nach, im anderen das punktuelle immerwährende Jetzt.337

Dieses von Kleinschmidt benannte poetische »punktuelle immerwährende Jetzt« entspricht dem Zustand ästhetischer Zeitlosigkeit, der Teile des Romans charakterisiert, verbunden mit einer gewissen Statik auf der Handlungsebene: ungefähr die Hälfte des Romans beschreibt die geschlossene Welt der Esskaas und deren Mittelpunkt, den Klausner. Dabei entspricht die immer wieder eingesetzte Fokussierung auf abgeschlossene Räume, so auf den Abwasch, den Keller oder auch auf Eds Zimmer, metaphorisch auch dem Zustand des Zeitstillstands, der Zeitlosigkeit und des Wartens, denn traditionell wird die Vorstellung des Fließens der Zeit als Bewegung im Raum symbolisiert.338 Die Dynamik der epischen Handlung hingegen setzt verstärkt ein, als die geschichtliche Zeit, die auf dem Festland unaufhaltsam voranstrebt, die Inselwelt erreicht und sich am »Tag der Insel« (K, 260) als eine der letzten provokativen Aktionen der untergehenden Macht manifestiert, bevor das ganze System zusammenbricht.

1.2.4. Heterochronie: die Insel als Idylle, Utopie oder Heterotopie? Bis zum Schluss herrscht im Roman unter den auf der Insel Verbliebenen Konsens, »über die neuen Ereignisse« (K, 322) nicht zu sprechen, um die Insel und ihre besondere Lebensform vor dem Einbruch der geschichtlichen Zeit zu bewahren, um

337 Kleinschmidt 2014, S. 847. 338 Vgl. dazu Benz 2013, S. 200f.

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[…] an einem ganz auf die Insel und das Insulare gegründeten Vorteil festzuhalten […]. Es ging um die Verteidigung dieser seltenen, ja, einmaligen Enklave vor den Anfechtungen der restlichen Welt mit ihren Irrungen und Wirrungen, ihren Bedrohungen und Verlockungen, ihrer ganzen Ansprüchlichkeit, Zudringlichkeit, ihrem grenzenlosen Appetit auf Inseln… (K, 322f.)

Diese chronotopischen Besonderheiten des »Insularen«, seine Eigen- und Anderszeitlichkeit, sollen hier noch einmal unter den Aspekten der Idylle sowie der Utopie und Heterotopie betrachtet werden, Konzepte, die allesamt zur Beschreibung des Romans verwendet wurden. Idylle Michael Ostheimer hat den Begriff der Idylle bzw. des in Anlehnung an Michail Bachtin konzipierten idyllischen Chronotopos mit Bezug auf die literarische Darstellung der Insel Hiddensee in die Diskussion gebracht. Im Gegensatz zu dem in der DDR-Literatur »vom utopischen Chronotopos transportierten Pathos des Aufbaus und des Fortschritts artikuliert der idyllische Chronotopos das Fehlen des Moments gesellschaftlicher Veränderung«, die Menschen kämen »im ausgesparten Raum, im Abgesonderten des Privaten und in Harmonie mit dem Kreislauf der Natur zu sich selbst« und grenzten sich dort von der »Arbeitswelt und dem Politischen« ab.339 Die eigentlich für die DDR-Literatur entwickelte Kategorie des idyllischen Chronotopos wendet Ostheimer aufgrund des Hiddensee-Kontextes auch auf Seilers Roman Kruso an. Dort fungiere Hiddensee als »Insel-Idyll, das gleichsam aus dem Staatsgebiet der DDR und der offiziellen Zeit gefallen scheint«,340 als »heterotope wie heterochrone Lebenswelt, eine nischenhafte Exil-Insel, die den Einzelnen von den Zumutungen der aufs Sozialutopische abzielenden Kollektivzeit entbindet und die Grundlage zur Generierung und Entfaltung einer individuellen Eigenzeit liefert«.341 Ist Ostheimers Überlegungen zur besonderen Eigenzeitlichkeit der Insel und der Ermöglichung individueller Eigenzeit ohne Weiteres zuzustimmen, muss sein Fazit, Seiler betreibe in Kruso eine »literarische Idyllisierung der realsozialistischen HiddenseeWelt«,342 hinterfragt werden. Denn von Anfang an sind dem Roman Elemente eingeschrieben, die einer Lektüre der »Insel-Nische als behaglichem Zufluchtsort« bzw. einer allein »idyllische[n] Gemeinschaft«343 der Freiheitssuchenden entgegenarbeiten.

339 340 341 342 343

Ostheimer 2018, S. 56. Ebd., S. 260. Vgl. auch Ostheimer 2016. Ebd., S. 261. Ebd., S. 262. Ebd.

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Im »Schichtenwerk der Zeit«

Während Eds Verhältnis zur Inselnatur weitgehend von idyllischen Momenten der »Geborgenheit des Menschen in der Natur bzw. ihrer harmonischen Koexistenz«344 geprägt ist, wird die Insel von Anfang an auch als ein vom Untergang bedrohter Ort dargestellt. So erinnert Krombach kurz nach Eds Ankunft an die zunehmende Erosion, das »ständige Abbrechen und langsame Abdriften der Küste« (K, 47), so dass der Klausner, »unsere Arche« (K, 47), vielleicht bald selbst auf das Meer hinaustreiben werde. Das mögliche Abdriften der Insel auf das Meer, ihr sich langsames Entfernen, impliziert auch den Gedanken einer Illusion, der die Besonderheiten dieser Inselwelt wieder in Frage stellt. Während man sich im Klausner um das »stetige Schrumpfen der Insel« (K, 83) sorgt, ist auch die von Ed beobachtete Natur keineswegs nur idyllisch. Das Hochland des Dornbuschs wird mit einem gestrandeten Wal verglichen: »ein großes, langsam zerbröckelndes Tier«, dessen »Kadaver« (K, 115) die Rückkehr ins Meer schaffe. Während die Form der Insel ursprünglich mit einem Seepferdchen assoziiert wurde, »[wuchsen] dem Seepferdchen […] zusätzliche Mäuler, sein Kopf begann monströse Ausmaße anzunehmen.« (K, 116). Die von der Steilküste hinuntergefallenen Bäume erscheinen als »Skelette«, die »dem Strand die Atmosphäre eines Schlachtfelds [verliehen]« (K, 146). Das Wortfeld des Todes und des Monströsen rufen eine apokalyptische Endzeitstimmung auf, die sich auch in einem Traum Eds widerspiegelt, in dem die Insel dystopische Züge trägt: »Im Traum sah Ed, dass die Insel überfüllt war. […] Der Strand war mit Kot übersät und fauligem Seegras, aus dem kleine tote Fische blinkten und anderer Abfall.« (K, 260) Gegen Ende des Romans berichtet der Erzähler dann auch von einem Sturm, der »ungehemmt […] über das schmale Eiland [fuhr], als sollte es noch einmal gereinigt werden vor dem Untergang.« (K, 403) und bei einem von Eds letzten Strandgängen sind große Teile der Steilküste gerade an jener Stelle eingestürzt, an der sich der Fuchs befand und wo Ed Krusos Gedichte versteckt hatte (K, 428). Der Topos des Untergangs ist im Roman von Anfang an präsent, so dass das naturbedingte langsame Verschwinden der Insel auch zu einer Metapher der geschichtlichen Ereignisse, des Zusammenbruchs der DDR, wird. Natürliche Zeit und geschichtliche Zeit treffen hier symbolisch zusammen. Gegen die Erfahrung der reinen Inselidylle, eines Lebens im Einklang mit der Natur, spricht auch die Bedeutung, die der Arbeit im Roman zukommt. Gegenleistung für die Aufnahme im Klausner ist für Ed harte körperliche Arbeit, »Sklavenarbeit« (K, 99), die immer wieder detailliert beschrieben wird und die Eds Leben einen ganz besonderen Rhythmus verleiht.345 Die meiste Zeit auf der 344 Vgl. dazu das Lemma »Idylle«, in: Burdorf 2007, S. 340. 345 Bereits Gebauer (2016, S. 185) hat neben den natürlichen auch die Bedeutung sozialer Rhythmen für Ed hervorgehoben. Ed folgt den »zeitliche[n] Muster[n]« der Arbeitsabläufe und »[taktet] sich nach den Rhythmen dieses Metasystems […]«.

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Insel verbringt Ed mit Arbeit, zunächst mit Zwiebelschälen, dann im Abwasch, und erst nach drei Wochen Inselaufenthalt hat er seinen »erste[n] freie[n] Tag, der erste Ruhetag des Klausners seit seiner Ankunft« (K, 114). Eds Eigenzeitlichkeit konstituiert sich demnach nicht nur aus der bereits beschriebenen Naturzeitlichkeit und der Zeitlosigkeit künstlerischer Anschauung. Die Insel ist nicht nur eine »Sphäre für die spielerische Erprobung des Imaginären im Kontext einer als eingrenzend und aussichtslos erfahrenen Wirklichkeit«,346 wie es bei Anne Fuchs heißt. Die Insel ist gerade der Ort, wo Ed auch durch harte Arbeit wieder zu sich selbst findet, was angesichts der ideologischen Bedeutung, die der Arbeit auf dem Festland zukommt, paradoxal erscheinen mag. In der Tat erinnert sich Ed im Abwasch an seine Tätigkeit als Lehrling auf dem Bau zurück und empfindet »Heimweh nach der Arbeit. Eine körperliche, wie eingeborene Sehnsucht, die beinah in Vergessenheit geraten oder, mehr noch, vollkommen verschüttet worden war. Das Studium hatte ihn konturlos und beliebig gemacht. Bei der Arbeit wurde er sich wieder ähnlich […].« (K, 79) Ein Aufgehen in körperlicher Arbeit wird hier seiner Intellektualität, implizit auch seinen »Beständen«, entgegengesetzt, allein in der erschöpfenden Arbeit fühlt sich Ed »rein, erlöst von sich selbst und seinem Unglück« (K, 95). Arbeit wird im Roman ähnlich wie in der Erzählung »Die Zeitwaage« aufgewertet und von ihrer ideologischen Dimension losgelöst. Zunächst mischen sich in Eds Gedanken noch Versatzstücke des ideologischen Diskurses, der ihn seit seiner Kindheit begleitet und der auf die Dominanz der Arbeit in der Produktion sowie auf die gesellschaftliche Notwendigkeit von Arbeit allgemein verweist347. Gleichzeitig erkennt er für sich die ›gesellschaftlich‹ weniger bedeutende Arbeit im Abwasch als ebenso wertvoll an: »Ja, allesamt waren sie Helden, Helden der Saison, Helden des Lebens, alle gemeinsam und jeder für sich, mit dem Feierabendglas in der Hand […]. […] Gläser der Verheißung, Gläser des Trotzes und Gläser des Eigensinns.« (K, 247). Arbeit, so das Fazit, wird im Klausner umgedeutet, sie ist für die Gemeinschaft konstitutiv und gleichzeitig Ausdruck des besonderen »Eigensinns«348 der Esskaas. Nicht zufällig werden im gleichen Moment Esskaas erwähnt, die »bereits veröffentlicht hatten, in Zeitschriften und Anthologien […], selbsterkorene 346 Fuchs 2017, S. 36. Hiddensee wird auch klischeehaft als »DDR-Tahiti bzw. als ein von Rousseau inspiriertes Inselparadies für DDR-Aussteiger« beschrieben (ebd., S. 33). 347 »[…] Legal und illegal zugleich, außerhalb der sogenannten Produktion (dem maschinellen Nervenzentrum der Gesellschaft), keine Helden der Arbeit und doch von Arbeit überspült (klang Gastronom nicht fast wie Kosmodrom, wie Weltall, Erde, Mensch?), nicht unnütz also, nicht parasitär jedenfalls […]« (K, 246). 348 Der ursprünglich von Alf Lüdtke geprägte Begriff wurde im Kontext der Debatten über Herrschaftsstrukturen in der DDR von Thomas Lindenberger wiederverwendet, um Herrschaft als soziale Praxis zu verstehen und den Akteuren Handlungsmöglichkeiten über »Opposition« und »Widerstand« hinaus zu attestieren. Vgl. Lindenberger 1999.

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Dichter, sich selbstverfassende Schriftsteller gewissermaßen […]« (K, 247). So wird der Begriff des Eigensinns auch mit einer eigenen, freibestimmten schriftstellerischen Tätigkeit in Verbindung gebracht, so dass Eds ›Lob der Arbeit‹ nicht ganz ohne den Hinweis auf Intellektualität dasteht und auf den inneren Widerstreit der Figur deutet. Die Insel ist in jedem Fall Kulisse innerer Konflikte, Ort harter Arbeit und Symbol des Untergangs. Auch die immer wieder erfolgenden Hinweise auf die Überwachung der Insel durch die Grenzsoldaten und die tödlichen Folgen der Flucht laufen der Charakterisierung als Idylle bzw. idyllischem Chronotopos entgegen. Utopie Die Eigen- und Anderszeitlichkeit der Insel wurde auch unter dem Aspekt der Utopie bzw. der »kleinen Utopie« als »Inszenierung von Eigenzeit im Modus der Fiktion«,349 namentlich der Robinsonade, betrachtet, wobei diese »kleine Utopie« den Aufbau einer »alternative[n] Existenz in Opposition zum Festland bzw. zum herrschenden System«350 ermögliche, während dessen Zusammenbruch diese Utopie dann auch scheitern lasse.351 Es scheint jedoch wichtig, die im Roman vor allem durch die Figur Krusos vermittelte Utopie auch in kritischer Perspektive zu betrachten und zu fragen, inwiefern die Anderszeitlichkeit der Insel figurengebunden ist und der Utopie Krusos das Konzept einer Heterotopie gegenübersteht, die durch Ed repräsentiert wird.352 Krusos Utopiegedanke ist zunächst eng an seine Vergangenheit und sein eigenes Trauma gebunden. Das plötzliche Verschwinden der Schwester sensibilisierte ihn für die Toten der Ostsee und er hatte sich zum Ziel gesetzt, die Menschen von der Flucht abzubringen. Kruso ist davon überzeugt, dass die Ausreisebzw. Fluchtwilligen auf der Insel innerhalb von drei Tagen das »Maß der Freiheit« (K, 163) verinnerlichten, so dass sie dann als »Erleuchtete« aufs Festland zurückkehren konnten: […] die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung, die es ihnen erlaubt, zurückzukehren, als Erleuchtete. Eine Erfahrung, die es ermöglicht, das Leben weiter349 Fuchs (2017, S. 33) benutzt diesen Begriff um zu verdeutlichen, dass die großen teleologischen Geschichtsentwürfe nunmehr durch »kleine Utopien« als private Entwürfe der »eigenzeitlichen Verwirklichung des spätmodernen Subjekts in der Gegenwart« ersetzt wurden. 350 Ebd. 351 Ebd., S. 42. 352 In diesem Sinne stehen die folgenden Bemerkungen auch dem Postulat Ludwig Stockingers entgegen, der Roman bzw. die »Autorinstanz« lade zu einer Identifikation mit Krusos utopischen Vorstellungen ein. Vgl. Stockinger 2018, S. 264f.

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zuleben, bis zu dem Tag, an dem Quantität in Qualität umschlägt, an dem das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt […]. (K, 175)

Ed durchschaut die Rituale, die zu Krusos »Philosophie der Freiheit« (K, 168) gehören, zunächst kaum: das Bad im Abwasch, den Verzehr der aus Essensresten gekochten »ewigen Suppe« oder die Einquartierungen, denen er sich zu Beginn durch das Rezitieren von Trakl-Gedichten unbewusst entzieht. Er ist sich seiner Außenseiterstellung auf der Insel bewusst und obwohl er sich wünschte, »Teil dieser Sphäre zu werden, blieben ihm die vom Widerschein des Meeres und der ganzen Inselhelligkeit leuchtenden Augen so fremd und fern, dass es ihm nie wirklich gelang, den Faden eines Gesprächs aufzunehmen.« (K, 178) Erst durch die Erzählungen der Schiffbrüchigen, die in seinem Zimmer einquartiert werden, scheint Ed Krusos Ideen von Freiheit und Gemeinschaft näher zu kommen, wobei das Gehörte zunächst eher als Projektionsfläche seiner sexuellen, auch homoerotischen Phantasien Kruso gegenüber erscheint und weniger als Programmatik zur kollektiven Befreiung aus staatlichen Zwängen.353 Die Erzählungen der Schiffbrüchigen, denen Ed vor dem Einschlafen wie den Märchen aus seiner Kindheit lauscht (K, 255), führen schließlich zu dem bereits erwähnten Traum einer überfüllten, dystopischen Insel (K, 260), und dies genau vor den Ereignissen am »Tag der Insel«, die das bisherige Leben auf der Insel grundlegend verändern sollten. Krusos utopische Inselwelt, die einer sehr strengen Organisation unterliegt,354 gründet nicht nur auf der Rousseau’schen Gedankenwelt. Neben Anspielungen auf Ernst Bloch355 gibt es auch einen expliziten Verweis auf Thomas Morus: »In Utopia würde drei Stunden gearbeitet am Vormittag, dann zwei Stunden Pause, für ›literarische Studien‹, so stand es bei Thomas Morus, Kruso hatte es ihm vorgelesen.« (K, 258) Morus’ Projekt, auf einer fiktiven Insel eine neue Gesellschaftsordnung zu errichten, enthält jedoch durchaus problematische Züge. So urteilt Christian Moser, der Inselstaat Utopia halte »seine Bewohner im Zustand

353 Beispielhaft dafür ist seine Begegnung mit Grit, die mehrmals Krusos Worte wiederholen soll, worauf sich in einer zeugmatischen Gedankenkonstruktion die Philosophie Krusos mit dessen Körper und dem Körper der Frau überlagern: »Und plötzlich gehörte alles zusammen. Ed begann Losch zu begreifen. Zuerst die Schultern, dann die Hüften. Er schob sie ein wenig zur Seite […]«. (K, 241) Des Weiteren sieht er in den »Schwarzschläfer[n] […] Abgesandte Krusos«, die ihm die Gelegenheit boten, letzterem »nah zu sein«. (K, 255) 354 Mit »Seminaren am Strand, der Suppe, der Waschung und den Stunden in der Schmuckmanufaktur« (K, 255), Rituale, denen sich die Schiffbrüchigen unterziehen müssen. 355 So das Prinzip einer Verbindung von »Gerechtigkeit und Disziplin«, »Freiheit und Ordnung« (K, 231) bzw. der wiederholte Gebrauch der Metapher der »Wurzel« (K, 257f.). In Blochs Das Prinzip Hoffnung wird der die Gesellschaft verändernde Mensch als »Wurzel der Geschichte« bezeichnet. Vgl. Stockinger 2018, S. 263f.

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der Unmündigkeit und der kindlichen Abhängigkeit gefangen«.356 Es gebe »keine individuellen Freiheiten, […], sondern nur einen großen Kollektivkörper«, der Staat versuche »durch seine intensive mütterliche Fürsorge zu erreichen, daß seine Bürger die Unabhängigkeit und Individualität vergessen […]«.357 Obwohl es Kruso gerade darum geht, den Schiffbrüchigen zu einer individuellen inneren Freiheit zu verhelfen, erinnert der kurze Inselaufenthalt mit Krusos »Programm der Betreuung« (K, 170) an einen Gemeinschaftszwang, wie er auch auf dem Festland existiert. Dessen Strukturen werden in umgedeuteter Form auch übernommen: die zentrale Wohnraumvergabe der DDR erscheint als Vergabe von Schlafplätzen auf der Insel, das Kollektiv wird zur Gemeinschaft.358 Wie Matthias Aumüller bemerkt, »[bildet] das Inselleben das DDR-Leben im Kleinen [ab] – und zwar im Sinne einer Versuchsanordnung.«359 So findet man in Seilers Kruso eine Verbindung von zwei Funktionen des Inselmotivs, die Aumüller bereits für die sozialistische Literatur herausgearbeitet hat: eine exemplarische und eine eskapistische Funktion. Es scheint, als reproduziere Krusos Utopie die existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse gewissermaßen in einer Idealform: Foucault hatte in diesem Sinne in der Utopie ein Analogieverhältnis zur bestehenden Gesellschaft erkannt.360 Dies wird mit dem nahenden Zusammenbruch der bestehenden Verhältnisse verstärkt deutlich. Während das Klausner-Personal die Insel verlässt und sich auf den Weg in den Westen begibt, während die Schiffbrüchigen ausbleiben, hält Kruso an seiner Utopie fest. Er überdenkt die Organisationsform der »Vergabe« für die Wintermonate, um »das halbe Land dort unter[zubringen]« (K, 288), er vergleicht die »Valuta«, die westlichen Devisen, mit einem »Mittel zur Knechtschaft«, während wirkliche Freiheit nur auf der Insel möglich sei, diese aber »in erster Linie aus Pflichten [besteht], […], nicht aus Privilegien.«361 (K, 342). Kruso unternimmt außerdem eine Kritik des »Verbrauchers« in der kapitalistischen Überflussgesellschaft, der den »Täuschungen der Warenwelt« (K, 359) unterliegt. Sein belehrender Ton erinnert dabei durchaus an den Fürsorgestaat DDR, der für seine als unmündig angesehenen Bürger die Lebensplanung übernahm.362 356 Moser 2005, S. 427. 357 Ebd., S. 428. 358 Vgl. dazu den Kommentar von Antje Rávic Strubel in Studio LCB 2014 (Gespräch II), ab 6:30 min. 359 Aumüller 2016, S. 171. 360 »Les utopies […] entretiennent avec l’espace réel de la société un rapport général d’analogie directe ou inversée. C’est la société elle-même perfectionnée ou c’est l’envers de la société […].« Foucault 2001, S. 1574. 361 Hier scheinen noch Christa Wolfs Worte aus ihrer Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 nachzuklingen: »Das fängt jetzt an, wenn aus den Forderungen Rechte, also Pflichten werden […]«.Wolf 1990, S. 120. 362 Vgl. zur DDR als Fürsorgediktatur Jarausch 1998.

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Schließlich sei es die »Aufgabe des Ostens«, so der Titel eines ganzen Kapitels, »dem Westen einen Weg zu zeigen. Einen Weg zur Freiheit zu zeigen […]«, der »verlorene[n] Seite […] ihres Daseins.« (K, 409) Kruso entwickelt am Ende des Romans einen anachronistischen Gegendiskurs zu den aktuellen Ereignissen, der nicht nur an die Utopien der Anfangsjahre der DDR erinnert, sondern auch an diejenigen Intellektuellen, die während des Umbruchs von 1989 durch Reformen eine »sozialistische Alternative zur Bundesrepublik«363 entwickeln und das Land vor allzu weitreichenden westlichen Einflüssen schützen wollten. Die zeitliche Erfahrung und Erfahrbarkeit von Krusos Utopie ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: die Schiffbrüchigen bekommen zwar eine kurze Auszeit von den Zwängen des Festlands, doch wird ihnen kaum eine Eigenzeit zugestanden, da die Abläufe auf der Insel streng geregelt sind. Einer möglichen Freiheitserfahrung im Westen, die durch die geschichtlichen Ereignisse denkbar geworden ist, spricht Kruso von Anfang an jegliche Legitimität ab. Er gesteht so den Flüchtenden kaum eigenzeitliche Erlebnisse zu und hofft auf die zahlreichen »Rückkehrer« (359), die er dann wieder in sein eigenes utopisches Konzept einbinden kann. Kruso hält letztlich an einem glücksversprechenden und totalisierenden, in der Zukunft verankerten Gesellschaftsentwurf fest, der dem eschatologischen Modell, auf dem das Gesellschaftssystem der DDR beruhte, spiegel- und idealbildlich gegenübersteht. Krusos Gegenwelt wird im Roman durch seinen Stiefvater Rommstedt in Frage gestellt, der die »Gesellschaft jenseits der Gesellschaft« im Gespräch mit Ed als »Kaste und ihr Gewese« charakterisiert, »manches […] einfach geschmacklos« (K, 304). Krusos Projekt eines »Bund[es] der Eingeweihten« sei eine »ausgewachsene Wahnvorstellung« (K, 306). Ed verteidigt seinen Freund, ist sich jedoch der Irrealität von dessen zukünftigen Plänen für die Insel durchaus bewusst (K, 359). Obwohl er sich von Krusos Persönlichkeit stark angezogen fühlt, gibt es immer wieder Zeichen der Distanzierung.364 Heterotopie Nach Krusos Zusammenbruch befindet sich Ed allein im Klausner und lebt bis zuletzt seine Eigenzeit aus. Da Kruso das Radio Viola beschädigt hatte, dringt die geschichtliche Zeit nicht mehr zu ihm vor, er lebt außerhalb der Zeit der gesellschaftlichen Veränderungen. Am Morgen des 10. November vernimmt er die gespenstischen Stimmen der einstigen Besatzungen des Klausners, die von alten 363 So in dem von Reformsozialisten und Bürgerrechtlern verfassten Aufruf »Für unser Land« vom 26. November 1989, in: Neues Deutschland, 29. 11. 1989. 364 Insofern wäre die Charakterisierung von Ed als einem »Verführten […], der sich von Kruso indoktrinieren lässt«, zu relativieren. Vgl. Gebauer 2016, S. 188.

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Fotos zu ihm sprechen, wobei der ehemalige Besitzer von Viola ihm zuraunt: »Kümmer dich endlich um Viola, Mensch« (K, 425). Ed, »der letzt[e] 89er, der sich nicht um sein Radio kümmerte« (K, 426), repariert dieses schließlich und erfährt mit Verzögerung: »Alle Grenzen offen. Offen seit Tagen.« (K, 434), so der letzte Satz des Hauptteils des Romans. Das wichtigste Ereignis dieser Wochen, der Fall der Mauer, ist für Ed ein Nicht-Ereignis, die geschichtliche Zeit ist an ihm spurlos vorübergegangen. Während Ed die Geschichtszeit noch einmal ignoriert, werden erneut Elemente ästhetischer Zeitlosigkeit und die Erfahrung natürlicher Zeit zusammengeführt. Zunächst bemerkt Ed, dass er den Kassenblock beschrieben hatte, ein paar Tage zuvor wollte er eine Liste anfertigen und schrieb Worte auf, die ihm durch den Kopf gingen (K, 389): »Aber es war keine Liste. Und nicht von ihm. Aber es war seine Schrift. Er las. Drei Blätter Kassenblock, verfasst im Ton Krusos, nicht von Kruso. Er las.« (K, 426) Mit dem Gedanken, Krusos Ton übernehmen zu können, begibt er sich ans Meer, erfährt erneut das Rauschen der Brandung, das »endlose Rauschen« (K, 427), das sein Denken und sein Gedächtnis auslöscht. Und er bemerkt fast im selben Moment, dass das Ufer weggebrochen war, an dem sich die Höhle des Fuchses befand, und dort auch Krusos Manuskripte. Die Natur und deren zeitliche Rhythmen stehen für Auslöschung und Regeneration zugleich: die Auslöschung von Eds Gedanken und Gedächtnis, das Verwischen von Krusos Spuren, doch gleichzeitig hört Ed das Flüstern der verlorenen Gedichte tief unter der Erde: »Er verstand jedes Wort und wiederholte es, und bald zog seine Rede weit über die Enden der Zeilen hinaus, nach draußen ins Rauschen.« (K, 428) Naturerfahrung und ästhetische Erfahrung gehen erneut ineinander über, und während Ed Krusos Gedichte aus dem Gedächtnis rezitiert, beschließt er zu schreiben, »Für Losch. Für Kruso.« (K, 428) Bei diesem Schreiben vermischen sich offensichtlich zwei Dinge: Eds eigene Notizen und der Gedichtband Krusos, den er aus dem Gedächtnis rekonstruiert. So heißt es zunächst: »Drei Tage später, am Abend des 12. November, war sein Notizbuch gefüllt, einzeilig, jedes Rechenkästchen eine Zeile vollgeschrieben. Er hatte nicht geschlafen, er hatte Tag und Nacht gearbeitet.« (K, 428) Daraufhin erinnert er sich an Krusos Worte, einen Gedichtband zusammenstellen zu wollen und vollbringt dies an dessen Stelle, auf alten Klausner-Kopfbögen und Krombachs Schreibmaschine: »Die ganze Nacht saß er an der Maschine. Bestimmte Buchstaben hatten blutige Mützen. Am Morgen war die Arbeit getan. Vielleicht nicht Wort für Wort und nicht jede Zeile, aber Ed konnte hören, dass es stimmte, er hörte den Ton.« (K, 429)365 Schließlich blickt Ed am darauffolgenden Abend

365 Das erste Gedicht Krusos, das Ed las, war auf einem ebensolchen Klausner-Kopfbogen geschrieben, »[ j]eder der Verse war wie hingestreut, nach links oder rechts versetzt, und die

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noch einmal »auf das Manuskript. Krusos Band. Sein Buch. […]. Auf irgendeine Weise hatte es die Stelle der alten Besatzung eingenommen, die Stelle ihrer versammelten Abwesenheit, ihres ganzen alten Lebens […]. Plötzlich hatte Ed eine Vergangenheit.« (K, 431) Ed vollendet Krusos Schreibprojekt, indem er sich bei der Rekonstitution der Gedichte selbst als Schreibender mit einbringt: »Krusos Band. Sein Buch.« – das Pronomen ist doppeldeutig, es verweist auch auf Ed, der durch die engbeschriebenen Seiten in seinem eigenen Notizbuch ebenfalls zu sich selbst zurückgefunden hat und seine Vergangenheit erstmals als solche akzeptieren kann. In metafiktionaler Perspektive kann der Leser außerdem vermuten, dass aus diesen Notizen der Roman entstanden ist, den er gerade liest.366 Das Geschriebene tritt an die Stelle der abwesenden Besatzung, es füllt den »Raum voller Abwesenheit« (K, 426), den Ed nunmehr als Motor und Prinzip der Poesie und des Schreibens wahrnimmt.367 Ed hat am Ende seines Daseins auf der Insel in der Abgeschiedenheit des Klausners den Ort poetischen Sprechens gefunden, von den Entwicklungen der Geschichte abgeschnitten, in einem Raum ›außerhalb der Zeit‹. Ein Raum, der stärker der Foucault’schen Heterotopie entspricht als einer Idylle oder einer Utopie,368 jenen in einer Gesellschaft im Gegensatz zu den Nicht-Orten der Utopie tatsächlich existierenden Orten, »die vollkommen anders sind als die übrigen. Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.«369 Diese »Gegenräume«370 stehen Foucault zufolge »in Verbindung mit besonderen zeitlichen Brüchen«,371 sie ermöglichen eine heterochrone Zeiterfahrung, die sich im Gegensatz zur Utopie als »absoluter Bruch« mit der traditionellen Zeit leben lässt.372 Eine Feststellung, die auf Eds Erfahrungen zutrifft. Insofern verweist die im Roman

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Schrift an den Oberkanten der Großbuchstaben rot eingefärbt.« (K, 138). Kruso selbst spricht von Buchstaben mit »blutigen Mützen« (K, 142). So auch Wehdeking (2015, S. 254): »[…] die Metafiktion des im Laufe des Inselherbstes entstehenden Romans aus dem Tagebuch von Ed […]«. Zu Parallelen mit Seilers Poetik siehe oben. Zur Kategorie der Abwesenheit in Seilers Lyrik und deren Beziehung zum Werk Wolfgang Hilbigs vgl. Di Rosa 2019, S. 177. Bei Ostheimer, der vor allem mit dem Konzept der Idylle operiert, überlagern sich diese drei zu differenzierenden Begriffe. Er kennzeichnet Hiddensee nicht nur als Idylle, sondern auch als »heterotope wie heterochrone Lebenswelt«, wobei er gleichzeitig von einem »utopischen Fluchtraum für die Kunst« spricht. Vgl. Ostheimer 2018, S. 261. Auch Egger (2018, S. 171) verwendet die Begriffe der Utopie und Heterotopie gleichwertig, um den Klausner bzw. die Insel zu charakterisieren. Foucault 2005, S. 10. Ebd. Ebd., S. 16. Foucault unterstreicht die Parallele zwischen Heterotopie und Heterochronie: »[…] l’hétérotopie se met à fonctionner à plein lorsque les hommes se trouvent dans une sorte de rupture absolue avec leur temps traditionnel«. Foucault 2001, S. 1578.

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auf den Klausner angewandte Schiffsmetaphorik373 auf die »Heterotopie par excellence«, die für Foucault das Schiff darstellt, »das größte Reservoir für die Fantasie«.374 Im Klausner führen letztendlich Eds Imagination und sein Schreiben zu einer konkreten Realisierung von Eigenzeitlichkeit. Sie führen zur Rettung von Krusos ›poetischer Eigenzeit‹ in Form seiner systemkritischen Texte,375 die in der DDR lediglich in Samisdatzeitschriften hätten veröffentlicht werden können.376 Und sie führen zur Verwirklichung von Eds Eigenzeit, der über Naturerfahrung und ästhetische Zeiterfahrung schließlich Ansätze für ein vielleicht kommendes eigenes Werk findet. Vor allem gelingt ihm erneut der Zugang zu seiner vom Trauma des Verlusts der Freundin verstellten eigenen Vergangenheit und so gewinnt er auch die Deutung seiner eigenen Lebenszeit zurück.

1.2.5. Der Einbruch der historischen Zeit Die Dimension der historischen Zeit wird im Roman über den sich in der Küche des Klausners befindenden Radioapparat Viola in die Handlung hineingetragen. Für Seiler war dies eine erzähltechnische Lösung, um Zeitgeschichte und historischen Kontext in den Roman einzubringen, ohne diese kommentieren und erklären zu müssen.377 Viola, die nur noch den Deutschlandfunk empfängt und nicht mehr abgestellt werden kann,378 scheint zu Beginn vor allem über »das Wetter, Wasserstände, Windgeschwindigkeiten« (K, 111) zu berichten und so in Einklang mit den auf der Insel gelebten natürlichen Zeitzyklen zu stehen.379 Für Ed, der im Abwasch kaum etwas vom Gesagten verstehen kann, ähneln die Radiostimmen dem »Rauschen der Brandung«, nur das »Zeitzeichen« war als »deutlichste[s] Geräusch« (K, 111) wirklich zu verstehen. Durch dieses im Roman wiederholt erwähnte »Zeitzeichen« wird die Existenz einer gesellschaftlich nor373 »Mississippidampfer«, »gestrandete[r] Schaufelraddampfer«, »Mutterschiff« (K, 42), »Arche« (K, 47) und die Assoziation des Kellners Rimbaud mit dem Gedicht »Das trunkene Schiff« (K, 45). 374 Foucault 2005, S. 21f. und 2001, S. 1581. 375 »[…] das Gedicht erinnerte an die Unerbittlichkeit der Macht (und so würde es gelesen werden – systemkritisch, gefährlich, verboten) […].« (K, 140) 376 »Gegenseitig zählten sie sich ein paar Zeitschriften auf, die ›für solche Texte‹ […] in Frage kämen, Blätter des sogenannten Samisdats, die in den größeren Städten seit Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen.« (K, 142). Zu den Besonderheiten dieser Samisdatliteratur und ihrer Charakterisierung als »heterotopem Raum« vgl. Hähnel-Mesnard 2007. 377 Studio LCB 2014 (Gespräch II), ab 20:56 min. 378 Egger (2018, S. 176f.) interpretiert den desolaten Zustand Violas auch als Symbol des sich in Auflösung befindenden Landes sowie als anachronistisches Medium, da die »Stimme« von der anderen Seite der Mauer mit dem Ende des Kalten Kriegs bedeutungslos wird. 379 Vgl. dazu bereits Fuchs 2017, S. 43.

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mierten Zeit immer wieder diskret in Erinnerung gebracht. Ebenso vermittelt das Radio eine Ahnung davon, wie sich die Ereignisse außerhalb der Insel überschlagen hatten, denn trotz seines defekten Zustands symbolisiert es ein genuin an die Moderne gebundenes Medium. Es entspricht außertextuell einer Technik, die die Vermittlung gleichzeitig geschehender Ereignisse ermöglicht und textintern einem erzählerischen Griff, der die »Simultanität des Weltgeschehens als Hintergrund aufbau[t]«.380 In diesem Sinne steht das Radio von Anfang an symbolisch der verlangsamten Inselzeitlichkeit entgegen.381 In dem von Ed wahrgenommenen Rauschen Violas überlagern sich zunächst zwei kulturelle Aspekte des Rauschens, nämlich einerseits das natürliche und romantisch konnotierte »Rauschen der Brandung« und andererseits das Rauschen als technische Störung.382 Das permanente Rauschen des Radios kann jedoch im Romankontext insgesamt als Metapher einer Störung der auf der Insel bestehenden Verhältnisse gelesen werden. In diesem Sinne schlägt Kruso bereits in einem auf den 17. Juli datierten Kapitel vor – einem Zeitpunkt, als die ostdeutsche Fluchtbewegung über Ungarn einsetzte –, Viola »den Saft ab[zu]drehen«: »Sie bringt einfach zu viel Unruhe, zu viel Unsinn ins Haus. Das ganze Festlandgeplapper, das nichts, absolut nichts mit uns hier oben zu tun hat, mit uns und unserem Leben…« (K, 194). Während Kruso seine Inselutopie bereits bedroht sieht, scheint Ed die wirkliche Bedeutung der Nachrichten Violas zu ignorieren: »Stündlich kam irgendetwas über Stürme aus Nordwest und Flüchtlinge in den Botschaften, aber niemand hört ihr wirklich zu. Als lägen wir außerhalb der Nachrichten, und ich glaube, so ist es, […], wir sind nicht wirklich von dieser Welt.« (K, 209). Während sich jedoch die meisten Esskaas mit der Zuspitzung der Flüchtlingswelle wieder der realen Welt zuwenden und nach und nach die Insel und das Land verlassen, bleiben die Ereignisse für Ed irreal und rätselhaft: »Der Zaun blieb ein Rätsel. Das Ungarische-Grenze-Rätsel. Plötzlich alt, plötzlich offen. Und niemand hatte geschossen. Wie konnte das möglich sein?« (K, 285). In der Tat verharrt Ed in einer geschichtslosen Zeit, er nimmt hinter den Nachrichten nicht

380 Vgl. zur Frage der »Zeit der Erzählung« und dem »Problem der Gleichzeitigkeit« das entsprechende Kapitel in Vogt 2008, S. 142. 381 Dementsprechend ist Fuchs’ Einschätzung, der Sender habe die Funktion einer »Entdramatisierung und Entschleunigung der historischen Ereignisse«, zu relativieren (Fuchs 2017, S. 43). Während Eds Wahrnehmung der historischen Ereignisse tatsächlich fragmentarisch bleibt, ist dies bei den anderen Mitgliedern des Klausners keineswegs der Fall, da diese nach und nach die Insel gen Westen verlassen. 382 Zu dieser Doppeldeutigkeit des Rauschens vgl. Hiepko/Stopka 2001, S. 10f.

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die tatsächlichen historischen Ereignisse wahr, sondern sie sind ihm Anlass, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen.383 Doch die Geschichte mit ihren gerade sich ereignenden Umbrüchen holt die Inselwelt ein und kündigt eine neue und schnellere Zeit an: »Draußen rauschten die Bäume oder das Meer oder die Zeit […]« (K, 363), in der sich nun auch die Tagestouristen selbstbewusster gaben, wie der Erzähler ironisch kommentiert: »Tatsächlich glich das Ganze einer spontanen Versammlung, auf der Forderungen vorgetragen werden sollten und Kritik, die schon zu lange hatte unausgesprochen bleiben müssen, aber hier war der Ort, und jetzt war die Zeit.« (K, 367). Während die tagespolitischen Ereignisse langsam auf die Insel übertreten, manifestiert sich auch die »alte Zeit« noch einmal mit aller Macht. Von Anfang an berichtet der Roman über die Überwachung der Insel durch die Grenztruppen und die davon ausgehende Gefahr für die »Schiffbrüchigen«, die weder Unterkunft noch Arbeit vorweisen können. Besonders manifest wird dieser Einbruch der »alten Zeit« am »Tag der Insel«, dem jährlichen Inselfest der Esskaas, als »graue Patrouillen- und Torpedoboote« plötzlich provokativ »den Horizont [versperrten]«, sie glichen »einer schwimmenden Mauer, einem Limes aus Stahl, nur ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt« (K, 269). Während die Grenzen der DDR durchlässig werden, wird hier in einem »Stellungskrieg« noch einmal symbolisch eine Mauer errichtet, so dass die Inselwelt ihren Bewohnern plötzlich »fremd und feindlich« (ebd.) erscheint. Gleichzeitig wird auf das baldige Ende einer ganzen Epoche und damit auf die »Geschichtlichkeit politischer Ordnungen«384 verwiesen, denn Ed kommentiert den Austausch von Flaggensignalen zwischen den Booten und dem Festland so: »Als würde man zufällig Zeuge des letzten Gesprächs der letzten Vertreter einer aussterbenden Art über den Untergang der Welt.« (K, 271). Zeichen der Geschichtlichkeit des sich gerade auflösenden politischen Systems sind auch der Panzerkreuzer und der sowjetische General, Krusos Vater, die gegen Ende des Romans auftauchen, um den verletzten Kruso auf der inzwischen fast verlassenen Insel zu bergen. Während der General mit dem Inselkommandanten auf Russisch Parolen austauscht – »Pletschom ka pletschu« (K, 418; dt.: Schulter an Schulter) –, die an die alte Waffenbrüderschaft erinnern,385 erscheint der letzte Anblick des Generals erneut wie eine Untergangsvision: 383 So muss er bei den Informationen über das »paneuropäisch[e] Picknick« an der ungarischösterreichischen Grenze an einen Auftritt von »Pan« denken, der »europäische Weisen [musizierte]« (K, 323). 384 So interpretiert Hühn (2014, S. 43) die simultane Präsenz von Dingen aus unterschiedlichen Epochen in der Malerei Caspar David Friedrichs. 385 In seinem Gedicht »durchs gebirge, durch die steppe zog«, in dem der Alltag von Soldaten und deren Beziehung zu den sowjetischen »Befreiern« angesprochen wird, benutzt Seiler

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Die glänzenden Schuhe des Generals im Sand, halb eingesunken. Eine Welle und die dunklen, nassen Ränder seiner Hosenbeine. Die nassen Ränder seiner sowjetischen Hosenbeine – in diesem Bild blieb die Geschichte stehen, es enthielt die ganze Geschichte. (K, 421)

Die Fokussierung auf sinnlich wahrnehmbare Details unterstreicht die Diskrepanz zwischen der hier dargestellten Situation und den ideologischen Diskursen, die bisher die Stärke der Sowjetmacht in den Vordergrund stellten. Die Einsicht, dass eine bestimmte historische Zeit ihrem Ende naht, wird in einem prägnanten Bild metaphorisch zusammengefasst. Seiler selbst hat auf die Bedeutung dieses Bildes aufmerksam gemacht, das den Schreibprozess des Romans erst in Gang brachte. Zunächst war da der Gedanke des russischen Generals, der wie ein »Deus ex Machina« plötzlich erschien, ein Bild, »vertraut und zugleich verrückt genug, das Ende eines Zeitalters einzuläuten«,386 dann kam die Ostseewelle hinzu: Und da stand er nun, in der Fülle seiner Macht, die jetzt gebrochen war auf die vielfältigste Weise. Ein Bild, das augenblicklich die ganze Geschichte enthielt, ein Bild, dem ich absolut vertrauen konnte, ein Portal, durch das ich gehen konnte, hinein in den Stoff dieser Zeit. […] Das Bild funktionierte als Herberge, es war ein Speicher verdichteter Zeit […].387

Wie bestimmte Objekte in Seilers Erzählungen hat hier das imaginierte Bild des Sowjetgenerals mit seinen nassen Hosenbeinen Portalfunktion, es bietet Zugang zur vergangenen Zeit und führt vierzig Jahre Geschichte konzis in einem Punkt zusammen. Die historische Zeit kommt schließlich noch einmal sehr deutlich im Epilog des Romans zu Wort, wenn Ed nunmehr als homodiegetischer Erzähler von seiner Suche nach den Spuren der toten Ostseeflüchtlinge in Dänemark berichtet. Dabei ist der Status dieses Epilogs ambivalent, denn nicht nur die Erzählperspektive388 ändert sich plötzlich, sondern Eds Recherchen überschneiden sich mit denen des Autors Lutz Seiler, der im Epilog auch die Klarnamen seiner Helfer benutzt,389 so dass auch hier eine metaleptische Überschreitung der Erzählebenen stattfindet.390 Der Epilog sei Seiler zufolge zunächst nicht geplant gewesen,

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bereits die Wendung »[…] schulter / an schulter […]«, wobei die intendierte Nähe hier durch den Zeilensprung eher in Frage gestellt wird. Seiler 2000, S. 47. ›Von Rom nach Hiddensee‹, in: Seiler 2016, S. 32. Ebd., S. 34. Zur Komplexität der Erzählperspektive und der »nicht eindeutig zu beantwortenden Frage nach der Erzählinstanz«, vgl. Banoun 2020, S. 327. Dies verbinde Seilers Roman unter anderem mit Prousts À la recherche du temps perdu, den Banoun als Architext zu Kruso liest. Ebd., S. 327–334. Studio LCB 2014 (Gespräch III), ab 18:00 min. Vgl. dazu auch Banoun (2020, S. 328), der den dänischen Journalisten Jesper Clemmensen als »Agent einer narrativen Metalepse« bezeichnet.

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habe sich ihm aber beim Schreiben des Romans aufgedrängt,391 der »Respekt vor den Opfern verbot eine Literarisierung, wie sie den Hauptteil des Buches prägt […]«.392 In gewisser Weise symbolisiert der metaleptisch geprägte Epilog auch hier eine Aktualisierung von Vergangenheit und Geschichte.393 Während sich die Toten im Hauptteil des Romans Ed im Laufe einer seiner letzten Visionen beim Anblick der Ostsee massiv aufdrängen (»das Meer gab seine Toten frei«, K, 433) und die zeit- und geschichtsenthobene Wahrnehmung der Figur sich zu ändern beginnt,394 wird im Epilog ein offenbar vergessener Teil der Geschichte aktualisiert und implizit auch Kritik an der Aufarbeitung der DDR-Geschichte geübt. Denn obwohl die bei Fluchtversuchen umgekommenen Ostdeutschen im Diskurs über den ›Unrechtsstaat DDR‹ allgemein präsent sind, hat sich bisher kein Historiker für die konkreten Spuren und Überreste dieser Opfer interessiert. Oder wie Seiler es formuliert: es gebe zahlreiche Heldengeschichten von gelungenen Fluchtversuchen von Hiddensee aus, aber nach den Toten habe niemand nachgefragt, er selbst sei nach 25 Jahren der erste gewesen, der die in Dänemark vorhanden Akten konsultierte.395 Dass es sich dabei nicht um die Arbeit eines Forschers bzw. Historikers handeln konnte, wird von Ed explizit thematisiert (»die Wege der Aufarbeitung waren mir nicht vertraut […]«, K, 472), die im Epilog gehäuften Grenzüberschreitungen zwischen Fakt und Fiktion machen dies außerdem deutlich. Eds/Seilers Recherchen ermöglichen jedoch sowohl Empathie mit den Opfern, deren makabre Schicksale auf dem Weg durch die Ostsee nachgezeichnet werden, als auch einen besonderen Moment der Erinnerung. Auf die Figur Eds bezogen, wird sein Blick für die geschichtliche Zeit definitiv geöffnet: befand er sich im Hauptteil des Romans größtenteils in der zeitlosen Atmosphäre eines romantischen Einsiedlers, so bekommt der Verweis auf die Romantik im Epilog noch eine andere Bedeutung. Wenn die fiktive Figur des dänischen Archivars Henri Madsen, eines entfernten Verwandten Friedrich von Hardenbergs (K, 461), von dessen Tätigkeit im Bergbau spricht und Zeilen aus den Hymnen der Nacht rezitiert, wird der romantische Raum der Höhle und des Unterirdischen als Ort der Poesie zwar noch einmal aufgerufen, gleichzeitig jedoch mit den Toten der sich im Keller des Kopenhagener Polizeigebäudes befindenden »Abteilung Verschwunden« konfrontiert. Der Epilog führt mehrere Bedeutungsschichten des Romans zusammen: Literatur, Poesie und Geschichte vereinen sich im Bild des orphische Züge tragenden Dichters Ed, der im Resonanzraum der roman391 392 393 394

Studio LCB 2014 (Gespräch III), ab 16:50 min. ›Der Ort, wo die Toten sind. Dankrede zum Uwe-Johnson-Preis‹. Seiler 2014, S. 851. Vgl. dazu die Ausführungen über die Erzählung »Gavroche« in Kap. 1.1.2. Dies vollzieht sich parallel zu Eds Überwindung des eigenen Traumas und der Rückeroberung seiner Vergangenheit im Schreibprozess (K, 431). 395 Studio LCB 2014 (Gespräch III), 19:30–21:00 min.

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tischen Poesie nunmehr in die Unterwelt der Geschichte eintritt, welche die poetische Zeitlichkeit zu überlagern scheint.

1.2.6. Fazit: Die Insel als Übergang und Zwischenzeit Lutz Seilers Roman Kruso repräsentiert die im Vergleich zum Festland ganz besondere Eigenzeitlichkeit der Insel Hiddensee im Wesentlichen anhand der Figur Eds. Da Kruso am Gedanken einer idealen Gemeinschaft festhält, bleibt er trotz seines Außenseiterlebens auf der Insel jener Logik einer konkreten Utopie Bloch’scher Herkunft verhaftet, die auch unter kritisch-loyalen Intellektuellen in der DDR in Umlauf war. Die im Roman teils auch ironisch ausgedrückte Distanzierung zu diesem Gemeinschaftsdenken liest sich wie eine nachträgliche Utopiekritik.396 Ed hingegen profitiert von der Insel als einem realen »anderen Raum« bzw. »Gegenraum«, der ihm das Ausleben seiner Eigenzeit erlaubt. Dabei ist diese Erfahrung einmalig und für eine utopische Heilserfahrung offensichtlich ungeeignet, sie ist in Ort und Zeit begrenzt, wie Ed rückblickend im Epilog feststellt: »[…] und irgendetwas, was nur dort, auf der Insel, zu haben gewesen war, und auch nur damals.« (K, 476). Neben dieser Darstellung von Eigenzeitlichkeit anhand des Insel-Topos liest sich Seilers Roman jedoch auch als Parabel des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989, ohne dass dieser als solcher konkret dargestellt würde, denn lediglich das Radio Viola streut Realitätsfragmente der geschichtlichen Ereignisse in die Handlung ein. Im Gespräch mit Michael Opitz sagte Seiler dementsprechend: »Ich hatte nicht die Vorstellung, dass ich über die Wende erzähle und auch nicht über den Mauerfall. Aber ich habe diesen Zeitraum gewählt auf Hiddensee, auf dieser Insel und es ist überhaupt nicht nötig, dass der Held im Zentrum der sogenannten Wendeereignisse steht.«397 Doch gerade die Fokussierung auf unterschiedliche Zeitlichkeiten figuriert diese »Wende« literarisch. Obwohl in Seilers Roman erinnerte lebensweltliche Realität und geschichtliche Elemente hineinspielen, gelingt es ihm mit Kruso, einen nichtreferentiellen Roman über die Zeit des Umbruchs zu schreiben. Während die realen Ereignisse kaum Gegenstand sind und nur am Rande erwähnt werden, wird der Umbruch weitgehend ästhetisch durch die Figuration einer besonderen Zeiterfahrung repräsentiert. Eds Austritt aus der gesellschaftlichen und geschichtlichen Zeit des Festlands führt ihn in einen Zustand individueller und ästhetischer Eigenzeitlichkeit, bevor er sich erneut den Auswirkungen der geschichtlichen Zeit, diesmal den Verän396 Zur Utopiekritik der jüngeren Autorengeneration vgl. Hähnel-Mesnard 2017. 397 Opitz 2014.

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derungen im Land, stellen muss. Die mythische Zeit und die Naturzeit stehen für ein Modell der Rückkehr zum Ursprung bzw. von zyklischer Zeit, die gemeinsam mit der apokalyptischen Metaphorik des Untergangs auf das Ende einer Epoche verweisen. Eds Zeiterfahrung auf der Insel im Zusammenhang mit seinem Wandel zum Dichter entspricht einem Zwischenzustand und die Insel insgesamt erscheint als Raum der Veränderung, des Übergangs, der Zwischenzeit. Eine solche Erfahrung der Latenz repräsentiert jedoch auch paradigmatisch den Zeitenwechsel von 1989, das Herausfallen aus einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang, die Phase einer kurzen, gesellschaftlich erfahrenen Zeitlosigkeit als Raum neuer Möglichkeiten und das mit dem rasant durchgeführten Einigungsprozess einsetzende Eintreten in einen neuen gesellschaftlichen und zeitlichen Kontext. Die konkrete historische Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs ist wiederum Thema von Seilers bisher letztem Roman, der neue literarische Bilder für diese Übergangsperiode findet.

1.3. Zeit des Umbruchs und des Übergangs in Stern 111 (2020) Lutz Seilers im März 2020 erschienener und sogleich mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter Roman Stern 111 knüpft an Kruso an, nimmt aber auch zahlreiche Motive aus dem Erzählband Die Zeitwaage, vor allem der Titelerzählung, wieder auf. Die Handlung des Romans vollzieht sich im Wesentlichen zwischen November 1989 und August 1994,398 konzentriert sich jedoch vor allem auf die Zeit vom Mauerfall bis kurz nach der Wiedervereinigung. Er berichtet über zwei Schicksale, zwei Lebenswege, zwei Formen von Selbstverwirklichung, die sich diametral gegenüberstehen. Auf der einen Seite erzählt der Roman von den Eltern des Protagonisten Carl Bischoff, die sofort nach dem Mauerfall das Land verlassen, um den Traum ihres Lebens zu verwirklichen. Sie begeben sich auf Wanderschaft, werden zu modernen Nomaden, bis sie ihr Ziel erreichen.399 Auf der anderen Seite verfolgt der Roman das Schicksal Carls, der sein Glück nicht in der Ferne sucht, sondern lediglich aus der thüringischen Provinz nach Berlin gelangt und dort eher statisch, in einem genau abgegrenzten »Reservat«400 zwischen Mitte und Prenzlauer Berg, den Weg nach innen einschlägt, auf der Suche nach einer poetischen Existenz. Bernard Banoun hat für den Roman Kruso aufgezeigt, inwiefern ihm das »Modell Romantik« als Archi398 Im Epilog berichtet der Erzähler auch von einem letzten Besuch in der »Assel« im Mai 2009, erinnert sich aber vor allem an die Ereignisse zwischen 1992 und 1994. 399 Zur Thematik der sozialen und kulturellen Fremdheit sowie Aspekten der Migration im Roman vgl. Gortych 2021. 400 Seiler 2020, S. 52. Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf Stern 111 beziehen, mit der Sigle S direkt im Text angeführt. Hervorhebungen im Original.

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text zu Grunde liegt.401 Die beiden Erzählstränge in Stern 111 scheinen ebenfalls auf zwei Modi romantischer Weltaneignung zu verweisen. Einerseits die Entgrenzung der Erfahrung durch Wanderschaft, durch das Unterwegssein, andererseits der Weg nach innen, wie es bei Novalis heißt: »Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.«402 Mit dem Roman Kruso verbinden Stern 111 jedoch nicht nur die Bezüge zur Romantik. Beide Romane haben einen ähnlichen Aufbau, einen vom restlichen Text abgegrenzten Prolog und einen Epilog, in dem sich die Erzählperspektive ändert. Auf diegetischer Ebene gibt es eine Anknüpfung an die erzählte Zeit des ersten Romans, der im November 1989 endet,403 aber scheinbar auch thematische Verbindungen. So wird der Protagonist Carl bei seiner Rückkehr nach Hause mit einem »Verschollene[n]« verglichen und es wird in diesem Zusammenhang ein wichtiger Topos von Kruso aufgenommen: »Die meisten Schiffbrüchigen scheiterten erst nach ihrer Heimkehr – das war das Traurige an diesen Geschichten. Die Heimkehrer fanden nicht mehr zurück ins Festlandleben.« (S, 9). Der Leser könnte also denken, Carl sei selbst einer der Schiffbrüchigen der Insel Hiddensee gewesen, ein Seelenverwandter Edgar Bendlers, und käme nun aufs »Festland« zurück.404 Im Hauptteil begegnet man dann tatsächlich Kruso und Edgar Bendler, dem »Adjudante[en] des Commandante[n]« Kruso (S, 240), der aus demselben Ort, Gera-Langenberg, und derselben Straße wie Carl stammt und mit ihm zur Schule gegangen war. Edgar erscheint als »Carls Doppelgänger (Doppelgänger war zu viel gesagt, aber die Ähnlichkeit war deutlich)« (S, 239).405 Ebenso wie Kruso spielt Stern 111 mit autofiktionalen Elementen. Erschien Edgar Bendler spätestens durch die narrative Metalepse im Epilog als Alter Ego des Autors Lutz Seiler, so wird Carl mit dem Geburtsdatum und Geburtsort des Autors versehen.406

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Banoun 2020, S. 334–339. Novalis 1978, S. 233 (16. Fragment). Vgl. zu den formalen Ähnlichkeiten Banoun 2020, S. 339. In dem 2020 in der Zeitschrift Études germaniques zum ersten Mal veröffentlichten Text »Marokko«, der ursprünglich als erstes Kapitel von Stern 111 geplant war, wohnt Carl hingegen in einem Fremdenheim in Halle und versucht Gedichte zu schreiben. Marokko ist dabei Motiv eines Gedichts und eine Art Sehnsuchtsort, der als solcher auch in Stern 111 wiederauftaucht. 405 Carl berichtet Ed dann tatsächlich, dass er Kruso von Hiddensee her kennt, was die anfänglichen Vermutungen des Lesers bestätigt (S, 242). 406 »Carl Bischoff, einziges Kind von Inge und Walter Bischoff, geboren 1963 in Gera/Thüringen […]« (S, 19); »Es war der 8. Juni, Carls Geburtstag.« (S, 217) Der autofiktionale Charakter des Romans wird auch metaliterarisch reflektiert, wenn Carl dem Sohn seiner Freundin Effi eine Geschichte erzählt, die sich auf dessen Tagesablauf bezieht und dieser die Erzählung zu korrigieren beginnt, »um ihm zu erklären, wie es eigentlich gewesen war. ›Aber das ist eine

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Während in den Erzählungen der Zeitwaage Zeit vor allem als Wiederaufrufen von Vergangenem, als Rückerinnerung in der Gegenwart, aber auch als Zeitwahrnehmung in der DDR analysiert wurde und im Roman Kruso das Zeitregime der DDR sowie die Flucht aus demselben im Vordergrund stand, fokussiert Stern 111 den gesellschaftlichen Umbruch von 1989. Erzählt wird eine Zeit des Übergangs, der »Anarchie« und der »Freiräume«, eine »Passage«, wie Seiler es selbst formulierte.407 Im Folgenden werden drei Aspekte der Zeitwahrnehmung und -darstellung im Roman untersucht: die plötzliche Orientierungslosigkeit als genealogische Verkehrung, als plötzlich aufgelöstes Verhältnis zwischen Carl und seinen in die Ferne ziehenden Eltern; die kurze Zeit der Utopie in der Berliner Souterrainkneipe »Assel« als Zeit des »Wunderbaren«, die durch den Rückgriff auf Elemente des magischen Realismus dargestellt wird; schließlich die poetische Eigenzeit der Hauptfigur Carl, der sich – darin Ed auf der Insel Hiddensee ähnlich – in einem heterotopen und heterochonen Raum bewegt.

1.3.1. Zeitverwirrung: Orientierungslosigkeit und genealogische Verkehrung Am 10. November 1989 erhält Carl ein Telegramm seiner Eltern, die ihn bitten, umgehend nach Hause zu kommen. Die gerade sich ereignenden gesellschaftlichen Veränderungen scheint Carl, wie Ed in Kruso, nur am Rande mitzuverfolgen. Als er am Leipziger Hauptbahnhof den Zug in die Heimatstadt sucht, gelangt er in eine Menschenmenge, die zu einem Zug nach Berlin und dort zur gerade geöffneten Grenze drängt. Carl stürzt im Gewirr und verliert »die Orientierung« (S, 11), auch Stern 111 beginnt mit einem der zahlreichen kleineren und größeren Unfälle, die Seilers Figuren in der Regel heimsuchen.408 Als er gefragt wird, ob auch er nach Berlin wolle, antwortet er: »Nach Hause. Ich wollte nach Hause.« (S, 12) Mit dem hier bereits offenbarten romantischen Hang zum Poetischen409 endet auch der Prolog, denn Carl erinnert sich dort an die märchenhafte Atmosphäre seiner Kindheit. Zu Hause angekommen erfährt er, dass seine Eltern »[d]as Land verlassen« (S, 17) möchten. Bereits am folgenden Morgen soll er sie zur innerdeutschen Grenze bringen, von dort aus wollen sie ihr Glück im Westen versuchen. Das erste Kapitel trägt den Titel »Die Verwunderung«, doch erzählt es auch von einer Verwundung. Die Geschichte, die Carl kurz zuvor noch ignorieren konnte, bricht nunmehr in Geschichte, Freddy, verstehst du?‹ ›Nein.‹ ›Manches ist wie bei dir, vielleicht ganz genauso, das kommt vor, aber manches eben auch nicht.‹« (S, 267). 407 Seiler/Hensel 2020, ab 15:00 min. 408 Vgl. dazu Arlaud 2020. 409 Carls Worte erinnern wieder an Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. Vgl. dazu oben Kap. 1.2.2.

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sein Leben ein und er fühlt sich plötzlich ausgeschlossen, allein gelassen, ohne Anhaltspunkte. Das Elternhaus, das bisher Synonym von Beständigkeit und Kontinuität war, verliert plötzlich seine Exklusivität, geht in den normalen Lauf der Welt ein: Carl sah sich um, und plötzlich war es so, als hätte man diese (ihre) Welt von Fluss und Weg nur vorrübergehend errichtet (nicht für ewig) und als müsse sie nun (wie alles andere) (selbstverständlich) abgebaut und beiseitegeschafft werden, als wäre sie (von einer auf die andere Sekunde) ungültig und wertlos geworden. (S, 17f.)

Das Gefühl des schnellen, plötzlichen Verlusts wird von der Einsicht begleitet, dass sich die das Leben bestimmende natürliche Zeitordnung umgekehrt hat. Carl spricht mit Worten zu den Eltern, die seiner Generation nicht entsprechen: »Ich glaube, ihr unterschätzt das, das – das mit der Heimat, meine ich.« Es war seltsam, das zu sagen, es war ungewohnt, so mit den eigenen Eltern zu sprechen, etwas kehrte sich um. Schweigend gingen sie weiter flussaufwärts – Mutter, Vater, Kind zwischen all den Attrappen ihres plötzlich ausgedienten, abgepfiffenen Lebens. (S, 18)

Das Bild des Flussaufwärtsgehens steht paradigmatisch für eine Verkehrung der Zeitverhältnisse, der lineare Fluss der Zeit, der Verlauf eines Lebens wird zurückgespult. Während des gemeinsamen Spaziergangs mit den Eltern erinnert sich Carl angesichts der bekannten Orte an Etappen seiner Kindheit: »Hunderte Fotos dazu im Familienalbum […]: der Sechsjährige im Hemd und mit Fliege […]. Dann der Vierzehnjährige mit Pagenschnitt […]. Und so weiter auf dem Zeitstrahl durch alle Jahre und Jahreszeiten bis zu diesem Tag, den niemand fotografierte.« (S, 17) Dieser Zeitstrahl wird nun umgekehrt, mit ihrer spontanen und in den Augen Carls unüberlegten Entscheidung werden die Eltern wieder jung, sind sie »plötzlich nicht mehr erwachsen« (S, 18), kommt es zu einer Verkehrung auch der genealogischen Abfolge. Später reflektiert Carl: »Die Eltern verlassen das Elternhaus […]. Früher […] war das Verlassen den Kindern vorbehalten gewesen. Die Kinder zogen in die Welt, nicht die Eltern.« (S, 29). Und halb ironisch: »›Unsere Eltern sollen es einmal besser haben.‹ Etwas stimmte nicht mit diesem Satz.« (S, 31) Die Figurenkonstellation der in die Fremde ziehenden Eltern und des verlassenen Sohns, welche die typische generationelle Verbindung in Frage stellt, ist ein erstes literarisches Bild zur Darstellung einer Zeit des Umbruchs und des Verlusts von Orientierungen. Hinzu kommt der Topos der Heimat, die die Eltern verlassen, welche somit in Carls Augen auch Zugehörigkeitsgefühle ignorieren. Der Begriff der Heimat, der nicht nur in der DDR ideologisch belastet war, steht zu Beginn des Romans bei Carl für ein Gefühl des Ankommens, der Behausung, der Sicherheit. In der Wohnung der Eltern »übermannte ihn das Heimweh, die Sehnsucht nach Ankunft, Ruhe, Schlaf, Heimkehr des verlorenen Sohnes, irgendetwas davon. Sehnsucht nach jener anfallartigen Müdigkeit, wie sie ihn nur

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hier heimsuchte, zu Hause, auf dem Sofa seiner Kindheit […].« (S, 18) Heimat, das ist für den Autor Lutz Seiler alles, was »Heimvalenz« besitzt, eine Landschaft,410 die zur »Bildwelt seiner Herkunft« führt und die »in der Lage ist, Identität zu stiften, zu der schließlich auch das Gefühl des Verlusts gehört […]«.411 Zu Seilers Heimat und Herkunft gehört wiederum das Gefühl der »Müdigkeit«, die auch Carl bei den Eltern »anfallarti[g]« heimsucht. Es ist ein Schlüsselbegriff, der auf die vom Uranbergbau betroffenen »müden Dörfer« Ostthüringens verweist,412 dadurch aber auch – wie bereits gezeigt wurde – neben »Abwesenheit« und »Schwere« auf einen der »Wahrnehmungszustände der Kindheit«, die für den Autor wie »präpoetologische Axiome« wirken.413 Wenn Carl im Roman emphatisch von Heimat spricht, dann auch, weil diese in der neuen Zeit durch den Weggang der Eltern verloren zu gehen droht. Heimat, das ist die Dingwelt der Kindheit, die Garage des Vaters, die Werkzeuge, »die im Gesamtbild eine Art Landschaft (Heimat) ergaben […].« (S, 21) Zahlreiche Motive aus den Erzählungen der Zeitwaage werden in Stern 111 wieder aufgenommen und umreißen für die Figur Carl Bischoffs eine erfüllte Zeit der Kindheit, die nun zu verschwinden droht, gleichzeitig aber zum Ausganspunkt einer dichterischen Berufung wird. In der von den Eltern verlassenen Wohnung, in der er als »Nachhut« (S, 32) die Stellung halten soll, beginnt Carl ein Gedicht zu schreiben, »[e]s gab fünf Zeilen darin, die Carl sehr gut gefielen – wie von einem Fremden verfasst.« (S, 33). Sie sind Ausgangspunkt für den Weg in »die andere Welt, für die es sich lohnte (und sonst für keine).« (S, 35) Die Verkehrung der Rollen im Zusammenspiel der Generationen, in Anlehnung an die für den gesellschaftlichen Umbruch charakteristische Form der Verwirrung der Zeitverhältnisse, wird im Roman immer wieder betont. Während Carls Eltern durch das sofortige Verlassen des Landes »zum Umsturz bei[trugen]« (S, 25), sitzt Carl in der Geraer Wohnung, liest und schreibt Gedichte und ernährt sich von »Eingeweckte[m] und Apfelwein« (S, 36) aus dem Keller.414 Im Fernsehen erfährt Carl »[i]mmer neue, immer unglaublichere Nachrichten«, »[d]ie alte Ordnung löste sich auf, in rasender Geschwindigkeit.« (S, 39) »Irgendwo da draußen tobte die Geschichte, und mitten in diesem Treiben irrten seine Eltern umher.« (S, 41) Die Dynamik und der Lauf der Geschichte wird durch die Generation der Eltern repräsentiert, durch »das Rabiate (Plötzliche, Unvorsichtige) ihrer Flucht« (S, 159), während der sechsundzwanzigjährige Carl

410 411 412 413 414

Zur »Landschaft als Heimat« in Seilers Lyrik vgl. Pabst 2019, S. 208–211. ›Heimaten‹, in: Seiler 2004, S. 43. Ebd., S. 34f. Ebd., S. 37. Sowohl seine Funktion als »Nachhut« und der Verweis auf das Eingeweckte in den »Ankergläsern« (S, 40) verweisen erneut auf die poetologischen Axiome des Autors Lutz Seiler.

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statisch am selben Ort verweilt,415 bis ihn schließlich doch »die Wut [packte]«: »Draußen fielen die Grenzen, und er saß in Gera-Langenberg fest.« (S, 42) Carl beschließt, nun selbst aufzubrechen und fährt mit dem väterlichen Shiguli nach Berlin: »Das Fahren tat ihm gut. Endlich antwortete er der großen Bewegung, die alles erfasst hatte und umwälzte, mit einer eigenen Bewegung.« (S, 45) Die durch den Weggang der Eltern zerstörte Gemeinschaft der Familie wird in Berlin durch eine neue Form der Gemeinschaft ersetzt. Dennoch steht Carl gedanklich mit seinen Eltern immer wieder im Dialog. Durch die Briefe, die seine Mutter ihm regelmäßig schreibt, erfährt er von ihrer Reisroute, den verschiedenen Jobs, die sie im Westen annehmen, um den Traum ihres Lebens zu verwirklichen. Dieses »Lebensgeheimnis« (S, 41) offenbart sich Carl erst nach sechzehn Monaten der Trennung, als er seine Eltern in Los Angeles besucht und von ihrer unendlichen Sehnsucht nach Amerika erfuhr. Die Verlassenheit, die Carl die ganze Zeit verspürt hatte, beschreibt der Erzähler so: Er kannte seine Eltern nicht wieder. Er wusste nicht mehr, wer sie waren – eigentlich. Mit dieser Frage im Raum gab es wenig, worüber er sich (rückblickend) noch sicher sein konnte. War alles Bisherige nur eine Fiktion gewesen? Und das, was jetzt geschah, die sogenannte Wirklichkeit – Fall der Mauer aus Fiktionen und Einbruch der Wirklichkeit? (S, 127)

Noch einmal steht das ungewöhnliche Verhalten der Eltern und der dadurch entstandene Verlust an Anhaltspunkten sinnbildlich für die schnellen Veränderungen, die der gesellschaftliche Umbruch mit sich brachte. Die eigene Vergangenheit wird in Frage gestellt, erscheint unwirklich, wie eine Fiktion, scheint nie existiert zu haben.

1.3.2. Zeit der Hoffnung und der Utopie Ein weiterer Aspekt der Zeit des Umbruchs und des Übergangs, den Stern 111 verhandelt, ist die Darstellung einer Zeit der Hoffnung und der Utopie. Die alten Verhältnisse sind zusammengebrochen, die neuen noch nicht wirklich angebrochen, das Leben verläuft in einer Art Zwischenzeit, einer Zeit der Anarchie und der politischen Freiräume, die Anlass für zahlreiche Träume und Visionen bietet. Im Roman wird diese Zeit der Utopie durch eine kleine Gemeinschaft Gleichgesinnter dargestellt, dem »klugen Rudel« (S, 60), das unter ihrem Anführer »Hoffi« die Ideale von Gleichheit und Gerechtigkeit wiederaufleben lässt.

415 Insofern kehrt Seiler hier auch die realen historischen Ereignisse um, da 1989 vorwiegend die jüngere Generation das Land verließ.

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Als Carl in Berlin ankommt, kennt er niemanden, verdient sich Geld als Schwarztaxi und übernachtet in den kalten Dezembernächten in seinem Shiguli, bis er verkühlt und fiebrig auf das kluge Rudel trifft, das sich seiner annimmt und ihn gesundpflegt. Die Konstellation ist ähnlich wie beim Klausner auf Hiddensee, Carl wird in der neuen Gemeinschaft aufgenommen, muss nichts über seine Motivationen erklären: »Nicht wenige sind unterwegs in dieser frisch befreiten Stadt. Die ganze Welt wird neu verteilt in diesen Tagen […]« (S, 70). Der das zu ihm sagt, heißt Hoffi, wird in biblischer Weise der »Hirte« genannt, trägt einen Poncho; eine Ziege, Dodo, begleitet ihn ständig. Er ähnelt einem Guru oder einem Heiligen, Carl nennt ihn »Assisi von Berlin« (S, 65). Als Anführer der Gruppe und Vertreter einer ganz eigenen Utopie ähnelt er Kruso auf Hiddensee. Hoffi und sein Rudel verfolgen in den Wochen nach der Öffnung der Mauer gleich mehrere Ziele. Sie versuchen, die durch zukünftige Immobilienmakler vom Abriss bedrohten alten Häuser in Mitte und Prenzlauer Berg zu retten, Häuser, die bis dahin dem Verfall überlassen waren, »wie lecke, zu Wracks heruntergewirtschaftete Schiffe im Meer dieser Stadt, die irgendwann sinken, mit oder ohne Besatzung« (S, 76). Auch hier existieren Parallelen zum Klausner. Hoffi hat Zugang zu einer »geheime[n] Abriss-Liste, mit der alles zu beweisen sein würde« (S, 78) und versucht mit seinem Rudel, in den Häusern Kommunen zu errichten, die Häuser zu »bewohnen« und in Obhut zu nehmen. Der Begriff der »Inobhutnahme« (S, 218) ist ihm wichtig, das plötzlich aus dem Westen importierte Vokabular der Hausbesetzung lehnt er ab, er »hasste das übliche Vokabular, er hasste die Worte ›Infoladen‹ und ›soziokulturell‹ […].« (S, 148) Hintergrund dieser Inobhutnahme ist auch der einleuchtende Gedanke, dass die Häuser noch Volkseigentum sind und in diesem Sinne unter der Bevölkerung der DDR aufgeteilt werden könnten (S, 150).416 Konkretisieren soll sich die Utopie der neuen Zeit an einem Ort in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte, in einem Souterrain eines der zahlreichen alten Häuser, das als »Ort der Begegnung und des Austauschs« gedacht ist, als »antikapitalistische Untergrundkolchose« und Stützpunkt der »Aguerilla« (S, 71). Aguerilla, das versteht Carl später, bedeutet »Arbeiter-Guerilla« (S, 124) und der Ort im Souterrain namens »Assel«417 soll sich zu einem »Arbeitercafé« entwickeln: 416 Diese Idee geht im Roman auf das Programm der »Autonomen Aktion Wydoks« (S, 150) zurück, die auf die real existierende Liste »Autonome Wydoks« der ehemaligen DDRPunkszene verweist, die 1990 zu den Kommunalwahlen im Prenzlauer Berg antrat und zu deren Kandidaten auch der Punksänger Aljoscha Rompe gehörte, der wiederum im Roman Kruso Pate für die Figur des Kruso stand. 417 Die »Assel« war bereits Gegenstand der Erzählung »Die Zeitwaage« und hat tatsächlich existiert. Lutz Seiler arbeitete dort, ein weiterer Hinweis auf den autofiktionalen Charakter des Romans. Seiler schreibt: »Zwischen 1991 und 1994 arbeitete ich in einer Souterrain-

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In der Assel geht es um Arbeit und um Literatur, das heißt um ein bestimmtes Bewusstsein dafür das ausstirbt und verlorengeht in diesen Tagen. Arbeit und Literatur gehören zusammen. Wir wollen dieses Bewusstsein erhalten, vor allem im Gespräch – die Assel, das ist offener Austausch, unter Arbeitern, ganz brutal, ohne Tabus. (S, 173)

Was sich hier wie eine Neuauflage des Bitterfelder Wegs unter anderem Vorzeichen liest, verweist erneut auf die Bedeutung, die dem Arbeiter in Seilers Werk zukommt. Während in der Erzählung »Die Zeitwaage« der Tod des Arbeiters zum Ausgangspunkt des Schreibens wird und der Arbeiter somit selbst in die Literatur überführt wird, berichtet Stern 111 hingegen vom Scheitern eines emanzipatorischen Projekts. Carl, der selbst Maurer war, dann studiert hatte und wie der Erzähler aus der »Zeitwaage« eine Nähe zum Milieu der Arbeiter verspürt, hatte sich schnell für Hoffis Projekt begeistert: »Häuser und Arbeiter, das Recht auf Wohnung und Arbeit, Häuser, selbst gewählt und gestaltet, die Emanzipation des Proletariats und so weiter – all das leuchtete Carl ein […].« (S, 124) Der Plan »entfachte eine beinah grenzenlose Bereitschaft, in allem, was im Keller der Assel geschehen sollte, nicht nur sich selbst, sondern auch den Beginn eines neuen Zeitalters zu erblicken: der eigenen Ära.« (ebd.) Hoffis utopisches Projekt erinnert an das gerade gescheiterte Gesellschaftsexperiment der DDR, das offensichtlich nicht aufgegeben, sondern diesmal anders und richtig realisiert werden soll. Doch die Assel mit ihrer neu gehissten Fahne aus »schwarze[r] Seide« mit einem »scharlachrote[n] A«, diesem »dreifache[n] A«, das »von der Schwere des Anfangs, von der Würde der Arbeit« und »von uns, der Arbeiter-Guerilla« erzählt (S, 217), zieht alle möglichen Gäste an, nur »die Arbeiterklasse blieb aus« (S, 221). Mit Beginn der Währungsunion zog eine ganz besondere Art von »Arbeiterinnen« (S, 271) in die Assel ein, die Prostituierten der Oranienburger Straße. Schnell änderte sich das Viertel, Touristen kamen, um die »Szene« (S, 326) zu besichtigen – Hoffis utopisches Gesellschaftsprojekt schlägt eine andere Richtung ein: »Die Dinge entwickelten sich anders in diesen Tagen, als Hoffi es sich vorgestellt hatte, und zwar rasend schnell.« (S, 301) Die Zeit der Hoffnung, der Utopie, wird im Roman durch die Figur des Hirten mit dem sprechenden Namen und seiner sonderbaren Ziege repräsentiert, denn wenn Hoffi ihr ins Fell greift, beginnt sie zu schweben: »Es war dieser Moment. Etwas, bei dem man sich später nicht mehr sicher sein konnte, tatsächlich dabei gewesen zu sein: Dodo begann, langsam zu steigen, zentimeterweise. […] ›Ihr habt es gesehen, jetzt habt ihr es gesehen‹, murmelte der Hirte. ›Was möglich wäre, wenn…‹« (S, 301). Das Mögliche wird nicht ausgesprochen, die Utopie bleibt ein Nicht-Ort, der an das Wunderbare grenzt. Dodo, die schwebende Ziege, Kneipe in Berlin-Mitte, Oranienburger Straße. Ein von den Bewohnern des Hauses ausgebauter Keller, kaum Komfort, niedrige Preise für Bier und Dosengerichte und der Name ›Assel‹.« (›Sonntags dachte ich an Gott‹, in: Seiler 2004, S. 143).

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verweist auf die »Zeit der Wunder« (S, 321), wie diese Zeit des Übergangs von einer der Figuren beschrieben wird. Bevor Carl Dodo am Ende des Romans nachts vor dem Berliner Tierpark absetzt und diese mühelos über den Zaun schwebt, kommt es im Auto noch einmal zu einer unwahrscheinlichen Szene: »Die wilden Zeiten sind vorbei, nicht wahr?« Im Rückspiegel die Ziege. Sie blickte mich an: unschuldig, vertrauensvoll, und als wisse sie noch weniger als ich, wer das gerade gesagt haben könnte. »Dodo?« Dodo schwieg. Aus heutiger Sicht ist es ganz gleich, ob Dodo gesprochen hat oder nicht. Entscheidend ist, was ich gehört habe, damals. (S, 521)

Seiler benutzt Elemente des magischen Realismus, um die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, als alles möglich schien, literarisch darzustellen und ihr so den Zauber des Irrealen zu verleihen, der ihr auch historisch eignete. Die Figur des Hoffi repräsentiert dann auf ihre Art den Zusammenbruch der Utopie und den Verlust der Hoffnung, deren Namen er trägt418. Als Carl Hoffi kennenlernte, war dieser »ein großer, breitschultriger Typ« (S, 63), sein Aussehen und seine Vorstellungen vom Dasein trugen auch romantische Züge,419 mit vollem Namen heißt er im Übrigen Hoffmann (S, 256).420 Der anfangs große und starke Hoffi ändert nach und nach seine Gestalt. In dem Maße, wie sich seine Utopie als nicht realisierbar erweist, wird er dahinschwinden wie die Hoffnung selbst. Nach dem Versuch, der Welt seine Verheißungen von einem Berliner Dach aus zu verkünden, stürzt Hoffi und muss im hinteren Teil der Assel gepflegt werden. Carl kannte Hoffi zu diesem Zeitpunkt »fast ein Jahr« (S, 311), inzwischen ist es also November/Dezember des Jahres 1990 und realhistorisch hat die Wiedervereinigung stattgefunden. Diese wird im Roman ganz nebenbei und indirekt erwähnt: »In der Ferne ein Schuss – und dann noch ein Schuss. Ist wie Neujahr, dachte Carl. Für einen Moment hatte er den Pabst vor Augen, der Gott für die deutsche Einheit dankte, es war in den Nachrichten gewesen.« (S, 297) Hoffis Niedergang beginnt also zu einem Zeitpunkt, da die Geschichte keine Freiräume und Experimente mehr erlaubt und nunmehr die Regeln einer neuen Gesellschaftsordnung gelten. »Das Reich des Hirten löste sich auf.« (S, 322), auch wenn er inzwischen zur »Legende« geworden war und man in den verschiedensten Kneipen der Gegend mit »Glanz« in den Augen von seinem Projekt 418 »Hoffi, die Hoffnung.« (S, 78) 419 Im Interview mit Hensel (2020, ab 17:00 min.) spricht Seiler auch von den »romantischen Vorstellungen von Dasein«, die in dieser Zeit der »politischen Utopien« in Umlauf waren. 420 Dieser Name wird erst spät im Roman genannt, doch gleich zu Beginn erhält die Gestalt eine poetische Aufladung, wenn der Erzähler mit einer Kaskade von Alliterationen und Assonanzen beschreibt, wie Hoffi seine Ziege wegführt: »Geschickt schob der Heilige das Hakenende seiner Hellebarde in den Ring am Halsband der Ziege.« (S, 65)

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sprach: »[…] die alles umspannende Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, die Sorge um den anderen, draußen auf der Straße oder sonst wo, das Gute für alle, jene Brüderlichkeit, zu der man doch einstmals ganz und gar bereit gewesen sei, ganz und gar.« (S, 362) Im Laufe der Zeit wird Hoffi schwächer, ist kaum noch zu erkennen: »Der Hirte (oder das, was von ihm übrig war, ein bräunliches Männchen, nur Haut und Knochen, hätte Carls Mutter gesagt) wälzte sich ein wenig in seinem Nest, dann streckte er den Kopf aus dem Stroh, wie ein großer Vogel.« (S, 372) Hoffi »schien auch im Ganzen geschrumpft, etwa auf halbe Größe […]« (S, 418). Noch steigt die Ziege Dodo langsam in die Luft, wenn Hoffi sie im Nacken krault (S, 419), doch das »Leittier [sprach] nur noch als Schatten zu ihnen […].« (S, 448) In dem »Das unbesiegbare A (Carls Bericht)« überschriebenen Epilog erinnert sich Carl nunmehr als autodiegetischer Erzähler an seine letzten Jahre in der »Assel«, sowie an seine letzte Begegnung mit dem Hirten im Sommer 1992, die aus der Perspektive Carls den im Rahmen der Diegese erzählten Übergang in das Reich der Poesie symbolisiert, das nun an die Stelle der Utopie tritt. In der Assel stellt man fest, dass der Hirte plötzlich verschwunden war. Man vermutet, er sei beim Ausmisten von Dodos Stall »versehentlich entsorgt« worden, man habe ihn »einfach übersehen, so dünn und faserig und beinah unsichtbar Hoffi […] inzwischen geworden wäre.« (S, 509) Auf der Suche nach Hoffi stochert Carl an der Stelle herum, wo Dodos verbrauchtes Stroh abgelagert wird. Die Passage sei hier ausführlich zitiert: […] und dann, es war kein Traum, hörte ich die Stimme, Hoffis Stimme, da gab es keinen Zweifel, und sie war nicht einmal leise oder matt, eher hart und klar. Es war nur ein einziger Anlaut, eine Silbe auf »A«, verschiedene Silben, genauer gesagt: »Arg, All, An, Arb«, und so fort und immer weiter, in endloser Folge: »Ab, Aff, All, All …« Die Vögel ringsum verstummten wie verwundert, und augenblicklich lauschte die Welt, als folge nun (endlich) das Zauberwort, auf das sie gewartet hatte, eigentlich alle schon immer gewartet hatten. »Das ist unser A, das unbesiegbare A«, hatte der Hirte einmal gesagt, »es steht für den Anfang, die Assel, die Arbeit, die Arbeiter-Guerilla«, so oder so ähnlich waren seine Worte gewesen. (S, 510)

Von Hoffis die Utopie inkarnierendem Körper ist nur noch die Stimme übriggeblieben, und von seinen drei »A«s nicht mehr eine konkret semantisch aufgeladene neue Welt, sondern nur noch ihr Klang, eine Abfolge von Silben, die jeder Bedeutung entbehrt. Und doch beinhaltet gerade diese semantisch leere Abfolge von Lauten die poetologische Kraft des romantischen Zauberworts, das den Zusammenhang der Welt offenbart. Carl wird die letzte Botschaft Hoffis nicht verstehen, während er weiter im Stroh stochert, »verstummte das ›A‹ – und zwar für immer.« (S, 511) Doch während er noch nach Hoffi sucht, ohne ihn wahrnehmen zu können, überlagert

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die Sphäre der Poesie bereits die Utopie, die dieser eben noch repräsentierte: »Er war nicht mehr als eine Ahnung, ein Umriss im Schimmel, Schrift von Sporen im Stroh, entziffert mit jenem Respekt, den ich noch immer hegte vor seiner Person, so zweifelhaft sie auch erscheinen mochte in diesem Augenblick.« (S, 510f.) Carl poetisiert bereits die Erinnerung an den Hirten, er entziffert die Spuren Hoffis auf seine Weise, Spuren und Überreste, die eher vor seinem inneren Auge erstehen als dass sie in der Wirklichkeit existierten. Die Alliterationen und Assonanzen laden die Passage erneut poetisch auf, zeugen von einer Romantisierung der Welt. Die Veränderung der Welt vollzieht sich nicht durch Gesellschaftsutopien, sondern durch die Möglichkeiten der Poesie, der Kunst. Insofern könnte man in dieser Passage auch eine intertextuelle Referenz auf die Schlussszene in Wolfgang Hilbigs 1990 fertiggestellter Erzählung Alte Abdeckerei erkennen, in der auf den Zusammenbruch der Ideologien und Utopien eine neue, poetische Sprache folgt, die aus dem überfluteten Grund der alten Abdeckerei hervorquillt und der vereindeutigenden Macht von Ideologien die semantische Offenheit einer künstlerischen Sprache entgegenstellt.421 Die utopischen Freiräume und das gesellschaftliche Experimentierfeld kurz nach dem Mauerfall werden in Stern 111 eindrucksvoll beschrieben, insofern trägt der Roman auch dazu bei, diese besondere Übergangszeit ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen.422 Doch reagiert er auf das Scheitern nicht mit Melancholie. Wie Ed in Kruso, der dem utopischen Inselmodell seines Freundes eher skeptisch gegenüberstand, hat sich Carl in der neuen Gemeinschaft zwar geborgen gefühlt, doch sind ihm die militanten Aktionen des Rudels fremd. Es »schien zu Feldzügen bereit, die weit entfernt lagen von einem Territorium poetischen Daseins.« (S, 113) Nicht im Engagement findet Carl ein Lebensziel, sondern er ist weiter auf der Suche nach einer poetischen Existenz. Zwar hatte er »sich dem Rudel angeschlossen, aber lief nur mit, wie ein Jungtier, ganz hinten, mit halb gesenktem Kopf, vertieft in Verse und Gedanken. […] Eine Welt, in der nichts wichtiger war als das kommende Gedicht.« (S, 218) Auch innerhalb des Rudels bildet Carl »die Nachhut« (S, 219). Im Grunde interessiert Carl sich weder ernsthaft für die Utopien der Gemeinschaft um Hoffi noch für die Entwicklungen im Land. Die Wirklichkeit ist nicht Gegenstand seines Schreibens: 421 Die Szene beruht auf zahlreichen Assonanzen und Alliterationen, unter anderem auf »a« (Wortspiele mit »alte Abdeckerei«), aber auch auf »s«/»sch« (Sternenschrift, Sternenzirpen, Schriftgezirp, Stierfluß, etc.), die auch Seiler in den zitierten Auszügen benutzt. Vgl. Hilbig 2010, S. 200–202. Stern 111 enthält weitere implizite Verweise auf Hilbigs Werk, die hier nicht erörtert werden können. 422 In diesem Zusammenhang bemerkte Jana Hensel zu Recht, dass der Zeitraum zwischen Mauerfall und Vereinigung als Zeit des Aufbruchs und der Emanzipation noch keinen Platz in den Geschichtsbüchern gefunden habe. Seiler/Hensel 2020, ab 16:30 min.

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Die sogenannte Wirklichkeit und ihre Fülle (»die spannendste Zeit unseres Lebens«, wie allenthalben behauptet wurde) – er wäre nie auf den Gedanken gekommen, darüber zu schreiben, nicht einmal im Tagebuch […]. Ob der nächste Vers gelingen würde, war die Frage, dieser Vers und sein Klang beschäftigten Carl, nicht der Untergang des Landes draußen vor dem Fenster. Wenn das Gedicht nicht gelang, dann auch nicht das Leben. (S, 266)

Carl durchquert die Wirren der neuen Zeit, indem er sich, darin wieder Edgar Bendler in Kruso ähnelnd, in das Reich der Poesie zurückzieht und darin eine Eigenzeitlichkeit lebt, die ihn von den Ereignissen abzuschotten scheint.

1.3.3. Poetische Eigenzeit Bereits Carls Ankunft in Berlin steht unter dem Zeichen der Poesie. Er kennt die Stadt nicht, und fährt mit seinem Auto zwischen Mitte und Prenzlauer Berg umher: Er fuhr in die Kastanienallee, die er bisher nur als Titel eines Gedichtbands kannte, und lief eine Weile ziellos umher. […] Irgendwo hier, hinter diesen Fassaden, wurden die guten Gedichte geschrieben, die dann in Zeitschriften erschienen mit Namen wie »Liane« oder »Mikado«. Auf der Suche nach ihrem besonderen Wesen musterte Carl die Menschen der Kastanienallee […]. Und tatsächlich hatten nicht wenige jene absolute Notwendigkeit im Blick, die zum Schreiben führen konnte; und dieser und jener schien schon tiefer hinabgestiegen in sein einsames »Ich muss«, Rilkes Diktum, das auch Carl verfolgte, seit ihm die »Briefe eines jungen Dichters« in die Hände gefallen waren. (S, 52)

Elke Erbs 1987 erschienener Gedichtband Kastanienallee wird hier ebenso aufgerufen wie die selbstverlegten inoffiziellen Literaturzeitschriften, die in den 1980er Jahren entstanden sind und von denen bereits Kruso und Ed auf Hiddensee sprachen. Die Notwendigkeit und Unbedingtheit dichterischen Schreibens, gestützt durch den Verweis auf Rilke,423 bilden den Rahmen von Carls erster Begegnung mit Berlin. Das kurze Eingangsgedicht aus Kastanienallee, das Carl zitiert,424 ist bereits ein Hinweis auf die Selbstvergessenheit, mit der er seiner Umwelt begegnet. Mit Hilfe des Rudels findet Carl in der »Ryke 27« (S, 73) eine leerstehende Wohnung, den zukünftigen Ort seines Schreibens. In Gedanken sagt er: »›Meine 423 Brief an Franz Xaver Kappus (Paris am 17. Februar 1903): »Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muß ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen ›Ich muß‹ dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; […].« Rilke 2007, S. 8. 424 »Im Treppenhaus Kastanienallee 30 nachmittags / um halb fünf roch es flüchtig / nach toten selbstvergessenen Mäusen.« (S, 52).

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Eltern sind verschollen, gleich nach Öffnung der Grenze, das heißt, ich bin jetzt allein und suche eine Höhle, nur für mich und mein Schreiben, für die Suche nach dem Übergang, genauer gesagt, die Passage in ein poetisches Dasein.‹« (S, 75) Das bereits in Kruso analysierte romantische Motiv der Höhle als Ort des Übergangs zum Schreiben wird hier wieder aufgenommen. Carl genießt die »wohltuende Fremdheit des Ortes«, die »alles besänftigende Einsamkeit« (S, 80) und findet im zur Wohnung gehörenden Keller – einer weiteren ›Höhle‹ – einen »Raum voller Abwesenheit, der ihn einlud, zu bleiben. Man konnte hier verweilen, hockend im Halblicht, im Kohleschlamm, ohne etwas Bestimmtes zu denken oder zu fühlen, ganz ohne Bedrängnis […].« (S, 86). Der auf die kommende Dichtung verweisende Ort war »Behausung, und Behausung war Vorbereitung, es waren die Dinge, die er dafür erledigen musste, er war auf dem richtigen Weg. Es ist, als ob ich schon schreibe, dachte Carl.« (S, 87) Die Wohnung in der Rykestraße im Prenzlauer Berg, die aus autobiographischer Perspektive bereits in Lutz Seilers Text »Der Flötenspieler« beschrieben wurde,425 ist der Rückzugsort des zukünftigen Dichters. Sie ist das Zentrum seines »Territorium[s]« (S, 132), das nur aus wenigen Straßenzügen bestand: Es waren die Tage der Beheimatung, nach und nach eroberte er sich sein eigenes Gebiet, meinen Claim, dachte Carl, dem es gefiel, in der Sprache der Goldsucher zu denken. Sein Claim war begrenzt und im Grunde kleiner als das Dorf, aus dem seine Familie stammte. Dahinter lag die Stadt, ihm zu Füßen, wie man so sagt, aber eigentlich in einer Art Jenseits, weit entfernt. Carl brauchte nicht mehr – nur drei, vier Wege, die ihn beherbergten im Gehen. (S, 131)

Der Wasserturm am anderen Ende der Rykestraße, der auf einem kleinen Hügel steht und den Carl »den Wächter« (ebd.) nennt, verleiht dem Ort das Aussehen einer Insel, »was den Turm zum Leuchtturm machte […]« (ebd.). Eine »Kiefer am Hang« hat eine »Urwaldgestalt«, plötzlich nimmt Carl auch »das Rauschen« wahr, »[e]s kam aus der Tiefe, es rauschte durch die Pflastersteine!« (ebd.) Carls Territorium weist starke Ähnlichkeiten mit Eds Hiddensee auf, die Natur und deren Rauschen waren dort Ausgangspunkt dichterischer Kreativität, so wie auch in der Rykestraße »nach wenigen Schritten« ein »Gemurmel begann« (S, 190): […] es war, als flüstere er den kaputten Fassaden etwas zu oder als sei er vertieft ins Gebet, ein langes, meditatives Gebet, bei dem sich bestimmte Worte endlos wiederholten, vollkommen unverständlich, nur Atmung und Zunge im Hallraum seines Schädels, wo Schritt für Schritt etwas angeschlagen, angestimmt wurde, genauer gesagt. (S, 190f.)

425 Seiler 2018, S. 23–27. Vgl. die Ausführungen zur Erzählung »Die Zeitwaage«, Kap. 1.1.3.

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Die »Assel«, in der Carl regelmäßig arbeitet, erscheint lediglich als »Außenposten« (S, 132) dieses abgesteckten Territoriums, das insofern als ein Gegenort zu Hoffis utopischen gesellschaftsverändernden Projekten erscheint. Carl ist ganz versunken in seinen Ort, dem auch eine ganz eigene Zeitlosigkeit eignet: die Rykestraße ist eine […] notdürftig geflickt[e] und weitgehend vergessen[e] Straße, die doch längst in den Zustand der Zeitlosigkeit übergegangen war und ihre Bewohner direkt mit der Ewigkeit verband, die irgendwo dort unten, an ihrem diesigen, nebelverhangenen Ende begann, wo Tag und Nacht die beiden ungleichen Wächter standen, Wasserturm und Fernsehturm… (S, 178)

Carls Verankerung in einem scheinbar am Rande der restlichen Stadt liegenden abgegrenzten Raum, für den immer wieder die Schiffsmetaphorik verwendet wird und der einer ganz eigenen Zeitlichkeit unterliegt, ruft wiederum die Foucault’sche Heterotopie auf. »Hier war mein Ort, mein Ankerplatz, Leuchtturm und Hafen meiner Selbstgespräche« (S, 507), erinnert sich Carl im Epilog, »[n]ur hier am Wasserturm war Berlin ganz auf meiner Seite. Wirklich Fuß gefasst hatte ich nur hier, im Geräusch meiner Schritte, auf diesem Weg rund um die Insel […].« (S, 508) Doch suggeriert der Epilog auch – darin wieder Kruso ähnlich –, dass dieser Ort und diese Zeit nicht von Dauer waren und auch Carl sich verändert hatte. Die Übergangszeit ins »poetische Dasein«, die Zeit der Latenz und des Wartens sind ebenso beendet wie die erprobten gesellschaftlichen Utopien der kurzen Zeit nach der Öffnung der Mauer: Carl hat Vertrauen in sich gefasst und nimmt sich vor, Verlage für die Veröffentlichung seiner Gedichte zu kontaktieren. Ein Mietvertrag soll seinem illegalen Wohnen ein Ende setzten, denn die »neue Zeit« machte die Bewohner des Viertels »nervös« (S, 507) und die »komplett renoviert[en]« Häuser (ebd.) ein paar Straßennummern weiter »überbrachte[n] die Botschaft einer kommenden Zeit, in der es keinen Platz mehr geben würde für die gute alte Schwärze […].« (S, 508) Die Bilanz der Umbruchszeit ist zwiespältig. Carl ist der Übergang in eine dichterische Existenz gelungen, seine Eltern haben ihren Amerika-Traum erfüllt – individuelle Eigenzeitlichkeit hat sich in jedem Fall durchgesetzt. Doch berichtet der Epilog auch davon, dass es die einstmals utopisch leuchtende »Assel« nicht mehr gibt. Carl hatte sie am »21. Mai 2009«, »kurz vor ihrem vollständigen Verschwinden« (S, 501) zum letzten Mal gesehen. Mit diesen Worten setzt der Epilog ein, er endet mit dem ernüchternden Bild dessen, was die Gegenwart am selben Ort nun beherbergt: Auch heute steht in der Oranienburger Straße 21 ein Haus. […] Die Lage, sonst ist nichts geblieben. Selbst das Souterrain, die alte Höhle, gibt es nicht mehr. […] Durch breit verglaste Öffnungen in der Fassade schaut man einem hohen, gut beleuchteten Raum

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Im »Schichtenwerk der Zeit«

bis auf den Grund. Der alte Unterschlupf ist eine Art Aquarium geworden. Wozu, bleibt ein Rätsel. Vereinzelt stehen dort ein paar Möbelstücke, ohne Preis. Einen Kunden oder Verkäufer habe ich nie dort gesehen – keine Menschen, nur ein Kasten aus Glas und Stein, in dem ein paar Möbel treiben. (S, 522)

1.3.4. Fazit: Gegenwart als zukünftige Vergangenheit? Die in einem menschenlosen Glaskasten einsam treibenden Gegenstände der Oranienburger Straße verweisen auf eine radikale Leere. Es ist das desillusionierende Bild einer Gegenwart, die außer demonstrativ ausgestellten Waren keine Sinnangebote mehr bereithält. Die Zeit des Übergangs, der Latenz, die Zwischenzeit, in der vieles möglich schien und neue Hoffnungen aufkeimten, ist endgültig vorüber. Die Geschichte der gescheiterten Utopien und Emanzipationsversuche ist an ihr Ende gekommen und hat einer sich verselbstständigenden Warenwelt Platz gemacht. Man kommt nicht umhin, noch einmal an Marx’ Analyse des Fetischcharakters der Ware als Zeichen menschlicher Selbstentfremdung zu denken. Es sei denn, man liest die Passage mit Seilers an Benjamin geschultem Blick und sieht in ihr die Verheißung einer Zukunft, in der die dann obsoleten Dinge ihr Geheimnis preisgeben und moderne Mythen offenbaren, ähnlich den veralteten Gegenständen der Pariser Passagen, die Carl dank »Benjamins Passagen-Werk« (S, 377) im Roman entdeckt hatte. Louis Aragon hatte in Le paysan de Paris die Pariser Passagen mit »menschlichen Aquarien« verglichen, die mit ihren veralteten Gegenständen moderne Mythen verbergen.426 Insofern wäre die desolate Gegenwart nicht nur Zeichen einer zum Stillstand gekommenen Geschichte, sondern bereits auf dem Weg zu etwas Neuem, auch als Stoff kommender Dichtung.

426 Zu Aragons Lektüre der Passagen vgl. Benjamin V.1, 1991, S. 245 [G 5, I] und V.2., 1991, S. 669 [R 2, I].

2.

Vom »Bruch im Leben«. Transformationserfahrung im Werk von Julia Schoch

Seit ihrem 2001 erschienenen ersten Erzählband Der Körper des Salamanders gehört Julia Schoch zu den Autorinnen und Autoren, die sich literarisch am Intensivsten mit dem gesellschaftlichen Umbruch von 1989 und dem darauffolgenden Transformationsprozess der ostdeutschen Gesellschaft auseinandergesetzt haben.427 Die 1974 geborene Autorin gehört einer Generation an, die die Ereignisse im Herbst 1989 als Jugendliche erlebt hatte, von ihrer DDR-Sozialisation jedoch noch so stark geprägt war, dass sie die bald einsetzenden grundlegenden Veränderungen als einen tiefen Einschnitt im eigenen Leben empfand. In einem frühen essayistischen Text, »Orte, von denen ich schreibe« (2002),428 macht die Autorin jedoch auf Unterschiede zu älteren Generationen aufmerksam. Ihre Generation habe sich plötzlich in einem »Vakuum«429 befunden, da sie bisher nicht die Möglichkeit hatte, sich gegenüber dem untergehenden Staat zu positionieren, sich für oder gegen ihn zu entscheiden: »Die Zeit hätte uns diese Entscheidung abgezwungen.« Diese für einen Lebensweg charakteristische Zeit der sozialen und politischen Entwicklung wurde plötzlich unterbrochen: »Zurückgeblieben ist eine Un-Position, eine Un-Zeit, ein Zeitlimbus. Unsere Reaktionen und Taten sind potentielle geblieben.« In einem Gespräch unterstrich Julia Schoch auch, dass die Wahrnehmung der DDR-Wirklichkeit gerade in ihrem Geburtsjahrzehnt entscheidend vom jeweiligen Alter abhängt, die Erfahrungen dementsprechend sehr unterschiedlich sein konnten.430 Die Gegenwart ist für Julia Schoch kein geeigneter Ort, um anzukommen und sich einzurichten: »Wenn es etwas gibt, das ich aus dem Osten, d. h. seiner Kultur mit ins heute ziehen kann […], ist es dies: die Gegenwart […] nicht als selbstverständlich zu betrachten, sondern als grundsätzlich angreifbar, als herleit- und

427 428 429 430

Erste Überlegungen zu diesem Teil in Hähnel-Mesnard 2017. Schoch 2002. Alle Zitate ebd. »Es macht extrem viel aus, ob man 1980, 75, 70 oder 1966 geboren ist.« Vgl. Leinemann/ Schmelcher 2002.

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beeinflussbar.«431 Die fehlende Selbstverständlichkeit des Alltäglichen und der Gedanke, in einer Gesellschaft zu leben, in der sich von einem Tag auf den anderen alles grundsätzlich ändern kann, ist selbst einer noch viel jüngeren Generation in der DDR Geborener eingeschrieben.432 Für Julia Schoch bedeuten diese Erfahrungen »Misstrauen und Skepsis« dem »Tagespolitische[n]« gegenüber, »sicherlich ein Resultat des Zeitenbruches 89«: Aus dem Bruch der Geschichte ist für mich inzwischen ein ganz passabler Steinbruch geworden, darin das Material aus zwei Systemen. Dieser Steinbruch ist nicht gerade eine gemütliche Bleibe, aber er eignet sich, um einen Hochsitz darin zu errichten. Von ihm aus kann ich einen fremden Blick auf diese Gesellschaft und ihre endlose Betriebsamkeit werfen. (Kann vergleichen.)433

Die Möglichkeit eines durch die Erfahrungen mit zwei Systemen entstandenen Blicks signalisiert eine Außenseiterstellung, ein Nichtteilhaben an der neuen Normalität bzw. eine ausschließlich kritische Teilhabe, die sich auch in Julia Schochs Texten spiegelt. Ihre Fiktionen gehen den Spuren dieser besonderen Geschichtserfahrung nach, ihre Protagonisten sind noch in der Gegenwart aufs Tiefste von der geschichtlichen Zäsur 1989 geprägt. Bei den entworfenen Figuren spielt der Möglichkeitsmodus, das Erproben nicht gelebter Haltungen und Positionen eine ebenso große Rolle wie die durch den Umbruch 1989 angeregte Neuverortung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei kommt es zu unterschiedlichen Konstellationen des Zueinander-in-Bezug-Setzens der einzelnen Zeiten und Zeitvorstellungen, die in Schochs Werk eindringlich vermittelt werden. So ist die 1989 abgebrochene Vergangenheit, die eben noch gelebte Gegenwart war, einerseits eine Zeit, über die man sich aufgrund der immer weniger sichtbaren Spuren Gewissheit verschaffen muss. Sie ist Gegenstand von Erinnerung, aber auch von nachträglichen Projektionen. Andererseits wurden in dieser Vergangenheit stark prägende Zeitvorstellungen vermittelt, die vor allem die Zukunft betrafen. In ihrem Essai »Ich, Bewohner einer Zwischenzeit« (2009) schreibt Julia Schoch, sie sei »in eine Welt der ausschließlichen Zukunft« hineingeboren und habe in ihrer Kindheit immer nur die »sogenannten kommenden Zeiten« vor Augen gehabt.434 Dass dieser Topos sowohl im biographischen Kontext als auch in der Fiktion immer wieder aufgenommen wird, zeugt einerseits von der früheren Bedeutung dieser Zukunftsausrichtung für Alltagszeit, biographische und historische Zeit, um noch einmal Hartmut Rosas Kategorien 431 ›Eine Rede‹. Schoch 2005, S. 44. 432 Beispiele für Überlegungen solcher Art findet man z. B. bei Judith Schalansky (*1980) oder in Paula Fürstenbergs (*1987) erstem Roman Familie der geflügelten Tiger (2016). 433 ›Eine Rede‹. Schoch 2005, S. 44. 434 Schoch 2009, S. 10. Hervorhebung im Original.

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aufzunehmen.435 Andererseits lässt seine wiederholte Aktualisierung darauf schließen, dass damit starke, noch die Gegenwart prägende Emotionen und Gefühlshaltungen generiert wurden, die Juliane Brauer unter dem Begriff der »Zeitgefühle« analysiert hat.436 Die Erfahrung einer solchen ausschließlichen Zukunftsorientierung unter realsozialistischen Verhältnissen, die in Schochs Texten im Vergleich zu Seiler und Erpenbeck besonders stark hervorgehoben wird, wirkt jedoch in einer Gegenwart nach, die selbst als wenig sinnstiftend erfahren wird und keine wesentlichen Zukunftsoptionen offenhält. Dieses Ineinandergreifen unterschiedlicher Zeitvorstellungen im Moment grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen durchzieht Schochs gesamtes Werk. Von dem in dieser Arbeit behandelten Korpus enthält Julia Schochs Werk die explizitesten Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit der Zeitproblematik des Umbruchs und der Transformationsgesellschaft. Wird Zeit in den Erzählungen und Romanen von Lutz Seiler vielmals durch den Rückgriff auf besondere Symbole und literarische Modelle verhandelt, so thematisieren Schochs Texte den Topos Zeit oft ausdrücklich, was die Analyse der wichtigsten Werke der Autorin im Folgenden zeigen wird. Dabei steht in den frühen Texten zunächst die Suche nach einer Eigenzeit in unterschiedlichen Zeitregimen im Vordergrund, später dann stärker Überlegungen zu in der Gegenwart durchscheinenden Prägungen durch die vergangene Zeitordnung sowie zur geschichtlichen Zeit in einem größeren Zusammenhang.

2.1. Eigenzeit: Individuelle und kollektive Zeitsetzungen zwischen DDR, Mauerfall und ›Nachwende‹ in Der Körper des Salamanders (2001) und Verabredungen mit Mattok (2004) Julia Schochs 2001 erschienener erster Erzählband Der Körper des Salamanders437 wurde von der Literaturkritik einhellig positiv aufgenommen. Man feierte den »Auftritt der Erzählerin Julia Schoch« als »Ereignis« und unterstrich ihr Streben nach »formaler und sprachlicher Perfektion«,438 attestierte ihr, »sich auf dem Spielgerüst der Fiktion […] virtuos [zu] beweg[en]«.439 Als zu Beginn der 2000er Jahre eine Reihe jüngerer, in den 1970er Jahren geborener ostdeutscher Auto435 Vgl. Einleitung S. 14. 436 Brauer 2020, S. 18. Brauer analysiert die Kategorie der Zukunft unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Emotionsgeschichte anhand des kollektiven Singens als Strategie der Gefühlserziehung. 437 Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf den Band Der Körper des Salamanders beziehen, mit der Sigle KS direkt im Text angeführt. Hervorhebungen im Original. 438 Fuhr 2001. 439 Kämmerlings 2001.

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rinnen und Autoren zu schreiben begannen, stach Julia Schoch dadurch hervor, dass ihre Texte Erlebtes nicht als amüsante Anekdoten aus der Kindheit darboten und die Erzählinstanzen auch nicht den Gestus der Authentizität von Zeitzeugen übernahmen. Der immer wieder herausgestellte fiktionale Charakter und die ästhetische Überformung der Texte erlauben eine Distanzierung zur dargestellten Realität.440 Dass das Erzählte dennoch in der eigenen Erfahrungswelt gründet, wird deutlich, wenn man die Erzählungen mit Informationen über die Autorin abgleicht: die Herkunft (der Vater war Offizier und die Familie lebte zunächst in Eggesin, einer kleinen Garnisonsstadt an der deutsch-polnischen Grenze), der Besuch der Kinder- und Jugendsportschule in Potsdam, wo Schoch wie eine ihrer Figuren Ruderboote steuerte, das Studium der Romanistik und Affinitäten zu Rumänien, die Tätigkeit in einem Potsdamer Kino.441 Von Zeit zu Zeit gibt sich die Autorin auch tatsächlich in ihren Texten zu erkennen,442 doch diese autofiktionalen Hinweise stehen nicht im Vordergrund. Von Vornherein geht es der Autorin darum, Erfahrungen und Prägungen in Literatur und Fiktion zu überführen und die Fiktionalität der Texte auch als solche zu kennzeichnen. Das Besondere an Schochs ersten Erzählungen ist, dass sie mit außertextuellen Referenzen, die eine genauere Kontextualisierung erlauben, äußerst sparsam umgehen, so dass man die Texte erst nach und nach in der DDR oder der Nachwendezeit verortet. Obwohl ihre Erzählungen, wie Jens Jessen in einer Rezension hervorhebt, nicht »im Nirgendwo der poetischen Erfindung« spielen, sondern ganz konkret in der Realität verankert sind, »haftet ihnen etwas Unwirkliches an«, »führen sie aus einer präzise geschilderten Wirklichkeit […] schnell hinaus in ein unwirkliches Zwischenreich, in dem sich, wer weiß, das Geheimnis der Existenz entbirgt.«443 Die Figuren, die sich in einem solchen Zwischenreich bewegen, entziehen sich der sie umgebenden Realität auch dadurch, dass sie angesichts der gegebenen Zeitordnung eine selbstbestimmte Eigenzeit durchzusetzen versuchen. Das betrifft sowohl die Erzählungen, deren erzählte Zeit in der DDR liegt und die sich mit deren linearem, zukunftsgerichteten Zeitregime auseinandersetzen als auch diejenigen Texte, die die Erfahrungen des Umbruchs von 1989 reflektieren. Dies 440 Vgl. dazu Hähnel-Mesnard 2006. Für einen kurzen Überblick über die damaligen Tendenzen jüngerer ostdeutscher Literatur vgl. Hähnel-Mesnard 2009, S. 378f. 441 Alle Informationen in ›Lust an der Kunst. Heute vorgestellt: Julia Schoch‹, in: Portal. Die Potsdamer Universitätszeitung, Dezember 2001. 442 Wenn sie zum Beispiel ihren Figuren Variationen des eigenen Vornamens verleiht: die IchErzählerin von »Im Delta« wird mit »Frau Juliana« angesprochen (KS, 75), der Name der Figur des Mädchens in »Schießübung« lässt sich aus einem Shakespeare-Zitat aus Romeo und Julia herleiten (KS, 96). 443 Jessen 2002.

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soll im Folgenden anhand ausgewählter Erzählungen des Bandes Der Körper des Salamanders sowie des ersten Romans der Autorin, Verabredungen mit Mattok, aufgezeigt werden.

2.1.1. Abschied von der Zukunft: Zeiterfahrung in der DDR Imagination und poetische Eigenzeit Während in den meisten Texten des Erzählbandes Der Körper des Salamanders Transformationserfahrungen nach 1989 verarbeitet werden, ist die Handlung der gleichnamigen Titelerzählung, die den Band einleitet, ausschließlich in der DDR verankert. Im Mittelpunkt steht die namenlose Ich-Erzählerin, die in einer Sportschule für die zukünftige Olympiaelite des Landes als Steuerfrau eines Mädchenvierers hohem Leistungsdruck ausgesetzt ist. Darauf ausgerichtet, Bestzeiten zu erreichen, symbolisiert der Leistungssport in »Der Körper des Salamanders« das offizielle, zukunftsorientierte und durchorganisierte Zeitregime der DDR. Während in den 1980er Jahren im ganzen Land zunehmend das Gefühl der Stagnation um sich griff, suggeriert der dargestellte Mikrokosmos des Sports noch Beschleunigung, Vorwärtskommen und Erfolg.444 Die Erzählerin versucht hingegen, sich diesem rasanten und unmenschlichen Rhythmus zu entziehen. Ihre eigentliche Bestimmung ist nicht der Leistungssport, sondern das Schreiben, die Literatur, und während des Trainings versinkt sie immer wieder in Gedanken, lässt sich von ihrer Imagination treiben. In ihrem Spind liegt ein »blaue[s] Buch«, das jedoch noch keine einzige Zeile enthält und dessen Linien beim Betrachten »zu kleinen blauen Wellen [wurden], die sich launig über die leeren Seiten bewegten« (KS, 10). Das Training und der geordnete Tagesrhythmus halten die Erzählerin vom Nachdenken und Schreiben ab und das überall präsente Wasser,445 das noch bis ins Innerste der Körper der Ruderinnen446 zu dringen scheint, vernichtet hier symbolisch selbst die Möglichkeit eines Ansatzes zum Schreiben. Um ihre Gedanken zu sammeln und die leeren Seiten ihres Hefts zu füllen, versucht die Erzählerin dem Kollektivzwang des Internats zu entgehen und den streng geregelten Zeitablauf hinauszuzögern, um Momente zu finden, in denen sie allein sein kann: sie bleibt abends als letzte im Speisesaal, benutzt die Treppe und nicht den Aufzug, um in ihr Zimmer im 14. Stock zu gelangen und »zu einer Zeile zu kommen« (KS, 17). Vor allem aber muss sie die tägliche Monotonie des 444 Eine ähnliche Konstellation findet man in Lutz Seilers Erzählung »Gavroche«. Vgl. Teil 1.1.2. 445 Zur Symbolik des Wassers vgl. ausführlich Fleig 2005, bes. S. 184–187. 446 Zur Metaphorik des Körpers und dem kindlichen Körpergedächtnis in der Erzählung vgl. Lange 2020, S. 38–50.

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Trainings durchbrechen. Während die Ruderinnen im Wasserbecken sitzen und sie selbst für das Training verantwortlich ist und die Zeit stoppen soll, denkt sie an »[ihr] Gedicht« (KS, 14), beim Motorbootfahren verfällt sie »angesichts der Tropfenspuren auf der Scheibe in Gedanken« (KS 19) und kommt aus dem Rhythmus. Oder sie hält die Augen geschlossen, da »der Horizont [in der frühen Morgensonne] ein Kaleidoskop geworden [war]« (KS, 23), so dass die Gedanken wieder abschweifen, während das Boot in eine Vogelinsel hineinsteuert und beschädigt wird. Ein anderes Mal kommt das Ruderboot im Grenzgebiet unerlaubterweise der Glienicker Brücke und den dort stationierten Posten gefährlich nahe, da die Erzählerin am Ufer »bemalte Wilde« erblickt und als »Mitglied einer Forschungsgruppe im Urwald« »Lösungen für den schwierigen Wasserfall« auf der Strecke finden muss (KS, 25). Ständig lebt die Erzählerin in einer anderen Welt und einer anderen Zeit als der des streng organisierten Trainings, einzelne Momente der Gegenwart werden ausgedehnt und schaffen Freiraum für die Fantasie, als wäre dadurch eine Flucht aus der Zeit möglich. Solche gelegentlichen Träumereien und Unaufmerksamkeiten führen manchmal zur Beschädigung des Bootes und dadurch zu Trainingspausen, doch begeht die Erzählerin immer wieder auch ganz bewusst kleine Sabotageakte. So auch in diesem milden Winter, in dem kein Eis auf dem Wasser das Training unterbinden würde: »[…] ich hatte schon darüber nachgedacht, was ich noch zerschlagen, zerbrechen oder einfach als verloren melden könnte, um in die Werkstatt geschickt zu werden […].« (KS, 11) Den definitiven Befreiungsschlag unternimmt die Erzählerin am Ende der Erzählung, diesmal ganz bewusst: »[…] meine Augen [waren] offen, Sonne und Wilde diesmal nicht zu sehen« (KS, 26), »Phantasie und Zufall waren nicht im Spiel« (KS, 27). In genauer Kenntnis der Wasserlandschaft steuert sie den Vierer im Nebel in die Nähe eines Ausflugdampfers und bringt ihn dadurch zum Kentern. Während sie selbst sich aus dem Boot befreien kann, bleibt das Schicksal der vier Ruderinnen, »deren Füße fest in den Schnürschuhen auf den Stemmbrettern steckten« (ebd.), im Ungewissen: »Ich sah: Das Boot lag mit dem Rumpf nach oben, und unten im Wasser, unter der Nebelwand, saßen die Mädchen im Boot wie ein Spiegelbild, als wollten sie – eine stumm gewordene Galeere – ihre Berufung in die Unterwelt retten.« (KS, 27f.) Diese bereits stark ästhetisierte Vision des willentlichen Schiffbruchs und seiner Folgen löst keine Rettungsversuche aus, im Gegenteil. Die Erzählerin schwimmt davon, lässt sich dann auf dem Wasser treiben, wobei die Tropfen des Nebels auf ihrem Gesicht den Unterschied zwischen Fluss und Oberfläche, zwischen Wasser und Luft, verschwimmen lassen. Genau in diesem Moment der Auflösung fester Grenzen, der weniger einer »Grenzüberschreitung«447 als einem 447 Fleig (2005, S. 181) interpretiert diese letzte Passage der Erzählung, den »Untergang«, als

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unbestimmten Zwischenzustand entspricht – »[m]eine Augen konnten geöffnet oder geschlossen sein« (KS, 28) – entströmt ihr ein Gedicht, von dem sie bisher nur die erste Zeile im Kopf hatte: »Laß den Salamander« (KS, 17). In diesem Zustand zeitenthobener Liminalität448 entfaltet die Erzählerin ihr künstlerisches Potential, entspringt ihr plötzlich die lang in ihrem Inneren zurückgehaltene Poesie, wird sie schließlich selbst zur Erzählerin ihrer Geschichte. Denn das Ende der Erzählung schließt zirkulär an deren Anfang an: Jetzt ist es vorbei, das Geräusch, das Rauschen, wenn das Wasser sich durch meine Gehörgänge schleckt, um mit einem tiefen Gurgeln immer wieder von sich hören zu lassen. Nach der Entscheidung schlägt keine Brandung mehr von innen an meine Haut, keine Welle bricht sich Bahn, kein Tropfen dringt in keinen Spalt, nichts fließt, nichts bewegt sich, endlich kann ich beginnen: (KS, 7)

Im Anschluss beginnt die Erzählung, ausgelöst und ermöglicht durch die »Entscheidung« zur Sabotage und den offensichtlich einkalkulierten Tod der Mädchen. Insofern »beerdigt die Erzählerin« »[m]it diesem mörderisch-poetischen Bild« weniger die DDR, wie es Eckhard Fuhr vermutet,449 als dass sie die Voraussetzung zur eigenen Autorschaft herbeiführt. Schochs Erzählung enthält in ihrer Rekursivität Elemente, die ebenfalls in Lutz Seilers Erzählungen »Gavroche« und »Die Zeitwaage« aus dem Jahr 2009 beobachtet wurden: erst der Tod der Figuren erlaubt das Erzählen und den Beginn des Schreibprozesses. Auch in »Der Körper des Salamanders« ist die »Versündigung am Material« als »Urthema der Literatur« präsent, wie Ursula März es in Bezug auf Seiler formuliert hatte.450 Bedeutsam an der oben zitierten Eingangspassage der Erzählung ist die offensichtlich erfolgte Rettung vor dem Wasser, das den Körper der Erzählerin nicht mehr durchdringt, ebenso der Moment des Stillstands, der den Neubeginn erst ermöglicht: »nichts fließt, nichts bewegt sich«. Das Wasser, das auch in anderen Erzählungen des Bandes eine wichtige Rolle spielt, wurde oft dahingehend interpretiert, dass es als »Element der Übergänge« und Symbol eines »Zustand[s] des Wandels« auch auf die »einschneidenden politischen Transformationen«451 verweisen könne. Auch der Rückgriff auf amphibienhafte Wesen wie den Salamander oder Wasserfrauen-Motive, die mit ihren Attributen des »Unheimliche[n], Vage[n], Unwirkliche[n]« als »Projektionsfiguren« geeignet seien, wurde im Kontext des gesellschaftlichen Wandels nach 1989 als Möglichkeit interpretiert, »das Bild einer Gegenwart, die als sich wandelnd und nicht

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»gelungene Grenzüberschreitung zum Erwachsenensein, als Akt der Emanzipation und Selbstbestimmung«, auch in Bezug auf die Geburt einer »Autorin«. Vgl. die Bemerkungen zu Lutz Seilers Figuren in Kap. 1.1.1. Fuhr 2001. Vgl. dazu oben die Kap. 1.1.2. und 1.1.3. So Fleig 2005, S. 184.

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festlegbar empfunden wird«, nachzuzeichnen.452 In dieser Perspektive mag man die individuelle Entwicklung der Erzählerin als erstes Anzeichen für einen gesellschaftlichen Wandel lesen. Doch ist die erzählte Zeit in »Der Körper des Salamanders« eindeutig in der DDR verankert und sowohl die Haltung der Grenzposten als auch der Politkader zeugt von keiner noch so geringen Öffnung. Im Kontext der Erzählung ist das Wasser vorrangig negativ konnotiert453 und an die Sphäre des Leistungssports gebunden, metaphorisch kann es aber auch in Anlehnung an Heraklit den linearen ›Fluss‹ der Zeit und fortwährende Bewegung symbolisieren. Die Erzählerin muss sich aus diesem Milieu des Wassers befreien, muss das Trockene454 erreichen, um den für das Schreiben nötigen Stillstand zu erzeugen. Insofern entzieht sie sich dem linearen, durch den Sport auch noch beschleunigten Zeitverlauf – hier durch das Wasser repräsentiert –, indem sie versucht, eine eigene Zeiterfahrung zu behaupten, die auf der Eigenzeitlichkeit der Fantasie und der Zeitlosigkeit der Literatur gründet. Alle Versuche der Erzählerin, sich ihrer Umwelt zu entziehen, werden über literarische und kulturgeschichtliche Motive vermittelt, die dem Universum des Märchens und des Mythos angehören. Zunächst wird durch den Vergleich der Havel mit dem Styx die gesamte Wasserlandschaft, die den Mädchen täglich zum Training dient, in mythologische Zeiten und Fernen versetzt: »Ich dachte, daß die Havel auch der Styx sein konnte, denn wir durchquerten feuchte Nebelfelder in eine andere Welt.« (KS 23) Konkrete Geschichtlichkeit, hier durch den Leistungssport auch ideologisch konnotiert, wird damit aufgehoben, für irrelevant erklärt und die Gegenwart in universalkulturellen Zusammenhängen verortet. Hinzu kommen intertextuelle Bezüge auf die Romantik, wie das die blaue Blume der Poesie aufrufende »blaue Buch« mit einer Melusine auf dem Deckel (KS 16). Und nicht zuletzt kann der titelgebende Salamander als Anspielung auf den »bekanteste[n] Salamander der Literatur« gelesen werden, auf den Archivar Lindhorst in E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf, der als eine »Personifikation des Literarischen überhaupt« erscheint.455 Das Salamander-Gedicht in der Schlussszene, das auch die Ophelia-Motivik aufnimmt,456 kann in seiner Rät452 Vgl. dazu Müller-Adams 2006, S. 85. 453 So heißt es, als die Erzählerin aus ihrem Zimmer auf den dunklen Fluss blickt: »als wäre er schön und nicht aus Wasser.« (KS, 18) 454 So schreibt Fuhr (2001): »Das Wasser ist in den Erzählungen die Zeit, die Geschichte, die Erinnerung, die erst Literatur werden können, wenn das erzählende Ich halbwegs trockene, aber wassernahe Standorte eingenommen hat […]«. 455 So Müller-Adams 2006, S. 81. 456 Fleig (2005, S. 187f.) liest das Gedicht im DDR-Kontext als »Untergang« (der DDR) und »Aufbruch« (der Frau), deren blühendes Haar die Rettung symbolisiere. Diese m. E. zu konkrete Lektüre übersieht die wenig optimistischen Anspielungen auf die Ophelia-Figur und die damit evozierte expressionistische Wasserleichenpoesie.

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selhaftigkeit kaum aufgelöst werden, seine prinzipielle Offenheit wie auch die Uneindeutigkeit des Salamandermotivs scheinen am Ende der unverrückbaren ideologischen Meistererzählung aus dem vorherigen Leben entgegenzustehen. Vor dem Hintergrund des Melusine-/Undine-Motivs bekommt die Erzählerin selbst eine märchenhafte Aura, da sie sich im Kontakt mit dem Wasser zu verwandeln scheint: »Ich besah meine Hände. Hier und da hatten sich bereits winzige Schuppen gebildet, die zu Schwimmhäuten werden konnten, wenn sie sich mit den weißen Stellen an den Fingern verbänden.« (KS 9). Das Motiv des Wassers tritt also durchaus in der Symbolik des Wandels auf, aber eher im Sinne märchenhafter und fantastischer Elemente.457 Märchenhafte Anklänge hängen auch dem magischen Denken der Erzählerin an, wenn sie bei einem der von ihr verursachten Unfälle eine »große weiße Schwanenfeder« aufsammelt und glaubt, dass nun beim Schreiben »die Zeilen […] aus dem passenden Gerät wie von selbst fließen [müssten].« (KS 24) Schließlich ist die zufällige Begegnung mit einem Teichmolch in einem der in der Bootshalle abgestellten Ruderboote ausschlaggebend für ihre Entscheidung, »den Bewegungen und dieser Jahreszeit selbst ein Ende zu bereiten« (KS, 21), sprich: das Boot kentern zu lassen. Dieser scheinbar uralte Molch, »als säße er seit Hunderten von Jahren dort und finge gerade erst an zu atmen« (KS, 21), wirkt wie ein Wesen aus anderen Zeiten, das sich mit äußerster Langsamkeit bewegt und für das »Tag oder Nacht […] keine Rolle [spielten]« (KS, 22). Er symbolisiert ganz andere Zeitkategorien, eine scheinbar andere Zeitordnung und gibt der Erzählerin offenbar ein heimliches Zeichen, nun endlich ihre eigene Zeit zu leben. Erzähltechnisch wird der Höhepunkt der Erzählung, das Kentern des Bootes, hinausgezögert, indem über Analepsen die unterschiedlichen Erinnerungen an diverse Rudererfahrungen und die bereits erwähnten Sabotageakte eingeschaltet werden. Dem Fließen des Wassers und dem Zeitstrahl einer in die Zukunft verweisenden Chronologie stellt die Erzählung also selbst in Form von Unterbrechungen und Verzögerungen Anachronien gegenüber, die die zirkuläre Gesamtkonstruktion stützen. Im Erzählhaushalt insgesamt steht der fortschreitenden Zeit der realen geschichtlichen Entwicklung (repräsentiert durch Anspielungen auf das DDR-System, den Leistungssport, die Landesgrenze) die Zeitlosigkeit von Mythos und Märchen gegenüber. In diese »ewige Zeit« der Imagination und der Poesie, in den »ästhetischen Bewusstseinszustand der Zeitlosigkeit« (Bohrer),458 gleitet die Erzählerin durch ihren letzten Sabotageakt nun selbst, denn er erlaubt den Beginn des eigenen Schreibens. Insofern sind hier auch Parallelen zu Lutz Seilers Kruso 457 Auch an anderen Stellen erscheint das Motiv der Verwandlung. So wird der Körper der Erzählerin nach der Wettervorhersage und der Ankündigung eines milden Februars »zu einem Stück Holz« (KS, 8) oder sie stellt sich vor, »in [ihrer] Wasserschale ein Fisch zu werden, dem dieses flüssige Material gefallen konnte.« (KS, 21) 458 Bohrer 1994, S. 156.

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festzustellen, da die poetische Existenz Eds auf der Insel Hiddensee eine Eigenzeitlichkeit ermöglicht, die der linearen Zeit auf dem Festland entgegensteht.459 Motive des Archaischen und Heterochronie Eine zweite Erzählung des Bandes spielt sich ausschließlich vor dem Hintergrund der DDR ab. »Schießübung« berichtet über die zufällige Begegnung eines Soldaten und eines jungen Mädchens auf dem Rummelplatz einer kleinen Garnisonsstadt und inszeniert noch einmal auf andere Weise die Diskrepanz zwischen individuellen Ansprüchen und gesellschaftlichen Zwängen. Dabei signalisieren der Rummelplatz und die Beschreibung dort waltender Pferdeführer gleich zu Beginn, dass der Ort der Begegnung außerhalb des gültigen Zeitregimes liegt: Die Pferde waren alt. Die Pferdeführer noch älter. Zahnlos und mit faltigem Gesicht schleppten sie sich Runde für Runde über die schmutzigen Hobelspäne. Ihr Blick ging wie der der Tiere nach innen, ins Leere. Nur wenn ein Kind auf den Rand der Manege stieg, sahen sie auf. Die Pferde schielten dann mißtrauisch aus verdrehten Augen, und die zerlumpten Männer an ihrer Seite rissen ihr lippenloses Maul auf, um dem Kind ein Grinsen zu schicken, bei dem es augenblicklich von seinem Platz fiel und in erschrecktes Weinen ausbrach. (KS, 88)

Hier wird eine Szenerie vorgeführt, die einem anderen, weit zurückliegenden Zeitalter angehört und nicht einer zukunftsfrohen, sozialistischen Gesellschaft. Die alten, zahnlosen, verlumpten und grausig grinsenden Pferdeführer erinnern an archaische Zeiten; wie Totenführer scheinen sie mit ihren Pferden auf die Anwärter für die Reise ins Jenseits zu warten.460 Die Blicke der Männer sind »nach innen« gerichtet, »ins Leere«, sie sind wie aus der Zeit gefallen, tragen den nach vorn gerichteten Blick in die Zukunft nicht mit. Der zu Beginn der Erzählung beschriebene Jahrmarkt gehört zu den Orten, denen Michel Foucault heterotopische und heterochrone Eigenschaften zuspricht: an diesen in der Regel menschenleeren Orten an den Stadträndern gebe sich die Zeit – im Modus des Festes – ein bis zweimal im Jahr in ihrer belanglosen, flüchtigen und unsicheren Dimension zu erkennen.461 Der Jahrmarkt symbolisiert eine außerhalb des gesellschaftlichen Zeitregimes liegende, nicht gerichtete und zwecklose Zeit.

459 Vgl. dazu Kap. 1.2.3. 460 Das Pferd symbolisiert u. a. den Psychopompos. Vgl. Cazenave 1996, S. 128. 461 »[…] il y a des hétérotopies qui sont liées, au contraire, au temps dans ce qu’il a de plus futile, de plus passager, de plus précaire, et cela sur le mode de la fête. […] Telles sont les foires, ces merveilleux emplacements vides au bord des villes, qui se peuplent, une ou deux fois par an, de barraques, d’étalages, d’objets hétéroclites […].« Foucault 2001, S. 1579.

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An diesem heterochronen Ort begegnen sich ein noch nicht volljähriges Mädchen und ein Soldat, der zum ersten Mal seit langer Zeit Ausgang hat. Als eine Streife ihn und andere kontrolliert, gibt es in seinem Gesicht etwas, »das nicht Haltung annehmen wollte« (KS, 93). Der Soldat gewinnt für das Mädchen einen »apathischen« Haubensittich (KS, 96) und ein Kaninchen, die er »Sartre« und »de Beauvoir« tauft: ein Bild von Sartre trägt er in seinem Portemonnaie (KS, 98). Das Mädchen hatte ihm von ihrer Leidenschaft für Paris berichtet, das sie aus einem Buch bestens kennt, und der Soldat verspricht, später gemeinsam mit ihr dorthin zu reisen: »Als wäre solch eine Reise nicht nur eine Idee. Es gefiel dem Mädchen, daß er plötzlich über die Zukunft bestimmte, als würde sie von Menschenhand gemacht.« (KS, 98) Diese unvorstellbare Zukunft verweist nicht nur auf die Unmöglichkeit, als DDR-Bürger nach Paris zu reisen, sondern auch auf die vom offiziellen Diskurs vermittelte Zeitvorstellung, der zufolge die Zukunft bereits vorausgeplant ist und die »kommenden Zeiten«462 mit sozialistischen Glücksvorstellungen belegt sind. Die »klein[e] und aufgeräumt[e]« Neubauwohnung (KS, 98) des Mädchens, selbst Tochter eines Offiziers und Vertreters der sozialistischen (Zeit-)Ordnung, erscheint zunächst als ein dem heterochronen Jahrmarkt mit seinem archaischen Personal und seiner anarchischen Unordnung diametral entgegengesetzter Ort. Doch werden sich auch in diesem huis clos eigene Zeitvorstellungen entfalten: nach der gedanklichen Befreiung von einer vorherbestimmten Zukunft entziehen sich der Soldat und das Mädchen der Gegenwart, indem sie ein Gedankenspiel beginnen, sich ein großbürgerliches Haus mit Kamin und Butler vorstellen und eine entsprechende Szene improvisieren. Schließlich findet der Soldat in der Wohnung das Mittel, seinem gegenwärtigen Leben zu entfliehen und selbstbestimmt zu handeln: Er entwendet eine in einem Glaskasten zur Schau gestellte Pistole, die dem Vater des Mädchens für besondere Verdienste geschenkt worden war, und verlässt die Wohnung. Was dann geschieht, liegt im Ungewissen, nach Mitternacht wird in der Garnisonsstadt Alarm geschlagen. Der Sartre verehrende Soldat hat die Verantwortung über sich selbst und sein Leben übernommen, worin seine neu gewonnene Freiheit besteht, erfährt der Leser nicht. Selbstmord, wie Richard Kämmerlings suggeriert,463 gehörte ursprünglich nicht zu den Optionen des Existentialisten. Auch diese Erzählung bleibt offen, zum Schluss schenkt das Mädchen den beiden auf dem Jahrmarkt gewonnenen Tieren die Freiheit. Der Vogel macht keine Anstalten, seinen Käfig zu verlassen – ein Sinnbild von Resignation und gesellschaftlichem Determiniertsein, dem sich das Mädchen zu entziehen versucht.

462 ›Ich, Bewohner einer Zwischenzeit‹. Schoch 2009, S. 10. 463 Kämmerlings 2001.

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2.1.2. Wahrnehmungen des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989 Bilder gesellschaftlichen Wandels Der Großteil der Erzählungen des ein Jahrzehnt nach dem gesellschaftlichen Umbruch von 1989 veröffentlichten Bandes Der Körper des Salamanders kreisen um Erfahrungen aus der Zeit nach 1989. »Überall ragen die Ruinen der missglückten Transformation aus Schochs Geschichten«, schreibt Ingo Arend.464 Und überall werden die Auswirkungen der neuen beschleunigten Zeit auf die Figuren spürbar. Hatte das auf die alleinige Zukunft ausgerichtete lineare Zeitregime des Sozialismus die individuelle Zeiterfahrung beeinflusst und die Suche nach Eigenzeitlichkeit motiviert, so wirken die Figuren in der neuen Gegenwart eher desorientiert. In »Boulevard Lipscani Nr. 3« befindet sich ein junges Paar aus Ostdeutschland im winterlichen Bukarest beim Würfelspiel »auf der Suche nach der Weltformel« und einem »Gesetz des Zufalls« (KS, 30), so als böte die Situation einer Tabula Rasa nun die Möglichkeit, die Welt zu erkennen. Nicht mehr vorgeschriebene Gesetze und Entwicklungen bestimmen die Welt, so wie es früher gelehrt wurde, sondern die durch das Spiel symbolisierten Gesetze des Zufalls. Wird in dieser Erzählung der Ansatz einer rätselhaften Neuverortung suggeriert, so bleiben andere Figuren der alten Zeit verhaftet. »Herr Quantitschek will fliegen« handelt von einem pensionierten Kellner, der sonntags in einem Café aushilft, wo ihm die Kollegen vorwerfen, er bleibe »zu langsam« (KS, 122). »Quanti«, wie er von ihnen genannt wird, symbolisiert mit der ihm eigenen Langsamkeit die vergangenen Zeiten, in der Gegenwart wird er nicht mehr gebraucht, muss sich jedoch Geld dazuverdienen, da in der neuen Zeit »alles teurer geworden [ist]« (KS, 124). Er repräsentiert die sozialen Missstände nach dem Umbruch und ein Nichtankommen in der neuen Zeit, der er sich – wie bereits andere Figuren des Erzählbandes – durch Imagination entzieht: in seiner freien Zeit bastelt er an einem imaginären Flugzeug, mit dem er in Richtung Osten fliegen möchte – eine Himmelsrichtung, die in Schochs Texten immer noch Hoffnung repräsentiert. Schließlich ist auch die Erzählung »Cinema Aurora« über ein ehemaliges »Kunstkino« (KS, 148), das nun für kommerzielle Filme genutzt wird, die – wie Ingo Arend formuliert – »deutlichste Metapher für den Sturz ins Niveaulose und ins ökonomische Desaster, den der Osten genommen hat«.465 In der Erzählung »Im Delta«, die in einem kleinen Dorf im rumänischen Donaudelta angesiedelt ist, wird das Wasser noch einmal zum Symbol von 464 Arend 2002. 465 Ebd.

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Zeiterfahrung. Während der Fluss in »Der Körper des Salamanders« für den in die Zukunft gerichteten Zeitpfeil steht, suggeriert das sich kaum noch in Bewegung befindende Wasser des Deltas genau das Gegenteil: Stagnation, Stillstand, Langsamkeit. Der Kontext ist jedoch nicht mehr derselbe: die ehemals modernen Fischfabriken, die auch einmal verheißungsvoll Zukunft voraussagten, stehen nach den gesellschaftlichen Veränderungen von 1989 still, Rückständigkeit prägt nunmehr die Region, so als wäre die Zeit zurückgedreht worden. Diesen Eindruck bekommt die Ich-Erzählerin, die die Region im Auftrag einer »Organisation aus Europa« (KS, 59) bereist, Berichte über den »potentielle[n] Wirtschaftswert« (KS, 58f.) der ehemaligen Fischkooperativen schreibt und Vorträge über den modernen Sozialstaat und den »steinige[n] Weg nach Europa« (KS, 56) hält. So auch in diesem Dorf am Sulinaarm, der als »Hauptschiffahrtsweg für Hochseedampfer« (KS, 59) wohl noch einen Rest an Fortschritt repräsentiert, im Gegensatz zu den »anderen großen Arme[n], die sich in tausend Windungen […] viel Zeit nahmen, bis sie sich entschließen konnten, endlich in ihr Ziel zu fließen.« (KS, 59) Die Erzählerin selbst hatte »das Schnellboot statt des Fährdampfers genommen« (KS, 57), schließlich repräsentiert sie das fortschrittliche Europa, auch ein Hinweis auf die Verortung in unterschiedlichen Zeitvorstellungen. Unterschwellig wird das Delta, wie Bärbel Westphal gezeigt hat, mit dem Tod assoziiert: der Weg aus dem Dorf führt zum Friedhof, die fremden Namen auf den Grabsteinen zeugen von Schiffsbrüchen (KS, 60), ein knurrender Hund erscheint als »symbolischer Begleiter«466 in das Totenreich. Das Delta wird als dschungelartiger Ort mit »unzähligen Schilfinseln« und »Schlingpflanzenkolonie[n]« (KS, 59) beschrieben, in dem Touristen manchmal verloren gehen. Doch ist die Erzählerin kein moderner Aschenbach und die Todessymbolik bestätigt vielmehr den Eindruck, in eine andere Zeit abzutauchen, die nicht nur bzw. nicht mehr nach rationalen Kriterien funktioniert. So vermittelt der Besuch in einer Außenstation der ehemaligen Kooperative den Eindruck einer Diskrepanz zwischen dem Zeitgefühl der »Frau aus Europa« und dem in einer Hängematte liegenden »trägen Fischspezialisten« (KS, 71) der Station: »[w]ie ein langer, behäbiger Hecht hing er in dem Netz und sah unserer Ankunft regungslos zu« (KS, 70). Hier handelt es sich weniger um eine klischeehafte Stereotypisierung des Fremden aus ›europäischer‹ Perspektive als um das Aufzeigen der Folgen der ökonomischen Veränderungen: früher war die Außenstation aktiv in einen wirtschaftlichen Kreislauf eingebunden.467

466 Westphal 2016, S. 94. Westphal macht auch auf Parallelen zu Thomas Manns Der Tod in Venedig aufmerksam: die Ankunft mit dem Schnellboot, die Begegnung mit einem »bärtigen Fremde[n]«, das Delta als Verweis auf Aschenbachs Traum vom Ganges-Delta (ebd., 93f.). 467 Westphal, die Schochs Erzählung insgesamt aus ökokritischer Perspektive analysiert, sieht im Verfall der Außenstelle die Folgen der vom Menschen ausgebeuteten Natur (ebd., S. 95),

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Insgesamt bleibt die Bewertung dieses Aufeinandertreffens verschiedener Gesellschafts- und Zeitmodelle ambivalent. Die mit dem Schnellboot angereiste Erzählerin nimmt auf dem Rückweg das langsamere Fährboot. Auch scheint sie von ihrer eigenen Mission kaum überzeugt: während ihr Gastgeber stolz auf die vollbrachte »eigene Revolution« verweist und sich über »die verkrusteten Strukturen« beschwert, »die das langersehnte Projekt immer wieder zunichte« machen (KS, 62), äußert sie nach ihrem offiziellen Vortrag Bedenken, dass die »Freiheit nur eine Chance«, aber »noch keine Garantie für ein Gelingen« sei, das Leben könne auch »mißlingen – aus Freiheit« (KS, 63). Die Erzählung vermittelt Skepsis angesichts des neu einzuführenden Modells, andererseits ist sie auch kein Lob auf die Langsamkeit, die in dieser Region aufgrund des Zusammenbruchs ganzer Wirtschaftszweige vorherrscht. Eher zeichnet sich hier die Suche nach einem Dritten ab, von dem die Autorin 2002 in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedrich-Hölderlin-Förderpreises, »Naivität als Widerhaken«, als Option für den Schriftsteller sprach, und welches als Möglichkeitshorizont aus der Erzählung aufscheint: »Nur die Übergangsgesellschaft, als eine zielsetzende, verschafft ihm [dem Schriftsteller] Raum und eine Wahl: Er kann beschleunigen oder auch bremsen, was sich im Übergang versteht. Zwischen Wut und Stummheit gibt’s dann womöglich ein Drittes.«468 Das Plädoyer für die Übergangsgesellschaft erinnert an die nicht genutzten Potentiale und Möglichkeiten, die 1989 existierten. Es scheint, als wäre dieser Übergang gerade auch der Denkraum, in dem sich die Autorin verortet: nicht in der Vergangenheit und auch nicht in der Gegenwart, sondern an beider Grenze. Der Umbruch von 1989: Kontinuität oder Zäsur? Gemeinhin wird das Jahr 1989 in der Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung als historische Zäsur, als »epochal[e] Wende« interpretiert.469 »Die DDR-Vergangenheit«, so Johannes Pause, »wird kurzerhand zum Fremdkörper innerhalb der Vergangenheit erklärt, die Möglichkeit jeder Kontinuität über die Zäsur der Wiedervereinigung hinweg grundsätzlich verbaut.«470

in der Erzählung selbst steht jedoch m. E. der kritische Blick auf die ökonomischen Entwicklungen nach 1989 im Vordergrund. 468 In ihrer Rede reflektiert Schoch ausgehend von Hölderlin die Rolle des Künstlers, der mit Zorn oder Schweigen auf die Welt reagieren könne, Hölderlin habe am Ende letzteres gewählt. Schoch 2002. 469 Vgl. z. B. den Abschnitt »Die Zäsur des Jahres 1989« in dem der Gegenwartsliteratur gewidmeten Kapitel in Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (2013, S. 669). 470 Vgl. Pause 2012, S. 159.

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Doch hat diese Zäsur 1989 historisch gesehen, wie Martin Sabrow aufgezeigt hat, nur bedingt Geltungskraft, je nachdem, welchen Maßstab man ansetzt und in welchen Zusammenhängen (innerdeutsch, europäisch, global) die Ereignisse betrachtet werden.471 Sabrow schlägt deshalb vor, zwischen zeitgenössischen, auf persönlichen Wahrnehmungen bestehenden Erfahrungszäsuren und historiographisch bestimmten Deutungszäsuren zu unterscheiden. Somit lasse sich »der Einschnitt von 1989« als historiografische Deutungszäsur in Frage stellen, »nicht aber als sinnweltliche Erfahrungszäsur, die das Denken und Handeln der Zeitgenossen, insbesondere der Ostdeutschen unmittelbar beeinflusste.«472 Doch auch diese von den meisten Ostdeutschen als solche erlebte Erfahrungszäsur kann individuell hinterfragt werden. Sabrow nennt als Beispiel die Memoirenliteratur vorwiegend kommunistischer Funktionäre, die nach 1989 ihr Leben rückblickend unter dem Vorzeichen der Kontinuität betrachteten und ihre Lebensgeschichte »vom Zusammenbruch des sozialistischen Ordnungsentwurfs« so weit wie möglich abkoppelten.473 Doch nicht nur politische Gründe können zu dieser individuellen Infragestellung der Zäsur 1989 führen, sondern, wie Konrad Jarausch bemerkt, jede Art lebensgeschichtliche Erfahrung, »je nach eigenen Erfahrungen als Verlierer oder Gewinner des Umbruchs«.474 Zwei Erzählungen aus dem Band Der Körper des Salamanders umkreisen das Jahr 1989 und inszenieren unterschiedliche Haltungen gegenüber dieser vermeintlichen Zäsur. Julia Schoch unterstrich in ihren Essais und Interviews immer wieder den 1989 erfahrenen »Bruch« und damit die historische Zäsur. Doch spielt sie bei der fiktionalen Verarbeitung dieser Erfahrungen mit verschiedenen Möglichkeiten. So wird der ›Einbruch der Geschichte‹ in das Leben der Protagonisten nicht unbedingt als solcher hingenommen, dafür werden individuelle Handlungsoptionen aufgezeigt, die jedem einzelnen die Deutungshoheit über sein Leben überlassen. Eine individuelle Infragestellung der allgemein erlebten »Erfahrungszäsur« 1989 wird in der Erzählung »Der Exot« vermittelt, deren Titel sich auf ein Erlebnis in der Kindheit der Erzählerin bezieht. Die Hauptfigur und Ich-Erzählerin wird vom Redakteur einer Zeitung aufgefordert, an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren und darüber zu schreiben: »›Schreiben Sie!‹ hatte der Redakteur gesagt. ›Aufrichtige Geschichten brauchen wir. Authentizität. Sie mit dem Bruch im Leben, Sie werden ja wohl kein Problem damit haben.‹« (KS, 107). Dieser »Bruch im Leben«, die unterstellte Zäsur als vorausgesetzte Erfahrung, wird von der Erzählerin selbst jedoch sofort relativiert, ebenso die vermeintliche »Authenti471 472 473 474

Sabrow 2013, S. 9. Ebd. Ebd., S. 7. Jarausch 2009, S. 529.

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zität« dessen, was sie schreiben könnte. Denn die Rückkehr an diesen Kindheitsort war »nicht seine Idee […] und [trug] also nichts Überraschendes in sich […]« (ebd.). Die Reise sei »schon längst und von langer Hand vorbereitet worden«: In Kinderträumen hatte ich mich ja schon gesehen als Zurückkommende, hatte mir vorgestellt, wie ich stumm stehen und daran denken würde, daß ich mich einst als Zurückkommende gesehen hatte, als wäre ich unschuldig gewesen und hätte nicht alles schon mit den ersten erlernten Buchstaben in ein dunkelgrünes Heft geschrieben. Als hätte ich nicht nach einem Programm gelebt, das mit ebendiesem dunkelgrünen Heft beschlossen worden war. […] Über allem lag also mein eigener Fingerzeig; die Dinge schon herausgesucht und eingeplant, wie schwer sie wiegen, wie sie mir erscheinen würden, längst gesagt, notiert. (KS, 107f.)

Nicht die Kontingenz des Umbruchs von 1989 bestimmt diese Rückkehr an den Kindheitsort, die Erfahrung des »Bruchs« wird als solche auf individueller Ebene von der Erzählerin nicht akzeptiert. Der Wunsch, Lebenszeit selbst zu bestimmen, steht wie in »Der Körper des Salamanders« auch angesichts des gesellschaftlichen Umbruchs im Vordergrund. Die Folgen der veränderten historischen Situation werden relativiert, die erwartete nostalgische Rückkehr an den Ort der Kindheit als schon lange vorher imaginierte Etappe in der eigenen Biografie dargestellt. Auch hier spielt das Schreiben als Mittel der Gestaltung von Leben und einer selbstbestimmten Eigenzeit eine ganz besondere Rolle. So, wie in »Der Körper des Salamanders« das Schreiben der Erzählerin den Ausbruch aus dem dominanten, auf die Zukunft ausgerichteten Zeitregime ermöglichte, wird in »Der Exot« der Versuch, nach einer eigenen Zeitordnung zu leben, durch eine Inszenierung und dadurch Fiktionalisierung des eigenen Lebens gestützt. Diese Fiktionalisierung wird bereits im ersten Satz der Erzählung durch eine als »unzuverlässig« einzustufende Erzählhaltung angekündigt: Lassen Sie mich ehrlich sein: Ich bin unaufrichtig. Gewesen. (KS, 105)

Gleich zu Beginn wird hier in einer emphatischen Leseranrede die eigene Unglaubwürdigkeit herausgestellt und durch das Oxymoron noch einmal verstärkt.475 Auch die nach dem Zeilenbruch unternommene verzögerte Verortung der Aussage in der Vergangenheit relativiert diese kaum. Während eine »emphatische Bekräftigung«476 der eigenen Glaubwürdigkeit beim Leser oft Zweifel an derselben aufkommen lässt, ist hier das Gegenteil der Fall: Die Erzählerin stellt 475 Merkmale eines unglaubwürdigen bzw. unzuverlässigen Erzählers sind u. a. die auch in Schochs Erzählung auftretenden textuellen Signale wie Leseranrede und Rezeptionslenkung und eingestandene Unglaubwürdigkeit. Vgl. Nünning 1998, S. 27f. 476 Ebd., S. 28.

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ihre Unzuverlässigkeit unmittelbar heraus und meldet angesichts der später vom Redakteur eingeforderten aufrichtigen und authentischen »Geschichten« Bedenken an. So wird gleich zu Beginn eine bestimmte Erwartungshaltung gegenüber Zeitzeugen dekonstruiert, ebenso wie das damit einhergehende Rezeptionsverhalten. Die eingestandene Unaufrichtigkeit bezieht sich auf ein Ereignis in der Kindheit, als die Erzählerin vor einem Journalisten posierte, der sie gebeten hatte, anlässlich der Auszeichnung der Hausgemeinschaft »für das Photo vor dem Haus in den quadratischen Steinplatten des Gehweges zu hüpfen, wie er es von Kindern […] erwartete.« (KS, 105) Jedoch hatte sie »insgeheim ein Kindergesicht aufgesetzt, harmlos und oft zu beobachten, wenn man sie fotografieren will, während der Journalist wohl annahm, das Kind vor ihm blicke ganz selbstverständlich so in die Kamera.« (KS, 106). Dieses Foto wurde im Hauseingang an der Wandzeitung ausgehängt und die Erzählerin wird als Kind die gleiche Szene vor der geöffneten Haustür mit dem Foto an der Wand immer wieder nachstellen. Diese Inszenierung entspricht einer mise en abyme, die ebenfalls in der oben angeführten Passage auftritt, in der sich die Erzählerin seit Kindertagen als »Zurückkommende« vorstellt, die sich als Zurückkommende sieht. Der Rückgriff auf diese Form der Selbstinszenierung und Rekursivität wirkt illusionsdurchbrechend477 und verweist auf die Fiktionalität des Erzählten insgesamt. Beide mise en abyme haben symbolisch aber auch zeitliche Implikationen. Ihre Funktion im Text ist weniger eine narrative, im Sinne einer Unterbrechung der Linearität des Textes und Form der Anachronie,478 als eine semantische, da beide Szenen als eingeschobene motivische Vignetten etwas über das Verhältnis zur erzählten Zeit der Kindheit aussagen. In der Foto-Szene, die den piktoralen Ursprung der mise en abyme aufnimmt, verweist die angezeigte Wiederholungsstruktur des Immergleichen auf einen Leerlauf der Zeit, der dem angemahnten gesellschaftlichen Voranschreiten entgegensteht. Das im dunkelgrünen Heft beschlossene Lebensprogramm inklusive des Zurückkommens an den Kindheitsort steht wiederum für eine schon damals selbstbestimmte Zukunft. Entsprechend der Selbstinszenierung auf dem Foto erfolgt auch die Rückkehr an den Ort der Kindheit als genau geplantes Vorhaben: doch trotz der Fahrt über zahlreiche kleine Dörfer »[wollte] Romantik sich nicht einstellen […], obwohl ich sie doch inszeniert hatte.« (KS, 107) Weiter heißt es: »Nur weil ich es eingefädelt hatte, stoben die Tauben jetzt am Bahnübergang auf, eilte eine Katze über die Straße in einen Garten hinein und kroch ein Fuhrwerk am Horizont über Feldwege.« (KS, 109) Bei so viel Vertrauen in die Möglichkeit, die Dinge der Welt 477 Zur Mise en abyme als illusionsdurchbrechendem Mittel zur Kennzeichnung literarischer Künstlichkeit vgl. Wolf 2004, S. 461. 478 Vgl. Bal 1978, S. 116, 120.

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selbst zu steuern, kann der Leser auch hier nicht umhin, die Zuverlässigkeit dieser Erzählerin479 zu hinterfragen. Es sei denn, man liest auch diese Passage als autoreferentiellen Verweis auf das eigene Schreiben, auf die fiktionale Erschaffung von Realitäten. Auch die Ankunft im Ort und am eigentlichen Ziel der Reise, dem »Elefantengerüst« (KS, 109), wird im Voraus genau imaginiert: »Hatte ich den Platz, der damals schon aussah, als wäre er etwas Übriggebliebenes, erst einmal erreicht, wollte ich ganz still stehen, und in mir sollte ein Zweiglein brechen, vor meinen Augen sollte es schimmern und die Dinge verzaubert liegen.« (ebd.) Die hier vermittelte romantische Sicht auf die Welt hofft auf ein Offenlegen der in den Dingen verborgenen Geheimnisse der Welt, hier der eigenen Kindheit. In der Erzählerin »sollte ein Zweiglein brechen«, das vielleicht ähnlich der Eichendorff ’schen »Wünschelrute« Poesie freisetzt, um den Zauber der Dinge an den Tag zu bringen. Doch auch hier will sich Romantik nicht einstellen, denn das Klettergerüst existiert nicht mehr, an der Stelle des Spielplatzes befindet sich ein Einkaufszentrum. Das imaginierte Lebensprojekt wird von einer neuen Realität verdrängt, und auch die Rückkehr in die Vergangenheit findet im Grunde viel zu früh statt: Viel zu früh war es, daß ich mich an meine Kindheit erinnern mußte, als lägen fünf Staaten und nicht nur einer zwischen uns, als könnte ich es mir leisten, von einer Kindheit zu träumen, der ich doch gerade erst entkommen war. (KS, 111)

Die Erzählerin macht auf die ungewöhnliche, durch den Umbruch 1989 bedingte Zeiterfahrung aufmerksam, der zufolge sich der Abstand zur eigenen Kindheit viel zu schnell vergrößert und von dieser Kindheit in kürzester Zeit keine Spuren mehr übriggeblieben sind. Julia Schoch hatte diese Erfahrung bereits in einem Essay so formuliert: Der übriggebliebene Mensch meiner Welt sieht sich […] einem besonderen Schrecken gegenüber: mit den Dingen und Orten, die verloren gingen, verflüchtigt sich auch seine Geschichte. Diese spezielle Form des Verschwindens ist unerbittlich, rasant, endgültig. Und so ist es, wenn er sich auf die Suche nach den Spuren seines Lebens macht, jedes Mal, als wären bereits tausende Jahre und nicht nur ein oder zwei Jahrzehnte vergangen.480

Aus zeit- und erinnerungstheoretischer Perspektive ist der Topos der Rückkehr an den Ort der Kindheit, die »Reise in die Vergangenheit«, eine Form der »Verzeitlichung des Raums«.481 Es ist eine erzählerische Möglichkeit, Gegenwart 479 Zur Vielzahl der in der Forschung herausgearbeiteten unglaubwürdigen Erzähler gehören z. B. »offensichtliche Lügner«, »fabulierfreudig[e] Erzähler« und »schrankenlose Egozentriker«. Vgl. Nünning 1998, S. 7. 480 ›Ich, Arrière-Gardistin‹ [2013]. Schoch 2019, S. 301. 481 Basseler/Birke 2005, S. 132.

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und Vergangenheit aufeinandertreffen zu lassen, der Kindheitsort fungiert als »Scharnier zwischen zwei Zeitebenen«, als »Auslöser für Erinnerung«, er »[übersetzt] die räumliche Erfahrung in eine zeitliche […].«482 In Anlehnung an Gaston Bachelards »Poetik des Raumes« übernimmt der Raum dabei die symbolische Funktion eines »Speichers von Zeit«, wenn Veränderungen festgestellt werden, dann auch seitens des wahrnehmenden Subjekts, das sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat.483 In Schochs Erzählung erscheint eine umgekehrte Konstellation: Die Erzählerin hat sich kaum verändert, sie hält an ihrem ursprünglichen, lange vorhergesehenen Plan der Rückkehr fest, doch existiert der Ort nicht mehr, er ist innerhalb kürzester Zeit verschwunden. Der Raum zeugt nicht mehr von »gespeicherter« und aufbewahrter Zeit, sondern von der Auslöschung von Zeit und Erfahrung. Der Ort hilft nicht, weitere Erinnerungen auszulösen, die Erzählerin muss sich allein auf ihr Gedächtnis verlassen.484 Während der Erwartungshorizont des Lesers durch die Inszenierung von Kontinuität zunächst untergraben wird, erfährt die Erzählerin vor Ort einen zweifachen »Bruch«, der ihr zuvor konstruiertes Selbstbild in Frage stellt, denn nicht nur der erinnerte Ort ist nicht mehr derselbe. Auf den Stufen des Einkaufszentrums sitzend, erinnert sie sich an eine Episode aus ihrer Kindheit: auf dem Elefantengerüst hatte sie einst an einem Samstagnachmittag verbotenerweise mit einem Jungen aus dem ›Westen‹ Kontakt, der in der Nachbarschaft zu Besuch war. Jahre später, bei ihrer Rückkehr an den Ort, als sie schließlich in den Supermarkt eintritt, trifft sie auf die Mutter einer ehemaligen Spielkameradin, die dort als Putzfrau arbeitet und deren Physiognomie – einen Buckel, fettige Haare – sie sofort wiedererkennt. Diese Begegnung lässt im Proust’schen Sinne einer »mémoire involontaire« ganz plötzlich eine andere Erinnerung an das Klettergerüsterlebnis in ihr aufkommen, die sie bis dahin verdrängt hatte. Obwohl an den Samstagnachmittagen alle Eltern in ihren Wohnungen beschäftigt waren und sich die Erzählerin mit dem »Exoten« aus dem Westen allein wähnte, wusste ihr Vater bereits beim Abendessen über die Begegnung Bescheid, als Tochter eines Offiziers hätte sie keinen Kontakt zu dem Jungen haben dürfen. Der Vater war über den Vorfall bereits informiert, obwohl die Familie zu diesem 482 Ebd., S. 131. 483 Ebd. Bachelard (2014, S. 27) bezeichnet den Raum als »verdichtete Zeit« (»temps comprimé«). 484 Insofern sind die identitäts- und erinnerungsstiftenden Qualitäten des Raums im Sinne von Bachelard hier aufgehoben. Bachelard (2014, S. 28) geht davon aus, dass nicht die Zeit die Erinnerung speist, da sie keine konkrete Dauer speichern kann, sondern dass der Raum diese Funktion übernimmt: »Ici l’espace est tout, car le temps n’anime plus la mémoire. La mémoire – chose étrange ! – n’enregistre pas la durée concrète, la durée au sens bergsonien. On ne peut revivre les durées abolies. On ne peut que les penser, que les penser sur la ligne d’un temps abstrait privé de toute épaisseur. C’est par l’espace, c’est dans l’espace que nous trouvons les beaux fossiles de durée concrétisés par de longs séjours.«

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Zeitpunkt noch kein Telefon besaß. Genau dieser Zusammenhang wird der Erzählerin erst Jahre später im Nachhinein klar, ironisch heißt es: »Mein Staat hält Überraschungen bereit. Der liebe. Überraschungen, die mir in den Nacken springen, so daß ich mich ducke und die Augen zusammenkneifen muß. Nach so langer Zeit.« (KS, 120) Plötzlich tritt Kontingenz in den fest geplanten Lebensentwurf der selbstermächtigt ihr Schicksal steuernden Erzählerin. Die plötzliche Erinnerung destabilisiert nachträglich die Konstruktion von Vergangenheit. Statt romantischer Kindheitserinnerungen taucht plötzlich blitzlichthaft eine durch den Vater repräsentierte, unsichtbar waltende Macht auf,485 die die imaginierte Selbstbestimmung in Frage stellt und den Rückblick ganz anders verlaufen lässt: Und dann geht ein Riß durch die Landschaft. Von ganz allein. Dabei habe ich mich in meiner Geschichte doch gar nicht bewegt. (KS, 121)

Insofern scheint der Versuch zu scheitern, Lebenszeit kontinuierlich zu planen und gegen nachträgliche Deutungen selbst zu bestimmen, denn die anfangs von der Erzählerin negierte »Erfahrungszäsur« drängt sich zum Schluss unwillkürlich auf. In einer zweiten Erzählung, »Himmelfahrt«, ist der Ansatz noch einmal ein anderer, von Vornherein steht die Notwendigkeit einer radikalen Zäsur im Mittelpunkt – die Autorin präsentiert in ihrem Erzählband unterschiedliche Positionierungen gegenüber dem historischen Ereignis, unterschiedliche Lektüren der Geschichte. Berichtet wird von dem Verhältnis der Ich-Erzählerin zu ihrem Vater, einem ehemaligen Offizier, und von ihrer letzten Begegnung, nachdem dieser Selbstmord begangen hatte. In der Kindheit war der Vater ein Vorbild (»Mein Vater, das Beispiel«, KS, 52), der der Tochter die Welt erklärt: »Wann die Welt entstanden war und wie sie bald sein würde, warum es wichtig war so zu leben und nicht anders, […].« (KS, 51) In der Zukunft würde sie »die roten fernen Flecken« (ebd.) auf dem Atlas besuchen dürfen, die Welt war eine sozialistische, etwas anderes existierte nicht.486 Inzwischen hat sich die Lage geändert, an der Uniform des Vaters stecken keine Orden mehr, nur gelegentlich trifft er sich noch in voller Montur mit ehemaligen Kameraden aus den benachbarten Wohnblocks, um den Ernstfall durchzusprechen, 485 Insofern ist dem Urteil von Sommadossi (2015, S. 270f.) kaum zuzustimmen, dass Schochs Werk wie das anderer Autoren ihrer Generation »eine Tendenz zur Entpolitisierung der realen Schauplätze und sozialen Konstellationen« zeige. Die »Politikferne dieser Texte« breche »die Kontinuität des engagierten Diskurses« ab, der die ostdeutsche Literatur vor und nach 1989 geprägt habe. Schochs Erzählungen zeigen sehr deutlich politische Zwänge auf, auch versteht sich die Autorin als durchaus in ihrer Zeit »engagiert« und bezieht sich selbst auf die engagierte Tradition der DDR-Literatur als »Gegenkraft« zur Wirklichkeit (Vgl. ›Eine Rede‹. Schoch 2005, S. 49). 486 Über eine solche Szene berichtet Schoch in autobiographischer Perspektive in ihrem Essai ›Die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen‹ (in: Jügler 2020, S. 123f.).

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ein lächerlicher »Karneval« (KS, 52). Die Erzählerin hingegen malt sich ihre Zukunft nunmehr selbst und an anderen Orten aus, sie »hatte mit dem Finger über den Stadtplan einer europäischen Metropole gestrichen und an Zukunft gedacht« (KS, 44). Doch scheint ein wirklicher Neubeginn erst denkbar, wenn vorher mit der eigenen Vergangenheit und der durch den Vater repräsentierten Lebensordnung abgerechnet wird. Nur schwer kann sich die Tochter eine Integration des Vaters in die Nachwendegesellschaft vorstellen, ohne dass dieser seine ehemaligen Ideale verraten müsste. Wäre dies der Fall, würde sich auch das Bild, welches die Tochter von ihm hat, ändern müssen. Die Erzählerin fürchtet, »er könne alles ertragen und dulden […]«, »[a]ber so war es nicht, und ich war froh, denn ein Vater, der die Zeiten überdauerte, wäre mir bis über die Augen gestiegen.« (KS, 54) Die Tochter hält die Lösung bereit, sie rät dem Vater zum Selbstmord: »Daß ich ihm geraten hatte, war eine andere Sache. Meine Bodenlosigkeit war es, jemanden zu testen, mit der Freiheit eines schmalen Röhrchens Chemie im Bad leben zu können.« (KS, 49) Die aus zahlreichen Analepsen bestehende Erzählung rekonstruiert insgesamt, wie sich die Erzählerin nach einem Anruf des Vaters in die Wohnung begibt, um dort dessen Tod festzustellen. In Einklang mit der »Bodenlosigkeit« des tödlichen Ratschlags scheint die Tochter vor Ort nun selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren: beim Betreten des Wohnblocks beginnt eine Fahrt in einer imaginären Riesenradgondel, die hinaufsteigt, still stehen bleibt, sich wieder hinabbegibt, zwischendurch »bedenklich [schaukelte]« (KS, 46) und die metaphorisch auf die Gefühlsschwankungen der Tochter verweist: der Tod des Vaters zieht auch den Verlust der Kindheit nach sich, doch um diese wenigsten in der Erinnerung bewahren zu können ebenso wie das gewohnte Bild des Vaters, schien ein radikaler Bruch notwendig. In diesem Sinne erfährt der Leser das Fazit der Handlung bereits zu Beginn der Erzählung: »So sind die Peinlichkeiten dem Vater wenigstens erspart geblieben. Und mir auch. Daß ich hätte mitansehen müssen, wie er schnell wieder mit allem zurechtgekommen wäre. Schwamm da nicht der Vater auf dem Wasser?« (KS, 44) »Das Wasser ist die Zeit, die Geschichte und die Erinnerung zugleich«, heißt es im Klappentext des Erzählbandes. Auch in »Himmelfahrt« findet man gleich zu Beginn das sich durch den ganzen Band ziehende Motiv. Hier sind es Flüsse und Bäche, die es in jeder Stadt gibt und in denen die Erzählerin, auf Brücken stehend, immer wieder ihren Vater sieht: Und immer sehe ich etwas vom Vater, wenn ich die Brücke schon fast verlassen habe, einen Arm, eine winkende Hand, ein groteskes Knie. Und immer treibt er schnell unter mir durch, ich muß mich beeilen, wenn ich ihm noch hinterhersehen will. Ich renne zur anderen Seite der Brücke, beuge mich weit über das Geländer, oft außer Atem, doch er ist längst weitergetrieben […]. (KS, 44)

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Das immer wiederkehrende fragmentierte Bild des Vaters scheint die Erzählerin überall zu verfolgen, sie hat seinen Tod mitverschuldet. Doch verweisen die grotesken Körperteile, die sie in jedem Fluss wahrnimmt, metaphorisch auch auf unterschiedliche Formen des Bruchs: auf den Bruch im Leben des Vaters, auf das Auseinanderfallen einer ganzen Weltordnung, die der Vater repräsentierte. Aber auch auf die Zäsur, die die Erzählerin durch ihr Handeln setzt, um nun selbstbestimmt und ohne die Last einer bestimmten Vergangenheit weiterzuleben: »Daß die Geschichte ihren eigenen Lauf nehmen würde, ein Vater tun und lassen konnte, was er wollte, […], ich ihn mir würde aussuchen können, wie er war, was für ein herrlicher Ausgang.« (KS, 54) Ende und Anfang sind in diesem Wort vereint: der Ausgang einer Epoche, der Ausgangspunkt für eine neue. Das fließende Wasser steht hier aber auch für die Geschichte und die vergehende Zeit, die die Vergangenheit fortspült, sehr schnell sogar, so dass es immer schwieriger wird, sich ihrer einstigen Existenz zu vergewissern. In den beiden hier analysierten Erzählungen sind Kontinuität und Bruch zwei gegensätzliche Formen, sich der Geschichtszeit gegenüber individuell zu positionieren und die Phase der gesellschaftlichen Transformation nach 1989 literarisch zu gestalten. Allerdings stehen die Bilder des Bruchs und der Zäsur in beiden Texten letztendlich im Vordergrund.

2.1.3. Die Gegenwart als Endlosschleife: Verabredungen mit Mattok (2004) In Julia Schochs 2004 veröffentlichtem ersten Roman Verabredungen mit Mattok, dessen Form eher an eine Novelle erinnert, steht das Unbehagen an der neuen Gegenwart im Mittelpunkt. Waren die Erzählungen des ersten Bandes rückblickend auf die DDR gerichtet oder verarbeiteten sie Erfahrungen mit der Situation des Umbruchs von 1989, so stellt dieser erste längere Text der Autorin zwei Figuren in den Mittelpunkt, die sich in einer als unzulänglich empfundenen Gegenwart zu orientieren versuchen. Dabei steht der Text metaphorisch unter dem Zeichen des Schiffbruchs und der Katastrophe: er beginnt mit der Nachricht von der Havarie eines Öltankers vor der Ostseeküste. Doch handelt es sich eigentlich um die »Verstrickung zweier Katastrophen«,487 denn die Protagonistin Claire erfährt im selben Moment, dass »der Kuraufenthalt zur Heilung ihrer von einem hartnäckigen Ekzem befallenen rechten Hand erfolglos geblieben war.«488 Kurz vor ihrer Abreise aus dem kleinen Ostseebad begegnet sie durch Zufall dem 487 So Fröhlich 2005, S. 36. Fröhlich vergleicht Schochs Text auch mit dem Genre der »Katastrophennovelle«. 488 Schoch 2004, S. 5. Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf Verabredungen mit Mattok beziehen, mit der Sigle VM direkt im Text angeführt. Hervorhebungen im Original.

Eigenzeit in Der Körper des Salamanders (2001) und Verabredungen mit Mattok (2004)

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undurchsichtigen Mattok, ihre »Verabredungen« sind ebenso beliebig. Im allgemeinen Treiben um die Umweltkatastrophe stellen die beiden Figuren in ihrem stillen Einverständnis Außenseiter dar, deren Gesten, Gespräche und Handlungen ein starkes Misstrauen gegenüber dem gegenwärtigen Selbstbild der Gesellschaft ausdrücken. Die sich ankündigende Umweltkatastrophe belastet symbolisch die Zukunftsperspektiven der Gegend und auch Claires Zukunft steht nach der endgültigen Diagnose der Ärzte in Frage. Als »bekannt[e] Taschentrickkünstlerin« (VM, 5) hat sie die dazu benötigte Fingerfertigkeit endgültig verloren, ihr ›Schicksal‹ steht auf dem Spiel. »Ich bin die Linien los, sagte Claire.« (VM, 58), und meint damit die fehlenden Handlinien, Symbol der Lebens- und Schicksalslinien eines Menschen, die hier auch für die Verortung in einer vorbestimmten Zeitlichkeit stehen. In Hinblick auf die Reflexion von Zeitwahrnehmung verhandelt Julia Schochs Roman zwei Aspekte: einerseits setzten sich die Figuren mit den von der Gesellschaft gebotenen Zukunftsperspektiven auseinander, andererseits sind dahinter auch Überlegungen über den zu schnell vollzogenen Wandlungsprozess nach 1989 und eine implizite Kritik daran zu erkennen. Zukunft wird zunächst aus der Perspektive von Claire reflektiert: […] Ich werde das Gewohnte so verändern müssen, bis alles wieder paßt […]. Alles würde sie so einrichten müssen, daß es nach einem neuen Weg aussah, den man froh beschritt. Etwas unternehmen – jämmerlich! Immer wieder Unternehmungen, als Beweis, daß man teilnahm. Teilnehmen! Diese Anweisungen zum ständigen Verwandeln einfach mißachten, nahm sie sich trotzig vor. (VM, 21)

Claire, deren bisheriger Lebensweg wohl geradlinig verlief und der paradigmatisch die zeitliche Verortung auf einem Zeitpfeil als ostdeutsche Wahrnehmungsperspektive repräsentiert, muss sich an die neuen Umstände anpassen, muss flexibel sein, Lösungen finden, Aktivitäten vortäuschen – ein Gedanke, den sie ablehnt. Auf der Suche nach einer Lösung reflektiert sie den allgemeinen Leerlauf um sich herum: »Ich brauche eine Idee, […], aber die Zeit vergeht, und was passiert eigentlich?« (VM, 54).489 Claires Orientierungslosigkeit und ihre Skepsis gegenüber einer sich immerfort wandelnden Gegenwart stehen symbolisch für Veränderungen in der kollektiven Zeitwahrnehmung nach dem Umbruch von 1989. Die zu Beginn des Romans thematisierte Umweltkatastrophe repräsentiert eine blockierte Zukunft, die keinen wahrhaftigen »Projektionsraum« mehr darstellt.490 Helga Nowotny hat 489 Der letzte Teil des Satzes entspricht einer Replik aus dem Film Thomas Crown ist nicht zu fassen (1968), die Schoch auch ihrem Roman Selbstporträt mit Bonaparte (2012) als Motto voranstellt. Der reiche Geschäftsmann, der im ennui versinkt, steht für ein solches Leben im Leerlauf. 490 Nowotny 1989, S. 52.

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dieses »Verschwinden der Kategoire Zukunft und ihrer Ersetzung durch […] die erstreckte Gegenwart«491 dahingehend analysiert, dass die Gesellschaft nunmehr verstärkt auf »Problemerkennung« und »Problembeherrschung«492 fokussiert sei. Angesichts der vom Menschen veräußerten Zukunft gebe es einen »steigenden Druck, daß Problemlösungen für anstehende, erkennbare Probleme jetzt gefunden werden müssen«, all dies verweise »auf den unmittelbar vor den Menschen liegenden Zeitabschnitt und nicht in eine ferne Zukunft.«493 Auch im Roman verstellt die »Problembeherrschung« den Horizont. Während die in kürzester Zeit präsenten Medien die Katastrophe in einer Endlosschleife übertragen und selbst vor Ort das Ereignis nur noch über den Bildschirm wahrgenommen wird, hinterfragt die Protagonistin die Tätigkeit der schnell angereisten Helfer, denn die eigentlich bedrohliche Situation erzeugt Geschäftigkeit im Selbstlauf.494 Eine wirkliche Zukunft, in die sich Helga Nowotny zufolge »alle Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen ohne viele Hemmungen hineinprojizieren ließen, weil sie genügend weit entfernt schien, um alles aufnehmen zu können, was in der Gegenwart keinen Platz hatte oder unerwünscht war«,495 scheint vor diesem Hintergrund nicht auf. Eine Handlung im Rahmen der Katastrophenbegrenzung zieht die nächste nach sich und verweist bereits auf die nächste sich ankündigende und die Zukunft blockierende Katastrophe. In diesem Sinne nimmt Claire die Gegenwart nur noch als leerlaufende Zeit und »Endlosschleife« wahr: Alles spulte sich ab in einer Endlosschleife. Gab es keinen Anlaß, nie, daß dieses Band zu Ende ging? Jedes Geschehen wurde eilig von einem nächsten abgelöst. Das dauernde Verformen um sie herum! Nicht nur die Menschen, auch die Dinge glitten wie Amöben durch die Zeit. Beständig wurde ausgewichen, umgerannt, sich wieder aufgerichtet […]. Die Hauptsache schien zu sein, daß nichts stockte. (VM, 85)

Zeit ist nicht mehr gerichtet, absehbare Entwicklung wird durch permanente Bewegung und Wandel ersetzt. Lassen sich die Reflexionen der Figur einerseits im Zusammenhang mit den allgemeinen Veränderungen des Zeitregimes der Spätmoderne lesen, so ist andererseits auch ein Bezug zur spezifischen Erfahrung des Umbruchs von 1989 zu sehen. Melanie Fröhlich zufolge könne man in der Zeitkritik im Text auch eine »Kritik an der ›Wende‹« sehen, insofern diese »den Sprung des historischen Ereignisses in das deutsche Narrativ einreiht und zum 491 492 493 494

Ebd., S. 9. Gumbrecht (2010) spricht später von der »breiten Gegenwart«. Ebd., S. 54. Ebd. »Auch diese Helfer, schien es, waren gar nicht deshalb hier, damit sie diese Situation beendeten, sondern vielmehr und vor allem, um mit ihrer Anwesenheit schon wieder eine neue Situation zu schaffen, in der dann wieder etwas anderes geschah, dem mit Hilfe von Helfern Abhilfe geschaffen werden konnte.« (VM, 64) 495 Nowotny 1989, S. 52.

Eigenzeit in Der Körper des Salamanders (2001) und Verabredungen mit Mattok (2004)

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glücklichen Ende einer Geschichte erklärt: Wiedervereinigung.«496 Obwohl die Kritik am neuen nationalen Narrativ implizit vorhanden ist, fokussiert der Roman sehr viel stärker den nach dem Mauerfall eintretenden schnellen Wandel der gesamten Gesellschaft, den Verlust der Anhaltspunkte, die Notwendigkeit zur Anpassung an die neuen Verhältnisse und eine Gegenwart ständigen Handelns, dem die Ziele ebenso abhandengekommen sind wie Alternativen. In ihrer Dankesrede zum Hölderlin-Förderpreis von 2002 kritisierte Julia Schoch bereits diese plötzliche Betriebsamkeit, das fehlende Innehalten, die schnelle Rückkehr zu einer vermeintlichen Normalität nach 1989: »Schon wieder zu wenig Provisorien. Wieder ist alles sehr schnell gegangen. Wenn ich durch die ganz Neuen Länder laufe, sind die Irritationen und Störungen schon wieder ausgeräumt.«497 Ohne die Potentiale und Reibflächen der Umbruchszeit zu berücksichtigen, wurde das alte System mit großer Geschwindigkeit durch ein neues ersetzt. Von der alten Gesellschaft ist auch im Roman kaum noch etwas zu spüren, Vergangenheit manifestiert sich lediglich in den individuellen Dispositionen der Protagonisten und in seltenen materiellen Überresten. Als Claire »ein rostiges Geldstück, das nicht mehr gültig war« fand, »so leicht, daß es beim Herunterfallen vom Wind weggerissen wurde«, »[…]gab ihr [das] einen Stich.« (VM, 96) Die innere Reaktion scheint in keinem Verhältnis zum Wert der ehemaligen DDR-Münze zu stehen, doch repräsentiert das Bild metaphorisch gerade die Unbedeutendheit und nunmehr Wertlosigkeit der Vergangenheit, die immer noch einen Phantomschmerz erzeugt. Während Claire die Veränderungen in der Gesellschaft, die Notwendigkeit zur Anpassung und das unablässige Treiben angesichts der Umweltkatastrophe als Außenseiterin beobachtet, muss sie feststellen, dass der ständige Wandlungsprozess auch ihren eigenen Körper betrifft: Bevor es einen Schluß gab, veränderten die Dinge einfach beständig ihre Form und lebten so weiter. Claire kam sich in dieser Weichheit vor wie ein fester, würfliger Stein. Aber gleich fiel ihr ein, daß auch ihre Haut sich unter dem Baumwollstoff unablässig bewegte, sich in eine Zeit hineinbewegte, die ein offener Raum war. Wütend über diese Aussichtslosigkeit ging sie mehrmals einen Kreis. (VM, 86)

Die sich ständig regenerierende, aber nie heilende Haut, »[e]ine ausdauernde Maschine« (VM, 9) spiegelt die Anpassungs- und Wandlungsmechanismen der neuen Zeit metaphorisch wider. Sie steht auch für den Verlust eines linearen Zeitgefühls, denn Claire ist in ihren ursprünglichen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, ihre Situation aussichtslos, sie bewegt sich ›im Kreis‹.

496 Fröhlich 2005, S. 38. 497 ›Naivität als Widerhaken‹. Schoch 2002.

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In ihrer Analyse von Schochs Erzählung »Der Körper des Salamanders« hatte Anne Fleig bereits auf die Bedeutung der Haut als existentielle Grenze des Körpers aufmerksam gemacht, die auf den »problematischen Subjekt-Status« der dort dargestellten Ruderinnen verweise.498 In Verabredungen mit Mattok erscheint die kranke Haut als eine Art Seismograph, der den permanenten Druck der Umwelt, sich zu verändern und anzupassen, in den Körper selbst einschreibt, dort registriert und sich als Fremdkörper manifestieren lässt. Insofern ist die Haut, die auch als »Barriere zum Schutz der Psyche«499 gelesen wird, als erkrankte Haut auch ein Zeichen für die unsichere Identität der Protagonistin, die sich bereits an anderer Stelle ihr Gesicht als eine Art Maske vorstellt. Die neue Zeit verunsichert,500 das nie verheilende Ekzem suggeriert, dass die Grenze zwischen Subjekt und Umwelt durchlässig wird, keinen Schutz mehr bietet. Nach der Begegnung mit Mattok äußert die Protagonistin den Wunsch, »in eine fremde Haut eingenäht [zu] werden« (VM, 115), die jeglicher Wandlung des eigenen Körpers »in eine Zeit, die ein offener Raum war«, wie es oben heißt, Einhalt gebietet und erneut eine »Umgrenzung« schafft, die es auch ihrem Denken erlaubt, wieder ganzheitlich zu funktionieren.501 Enge und Grenzen werden zu Garanten der eigenen Subjektivität und stehen dem »Gefühl der unerträglichen Weite« (VM, 87) entgegen. Die Zeit des Umbruchs hat ihre Versprechungen nicht eingehalten. Auch diese Protagonistin ist eine Figur, die buchstäblich gegen den Strom der Zeit schwimmt, da sie die neue, Freiheit symbolisierende Weite ebenso ablehnt wie die durch den historischen Bruch verlangten Veränderungen, wie Wandel und Anpassung an das neue System. Die Widerständigkeit, die Claires Denken eingeschrieben ist, findet ihr Pendant in der Haltung des unberechenbaren Mattok. Die Zufallsbegegnung hat sofort eine grundlegende Übereinstimmung offenbart, beide durchstreifen das Ostseebad nun als skurriles Paar. »Für ihn beginne überhaupt alles erst bei der Zahl zwei […]« (VM, 68), reflektiert Mattok, und Claire denkt ihrerseits: »Eine Übereinstimmung zwischen zwei Personen – damit läßt sich was abwenden, […].« (VM, 103) Für Julia Schoch hat der Rückgriff auf die Konstellation des Paars nichts Zufälliges. In dem ein Jahr vor der Veröffentlichung des Romans erschienenen Essay »Die wattierte Wirklichkeit und ihre Literatur« heißt es: 498 Fleig 2005, S. 179. 499 Benthien 1999, S. 14. 500 In ihrem Essai ›Die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen‹ (2020, S. 131) berichtet Schoch von den plötzlichen Krankheiten der Elterngeneration im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umbruch: »All die Veränderungen, wird es später heißen, als man schon begriffen hatte, dass ihre Krankheiten eine Reaktion auf die neue Zeit waren. Eine Zeit, die sie doch herbeigesehnt hatten und die sie trotzdem überforderte, nun, da sie angebrochen war.« Hervorhebung im Original. 501 Zur plötzlichen Sehnsucht nach Grenzen vgl. auch Seilers Erzählung »Im Geräusch« (Kap. 1.1.1.).

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Um die Zumutungen des Realen zu beschreiben, ohne Anti-Helden zu entwerfen, habe ich – zumindest derzeit – die Strategie des Paars für mich gefunden. […] Dieses Prinzip »Zwei statt des Einzelnen« hat wenig mit romantischen Gründen zu tun […]. Vielmehr ließ sich über eine (geglückte) Symbiose eine Strategie finden, mit der dem jämmerlichen Individualismusgedanken und damit der gegenwärtigen Ideologie etwas entgegenzuhalten ist. Die Symbiose ist damit nicht Ziel, sondern undiskutierte Ausgangssituation des Erzählens, seine Voraussetzung.502

Das Paar könne sich als »kleinste Handlungseinheit«, »als letzte elitäre Minderheit, als würfliger Stein aufsässig in den Vereinzelungsbrei dieser Zeit hineinwerfen«.503 Die Wahrnehmung der Zeit ist im Roman demnach nicht auf eine individuelle Ebene begrenzt, das Prinzip des Paars hat die Funktion, Zeitverhältnisse auch allgemein kritisch zu reflektieren. Es repräsentiert eine von der dargestellten Umwelt abweichende Zeitlichkeit und hat im Handlungsverlauf erst angesichts einer besonderen Zeitwahrnehmung zusammengefunden. Insofern kann man ihm im Text auch die Funktion eines »Zeitträgers« im Sinne von Carmen La˘can zuschreiben.504 In Schochs Roman hat das Paar nur eine provisorische Existenz, der Lebensform »eines gemeinsamen Wagnisses« ist das Scheitern bereits eingeschrieben.505 Mattok ist auf der Flucht, offensichtlich hat er beim Überfall auf einen Geldtransport den Tätern eine Tasche mit Münzen entwendet. Sein Ziel ist das nahe gelegene Polen: »Wieso er über die Grenze wolle? fragte Claire endlich. Ich flüchte, antwortete Mattok. Ach, Flucht, sagte Claire. Man könne doch längst in den Westen. Ist mir zu unsicher, sagte Mattok. Seit neunundachtzig. […].« (VM, 29) Ein paar Jahre nach dem Umbruch haben sich die Koordinaten geändert, nicht der Westen ist nunmehr Gegenstand von Fluchtfantasien – er wirkt eher entzaubert –, sondern der Osten. Claire wird Mattok nicht folgen; bevor sich das Paar trennt, begeben sie sich noch einmal an den verschmutzten Strand. Plötzlich rammt Mattok sein Taschenmesser in den Gummireifen eines dort geparkten Fahrzeugs, das den Helfern für die Säuberungsaktion dient, um der allgemeinen Geschäftigkeit endlich Einhalt zu gebieten. Ein Helfer bemerkt ihn, es kommt zu einem Zweikampf, bis Claire den Helfer plötzlich in das ölverschmutzte Meer stößt. Ein abschließender acte gratuit, der symbolisch dem determinierten Handeln der Helfer vor Ort entgegensteht. Mattoks Sabotage-

502 Schoch 2003. 503 Ebd. 504 La˘can 2015, S. 292f. Darunter fasst La˘can in historischer Perspektive Figuren, die in Romanen über ein eigenes, von der Umwelt zu unterscheidendes Zeitsystem verfügen oder die »rechtzeitig« für den Handlungsablauf aufeinandertreffen und insofern für die Handlungsführung zentral sind. 505 So Marx 2015, S. 189.

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aktion hingegen ist in den Augen der Autorin eine weitere Möglichkeit, der Gegenwart zu widerstehen: Denn die kleinstmögliche Sabotage besteht bereits darin, nicht »naturgemäß« zu handeln und zu denken, das heißt den gesellschaftlichen Denkmechanismen nicht fraglos zu folgen. Damit kann Inszenierung zu einer direkten Antwort werden auf eine wirklichkeits- und pragmatismusfanatische Zeit (auf der Ebene des Schreibens und auch der der Figuren), wobei das Geschlagensein durch die Zeit in einen Diskurs des Gewollten, also gleichzeitig Unrealistischen verwandelt wird. Der Ziellosigkeit der Gegenwart wenigstens ein Ziel der Figur entgegenstellen!506

Diese Bemerkungen stehen im Kontext der Kritik einer Gegenwartsliteratur, die sich nur noch an offenkundigen Realitäten orientiert und dadurch ihre kritische Kraft einbüßt. Literatur und Fiktion müssten dagegen dem aussichtslosen Zeitgefühl der Gegenwart widerstehen und neue, andere Perspektiven eröffnen. Insofern wird in Schochs Literatur nicht nur eine Zeitwahrnehmung gestaltet – die sich ständig wandelnde und ziellose Gegenwart durch die Metapher der kranken Haut. Es werden auch Optionen aufgezeigt, wie man sich dieser Zeit entziehen kann. Diese »Haltung zur Welt« müsse sich der Autorin zufolge auch als »eine Haltung zum Formalen, zum Stil« ausdrücken, wobei Stil nicht »als gewollte schöne Einzelmetapher« auftritt, sondern »als Gesamtablauf oder Gesamtschau, als Ort oder Hergang oder Blick auf die Welt.«507 Zeitwahrnehmung, Zeitkritik und Zeitgestaltung sind in Schochs Texten eng miteinander verbunden, sie kommen in Verabredungen mit Mattok durch die offensichtliche Metapher der kranken Haut zum Ausdruck, aber auch durch Figuren- und Handlungskonstellationen wie die des Paares bzw. den Akt der Sabotage. Hinzu kommt ein Erzählgestus, der nicht aufeinander abgestimmte Episoden aneinanderreiht, sondern eine »Abfolge von abgebrochenen Situationen«,508 die sich einer eindeutigen Sinnzuschreibung und einer Unterordnung unter einen bestimmten Zweck entziehen. »Man müßte eine Kraft haben, sich seine Geschichte selbst zu schreiben, eine große heitere Kraft müßte es sein, mit der man in den Tag hineinliefe.« (VM, 120). Diesem Gedanken geht Claire nach, bevor sie einige Seiten später ihre beiden Arme in ein Metallbecken taucht, in dem das ausgelaufene Öl des Tankers vor der Küste gesammelt wird (VM, 131). Als letztes Zeichen, dass sie allein Herrin ihres Schicksals bleibt und sich durch Selbstsabotage dieser Zeit des permanenten

506 ›Die wattierte Wirklichkeit und ihre Literatur‹. Schoch 2003. Ähnliches gilt vor dem Hintergrund einer anderen gesellschaftlichen Zeit auch für die Sabotageakte der Steuerfrau in der Erzählung »Der Körper des Salamanders«. 507 Ebd. 508 Langner 2004, S. 63.

Prägungen: Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009)

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Wandels entzieht und ihrem Leben eine – wenn auch noch so fatale – eigene Richtung gibt. Mattok hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Richtung Osten begeben. Das optimale Fluchtziel nicht nur deshalb, weil der Westen keine Versprechungen mehr bereithält, sondern weil »die Zeit in Richtung Osten beim Laufen schneller vergeht! Und warum? […] Weil die Geschwindigkeit beim Laufen durch die Geschwindigkeit der Erdumdrehung noch erhöht wird, […] während man nach Westen immer gegen die Erdumdrehung läuft.« (VM, 122). Der Osten erscheint paradoxerweise als Ausweg aus dem aktuellen Zeitregime, als Metapher und als eine Möglichkeit, der Endlosschleife Gegenwart durch unwahrscheinliche Gesetze der Zeit wieder entkommen zu können. Als Denk- und Möglichkeitshorizont für Zukünftiges, Unvorhersehbares, Offenes.509

2.2. Prägungen: »Erstreckte« Gegenwart, Faszination des Vergangenen und nicht gelebte Zukunft in Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009) Julia Schochs zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer erschienener Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers510 setzt sich fiktional mit Themen auseinander, die die Autorin bereits in verschiedenen Essays reflektiert hatte: mit dem Zugang zu vergangenen, 1989 abrupt abgebrochenen Lebensabschnitten, der Beziehung zu den nicht realisierten Zukunftsverheißungen der Vergangenheit, mit Orientierungsversuchen in einer als unbefriedigend erlebten Gegenwart, deren Kritik an die Überlegungen in Verabredungen mit Mattok anschließt. Stärker als im Falle von Claire und Mattok wird hier jedoch erzählt, wie die jüngste Vergangenheit das Leben der Figuren prägt.511

509 In dem frühen Text »Orte, von denen ich schreibe« (Schoch 2002) stellt der Osten für die Autorin in der Tat noch eine »Himmelsrichtung« dar, »in der Ideen schwerer wiegen als Dinge. Aus der ich Fragen und Probleme ziehe, die ich für die Gegenwart diskutieren will.« Sie schöpfe daraus »Assoziationen, auch Elemente einer utopischen Absicht […], die ich für das Schreiben brauche. Farblose, rauhe Flächen regen nun einmal die Phantasie an.« 510 Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf Mit der Geschwindigkeit des Sommers beziehen, mit der Sigle GS direkt im Text angeführt. Hervorhebungen im Original. Dieser Roman Schochs wurde in der germanistischen Forschung auch unter Berücksichtigung der Zeitthematik bisher am ausführlichsten diskutiert. 511 Franziska Meyer zufolge verleiht der Roman auf eindringliche Weise Emotionen Ausdruck, die in den zahlreichen standardisierten und delegitimierenden Diskursen über vermeintliche Ostalgie keinen Raum finden. Vgl. Meyer 2012, S. 175.

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Schochs zweiter Roman berichtet aus der Perspektive einer homodiegetischen Erzählerin, die autofiktionale Züge trägt,512 von deren Versuch, nach dem mutmaßlichen Selbstmord ihrer älteren Schwester in New York herauszufinden, was die Schwester zu ihrer Entscheidung bewogen haben mag. Sie erinnert sich an die gemeinsam verbrachte Kindheit in einer kleinen Garnisonsstadt in der ostmecklenburgischen Provinz, von der heute nur noch wenige Spuren übrig geblieben sind, erinnert sich an Gespräche und Telefonate über die Beziehung der Schwester zu einem »Soldaten«, und versucht so, deren Leben ebenso wie ihre Gedanken und Hoffnungen zu rekonstruieren. Dabei muss sie das Bild, das sie sich jahrelang von der Schwester gemacht hatte, im Nachhinein revidieren. »Was weiß diese Zeit von einer anderen.« (GS, 9) Dieser nicht als Frage, sondern als Aussage formulierte erste Satz des Romans deutet an, dass »diese Zeit«, das Heute, die Gegenwart und die in ihr lebenden Menschen nicht mehr viel wissen von der anderen, gerade vergangenen Zeit, von der sie sich – gewollt oder ungewollt – sehr schnell losgelöst haben. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern der Roman unterschiedliche Zeitschichten und Zeitwahrnehmungen darstellt und diese ineinander verschränkt: wie die unbefriedigende Gegenwart eine Rückkehr in die Vergangenheit und frühere Zukunftsvorstellungen bewirkt, und wie diese auf die Zukunftsperspektiven der Gegenwart zurückwirken. Diese Verstrickung der Zeiten wird aus der Perspektive einer Erzählerin kommentiert, die selbst ihre unsichere Position beim Versuch, sich zu erinnern und Vergangenes zu rekonstruieren, immer wieder thematisiert und in der Form des Erzählflusses zum Ausdruck bringt.

2.2.1. Der »rasende Stillstand« der Gegenwart Während die Erzählerin ein nomadisches Dasein führt, »ständig mit Abfliegen oder Ankommen beschäftigt [war]« (GS, 12), ist ihre ältere Schwester nie gereist und hat den Ort, an dem sie aufgewachsen ist, nie verlassen: »Die Zeit, das Geschehen, der Ort des Geschehens. Dieser Ort, an dem sich für meine Schwester bis zuletzt alles abgespielt hat: eine Garnisonsstadt.« (GS, 16) Die Jüngere hat nach dem gesellschaftlichen Umbruch »den Absprung geschafft«, war früher »noch gar nicht beteiligt gewesen, [ihr] Leben noch nicht verbogen«, die »Zeit [war] auf [ihrer] Seite, immer.« (GS, 108) Die ältere Schwester hingegen hatte 512 So verweist die Ich-Erzählerin bei der Beschreibung einer Dampferfahrt der Schwester und ihres Liebhabers auf dem Stettiner Haff darauf, dass sie »schon einmal, nur kurz, darüber geschrieben« habe (GS, 64). Dieser intertextuelle Hinweis, auch eine Form der impliziten narrativen Metalepse, bezieht sich auf Schochs Erzählung »Letzte Ausfahrt« aus dem Band Der Körper des Salamanders (KS, 136–141). Vgl. zum autofiktionalen Gehalt des Romans auch das Interview mit Schuster/Paul (2010).

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1989 bereits geheiratet und glitt nach dem Mauerfall in ein neues bürgerliches Leben mit Einfamilienhaus und Kindern. Die frühere Klassenbeste hatte nach ihrer Ausbildung wegen des ersten Kindes nicht zu arbeiten begonnen, nach dem Umbruch übernahm sie sofort die Rolle der Hausfrau und Mutter und hatte den Eindruck, dass sie »festsaß in ihrem neuen Leben« (GS, 57). Während um sie herum eine neue Betriebsamkeit herrschte und alles in Bewegung schien, verbrachte sie ihr Leben damit, auf andere zu warten: »Sie saß und wartete. Sie sah den Kindern beim Reiten zu, beim Tanzen […]. Sie […] wartete, daß es vorüber war […].« (GS, 66) Und fragt sich gleichzeitig, »was sie soll mit ihr, dieser Welt heute. Welchen Anteil hatte sie an ihr?«, was hatte sie zu tun »[m]it ihrer … Logik!« (GS, 115). Immer mehr scheint die Frau im Rhythmus einer neuen Zeit gefangen, mit deren Voraussetzungen sie nichts verbindet und die den Erfahrungen ihres bisherigen Lebens nicht entspricht; sie wird, wie Anne Fuchs es formuliert, von der »Fülle der leeren Zeit niedergedrückt«.513 Der einst erträumte Komfort ist schnell erreicht: Die Welt des Sozialismus hatte die Wünsche schrumpfen lassen. Eine komfortabel eingerichtete Wohnung, etwas Abwechslung im Alltagsprogramm, ein paar Lücken im vorgestanzten Lebensbild. Wie die meisten Menschen merkte auch meine Schwester erst spät: Die Träume waren so klein gewesen, daß ihre Erfüllung unspektakulär leicht war. Man mußte nur in eine andere Gesellschaft überwechseln. Das oft fremde, unwillige Gefühl in den Jahren nach der Revolution kam auch daher, daß man nun, nachdem der eigene Wunschvorrat erschöpft war, nicht wußte, welcher Art von Träumen in dieser anderen Gesellschaft nachzuhängen war. (GS, 109f.)

Waren in der Vergangenheit die zukünftigen Optionen vorgegeben, konnte man diese akzeptieren oder sich gegen sie auflehnen, empfindet die Schwester nunmehr nur noch »die bedrohliche Gleichgültigkeit der neuen Zeit dem eigenen Leben gegenüber« (GS, 60). Sie wiederholt fast automatisch die alltäglichen Gesten, verfällt in »apathische Betriebsamkeit«, wie in einen »Schockzustand« (GS, 117). Als ginge es nur noch darum, »die Zeit herumzubekommen«, erschien jede Tätigkeit »wie das Zerstreuungsprogramm in einem Zug, der gegen eine Wand raste.« (GS, 115) Die einst in der DDR gesponnenen Zukunftsvisionen, die Aussicht, sich »nur fallen[zu]lassen in die vorsortierten Möglichkeiten« auf dem »Zeitstrahl ihres Lebens« (GS, 22f.), weichen einer Unsicherheit und dem Gefühl der Stagnation: Mit dieser anderen Geschichte hatte auch eine andere Geschwindigkeit der Zeit eingesetzt. Vor allem für die, die sich nicht von der Stelle rührten. Wann hatte das angefangen dieses Rasen der inneren Uhr? Wann war aus dem irren Lauf in die offene

513 »[…] the sister remains marooned in the province, weighed down by the abundance of the empty time.« Fuchs 2012, S. 132.

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Zukunft, die Unbegrenztheit, wie es hieß, dieser Galopp auf der Stelle geworden, bei dem man sich eingrub? (GS, 118)

Dieser Kommentar der Erzählerin über die Veränderung der Zeitwahrnehmung nach dem Umbruch von 1989, als eine »andere Geschichte« begann, ist auch im Kontext jüngerer zeitsoziologischer Befunde zu lesen. Wie bereits ausgeführt, wurde nach dem Untergang der DDR und ihres auf eine geschlossene Zukunft ausgerichteten Zeitregimes plötzlich eine unbegrenzte »offene Zukunft« in Aussicht gestellt. Diese befand sich jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits in der Krise: Helga Nowotny sprach schon 1989 von der Vorherrschaft einer »erstreckten Gegenwart« ohne wirkliche Zukunftsoptionen, Hartmut Rosa beschrieb später die Zeitwahrnehmung der spätmodernen Gesellschaften als das paradoxale Aufeinandertreffen der »sozialen Beschleunigung und der gesellschaftlichen Erstarrung«.514 Rosa verweist in diesem Zusammenhang auch auf die in der deutschen Übersetzung von Paul Virilios Essay L’Inertie polaire verwendete Metapher des »rasenden Stillstands«,515 die wiederum in Julia Schochs Metapher des »Galopp[s] auf der Stelle« durchscheint. Einerseits führe die »Vermehrung von Optionen und Kontingenzen« in der Gegenwart zu einer »Beschleunigung des Lebenstempos«,516 andererseits verliere »die (chronologische) Zeit ihre orientierungsstiftende Funktion«.517 Letztendlich führt eine solche Konstellation Rosa zufolge auch dazu, dass altbewährte, »[a]uf Stabilität hin ausgerichtete Lebensentwürfe […] als anachronistisch und in einer hochdynamischen Umwelt zum Scheitern verurteilt [erscheinen], während auf Flexibilität und Wandlungsbereitschaft hin angelegte Identitätsformen systematisch begünstigt werden.«518 Im Gegensatz zur ständig reisenden Erzählerin, deren Lebensentwurf den »Triumph des Nomadischen«519 in der globalisierten Gesellschaft repräsentiert, 514 Rosa 2005, S. 41. 515 In seinem 1989 beendeten Essay analysiert Virilio u. a. die Auswirkungen der neuen elektronischen Kommunikationsmittel, die es ermöglichen, simultan überall präsent zu sein, ohne sich selbst fortzubewegen. Die beschleunigte Beherrschung von Raum und Zeit führe zur Stillstellung und Bewegungslosigkeit der Subjekte. Vgl. Virilio 1990. 516 Rosa 2005, S. 123. 517 Ebd., S. 170. In ihrem Essai ›Die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen‹ (2020, S. 128) beschreibt Schoch diese beschleunigende Wirkung für die 1990er Jahre so: »Die Neunziger, wie man später sagen wird: eine Zeit, in der die Menschen beständig unterwegs sind. Ein Wimmelbild, ein Gewusel, wie bei einem Kinderspiel, bei dem plötzlich alle aufspringen und durch den Raum rasen, um sich einen neuen Platz zu suchen. Manche finden ihn und lassen sich mit erschöpftem Lächeln sinken. Andere stürzen zu einem Stuhl, sind aber immer zu spät, und blicken sich ratlos um.« 518 Rosa 2005, S. 379. Für den Entwurf »flexibler« Identitäten steht im Roman die jüngere Schwester, aber auch die Figuren in Schochs drittem Roman Selbstporträt mit Bonaparte (2012). Vgl. Kap. 2.3. 519 Ebd., S. 346.

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bleibt die in der Provinz festsitzende Schwester in der neuen Zeit einem alten Lebensmodell verhaftet. Während sich ein »Gefühl der Nutzlosigkeit« (GS, 127) ausbreitet und sie keinen Anteil mehr an der heutigen Welt empfindet, flüchtet sie in eine Vergangenheit, von der sie mittlerweile »ein ganzes Menschenleben«, »eine Zeitlücke« (GS, 30) zu trennen scheint, obwohl doch erst ein paar Jahre vergangen sind. Die Desorientierung der Schoch’schen Figuren in der Gegenwart verweist darauf, dass sie von einem bestimmten Modell der Zeitwahrnehmung geprägt wurden und sich von diesem nur schwer loslösen können. Auch Hartmut Rosa unterstreicht in seiner Studie, dass gerade in politischen Umbruchsituationen deutlich wird, »wie sehr überlieferte Zeitstrukturen und -perspektiven gleichsam zur ›zweiten Natur‹ der Akteure werden« und dass der »hohe Grad der Internalisierung von Zeitmustern […] auch dafür verantwortlich [ist], dass die temporalen Akteursdispositionen oft nur in einem langwierigen und durchaus gewaltförmigen Umerziehungsprozess neuen strukturellen Bedingungen angepasst werden können […].«520 Rosa bezieht sich hier auf so radikale Veränderungen wie Kalenderreformen, doch auch weniger starke Eingriffe wie der für 1989 charakteristische »Druckausgleich zwischen zwei ganz unterschiedlichen Zeitzonen«,521 wie Lothar Baier es formuliert hatte, das Aufeinandertreffen von in der DDR gelebter Langsamkeit und plötzlicher Beschleunigung und Zeitknappheit hatten Auswirkungen auf die Zeitwahrnehmung.522 Julia Schochs Figuren signalisieren in dieser Hinsicht das Fortleben früherer zeitlicher Prägungen, sie vermitteln als literarische Konstruktionen eindringlich, dass auch fünfzehn und zwanzig Jahre nach dem politischen Umbruch das Zeitempfinden aus ostdeutscher Perspektive noch ein ganz spezifisches sein kann. Schochs Roman macht jedoch ebenfalls deutlich, dass das Gefangensein im alten Zeitregime auch als Folge der mangelnden Perspektiven in der Gegenwart zu interpretieren ist: das kleinbürgerliche Leben als Hausfrau und Mutter in der Provinz, das dem bundesrepublikanischen Familienmodell noch der 1990er Jahre entspricht, bietet der Schwester nicht mehr Möglichkeiten zur Entfaltung als der stagnierende Alltag in der DDR. Insofern bieten die »seit der politischen Wende freigespielten Möglichkeiten zur Selbstbestimmung des Daseins« hier keine wirklichen Alternativen und das »fatalistisch[e] Hinnehmen des Gegebenen«, der »inzwischen obsolet[e] Lebensrhythmus« und die »passive Haltung des Abwartens«,523 wie Michael Ostheimer es formuliert, erscheinen gleichermaßen

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Ebd., S. 37. Baier 1990, S. 103. Vgl. dazu die Ausführungen in der Einleitung. Ostheimer 2019, S. 269. Ostheimers Lektüre zufolge unterliegt die Schwester »einem fatalen Wiederholungsmuster«, einem »temporale[n] Teufelskreislauf« (ebd.), der aus ihrer So-

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als Relikte der sozialistischen Sozialisation und als Reaktionen auf die neu erfahrenen Grenzen gegenwärtiger Entwicklungsmöglichkeiten.

2.2.2. Flucht in die Vergangenheit Im Roman findet die Schwester eine Möglichkeit, der Gegenwart zu entkommen, indem sie eine Beziehung zu einem Mann wiederaufnimmt, der vor 1989 als Soldat seinen Militärdienst in der Garnisonsstadt absolviert hatte. Sie nennt ihn nach wie vor »der Soldat«, fühlt sich »weniger verräterisch« (GS, 23), denn es war eine Beziehung »mit jemandem aus einer Zeit, die es längst nicht mehr gab, einer Zeit, die vor der Heirat lag, vor den Kindern. […] Ihr Liebhaber gehörte in eine gänzlich andere Geschichte, ein anderes Jahrhundert sogar.« (GS, 23f.) Dank dieser Wiederbegegnung wird die jüngste Vergangenheit nicht mehr verdrängt, sondern »ließ sich […] wie eine lange Anekdote erzählen. Die Vergangenheit war plötzlich ein amüsantes Geschichtenreservoir.« (GS, 32) Der auch in anderen Erzählungen Schochs präsente Bruch im Leben betrifft auch die Schwester, der »Umsturz« hatte »damals den Zeitstrahl ihres Lebens« geteilt, »so daß er in zwei gleich große Hälften zerfiel.« (GS, 23) Dank des »Soldaten« findet sie wieder Zugang zu der abgetrennten Hälfte ihres Lebens, zu den bisher entwerteten Geschichten; im Gegensatz zu zahlreichen Dingen der Vergangenheit, die inzwischen verschwunden sind, ist der Soldat »übriggeblieben« (GS, 59). Der Umbruch war ganz plötzlich geschehen, als der »Soldat« sich wieder meldete, geschah dies in einem Moment, als »das Verlangen entstanden [war], wieder in eine Zeit einzutauchen, die man vollständig hinter sich gelassen hatte.« (GS, 59.) Angesichts einer Gegenwart, die in den Augen der Schwester hauptsächlich aus Konsum besteht und für die sie sich »schämt«, hofft sie, »daß sie beide das Gegenteil sind. Die Möglichkeit eines Gegenteils.« (GS, 78) Auch hier kommt, darin Verabredungen mit Mattok nicht unähnlich, der Figurenkonstellation des Paars eine fast widerständige Funktion zu, da es eine Art Gegengift zur Gegenwart liefert und als »Zeitträger«524 diesmal in der Vergangenheit verortet ist. Der »Soldat«, der sich weder für das gegenwärtige Leben der Schwester noch für ihre Zukunft interessiert, erlaubt es ihr, die zu schnell gekappten Verbindungen zur eigenen Geschichte wieder aufzunehmen. Dabei wird die Vergangenheit zur Obsession: »Wenn er mit ihr zusammen war, spazierten sie nur immer wieder zurück in denselben Raum. Den einzigen, den es für sie beide gab und je geben würde. Ausflüge in die Vergangenheit.« (GS, 61) Zeit wird im zialisation zu erklären sei. Die kritisch zu betrachtende Gegenwartsperspektive wird hier ausgeklammert. 524 Vgl. Kap. 2.1.3.

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Roman nicht nur als individuelle Wahrnehmung beschrieben, sie wird auch verräumlicht, topographisch verortet. Die privilegierte Himmelsrichtung der beiden bleibt der Osten, oft fahren sie in Richtung polnische Grenze (GS, 60), ein aus Schochs früheren Texten bekannter Topos. Die Orte, die sie besichtigen, fungieren hier im Sinne Bachelards als »verdichtete Zeit«,525 sie sind ein Erinnerungs- und Zeitreservoir der DDR-Geschichte mit ihren untergegangenen Hoffnungen: ehemalige landwirtschaftliche Genossenschaften, nach dem Krieg trocken gelegte Wiesen (GS, 61f.). Plötzlich interessiert sich die Schwester für »alles, was aus dieser Zeit übriggeblieben war […]: wegbröckelnde Ladenaufschriften, überwucherte Denkmäler oder rostige Springbrunnen. Sie kaufte Bücher, die Spurensuche hießen oder Bilder aus einem untergegangenen Land.«526 (GS, 62) Innerhalb der erzählten Zeit ist der Moment dieser »Ausflüge« nicht genau zu situieren, sie scheinen kurz nach Wiederaufnahme der Beziehung in den ersten Jahren nach dem Umbruch begonnen zu haben. Die Wortwahl der Beschreibung (wegbröckelnd, überwuchert, rostig) und der erinnerungsgeladene, nostalgische Gestus der Bücher erwecken allerdings den Eindruck, die Vergangenheit läge schon sehr weit zurück, sei verschollen, so dass die Erfahrung des radikalen Bruchs dadurch potenziert erscheint. Während die jüngere Erzählerin die DDR als eine Zeit der Stagnation in Erinnerung hat, als »vollkommene Abwesenheit jeden Geschehens« (GS, 10), bekommt die Vergangenheit in den Augen der Schwester plötzlich eine in der Wirklichkeit kaum gekannte Dynamik. Denn sie imaginiert sich Varianten einer nicht gelebten, durch den Mauerfall abgebrochenen Zukunft: Dadurch, daß die Geschichte dieses Staates nicht zu Ende gegangen, sondern abgebrochen war wie eine festgefahrene, unerträgliche Schulstunde, war es möglich, sich eine andere Vergangenheit auszumalen, die stattgefunden hätte, wenn diese Schulstunde, das Experiment weitergelaufen wäre. […] Plötzlich sah sie in alldem sich selbst. Die verlockende Vorstellung, daß in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf bereitgestanden hatte, verdrängte den nachträglichen Schrecken über die Begrenztheit in dem Land, das in immer weitere Ferne rückte. Meine Schwester fühlte sich aufgehoben in der nicht probierten Version. […] In ihren Sätzen kam immer mehr die Grammatik der Möglichkeiten vor. Halb schwärmerisch sagte sie: Was einem alles bestimmt gewesen wäre! In diesem anderen Land hätte man ganz sicher … Wenigstens wäre man gezwungen gewesen zu … oder: Dann hätten wir immerhin … (GS, 62f.)

525 Bachelard 2014, S. 27. 526 Die Passage wurde auch als Beispiel für die Verwendung des Atlantis-Motivs in Schochs Text angeführt, als »immer wiederkehrendes Motiv eines archäologischen Suchens nach dem Verlorengegangenen.« Vgl. Aversa 2015, S. 235.

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Rückblickend werden dem gescheiterten Staatsexperiment Sozialismus noch einmal alle ihm inhärenten Möglichkeiten und Entwicklungen zugestanden.527 Der bisherige Lebenslauf und die unbefriedigende Gegenwart verändern den Blick, lassen die Figur glauben, dass für sie eine andere Zukunft möglich gewesen wäre. Der Konjunktiv wird zur bevorzugten Zeitform, er erlaubt es, noch einmal Alternativen, Träume und Utopien der Vergangenheit freizulegen, sich eine andere Gegenwart auszumalen, die der damals angestrebten Zukunft entspricht. Asako Miyazaki zufolge erscheint »[d]iese Zeitschicht […] als verlorene, nicht mehr einholbare Möglichkeit.«528 Doch bleiben die imaginierten Alternativen im Text seltsam in der Schwebe, durch die Auslassungspunkte wird der Gedankengang der Schwester unterbrochen, die Möglichkeiten erhalten nicht einmal die Form einer Ellipse, deren Implizites leicht zu ergänzen wäre. Was genau hätte anders sein können, wird nicht benannt, die imaginierte Zukunft verharrt in einer vagen Zeit- und Formlosigkeit und beinhaltet letztendlich auch nur Leere.529 Die Erzählerin, die diese Gedanken nachträglich rekonstruiert, schafft dadurch Raum für eine Distanzierung zur Figur, für eine Kritik, die nicht nur die Zeit der Gegenwart betrifft, sondern auch die Vergangenheit.530 Nach und nach geht die Schwester selbst auf Distanz, auch diese Vergangenheit ist für sie nicht mehr sinnhaltig. Die Nostalgie »beim Anblick irgendwelcher verlassener Überreste, die von einem nie gelebten Leben, einer nie genutzten Zukunft zeugten« (GS, 106), weicht einer »Wut auf das Alte« (GS, 107), auf einen Staat, der ihre Freiheit eingeschränkt und verhindert hatte, »daß man zu irgendetwas Großem in der Lage« (ebd.) war und der heute ebenso wertlos ist wie die Erfahrungen der Menschen, die in ihm gelebt hatten: »Das Wissen über all das war plötzlich kein Vorteil mehr. Die Kenntnis von einem anderen System, einem anderen Leben, war nutzlos geworden, eine Kenntnis, […], die auf Halde lag.« (GS, 108) 527 In ähnlicher Weise thematisiert die 1980 geborene Judith Schalansky im Vorwort von Verzeichnis einiger Verluste (2018, S. 19) die Vergangenheit als »wahren Möglichkeitsraum«. Ähnlich wie Schoch macht sie auf den von ihr erlebten »Bruch der Geschichte« aufmerksam und sieht »in jeder Zukunftsvision nichts anderes als eine zukünftige Vergangenheit […].« (ebd.). 528 Miyazaki 2013, S. 82. 529 In historischer Perspektive kann diese Leere auch auf die ab den 1970er und 1980er Jahren zu spürende Aushöhlung und Nichtigkeit der Zukunftsprojektionen hindeuten, die sich mehr und mehr als von jeglicher Realität losgelöster Diskurs erweisen. Brauer erinnert daran, dass die vom Staat »vordefinierten Zeitgefühle« bis in die 1970er Jahre hinein klar auf die sozialistische Utopie gerichtet waren, während nach der »propagierten Ankunft im ›real existierenden‹ Sozialismus« nur noch vergangene Zukunftsentwürfe mobilisiert wurden. Vgl. Brauer 2020, S. 18f. 530 Diesen kritischen Blick des Romans auf das kommunistische Erbe hat Rainette Lange in vergleichender Perspektive ausführlicher analysiert. Vgl. Lange 2016. Zur Provinz als leerem, verödeten Raum im Roman vgl. Lange 2020, S. 151–163.

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Die Verortung der Figur in der Zeit scheint doppelt fragil: das Unbehagen und die leere Zeit der Gegenwart weichen einer Idealisierung der Vergangenheit, die ihrerseits keinen Anhaltspunkt mehr bietet, Zukunftsperspektiven scheinen nirgendwo auf. Anstatt die unterschiedlichen Zeitdimensionen sinnhaft in einem »In-der-Zeit-Sein« zu synchronisieren,531 ist die ältere Schwester »herausgefallen […] aus jeder Zeit« (GS, 11), wie die Erzählerin bereits zu Beginn des Romans und angesichts der Nachricht vom Tod der Schwester feststellt.

2.2.3. Zukunftsvisionen: Versteppung und Naturzustand Das »Aus-der-Zeit-Gefallen-Sein« der älteren Schwester kristallisiert sich symbolisch an dem Ort ihrer Kindheit, der ehemaligen Wohnsiedlung, zu der sie mit dem Soldaten am Tag ihrer letzten Zusammenkunft noch einmal zurückkehrt.532 Die sich am Stadtrand befindende Siedlung war, von den Einwohnern fast unbemerkt, dem Abriss preisgegeben. Im Gegensatz zum verschwundenen Klettergerüst aus der Erzählung »Der Exot« fungiert der Raum in dieser Version der Rückkehr an den Kindheitsort noch als »Zeitspeicher«,533 aber in seiner negativen Funktion, als Ruine, als Überrest einer gescheiterten Vision von Geschichte, als Trümmerfeld des Fortschritts. Der Ort ist aus der linear verlaufenden Geschichte herausgefallen, die Zeit folgt nunmehr einem zyklischen Kreislauf, Anfang und Ende treffen aufeinander: »Der Abriß […] ist noch nicht beendet, die Auslöschung noch in der Schwebe. […] Dieser seltsame halbfertige Anblick ist es, der für meine Schwester alles wieder so aussehen läßt wie zum Zeitpunkt unserer Ankunft in der Siedlung dreißig Jahre zuvor. Das Ende hatte die gleiche Gestalt wie der Anfang.« (GS, 83) Die Erinnerung an die noch nicht fertiggestellten Wohnblocks der Anfangsjahre überlagert den Anblick der fast abgerissenen Gebäude in der Gegenwart. Während der Soldat sich über die »Häßlichkeit« und »Monstrosität« (GS, 84) der Siedlung auslässt und glaubt, niemand werde dies alles vermissen, ist die Schwester seltsam betroffen, auch wenn sie früher selbst mit »Verachtung« (GS, 19)534 auf den Ort geblickt hatte: er stellte ihren Lebenszusammenhang dar. Der Soldat hingegen negiert jede mögliche persönliche Bindung an einen solchen Ort und stellt den Abriss der Siedlung in einen globalen Zusammenhang: 531 Vgl. dazu Rosa 2005, S. 34f. 532 Zum Zusammenhang von Raumdarstellung und Erinnerung im Roman vgl. Blanco Hölscher 2017. 533 Vgl. Kap. 2.1.2. 534 Über die Militärsiedlung als künstlichen »Nicht-Ort« im Sinne Marc Augés, der nicht natürlich gewachsen ist und zu dem die dort lebenden Menschen zunächst keine emotionale Beziehung haben, vgl. Cosgrove 2012.

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[…] alles hier [sei] nur Teil eines gewaltigen Prozesses […], der in der ganzen Welt vor sich ging. Woanders versiegte das Meer, Häfen wurden geschlossen, Bodenschätze gingen zur Neige, man legte Zechen still, Werke, Industrien verschwanden, aus Fischerdörfern wurden Urlaubsanlagen, ganze Städte versteppten. (GS, 85)

Die Wohnblocks und neuen Städte hatten ihrerseits einst die Natur und den ursprünglich dort vorhandenen alten, kleinen Ort verdrängt, an ihnen war »das 21. Jahrhundert schon abzulesen […]. Das Urbild einer Zukunft, die aus dem gleichförmigen Stein bereits herüberleuchtete zu uns.« (GS, 19f.). In diesem Bild kristallisiert sich noch einmal das lineare, teleologische Zeitregime der DDR mit seiner Ausgerichtetheit auf Fortschrittsoptimismus und Zukunft heraus. Diesem vom offiziellen Diskurs vermittelten Zeitverständnis kann unterschiedlich begegnet werden: es kann als ideologisches Hintergrundrauschen wahrgenommen werden, dem die eigenen Erfahrungen kaum entsprechen und vor dem man sich zurückzieht,535 es kann aber auch als die eigene Biographie dermaßen prägend empfunden werden, dass es zu einer Auseinandersetzung nötigt und die Verortung in der Konstellation der Zeitdimensionen grundlegend beeinflusst bzw. stört, wie es das Verhalten der Figur nahelegt. Wie den damaligen neuen Städten waren den Bewohnern Zukunft und Fortschritt fest eingeschrieben,536 am Ende von Mit der Geschwindigkeit des Sommers steht die dystopische Perspektive auf die Ruinen der vergangenen Zeit und der Zusammenbruch einer ihrer ehemaligen Bewohnerinnen. In Anlehnung an die Figur des Soldaten liest Anne Fuchs die im Roman dargestellte »Erosion des Lokalen« als Konsequenz nicht nur des Untergangs der DDR und der Wiedervereinigung, sondern auch der Globalisierung.537 Deren Polarisierung von Raum und Zeit habe die Provinz aus ihren kulturellen Sinnzusammenhängen gerissen und ihr die Möglichkeit genommen, Gefühle von Heimat zu stiften.538 In Schochs Roman erscheine die Provinz als »ein postin-

535 Das Dresdner Villenviertel, in das sich die Bildungsbürger in Uwe Tellkamps Roman Der Turm (2008) zurückziehen, um dort vor allem Werten der Vergangenheit zu frönen, ist die literarische Inszenierung eines solchen Rückzugs. 536 Aus autobiographischer Perspektive beschreibt Schoch eine ähnliche Erfahrung: »Ich selbst wurde in eine Welt der ausschließlichen Zukunft, in ein Universum ohne Hinterlassenschaft und Erbe hineingeboren. Die Häuser, in denen ich bis zum Erwachsenenalter gewohnt habe, trugen nie Spuren irgendeiner, womöglich von Ahnen geprägten Geschichte. Immer waren die Wohnblöcke gerade erst errichtet worden und so frisch, dass beim Einzug noch jedes Mal der Beton zu riechen war. […] Im öffentlichen Leben war unablässig die Rede von dem, was gerade im Heranbrechen war, von einer neuen Zeit, die die alte überwunden hatte. Man hatte sich abgetrennt von der Vergangenheit. Alles war so neu und gewagt, dass es kaum Traditionen gab.« (›Meine Mythomanien‹. Schoch 2014, S. 1f.). 537 Fuchs 2012, S. 135 (»the erosion of locality«). 538 Ebd.

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dustrielles Ödland, ohne Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft«.539 An anderer Stelle analysiert Fuchs den Roman noch stärker im Zusammenhang mit der Frage, wie die Gegenwartsliteratur die »historisch[e] Erfahrbarkeit einer im Zeichen der Globalisierung stehenden Wirklichkeit« thematisiere.540 Sie beschreibt dort Schochs Darstellung der ostdeutschen Provinz als »Poetik der Ödnis« bzw. »Poetik der Verlangsamung, in der die geschichtliche Leere zum poetischen Ereignis wird.«541 Allerdings berichtet der Text eben nicht nur von der »Geschichtslosigkeit der entschleunigten Provinz«,542 da das Leben der Schwester ja gerade durch die Geschichte, durch den Umbruch von 1989, aus der Bahn geworfen wurde und sie auf die Unzulänglichkeiten der Gegenwart mit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit reagiert, die erst nostalgische, dann kritische Züge trägt. In jedem Fall versucht die Figur an zentraler Stelle zunächst, anhand der überall noch vorzufindenden Überreste und Spuren von Geschichte ihre Vergangenheit als sinnhaft zu verstehen. Trotz des Scheiterns dieses Versuchs und der geschichtspessimistischen Perspektive verlässt die Geschichte als solche nicht den Denkhorizont der Protagonistin. Vor ihrer Abreise nach New York berichtet die Schwester der Erzählerin am Telefon von einer plötzlichen dystopischen Vision der Rückführung von Geschichte in Natur: Alles Leben war von einer künstlichen Zeit in eine natürliche übergetreten. Und diese natürliche Zeit kroch langsam in Gestalt eines Wildwuchses über uns […] hinweg. […] bald würden wir alles sinken und dieses Naturgespinst über uns hinwegkriechen lassen. Die Menschen unterschieden sich nicht von dieser Wildnis. Sie waren Teil von ihr und würden es noch lange bleiben. Sie würden sich mit ihren Verschlingungen verbinden, lautlos und unspektakulär. Die Stadt, in der sie lag, war nicht der Anfang und auch nicht das endgültige Ziel dieser Wucherung. Sie war nur der Ort, von dem aus man dieses Heranwälzen begriff. (GS, 146)

Diese zivilisationskritische Perspektive über den Niedergang der Zivilisation und das Um-sich-greifen der Natur, die angekündigte ›Naturgeschichte der Zerstörung‹, wird von der Erzählerin an das Ende ihres Berichts über die Schwester gestellt, sie steht in völligem Gegensatz zu den Zukunftsvisionen der Kindheit. Die historische, »künstliche« Zeit fällt wieder in eine natürliche Zeit zurück, der lineare, zukunftsorientierte Zeitpfeil macht einer zyklischen Geschichte Platz, wobei das Bild des langsamen Wucherns durchaus bedrohliche Züge trägt. Während die in dieser radikalen Untergangsvision ausgedrückte Zivilisations539 Ebd., S. 139 (»a post-industrial wastland without past, present or future.«). Allerdings war die hier dargestellte Provinz nie industrialisiert, sondern Übungsgelände der dort stationierten Armee. 540 Fuchs 2013, S. 213. 541 Ebd., S. 222. 542 Ebd., S. 226.

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kritik auch an einen wichtigen Topos der späten DDR-Literatur erinnert, differiert der Text in den daraus gezogenen Schlussfolgerungen. Die Kritik am Zivilisationsprozess, an den negativen Folgen der Modernisierung und der Entfremdung vom Naturzustand ging bei Autoren wie Heiner Müller, Volker Braun und Christa Wolf mit dem Festhalten an einem utopischen Projekt gemeinschaftlichen Lebens einher, für das die in den sozialistischen Staaten bzw. in der Dritten Welt herrschende Verlangsamung als Gegenkraft zur beschleunigten Welt des Kapitalismus Voraussetzung war.543 Von einer solchen scheinbar realisierbaren Utopie ist in Schochs Roman nichts mehr zu spüren. So kommentiert die Erzählerin die Vision ihrer Schwester: Wir sind zu früh. […] Die Zeit, die da herangebrochen war, war noch nicht die für uns bestimmte, noch nicht die richtige. Alles mußte erst wieder ein früheres Stadium durchlaufen, mußte überwuchern wie vor Ewigkeiten, bis sie irgendwann beginnen würde. Wir standen nicht am Anfang von etwas ganz Neuem, wir konnten nur dem Ende noch zusehen. (GS, 147f.)

Auch der Gedanke des »Zu-früh-Seins« ist ein intertextueller Verweis auf die DDR-Literatur, und zwar auf Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. aus dem Jahre 1968,544 wo die an Leukämie erkrankte Christa T. feststellt, zu früh geboren zu sein, da man an dieser Krankheit nicht mehr lange sterben werde.545 Der Roman zeige aber auch, so Julia Schoch, dass »Christa T. […] an einem Land [scheitert], das den Einzelnen mit seinen Träumen und Hoffnungen verkümmern lässt…«.546 Den optimistischen Fortschrittsvorstellungen der älteren Generation, die darauf hofft, dass Individuelles und Gesellschaftliches bald in Einklang stehen werden, stellt Julia Schoch die Erfahrungen einer Generation gegenüber, die mit einem »Versprechen auf Zukunft« aufgewachsen ist, welches weder vor noch nach 1989 eingelöst wurde.547 Hatte die Generation von Christa Wolf den Eindruck, mit dem sozialistischen Projekt am »Anfang von etwas ganz Neuem« zu stehen, wie es in Schochs Roman heißt, blickt die Enkelgeneration nur noch auf dessen Trümmer, ohne in der Gegenwart Möglichkeiten eines wirklichen Neuanfangs zu finden. Rückblickend sieht Schoch ihren Roman als ihre »späte Antwort auf die ›DDR-Literatur‹«, »eine Art Bogen zurück«. Wolfs Buch stellte den »Beginn von etwas« dar, »den es vielleicht höchstens zu korrigieren galt. Im Gegensatz dazu war mir in meinem eigenen Buch dann später, als würde ich einen Vorhang zuziehen. Hier ging eine Geschichte zu Ende.«548 543 544 545 546 547 548

Vgl. dazu ausführlich Herzinger/Preußer 1991. Vgl. zum Intertext von Christa Wolf das Porträt Julia Schochs von Meyer-Gosau (2009). Wolf 2007, S. 215. ›Der klassische Held‹. Schoch 2009, S. 69. Meyer-Gosau 2009, S. 28. Schoch/Hähnel-Mesnard 2021, S. 143.

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Insgesamt vermittelt Schochs Roman eine Geschichtserfahrung, die auf das Scheitern unterschiedlicher Gesellschaftsmodelle verweist. Gleichzeitig hinterlässt die Schwester mit ihrer Vision der Erzählerin eine Art Testament: Die Wahrheit ist anders. Ist die, daß sie mich ablenken wollte von meinem sicheren Schmerz, mich in eine andere Richtung leiten, einmal nicht der Vergangenheit zu. Daß ich endlich dorthin blicken müßte, wo noch nichts ist, einer Zeit entgegen, die noch lange nicht begonnen hat, in der noch gar nichts geschehen ist. Absolut nichts. (GS, 150)

Auch die letzten Gedanken des Romans kreisen um die Zukunft und machen deutlich, dass man auf diese Zeitkategorie kaum verzichten kann. Zukunft erscheint jedoch als neue, leere, gänzlich unbeschriebene Zeit, frei von den (enttäuschten) Hoffnungen und Projektionen vergangener Epochen. Insofern lässt sich der Eingangssatz des Romans – »Was weiß diese Zeit von einer anderen.« – auch als in die Zukunft gerichtet deuten. In Einklang mit ihrer fiktionalen Gestaltung des »Zu-früh-Seins« bezeichnet Julia Schoch auch die Zeit und den Ort ihres Wirkens als »Zwischenzeit«: Noch heute schießt mir […] vor altem Gemäuer sofort in den Sinn: Ich komme zu spät. Oder zu früh. Das Gefühl, dass das Eigentliche schon geschehen ist. Das nächste Eigentliche noch nicht begonnen hat. Wie sehr ich also Bewohner einer Zwischenzeit bin. […] Das Wesentliche der Geschichte scheint schon passiert zu sein, bei der Ankunft. Es kommt einem arrangiert entgegen, angelegt, verwaltet. So dass der eigene Anteil nicht mehr – oder vielmehr: noch nicht? – gilt.549

Diesen eigenen Anteil durch die Literatur zu entwickeln ist das Credo der Autorin, die die Gegenwart nicht als solche akzeptiert und als produktive Zwischenzeit versteht, der es Sinn abzuringen gilt, nicht in Anlehnung an die existierende Realität, sondern in der Differenz zu ihr. Den vielleicht selbst utopischen Anspruch einer »Literatur als etwas Notwendigem«550 entnimmt sie der DDRLiteratur,551 mit der die Autorin trotz der erfahrenen Brüche in Dialog steht und deren emphatisches Literaturverständnis sie übernimmt.552

549 ›Ich, Bewohner einer Zwischenzeit‹. Schoch 2009, S. 11. 550 ›Eine Rede‹. Schoch 2005, S. 49. 551 Insofern schreibt sich Schoch auch in einen literarischen Kontext ein, der über das Ende der DDR hinauswirkt und den Janine Ludwig und Mirjam Meuser unter dem Konzept der littérature engagée zusammengefasst haben. Ludwig/Meuser schließen die jüngere Generation, die erst nach dem Ende der DDR zu schreiben begann, bewusst aus, obwohl deren Einbeziehung durchaus relevant wäre. Vgl. Ludwig/ Meuser 2009, S. 16. 552 Dazu gehören auch die ersten eigenen Leseerfahrungen und der »heilig[e] Ernst«, den sie mit Büchern verband. Vgl. Schoch/Hähnel-Mesnard 2021, S. 142.

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2.2.4. Zeitgestaltung, Erzählhaltung und Erinnerung Die erzählte Zeit des Romans umfasst ungefähr dreißig Jahre und erstreckt sich von den 1980er Jahren in der DDR553 bis in die Erzählgegenwart hinein, welche fast zwanzig Jahre nach dem Umbruch von 1989 zu situieren ist (GS, 23). Der Roman enthält nur sehr wenige konkrete Zeitangaben, die beim Lesen rekonstruiert und abgeglichen werden müssen, sodass der Eindruck einer gewissen Zeitlosigkeit entsteht.554 Die erzählten Ereignisse sind fragmentarisch, allgemeine Überlegungen wechseln sich mit Erinnerungen der Erzählerin ab, mit Informationen und Vermutungen über die Schwester, mit eingestreuten Reflexionen über das Schreiben. Die kurzen Erzählfragmente folgen keiner chronologischen Anordnung, die einzelnen Abschnitte sind durch Leerzeilen voneinander getrennt. Die Zeitebenen wechseln häufig und zahlreiche Analepsen und Prolepsen unterstreichen den anachronischen Gestus des Erzählens. Das Hin- und Herspringen zwischen den Zeitebenen, zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, verleihen dem Text eine Unruhe, die dem Charakter der Schwester und ihrer Orientierungslosigkeit entspricht. Das Aus-der-Zeit-Gefallen-Sein, welches die Erzählerin für ihre Schwester konstatiert (GS, 11), wird durch die vage gehaltenen Zeitangaben unterstrichen. Der Rückgriff auf Prolepsen nimmt dem Erzählten von Beginn an jede Hoffnung, so als würde die Semantik der Erzählstruktur selbst die Aussichts- und Zukunftslosigkeit der Schwester widerspiegeln. So heißt es gleich zu Beginn: »Bevor sich meine Schwester in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf.« (GS, 9)555 Auch Franziska Meyer hat Schochs komplexe Inszenierung der Zeit als asynchron und entfremdend beschrieben sowie auf den dominanten Nominalstil hingewiesen, der dem Erzählten einen statischen Charakter verleiht, welcher der Bewegungslosigkeit der Figur der Schwester entspreche.556 Das Projekt der Erzählerin ist es, nach dem Selbstmord der Schwester deren Geschichte zu erzählen, sie zu bewahren,557 wobei sie hauptsächlich auf ihre eigene Erinnerung zurückgreift und das Bild, das sie sich bisher von ihrer Schwester gemacht hatte, korrigieren muss. In einem metafiktionalen Kom553 Als die Schwester kurz vor ihrem Tod die Wohnsiedlung noch einmal besucht, ist ihre »Ankunft in der Siedlung dreißig Jahre« her (GS, 83). 554 Darauf hat bereits Lartillot (2015, S. 318) hingewiesen. 555 Weitere Beispiele: »Fünfzehn, sechzehn, siebzehn Jahre später, wenn es vorbei ist, […] wird all das nicht mehr wichtig sein.« (GS, 25) »Später, wenn der Staat in sich zusammengefallen sein wird, […].« (GS, 43). 556 Meyer 2012, S. 185. 557 Anlässlich des letzten Telefongesprächs heißt es: »Daß sie jemanden brauchte, der, was sie erzählte, ohne Einwurf hinnahm. Besser noch: aufhob, denke ich jetzt.« (GS, 11)

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mentar thematisiert die Erzählerin die Möglichkeit, »der Wahrheit des anderen« (GS, 14) gerecht zu werden und verweist auf ihr problematisches Schreibprojekt insgesamt. Denn die Rekonstruktion des Lebens der Schwester erfolgt in weiten Teilen aus deren Innensicht, sodass eine ›authentische‹ Erzählung kaum geliefert werden kann, zumal sich die Erzählerin in der Einschätzung der Schwester, wie sie selbst eingestand, irrte.558 Und dennoch scheint es, als würde die Fiktion der Wahrheit näher kommen als vermeintliche Authentizität. Im Roman wird diese Unsicherheit immer wieder durch metafiktionale Einwürfe signalisiert, die den spekulativen Charakter des Erzählten kenntlich machen,559 auch Konjunktivierungen und Modalisierungen verweisen auf dessen unsicheren Status: »Es ließe sich vieles behaupten angesichts ihres ungewohnten Aufbruchs […].« (GS, 14), »Es kann gar nicht anders gewesen sein.« (GS, 39), »Es wird so gewesen sein […]« (GS, 99). Zwei ausführlichere Kommentare der Erzählerin unterstreichen dabei auch die Selektivität des Erinnerten und die Gefahr, ein falsches Bild zu vermitteln: So wird zum Beispiel das, wovon ich hier nicht spreche, vollends ausgelöscht, indem ich es beiseite lasse. Bald schon werde ich mich an meine Schwester nur noch in den Szenen und Gedanken erinnern, die ich hier notiere: Erinnern ist eine Art zu vergessen. (GS, 67) So muß es, soll es gewesen sein. […] Aber schon verwechsle ich sie, die Ausführlichkeit bei unserem Gespräch und meine Vorstellung von ihr. Was sie mir erzählte, vermischt sich schon mit allem, was ich von ihr weiß. Meine Beschreibungen zementieren, und zugleich schließt der Wortzement das wirklich Geschehene unter sich ein. Die Angst, daß das Falsche sichtbar bleibt, kann nur die Phantasie zersetzen. (GS, 70)

Während der Text Erinnerung thematisiert, unterstreicht er gleichzeitig deren Konstruiertheit und den notwendigen Rückgriff auf Imagination:560 angesichts des gesamten Schreibprojekts liest sich der letzte, doppeldeutige Satz so, als könne man auf die Befürchtung, dem Rückblick nicht gerecht zu werden, nur ostentativ mit »Phantasie« reagieren. Durch zahlreiche »metanarrative und metamnemonische Elemente […], die sich auf den eigenen Erzähl- und Erinnerungsvorgang beziehen«,561 betrachtet die Erzählerin kritisch die Möglichkeiten, sich an Vergangenes in authentischer Weise zu erinnern. Hinzu kommt, dass auf narrativer Ebene einerseits eine »Mimesis des Erinnerns« inszeniert wird, andererseits bleibt diese seltsam in der Schwebe, so als wolle der Text seine »Erinnerungshaftigkeit«562 immer wieder 558 Zur Frage der Möglichkeit dieser Innensicht vgl. auch Jeremiah 2013, S. 70. 559 Ebd. Vgl. auch Meyer 2012, S. 183. 560 Ein Aspekt, den die Autorin bereits in ihrem ersten Erzählband thematisiert: vgl. die Analyse der Erzählung »Der Exot«, Kap. 2.1.2. 561 So Bingel-Jones 2018, S. 384. 562 Basseler/Birke 2005, S. 125.

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selbst dekonstruieren. Anhand dieser beiden Begriffe haben Michael Basseler und Dorothee Birke analysiert, wie in Erzähltexten Erinnerung nicht nur allgemein reflektiert wird, sondern »konkrete Erinnerungsprozesse« durch »verschiedenste Erzähltechniken direkt zur Darstellung [kommen].«563 Dabei ist die »Grundfigur für die Inszenierung von Erinnerung […] die Rückwendung oder Analepse […]«.564 Obwohl diese Form der erzählerischen Ordnung auch in Schochs Roman dominiert, führt die sehr heterogene Zeitgestaltung des Textes dazu, dass der Gestus des Erinnerns immer wieder relativiert wird: die Zeitebenen wechseln häufig, Prolepsen bringen die Kategorie der Zukunft in den Text hinein, die Gegenwartsebene dient allgemeinen Reflexionen, beim Erzählen eines Handlungsstrangs werden immer wieder unterschiedliche Zeitformen benutzt.565 Die Erzählerin erinnert sich nicht aus sicherer Perspektive an Vergangenes, der häufige Wechsel der Zeitebenen stellt auch den Status der Erinnerung in Frage. Bei der Richtigstellung des Bildes, das sich die Erzählerin von ihrer Schwester gemacht hatte, wird sie nur auf ihre Imagination zurückgreifen können.566 War das ursprüngliche Bild angesichts des Selbstmords der Schwester vielleicht falsch, erscheint das neue Bild jedoch als rein fiktional. Das ursprüngliche, »immergleiche Bild« (GS, 9) wird gleich zu Beginn beschrieben: die Erzählerin sieht ihre Schwester abends im Regen am Gartenzaun ihres Einfamilienhauses stehen, nachdem sie die Müllsäcke herausgebracht hat, und in den Wald blicken. Dieses Bild der »Unbeweglichkeit«, »in dem alles beschlossen schien« (GS, 10), wird allmählich von einem anderen verdrängt. Es ist das Bild einer Begegnung, in dem das (scheinbar reale) Porträt der Schwester durch ein (fiktionales) Kunstwerk überlagert und überschrieben, die Begegnung als besonderer Moment der Epiphanie herausgestellt wird. Als die Erzählerin von ihrer Reise zurückkam und vom Tod der Schwester erfuhr, fand sie auch eine Postkarte von ihr vor, auf der das Gemälde »Madonna mit der Milchsuppe« des flämischen Malers Gerard David abgebildet war (GS,

563 Ebd., S. 123. Bingel-Jones zufolge stützen die metanarrativen Kommentare der Erzählerin diese »Mimesis der Erinnerung« (Bingel-Jones 2018, S. 384.), obwohl es sich hier um zwei verschiedenen Analysekategorien handelt, da sich Basseler/Birke für rein narrative Elemente interessieren. 564 Basseler/Birke 2005, S. 126. 565 So, wenn die Erzählerin über Episoden aus der Beziehung zwischen der Schwester und dem »Soldaten« berichtet. Meistens geschieht dies zwar im Präteritum (z. B. GS, 23, 30f.), aber teils auch im Präsens (GS, 36, 64, 70f.) und im Futur (GS, 26f.). 566 Die Frage der Imagination wird bereits für das Wirklichkeitsverständnis in der Kindheit thematisiert, denn es heißt an einer Stelle über das kindliche bzw. jugendliche Erzählen von bestimmten Ereignissen: »Man mußte etwas hinzufügen zur Kargheit, die außen um uns war, zum Grau der Abläufe, das uns gefangen hielt. Was vorausgeplant war, würde unweigerlich passieren. Für das Wunderbare mußten wir selbst sorgen.« (GS, 45)

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74). Die Schwester deutet mit nichts auf den kommenden Selbstmord hin. Sie berichtet lediglich von einer zufälligen Begegnung: Zuletzt schrieb sie, jemand habe sie angesprochen, dort in New York. Nein, nicht angesprochen, der Mann hatte im Vorbeigehen etwas zu ihr gesagt, er hatte sie angesehen und zwei Sätze vorgebracht, die sie verstanden hatte, obwohl es weder Deutsch noch Englisch gewesen war. Eine kurze Bemerkung am Rand nur, die sie heiter gestimmt haben muß, oder sie staunte darüber. Erst das, und nicht die Aufzählung ihrer scheinbar touristischen Aktivitäten, hat bewirkt, daß sich das Bild meiner Schwester schließlich verändert hat. (GS, 75)

Erst sehr viel später, gegen Ende des Romans, kommt die Erzählerin noch einmal auf diese Karte zurück und stellt sich den Tagesablauf der Schwester in New York und den Mann, der sie anspricht, vor. Dabei wird die nachfolgende Passage mit den Worten eingeleitet: »So kann es endlich beginnen.« (GS, 143) In Schochs Erzählung »Der Körper des Salamanders« wurde mit ähnlichen Worten signalisiert, dass die Erzählerin nun zum Schreiben übergeht und in die poetische Welt der Fiktion eintritt.567 Und auch hier beginnt die Überschreibung des bisherigen Bilds der Schwester mit der Imagination der Begegnung mit dem Fremden: »Ich weiß nicht, ob es tatsächlich um die Mittagszeit war. Aber es muß in hellem Sonnenlicht stattgefunden haben, diese seltsame Kuriosität, die sie so kurz erwähnte. Die sie selbst also gleich wieder vergessen zu haben scheint.« (GS, 144) Die Version der Erzählerin ist die folgende: ein Passant geht an der Schwester vorbei und »sagt lächelnd zu ihr: Schön. Schön, wie von David gemalt.« (ebd.) Er sagt es auf Polnisch, die Schwester versteht: Das Bild ist es, das ich seither sehe. Diese Mittagshelligkeit. Darin ihr von Scham und Erinnerung glühender Kopf, in dem das Licht keine Unterscheidung mehr zuläßt. Wie er zurücklächelt, dieser Kopf, der plötzlich die Sprache dieses Fremden versteht, wie Kinder ganz selbstverständlich verstehen, ohne Verwunderung, ohne es wahrzunehmen. Leichthin mit einemmal, und für diesen Moment ist der Abstand zur Welt getilgt. (GS, 145)

Das Bild von Davids Madonna überlagert sich mit dem Bild der Schwester in einem von der Erzählerin imaginierten epiphanischen Moment des Erkennens und Verstehens, der auch auf ihr eigenes Erkennen einer bisher nicht vermuteten »Wahrheit« über die Schwester verweist. Dass diese Wahrheit nur eine unter vielen möglichen ist, wird deutlich, wenn die Erzählerin zum Schluss einen ihrer zahlreichen relativierenden Kommentare – »Ich bin sicher. Ich nehme an. Vielleicht.« (GS, 96) – in eine dreifache Modalisierung umwandelt: »Vielleicht. Es scheint. Ich nehme an.« (GS, 150) 567 »[…] endlich kann ich beginnen: […]« (KS, 7); »[…] als etwas begann […]« (KS, 28). Vgl. Kap. 2.1.1.

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Wie Hanna Bingel-Jones in ihrer Analyse des Romans angemerkt hat, stellt sich durch die »stetige Zurschaustellung des Erzähl- und Erinnerungsaktes« eine »Aufmerksamkeitsverschiebung […] von der narrativ ausgestalteten Textwelt hin zu den sprachlichen Sinnstiftungs- und Verarbeitungsprozeduren von Welt und Erfahrung […]« ein.568 Das im Roman Dargestellte, auch in Bezug auf die DDR, sei nicht »dokumentierte Vergangenheit, sondern die nachträglich geformte Imagination einer Ich-Erzählerin, die im Bemühen um biographische Gewissheit gewahr wird, wie fremd sie der eigenen Vergangenheit gegenübersteht.«569 Auch Françoise Lartillot hatte bereits darauf hingewiesen, dass Schochs Roman den Mauerfall und dessen Folgen nicht durch einen allein referentiellen Bezug auf das historische Ereignis darstellt.570 Das durch metanarrative Kommentare und eine besondere Zeitgestaltung inszenierte Nachdenken über die Erinnerung an die Schwester kann demnach auch als Reflexion über den möglichen Zugang zur Vergangenheit überhaupt gelesen werden, die für die Generation der Autorin nur unter Rückgriff auf Imagination und Fiktionalisierung möglich ist. Dies soll anhand von Aussagen aus Schochs Essais noch einmal verdeutlicht werden.

2.2.5. Zugang zur Vergangenheit als Imagination Erinnerung wird von Julia Schoch oft als etwas Problematisches beschrieben, insofern sie sich auf etwas nicht mehr Belegbares bezieht. »Ich habe keine Beweise mehr für meine Vergangenheit«571, schreibt die Autorin, und führt weiter aus: Zwischen dem, was ich als Kind und dem, was ich als Erwachsene gelernt und erlebt habe, fehlt der Übergang. Es handelt sich um zwei Welten, die nicht das Geringste miteinander zu tun haben. […] Die Verbindung zu meiner Kindheit jedenfalls ist kein Haus, das ich besuchen, kein Ort, zu dem ich hinpilgern könnte, kein Friedhof mit einer Stele oder wenigstens einem schlichten Grabstein darauf.572

Nun ist es eine Eigenschaft von Kindheit im Besonderen und von Vergangenem im Allgemeinen, im Laufe der Zeit an Präsenz zu verlieren; materielle Spuren lösen sich auf, verschwinden, werden zerstört. Der Erinnerungsprozess selbst beruht auf der Evokation des nunmehr Abwesenden, davon zeugt bereits die auf der Simonides-Legende gründende Geburt der Mnemotechnik, die »die Macht 568 Bingel-Jones 2018, S. 390. 569 Ebd., S. 396. 570 »Vingt-cinq ans après, il est possible de dire que ces romans qui évoquent la chute du Mur et éventuellement ses conséquences ne le font pas par référence exclusive à l’événement historique.« Lartillot 2015, S. 333. 571 ›Meine Mythomanien‹. Schoch 2014, S. 4. 572 Ebd.

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des menschlichen Gedächtnisses über Tod und Zerstörung hinweg«573 repräsentiert. Das Besondere der hier erinnerten ostdeutschen Kindheit ist die Geschwindigkeit und die Radikalität, mit der in kürzester Zeit die früheren Anhaltspunkte verloren gehen, wobei die Erinnerung von der »Phantasie nach und nach so verändert worden [ist], dass sie zu einer eigenständigen Welt des Vergangenen geworden ist«, so Schoch.574 Dass Erinnerungen flüchtig, unstabil und unzuverlässig sind,575 gehört zu den Erkenntnissen der Gedächtnisforschung; immer wieder wird ihr subjektiver, selektiver und konstruktiver Charakter unterstrichen.576 Julia Schoch betont dieses Phänomen jedoch noch einmal besonders, indem sie ihre »geheime, selbstgebaute Welt« auch gegen die in Geschichtsbüchern dargestellte »wirklich[e] Wirklichkeit«577 verteidigt. Sie selbst sei angesichts des Verschwindens des Vergangenen zur »Lügnerin« und »Mythomanin«578 geworden: »Wer in der Schwerelosigkeit der Gegenwart aufwächst, weiß, dass nur die eigene Imagination die Fäden zurück zur Vergangenheit spinnen kann. Die Verbindung zum Gewesenen muss immer wieder neu erfunden werden. Nicht geschichtliche Exaktheit, sondern die Phantasie hält die Räume zusammen.«579 Die Tatsache, dass Julia Schoch die Rolle der Phantasie immer wieder unterstreicht, verweist auf eine Schreibhaltung, die durch ihre Zugehörigkeit zu den jüngsten Jahrgängen ihrer Generation erklärbar ist. Obwohl auch Lutz Seilers und Jenny Erpenbecks Texte Fiktionen sind und Vergangenes unter Rückgriff auf Phantasie gestalten, scheint ihr Verhältnis zur Vergangenheit weniger durch Verunsicherung geprägt. So nutzt Seiler bestimmte Gefühle und Empfindungen, die an frühere Gegenstände und Situationen gebunden und offensichtlich fest in der Erinnerung verankert sind, um diese in der Gegenwart für sein Schreiben zu reaktivieren: »Meine Erinnerungen an diese Zeit [die Kindheit] bestehen aus Geräuschen, Dingen und Materialien. Wenn das möglich ist, würde ich sagen, meine Herkunft war eingebettet in eine Dingwelt von gestern und haftete ihr an […]«.580 Für Jenny Erpenbeck scheint die Erinnerung gerade die verlorene Wirklichkeit zu ersetzen: »Meine Erinnerung beruft sich auf eine Wirklichkeit, die weggekippt ist, als Erinnerung ist sie aber wirklich.«581

573 574 575 576 577 578 579 580 581

Assmann 2003, S. 36. ›Meine Mythomanien‹. Schoch 2014, S. 4. Vgl. Assmann 2003, S. 249. Erll 2005, S. 7. ›Meine Mythomanien‹. Schoch 2014, S. 4. Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. ›Heimaten‹, in: Seiler 2004, S. 38. Vgl. Kap. 1.1.1. ›Im Jenseits der Altstoffe‹, in: Erpenbeck 2018, S. 113.

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Man könnte Julia Schochs Verhältnis zur Vergangenheit im Vergleich zu den etwas Älteren mit dem von Marianne Hirsch eingeführten Begriff der »Postmemory« charakterisieren. Ohne dieses oft recht inflationär gebrauchte Konzept überzustrapazieren, das ursprünglich in Bezug auf die Kinder von Holocaustüberlebenden entstand und stark an Formen transgenerationeller Weitergabe von Traumata gebunden ist,582 ist die für die »Nacherinnerung« charakteristische Lückenhaftigkeit, der kreative Bezug zur Vergangenheit sowie der Rückgriff auf Imagination,583 aber auch der ständig währende Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart auch für andere Erinnerungskontexte zutreffend.584 Julia Schochs Generation, die zur Zeit des Mauerfalls 15 Jahre alt war, gehört einerseits zu den Zeitzeugen, die die Ereignisse bewusst miterlebt haben, andererseits sind ihre Erfahrungen mit dem Staat DDR begrenzt und einfach abgebrochen, ohne dass eine eindeutige Positionierung möglich gewesen wäre. Gerade dies führt zu einer imaginativen Auseinandersetzung mit den nicht gelebten Aspekten der Vergangenheit, wie die Thematisierung des Möglichkeitsraums nicht gelebter Zukunft im Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers verdeutlicht. Man müsste jedoch im Falle dieser Generation eher von einer Spannung zwischen Erinnerung und kreativer und imaginativer »Nacherinnerung« sprechen. Wird das Konzept der »postmemory« vor allem mit traumatischen Gedächtniszusammenhängen in Verbindung gebracht, so muss auch hier im Zusammenhang mit der DDR relativiert werden: trotz der Darstellung staatlicher Zwänge berichtet die junge Generation in der Regel nicht von traumatisierenden Diktatur-Erfahrungen.585 Der plötzliche Verlust des bekannten Lebenszusammenhangs, die schnellen Veränderungen, die notgedrungene Neuverortung der eigenen Identität werden jedoch als tiefer Einschnitt empfunden. Julia Schoch spricht in diesem Zusammenhang von einem »Schmerz«, den sie nur durch die imaginäre Rückerinnerung »aushalten«586 kann, an anderer Stelle schreibt sie über die Abwesenheit der eigenen Geschichte: »Ich verstand, dass die Tatsache, keine Vergangenheit zu haben, eine bestimmte Form der Melancholie bewirkt.«587 Erinnerung, so Aleida Assmann, ist immer retrospektiv, »setzt diese doch erst dann ein, wenn die Erfahrung, auf die sie sich bezieht, abgeschlossen im Rücken liegt.«588 Das Besondere an der Literatur Julia Schochs ist das Bewusstsein, dass für die Figuren 582 Hirsch 2012, S. 6. 583 Hirsch 1997, S. 22. 584 Hirsch (2012, S. 18f.) hat selbst die mögliche Ausweitung ihres Konzepts nicht nur auf andere Generationen und nicht direkt Betroffene, sondern auch auf andere historische Zusammenhänge suggeriert, wobei der Begriff des Traumas jedoch zentral bleibt. 585 Vgl. dazu Leinemann/Schmelcher 2002. 586 ›Meine Mythomanien‹. Schoch 2014, S. 4. 587 ›Brandenburg liegt am Pazifik‹. Schoch 2015. 588 Assmann 2003, S. 11.

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die vergangenen Erfahrungen gerade nicht abgeschlossen sind und als unterschwellige Prägungen weiter wirken.

2.3. Das Glücksspiel als Metapher der Gegenwart, Geschichte als Episode: Selbstporträt mit Bonaparte (2012) Während Mit der Geschwindigkeit des Sommers als Auseinandersetzung mit in der DDR vermittelten Zeitmustern, daraus entstandenen Prägungen und deren Folgen in der Gegenwart verstanden werden kann, liest sich Julia Schochs dritter Roman Selbstporträt mit Bonaparte erst auf den zweiten Blick in einer ebensolchen Perspektive. Im Vordergrund stehen eine zum Zeitpunkt des Erzählens gescheiterte Liebesbeziehung, an die sich die namenlose homodiegetische Erzählerin rückblickend erinnert, sowie die Leidenschaft des Paars für das Glücksspiel. Obwohl die Handlung weitgehend von gemeinsamen Kasino-Besuchen und der »ewige[n] Gegenwart des Spiels«589 beherrscht wird, findet die erste Begegnung der beiden Protagonisten symbolisch vor dem Hintergrund der Vergangenheit statt. Die Erzählerin, eine von Auftragsarbeiten lebende Autorin, und Bonaparte treffen sich zufällig auf einer »Konferenz für Historiker«, »die den Titel trug Ansichten der Vergangenheit oder Vergangene Ansichten, vielleicht auch Angesichts des Vergangenen« (SB, 19). Die Konferenz handelte ausschließlich von der »Revolution (1989)« und die Erzählerin war eingeladen worden, um »etwas zu Geschichte und Prosa zu sagen« (ebd.). Der Historiker Bonaparte erforscht wie seine anwesenden Kollegen die friedliche Revolution von 1989, scheint seinem Gegenstand jedoch sehr distanziert gegenüberzustehen: er »verströmte […] beim Reden eine merkwürdige Gleichgültigkeit.« (SB, 20) Die Zufallsbegegnung beruht wie in Verabredungen mit Mattok auf einem geheimen Einverständnis: nach einem kurzen Gespräch auf der Tagung folgt Bonaparte der Erzählerin drei Tage später an die Ostsee, wo ihre Beziehung sowie ihre gemeinsame Spielkarriere im örtlichen Kasino beginnt. Ähnlich wie in Schochs erstem Roman ist das Zusammensein der beiden unkonventionell, »eine sonderbare Unverbindlichkeit auf Dauer« (SB, 34): Bonaparte kommt und geht und bleibt nie lange, bis er schließlich ganz verschwindet.590

589 Schoch 2012, S. 19. Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf Selbstporträt mit Bonaparte beziehen, mit der Sigle SB direkt im Text angeführt. Hervorhebungen im Original. 590 Auf Ähnlichkeiten mit Mattok hat auch Druxes hingewiesen. Ihre Charakterisierung Bonapartes als »ruhelosen ›global player‹« und Vertreter des neuen Neoliberalismus wird der Figur jedoch kaum gerecht. Vgl. Druxes 2014, S. 170.

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Vom »Bruch im Leben«. Transformationserfahrung im Werk von Julia Schoch

Während Verabredungen mit Mattok vor allem widerständige Verhaltensweisen angesichts einer sinnentleerten Gegenwart inszeniert und nur am Rande von den geschichtlichen Prägungen der Figuren handelt, tritt dieser Aspekt der Vergangenheit in Selbstporträt mit Bonaparte stärker in den Mittelpunkt. Das Glücksspiel erscheint als einzig angemessene Reaktion auf eine Gegenwart, deren Wahrnehmung durch die Vergangenheit geprägt ist, die Beziehung beruht in großen Teilen auf einer gemeinsamen Erfahrung des Verlustes und des Übriggeblieben-Seins, so dass auch hier letztendlich die Zuwendung zum Vergangenen den Blick in eine Zukunft ersetzt, die nicht mehr zu existieren scheint. Wie in allen bisher analysierten Texten Schochs spielen auch in diesem dritten Roman Reflexionen über die Zeit eine wesentliche Rolle,591 die im Text sowohl symbolisch figuriert als auch im Erzählerbericht thematisiert wird. Insofern soll zunächst das Glücksspiel als literarische Parabel spätmoderner Zeitwahrnehmung gelesen werden, bevor das problematische Verhältnis der Figuren zu ihrer Vergangenheit sowie die geschichtsphilosophischen Vorstellungen des Historikers Bonaparte untersucht werden.

2.3.1. Zeitlosigkeit des Spiels Das Universum des Glücksspiels, vornehmlich des Roulettes, dominiert die Beziehung der beiden Protagonisten, doch wird zu Beginn des Romans auch deutlich, dass die Zuwendung zum Spiel eine Folge der Wahrnehmung von Zeit bzw. des Daseins in der Zeit ist. Während dem Roman ein Motto aus dem amerikanischen Film Thomas Crown ist nicht zu fassen (1968) vorangestellt wird, das auf die Monotonie und Ereignislosigkeit des Alltags verweist – »Aber die Zeit vergeht, und was passiert eigentlich?« (SB, 7) –, scheint der erste Absatz zu suggerieren, dass das Spiel einen Ausweg aus dieser Gleichförmigkeit bietet: Und dann, in jener langen Sekunde, wenn die Kugel noch unterwegs ist, wenn sie sich noch nicht entschieden hat für eine Zahl, ist alle Zeit ausgelöscht. Keine Zukunft, keine Vergangenheit. Für diesen einen Moment kann man beruhigt sein, die Welt, sie wartet noch. In welch sonderbarer Zeit spielt das, was ich erzähle? (SB, 9)

Das im Zeitlupenstil beschriebene Spiel enthält einen Moment der Ungewissheit, der alle Zeitorientierungen vergessen lässt, einen Moment reiner Gegenwart, auf den Gewinn oder Verlust folgen, der aber selbst noch unbestimmt und in der Schwebe ist. Es gibt keine Vergangenheit mehr und noch keine Zukunft – zwei Zeitkategorien, die für die Protagonisten aus Erfahrung problematisch sind. 591 Vgl. dazu auch Cosentino 2014.

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Die Kindheit und Jugend in dem nicht mehr existierenden Land werden von der Erzählerin als Abfolge von Zwängen beschrieben, die ständige »Notwendigkeit, Rechenschaft abzulegen und [s]ich zu positionieren, [s]ich der Zukunft zu stellen […]« (SB, 27) war ebenso penibel wie der Verdacht, eine »Gegnerin von Grenzen, Mauern […]« (SB, 75) zu sein und die Konsequenzen für den weiteren Lebensweg tragen zu müssen. Dennoch führt der plötzliche Verlust dazu, »dass man selbst das Verschwinden von etwas Falschem, Hässlichen bedauern könne. Weil es ganz und gar zu einem gehört hat.« (SB, 119) Die mit dieser Vergangenheit verbundene Zukunftsausrichtung, Thema fast aller Texte Schochs, wird im Roman auf paradoxale Weise erinnert, als Zwang, aber auch als »Zukunftsfreude«, die die Erzählerin die »ganze Kindheit über« in sich spürte und die plötzlich »über Nacht abhandenkomm[t] […].« (SB, 109) Die diesen Verlust auslösenden gesellschaftlichen Veränderungen waren in den Augen der Erzählerin dürftig, erneut erscheint die Gegenwart als unbefriedigend: »Nur eine Kleinigkeit, ein winziger Umschwung der Zeitläufte, und schon lassen die Menschen ab von ihren Ideen […]« (ebd.). Was auch bedeutet: auf Ideen, auf Projektionen wird nunmehr verzichtet, die vermeintlich offene Zukunft erweist sich als eine nicht mehr greifbare Kategorie. Die Erzählerin richtet sich in einer Gegenwart ein, die von der Leidenschaft zum Spiel ebenso wie von ihrer Liebe zu Bonaparte geprägt ist und die sie als ihre »rückwärtige Existenz« bezeichnet, diejenige, »auf die es tatsächlich ankommt« (SB, 12) und die sie einer Biografie entgegensetzt, der die »verführerisch[e] Vorstellung einer Leiter des beruflichen und persönlichen Vorankommens« (SB, 13) zu Grunde liegt. Dem Gedanken einer linearen Entwicklung von Lebenszeit stellt sie »das ewig Gleiche eines Menschen« (ebd.) gegenüber, und die Bedeutung, die sie dieser »Rückseite der Lebenserzählung« (ebd.) beimisst, verweist darauf, dass die herkömmliche Biografie, das herkömmliche Leben kaum noch Sinn vermittelt. So sind die mit gewöhnlichen Handlungen verbrachten Tage eine leere, sich im Stillstand befindende Zeit, sie laufen, »obwohl gefüllt, auf nichts [hinaus]. Jede Tätigkeit in Wirklichkeit ein Herumzappeln, nur dazu da, die Zeit auszufüllen, bis wir uns wiedersehen.« (SB, 13f.) Auch was Bonaparte betrifft, erscheint dessen Tätigkeit als Historiker an einem »Institut für Zeitgeschehen und Gegenwart«592 nur »wie ein Zeitvertreib, so lange bis – ja, was geschehen würde?« (SB, 47). Bei ihrer ersten Begegnung auf der Konferenz hatte Bonaparte selbst bereits bestätigt, »es könne um nichts anderes gehen als darum, die Zeit angemessen herumzubringen […]« und die Erzählerin kommentiert: »Vielleicht, so denke ich jetzt, ist unsere Leidenschaft fürs Roulette tatsächlich nie etwas

592 Als außertextuelle Referenz des in »Pe« spielenden Romans ist dahinter unschwer das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung zu erkennen.

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anderes gewesen als eine Form des Ausharrens. Eine Art, die Zeit zu überstehen am behaglichsten aller Orte.« (SB, 82) Das Kasino ist ein Ort der Zeitlosigkeit, an dem das natürliche Zeitempfinden aussetzt593 und die üblichen Kategorien einer linear voranschreitenden Zeit nicht gelten: »In der ewigen Gegenwart des Spiels gleicht sich alles. Für jemanden, der in der Wiederholung lebt, wird die Zeit zu einem Block, massiv und undurchdringlich, die Unterscheidung von zuerst und später sinnlos.« (SB, 34) Dies gilt bereits für die Zeit der Kindheit, als das Spielzeugroulette es der Erzählerin erlaubte, in ein anderes Universum einzutauchen, das Roulette »war der Inbegriff einer gänzlich anderen Welt«, es war »verheißungsvoll« angesichts eines Lebens »in einer verschlafenen Kleinstand am äußersten Rand eines verriegelten Landes« (SB, 17). In der Vergangenheit als auch in der Gegenwart erscheinen das Spiel und das Kasino als Orte des Möglichen – »Roulettespieler sind Menschen der Möglichkeit« (SB, 69) – die den Begrenzungen und Einschränkungen der jeweiligen Gegenwart etwas Anderes, Ungewisses entgegenstellen. Die Spieler werden als zeitlose »Märchenfiguren« (SB, 50) beschrieben, »ohne Erinnerung an ein Draußen oder ein Davor, an das, was früher einmal war.« (SB, 51). Das Kasino ist ein Ort, an dem man sich der Welt entziehen kann: »Mit ihren überschaubaren Regeln, den uhren- also zeitlosen Interieurs, ihren samtenen Abpolsterungen gegen das Draußen sind sie die sichersten Orte der Welt.« (SB, 83) Auch das Kasino erscheint als heterotoper und heterochroner Ort einer Anderszeitlichkeit. Der Wiederholungszwang, die Abhängigkeit vom Spiel sind eine Alternative zur außerhalb des Ortes herrschenden Zeitrechnung. Mit dem ersten Kasinobesuch durchschreitet der Spieler eine Schwelle, »eine Tür, durch die ein Spieler für ein Mal hindurch muss, in die ewige Gegenwart des Spiels hinein.« (SB, 19) Diese Zeitlosigkeit eines liminalen Ortes594 prägt auch das subjektive Zeitempfinden der Erzählerin, die ihre Beziehung zu Bonaparte, ihre unverbindlichen Begegnungen und die Trennung von ihm zeitlich nicht genau situieren kann: »Bonaparte ist weg. Seit einem oder hundert Tagen. Zum ersten oder hundertsten Mal haben sich unsere Wege getrennt.« (SB, 13).595 Zeit wird nicht mehr objektiv gemessen, sondern nur noch subjektiv wahrgenommen, auch 593 So heißt es über das erste gemeinsame Spiel im Kasino an der Ostsee: »Drei Stunden, vielleicht auch zehn oder einen ganzen Tag hatten wir am Roulettetisch verbracht. Während des Spielens kein Blick auf die Uhr.« (SB, 24) 594 Zum Zusammenhang von Liminalität und Zeitlosigkeit vgl. auch die Kapitel zu Lutz Seiler, vor allem 1.1.1. und 1.2.1. 595 Die Beziehung zu Bonaparte muss über Jahre angedauert haben (»zu früheren Zeiten«, »Mit den Jahren«, SB, 30), die subjektiven und sichtlich übertriebenen Zeiteinschätzungen werden an mehreren Stellen des Romans wiederholt: »[…] Venedig, wohin ich Wochen oder Jahre nach Bonapartes Abreise gefahren bin« (SB, 83), »vor zwei oder zweihundert Jahren« (SB, 86), »nach Tagen oder Wochen« (SB, 104), »an diesem Abend vor fünf oder hundert Monaten.« (SB, 132)

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Bonaparte lebt wahrscheinlich nach einer eigenen, »andere[n] Zeitrechung« (SB, 15). Es scheint, als ginge nach dem Heraustreten aus einer kollektiven, linearen Zeit tatsächlich jede Uhr anders, um das in der Einleitung zitierte Gedicht von Durs Grünbein zu paraphrasieren. Obwohl sich die Erzählerin in Selbstporträt mit Bonaparte dagegen verwehrt, dass die Literatur in der Regel »das Spiel […] als Metapher missbraucht« (SB, 54), funktioniert der Topos des Spiels im Roman selbst als Metapher für die Befindlichkeiten und die Zeitwahrnehmung der Figuren. In diesem Sinne kann die im Zentrum stehende Thematik des Spiels auch mit Kategorien aus der Zeitsoziologie der Spätmoderne beschrieben werden. Die im Roman dargestellte Lebensphilosophie der Figuren, die auf eine klassische Verortung anhand der Daten eines linearen »Lebenslaufregimes«596 verzichten, entspricht der in der Spätmoderne vorherrschenden »situativen Identität«, d. h. der Tendenz zu »offene[n], experimentelle[n] und oft auch fragmentarische[n] Lebensentwürfe[n]«.597 Hartmut Rosa bringt eine solche spätmoderne, transitorische Identität mit neuen Formen der Zeitauffassung in Zusammenhang, die als »Verzeitlichung der Zeit« beschrieben wurden: »Verzeitlichung der Zeit meint, dass über Dauer, Sequenz, Rhythmus und Tempo von Handlungen, Ereignissen und Bindungen erst im Vollzug, und das heißt: in der Zeit selbst entschieden wird, sie folgen keinem vordefinierten Zeitplan mehr.«598 Diese Beschreibung einer Zeitwahrnehmung, die Rosa auch als »zeitlose Zeit«599 bezeichnet und in ihren soziologischen Konsequenzen analysiert, assoziiert er mit der neuen »Lebensstilfigur […] des ›zeitjonglierenden Spielers‹«600, der »über Tempo und Dauer von Ereignissen und über Anschlusshandlungen nicht im Rahmen eines Gesamtplanes oder eines abstrakt-linearen Zeitkonzeptes entscheidet, sondern flexibel und situationsabhängig, gleichsam aus der Eigenzeit und dem Zeithorizont des je aktuellen Ereignisses heraus befindet.«601 In Schochs Roman entspricht die Figurenkonstellation des Paars, das eine lose und unverbindliche Beziehung unterhält und sich der Leidenschaft des Spiels verschrieben hat, dieser neuen Form situativer Lebensführung und der damit verbundenen Zeitwahrnehmung. Damit einher gehen auch der von der Erzählerin formulierte Gedanke des Spiels als »Form des Ausharrens« (SB, 82) und das Gefühl des Wartens: »Vielleicht liegt darin die Neuartigkeit, das Paradox der sonderbaren Zeit, in der ich lebe, dass Warten und Bewegung zusammengehören 596 Als »Normalbiografie« bzw. »identitätsleitendes biografisches Orientierungsschema« der klassischen Moderne. Vgl. Rosa 2005, S. 358. Hervorhebungen im Original. 597 Ebd., S. 362. 598 Ebd., S. 365. 599 Ebd. 600 Ebd., S. 368. 601 Ebd., S. 369.

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können.« (SB, 139) Die Formulierung erinnert an das Bild des »rasenden Stillstands«, das bereits in Mit der Geschwindigkeit des Sommers das Zeitgefühl der Schwester kennzeichnete. Hartmut Rosa zufolge führt die situative Lebens- und Zeitverortung »zu einem paradoxen Umschlag, in dem aus der Erfahrung der ›verzeitlichten‹ und zugleich beschleunigten oder ›rasenden‹ Zeit plötzlich die Erfahrung der Entzeitlichung, des zeitlichen Stillstandes entsteht.« Das Gegenstück der Beschleunigung sei »die Wahrnehmung tief liegender struktureller und kultureller Erstarrung«.602 Eine weitere Konsequenz der situativen Identität sei auch, dass »das Leben als Ganzes, im biografischen Vollzug, seine Richtung [verliert], es kann nicht länger als gerichtete Bewegung verstanden werden und narrativ im Sinne einer Fortschritts- oder Entwicklungsgeschichte rekonstruiert werden.«603 Dies trifft auch auf die Erzählerin zu, wenn sie die zu Beginn des Romans gestellte Frage, »In welch sonderbarer Zeit spielt das, was ich erzähle?« (SB, 9), später noch einmal aufnimmt: In welcher Zeit findet diese Erzählung statt? Da es keine Vergangenheit gibt, was Bonaparte und mich betrifft. Es gibt eine ferne, zurückliegende Zeit, die aber trotzdem noch Bestandteil der Gegenwart sein muss. Die Gegenwart, ein einziger langer Abend, langer Spätnachmittag, an dem wir aus dem Kasino zurück durch die Stadt durch Schnee gehen. Helle Nacht […]. […] nachts um halb eins […]. (SB, 112)

Eine Verortung in der Zeit scheint unmöglich, eine Entwicklung in Richtung Zukunft nicht vorgesehen. Das Spiel macht die Zeit zu einer »gedehnten Zeit« (SB, 60), einer langen, nicht endenden Gegenwart, in der die konkreten Zeitkategorien verschwimmen (im zitierten Beispiel überlagern sich Abend, Nachmittag, Nacht). Während die Schwester in Mit der Geschwindigkeit des Sommers an einem klassischen, nach vorn gerichteten Lebensmodell festhält und daran scheitert, haben sich die Figuren in Schochs drittem Roman mit der neuen Situation scheinbar abgefunden. Das Spiel erscheint als das einzig Wichtige im Leben: die Erzählerin erklärt zu Beginn, dass ihr »außerhalb des Roulettes oft gar nichts des Erzählens wert scheint« (SB, 11), in einer Anekdote über einen berühmten Spieler heißt es, dass das Spiel der »einzig mögliche Sinn [s]einer Zeit« (SB, 73) sei. In beiden Romanen sind die gewählten Lebensmodelle und die Positionierung in der Gegenwart jedoch aus der eigenen Vergangenheit heraus erklärbar. Mit der Geschwindigkeit des Sommers zeugt von einer stark idealisierten Hinwendung zu den nicht realisierten Möglichkeiten des alten Lebens, in Selbstporträt mit Bo-

602 Ebd., S. 385. 603 Ebd., S. 384f.

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naparte leiden die Figuren stärker an einer Entwertung der eigenen Vergangenheit.

2.3.2. Vergangenheit als »Kuriosität« Die Protagonisten haben ein besonderes Verhältnis zur Vergangenheit, das in krassem Gegensatz zu ihrer Leidenschaft für das zeitlose Spiel zu stehen scheint. Während sich Bonaparte als Zeithistoriker für die jüngste – seine eigene – Geschichte interessiert, verfasst die Erzählerin immer wieder Texte über Themen der Vergangenheit. So wollte sie über einen Maler schreiben, »der sich mit der Versteppung von Landstrichen befasste. […] Er malte die Umrisse von Gebäuden, aus denen die Menschen verschwunden waren, Gehäuse, Geisterstädte, die überall dort auf der Welt zurückblieben, wo eine bestimmte Epoche beendet war.« (SB, 20f.) Es folgen Bemerkungen über die Rückkehr der Natur, der zivilisationskritische Tenor der Passage erinnert an den vorangegangenen Roman, in dem der Abriss der ehemaligen Wohnsiedlung mit zyklischen Vorstellungen von Geschichte und Naturgeschichte in Zusammenhang gebracht wird. An anderer Stelle schreibt die Erzählerin zu Fotografien »ehemaliger Schlachtfelder«, in den Augen des Fotografen könne ihr Text »das Verlorene zurückholen, ja, es sogar wiedererwecken, eine Art Gedenkschrift, die das Nicht-mehr-Vorhandene wieder spürbar machen solle.« Doch, fügt die Erzählerin hinzu, glaube sie, »dass sich gegen die abstürzende Zeit nichts unternehmen lässt und Schreiben ein schwacher Trost ist […].« (SB, 36) Während hier implizit auch das eigene Schreibprojekt, die Niederschrift ihrer Beziehung zu Bonaparte reflektiert wird, entspricht die Skepsis vielmehr der Erfahrung des Verlustes der eigenen Vergangenheit. An mehreren Stellen des Romans geht die Erzählerin auf die Veränderungen in der Stadt »Pe« (SB, 40) ein, auf die Wiederherstellung der ehemaligen preußischen Residenzstadt, hinter der sich unschwer Potsdam erkennen lässt. Nachdem deren zerstörte Überreste nach dem Krieg abgerissen worden waren, wurde nun die […] einstige Auslöschung […] rückgängig gemacht. Was die Bomben der Alliierten in den letzten Tagen des Kriegs zerstört und die Kommunisten wenig später weggerissen und mit modernen Häusern überbaut hatten, wurde wieder ausgegraben oder neu errichtet. Aber nicht, um die Erinnerungen oder die Spuren der Toten zu suchen, im Gegenteil, diese neuerliche Zerstörungswut war ein Rausch des Vergessen-Wollens. (SB, 39f.)604

604 Ähnliches beschreibt Schoch in einem Text über ihre Heimatstadt Potsdam, die sich »wieder intensiv der Vergangenheit [widmet]« und sich »[u]naufhörlich und beinahe schon wie

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Vom »Bruch im Leben«. Transformationserfahrung im Werk von Julia Schoch

Diese in der Fachsprache euphemistisch als »Rückbau« (SB, 41) bezeichnete Auslöschung der Spuren der kommunistischen Vergangenheit führt wiederum dazu, dass die noch in der Stadt lebenden Bewohner ihrer lebensweltlichen Anhaltspunkte beraubt werden: »Als hätte Bonapartes oder mein Leben hier niemals stattgefunden oder höchstens als eine Art Irrtum oder lächerliches Intermezzo, verschwand die Stadt, wie wir sie gekannt hatten.« (SB, 40) In einem Kommentar zu ihrem Buch erklärte Julia Schoch, dass die in der Stadt beobachtete Rückentwicklung von einer »einst modernen in eine restaurierte und restaurative Stadt«, dass diese »Rückwärtsbewegung auf eine komplette Ratlosigkeit der Gegenwart oder der Zukunft gegenüber« verweise. Insofern weichen ihre Figuren in das Kasino aus, »einem Gegenort zur ständigen Veränderung um sie herum«.605 Angesichts dieser Folgen der Transformation und der Tatsache, dass bestimmte in der DDR gemachte Erfahrungen im Nachhinein nur noch kurios und fremd wirken, fragt sich die Erzählerin: »Konnten wir uns überhaupt noch ernsthaft erinnern?« (SB, 74). Ein Grund ihrer Liebe zu Bonaparte liegt auch darin, »dass man ein gleichartiges Wesen braucht, um seine Vergangenheit, also sich selbst, nicht zur Erfindung werden zu lassen.« (SB, 76) Die greifbaren Spuren des ehemaligen Lebens sind immer weniger präsent und können nur noch in der gemeinsamen Erinnerung rekonstruiert werden. Mit Anspielung auf Christa Wolfs Reflexionen über ihr Verhältnis zur eigenen Vergangenheit und zum Wiedererlangen der ersten Person beim Schreibprozess zu Beginn des Romans Kindheitsmuster (1976) und in gleichzeitiger Umkehrung dieser Reflexionen stellt die Erzählerin fest: Damals wusste ich noch nicht, dass man sich an sein bisheriges Leben in der dritten Person erinnern kann. Dass es nach und nach fremd werden würde. Die Vergangenheit mochte vielleicht nicht tot sein, aber sie wurde lächerlich, taugte nur noch dazu, in einem Album der Kuriositäten verwahrt zu werden. Die vergangenen Dinge […] hatten mit unserem Leben in der Gegenwart nicht das Geringste zu tun. Sie hatten zu nichts geführt, wirkten vom Heute aus betrachtet seltsam unnütz, ein skurriles Anhängsel, die Erinnerungsreste eines peinlich-komischen Traums. (SB, 78)

Dieses problematische Verhältnis zur eigenen Geschichte erscheint als Folge der Entwertung der in der DDR gemachten Erfahrungen und führt zu einer Entfremdung gegenüber dem eigenen Ich – ein Prozess, den die Erzählerin in Kindheitsmuster aus anderen historischen Gründen ebenfalls durchlaufen hat. Während Christa Wolfs Nelly jedoch die Vergangenheit zunächst in der dritten und auch in der zweiten Person rekonstruiert, um am Ende eines langen Erunter Zwang […] in ihr eigenes historisches Kulissenbild zurück[verwandelt], eine Residenzkulisse«. Schoch 2015. 605 Vgl. Julia Schoch auf lettra.tv (2012).

Das Glücksspiel als Metapher der Gegenwart, Geschichte als Episode

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kenntnisprozesses über das Verstricktsein der eigenen Familie in den Nationalsozialismus »ich« sagen zu können, wird sich die Erzählerin bei Schoch vor allem des Verlustes der eigenen Identität bewusst, die dazu führt, sich nur noch mit Distanz zu sich selbst an Vergangenes zu erinnern und so in der ›dritten Person‹ zu verharren. Insofern kann auch der von Christa Wolf in Kindheitsmuster zitierte Faulkner-Satz »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen« von der Autorin nicht mehr mitgetragen werden. Schoch zufolge gelte dieser Faulkner-Satz seit ein paar Jahren nicht mehr, die Vergangenheit sei »mehr als tot«, da wir die Fähigkeit verloren hätten, an diese Vergangenheit anzuknüpfen, sie zu reflektieren, in die Gegenwart zu nehmen und daraus vielleicht etwas zu lernen.606 Die Vergangenheit werde immer als abgeschlossen betrachtet, so Schoch, die hier ein Geschichtsbild vermittelt, das nicht zuletzt in Folge ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Umgang mit DDR-Geschichte entstanden ist.

2.3.3. Episodenhafte Geschichte Das problematische Verhältnis zur eigenen Geschichte durchzieht den ganzen Roman und betrifft nicht nur die Erzählerin. Bonaparte hatte Geschichte studiert, »[a]ls hätte er ihr auf diese Weise eins auswischen können, der Geschichte, die ihn […] irgendwie überrumpelt hatte.« (SB, 79) Zur Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs befand er sich in der Sowjetunion und arbeitete im Ural am Bau einer Erdgastrasse, nicht aus Idealismus, sondern um der DDR-Monotonie den Rücken kehren und Geld verdienen zu können (SB, 74f.). Bei seiner Rückkehr hatte sich bereits alles verändert, er war »[p]lötzlich in eine vollkommen andere Zeit gerutscht, ohne wirklich zu verstehen, wie er da hineingeraten war.« (SB, 77) Auch die Erzählerin war »damals, genauso urplötzlich, aufgewacht […] in einer anderen Realität […].« (ebd.) Zwar wurde dieser Umbruch als Befreiung von einer teleologischen, zukunfts- und fortschrittsorientierten Geschichtsauffassung empfunden, die das Handeln der Menschen determinierte, doch folgte darauf eine bisher nicht gekannte Ziellosigkeit: Wir hatten die Geschichte nicht mehr im Nacken wie ein uns jagendes Tier. Jedenfalls war das Gefühl verschwunden, sie würde uns hetzen. Die Zeit strebte nicht mehr vorwärts. Als wäre dieser mächtige, gradlinige Strom in ein Delta gerauscht, wo er in einem Gewirr aus tausenden Nebenarmen von nun an harmlos und besänftigt dahintrieb. Die Zeit war plötzlich einfach nur da gewesen. Aber ich rede in der Vergangenheit, als wäre der Zustand nicht noch derselbe. (SB, 77f)

606 Literaturforum im Brechthaus. Schoch 2020, ab 35:00 min.

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Vom »Bruch im Leben«. Transformationserfahrung im Werk von Julia Schoch

Das Delta-Bild aus der gleichnamigen Erzählung aus Schochs Debütband wird hier wieder aufgenommen. Es suggeriert eine Entschleunigung von Geschichte, die an Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte« erinnert, oder, wie Hartmut Rosa es formuliert, »das Zuendegehen aller Bewegung«: »Es erschöpfen sich die utopischen Energien, weil alle Möglichkeiten des Geistes und der Ideen als durchgespielt erscheinen, weshalb die Ausbreitung ereignisloser Langeweile droht.«607 Im Gegensatz zu diesem Gedanken historischen Stillstands in der Gegenwart erinnert Schochs Roman noch einmal an die marxistisch geprägte Wissenschaft der DDR, indem sie Bonaparte über die »Auflösung eines Archivs […] in einem dichtgemachten Wissenschaftsinstitut« (SB, 80) berichten lässt. Während er der Vernichtung der nunmehr obsolet gewordenen Schriften beiwohnt, »[e]in halbes Jahrhundert Gedankenarbeit, das nichts mehr taugte […]«, empfand er vor allem Neid gegenüber der »Unbedingtheit, mit der all diese Schriften verfasst worden waren. Nur wer glaubt, sich unendlich in die Zukunft hinein verlängern zu können, ist fähig zur Unbedingtheit.« (SB, 81) Die von Bonaparte als »Nochisten« bezeichneten Autoren »hatten ihr ganzes Leben in einem beständigen Davor gelebt. Noch waren ihre Visionen und Voraussagen nicht eingetroffen, noch waren die Menschen, war die Welt nicht so weit, noch befand sich alles im Übergang.« (ebd.) Bonaparte selbst, der als Zeithistoriker die jüngste Geschichte nicht mit Unbedingtheit, sondern mit einer gewissen Gleichgültigkeit analysiert, vertritt eine Geschichtskonzeption, die der eigenen Erfahrung des plötzlichen Zusammenbruchs eines Gesellschaftssystems geschuldet ist. Während sein symbolisch aufgeladener Name auf ein seit dem Historizismus des 19. Jahrhunderts dominierendes lineares, nach vorn gerichtetes und fortschrittsgläubiges Geschichtsmodell verweist, folgt Geschichte Bonaparte zufolge keiner Logik: Die Menschen hatten eine falsche Vorstellung von Geschichte. Sie glaubten an eine Art Leiter, eine Treppe, auf der die Menschheit voranschreitet, mal mehr, mal weniger langsam. Diese Treppe aber gibt es nicht. Die einzelnen Momente der Menschheitsgeschichte waren nicht Stufen, sondern Pontons, den festen, breiten Blättern von Seerosen nicht unähnlich, die im ewigen Ozean der Zeit trieben und zwischen denen keinerlei Verbindung bestand. […] So gesehen gäbe es weder Vergangenheit noch Zukunft, in gewisser Weise also auch keinen Tod… Die Dinge passieren chaotisch, wirr und unberechenbar. Eine Tatsache, die die Historiker allerdings leugneten. Sie schrieben Bücher, bei denen alle Welt denken musste: So, wie es gekommen ist, konnte es gar nicht anders kommen. (SB, 115)

607 Rosa 2005, S. 41. Diese »gesellschaftliche Erstarrung«, das »Stillstehen der ideendynamischen und ›tiefenstrukturellen‹ Entwicklung« geht mit der sozialen Beschleunigung, dem »Rasen der Ereignisgeschichte« einher (ebd.).

Das Glücksspiel als Metapher der Gegenwart, Geschichte als Episode

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Geschichte wird vom Zufall geleitet, sie ist episodenhaft und im Gegensatz zu dem, was im östlichen Teil Europas jahrzehntelang gelehrt wurde, nicht voraussehbar, planbar, absehbar – eine Einsicht, die von den eigenen Erfahrungen mit dem historischen Experiment DDR herrührt.608 Gleichzeitig stellt Bonaparte jede Art historischer Meistererzählung in Frage und scheint für eine Auffassung von Geschichte zu plädieren, in der – wie Jörn Rüsen es formuliert – Zeit als »heterogene Vielfalt von Zeitlinien und -entwicklungen«609 aufgefasst wird, »als ›komplexes Netzwerk‹, als ›transversale Verflechtung und horizontale Relationierung pluraler Eigenzeiten‹«.610 In der Logik der erzählten Welt verweist dieser Gedanke einer Gleichzeitigkeit historischer Eigenzeiten ohne »Vergangenheit noch Zukunft« auf eine Gegenwärtigkeit, die im Roman immer wieder über die Metapher des Spiels thematisiert wird. So heißt es zu Beginn, »dass das Roulette, wie jedes ernsthafte Spiel, erhaben ist über die Form der Gesellschaft, ja über den Lauf der Geschichte selbst.« (SB, 18) Und wenn die Erzählerin mit einem an Johann Peter Hebel geschulten Blick Revue passieren lässt, was sich ereignet hatte, während sie mit Bonaparte Roulette spielte, dann fällt auch hier eine Gleichzeitigkeit und simultane Präsenz des Vergangenen auf, das sich jeder linearen Rückerinnerung zu entziehen scheint: In den Jahren, in denen wir Roulette gespielt haben, ging der Krieg im Irak zu Ende und fing einer in Afghanistan an, wurde Putin dreimal zum Präsidenten Russlands gewählt, erreichte der Euro sein Allzeittief gegenüber dem Dollar, berichteten die Nachrichten beinah täglich von Anschlägen in Bagdad, […], wurden Rotmilan, Turmfalke und Zaunkönig in Deutschland zum Vogel des Jahres gewählt, starben Baudrillard und Ingmar Bergman, Susan Sontag und Grace Paley, Michelangelo Antonioni, Ruth Werner und Marlon Brando, Wolfgang Hilbig und Philippe Noiret und Oscar Peterson. (SB, 123)

Johann Peter Hebels Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen (1811) erzählt, wie eine Frau nach fünfzig Jahren die unversehrt gebliebene Leiche ihres bei einem Bergunglück gestorbenen Bräutigams wiedersieht. Ein ganzes Leben lang hatte sie um ihn getrauert und auf ihr eigenes Lebensende gewartet. Was in diesen fünfzig Jahren geschah, vom Erdbeben in Lissabon bis hin zu den napo608 Im bereits erwähnten Gespräch im Literaturforum (2020) präzisiert Schoch ihr eigenes Geschichtsbild in eben diesem Sinne: es gebe »selbstverständlich keinen Zeitstrahl in eine gloriose Zukunft«, Geschichte sei eine »Ansammlung von unzuverlässigen Episoden«, eine Erkenntnis, die nicht erst der aktuellen Corona-Krise (als Anlass des Gesprächs) geschuldet sei, sondern die Schoch schon lange mit sich herumtrage. 609 Rüsen 2003, S. 46. 610 Ebd. Insgesamt referiert Rüsens Artikel an dieser Stelle die Wandlung historischer Zeitdeutung von einer teleologischen hin zu einer rekonstruktiven Deutung, die auch die Dimension menschlicher Zeiterfahrung miteinschließt (ebd., S. 45).

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Vom »Bruch im Leben«. Transformationserfahrung im Werk von Julia Schoch

leonischen Kriegen, wird in starker Zeitraffung erzählt, die schnelle Abfolge der weltgeschichtlichen Ereignisse steht dem Warten der Frau gegenüber. Die Linearität der Ereignisse spiegelt den realen Geschichtsverlauf wider, der historischen Zeit werden am Ende menschlichen Tätigkeiten zur Seite gestellt, die an die zyklische Zeit der Natur gebunden sind. Die Erzählerin in Julia Schochs Roman resümiert lediglich die Ereignisse des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Geschichte erscheint zunächst als Nebeneinander fataler, immer wiederkehrender Ereignisse, die kaum eine Chronologie erkennen lassen. Die zyklische Zeit der Natur ist fragil und kulturell überdeterminiert: zum »Vogel des Jahres« werden Tiere gekürt, die gefährdet sind. Die abschließende nicht chronologische Aneinanderreihung der Todesdaten unterschiedlichster Autoren, Philosophen, Kritiker, Schauspieler, Filmemacher und Musiker mag ein Hinweis auf den kulturellen Horizont der Erzählerin sein, deutet aber definitiv auch auf das Ende einer Epoche Im Anschluss an das Hebel-Pastiche fügt die Erzählerin einen kurzen Verweis auf einen Gedanken aus Walter Benjamins Passagen-Projekt hinzu: »Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, habe ich vor Jahren einmal gelesen, sondern drängt träumend auf das Erwachen hin.« (SB, 124) Dieser Satz Benjamins steht am Ende seines Exposés zum Passagen-Werk. Dort heißt es weiter: »Sie [die Epoche] trägt ihr Ende in sich und entfaltet es – wie schon Hegel erkannt hat – mit List.«611 Bei Benjamin stehen hinter dem Traum der Epoche ihre noch unerkannten und ungenutzten Kapazitäten, das zukünftige Erwachen verweist auch auf eine neue gesellschaftliche Ordnung nach dem Zerfall der bürgerlichen Kultur: »Blochisches Träumen nach vorwärts als Antizipation der Zukunft«,612 schreibt Rolf Tiedemann. Das Erwachen entspricht, wie bereits im Zusammenhang mit Lutz Seilers Werk dargestellt wurde, dem »Jetzt der Erkennbarkeit«, in dem die Gegenwart und die Vergangenheit in eine Konstellation der plötzlichen, kreativen Erkenntnis treten. Dieser positive Moment einer unerwarteten Sinnhaftigkeit und der ›Rettung‹ des Vergangenen in der Gegenwart scheint bei Julia Schoch nicht mehr denkbar. Im Roman tritt der Verweis auf Benjamin nur an dieser Stelle auf, Ausdruck einer letzten Hoffnung, aus dem Gleichlauf der Ereignisse und Dinge auszubrechen, die alptraumartige Gegenwart hinter sich zu lassen. Doch folgen keinerlei Hinweise, dass die Epoche tatsächlich »erwachen« könnte, der Gedanke wird wie nebenbei erwähnt, dann fallen gelassen. Hingegen vermittelt die Erzählerin im Anschluss eine definitive Absage an die Zukunft: »Tatsächlich interessiert mich die Zukunft nicht. Sie ist mir schon immer ärmer vorgekommen als die Gegenwart, als verberge sich hinter dem Verstreichen von Zeit vor allem ein Gesetz, 611 Benjamin (›Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts‹ [1935]) V.1, 1991, S. 59. 612 Ebd., S. 28 (›Einleitung des Herausgebers‹).

Das Glücksspiel als Metapher der Gegenwart, Geschichte als Episode

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das des stetigen Verlusts.« (SB, 124) Das Voranschreiten der Zeit wird nur noch als Verlust gedeutet, die einstigen Zukunftserwartungen, die die Figur der Schwester in Mit der Geschwindigkeit des Sommers noch einmal in Gedanken durchspielt, haben sich durch die Erfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs in ihr Gegenteil verkehrt, die eigene Geschichte bietet keinerlei positives Potential mehr, sondern erscheint lediglich als lächerlich, wie Selbstporträt mit Bonaparte immer wieder deutlich macht. In ihrem Essai »Ich, Arrière-Gardistin« stellt Julia Schoch Geschichte und Vergangenheit als einen »Geröllberg« dar, der nur noch als eine »diffuse Erinnerung« erscheint: Auf diesem Berg liegen die Einzelheiten der Vergangenheit verstreut: episodisch, sinnlos, unwahrscheinlich, als hätte es diese andere Zeit nie gegeben. Ab und zu leuchtet etwas in dem Gewühl der Dinge auf – dem kurzen Aufflackern des Erinnerns ähnlich, das eine Kehrseite des Vergessens ist.613

In diesem Bild erscheinen Anklänge an Walter Benjamins neunte geschichtsphilosophische These: der vom Sturm des Fortschritts davongetragene Engel der Geschichte614 blickt auf ein einziges Trümmerfeld zurück und kann nicht innehalten, um »das Zerschlagene zusammen[zu]fügen«.615 Die Autorin hingegen versucht, aus einem solchen Geröllberg das Material und die Bruchstücke herauszulesen, aus denen sie Erinnerung und Vergangenheit rekonstruiert. »Ertasten, hervorholen und beschauen, immer auf der Suche nach einem Anhaltspunkt. Zeit und Vergangenheit begreifen und das Begriffene so zueinander ordnen, dass sich der Eindruck der Zwangsläufigkeit daraus ergibt« – so beschreibt Julia Schoch an anderer Stelle die »Urtätigkeit des Schriftstellers«.616 Zwar entspricht dieses Bild der Zwangsläufigkeit von Geschichte wieder einem linearen Zeitdenken, das Benjamins Philosophie im Grunde entgegensteht, da es dem Philosophen ja gerade darum ging, den ›Fortschritt‹ zu unterbrechen und die Zeit stillzustellen. Doch geht es hier um die individuelle Geste einer Rekonstruktion von Vergangenheit, die im Nachhinein als »sinnlos« und »unwahrscheinlich« erscheint und doch erfahren wurde, es geht darum, dem eigenen Erlebten retrospektiv Sinn zu verleihen oder zumindest den Menschen schrei613 ›Ich, Arrière-Gardistin‹ [2013]. Schoch 2019, S. 303. 614 In Schochs erstem Theaterstück Die Jury tagt, das im Oktober 2020 in Potsdam Premiere hatte und in dem vier Personen über ein Denkmal zu Ehren der Friedlichen Revolution diskutieren, taucht dann tatsächlich ein »Engel-Anwärter« auf, der dem Treiben der Menschen und dem Errichten und Einreißen von Mauern und Grenzzäunen in der Welt verständnislos zuschaut: »Wir sind der erste Zuschauer, die letzte Zuschauerin (Pause). Schmerzende Augen. Der Sturm kommt von vorn, noch immer, er drückt uns die Lider zu, die Augäpfel in die Höhlen hinein…« (Schoch 2020, S. 3). 615 Benjamin I.2, 1991, S. 697. 616 ›Ich, Bewohner einer Zwischenzeit‹. Schoch 2009, S. 12.

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Vom »Bruch im Leben«. Transformationserfahrung im Werk von Julia Schoch

bend »ans Vergessen [zu] erinnern, es ihm vor[zu]führen […] (und ihn so [zu] retten)«: Die Bücher, die auf diese Weise, in einer solchen Welt entstehen: der erinnerte Rest eines anderen, vielleicht umfassenderen Buches, das nicht mehr geschrieben werden kann. Fundstücke ohne Archiv, die als Spuren einer verschwundenen Zeit durch den unendlichen Raum der Gegenwart treiben.617

Anders als in Lutz Seilers Werk, wo die Vergangenheit noch eine Verheißung für die Zukunft bedeutet und im literarischen Eingedenken deren Potentiale ›gerettet‹ werden können, steht hier deren Verlust im Vordergrund, an den durch die Literatur nur noch fragmentarisch erinnert werden kann.

2.4. Fazit Julia Schoch hat in ihrem Werk ein fiktionales Universum errichtet, in dem die Geschichtserfahrung der Transformationsgesellschaft vor dem Hintergrund einer Reflektion über das Zusammenspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Mittelpunkt steht. Dabei inszeniert sie wie auch Lutz Seiler Figuren, die den gesellschaftlich dominanten Tendenzen entgegengesetzte, individuelle Zeitmodelle leben: die in der geschichtlichen Zeit der DDR situierten Figuren versuchen, dem zukunftsorientierten, linearen Zeitmodell zu entkommen, der gesellschaftliche Umbruch wird individuell als Zäsur oder Kontinuität gedeutet, die Gegenwart nach 1989 erscheint als Zeit, deren Logik und Sinnhaftigkeit vor dem Hintergrund der eigenen Vergangenheit ebenfalls in Frage gestellt wird. Im Sinne ihrer Figuren schreibt Schoch noch in einem 2019 veröffentlichten Text: »Was ist denn die Gegenwart? […] Über die Gegenwart zu schreiben, / empfindest du beinahe als taktlos. / Sie kommt dir leer vor, verstümmelt. /Ein Kopf ohne Leib. Jedenfalls reicht das Staunen nie für sie, / immer nur für das Vergangene.«618 Für Schochs Figuren mag zutreffen, was Erik Schilling für andere Texte der Gegenwartsliteratur festgestellt hat, dass sie nicht – wie es noch in den Texten der Postmoderne der Fall war – ein rein spielerisches Verhältnis zur Geschichte entwickeln, sondern über die Auseinandersetzung mit Geschichte ihre eigene Identität neu begründen möchten.619 Was jedoch nicht zutrifft, ist Schillings Beobachtung einer Rückkehr zum linearen Zeitmodell, in der die Vergangenheit wieder eine Basis für die Zukunft werde.620 Gerade diese Verortung in der eigenen Vergangenheit ist den Figuren nicht möglich, der Versuch einer neuen Identi617 618 619 620

›Ich, Arrière-Gardistin‹. Schoch 2019, S. 303f. Gaudlitz/Schoch 2019, S. 30. Schilling 2013, S. 178. Ebd.

Fazit

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tätsfindung wird als fragil dargestellt, das Verhältnis zu den Zeitkoordinaten ist historisch bedingt gestört. In den Texten wird diese problematische Zeitwahrnehmung durch unterschiedliche Mittel dargestellt. In den Erzählungen wird Eigenzeitlichkeit vorwiegend über eine Darstellung ästhetischer Zeitlosigkeit und über ein Spiel mit fiktionalen Inszenierungen zum Ausdruck gebracht, die den Einfluss der ›realen‹ Geschichtszeit auf Distanz zu halten versuchen; in den Texten wird weitgehend auf außertextuelle Referenzen und somit auf eine Darstellung der geschichtlichen Ereignisse verzichtet. Formen der narrativen Anachronie und ein fragmentarisches Erzählen vermitteln ebenfalls eine problematische Verortung im Zeitgefüge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese narrativen Besonderheiten durchziehen alle hier analysierten Texte Schochs. In den Romanen wird Zeitwahrnehmung auch metaphorisch repräsentiert, so steht die Schiffs- und Umweltkatastrophe in Verabredungen mit Mattok für eine blockierte Zukunft, das wuchernde Ekzem für den Anpassungs- und Veränderungsdruck in der Gegenwart. Bedeutungstragend sind jedoch auch die Figurenkonstellationen, vor allem die des Paars, wobei die Figuren Zeit nicht nur individuell wahrnehmen, sondern als »Zeitträger« fungieren. Dies gilt für die Zufallsbekanntschaften zwischen Claire und Mattok ebenso wie für Bonaparte und die Erzählerin, oder auch für das Verhältnis der älteren Schwester mit dem ›Soldaten‹. Alle Figuren sind durch gemeinsame Erfahrungen in der Vergangenheit verbunden und stehen der Gegenwart gewissermaßen widerständig gegenüber. Schließlich lassen sich Schochs Romane auch mit zeitsoziologischen Befunden und Konzepten analysieren, die die Figuren, Figurenkonstellationen und dargestellten Erfahrungen erhellen, so den für die Figur der Schwester beschriebenen »rasenden Stillstand« in Mit der Geschwindigkeit des Sommers oder den Spielertypus in Selbstporträt mit Bonaparte. Als Schriftstellerin, so Schoch, übernehme sie in einer Welt, in der die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gekappt sei, in der der Mensch von der Geschichte überholt werde und die wesentliche Erfahrung des Menschen »die unaufhörliche Metamorphose allen Seins« sei, die Rolle einer »ArrièreGardistin« ein, die gegen den »von hinten angreifenden Feind: das Vergessen«,621 ankämpfe. In diesem Sinne sind ihre Texte Zeugnisse einer besonderen Erfahrung von Geschichte und Zeit, aber auch Zeugnisse, die den Anteil der Fantasie an ihnen nie leugnen, Texte, die auf ihrer Literarizität beharren, denn, so die

621 ›Ich, Arrière-Gardistin‹. Schoch 2019, S. 303. Zur etwas anders gearteten Funktion der »Arrièregarde« bei Lutz Seiler als dichterische Wahrnehmungsposition und -disposition vgl. Kap. 1.1.1.

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Vom »Bruch im Leben«. Transformationserfahrung im Werk von Julia Schoch

Autorin, »[d]ie Vergangenheit ist ein Raum, der, wenn du ihn zwei Wochen später erneut betrittst, schon wieder vollkommen anders schillert.«622

622 Gaudlitz/Schoch 2019, S. 60.

3.

Vom »Umkippen der Zeit«. Formen und Funktionen zeitlichen Wandels bei Jenny Erpenbeck

Seit ihrem 1999 erschienenen Debüt Geschichte vom alten Kind zählt Jenny Erpenbeck zu den wichtigsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In ihrem aus Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Essais bestehenden Werk ist das Thema der Zeit durchgehend und auf ganz diverse Art präsent,623 angefangen mit Überlegungen über das Erinnern und Vergessen sowie die zeitliche Verortung der Siegfried-Figur bei Richard Wagner in einer Studienarbeit aus dem Jahre 1992624 bis hin zu der in ihrem Roman Gehen, ging, gegangen (2015) gestellten Frage nach den Gefühlen von Flüchtlingen, die aus der Zeit »herausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt […].«625 Jenny Erpenbecks literarischer Zugang zum Thema Zeit ist vom Gegenstand her weiter gefasst als in den bisher beschriebenen Werken. Er umfasst Gedanken über das Vergehen der menschlichen Zeit, über das Älterwerden und das Alter626 ebenso wie – über den gesellschaftlichen Umbruch von 1989 hinaus – allgemeine Reflexionen über den kontingenten Verlauf der Geschichte. Was Erpenbeck einmal im Zusammenhang mit ihrem Roman Aller Tage Abend (2012) formuliert hat, gilt auf unterschiedlichen Ebenen auch für ihre anderen Texte. Hinterfragt werde dort das »Ende der Selbstverständlichkeit. Das Umkippen der Zeit, wenn aus einem Moment, der ein ganz normaler Moment war, plötzlich ein sogenannter letzter Moment wird. Im Nachhinein.«627 Die Plötzlichkeit eines solchen Moments ist Teil der eigenen Erfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs, des Erlebens, »wie ein System, das für eine Ewigkeit eingerichtet zu sein schien, im 623 In der Sekundärliteratur wurde das Thema bisher kaum systematisch behandelt. Ein erster Ansatz einer unterschiedliche Werke einbeziehenden Reflexion findet sich bei Vedder 2014. 624 ›Siegfrieds Gedächtnisverlust in der Oper ›Götterdämmerung‹ von Richard Wagner‹ (in: Erpenbeck 2018, S. 305–340). 625 Erpenbeck 2017, S. 51. 626 So beschreibt die Protagonistin der Erzählung »Anzünden oder Abreisen« (2001) aus dem Band Tand ihren körperlichen Verfallsprozess und reflektiert: »Ich bin alt geworden. […] höre […] dem Vergehen der Zeit zu.« (Erpenbeck 2003, S. 123). 627 ›Variationen über einen Satz‹ (2013), in: Erpenbeck 2018, S. 252.

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Vom »Umkippen der Zeit«

Guten wie im Schlechten, binnen weniger Wochen weggewischt werden konnte.«628 In den Bamberger Vorlesungen schreibt die Autorin: Plötzlich wurden wir, […], im Weltmaßstab beurteilt. Und Welt war plötzlich dort, wo die Wirtschaft besser funktionierte. Plötzlich. Plötzlich war auch unser Sprechen ein Sprechen, das im Weltmaßstab angeschaut wurde, etwa so wie eine alte orientalische Sprache, deren Schriftzeichen zwar entziffert werden können, nur ist die Welt, von der sie erzählt, für immer versunken. Denn unser Alltag war plötzlich kein Alltag mehr, sondern ein Museum […].629 (Hervorhebung C. H.-M.)

Zu den Motivationen ihres Schreibens gehört dann auch, wie sie in der Dankesrede zum Joseph-Breitenbach-Preis ausführt, die »Selbstvergewisserung über den Platz, den man während des fortwährenden Vergehens der Zeit, während der geschichtlichen Brüche, an denen Unversöhnliches offen zu Tage tritt, während eines einzigen kurzen Lebens einnimmt.«630 Grundlegend für ihr Schreiben ist also, wie auch für Lutz Seiler und Julia Schoch, der erfahrene geschichtliche und biographische Bruch des Jahres 1989 und die Notwendigkeit, sich der eigenen Vergangenheit und Existenz schreibend zu vergewissern. In einem Text aus dem Jahre 2018 heißt es dazu: Zwischen der ersten Hälfte meines Lebens, die durch den Fall der Mauer und den Zusammenbruch der DDR museumsreif wurde, und der zweiten, die damals begann, ist seither eine Grenze aus Zeit. Ohne die Erfahrung dieses Übergangs von einer Welt zu einer ganz anderen, so sehe ich das heute, hätte ich wahrscheinlich nie begonnen zu schreiben. Mein Schreiben begann mit dem Nachdenken über Grenzen, und mit dem Nachdenken darüber, wie man sich im Laufe eines Lebens, freiwillig oder unfreiwillig, verwandelt, mit dem Nachdenken darüber, was Identität ist und der Frage, wieviel man verlieren kann, ohne sich selbst zu verlieren.631

Die Erfahrung einer »Grenze aus Zeit« und die damit verbundenen Motive des »Übergangs« und der »Verwandlung« durchziehen ebenso wie die Frage nach einer noch möglichen Identität bzw. nach deren Verlust Erpenbecks Werk. Dabei geht es der Autorin im Gegensatz zu Lutz Seiler und Julia Schoch in Bezug auf die DDR zunächst weniger um eine literarische Vergegenwärtigung und Rückgewinnung einer konkreten, vergangenen, nunmehr definitiv verlorenen Zeit und die Sichtbarmachung ihrer materiellen Spuren, sondern vielmehr um die literarische Darstellung des zeitlichen Wandels und der Veränderungen selbst, zunächst in Bezug auf den Umbruch von 1989, später in Bezug auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt.

628 629 630 631

›Im toten Winkel‹, in: Erpenbeck 2018, S. 418. ›Zur ›Geschichte vom alten Kind‹‹, in: Erpenbeck 2018, S. 158. ›Was macht die Zeit mit dem Schreiben?‹, in: Erpenbeck 2018, S. 263f. ›Im toten Winkel‹, in: Erpenbeck 2018, S. 411.

›Wende‹ und Zeit der Verwandlung: Geschichte vom alten Kind (1999)

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Obwohl Jenny Erpenbecks Debüt Geschichte vom alten Kind aus dem Jahre 1999 der früheste Text des hier behandelten Korpus ist, steht ihr Werk aufgrund der thematischen Breite zweier hier ebenfalls analysierter Romane, die über den Umbruch von 1989 hinausgehen, am Ende dieser Arbeit. Geschichte vom alten Kind kann jedoch als für diese Arbeit paradigmatischer Text angesehen werden, insofern er den Umbruch von 1989 literarisch figuriert, ohne das historische Ereignis mimetisch abzubilden. Dabei spielen das Motiv der Verwandlung und die in der Erzählung konstruierte Zeiterfahrung eine wesentliche Rolle, beides wird hier in einer textnahen und narratologischen, die gesamte Erzählung einbeziehenden Analyse beispielhaft veranschaulicht. In ihrer Ausweitung des historischen Blicks mobilisieren die Romane Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012) das Erfahrungsmuster des Bruchs dann auf thematischer, aber auch formaler Ebene, wobei die Referenzialität dieser Texte im Vergleich zu Erpenbecks Debüt sehr viel größer ist. Insofern werden in diesem dritten Teil zwei extreme Formen der Darstellung der Zeiterfahrung im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umbruch von 1989 zusammengeführt: einerseits dessen nicht-referentielle Figuration als sich wandelnde Zeit in Form einer körperlichen Verwandlung, andererseits eine Reflexion über die Diskontinuitäten der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die den Texten auch formal eingeschrieben ist.

3.1. ›Wende‹ und Zeit der Verwandlung: Geschichte vom alten Kind (1999) 3.1.1. Erste Interpretationen, Zeitthematik und Metamorphose als Zugang zum Werk Als Jenny Erpenbeck 1999 ihr erstes Werk veröffentlichte, wurde dieses im Kontext einer neuen, jungen Autorengeneration rezipiert, der man Unbefangenheit gegenüber historischen Themen und eine neue Lust am Erzählen bescheinigte.632 Ungewollt geriet sie auch in den Sog der »Fräuleinwunder-Literatur«,633 obwohl dieses Label nur wenig mit dem Schreiben der Autorin zu tun hatte, da ihre »distanzierte Sprache« und »nüchterne Emotionslosigkeit« dem Etikett eines neuen, lustvollen und fabulierenden Schreibens entgegenstand.634 Erpenbecks Debüt unterschied sich auch thematisch von der Literatur der damaligen jüngeren Generation, die Alltagserfahrungen, konkret erlebte Lebenswirklichkeit sowie Elemente der Medien- und Popkultur in den Vordergrund 632 Hage (›Die Enkel kommen‹) 1999. 633 Hage (›Ganz schön abgedreht‹) 1999. 634 Müller 2004, S. 81.

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stellten. Moritz Baßler hat den damaligen Paradigmenwechsel als Übergang von einer problemorientierten Literatur mit »verborgenen Bedeutungen« hin zu einer befreienden Literatur der »Oberflächlichkeit« beschrieben, in der die Suche nach einem verborgenen Sinn endlich überflüssig werde.635 Jenny Erpenbecks »Das alte Kind« [sic] attestierte Baßler ganz nebenbei, »den besagten Paradigmenwechsel […] verpaßt« zu haben.636 Der Rezeption ihrer Literatur, die mit mehreren, zur Reflexion einladenden Bedeutungsebenen spielt, hat dies nicht geschadet. Jenny Erpenbecks Geschichte vom alten Kind637 handelt von einem Mädchen, das eines nachts mit einem leeren Eimer auf der Straße gefunden wird und sich an nichts anderes erinnert als an sein Alter. Die Polizei bringt die Vierzehnjährige in ein Kinderheim, in dem das Mädchen ganz bewusst versucht, den untersten Platz in der Hierarchie einzunehmen und zu verteidigen. Von den anderen Kindern wird sie als Außenseiterin behandelt und belästigt, bevor sie sich langsam zu integrieren scheint. Als das Mädchen plötzlich erkrankt und in ein Krankenhaus eingeliefert wird, verwandelt es sich vor den ungläubigen Augen der Ärzte nach und nach in eine dreißigjährige Frau. Die nur 125 Seiten umfassende Erzählung besteht aus einhundert unterschiedlich langen, fragmentarischen Abschnitten, die jeweils durch eine Leerzeile getrennt sind und einen Umfang zwischen zwei Zeilen (GaK, 28) und fast fünf Seiten (GaK, 62–67) haben. Der Erzählmodus ist der einer Nullfokalisierung, die häufig in eine interne Fokalisierung auf die Perspektive der Protagonistin übergeht. Die heterodiegetische Erzählinstanz wechselt in vier kurzen Abschnitten in eine homodiegetische Ich-Erzählung aus der Perspektive des Mädchens, wobei es sich der Autorin zufolge um Träume des Mädchens handelt, um »wenig[e] unterbewusst[e] Moment[e]«, in denen es sich »als ein ›Ich‹ ausspricht.«638 Durch seine Form, die Erzählperspektive und die verwendete Zeitform (meistens das Präsens), aber auch durch das ungewöhnliche Verhalten der Figur ist der Text oft rätselhaft. Die Erzählung vereint märchenhafte und fantastische Elemente und kreist hauptsächlich um das literarische Motiv der Verwandlung, die Situation des Findelkinds ruft Parallelen zu Kaspar Hauser auf, die Passivität 635 Baßler 2002, S. 14f. 636 Ebd., S. 12. 637 Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf Geschichte vom alten Kind beziehen, mit der Sigle GaK direkt im Text angeführt. Hervorhebungen im Original. Die Erzählung beruht auf einem authentischen Vorfall, und zwar der Korrespondenz von Erpenbecks Großmutter Hedda Zinner mit einer Vierzehnjährigen, die sich dann als dreißigjährige Frau entpuppte. Vgl. dazu Erpenbeck in: Eden 2001, S. 16f. 638 ›Zur ›Geschichte vom alten Kind‹‹, in: Erpenbeck 2018, S. 166. Aus produktionsästhetischer Perspektive spricht Erpenbeck von »Collage« und einem »Versuch«.

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des Mädchens im Heim, die »unbedingte Entschlossenheit der Verweigerung«,639 lässt an Melvilles Schreiber Bartleby denken, auch an Robert Walsers Jakob von Gunten.640 Ebenso wurden Peter Pan641 und Günter Grass’ Blechtrommler Oskar Matzerath642 zum Vergleich herangezogen, Figuren, die aus unterschiedlichen Gründen nicht erwachsen werden wollen. Die Geschichte vom alten Kind ist durch den Verzicht auf »genaue Verortung, Datierung und realistische Präzision« ein offener Text und hebt die Geschichte »ins Allgemeine, Paradigmatische, jedenfalls nicht historisch Bedingte«,643 sodass zahlreiche Interpretationen möglich sind. Diese Unbestimmtheit hängt wohl nicht zuletzt mit der dargestellten Verwandlung zusammen, denn »ästhetischen Darstellungen von Metamorphosen«, so Monika Schmitz-Emans, sei eine »hohe semantische Komplexität« inhärent: »in ihrer Qualität als vieldeutige Darstellungen werden sie oft zu Darstellungen des Vieldeutigen schlechthin.«644 Trotz ihrer prinzipiellen Offenheit wurde Erpenbecks parabelhafte Erzählung schnell stark vereindeutigend im Kontext von DDR und ›Wende‹ rezipiert. Das Kinderheim erschien als Anspielung auf die »geschlossene Gesellschaft« bzw. »geschlossene Anstalt« der DDR,645 diese sei »ein Refugium für den perfekten Untertan – ergeben, loyal, opferbereit, anspruchslos […]. Seine Nische ist die Unmündigkeit; die Bequemlichkeit, die er sucht, vermag nur ein Obrigkeitsstaat zu bieten.«646 Carsten Gansel hat darauf hingewiesen, dass die parabelhafte Gleichsetzung von DDR und Kinderheim problematisch sei, da dies unterstelle, dass sich jeder dem Machtanspruch des Staates bedingungslos untergeordnet hätte, während sich gerade eine Art »Wechselspiel zwischen Individuum und staatlichen Instanzen heraus[bildete]«.647 In einer anderen Perspektive wurde die »trotzige Weltflucht des Mädchens« »als typisch ostdeutsches Verhaltensmuster nach der Wende«648 interpretiert. Diese Einschätzungen verweisen bereits auf eine gewisse Unentschiedenheit, ob sich die erzählte Zeit auf die DDR oder auf die Zeit nach 1989 bezieht.

639 640 641 642 643 644 645

Spiegel 1999. Vgl. Marx 2014, S. 103. Schreiber 1999. Vgl. Chronister 2018, S. 49. Marx 2014, S. 99. Schmitz-Emans 2008, S. 12. So in den beiden in der Argumentation ähnlichen Rezensionen von Mathias Schreiber im Spiegel und Hubert Spiegel in der FAZ. Auch Ludorowska (2016) liest die Erzählung distanzlos als Illustration ostdeutscher Repressionserfahrungen in der Adoleszenz, ohne ernsthaft auf den parabelhaften Prozess der Verwandlung einzugehen. 646 Spiegel 1999. 647 Gansel 2014, S. 88f. 648 Schreiber 1999.

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Die Autorin selbst hat solchen Interpretationen nicht vehement widersprochen, sie räumte ein, dass ein Vergleich zwischen DDR und Kinderheim naheliege, es ihr aber um mehr als um »ein politisches Modell« gehe, nämlich darum, »wie merkwürdig das dicke Mädchen mit der Zeit umgeht.« Es nehme sich »die Freiheit, sich seine Zeit auszusuchen«, begebe sich dann aber »in eine unfreie Struktur«, um sich dort wiederum »die Freiheit, sich selbst neu zu erfinden«,649 zu nehmen. An anderer Stelle geht Erpenbeck auf eine Lektüre der Erzählung als Allegorie der Verlorenheit in der Nachwendegesellschaft ein und erklärt, sie habe versucht, »die Wertung, die von dem Moment der Wende an die gültige war, noch einmal probehalber umzudrehen. Unmündigkeit noch einmal euphorisch zu besingen, bevor der Versuch meines Mädchens, in die Unmündigkeit zurück zu fliehen, doch scheitert.«650 Auch in ihrer ersten Bamberger Poetikvorlesung hebt die Autorin die Nachwende-Perspektive des Textes hervor: »Keine Experimente mehr, erinnern wir uns, hat das sogenannte Volk gerufen, als die Mauer gefallen war. Da sollte endlich Schluss sein mit dem Sandkastenspiel Sozialismus. Da wollte das Volk endlich erwachsen sein. Mein Mädchen aber fängt erst jetzt, da das Spiel vorbei ist, zu spielen an […].«651 Insgesamt unterstreicht Jenny Erpenbeck jedoch die generelle Offenheit der Geschichte, die »voller Möglichkeiten« stecke und auf die man einen »tiefenpsychologische[n], […] fantastische[n] oder […] politische[n] Blick« werfen könne.652 Gerade in dieser nur in der Literatur realisierbaren semantischen Offenheit fand die Autorin ein Mittel, über ihre Herkunft und Vergangenheit zu sprechen. Im alltäglichen Gespräch könne das Gesagte »angegriffen, bezweifelt, diskutiert werden«, doch über »Erfahrungen und Gefühle kann nicht diskutiert werden«.653 Eine mögliche Reaktion darauf wäre das Schweigen, eine andere, das Schreiben: Dass die Sprache, die man sprechen kann, nicht ausreicht, ist ein sehr guter Grund, um mit dem Schreiben zu beginnen. So paradox es ist: Die Unmöglichkeit, das, was einem widerfährt, in Worte zu fassen, treibt einen ins Schreiben hinein. Immer habe ich, wenn ich etwas nicht verstand, etwas nicht in Worte fassen konnte, angefangen zu schreiben. Und so war es auch bei meinem ersten Buch.654

Das Schreiben ist für die Autorin demnach auch »etwas Verschlüsseltes«, »ein geheimer Code« und eine »Maske«.655 »Diskret[e] Formen und Masken« fand bereits Thomas Mann in seinen Erzählungen, um mit seinen »Erlebnissen unter 649 650 651 652 653 654 655

Leinemann 2000. Birgfeld 2005, S. 180. ›Zur ›Geschichte vom alten Kind‹‹, in: Erpenbeck 2018, S. 163. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 153. Ebd., S. 158. Ebd. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 155.

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die Leute gehen« zu können.656 Die Mann-Leserin Erpenbeck657 schafft sich mit dem »alten Kind« eine Maske, die es ihr erlaubt, die eigene Herkunft und Vergangenheit zu verarbeiten und auf eine konkrete referentielle Verortung weitgehend zu verzichten, nur an wenigen Stellen wird, auch durch sprachliche Formulierungen, auf DDR-Spezifika658 verwiesen. Dabei – und diese Lektüre soll hier im Vordergrund stehen – reflektiert sie die Erfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989 als Verunsicherung und eine Infragestellung von Lebenszeit. Darauf verweist bereits der Titel des Werks mit dem Oxymoron des »alten Kindes«. Der eingangs beschriebene zeitliche Bruch, das plötzliche Umkippen der Gegenwart in Vergangenheit, ist eine Erfahrung zeitlichen Wandels, die die eigene Identität in Frage stellt und eine Neuverortung verlangt. Die Affirmation eines Maskenspiels zur Verarbeitung eigener Erlebnisse seitens der Autorin spiegelt sich in der fiktionalen Welt im Motiv der Metamorphose. Insofern kann die körperliche Verwandlung einer jungen Frau in ein Kind ebenso wie die damit einhergehende Thematisierung von Zeit als eine Parabel des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989 gelesen werden. Literarische Metamorphosen entstehen häufig in Übergangszeiten. Bereits Ovid schrieb an einer »Zeitenwende«, bemerkte Jenny Erpenbeck.659 Friedmann Harzer zufolge reagieren Metamorphosen auf »Brüche«, auf »individuell[e] oder kollektiv[e] Krisen«, sie erscheinen an »Epochenschwellen« und werden »in Zeiten des Umbruchs attraktiv und problematisch ineins«: »Immer […] scheint die Diskontinuität der temporalen und semiotischen Struktur in den Metamorphosen des Menschen ihre besondere Attraktivität nicht zuletzt einem gleichfalls diskontinuierlichen Übergangsphänomen zu verdanken.«660 Auch Michail Bachtin arbeitete in seinen Studien zur antiken Literatur bei Apuleius einen Darstellungstyp heraus, in dem der Metamorphose die Funktion zukommt, »wesentliche Umbruchs- und Krisenmoment[e]«661 eines Menschenlebens zu erfassen. Der Mensch werde »in verschiedenen Gestalten vorgeführt, die als verschiedene Zeitabschnitte und Etappen seines Lebenswegs in ihm ver656 So Mann in einem Brief an seinen Jugendfreund Otto Grautoff vom 6. April 1897, in: Mann 2002, S. 89. 657 Zu ihrer Mann-Lektüre vgl. Erpenbeck 2018, S. 274–281. 658 So durch bestimmte Anspielungen auf die Rolle des Kollektivs (die Wäsche der Kinder ist »für einen einzigen großen Kollektivleib« gedacht, GaK 15; die Absicht des Mädchens, »seinen Beitrag [zu] leisten zur Festigung des Klassenkollektivs«, GaK 35; oder das an den Wochenenden fehlende »kollektiv[e] Gefühl«, GaK 117), auf ideologisch geprägte Fortschrittsvorstellungen beim Verlauf der Schulzeit (»um […] dann planmäßig in eine neunte Klasse fortzuschreiten«, GaK 23) oder alltagsspezifische Elemente wie die Verteilung von »Milchtüten« (GaK 41) und die Existenz eines »Frauenruheraum[s]« (GaK 92). 659 ›Ovids ›Metamorphosen‹‹, in: Erpenbeck 2018, S. 292. 660 Harzer 2000, S. 209f. 661 Bachtin 2008, S. 40. Hervorhebungen im Original.

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eint sind. Hier gibt es genaugenommen keine Entwicklung, sondern Krise und Wiedergeburt.«662 Ein solcher Romantypus entfaltet nicht die gesamte »biographische Zeit«, sondern »stellt lediglich die herausragenden, gänzlich ungewöhnlichen Momente eines menschlichen Lebens dar […]«,663 die Texte zeugen davon, dass die »Zeit […] im Menschen selbst und in dessen ganzem Leben eine tiefe, unauslöschliche Spur [hinterlässt]«.664 Literarische Metamorphosen, so schließlich auch Monika Schmitz-Emans, stehen »im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Zeitlichen«, es gibt »Affinitäten zwischen dem Konzept der Metamorphose und Erfahrungen zeitlich bedingter Dissoziation, Entdifferenzierung und Ungreifbarkeit«.665 Die Analyse der literarischen Form der Metamorphose als Verarbeitung eines Epochenbruchs und Darstellung einer damit verbundenen problematischen Zeiterfahrung bietet sich in Geschichte vom alten Kind als lektüreleitendes Element an. Der Text liefert in der Art und Weise, wie er das Kind beschreibt, bereits von Anfang an zahlreiche Indizien, die darauf verweisen, dass es sich hier um kein normales bzw. ganz reales Mädchen handelt. Dennoch erfährt der Leser erst am Ende, durch den Prozess der Rückverwandlung des Kindes in eine Frau, dass er Zeuge einer Metamorphose geworden ist und dass es der Frau offensichtlich darum ging, die »Zeit anzuhalten« (GaK, 124), um noch einmal in ihre Kindheit einzutauchen. Das Motiv der Verwandlung, die Zeitthematik und der Wunsch der Rückkehr in die Kindheit sind in der Erzählung eng miteinander verbunden, sollen jedoch zum Zweck der Analyse getrennt betrachtet werden. Dabei wird zunächst beschrieben, wie die körperliche Regression mit dem Versuch verbunden ist, zu einem idealen Kindheitszustand zurückzukehren. Die damit einhergehende Zeitvorstellung von ewiger Gegenwart und Zeitlosigkeit steht der allgemein angenommenen Auffassung einer linear und kontinuierlich verlaufenden Zeit entgegen, daher soll auch gefragt werden, wie diese unterschiedlichen Zeitauffassungen in der Darstellung der diegetischen Zeit zum Ausdruck kommen. Ebenso wird die Thematisierung der Verwandlung und ihrer zeitlichen Implikationen in der Form des Textes selbst hinterfragt. Schließlich soll das Motiv des Abjekten und Infamen, das den Verwandlungsprozess und die Darstellung der Protagonistin begleitet, als Repräsentation einer aus der Gegenwart ausgeschlossenen und plötzlich verdrängten Vergangenheit gelesen werden, wobei sich bei der Deutung des Textes als Parabel des zeitlichen Wandels dann auch unterschiedliche Perspektiven ergeben.

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Ebd. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Schmitz-Emans 2008, S. 12.

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3.1.2. Verwandlung: die Wieder(er)findung der Kindheit Körperlicher Wandel und Regression Die Erzählung beginnt mit dem Kaspar-Hauser-Motiv des Findlings: »Als man es gefunden hat, stand es des Nachts auf der Straße, mit einem leeren Eimer in der Hand, auf einer Geschäftsstraße, und hat nichts gesagt.« (GaK, 7) Im Gegensatz zu Kaspar Hauser kennt das Mädchen seinen Namen nicht, es weiß nur sein Alter und kann sich an nichts erinnern: »[…] es konnte sich an den Anfang nicht erinnern. Es war ganz und gar Waise, und alles, was es hatte und kannte, war der leere Eimer […]«. (GaK, 7f.) Das Mädchen hat keine Vergangenheit außer die in ihren Körper eingeschriebene Lebenszeit von vierzehn Jahren, doch selbst diese wirkt irreal: »Zwar war das Mädchen in seiner ganzen Größe und Dicke vorhanden, was jedoch seine Herkunft und Geschichte anging, war es derart von Nichts umgeben, daß seiner Existenz von Anfang an etwas Unglaubliches anhaftete. Das Mädchen war übrig.« (GaK, 8) Das Mädchen trägt von Anfang an phantastische Züge, die körperliche Beschreibung unterstreicht in ihrer Unschlüssigkeit das Irreale einer Figur, von der sich der Leser kein genaues Bild machen kann: Das Mädchen hat ein großes, fleckiges Gesicht, das aussieht wie ein Mond, auf dem Schatten liegen, es hat breite Schultern wie eine Schwimmerin, und von den Schultern abwärts ist es wie aus einem Stück gehauen, weder ist eine Erhebung dort, wo die Brüste sein müßten, noch eine Einbuchtung in Höhe der Taille. Die Beine sind kräftig, auch die Hände, und dennoch macht das Mädchen keinen überzeugenden Eindruck, das mag an dem Haar liegen. Dieses Haar ist weder lang noch kurz, im Nacken ist es ausgefranst, und weder ist es braun, noch auch wirklich schwarz, es ist allenfalls so schwarz wie ein Fahnentuch, das zu lange in der Sonne gehangen hat und davon ganz ausgeblichen ist, manchmal erscheint es beinahe grau. (GaK, 8f.)

Die Beschreibung entwirft nicht das Bild einer fiktionalen, menschlichen Figur, sondern vielmehr das Abbild einer solchen in Form einer stark schematischen Kinderzeichnung: ein runder Kopf, ein rechteckiger Körper, in Strichen angedeutetes Haar. Während der erste Vergleich – »wie ein Mond« – an kindliche Vorstellungen beim Zeichnen erinnert, verweisen die weiteren – »wie eine Schwimmerin«, »wie ein Fahnentuch«666 – auf die Perspektive der heterodiegetischen Erzählinstanz, die dieses »Bild« bewertet und das Mädchen nicht »überzeugend« findet. Die indirekte Beschreibung in Form einer kindlichen Abbildung signalisiert gleich zu Beginn eine Distanzierung gegenüber dem Er-

666 Implizit wird hier auch das Bild der »DDR-Schwimmerin« und des Fahnenappells und damit der DDR-Kontext aufgerufen. Nobile (2003, S. 292) sieht in der Beschreibung des Mädchens Teile eines Puzzles, aus denen sich ein Bild der DDR ergebe.

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zählten, führt aber auch den später entwickelten Topos der Kindheit ein.667 Die scheinbar wechselnde Haarfarbe ist bereits ein Vorverweis auf die in der Figur enthaltenen unterschiedlichen Altersstufen – Erpenbecks Figur erscheint von Anfang an als instabil und dadurch als Sinnbild des Verwandlungsprozesses selbst. Der Text liefert immer wieder Hinweise auf das eigentliche Alter der Figur und die sich vollziehende Verwandlung. Als sich das Mädchen zu Beginn im Heim umkleiden soll, »[…] kreuzt es dazu die Arme über den Kopf, wie eine Frau.« Die Erzieherin beobachtet die »ordnungsgemäße Wandlung«; nackt sieht »das Mädchen einem Holzkloben nicht unähnlich« (GaK, 14). Anspielungen auf ein verborgenes Alter findet man, wenn es heißt, es habe »ein[en] unwürdige[n] Schnupfen, der ihm den Rotz aus der Nase laufen läßt wie einer Greisin […]« (GaK, 57) oder wenn die Schulkameraden die Färbung ihrer Zähne bemerken: »Großmutter, warum hast du aber dann so gelbe Zähne?« (GaK, 103). Die körperliche Verwandlung wird hier auch über intertextuelle Anspielungen auf Verwandlungsgeschichten vermittelt.668 Die tatsächliche Regression der Frau wird erst an einer Schlüsselstelle im letzten Drittel der Erzählung erwähnt, als das Mädchen hinfällt und ihr Knie blutet: »Es wundert sich nicht darüber, daß es gestürzt ist, denn wer sich im Fleisch der Kinder einnistet, dessen Blut wird Kinderblut, und Kinderblut bahnt sich seinen Weg ins Freie. Es kommt vor, daß Kinder stürzen.« (GaK, 92) Auf die Motive des Parasitären und Abjekten wird später noch zurückzukommen sein, doch wird hier deutlich, dass die Frau auf ihrem Weg zum Kindsein das definitive kindliche Stadium endlich erreicht hat, zumal man im darauffolgenden Abschnitt erfährt, dass das Mädchen »[v]on diesem Sturz an […] keine Menstruation mehr [hat], […].« (GaK, 92) Die Beispiele verdeutlichen, dass die Metamorphose in Erpenbecks Erzählung nicht erst am Ende stattfindet, wenn sich das Mädchen plötzlich in eine Frau verwandelt und demnach nicht der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter erzählt wird.669 Vielmehr handelt es sich dann um eine Rückverwand-

667 Für Chronister (2018, S. 130) ist die Beschreibung des Körpers Teil der Distanzierungsstrategie der Autorin, die gegensätzliche Metaphern benutzt, sodass sich der Leser die Gestalt des Mädchens nie als kohärentes Ganzes vorstellen kann. 668 So durch den sich in die Großmutter verwandelnden Wolf aus »Rotkäppchen« und Assoziationen zu Brechts Kalendergeschichte »Die unwürdige Greisin« (1939). Dort findet zwar keine physische Metamorphose statt, aber ein Lebenswandel der Großmutter, die dadurch mental verjüngt. 669 So Beaneys Lektüre des Erpenbeck’schen Textes im Vergleich mit Marie Luise Kaschnitz’ Erzählung »Das dicke Kind«. Beaney interpretiert beide Erzählungen als Reaktion auf die gesellschaftlichen Umbrüche von 1945 und 1989: während sie bei Kaschnitz eine Entwicklung der Figur und eine Anerkennung ihrer eigenen Vergangenheit beobachtet, sei dies bei

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lung in den ursprünglichen Zustand. Mit Friedmann Harzer könnte man sagen, dass die Metamorphose, »[…] die als Ereignis am Anfang steht, […] als Erzählung erst am Ende [erscheint].«670 Vorher muss sich der Leser mit bestimmten Indizien, die auf den Verwandlungsprozess verweisen, begnügen. Auslöschung und Neubeginn: Kindheit als Ideal Bereits zu Beginn der Erzählung versteht der Leser, dass das Mädchen an seinem Schicksal nicht unbeteiligt ist: »So hat es sich das gedacht. So wie andere danach streben, aus einem umzäunten Gebiet, aus Gefängnis, Arbeitsanstalt, Irrenhaus oder Kaserne auszubrechen, ist das Mädchen genau im Gegenteil in ein solches umzäuntes Gebiet, in ein Kinderheim eben, eingebrochen […].« (GaK, 11) Diese Suche nach einem Ort des Rückzugs, dessen restriktive Seiten das Mädchen nicht beunruhigen, geht mit einem Bedürfnis nach Ordnung einher, das kindlichem Verhalten kaum entspricht. Das erste Betreten seines Zimmers war »[…] einer der glücklichsten Momente in seinem Leben. Es gab keinerlei Unordnung […].« (GaK, 12) Auch die Wäsche, die sie mit anderen teilen muss, symbolisiert Ordnung: »Jedenfalls rückt dieser kollektive Schlüpfer einiges, das in Unordnung war, wieder in die Ordnung, so ein Gefühl hat das Mädchen.« (GaK, 15) Während die anderen Kinder den »Ordnungsdrang« als »Verrat« (GaK, 46) empfinden, hat es ganz eigene Gründe, Ordnung zu wahren: »Das Mädchen setzt seinen Kleiderstapel, den es durchschaut, in ein Verhältnis zu allem, was undurchschaubar und daher feindlich ist. Jegliche Unordnung ist feindlich […].« Und weiter: »So bewahrt es mehr als nur die eigene Ordnung, aber das weiß bislang noch niemand.« (GaK, 46) Hinter diesem Topos von Ordnung und Unordnung lässt sich eine Parabel auf gesellschaftliche Veränderungen vermuten, deren Auswirkungen das Mädchen stellvertretend repräsentiert. Ein Ereignis, so Martin Seel, ist als »Durchbrechung des Laufs der Welt […] ein grundsätzlich ambivalenter Vorgang. […] Auch im positiven Fall aber ist immer eine Störung der Ordnung gegeben, ein Moment der Negativität, nämlich eine Verneinung der Bedeutsamkeit, die man für den Vorfall, der jetzt zum Ereignis wird, vorgesehen hatte.«671 Ereignisse stören den Lauf der Zeit ebenso wie die eigene Lebensplanung, die Vorstellungswelt oder das Bild, das man sich von den Dingen gemacht hat. Ereignisse irritieren und schaffen Unordnung, dieser Situation wird hier eine restriktive Ordnung entgegengesetzt, die paradoxerweise Freiheit symbolisiert. Jenny Erpenbeck unErpenbeck nicht der Fall. Diese Interpretation wird jedoch der bewussten Verwandlung und dem »Spiel« des Mädchens mit Zeitkategorien nicht gerecht. Vgl. Beaney 2016, S. 110f., 115. 670 Harzer 2000, S. 36. 671 Seel 2003, S. 39f.

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terstützt diese Lesart: Das Heim sei im Grunde ein »Unort, ein blinder Fleck auf der Landkarte der wirklichen Welt«, das »aufs Leben draußen vorbereiten [soll], aber es hat sein eigenes Leben: sein eigenes Gelände, seine eigenen Regeln, seine eigene Zeit.« Indem es diesen Ort wählt, nimmt sich nun das Mädchen »[…] Freiheit von den Zwängen des Erwachsenenlebens, es verlangsamt seine eigene Entwicklung, es nimmt sich Zeit.«672 Insofern garantiert das Leben im Heim dem Mädchen »einen ganz neuen Anfang« (GaK, 13), wobei parallel zur körperlichen Regression eine soziale und mentale Rückentwicklung stattfindet. Ungewöhnlich erscheint zunächst die Hoffnung des Mädchens, »einen der unteren Plätze in der schulinternen Hierarchie zu belegen, womöglich sogar den untersten« (GaK, 12). Diese gewollte Selbstaufgabe geht mit einer bewussten Auslöschung von Lebenszeit einher. Schien das Mädchen am Anfang ohne jegliche Erinnerung, bemerkt man nun, dass es ein Wissen besitzt, von dem es sich befreien will: Der Unterricht nimmt seinen Fortgang, das Mädchen aber sitzt still, und die ganze bleierne Beschriftung seines Gehirns fällt nun in den blauen Himmel hinein, der vor den Schulfenstern steht, jedes Wort und jeden Gedanken läßt es los, bis es schließlich einfach dasitzt und ganz leer ist, und man mit Recht von ihm sagen könnte: Es ist ein unbeschriebenes Blatt. (GaK, 20)

Im Gegensatz zum Kaspar-Hauser-Topos durchläuft das Mädchen im Kinderheim eine »umgekehrte Sozialisation«,673 die Erzählung wurde auch als »AntiEntwicklungstext«674 bezeichnet. Das Mädchen täuscht einen Entwicklungsstillstand vor, indem es im Unterricht absichtlich falsche Antworten gibt (GaK, 22) und so den »untersten Platz […], den niemand ihm streitig macht«, »einfach durch gründliches Vergessen […]« halten kann. (GaK, 25) Das ihr eingeschriebene Wissen repräsentiert die Summe der bisherigen Lebenszeit, die bewusst negiert wird, Friedhelm Marx spricht von einer »gespenstische[n], experimentelle[n] Selbstauslöschung«.675 Gleichzeitig lässt die Unterrichtssituation ein Schlüsselerlebnis der kindlichen Schulzeit aufleben, das Kindheit gleichermaßen idealisiert. Als das Mädchen zu schreiben beginnt, treten alte Reflexe hervor: »Die Buchstaben beugen sich still nach links, […], die doppelten Unterstreichungen mittels Lineal finden sich ein, wonnevoll. Der Auftritt der verlorenen Zeit: auf einem Teppich aus blauer Tinte.« (GaK, 21) Der Akt des Schreibens wird ästhetisch überhöht, das Adjektiv 672 ›Zur ›Geschichte vom alten Kind‹‹, in: Erpenbeck 2018, S. 171. 673 Gansel 2014, S. 87. 674 Schwahl (2010, S. 58) interpretiert diese »Variante einer Entwicklungsverweigerung« in erster Linie als Beispiel eines »pathologische[n] Fall[s], als extreme Form von biographischer Regression bei einer Dreißigjährigen« und erst dann als Parabel. 675 Marx 2014, S. 101.

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»wonnevoll« steht für die lustvollen Gefühle beim Schreiben, die Alliteration zwischen Teppich und Tinte schafft eine Verbindung zwischen den beiden Wörtern und assoziiert Schreiben mit Sanftheit und Wohlbefinden. Die Farbe Blau ruft die romantische Blume als Sinnbild der Poesie ebenso auf wie eine Epoche, die die Kindheit idealisiert. Auch Prousts »verlorene Zeit« scheint als »mémoire involontaire« im Text durch, sie wird offensichtlich durch die nach langer Zeit plötzlich wieder empfundenen Wahrnehmungen beim Schreiben hervorgerufen. Diese kurze, stark literarisierte Passage hat auch einen poetologischen Wert. Denn die Verbindung zwischen Schreibakt und Evokation der Kindheit ist auch für die Autorin Jenny Erpenbeck relevant, die den Verlust der Kindheit im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989 in verschiedenen Essais immer wieder thematisiert hat676. Geschichte vom alten Kind ist Erpenbecks erste literarische Verarbeitung der Erfahrung des Umbruchs und des damit verbundenen Verlustgefühls. Die Reflexion der Zeit der Kindheit im Schreibakt der Autorin findet ihre Entsprechung in der Protagonistin der Erzählung, die sich in einer unbekannten Umgebung neu zu erfinden versucht und Strategien entwickelt, um die Zeit der Kindheit wiederzubeleben. In diesem Sinne erscheint das Heim als schützender Ort des Rückzugs. Während die anderen Kinder nur darauf warten, endlich in den Genuss der Freiheit zu gelangen, nimmt die Figur Freiheit ganz anders wahr: »[…] das Mädchen aber weiß, daß in Wahrheit die Freiheit das ist: nicht selber schubsen zu müssen, und diese Freiheit gibt es in der Anstalt, und nirgends sonst.« (GaK, 25) Carsten Gansel zufolge scheint hier »eine Wunschvorstellung durch, die bis in die Romantik zurückgeht und die Kindheit als Schonraum entwirft, der davor schützt, irgendwann einmal zu den ›Kaltherzigen‹ zu gehören.«677 Die Verweise auf romantische Vorstellungen einer idealisierten Kindheit können noch weiter verfolgt werden. Obwohl das Mädchen im Heim eine Außenseiterin ist, wird es nach und nach von den Kindern akzeptiert. Noch bevor die körperliche Regression in den vorpubertären Zustand ganz vollzogen ist, nimmt das Mädchen nunmehr an den Spielen und Scherzen der anderen teil und erlebt so den »Anbruch des Goldenen 676 So reflektiert sie in einem im Rahmen eines Symposiums über »Topographien der Kindheit« entstandenen Essay: »Die Freiheit war ja nicht geschenkt, sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben. Der Preis war, dass, was sich eben noch Gegenwart genannt hatte, nun Vergangenheit hieß. […] Das Selbstverständliche hörte innerhalb weniger Wochen auf, das Selbstverständliche zu sein. […] Meine Kindheit gehörte von nun an ins Museum.« (›Heimweh nach dem Traurigsein‹, in: Erpenbeck 2018, S. 42f.). Noch 2015 definiert sich die Autorin in ihrer Rede zur Aufnahme in die Berliner Akademie der Künste so: »Wenn ich sagen soll, wer ich bin, was also soll ich dann sagen? Soll ich sagen, ich bin eine, deren Kindheit nur noch im Museum zu besichtigen oder auf schwarzweißen Fotografien zu sehen ist?« (›Zeit‹, in: Erpenbeck 2018, S. 70). 677 Gansel 2014, S. 87.

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Zeitalters« (GaK, 75). Der Topos des »goldenen Zeitalters« in Verbindung mit dem kindlichen Stadium verweist wiederum auf die Romantik, in einem seiner Blütenstaub-Fragmente schreibt Novalis: »Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter.«678 In Kindern sieht Novalis ebenso wie im »goldenen Zeitalter« der Antike etwas Vollendetes,679 in der Kindheit befinden sich »Mensch und Natur in vollendetem Einverständnis«, in tatsächlicher »Harmonie«.680 Einem solchen durch die Romantik sublimierten metaphysischen Zustand der Kindheit steht in Erpenbecks Text jedoch noch eine andere Auffassung zur Seite, die auf Rousseaus Vorstellungen eines kindlichen Naturzustandes und entsprechende Zeitvorstellungen zurückgeht. Rousseau assoziiert das Kindesalter mit dem idealen »Naturzustand« des primitiven Menschen, wobei dieser Idealzustand mit Beginn der Pubertät und dem Eintritt in die stärker sozial geprägte Welt endet.681 In Erpenbecks Text fällt auf, dass das Mädchen bei jeder Art von sexueller Manifestation Abneigung und Ekel empfindet, so als müsste es sein angestrebtes Kindsein vor solchen Gefühlen schützen. Während seine Zimmergenossin über Liebe spricht, hängt »[…] seine Existenz geradezu davon [ab], derlei Verunreinigungen niemals in Zusammenhang mit sich selbst zu bringen«, »nur die eigene Unschuld [gibt] seinem Aufenthalt hier einen Sinn […].« (GaK, 91) Genau in diesem Moment erreicht die körperliche Regression der Frau zum Kind mit dem Aussetzen der Menstruation ihren Höhepunkt, mit dem Erreichen dieses kindlichen Zustands scheint auch die Schuld, die es für seinen Körper verspürt und die immer wieder thematisiert wird, getilgt. Erpenbecks Text assoziiert Kindheit, ähnlich wie Rousseau, mit einem vorpubertären Zustand, den das Mädchen erst erreichen und dann bewahren muss. In seiner Deutung des Rousseau’schen kindlichen Naturzustands hat HansHeino Ewers auf dessen zeitliche Implikationen hingewiesen: »Naturstand und Kindheit bilden äußerste Anfangspunkte, die der menschlich-gesellschaftlichen wie der individual-menschlichen Entwicklung noch vorgelagert sind«.682 Sie sind dadurch »außerhalb aller Zeitenfolge und Geschichte angesiedelt; sie entziehen sich damit aller geschichtlichen Qualifizierung, sind zeitlos im Sinne einer Geschichtstranszendenz.«683 Naturzustand und Kindheit werden mit Zeitlosigkeit assoziiert, Kindheit wird »in dem sie umgebenden zivilisierten Weltzustand zu einem Anachronismus, zu einer Insel der Zeitlosigkeit im Meer einer der Geschichte anheimgefallenen Welt.«684 Ewers Ausführungen zur Zeitlosigkeit der 678 679 680 681 682 683 684

Novalis 1978, S. 273 (97. Fragment). Vgl. dazu Ewers 1989, S. 152. Ebd., S. 182. Ebd., S. 51. Ebd., S. 51f. Ebd., S. 52. Ebd.

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Kindheit konvergieren erstaunlich mit der Zeitwahrnehmung des »alten Kindes«. So stellt das Mädchen fest, dass im Kinderheim »Ereignisse […] nicht verlorengehen, daß die Kindheit auf einem weiten Meer von Zeit dahinschaukelt.« (GaK, 87) Die von Erpenbeck benutzte Schiffsmetapher erinnert an Ewers Bild der zeitlosen Insel innerhalb einer von Geschichte bewegten Welt. Kindheit bedeutet auch für das Mädchen im Heim Zeitlosigkeit, zumindest strebt sie diesen Zustand an. Dass sie dabei mit der dort gültigen Zeitvorstellung nicht in Einklang steht, soll im Folgenden gezeigt werden. Zudem ist auch das Heim umgeben von einer »der Geschichte anheimgefallenen Welt«, um noch einmal Ewers zu zitieren, welche auch die Entwicklung des Mädchens beeinflussen wird.

3.1.3. Gegenwart und Zeitlosigkeit Entwurf einer individuellen Zeit Die Selbstaufgabe der Protagonistin geht mit dem Willen einher, sich dem Voranschreiten der Zeit zu widersetzen und nicht wie die anderen Schüler »planmäßig« in die nächste »Klasse fortzuschreiten«: »Und was für die anderen ein Schrecken ist – denn nicht versetzt zu werden, bedeutet, ein Jahr länger in dieser Anstalt fristen zu müssen –, das eben ist für das Mädchen ein gelungener Streich.« (GaK, 23) Im Gegensatz zu den anderen bewegt es sich im »Spaziertempo« (GaK, 24), Langsamkeit charakterisiert das Verhalten des Mädchens.685 Die körperliche Verwandlung führt auch zu einer Entschleunigung der Zeit. In dieser Spannung zwischen dem zukunftsgerichteten Fortschreiten der Mitschüler und der eigenen Verlangsamung deutet sich bereits an, dass die Zeitvorstellung des Mädchens von derjenigen seiner Umgebung differiert. Dies betrifft auch ihr zwiespältiges Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft. Der leere Eimer, den es zu Beginn bei sich trägt, verweist auf den Verlust »der Erinnerung, der Eltern, der Zusammenhänge und vielleicht sogar des Geschlechts und der Persönlichkeit«, wie Nancy Nobile es formuliert.686 Zudem ist es zu keinerlei Zukunftsprojektionen bereit, Kinder möchte es später nicht haben (GaK, 50), als man es nach Berufswünschen befragt, schweigt es (GaK, 84). Diese Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft machen deutlich, dass das Mädchen allein auf die Gegenwart fokussiert ist. Es lebt in einem »Jetzt«, das auf seine Entwicklung keine Auswirkungen zu haben scheint. Das Heim ist eine Art Zeitreservoir, in dem das Mädchen die eigene »Leere«, 685 Aufgrund seiner Unförmigkeit »bewegt [es] sich langsam« (GaK, 9), im Sportunterricht »wird es von Woche zu Woche stetig langsamer.« (GaK, 41) 686 Nobile 2003, S. 286 (»[…] she is marked by loss – of memory, parents, context, perhaps even of gender and personhood […]«).

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»eine schwarze, gähnende Leere« (GaK, 33) kultiviert, eine Nichtpositionierung und Passivität, die die Grundlage dieses ausschließlich in der Gegenwart verankerten Lebens bilden. Diese besondere Zeitwahrnehmung des Mädchens führt auch dazu, dass es die Zeit, die es des Öfteren auf der Krankenstation verbringen muss, nicht wie die anderen Kinder als »Wartezeit« und »leere Zeit« (GaK, 60) empfindet, da sie ja gerade ihrem eigenen Zeitgefühl entspricht. In ihrer Untersuchung zur erzählerischen Gestaltung des Wartens hat Nadine Benz die Zeiterfahrung des Wartens als Konflikt zwischen einem objektiven zeitlichen Bezugssystem und der individuell wahrgenommenen Zeit beschrieben: Diese eigene Zeit scheint still zu stehen oder wird als länger als üblich empfunden, während die Uhr, stellvertretend für die objektive chronometrische Zeit, im selben Maße weitertickt wie stets. Dabei wird die Zeit des Wartens als ›leere‹ Zeit qualifiziert, wobei ›leer‹ sich auf die Messbarkeit in einem als linear gedachten Zeitkontinuum bezieht […] bzw. auf eine semantische ›Leere‹ bezüglich des Fortschreitens der eigentlichen Handlung.687

Während Wartezeit in der Regel negativ konnotiert ist, erfolgt aus der Perspektive des Mädchens eine Aufwertung eben dieser Zeit. Ihre eigene Zeitwahrnehmung steht der linearen und an die objektive Zeit gebundene Zeitvorstellung ihrer Kameraden entgegen. Der von ihr erlebten Zeit haftet in der Tat eine »semantische Leere« an, da sie sich vor allem an den unspektakulären Wiederholungsstrukturen des Alltags orientiert. Die Bedeutung des Alltags mit seinen zeitlichen Fixierungen wird im Text häufig durch ein iteratives, einmaliges Erzählen sich wiederholender Vorgänge signalisiert,688 welches einen Höhepunkt erreicht, wenn das Mädchen bei seinem definitiven Zusammenbruch in die Krankenstation eingeliefert wird: Sonnabends […] – aber das kleine ›s‹, darauf kommt es an […], so klein es ist, das ›s‹, es spendet dem Mädchen Trost. Dieses ›s‹ steht für Ordnung und Regel, es bedeutet, daß man weiß, was zu tun, was zu lassen ist, und daß man überhaupt weiß, was ist. Dieses ›s‹ ist der kurze, aber prächtige Schweif all der Wochentage, die das Mädchen im Gedächtnis zu bewahren vermag: […]. (GaK, 117)

Jenny Erpenbeck hatte zu ihrer Wahrnehmung des Umbruchs von 1989 festgestellt, dass der Alltag plötzlich kein selbstverständlicher Alltag mehr war und Gegenwart in eine museale Vergangenheit umkippte: »Es war einfach Zeit, die tatsächlich auf diese, mir bekannte Weise vergangen ist […]. Es geht um Zeit, die

687 Benz 2013, S. 206. 688 Z. B.: »Den inneren Schweinehund soll man bekämpfen, sagt die Sportlehrerin am Ende jeder Sportstunde.« (GaK, 40); »[…] wenn beispielsweise der Erzieher am Samstag, bei der allwöchentlichen Kontrolle, sämtliche Kleidungsstücke aus einem Spind herausreißt […]« (GaK, 45).

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einmal eine Gegenwart war […]«.689 Das Festhalten des Mädchens an ihrem zeitlosen, gegenwärtigen Alltag erscheint wie der Versuch, diese Entwicklung wenigstens in der Fiktion rückgängig zu machen. Die fantastische Verwandlungsgeschichte ermöglicht die Evokation eines kindlichen Zeitgefühls, dass ganz auf Gegenwart ausgerichtet ist, sie zelebriert eine ideale Zeit, in der die eigenen Handlungen keine Folgen haben, in der nicht einmal gehandelt werden muss wie im Erwachsenenalter. Das »Außer-der-Zeit-Sein« des Mädchens im Heim bedeutet gleichzeitig ein vollständiges »In-der-Zeit-Sein« in der Gegenwart und eine Abschottung von äußeren Einflüssen. Grenzen der Eigenzeit Trotz der Akzentuierung des Gegenwärtigen, die – wie zu sehen sein wird – auch auf ästhetischer Ebene nachvollzogen wird, scheint das Mädchen in der Perspektivlosigkeit der Gegenwart dennoch gefangen zu sein. Nachdem es seinen Kameradinnen keine Berufswünsche nennen konnte, kommentiert die Erzählinstanz: […] und es scheint ihm so, als hätte es mit der Erinnerung an das, was war, auch die Erinnerung an das, was sein soll, verloren. Es kommt sich vor wie jemand, der zusammengeschnurrt ist, wie jemand, der in der Zeit zusammengeschnurrt ist wie in einem Feuer, und jetzt ein Klumpen ist in einem Kinderheim. (GaK, 84f.)

Auf den geschichtlichen Kontext des Umbruchs von 1989 bezogen, kann diese Stelle als Verlusterfahrung gelesen werden: Nachdem die eigenen Erfahrungen plötzlich zur Vergangenheit geworden sind, verschwinden auch die an diese Vergangenheit gebundenen Zukunftsvorstellungen, so dass man sich in der neuen Gegenwart ohne die alten Perspektiven gefangen fühlt.690 In dem oben zitierten Essai über die Zeit und den Alltag ihrer Kindheit setzt Erpenbeck fort: Zeit, zu der ein bestimmter Begriff von Zukunft gehörte, der mir vertraut war, wenn diese Zukunft selbst auch noch in weiter Ferne liegen mochte. […] Aber jetzt? Jetzt gibt es wieder eine Zukunft. Oder fallen Gegenwart und Zukunft jetzt für immer in eins? Und wird vielleicht mit den Ruinen, die nun ein für allemal abgeräumt werden, auch die Vergangenheit ein für allemal abgeschafft? Kommen wir nun für immer in einer Zeit an, die für alle Zeit Gültigkeit haben soll?«691

Diese Überlegungen suggerieren ebenso wie der Kommentar der fiktiven Erzählinstanz ein Gefangensein in einer gegenwärtigen, immer gültigen Zeit. In der Diegese wird an dieser Stelle schon angedeutet, dass der Verwandlungsprozess 689 ›Heimweh nach dem Traurigsein‹, in: Erpenbeck 2018, S. 46f. 690 Ein eindringliches Beispiel für diese Wahrnehmung bietet Julia Schochs Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers, vgl. dazu Kap. 2.2. 691 ›Heimweh nach dem Traurigsein‹, in: Erpenbeck 2018, S. 46f.

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nicht die erhoffte Freiheit bringen wird und scheitern muss, dass ein alleiniges Leben in der Gegenwart jegliche Entfaltung verhindert – das in der Zeit »Zusammengeschnurrt«-Sein bringt dies ebenso zum Ausdruck wie das Bild vom kompakten »Klumpen«. Tara Beaney hat im Zusammenhang mit diesem Bild auf Grimms kurzes Märchen »Das junggeglühte Männlein« als möglichen Intertext verwiesen. Im Märchen wird ein Bettler von Jesus Christus im Hause eines Schmieds verjüngt. Als der Schmied am nächsten Tag das Experiment mit seiner Schwiegermutter wiederholt, misslingt es und die alte Frau liegt »heulend und maulend ganz zusammen geschnurrt im Trog«.692 Das Feuer bringt entweder Verjüngung oder führt zu einer schrecklichen Qual, wobei Erpenbecks Wortwahl »in der Zeit zusammengeschnurrt […] wie in einem Feuer« eher auf das Misslingen des Verwandlungs- und Verjüngungsprozesses des Mädchens verweise.693 Das Verhalten des Mädchens ändert sich in dem Moment, als ein geschichtliches Ereignis in ihr Leben tritt: »Am 13. Februar ist die Stadt zum ersten Mal bombardiert worden […]. Jetzt, da das Bombardement lange her ist, gibt es die Stadt wieder, […] der Direktor möchte eine Rede halten.« (GaK, 100) Dieser 13. Februar ist die erste und einzige konkrete Zeitangabe im Text, die dem Leser jedoch weniger Aufschluss über die Zeit der Handlung gibt als vielmehr über deren topographische Verortung im Osten Deutschlands. Historisch handelt es sich um die Bombardierung Dresdens im Jahre 1945, derer sich die Kinder im Heim anlässlich einer Gedenkfeier erinnern sollen. Während sich das Mädchen zunächst nur für das Ende der Rede und die auf feierlich gedeckten Tischen servierte Torte interessiert, vergeht ihr plötzlich der Appetit, als der Direktor mit drastischen Worten über die in die kochende Elbe flüchtenden Menschen berichtet. Es geht in die Küche und fragt dort die Köchin, »[w]arum […] eine Geburtstagsfeier veranstaltet [wird], wenn die Menschen gekocht worden sind?«, worauf die Köchin antwortet: »Man muß es feiern, wenn man es nicht vergessen kann.« (Gak, 101) Über das konkrete Ereignis hinaus besagt diese Stelle, dass Geschichte nicht vergeht und nicht vergessen werden kann, dass man sich ihr nicht entziehen kann. Geschichtszeit kann nicht ignoriert werden, es ist unmöglich, aus ihr herauszutreten und ihr eine eigene, individuelle Zeit entgegenzusetzen, wie es das Mädchen versucht. Fortan geht es ihm schlechter, der nächste Absatz der 692 Kinder- und Hausmärchen 1975, S. 64. 693 Beaney 2016, S. 103. Darüber hinaus liefert das Ende des Grimm’schen Märchens, wo statt zwei Menschenkindern junge Affen geboren werden, auch einen humorvollen metaliterarischen Kommentar zum Verwandlungsprozess selbst, der plötzlich in einer grotesken Metamorphose endet. Die gewollte Verjüngung von Erpenbecks dreißigjähriger Frau führt nicht zu erneuter Schönheit und Jugendlichkeit, sondern äußert sich in Gestalt eines dicken, unförmigen und ungeschickten Mädchens, das kindliches Benehmen einübt, indem es die anderen imitiert, eben nachäfft.

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Erzählung berichtet davon, dass es nun »sehr still, stiller noch als gewöhnlich [ist]« (GaK, 101) und »so müde, müde, müde« (GaK, 102), als trete ihr die Vergeblichkeit ihres Verwandlungsspiels in diesem Augenblick vor Augen, als müsse es nun wieder in die Zeit der Geschichte und damit auch in seine chronologische Lebenszeit eintreten. Dieser »Einbruch« der Geschichte, der in den verschiedenen Texten des in dieser Arbeit analysierten Korpus auf unterschiedliche Weise dargestellt wird, geht mit einer veränderten Wahrnehmung einher, die nunmehr auf die Komplexität der Dinge gerichtet ist: »Das Mädchen hatte immer nach rechts und links gesehen, um das Richtige zu tun, aber jetzt, nachdem es schärfer sehen kann und die Vielfalt der Menschen wahrnimmt, […], da kann es sich nicht mehr für das Richtige entscheiden, weil es nicht mehr weiß, was das Richtige ist.« (GaK, 107) Dies führt zu einer »Lähmung« (ebd.), zu einer Handlungsblockade, da das Mädchen auch begreift, dass es den »kollektiven Willen«, den es im Heim gesucht hat, in Wirklichkeit nicht gibt. Die Suche nach einem Ort, an dem eine perfekte Ordnung herrscht und an dem es die unterste Position in der Hierarchie beibehalten kann, muss scheitern, da die Komplexität einer durch Geschichte determinierten Welt auch in der Anstalt selbst zu finden ist. Der kollektive Wille – Überrest einer gescheiterten Utopie – existiert nicht. Der Versuch des Mädchens, nach einer eigenen Zeitvorstellung zu leben, die biologische Zeit rückgängig zu machen und im Heim das verlorene Universum der Kindheit wiederzufinden, gerät somit an seine Grenzen und offenbart sich als Illusion. »Wie eine Blinde ist es an die Zeit gestoßen, da muß es weinen.« (GaK, 116), heißt es, als es in der Krankenstation aus dem täglichen schulischen Rhythmus gerät. Als sich sein Zustand verschlechtert, wird es in das Krankenhaus der Stadt gebracht und auf Diät gesetzt, was zur allmählichen Rückverwandlung des Mädchens führt und es entlarvt: […] jedenfalls wird, was bisher als wirkliche Existenz wahrgenommen worden ist, nun als gezielte Täuschung erkennbar, als eine Maskerade, und weiter nichts. Das Mädchen, das nun kein Mädchen mehr ist, hat sein Kostüm abgelegt, die eigene Haut, und den Mummenschanz vor aller Augen beendet, so als sei seine Kindheit nichts als ein Scherz gewesen, als sei es ihm gegeben gewesen, in der Zeit herumzuspazieren wie in einem Garten, und in dieser Haltung liegt, […], etwas Anstößiges, etwas Hochmütiges, den Lauf der Dinge Verachtendes, ja Gott Versuchendes. (GaK, 124)

Erscheint die auf den letzten Seiten gerafft erzählte Rückverwandlung als spektakulär und »diskontinuierlich«,694 als Ereignis, auf das der Leser durch die im Text gestreuten Indizien zwar nicht unvorbereitet ist, das aber doch überra694 Eine »diskontinuierliche Metamorphose« akzentuiert »ihren Verlauf in wenigen, unvermittelten Sprüngen«, im Gegensatz zur »kontinuierlichen Verwandlung« als natürlicher Prozess, der »durch viele Übergänge vermittelt« wird. Harzer 2000, S. 27.

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schend geschieht, so handelt es sich letztendlich nur um die Wiederherstellung des Ausgangszustandes. Wesentlich bleibt im Text die Fokussierung auf das erzählte »Dazwischen«,695 auf die Zeit des verwandelten Kindes in ihrer Alltäglichkeit, in der es »herumspazier[t] wie in einem Garten«. Das Motiv des Gartens kann kulturgeschichtlich sowohl mit dem Topos des »Garten Eden«, hier verstanden als Ort einer idealen Kindheit, als auch mit dem »hortus conclusus«696 in Zusammenhang gebracht werden. In diesem abgeschlossenen Garten, der sowohl Ewigkeit und Dauer als auch Zeitstillstand und Zeitlosigkeit repräsentieren kann,697 treten die gültigen Zeitkategorien außer Kraft. Für das Mädchen entspricht dies der Suche nach der Zeitlosigkeit der Kindheit, dem Versuch, sich der chronologischen Zeit zu entziehen. Dass dies scheitern muss, wird am Ende der Erzählung deutlich: »[…] ihr Schelmenstreich ist gestrandet, ihr Versuch, die Zeit anzuhalten, fehlgeschlagen.« (GaK, 124)

3.1.4. Erzählte Zeit und Erzählzeit: Linearität, Gegenläufigkeit und Atemporalität Der mit der Verwandlung verbundene Versuch der Protagonistin, eigene Zeitvorstellungen durchzusetzen, führt zu einer den anderen Figuren gegenläufigen Zeitwahrnehmung, sodass Zeitlosigkeit und Stillstand einer fortlaufenden Zeitbewegung entgegenstehen. In der Erzählung werden unterschiedliche Zeitorientierungen gleichzeitig konstruiert: der Progression der erzählten Zeit und der Erzählzeit stehen auf Figurenebene die Regression von Lebenszeit und die verstärkte Fokussierung auf die Gegenwart gegenüber, so dass in der Diegese eine doppelte Zeiterfahrung erzählt wird. Zu fragen ist, wie dies in der Dynamik von erzählter Zeit, Erzählzeit und narrativem Akt dargestellt wird,698 welche besondere Qualität der erzählten Zeit der Diegese zukommt und welche Funktion dem in weiten Teilen benutzten Erzähltempus des Präsens zukommt.

695 Wenn die Metamorphose wie hier erst am Ende erzählt wird, dann akzentuiert Harzer zufolge »die narrative Ökonomie […] den Abstand von degradierter und wieder rehabilitierter Existenz«. (Ebd., S. 36) Dieser »Abstand«, diese »Zwischenzeit« wird in der Tat in Erpenbecks Text ausführlich erzählt. 696 Benz (2013, S. 178f.) verweist darauf, dass dieses ursprünglich der Mariensymbolik zuzuordnende Motiv immer wieder als literarische Metapher verwendet wird, die mit Ewigkeit, aber auch mit der Haltung des Wartens konnotiert ist. 697 Ebd., S. 180f., 200. 698 Drei Dimensionen, die maßgeblich der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Zeit und Erzählen dienen. Vgl. dazu Weixler/Werner 2015, S. 5.

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Erzählte Zeit I und Erzählzeit: Linearität und Progression Die erzählte Zeit als »konstitutives Element der erzählten Welt«699 hat in Erpenbecks Text eine besondere Bedeutung, da es zu einer Dissoziation der Zeitwahrnehmung der Protagonistin im Verhältnis zu ihrer Umwelt kommt, die Figur also ein eigenes, subjektives Zeitsystem entwickelt.700 Die erzählte Zeit kann als fiktionale Zeit von der Zeit der realen Welt abweichen, in der Regel wird jedoch eine Analogie zwischen beiden Zeitvorstellungen angenommen.701 Dies scheint auch in Erpenbecks Erzählung der Fall zu sein, da die fiktionale, erzählte Zeit der kontinuierlichen, linearen Zeit der realen Welt entspricht. Insgesamt gibt es nur wenige, »relative«702 Zeitangaben, die sich vor allem am natürlichen Zyklus der Jahreszeiten orientieren. So erfährt man am Anfang, dass das Mädchen an einem »noch warmen Tag im Herbst« (GaK, 10) im Kinderheim ankommt und am Ende der Erzählung »im Frühjahr« (GaK, 113) ins Krankenhaus eingeliefert wird, zuletzt »dringt der Duft von Flieder« (GaK, 124) in ihr Zimmer.703 Eine genauere Information über die Länge ihres bisherigen Aufenthalts im Heim erfolgt erst nach mehr als der Hälfte der Erzählung, man erfährt, dass sie bisher »drei Monate« (GaK, 75) dort war. Am Ende wird auch die Dauer ihres Rückverwandlungsprozesses angegeben: »[i]nnerhalb von etwa zwei Wochen« treten aus ihrem Gesicht »die Züge einer Frau hervor« (GaK, 122), nach weiteren »zwei Wochen« (GaK, 123) endet der Wandlungsprozess. Obwohl die Zeitangaben größtenteils dem zyklischen Rhythmus der Natur entsprechen, scheint die erzählte Zeit einem kontinuierlichen und linearen Modell zu folgen, das ein Voranschreiten in einem Zeitrahmen vom Herbst bis zum Frühjahr suggeriert. Diese auf der Ebene der erzählten Zeit repräsentierte Chronologie und relative Linearität entspricht weitgehend der Erzählzeit. Die dominante Präsenserzählung führt dazu, dass es im Text kaum Anachronien, d. h. Variationen in der chronologischen erzählerischen Ordnung gibt. Neben einer Prolepse, die die kommende Handlung jedoch nur spärlich vorwegnimmt, findet man einige Analepsen, in denen lückenhaft auf die Vergangenheit der Protagonistin und auf

699 Ebd., S. 6. 700 Werner (2011, S. 152) hat darauf hingewiesen, dass die Bedeutung und Deutung der diegetischen Zeit im Verhältnis zur Erzählzeit bisher weitgehend unreflektiert geblieben ist und schlägt unterschiedliche Zugänge zur Analyse vor, darunter auch die Frage, ob für alle Figuren der erzählten Welt das gleiche Zeitsystem gilt. 701 Weixler/Werner 2015, S. 6. 702 Ebd., S. 8. 703 Im Laufe der Erzählung gibt es weitere Angaben, die sich auf die Jahreszeiten beziehen, so auf Kälte und Schnee (75), auf den Winter (77), den schmelzenden Schnee (108) und das Grünen der Bäume (116).

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die vor dem Erzählten liegende Zeit verwiesen wird.704 Anstatt dem Leser in klassischer Manier Informationen über die Vorgeschichte der Figur nachzuliefern, tragen diese stark reduzierten Analepsen zur Rätselhaftigkeit des Textes bei. Der weitgehende Verzicht auf Anachronien führt dazu, dass die Abfolge der Ereignisse relativ linear erzählt wird. Auch erweckt die fast durchgehende Erzählung im Präsens nicht den Eindruck von Gleichzeitigkeit, da trotz insgesamt sparsam eingesetzter sprachlicher Mittel zur Kennzeichnung des zeitlichen Rahmens die Progression der Zeit durch Temporaladverbien, Präpositionen und Konjunktionen verdeutlicht wird.705 Eine Progression wird auch durch die materielle Form suggeriert, durch die hohe Anzahl der durch Leerzeilen unterbrochenen Absätze, die dem Text einen besonderen, dynamischen Rhythmus verleihen und wie Szenen bzw. Momentaufnahmen aufeinanderfolgen. Während bestimmte Absätze aufeinander aufbauen und durch zeitliche bzw. logische Konnektoren miteinander verbunden sind, so dass sie dadurch chronologisch geordnet sind, erscheinen andere wiederum voneinander unabhängig, wobei die Leerzeilen hier Ellipsen bzw. Zeitsprünge706 signalisieren, die die Erzählgeschwindigkeit erhöhen und die Erzählung vorantreiben. Erzählte Zeit II: Gegenläufigkeit der Figurenperspektive Die scheinbar linear verlaufende Zeit der erzählten Welt, die parallel durch eine relativ linear und kontinuierlich verlaufende Erzählzeit vermittelt wird, entspricht der allgemeinen Zeitwahrnehmung im Kinderheim, derjenigen der Kinder, die die Schule abschließen und das Heim so schnell wie möglich verlassen möchten. Das Mädchen verfolgt in dieser Hinsicht andere Ziele, es widersetzt sich dieser »fortschreitenden« Zeit und entwickelt eine eigene, figurengebundene Zeitvorstellung. Auch dies findet in der erzählten Zeit seinen Ausdruck. Während sich das Mädchen den Zeitangaben folgend zwischen Herbst und Frühjahr im Heim aufhält, ist plötzlich vom Sommer die Rede: die Erzählinstanz berichtet, dass das Mädchen trotz seiner Fettleibigkeit »sehr leicht [friert], selbst im Sommer« (GaK, 56) und dass es »an chronischem Schnupfen 704 So zu Beginn, als sich das Mädchen im Heim »an die Zeit der Spiegel« erinnert (GaK, 16), als sie im Mathematikunterricht feststellt: »Irgendwoher kennt es diese Gerade […]« (GaK, 20) bzw. die Erzählinstanz schlussfolgert: »Es hat wohl Zeiten gegeben, da galt auch für das Mädchen eine schlechte Note als etwas Schlechtes, aber das muß lange her sein.« (GaK, 22). Einige dieser Analepsen werden trotz der intendierten Retrospektion im Präsens erzählt. 705 So zwischen aufeinanderfolgenden Episoden (»Nach dem Waschen […]«, GaK 14; »Als es dann […]«, GaK 15) oder bei relativ unabhängigen Episoden: »Einige Tage darauf […]« (GaK, 68); »[…] in der darauffolgenden Woche […]« (Gak, 70); »Je länger es im Heim wohnt […]« (GaK, 94). 706 Martínez/Scheffel (2009, S. 42) definieren die Ellipse als »Extremform des zeitraffenden Erzählens«.

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leidet. Selbst im Sommer, mitten im Sommer, wenn niemand anderes auch nur an Schnupfen denkt, muß das Mädchen sich auf seiner Schulbank zusammenknäulen, um sich die Nase zu putzen.« (GaK, 57) Dieser Inkohärenz in der erzählten Zeit geht eine Passage voraus, in der über die Temperatur in verschiedenen Gebäuden des Heims und im Freien reflektiert wird. Es sei in den Räumen des Heims […] noch ziemlich warm, so daß man auf menschliche Weise existieren kann. Selbst auf dem Gelände kann man die Temperatur sogar im Winter noch als durchaus zumutbar bezeichnen, während sie das außerhalb des umzäunten Geländes, unter dem gleichen Himmel, nur eben außerhalb des Zauns, nicht ist, das gehört zu den wenigen Tatsachen aus der Vergangenheit, an welche sich das Mädchen noch lebhaft erinnert. (GaK, 56)

Die Außenwelt wird mit Kälte assoziiert, das Heim mit schützender Wärme, der als objektiv dargestellte Temperaturunterschied verweist auf den fiktionalen Charakter des Erzählten und auf die besondere Wahrnehmung der Figur. Auch an anderer Stelle wird deutlich, dass sich das Mädchen in der Zeit anders verortet als seine Umgebung. Als es in der Krankenstation liegt, schaut es nicht »aus dem Fenster, vor dem die Bäume langsam ihr Grün entfalten. In seinem Kopf schneit es fort und fort.« (GaK, 115f.) Sowohl der empfundene Temperaturunterschied als auch das Zeitgefühl sind jeweils an die spezifische Wahrnehmungsperspektive des Mädchens gebunden und entsprechen in ihrer Unglaubwürdigkeit der zu Beginn ebenfalls als unglaubwürdig und fantastisch beschriebenen Figur. Insofern werden in der Diegese tatsächlich zwei unterschiedliche Bezugsräume von Zeit konstruiert, einer, der sich an der realen Welt orientiert und ein zweiter, der an die Wahrnehmungsperspektive der Figur gebundenen ist.707 Jenny Erpenbeck hat diesen Prozess selbst beschrieben: »Im Winter, in dem die anderen Heimkinder frieren und im Matsch herumlaufen, kann ich das Mädchen aufblühen lassen, während ich es im Frühling, wenn die anderen die ersten Erfahrungen der Liebe machen, ins Krankenhaus schicke. Ich kann so eine ganze Welt und den Kreislauf eines Jahres andersherum lesen […].«708 Neben dieser Gegenläufigkeit der figurenbezogenen Zeit ist diese, wie oben bereits beschrieben, durch eine Zeitlosigkeit charakterisiert, die an den Zustand des Kindseins gebunden ist. Diese Zeitlosigkeit wird auf der Ebene der fiktionalen Zeit der Diegese durch den Gedanken einer »leeren« Zeit, vor allem aber durch die fast durchgehende Verwendung des Präsens erzeugt.709 707 Zur Bestimmung der Bezugsräume von Zeit als Teil einer Analyse der diegetischen Zeit vgl. Werner 2011, S. 151f. 708 ›Zur ›Geschichte vom alten Kind‹‹, in: Erpenbeck 2018, S. 168. 709 Die Zeit der Diegese wird erst durch literarische Verfahren sprachlich erzeugt, so durch die Verwendung bestimmter Tempora, Adverbien, Konjunktionen und Präpositionen, aber auch durch Metaphern und Leitmotive. Vgl. Weixler/Werner 2015, S. 6–8.

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Atemporalität: Qualität des Präsens Die Geschichte vom alten Kind wird bis auf wenige Ausnahmen im Präsens erzählt, dennoch liegt der Zeitpunkt des Erzählens nach demjenigen des Erzählten. Mit einem solchen »späteren« Erzählen in der Vergangenheit setzt die Erzählung ein, geht dann jedoch bereits im dritten Abschnitt ins Präsens und damit in ein scheinbar »gleichzeitiges« Erzählen über.710 Vergangenheitsformen werden weiterhin benutzt, um einmalige Handlungen zu erzählen,711 um Veränderungen im Verhalten des Mädchens während seines Aufenthalts zu signalisieren712 oder um Vermutungen über dessen Vergangenheit anzustellen bzw. Erinnerungen zu evozieren. Dieser Wechsel zwischen späterer und dominierender gleichzeitiger Narration charakterisiert den gesamten Text, so dass eine Annäherung zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und der Zeit des Erzählten zu beobachten ist. Durch die Nullfokalisierung ist die Perspektive jedoch nicht auf den Blick des Mädchens beschränkt, die Erzählinstanz besitzt einen Wissensvorschuss,713 zudem wertet und kommentiert sie das Verhalten des Mädchens. Allerdings verzichtet sie weitgehend auf ihre »analytisch-retrospektive« (bzw. auch prospektive) Perspektive zugunsten der »lebensweltlich-praktische[n] der Protagonisten«.714 Fiktionale Texte, die vorwiegend bzw. ausschließlich im Präsens geschrieben sind, existieren seit Beginn des 20. Jahrhunderts.715 Doch schreibt sich Erpenbecks Erzählung weder in die Tradition der klassischen Moderne ein, die von der Aufwertung einer intensiven Augenblickserfahrung geprägt ist, noch lässt sie sich mit den bei Erscheinen ihrer Erzählung erfolgreichen popkulturellen Strömungen in Verbindung bringen, die die eigene gelebte Gegenwart als »Hier und Jetzt« literarisch zelebrieren.716 Im Gegensatz zu Präsenstexten, die in der Regel in der Ich-Form erzählt werden, haben wir es zudem mit einer Erzählung in der dritten Person zu tun. Für solche Erzählsituationen hat Dorrit Cohn festgestellt, 710 Bei der Analyse der Zeit des narrativen Akts unterscheidet man zwischen späterem Erzählen (in der Vergangenheit), gleichzeitigem Erzählen (im Präsens) und früherem (als einem prophezeienden) Erzählen (in der Zukunft). Vgl. Martínez/Scheffel 2009, S. 69. 711 So am Anfang bei der Ankunft im Heim: »Als man es zum ersten Mal in sein Zimmer geführt hat, […]« (GaK, 12), »Als es in die Klasse gekommen ist, […]« (GaK, 18). 712 »Während der ersten Zeit im Heim war es dem Mädchen so vorgekommen, als versuche es, in ein Wasser einzutauchen. Es hatte niemals ein einzelnes Gesicht wahrgenommen […]. Nun […] begegnet es verschiedenen Personen.« (GaK, 73) 713 So verweist die einzige Prolepse auf das Ende der Erzählung: das Mädchen sei »anfällig für jede Art profaner und, wie sich später herausstellen wird, auch schwerer Krankheiten.« (GaK, 58) 714 So die beiden »epistemischen Perspektiven« bzw. die doppelte Zeitperspektive erzählender Texte. Vgl. Martínez/Scheffel 2009, S. 122. 715 Für eine ausführliche Analyse vgl. Avanessian/Hennig 2013. 716 Vgl. dazu Schumacher 2003.

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dass »[d]as Abweichen von der Tempusregel […] ihre zeitliche Struktur nicht wesentlich [berührt]; denn in dem Maß, in dem die Vergangenheitsform die Erfahrungsgegenwart fiktionaler Bewusstseine hervorbringt, wird sie semantisch (d. h. zeitlich) irrelevant, daher ohne Weiteres durch ein Präsens ersetzbar.«717 Allerdings erscheint das erzählerische Präsens in Erpenbecks Erzählung nicht einfach als Ersatztempus für Vergangenheitsformen oder als Mittel der Spannungssteigerung und Verlebendigung im Sinne eines »historischen Präsens«.718 Die zeitliche Nähe der erzählenden und kommentierenden Instanz zum Erzählten und zur Figur ist zumindest ungewöhnlich, die Erzählsituation nicht wirklich vorstellbar.719 Es scheint, als mobilisiere die Erzählung trotz ihrer Perspektive in der dritten Person doch Merkmale, die den meisten genuin präsentischen Texten inhärent sind. So hatte Cohn für Ich-Erzählungen auf die Inkongruenz und Unvorstellbarkeit der Erzählsituationen des gleichzeitigen Erzählens aufmerksam gemacht,720 die auch in Erpenbecks Text zu spüren ist. Auch der Verzicht von Präsenstexten auf »erzählende Retro-spektion« und »fiktionale Vergegenwärtigung von Vergangenem«721 charakterisiert Erpenbecks Erzählung und entspricht der Absicht des Mädchens, seine bisherige Lebenszeit hinter sich zu lassen und ganz von vorn zu beginnen. Der dominante Rückgriff auf das Präsens verweist dezidiert auf ein Leben in der Gegenwart als »Zeitpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft«, als »Zeit, in der man gerade lebt« bzw. »Jetztzeit«.722 Das gewählte Tempus unterstreicht sprachlich die Gegenwartsfokussierung der Figur, wobei die neu erlebte Gegenwart eben keine Folge von besonders intensiven Augenblicken ist, keine Hervorhebung des Präsentischen als herausragende Erfahrung, sondern dem sich wiederholenden Alltag entspricht. Jedoch verweist das Präsens semantisch auch auf den besonderen Zwischenzustand der Verwandlung.

717 Cohn 2013, S. 127. 718 Avanessian/Hennig 2013, S. 10. 719 Schorm (2014) zufolge führen die plötzlich auftretenden Ich-Passagen »zu einer Verunsicherung in Bezug auf die Stimme des Erzählers. Der distanzierte Berichtstil könnte demnach als Selbstreflexion und Selbstbeobachtung der Protagonistin, die sich selbst zum Objekt wird, eingestuft werden.« 720 Cohn 2013, S. 134f. 721 Avanessian/Hennig 2013, S. 1. 722 Schumacher 2003, S. 16.

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3.1.5. Die Verwandlung als Text: Zeit, Intertext, Genre Literarischen Texten, die Verwandlungen darstellen, ist häufig eine Reflexion über die eigene Form eingeschrieben. Die Thematisierung der Metamorphose erfolgt nicht ohne ihre gleichzeitige Umsetzung auf der formalen und strukturellen Ebene eines Werkes.723 Neben der Destabilisierung menschlicher Identität zeugten viele Texte in unterschiedlicher Weise auch von einer Destabilisierung des literarischen Genres, der Figur, der Erzählperspektive oder auch der Chronologie,724 was auch in Geschichte vom alten Kind zu beobachten ist. Das Präsens als »Zwischenzeit« der Verwandlung Die Chronologie wurde, wie eben dargestellt, in Erpenbecks Erzählung tatsächlich durcheinandergebracht, da der Text unterschiedliche Zeitvorstellungen parallel konstruiert, zwischen Progression der erzählten Zeit und der Erzählzeit, Regression der Lebenszeit der Figur und ihrer antizyklischen Entwicklung sowie ihrem Stillstand in einer zeitlosen Gegenwart. Die Analyse dieser unterschiedlichen Zeitaspekte zeigt, dass der durch den Text vermittelte Eindruck einer linearen Entwicklung täuscht und ihm permanent entgegengearbeitet wird, so dass ein Aspekt zum Tragen kommt, den Peter Kuon für das Konzept der Metamorphose unterstrichen hat: das ihr inhärente Prinzip, nicht-lineare Prozesse zu beschreiben.725 Eine solche Nicht-Linearität, die der sich wandelnden Figur eigen ist, wird also auch durch die zeitliche Konstruktion des Textes selbst zum Ausdruck gebracht. Doch soll in diesem Zusammenhang noch einmal das dominant verwendete Präsens in den Blick kommen. Denn über die Vermittlung einer Wahrnehmung der Gegenwärtigkeit und Zeitlosigkeit hinaus scheint es in einer gewissen Analogie zum Verwandlungsprozess selbst zu stehen. Das Präsens als Jetztzeit repräsentiert den Zeitpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, es situiert sich in einem »Dazwischen«. Ein solches Dazwischen enthält wiederum die Figur der Verwandlung. Friedmann Harzer spricht von der Metamorphose als einer »artikulierte[n] Zeit«: »Sie ›untergliedert‹ eine reine Zeit in ein Davor, ein Dazwischen und ein Danach – und sie ›drückt‹ solche Zustandsveränderungen ›aus‹.«726 Im Falle von Erpenbecks »altem Kind«, das eine reversible Verwandlung beschreibt, entsprechen sich das »Davor« und das »Danach«. Ersteres wird erzäh723 Winkelvoss 2012, S. 13. 724 Ebd., S. 17. Zahlreiche Beispiele zeigen außerdem, dass sich die Verwandlung in der Sprache selbst vollziehen kann (ebd., S. 14). Zu den sprachlichen Implikationen und ästhetischen Anverwandlungen von Metamorphosen vgl. auch Schmitz-Emans 2008. 725 Kuon 2005, S. 1. 726 Harzer 2000, S. 2.

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lerisch ausgespart und das »Danach« wird dann durch den beschriebenen Alterungsprozess erreicht, wobei der Vorgang der Metamorphose durch den intertextuellen Verweis auf das Pygmalion-Motiv explizit unterstrichen wird: »Innerhalb von zwei Wochen treten aus dem rauhen und ungeschlachten, aber ehemals doch entschieden kindlichen Gesicht die Züge einer Frau hervor, so als wäre die Krankheit ein Künstler, dem es endlich gelungen ist, eine in Stein geschlossene Gestalt freizulegen.« (GaK, 122) Die verwendeten Zeitformen, vor allem das Präsens, repräsentieren sprachlich den Verwandlungsprozess selbst, zunächst das Heraustreten aus einem Davor (das in den ersten beiden Abschnitten auch in der Vergangenheit erzählt wird), das Verharren der verwandelten Figur in einer vorwiegend im Präsens erzählten Gegenwart, die den größten Teil der Erzählung ausmacht, und zum Schluss die Rückverwandlung, das Wiedereintreten in den alten Zustand als ein Danach, das wieder verstärkt, wenn auch nicht ausschließlich, unter Zuhilfenahme von Vergangenheitsformen erzählt wird. Dabei wird wiederum ein nicht-linearer Prozess dargestellt, denn auf die gegenwärtige Zeit folgt keine Zukunft, sondern die Rückkehr in die Vergangenheit, in die alte Körperlichkeit. Die anormale Verwendung des Präsens spiegelt gewissermaßen die Abnormität der Verwandlung selbst. Intertextuelle Anverwandlungen Das Thema der Verwandlung ist als Figuration einer nicht-linearen und problematischen Zeitlichkeit formal noch auf eine andere Weise in die Erzählung eingeschrieben, und zwar durch die zahlreichen Intertexte, die wiederum zeitliche Implikationen haben. Peter Kuon hat den Vorschlag gemacht, auch die Intertextualität metaphorisch als Metamorphose aufzufassen und so einen eher statischen Begriff, der die Relationen zwischen einzelnen Texten beschreibt, durch einen dynamischeren zu ersetzen, insofern der Text »Ergebnis einer Operation der Aneignung, der Anverwandlung, der Einverleibung fremder Texte« ist.727 Geschichte vom alten Kind zeugt von zahlreichen Anverwandlungen und Einverleibungen anderer Texte, die – das verwundert wenig – selbst Metamorphosen und dadurch Zwischenzustände bzw. Zwischenzeiten repräsentieren. Ovids Metamorphosen als Urtext werden durch Anspielungen auf Pygmalion sowie auf den Mythos der Nymphe Echo aufgerufen. Letztere erscheint im Klagelaut des Eimers,728 aber auch in der Unfähigkeit des Mädchens, eine eigene 727 Kuon 2005, S. 13. 728 »Einen Moment lang muß es an seinen Eimer denken, der beim Hin- und Herschaukeln immer einen leichten Klagelaut von sich gegeben hat.« (GaK, 13)

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Sprache zu finden: sie wiederholt nur das von den anderen Gesagte (GaK, 38f.). Wenn die Ärzte den Körper des Mädchens kurz vor ihrer Rückverwandlung als »Knochensack« (GaK, 119) bezeichnen, so erinnert dies an das Ende des Verwandlungsprozesses der Nymphe Echo, deren Haut einschrumpft (so wie die Haut des Mädchens Falten schlägt) und von der am Ende nur die Stimme übrigbleibt und Knochen, die zu Gestein werden.729 Die Stimme allerdings versagt dem »alten Kind« nach und nach, bis es am Ende verstummt: »Nicht einmal die Stimme vermag Wurzeln zu schlagen in diesem Körper, der irreführenderweise einen stabilen Eindruck macht.« (GaK, 36) Dieses Verstummen ist auch ein wesentliches Element der Verwandlungserzählung, der Stimmverlust begleitet »die körperliche Verwandlung in vielen Metamorphose-Dichtungen«.730 Vor dem symbolischen Verstummen erinnert die »Fistelstimme« (GaK, 36) des Mädchens aber auch an das »Piepsen«731 von Kafkas Käfer, der sich nicht mehr verständlich machen kann. Kafkas Verwandlung, Monika Schmitz-Emans zufolge neben Ovid der »zweite Basis-Text«, der den literarischen Metamorphosen im 20. Jahrhundert als »geheimer oder offenkundiger Hypotext eingeschrieben ist«,732 liegt auch Erpenbecks Erzählung zugrunde. Das Mädchen ist unförmig und ungeschickt, es bewegt sich langsam, erregt Ekel. Es ähnelt einem »Tier«, das den »urzeitliche[n] Übergang vom Wasser aufs Land« (GaK, 40) durchläuft, hat eine »erdnahe, untrübbare Natur« (GaK, 66). Wie Gregor Samsa durchläuft es eine Regression, die auch bei Kafka als Rückkehr in den Zustand der frühen Kindheit gelesen werden kann.733 Und während Kafkas Figur sich nunmehr auf der untersten Stufe der Evolution befindet, so sucht auch das Mädchen im Kinderheim den untersten Platz. Was bei Kafka als Kritik an der Darwinsch’en Evolutionstheorie und am Fortschrittsgedanken interpretiert wurde,734 entspricht auch bei Erpenbeck einer Infragestellung linearer zeitlicher Entwicklungsmodelle. Der Rückverwandlungsprozess des Mädchens am Ende wird von den Ärzten als eine »Ungeheuerlichkeit« (GaK, 121) bezeichnet, ein letzter Hinweis auf das »ungeheur[e] Ungeziefer«,735 das diskret 729 »[…] Siechtum macht einschrumpfen die Haut, und die Säfte des Leibes / schwinden gesamt in die Luft. Nur Stimm ist übrig und Knochen. / Stimme verbleibt; zu Gestein – so sagen sie – wurden die Knochen.« (Met. III, 397–399). Ovid 1971, S. 78. Es ist sicher kein Zufall, dass Jenny Erpenbeck ihre Rede »Ovids ›Metamorphosen‹« (a. a. O., S. 290), in der sie von ihrer Ovid-Lektüre berichtet, genau mit diesem Zitat (in ebendieser Übersetzung) beginnt. 730 Harzer 2000, S. 22. 731 »Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte, die wohl unverkennbar seine frühere war, in die sich aber, wie von unten her, ein nicht zu unterdrückendes, schmerzliches Piepsen mischte […].« Kafka 1986, S. 11. 732 Schmitz-Emans 2008, S. 27. 733 Beaney 2016, S. 68. 734 Ebd., S. 68f. 735 Kafka 1986, S. 9.

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durch den Text kriecht, und das kurz vor seinem Tod ebenso mager ist wie das zurückverwandelte Mädchen.736 Ein weiterer Schlüsseltext der Moderne und die darin enthaltene »Spiegelepisode« als »hochkomplexe Metamorphose-Erzählung«737 könnte Erpenbecks Gestaltung der Verwandlung beeinflusst haben: Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Der junge Malte verkleidet sich, setzt eine Maske auf und nimmt sich plötzlich im Spiegel als einen Fremden wahr, Harzer sieht in dieser »Verkleidung und Vermummung« ein Beispiel für »depersonalisierende Verwandlungen«, die zu einem »völligen Identitätsverlust« führen.738 Erpenbecks Mädchen sucht im Kinderheim nach ihrer Ankunft nach einem Spiegel, den es jedoch nicht findet: »Es will sich selber in seinem neuen Leben betrachten, will sehen, ob sich sein Gesicht verändert hat infolge des Beginns dieses neuen Lebens […].« (GaK, 16) Der Spiegel reflektiert verwandelte Lebenszeit. Das Mädchen verkleidet sich nicht wie Malte, doch erinnert es sich »an die Zeit der Spiegel« (ebd.), als es sich mit Emotionen ›kostümiert‹, es weint, es lügt, es empfindet Freude, und jedes Mal schaut es in den Spiegel, wo es sein unverändertes Gesicht vorfindet. Die Verwandlung ist erwünscht, sein Gesicht selbst ist dem Mädchen zur Maske geworden, und deshalb ist die Wirkung zunächst eine andere als bei Malte, der über das Gegenüber im Spiegel entsetzt ist und vor ihm davonläuft. Doch unterliegt auch das Mädchen einem Entpersonalisierungs- und Entfremdungsprozess, allein die häufige Wiederholung des Wortes »Gesicht« in der kurzen Passage verweist, Nancy Nobile zufolge, auf die unüberbrückbare Kluft zwischen ihrem Äußerem und ihrem eigentlichen Wesen.739 Als der junge Malte vor dem Spiegel durch das Haus flieht und am Ende vor dem Personal zusammenbricht, hatte er zunächst keine Stimme mehr und lag schließlich da »wie ein Stück in allen den Tüchern, rein wie ein Stück«.740 Diese »Verdinglichung und Entmachtung des Menschen«,741 wie Harzer es formuliert, durchläuft auch Erpenbecks Mädchen, das nicht nur einem »Holzkloben« (GaK, 14) ähnelt, sondern auch als »bleiches Stück Teig mit Kopf« (GaK, 40) und »Stück Fleisch« (GaK, 82) beschrieben wird. Zum Schluss wird der Verjüngungsprozess der Frau als »eine Maskerade, und weiter nichts«742 (GaK, 124) entlarvt: »Das Mädchen, das nun 736 So sagt die Schwester Grete: »Seht nur, wie mager er war. Er hat ja auch schon so lange Zeit nichts gegessen.« Ebd., S. 56. Erpenbecks Figur wurde im Krankenhaus auf Diät gesetzt, Voraussetzung der vollständigen Rückverwandlung. 737 Harzer 2000, S. 19. 738 Ebd. 739 Nobile 2003, S. 288. 740 Rilke 1984, S. 99. 741 Harzer 2000, S. 22. 742 Erpenbeck selbst »entlarvt« hier ihren Intertext: »Ich kann aber auch […], weil ich Opernregie studiert habe, eine Zeile aus dem ›Rosenkavalier‹ einschleusen, […], und dabei an den Monolog der Marschallin über das unbegreifliche Vergehen der Zeit denken.« (›Zur

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kein Mädchen mehr ist, hat sein Kostüm abgelegt, die eigene Haut, und den Mummenschanz vor aller Augen beendet […].« (ebd.) Das Wortfeld der Maskerade, der Verkleidung und Vermummung743 verweisen noch einmal auf Maltes kindliches Spiel, in dessen Verlauf Harzer zufolge »das Äußere von Grund auf verwandelt wird« und so »der Übergang von der Verkleidung zur Verwandlung […] fließend ist«.744 Bei Erpenbeck steht zunächst das Verwandlungsmotiv im Vordergrund, bevor die »eigene Haut« als Kostüm entlarvt wird und die Verwandlung als Verkleidung. Noch an anderer Stelle tritt das Spiegelmotiv auf, und zwar als sich das Mädchen im Mathematikunterricht an ihr altes Wissen erinnert: Irgendwoher kennt es diese Gerade […], und doch ist es erstaunt, ihr auf dieser Seite des Diagramms wieder zu begegnen. Irgend etwas muß jetzt spiegelverkehrt sein, oder spiegelverkehrt gewesen sein. Dem Mädchen scheint, es müsse irgendwann die Seite gewechselt haben, aber wann, das kann sie nicht sagen. Mit dem Kopf durch die Wand, würden Erwachsene das wohl nennen. (GaK, 20)

Die Szene liest sich als Reminiszenz an Lewis Carrolls zweiten Alice-Roman Through the Looking-Glass, in dem Alice sich zunächst das »Haus im Spiegel« als Ort vorstellt, an dem alles »verkehrt herum steht«,745 und schließlich selbst in den Spiegelsalon hinabspringt. Die zeitliche Unbestimmtheit der Szene bei Erpenbeck – das Mädchen erinnert sich nicht, wann es die Seite gewechselt hat746 – entspricht dem zeitlosen Traum von Alice. Auf der anderen Seite des Spiegellands begegnet Alice allerlei wundersamen, verwandelten Geschöpfen: das Thema der Metamorphose ist implizit ebenso anwesend wie in Erpenbecks GulliverVergleich: in seiner Klasse war das Mädchen »sich vorgekommen wie Gulliver bei den Zwergen.« (GaK, 18) Die Welt des Märchenhaften und Fantastischen ist ein letzter Komplex metamorphischer Intertextualität. Dabei sind Grimms’ Märchen mit dem bereits erwähnten »Das junggeglühte Männlein« vertreten, aber auch mit »Rotkäpp-

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›Geschichte vom alten Kind‹‹, in: Erpenbeck 2018, S. 169). Im Rosenkavalier heißt es: »Is eine wienerische Maskerad’ und weiter nichts.« (Strauss 2008, S. 121). Im Monolog der Marschallin geht es – ebenfalls in Resonanz mit dem Erpenbeck’schen Text – um den im Spiegel zu beobachtenden Alterungsprozess: »Sie [die Zeit, CHM] ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. / In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, […].« (Ebd., S. 49). Rilke verwendet in der Spiegelszene mehrmals das Wort »Vermummung«. Harzer 2000, S. 23. Carroll 2000, S. 18f. Caroll war selbst Mathematiker, das Spiegelland befindet sich auf einem Schachbrett, Erpenbecks Assoziation einer spiegelverkehrten Welt mit Gerade und Diagramm ist also motiviert. Nobile (2003, S. 289) interpretiert den Ausdruck »mit dem Kopf durch die Wand« als mögliches Bild einer Dissoziation zwischen Geist und Körper, insofern das Mädchen es ablehnt, sein Alter anzuerkennen: der Kopf bleibt auf der einen Seite des Diagramms, in der einen Welt, der Körper in der anderen.

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chen« und dem sich in eine Großmutter verwandelnden Wolf (GaK, 103) sowie den verwandelten Brüdern in »Die sieben Raben«.747 Außerdem trifft man auf die russische Märchengestalt der Baba Jaga in ihrer auf einem Hühnerfuß stehenden Hütte (GaK, 49). Als grundlegender Hypotext liegt Erpenbecks Erzählung Ludwig Tiecks Kunstmärchen Der blonde Eckbert zugrunde, wie es Nancy Nobile auf überzeugende Weise im Detail dargestellt hat: angefangen vom erzählerischen Setting und der familiären Situation des Mädchens, auch ihrem Alter, welche an Tiecks Figur der Bertha erinnern, über die bei Tieck alle Figuren betreffende Identitätsverwirrung bis hin zu zeitlichen Implikationen, da Bertha nach ihrer Flucht aus dem Haus der Alten einen Weg einnimmt, der sie wieder in ihr Geburtsdorf führt, Gegenwart also nicht in die Zukunft führt, sondern wieder in die Vergangenheit.748 Dies entspricht auch dem Weg des »alten Kinds« bei Erpenbeck. Insgesamt evozieren diese Märchen ebenso wie die Traumwelt von Alice eine Zeitlosigkeit, die der Wahrnehmung des Erpenbeck’schen Mädchens entspricht. Die Vielzahl der miteinander verwobenen Intertexte, die selbst Verwandlungen inszenieren, überformen die Vorstellung des Lesers von der Figur, wodurch diese nie vereindeutigt werden kann und selbst als hybrides und sich immer wieder wandelndes Wesen erscheint. Hybridität des Genres Doch nicht nur die Figur des Mädchens erscheint als hybrid und schwer fassbar, auch der Text als Ganzes verweigert dem Leser eine genaue Identifizierung. Das Buch gibt bis auf den im Titel enthaltenen vagen Ausdruck »Geschichte« keine Auskunft über sein Genre, es wurde als Novelle und Kunstmärchen749 gelesen, enthält Elemente des Schelmenromans,750 aber auch des (Anti-)Bildungsromans. Nancy Nobile stellt eine Parallele zwischen der Unbestimmtheit des Textgenres und der geschlechtsneutralen Darstellung des Mädchens her, das im Text immer nur mit »es« und niemals mit »sie« bezeichnet wird. Sie selbst plädiert für die Bezeichnung Novelle, da der oxymorische Titel bereits auf die »unerhörte Begebenheit« am Ende verweise und der leere Eimer die Funktion eines Dingsymbols ausübe.751 Allerdings steht dagegen der fragmentarische und offene Charakter des Werks, das mit seinen zahlreichen Abschnitten, die Momentaufnahmen gleichen, keine fest strukturierte Form besitzt. 747 Diese Anspielung findet sich in einem der rätselhaften Briefe, die das Mädchen an sich selbst schreibt und die alle mit »DEINE MAMA« unterzeichnet sind (GaK, 110). 748 Nobile 2003, S. 295–301. 749 So z. B. Spiegel 1999. 750 Steinert 1999. 751 Nobile 2003, S. 293.

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Versuche, den Text eindeutig festzulegen, sind wohl vergeblich, bereits Ovids Metamorphosen waren davon gekennzeichnet, dass sie sich einer eindeutigen Genrezuschreibung entzogen und Sprache und Erzähltechnik selbst einem ständigen Wandel unterlagen.752 Françoise Rétif hat aufgezeigt, wie die Ovids Texten eingeschriebenen formalen Verunsicherungen auf der Ebene des Genres auch in Verwandlungstexten seit der Frühromantik weiterwirken, wo Elemente der Instabilität, Veränderung und Hybridität über feststehende Werte wie Ordnung und Moral dominieren.753 Dabei analysiert sie anhand von Ludwig Tiecks Blondem Eckbert, der auch bei Erpenbeck zentral ist, wie der Text parallel zu den zahlreichen Verwandlungen der Alten754 auch zentrale Kategorien des Genres in Frage stellt. Bertha betont explizit, dass ihre wundersame Erzählung »kein Märchen«755 ist und endet, indem sie ihre Erzählung eine »Geschichte«756 nennt. Während Tieck den gesamten Text als Märchen bezeichnet, unterstreicht Rétif, dass es sich nicht eigentlich um ein Märchen handelt, sondern eher um eine fantastische Novelle, da das Wunderbare plötzlich in die Realität einbricht. Die erzählte Verwandlung trägt demnach zur Problematisierung des literarischen Genres selbst bei,757 entspricht aber auch den Aspirationen der Romantiker, Gattungsgrenzen zu überwinden. Auch Erpenbecks Erzählung enthält Elemente des Märchenhaften und des Fantastischen. Bereits der Anfang ist in märchenhaftem Ton geschrieben, die stark antimimetische Beschreibung des Mädchens wirkt irreal und die verschiedenen Intertexte setzen den Märchen-Topos fort. Andererseits erscheinen Elemente des Fantastischen als Einbruch des Unheimlichen in den Alltag, so, wenn in einem der in der Ich-Form erzählten Träume des Mädchens eine offensichtlich ältere Figur von den »schönen Kinder[n], mit ihrer Kinderhaut« (GaK, 32) spricht, wenn die Erzählinstanz kommentiert, dass das Mädchen, wenn es dieselbe Nahrung wie die Kinder einnimmt, »sein Blut [reinigt]« (GaK, 63) oder wenn es heißt: »[…] denn wer sich im Fleisch der Kinder einnistet, dessen Blut wird Kinderblut […]« (GaK, 92) – mögliche Assoziationen zum VampirTopos und zum Monströsen stellen sich unweigerlich ein. An diesen Stellen spürt man den Einbruch des Unheimlichen in der vermeintlich realen Welt, den »Riss«,

752 Vgl. dazu Holzberg 2005, S. 46f. 753 Rétif 2012, S. 24. 754 Das Gesicht der Alten »war in einer ewigen Bewegung«, sie verwandelt sich in Eckberts Freund Philipp Walther und in den jungen Ritter Hugo, ändert also auch ihr Geschlecht. Vgl. Tieck 1992, S. 10. 755 »Nur haltet meine Erzählung für kein Märchen, so sonderbar sie auch klingen mag.« Ebd., S. 4. 756 »[…] und hiermit, Herr Walther, ist meine Geschichte geendigt.« Ebd., S. 18. 757 Rétif 2012, S. 27.

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von dem Roger Caillois spricht, wenn er das Fantastische kennzeichnet.758 Erpenbecks Geschichte vom alten Kind spielt mit unterschiedlichen Genres, sodass der Text auch hier formal noch einmal den Topos der Verwandlung und des zeitlichen Wandels inszeniert.

3.1.6. Vergangenheit als Abjektes Die Elemente des Fantastischen überschneiden sich mit einem Aspekt des Textes, der zum Schluss untersucht werden soll: die Darstellung des Mädchens und seiner Handlungen als Infames759 und Abjektes als Metapher für eine verdrängte Vergangenheit. Immer wieder wird der ungewöhnliche Körper des Mädchens hervorgehoben und durch zahlreiche Assoziationen mit einem Objekt gleichgesetzt. Während die als kurzzeitige Verjüngung dargestellte Verwandlung reversibel ist, das Mädchen seine menschliche Gestalt beibehält, wird gleichzeitig eine klassische irreversible Verwandlung in ein lebloses Ding suggeriert,760 das zudem wertlos ist, aus Abfall und Bruchstücken zusammengesetzt scheint. Da es keine eigene Sprache finden kann, liegen »[d]em Mädchen […] seine eigenen Sätze wie ein Haufen Schrott im Magen […]« (GaK, 35),761 an anderer Stelle wird sein Körper als »Materiallager« (GaK, 58) bezeichnet. Auf der Krankenstation kennt sich das Personal »mit der Mechanik des Körpers« (GaK, 51) aus, mit »diese[r] Maschine, die immer gleich ist […]« (GaK, 52). Während sich das Mädchen in dieser Situation wohl fühlt, da sein »Körper ein klein wenig von seiner ungeheuren Undurchschaubarkeit« (GaK, 51) verliert, vermittelt die Maschinen-Metaphorik, hinter der seit Descartes und La Mettries »Hommemachine« eine lange kulturelle Tradition steht,762 nur einmal mehr die Objekthaftigkeit des Mädchens. Während Erpenbecks Mädchen vom mechanischen Funktionieren seines Körpers beruhigt ist, hat sein Äußeres auf seine Umwelt eine andere Wirkung. Der »gewaltige Körper«, der »gleichsam über den Horizont hinaus[ragt]« (GaK, 32), wird von den anderen als »Provokation« empfunden. Andrea Bartl hat anhand zahlreicher literarischer Parallelen gezeigt, inwiefern Erpenbecks Mädchen 758 »Le fantastique, au contraire, manifeste un scandale, une déchirure, une irruption insolite, presque insupportable dans le monde réel.« Caillois 1966, S. 8. 759 Erpenbeck reizt an ihrer Figur die »[…] Negativ-Energie, dieses Infame, das sie hat […].« ›Sich mit Worten auszudrücken war immer das Nächste‹, in: Erpenbeck 2018, S. 17. 760 Die klassischen Metamorphosen Ovids sind in der Regel irreversible Verwandlungen eines Menschen in ein Tier, eine Pflanze oder einen Stein, während es sich hier um eine »reversible Verkleidungs- und Simulationsmetamorphose« handelt. Vgl. Harzer 2000, S. 44. 761 Chronister (2018, S. 131) liest solche Passagen als metaphorische Beispiele für eine Material gewordene Sprache. 762 Vgl. dazu Détrez 2002, S. 33f.

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dem Typus des »unangenehmen Kindes« entspricht, dessen Darstellung von tradierten Schönheitsidealen abweicht und den Fokus auf einen ausufernden Leib wie auf ein unmäßiges Essverhalten legt, sowie Motivfelder des Parasitären, des Befalls, des Androgynen und des vorzeitigen Alterns benutzt.763 Obwohl diese Kinder eher passiv sind, bewirken sie in ihrer Umgebung Reaktionen wie Hass, Abscheu und Ekel.764 Die Attribute, die dem Mädchen durch die Erzählinstanz verliehen werden, verorten es im Bereich des Abjekten und des Parasitären. Julia Kristeva definiert unter Zugriff auf psychoanalytische Theorien die Abjektion als »Revolte des Seins« gegen etwas, was es bedroht und ihm von einem maßlosen Äußeren oder Inneren zu kommen scheint.765 Als abjekt gilt all das, wovon sich ein Individuum abgrenzt, da es sich dort letztendlich mit dem Tod konfrontiert fühle: Schmutz, Blut und Eiter, Schweiß,766 Lebensmittelreste,767 schließlich der Leichnam als verwesender Körper:768 »[…] der Schmutz wie die Leiche zeigen mir an, was ich ständig abwehre, um zu leben.«769 Als eine solche Bedrohung empfinden die anderen Kinder das Mädchen, sein Verhalten erzeugt Abscheu und »Ekel« (GaK, 64). Die von Kristeva erwähnten Merkmale des Abjekten treffen weitgehend auf das Mädchen zu: es bekommt »kleine Schweißtropfen auf dem Rücken seiner Nase« (GaK, 9), wenn es sich zu schnell bewegt; seine Worte erscheinen als etwas »Beschmutztes«, »als würde alles, was durch seine Person hindurch muß, von diesem Durchgang beschmutzt oder erschöpft.« (GaK, 34) Regelmäßig geht es in die Küche, um dort Reste zu erhaschen (GaK, 39), vor allem aber isst »[d]ieses bleiche, riesige Geschöpf«, das »Vielfraß«, das »stumm das Essen in sich hineinschaufelt« (GaK, 63), die Essensreste von den Tellern seiner Klassenkameraden. Das Mädchen erscheint als Parasit im eigentlichen Wortsinn: als jemand, der neben einem anderen isst.770 Zum Schluss wird der Körper des Mädchens noch einmal als ein »riesige[r] atmende[r] Kadaver« (GaK, 118) bezeichnet, eine Mischung aus Descartes Maschinenmetaphorik, die den Körper als offenen Kadaver imaginiert,771 und dem Höhepunkt des Abjekten, der verwesenden Leiche. Das 763 Bartl 2014, S. 114. 764 Ebd., S. 116. 765 Kristeva 1980, S. 9. »Il y a, dans l’abjection, une de ces violentes et obscures révoltes de l’être contre ce qui le menace et qui lui paraît venir d’un dehors ou d’un dedans exorbitant […].« 766 Ebd., S. 10f. 767 Ebd., S. 91. 768 Ebd., S. 127. 769 Ebd., S. 11. »[…] le déchet comme le cadavre m’indiquent ce que j’écarte en permanence pour vivre.« Hervorhebung im Original. 770 Vgl. dazu Serres 1980, S. 14 (»Parasiter veut dire : manger à côté de.«). 771 Descartes hatte den Körper im Gegensatz zum Geist als Mechanik, als Uhrwerk und Automaten angesehen, als eine Maschine aus Knochen und Fleisch, wie man sie in der Anatomiestunde an einem offenen Leichnam beobachtet. Vgl. Détrez 2002, S. 34.

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Abjekte »stört eine Identität, ein System, eine Ordnung«,772 und so sind die anderen Kinder im Heim erleichtert, als das Mädchen definitiv auf der Krankenstation verschwindet. Das Mädchen hat die Ordnung im Kinderheim ge- und dessen Insassen verstört, am Ende »schwindet […], wie in Kafkas Verwandlung Gregor Samsa, der Störenfried dahin […]«.773 Dieses Störende symbolisiert aber auch das fremd gewordene Eigene, das Abjekte ist bei Kristeva immer auch das Verdrängte und Ausgeschlossene. In der Diegese wird das sich der allgemeinen Zeitordnung des Heims widersetzende Mädchen mit einem fortwährenden Zu-spät-sein assoziiert, es ist ein Nachzügler, der die anderen gleichermaßen verfolgt, ihnen anhängt, sie heimsucht: »Dort, wo es gerade ankommt, werden die anderen aufbrechen, dort, wo es ist, wird augenblicklich die Vergangenheit einsetzen, die anderen lassen es zu ihrem Amüsement zurück, aber es hängt ihnen nach, wie ein Echo.« (GaK, 37) Auf der Suche nach der ewigen Kindheit – symbolisch zu lesen als Reflexion der Autorin über den Verlust der eigenen Kindheit im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs – weigert sich das Mädchen, den anderen Kindern in die Zukunft der fortschreitenden Zeit zu folgen und symbolisiert für diese die Vergangenheit. In der Welt des Heims verkörpert das mit Attributen des Abjekten und Infamen gekennzeichnete Mädchen metaphorisch eine störende Vergangenheit,774 die die anderen verfolgt und von ihnen verdrängt wird. Beim Nachdenken über die übriggebliebenen Ruinen ehemaliger Orte ihrer Kindheit hatte Jenny Erpenbeck die mit der Kindheit assoziierte Vergangenheit als eine »alte Zeit« bezeichnet, »die der neuen noch im Hals steckt, bevor sie endlich ausgespuckt werden kann.«775 Das Vergangene erscheint als gefährlicher Fremdkörper, die körperliche Metapher des Ausspuckens verweist auch hier auf das Abstoßende und Abjekte des Gegenstands. Damit verbunden ist bei der Autorin eine Trauer »über das Verschwinden einer solchen sichtbaren Verwundung des Ortes, über das Verschwinden kranker oder gestörter Dinge und Räume, die Zeugnis davon ablegen, dass eine Gegenwart nicht mit allem fertig

772 Kristeva 1980, S. 12. »[…] ce qui perturbe une identité, un système, un ordre.« Jones (2006, S. 121) bezieht sich in ihrer Analyse des Ekels in der Erzählung auf die Anthropologin Mary Douglas – auch eine Referenz für Kristeva –, für die Schmutz ebenfalls die bestehende Ordnung in Frage stellt. 773 Bartl 2014, S. 121. 774 Motive des Vergangenen als Infames und Abjektes findet man in anderer Perspektive auch bei Wolfgang Hilbig, so im Personal der »Germania II« in Alte Abdeckerei (1991) oder im Bild der Müllhalde, der »Asche« in Die Kunde von den Bäumen (1992). Kurt Drawert repräsentiert in seiner Kaspar-Hauser-Parabel Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte (2008) die DDR-Bürger als abstoßende, schmutzige, versehrte und auch namenlose Höhlenmenschen. 775 ›Heimweh nach dem Traurigsein‹, in: Erpenbeck 2018, S. 45.

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wird, wie es so passend heißt.«776 Die Begrifflichkeit des Verwundeten und Kranken, des Gestörten und Störenden, des Abjekten wiederum, dessen man sich in »der Phase der Säuberung«,777 so die Autorin, entledigt, erscheint als Metapher einer unverarbeiteten und zu schnell entsorgten Geschichte.778 Der Versuch des »alten Kinds«, die Zeit anzuhalten, um das Vergangene zurückzuerobern, noch einmal darauf aufmerksam zu machen, ist gescheitert, und damit auch die Chance, diese Vergangenheit anzuerkennen, präsent zu halten und in die Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft zu integrieren.

3.1.7. Fazit: Zeitlicher Wandel und Figur der Verwandlung In Jenny Erpenbecks Geschichte vom alten Kind wird Zeit verkörpert, wird eine sich wandelnde Zeit in einem sich wandelnden Körper dargestellt. Der Begriff der Wende kennzeichnet – so das Grimm’sche Wörterbuch – einen Wendepunkt, eine Richtungsveränderung in einer Entwicklung, einem Ablauf.779 Eine solche Richtungsveränderung vollzieht Erpenbecks Frau, die sich in ein Mädchen zurückverwandelt und damit ihre Lebenszeit anhält und zurückdreht. Die ursprüngliche Verwandlung wird dabei im Text nicht erzählt, der Fokus liegt auf dem »Dazwischen«, das verwandelte Kind lebt in einer Zwischenzeit, so wie auch die ›Wende‹, der gesellschaftliche Umbruch von 1989, historisch eine Zwischenzeit darstellt. Der zeitliche Rahmen der Erzählung, die im Herbst beginnt und im Frühjahr endet, korrespondiert sicher nicht zufällig mit den historischen Ereignissen.780 Erpenbeck stellt diese Zwischenzeit jedoch nicht als dynamische, historische Bewegung dar, sondern als Moment der Zeitlosigkeit und Gegenwärtigkeit im Zustand der zurückeroberten Kindheit. So assoziiert sie die historischen Ereignisse mit einem Verlust, dem Verlust der Kindheit, dem die Figur 776 Ebd., S. 47f. Ähnliche Überlegungen über fehlende Irritationen und Störungen nach 1989 (und auch über verschwundene Orte) findet man bei Julia Schoch. Vgl. Kapitel 2.1.3. 777 Ebd., S. 48. Hervorhebung im Original. 778 In einem Katalogtext zu den Gemälden der israelischen Künstlerin Orit Raff, die – Fotografien ähnlich – Räume aus literarischen Werken imaginiert, schreibt Erpenbeck: »Die vollkommene Künstlichkeit und Makellosigkeit der Bilder von Orit Raff erzählt uns, genauso wie die Bücher, von denen sie ausgeht, von den Bemühungen der Menschheit um das Verbergen dessen, was in unserer Sprache Schmutz genannt wird, Vergänglichkeit oder Geschichte.« (›Was man nicht sieht.‹, in: Erpenbeck 2018, S. 361. Hervorhebungen im Original). 779 Vgl. das Lemma »Wende« in: DWB (= Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm). 780 Nobile (2003, S. 295) sieht die ›Wende‹ in dem Moment repräsentiert, in dem das Mädchen von den anderen Kindern anerkannt wird und sie einen »kollektiven Windwechsel« (GaK, 73) verspürt. Beaney (2016, S. 109) interpretiert das vergebliche Anhalten der Zeit als »Genugtuung« des Westens angesichts des Mauerfalls.

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durch ihr passives Verhalten und das Ausbremsen jeglicher zeitlichen Entwicklung entgegenarbeitet. Dabei geht es nicht um eine Idealisierung der Vergangenheit, denn diese erscheint im Text in den kurzen Traumpassagen, besonders aber in den Briefen, die das Mädchen an sich selbst adressiert, als negativ konnotiert.781 Es geht vielmehr darum, die Zeit der Kindheit allgemein als eine ideale Zeit darzustellen, die nunmehr verloren ist. In einem Interview bemerkt die Autorin dazu: Es ist nicht so, dass ich die DDR vermisse. Für mich war die DDR überhaupt kein Arkadien. Man vermisst das Gute und das Schlechte einfach nur deswegen, weil man es gekannt hat. Wenn man in ein System geworfen wird, das in jeder Hinsicht neu ist, dann tritt ein existenzielles Vermissen dessen ein, was man kennt. […] Wir sind keine Nostalgiker, aber wir haben unsere Lebenszeit gehabt, und die war so, wie sie war. Und es gibt einen Bruch, an dem man an die Zeit nicht mehr anknüpfen kann.782

Die Symbolisierung des zeitlichen Wandels, der gesellschaftlichen ›Wende‹, als körperliche Verwandlung bedeutet in diesem Sinne, dass ein solches Ereignis die Lebenszeit des Individuums in starkem Maße beeinflusst. Dies wird nicht nur im bisher betrachteten Bild der körperlichen Regression deutlich, sondern auch in der Schlussszene der Erzählung, als die nunmehr zurückverwandelte Dreißigjährige ihrer Mutter begegnet, »eine[r] greise[n] Dame« (GaK, 124), die der Arzt in ihr Krankenzimmer führt: Die Dame ist erschöpft. Die Scham steht ihr ins Gesicht geschrieben. Der Arzt schiebt sie dichter an das Bett heran. Sehen Sie, dies ist Ihre Mutter, sagt er zu der, die lahm im Bett liegt. Die Mutter schweigt. Ach, du bist meine Mutter, sagt die, welche das Mädchen gewesen war, und öffnet sehr langsam die Augen, ich kann mich gar nicht an dich erinnern. (GaK, 125)

Diese letzte Szene der Erzählung verwirrt, die Mutter783 erscheint als ebenso geheimnisvoll wie das Mädchen bzw. die Frau, ihr Alter – eine Greisin – steht in keinem Verhältnis zu dem der jungen Frau. Noch einmal scheint eine Metamorphose im Spiel zu sein. Denn im Laufe der Erzählung wurde das Mädchen selbst mit einer »Greisin« (GaK, 57) verglichen, ihr Haar zu Beginn als »manchmal […] beinahe grau« (GaK, 9) beschrieben. Sie wurde im Zustand der Erschöpfung ins Krankenhaus eingeliefert, liegt nun »lahm« im Bett, sie empfand 781 Vor allem die amerikanische Literaturwissenschaft bemüht hier gern den Traumabegriff. Vgl. Nobile 2003, S. 303 und Beaney 2016, S. 113. 782 Erpenbeck/Reif 2009. Ähnliche Gedanken findet man in den Essais und fiktionalen Texten von Julia Schoch. Zur Frage von Nostalgie und Idealisierung der Kindheit vgl. auch Gansel 2014. 783 Erpenbecks Erzählung ist ihrer Mutter gewidmet: »FÜR MEINE MUTTER«, allerdings bringt die Großschreibung diese Widmung in einen formalen Zusammenhang mit den Briefen, die das Mädchen an ihre Mutter adressiert und ist insofern vielleicht Teil des fiktionalen Verwandlungsspiels.

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unter den Kindern immer wieder Scham. In der zitierten Abschlussszene simuliert die junge Frau ein Erkennen bzw. Nicht-Erkennen (»Ach, du bist meine Mutter«), noch bevor sie ihre Augen öffnet. Das mit der Verwandlung begonnene Spiel scheint noch nicht zu Ende zu sein, ist nicht das »Nicht-Erinnern« der Beginn einer neuen Maskerade, eines neuen Verstellspiels? Verwandlungen führen häufig zu Szenen des Erkennens und Wiedererkennens,784 dies ist hier nicht der Fall: die Mutter schweigt, die Tochter erkennt diese nicht wieder, erinnert sich nicht an sie. Etwas bleibt unergründlich, die Erzählung löst sich nicht auf, scheint in den beiden Figuren gefangen zu sein wie diese selbst in ihren undurchschaubaren Körpern. Doch handelt es sich eigentlich um zwei Körper, ist die Mutter nicht wieder eine Projektion der jungen Frau, diesmal in die andere zeitliche Richtung? Erpenbeck stützt in ihrer ersten Bamberger Vorlesung diese Lesart, sie schreibt über das Mädchen, es sei »die Tochter einer Frau, die es selbst erfindet, und ist zugleich diese Frau«.785 Und fügt hinzu: »[…] eine greise Mutter, die gar keine Mutter sein kann, so eine Art Urmutter, wie Erda in der deutschen Mythologie.«786 Die Rückverwandlung des Mädchens in eine Frau suggeriert zunächst den Gedanken der Irreversibilität der Zeit: Lebenszeit lässt sich nicht anhalten und rückgängig machen, auch aus der Geschichtszeit kann man nicht einfach heraustreten, der historische Veränderungsprozess schreitet immer weiter voran. Doch die Schlussszene scheint sich dieser zeitlichen Irreversibilität und Progression auch wieder zu entziehen: Lebenszeit ist hier erneut in einer sich wandelnden Figur kondensiert, als würden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nun in einem einzigen Moment zusammenfallen,787 ein Moment, der unter Berücksichtigung des mythologischen Verweises der Autorin auch Zeitlosigkeit und Geschichtslosigkeit assoziiert. Die Situation erinnert an Jenny Erpenbecks Erzählung »Anzünden oder Abreisen« aus dem Band Tand, in der eine Erzählerin die Rollen des Kindes, seiner Mutter und Großmutter einnimmt und sich am Ende alle Altersstufen überlagern.788 Die Schlussszene der Geschichte vom alten Kind lässt sich auch mit Erpenbecks Ovid-Lektüre konfrontieren, wo es zum Beispiel heißt, dass das »Wachsen […] eine Verwandlung, aber keine Vor784 Beaney (2016, S. 1) erinnert daran, dass in vielen Volksmärchen die Metamorphose eine Anagnorisis, ein Wiedererkennen veranlasst und damit die Erzählung ihre Vollendung findet. 785 ›Zur ›Geschichte vom alten Kind‹‹, in: Erpenbeck 2018, S. 165. 786 Ebd., S. 169. 787 Ohne auf diese besondere Figurenkonstellation einzugehen, kommentiert Bartl (2014, S. 123): »Das Mädchen will außerdem die Zeit als chronologisch-linearen, irreversiblen Prozess außer Kraft setzen und stattdessen eine Verbindung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, auch von Kindheit und Erwachsen-Sein realisieren […]«. 788 Von der Großmutter heißt es dort auch, das Alter habe sie »lahm gemacht.« Erpenbeck 2003, S. 123.

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wärtsbewegung« ist.789 Dieses Ineinanderwachsen unterschiedlicher Lebensalter erscheint als Verwandlung, welche Gleichzeitigkeit und keine Progression evoziert und – auch das liest die Autorin bei Ovid – in der »das Mögliche ebenso wie die Erinnerung nebeneinander und miteinander Zuflucht [finden].«790 Die sich wandelnde Figur erscheint am Ende der Geschichte vom alten Kind als Palimpsest, in der sich unterschiedliche Zeitschichten überlagern, sich gegenseitig auslöschen, dann wieder sichtbar werden: als Vergangenheit und vergangene Möglichkeitsformen, als Teile einer schwer zu fassenden Identität. Erpenbeck suggeriert, dass die menschliche Entwicklung nicht linear verläuft, nicht ein Stadium auf das nächste folgt, sondern dass sowohl das Vergangene als auch das Kommende in ein und demselben Menschen vereint und präsent sind. Vielleicht sagt uns diese Denkfigur am Ende der Erzählung, die weniger eine geschichtliche Determiniertheit evoziert als ein erneutes Spiel, dass die Verwandlung einem Eigensinn und einer Eigenzeit entspricht, dem Willen, sich in seiner Zeit selbst zu verorten, ohne vom Lauf der Geschichte mitgerissen zu werden.791 Als Symbol einer Erfahrung des Umbruchs entwickelt die Metamorphose aber auch ein »kritisches Potential«, insofern sie »daran erinnert, dass das, was ist, nicht immer so war und anders werden könnte.«792 Dies gilt für die Gegenwart, aber auch für die Zukunft und entspricht der lebensweltlichen Erfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs, die Jenny Erpenbeck ebenso wie Julia Schoch und Lutz Seiler in ihren Werken verarbeiten. Wenn Erpenbecks Text als Parabel des gesellschaftlichen Umbruchs und der Zwischenzeit der ›Wende‹ gelesen werden kann, dann bis in seine Ästhetik hinein. Wandel, Veränderung und Instabilität sind in die Form des Textes selbst eingeschrieben: als Gegenläufigkeit unterschiedlicher Zeitvorstellungen, als Geflecht aus unterschiedlichen Intertexten der Verwandlung, als hybrides und unsicheres Genre. Von den Ereignissen des Umbruchs wird im Text nichts erzählt, sie sind kein Thema, nirgendwo wird Zeitgeschichte zur Darstellung mobilisiert. Erpenbecks Erzählung steht paradigmatisch für eine nicht-referentielle Verarbeitung von Geschichte. Die eingreifende Erfahrung des Bruchs wird durch die Figur der Metamorphose dargestellt, die gleichzeitig für einen spezifischen Eigensinn steht, für eine Reaktion auf ein Ereignis, dem man sich nicht einfach 789 ›Ovids ›Metamorphosen‹‹, in: Erpenbeck 2018, S. 293. 790 Ebd. 791 Beaney (2016, S. 115) liest Erpenbecks Erzählung hingegen als eine Illustration der Benjamin’schen These über den Engel der Geschichte: die Vergangenheit erscheine als Trümmerfeld, die Katastrophe am Ende des Textes sei Ergebnis des verdrängten Wissens über eine unbewältigte Vergangenheit, die plötzlich in der Gegenwart auftauche, jedoch unverstanden bleibe und erneut verdrängt werde. Eine solche Interpretation sieht das Mädchen jedoch als Opfer ihrer Geschichte und nicht als Motor der diversen Verwandlungen und Spiele. 792 »C’est aussi […] la puissance critique de la métamorphose, qui rappelle que ce qui est n’a pas toujours été tel et pourrait devenir autre. » (Winkelvoss 2012, S. 19).

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unterwerfen möchte. So wird das Ereignis in der Ästhetik des Textes selbst sichtbar.793

3.2. Verstrickung von Lebens- und Geschichtszeit: Zeitenwechsel, Zufall und mögliche Geschichte in Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012) Während in Geschichte vom alten Kind zeitlicher Wandel paradigmatisch am historischen Beispiel des Umbruchs von 1989 dargestellt wird, erweitert sich in den folgenden zwei Romanen Jenny Erpenbecks die Perspektive auf größere geschichtliche Zusammenhänge. In Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012) stehen die Brüche und Diskontinuitäten der deutschen und europäischen Geschichte im Mittelpunkt, ebenso die Betrachtung der Geschichte als Zufall, Möglichkeitsraum und Unabgeschlossenes, wobei diese Problematik immer wieder durch Reflexionen zur Zeitwahrnehmung vermittelt wird. Dass die Erfahrung eines persönlichen Bruchs und einer Zeitenwende auch weiterhin Auswirkungen auf Erpenbecks Schreiben hat, suggeriert der englische Journalist Philip Oltermann: »Wenn Erpenbecks Romane und Erzählungen ›ostdeutsch‹ sind, dann kommt dies weniger durch den Inhalt zum Ausdruck als durch die Form – einen Drang, mit den Konventionen linearen Erzählens zu brechen, da es der Erfahrung einfach nicht entspricht.«794 Auch thematisch sensibilisiert der eigene Erfahrungshorizont zweifelsohne für Diskontinuitäten und Brüche in der Geschichte. Zentral in beiden Romanen ist die Verquickung von Lebenszeit und Geschichtszeit, doch kommen auch langfristige Entwicklungen wie der Übergang von traditionellen zu modernen, fortschrittsorientierten Zeitmodellen in den Blick, die natürliche ebenso wie die mythische Zeit, und schließlich stellen die Romane auch Fragen über die Vergänglichkeit menschlicher Erfahrungen, über deren Vermittlung und Verankerung im kollektiven und individuellen Gedächtnis. Im Folgenden sollen unterschiedliche Aspekte der Romane herausgearbeitet werden, dank derer eine Erfahrung des Bruchs und des »Umkippens« von Zeit und Geschichte dargestellt wird und in denen der besondere Erfahrungszusammenhang der Autorin als Folie mitgedacht werden kann: die Dar793 Ohne geschichtliche bzw. literarische Parallelen überzustrapazieren: Karl Heinz Bohrer hat auf eindringliche Weise gezeigt, wie die deutsche Romantik das Ereignis der französischen Revolution zwar nicht explizit thematisierte, aber als ästhetisches Prinzip in ihre Texte integrierte. Vgl. ›Deutsche Romantik und Französische Revolution. Die ästhetische Abbildbarkeit des historischen Ereignisses‹, in: Bohrer 1994, S. 8–31. 794 »If Erpenbeck’s novels and novellas are ›East German‹, it expresses itself not so much in content as in form – an urge to break with the conventions of linear storytelling because it simply doesn’t reflect experience.« Oltermann/Erpenbeck 2015.

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stellung von Übergangszeiten, in denen sich Zeiterfahrung und Zeitwahrnehmung ändert und ein fest verankertes Weltbild plötzlich ins Wanken gerät, die Fokussierung auf genealogische Brüche als Zweifel an generationeller Kontinuität und Metapher von Zukunftsungewissheit, die Erfahrung einer durch die Kontingenz geschichtlicher Ereignisse verursachten Destabilisierung bzw. Auslöschung von Lebenszeit sowie die Infragestellung von Zukunftsentwürfen. Gleichzeitig reflektieren die Romane, wie dies in Ansätzen auch bei Lutz Seiler und Julia Schoch beobachtet wurde, Geschichtszeit im überzeitlichen Zusammenhang von natürlicher bzw. mythologischer Zeit und werfen die Frage nach Möglichkeiten der Erinnerung und der Weitergabe historischer Erfahrung auf, ein Aspekt, der auch vor dem Hintergrund des Endes der DDR für die Autorin eine wesentliche Rolle spielt. Zunächst ein kurzer Einblick in beide Werke. Heimsuchung erzählt die Geschichte eines Grundstücks an einem märkischen See und eines dort errichteten Hauses anhand des Schicksals seiner einzelnen Bewohner über einen Zeitraum, der vom Kaiserreich bis in das erste Jahrzehnt nach dem gesellschaftlichen Umbruch von 1989 reicht. In elf Hauptkapiteln wird aus der Perspektive der einzelnen Besitzer des Landes bzw. Hauses (einem Großbauern, einem Architekten und seiner Frau, einem jüdischen Tuchfabrikanten und einer Schriftstellerin), sowie der mit ihnen verbundenen und den Ort aufsuchenden Personen unterschiedliche Aspekte der deutschen Geschichte beleuchtet. In ebenfalls elf kurzen Zwischenkapiteln tritt ein mythisch anmutender Gärtner auf, der sich trotz wechselnder Besitzer um das Grundstück kümmert. Ein Prolog und ein Epilog schreiben den Ort in größere naturgeschichtliche Zusammenhänge ein. Während Heimsuchung Geschichte im Leben der einzelnen Figuren als einen unwiderruflichen Einbruch darstellt, der nicht gesteuert werden kann, wird in Aller Tage Abend die Fiktion auf den Plan gerufen, um dies zu ändern. Ereignisse werden in ihrer Zufälligkeit dargestellt und die Erzählinstanz greift immer wieder ein, um das Schicksal ihrer Figur zu verändern und so unterschiedliche mögliche Leben zu imaginieren. In fünf Büchern, unterbrochen von Intermezzi, erfährt die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Galizien geborene jüdische Protagonistin ein jeweils anderes Schicksal: sie stirbt als acht Monate alter Säugling, begeht als Siebzehnjährige in Wien Selbstmord, stirbt im Gulag, stürzt als fast Sechzigjährige die Treppe hinunter und stirbt schließlich in einem Altersheim. Der Roman entwirft unterschiedliche Leben, unterschiedliche historische Zeiten und Perspektiven und umreißt, ebenso wie Heimsuchung, die Geschichte des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts.

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3.2.1. Übergangszeiten In beiden Romanen ist der historische Ausgangspunkt die Darstellung einer traditionellen Welt, die langsam ihrem Ende entgegensieht. Das erste Hauptkapitel von Heimsuchung, »Der Großbauer und seine vier Töchter«, setzt mit der detaillierten Beschreibung bestimmter Hochzeitsrituale im historischen Präsens ein und endet mit Ritualen nach einem Todesfall, beide sind von Aberglauben geprägt. Dazwischen erzählt das Kapitel vom Schicksal der vier Töchter des Bauern, hauptsächlich von Klara, Erbin des »Grundstück[s] auf halber Höhe des Schäferbergs, das von allen im Dorf Klaras Wald genannt wird«.795 Klaras Geschichte beginnt märchenhaft und endet tragisch. Als sie sich eines Tages auf ihr Grundstück am See begibt, begegnet sie einem Fischer, der sich von ihr auf das Waldstück führen lässt. Das Irreale der Szene fällt schnell in den Blick: der durchnässte Fischer gleicht einem männlichen Wassergeist, in dem leeren, abgelegenen Waldstück bemerkt Klara plötzlich zahlreiche Menschen beim Picknick, die alle still sind und sich dann nach und nach entfernen: »Hinter der Eiche, direkt in ihrem Rücken, erheben sich jetzt noch zwei letzte stumme Besucher des Waldstücks, die sie zuvor übersehen hatte, und gehen auch fort.« (H, 21) Die knapp zwei Seiten lange Szene ist durch künstlerische und literarische Intertexte überformt: Caspar David Friedrichs »Zwei Männer in Betrachtung des Mondes« mag hier Pate gestanden haben, ebenso Goethes Ballade »Der Fischer«.796 Im Anschluss daran zeugen Klaras Handlungen immer mehr von einer geistigen Umnachtung, ihr Vater wird sie entmündigen und das Grundstück verkaufen, Klara selbst nimmt sich im See das Leben. Die Beschreibung der Hochzeits- und Todesrituale suggeriert eine Zeitlosigkeit, die durch die märchenhaften Passagen noch unterstützt wird. Lebenszeit ist eingebunden in unhinterfragte Rituale, deren Akzeptanz seit Generationen Sicherheit bietet. Einem solchen Handeln liegt ein unbewusster Zeitsinn zugrunde, »das Leiden und Handeln der Menschen [folgt] kulturellen Sinnvorgaben« wie Sitten und Bräuchen, ohne reflektiert zu werden.797 Auch Aller Tage Abend beginnt mit Ritualen. Im ersten Buch stirbt die spätere Protagonistin als acht Monate alter Säugling, beschrieben werden jüdische

795 Erpenbeck 2008, S. 17. Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf Heimsuchung beziehen, mit der Sigle H direkt im Text angeführt. Hervorhebungen im Original. 796 Goethe wird von Nobile (2015, S. 63) erwähnt, die in der Sekundärliteratur als einzige ebenfalls die Irrealität der Szene unterstreicht. Nobile arbeitet weitere »romantische« Intertexte heraus, von Goethes Wahlverwandtschaften und Kleists Marquise von O… über Novalis und Tieck zu Storms Immensee. Der Romantikbegriff ist hier sehr weit gefasst. 797 Jörn Rüsen definiert so den »fungierenden Zeitsinn« im Unterschied zum reflexiven und operativen Zeitsinn. Vgl. Rüsen 2003, S. 40.

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Trauerrituale,798 die der Mutter in dieser Situation Halt geben: »Wie Stege sind die Sitten der Menschen ins Unmenschliche hineingebaut, denkt sie, greifbare Gebilde, an denen ein Schiffbrüchiger sich wieder hinaufziehen könnte, wenn überhaupt.«799 Während die junge Mutter in die jüdischen Traditionen und Rituale fest eingebunden scheint, wird dies aus der Perspektive ihres Großvaters wieder relativiert. Dieser hatte seine Enkelin nach deren Hochzeit mit einem Goj verstoßen und dann selbst »für diese lebendige Braut die Totenwache gehalten und trotz seiner Schwäche sieben Tage lang auf dem Bett gesessen.« (ATA, 17) Die die Gesellschaft stabilisierende Wirkung von Traditionen endet dann, wenn man sich nicht vollständig an sie hält, jegliches Abweichen wird sanktioniert. Dies gilt für die Mutter des gestorbenen Kindes in Aller Tage Abend ebenso wie für Klara in Heimsuchung, der der Pfarrer als »Selbstmörderin ein christliches Begräbnis versagen« will (H, 26). Dagegen wehrt sich wiederum ihr Vater, »der trotz seines hohen Alters inzwischen Ortsbauernführer geworden ist« (ebd.). Traditionen werden nicht mehr einfach hingenommen, die Geschichtszeit – das neue Amt des Großbauern verweist auf die Zeit des Nationalsozialismus – verdrängt das sich zyklisch wiederholende Zeitmodell der Sitten und Bräuche. Auch die junge Mutter des gestorbenen Kindes wird sich der Begrenztheit der Tradition bewusst und reflektiert ihr eigenes Weiterleben: »Ihr Großvater hatte sie verworfen, aber nach der Verwerfung durch ihn war ihr Leben ja weiter gegangen, und dauerte bis heute an.« (ATA, 42) Die »zyklisch-sakrale Zeit« tritt vor der »linear-profanen individuellen Lebenszeit«800 in den Hintergrund. Der Übergang von einer traditionellen in eine moderne Welt zeichnet sich durch ein Nachlassen des »fungierenden« Zeitsinns der Traditionen aus, die Figuren entwickeln einen »reflexiven Zeitsinn«, »der solche Vorgaben in Frage« stellt,801 und schließlich einen »operativen Zeitsinn«, der praktische Handlungen folgen lässt.802 »In dem Hause, in dem ein Todesfall erfolgt, hält man sofort die Uhr an« (H, 26), heißt es in Heimsuchung. In Wirklichkeit läuft die Zeit weiter. Der Großbauer teil Klaras Land in drei Parzellen, verkauft es und vollzieht dabei den Übergang von einer traditionellen in eine moderne Zeit: »[…] zum ersten Mal in seinem Leben mißt er Grund nicht in Hufen und Hektar, zum ersten Mal in seinem Leben spricht er von Parzellen.« (H, 25) Die junge Mutter aus Aller Tage Abend verlässt eines Tages ihren Geburtsort Brody, um sich im größeren Lemberg niederzulassen. Ihr Mann, der sie nach dem Tod des Kindes verließ, hat sich unterdessen nach Amerika einschiffen lassen, um in der neuen Welt ein neues Leben zu 798 Vgl. dazu Hermann 2014, S. 150. 799 Erpenbeck 2014, S. 14. Im Folgenden werden die Seitenangaben, die sich auf Aller Tage Abend beziehen, mit der Sigle ATA direkt im Text angeführt. Hervorhebungen im Original. 800 So Van Hoorn 2016, S. 143. 801 Rüsen 2003, S. 40. 802 Ebd., S. 42f.

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beginnen. In der Parallelführung der beiden Schicksale arbeitet der Text souverän mit einer Zeitgestaltung, in der die Zeit der erzählten Welt auseinanderzudriften scheint wie die gesamte Familie. Während der Vater des im Winter gestorbenen Kindes nach einigen Monaten, im August, nach der Überfahrt und einem Aufenthalt auf Ellis Island das Festland von New York endlich betritt, sind im Leben seiner Frau bereits mehr als drei Jahre vergangen. Dieser Wechsel von zeitraffendem und zeitdehnendem Erzählen zeugt von der unterschiedlichen Zeitwahrnehmung der Figuren: für die junge Mutter scheint sich alles zu überstürzen und zu beschleunigen, während die Reise in die moderne Welt paradoxerweise sehr langsam erscheint. Im letzten Kapitel dieses ersten Buches werden dann die unterschiedlichen Zeiten zusammengeführt und simultan erzählt: die alltäglichen Gesten der Frau, die des Mannes, auch die der Großmutter des gestorbenen Kindes: »Was unter anderen Umständen die Glieder einer Familie hätten sein oder werden können, ist nun so weit auseinandergerissen, dass eine Zerteilung mit Pferden dagegen wie nichts ist. Und dennoch denkt der, die oder jene manchmal hier, da oder dort denselben Gedanken: Wie still das Kind auf einmal war.« (ATA, 68) Ausgehend von privaten Zufällen, dem Selbstmord einer Erbin, dem Tod eines Kleinkindes, reflektieren die Romane gesellschaftliche Übergangszeiten, die zunächst nur implizit mit historischen Ereignissen in Zusammenhang gebracht werden. Hervorgehoben wird der Übergang aus einer traditionellen, Halt und Orientierung bietenden Zeitordnung in eine modernere, schnellere und unruhigere Zeit, die zunächst nicht explizit zivilisationskritisch gewertet wird. Die Zeit des Übergangs wird lediglich als Zeit dargestellt, in der mit dem Verlust des Altbekannten, mit dem Verlust des »Alltags«, wie Erpenbeck es für ihre eigene Geschichtserfahrung dargestellt hatte, nunmehr auch Orientierungspunkte verloren gehen.

3.2.2. Genealogische Brüche Wie die Beispiele zeigen, geht der Übergang von einer traditionellen in eine moderne Zeit in den Romanen mit einer problematischen genealogischen Abfolge einher. Dass Jenny Erpenbecks Texte im Gegensatz zu zahlreichen Familien- und Generationenromanen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eher genealogische Brüche hervorheben als hoffnungsvolle Kontinuitäten, wurde immer wieder betont.803 Diese »enorm fragilen Genealogien«, so Ulrike Vedder, »[machen] jedoch Fragen von Herkunft und Deszendenz keineswegs obsolet,

803 Vgl. zu Heimsuchung Probst 2010, S. 68f. sowie Meyer 2012, S. 324f.

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sondern eher sichtbarer […]«.804 Dabei stehen die Brüche in der Genealogie auch für ein Geschichtsbild, das die Zukunft als Form einer generationellen Fortschreibung der Gegenwart und als Weitergabe nicht mehr als selbstverständlich betrachtet.805 Das erste Buch von Aller Tage Abend erzählt den Abbruch einer möglichen genealogischen Abfolge durch den Tod des Kindes, der gleichzeitig zur völligen Entfremdung der ganzen Familie führt. Die trauernde Mutter fragt sich, ob »[…] jetzt schon die Zeit, in der sie eine erwachsene Frau war, vorüber [ist]? Kehrt die Zeit, wenn sie den Weg nach vorn verfehlt hat, einfach um und geht rückwärts?« (ATA, 31) Der Schicksalsschlag ändert die persönliche Wahrnehmung der Zeit, ein gerade begonnenes Leben scheint plötzlich umzuschlagen und seinem Ende zu nahen. Gleichzeitig lässt dieses private Ereignis bereits vorausahnen, dass auch das Voranschreiten der geschichtlichen Zeit, dass der vermeintliche Fortschritt eine Illusion ist und sich in die entgegengesetzte Richtung verkehren kann. Neunzig Jahre wird es dauern, bis die Tochter der Frau im fünften Buch des Romans rückblickend auf ihr sozialistisches Engagement sagt: »Wir haben versucht, alles zu machen, aber wir haben es falsch gemacht.« (ATA, 259) In Aller Tage Abend erfolgen genealogische Brüche jedoch nicht nur zufällig, wie durch den plötzlichen Tod eines Kindes, sondern die Weitergabe von Herkunft, Tradition und genealogischen Mustern wird, aus historischen Gründen, auch willentlich unterbrochen. Die Mutter der jungen Frau, deren Kind gestorben ist, hatte diese mit einem Goj verheiratet, um sie vor den möglichen negativen Folgen ihrer jüdischen Herkunft zu schützen. Als die junge Frau selbst noch ein Säugling war, überlebte sie nur durch Zufall ein Pogrom, in dem ihr Vater auf grausame Weise starb. Die ausführlich beschriebene Pogromszene habe die Eigenschaft, so Iris Hermann, »den gesamten Roman einzufärben, das heißt, als Heimsuchung alle noch folgenden Ereignisse schon fast vorwegzunehmen.«806 Und sie wird als Familiengeheimnis807 in den Roman eingehen, denn die Mutter hatte der Tochter den gewaltsamen Tod ihres Vaters verschwiegen. Bis in die vierte Generation hinein wird auf diese Weise mit Herkunft umgegangen: noch der Sohn der Protagonistin im vierten Buch wird nie erfahren, wer sein Vater war. Die Abkehr vom Judentum führt bei der Tochter zu Identitätsproblemen und einer Distanzierung von ihrer Mutter: »Die Alte selbst hat ihrer Tochter den Weg geschenkt, der diese von ihr weggeführt hat, der Weg richtet die Tochter, so wie es 804 Vedder 2014, S. 57. 805 Wie in Kap. 1.3.1. gezeigt, greift auch Lutz Seiler auf das Motiv einer gestörten genealogischen Ordnung zurück, um die Auswirkungen des Umbruchs von 1989 auf die Biographien sowie die damit verbundenen veränderten Zeitvorstellungen darzustellen. 806 Hermann 2014, S. 148. 807 An dieser Stelle übernimmt Erpenbeck dann doch ein rekurrentes Element der Familienund Generationenromane.

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momentan aussieht, zugrunde, dafür aber werden die Enkelinnen das Ziel vielleicht erreichen. Manche sind zum Zurückbleiben bestimmt, manche zum Gehen, zum Ankommen die dritten.« (ATA, 99) Verluste auf dem Weg in ein Leben, in dem die Herkunft keine Rolle mehr spielt, scheinen einkalkuliert, doch bieten weder die Assimilation noch der Abbruch familiärer Traditionen und Wurzeln die Garantie für ein Gelingen. Bevor zumindest eine der Enkelinnen in einem Leben ›ankommt‹, in dem ihre Herkunft vielleicht keine Rolle mehr spielt, muss die Erzählinstanz noch mehrmals eingreifen, und doch kommt die Herkunft als Verdrängtes immer wieder zurück. Auch in Heimsuchung ist der Übergang von einem traditionellen Gesellschaftsmodell in die Moderne mit einem Abbruch genealogischer Nachfolge verbunden. Der Großbauer und Gemeindevorsteher steht in einer langen Familientradition: »Der Vater des Schulzen war Schulze, und dessen Vater war Schulze, und dessen Vater war Schulze, und immer so weiter zurück bis sechzehnhundertundfünzig.« (H, 16) Er selbst hat keinen Sohn, das Ende der traditionellen Weitergabe wird als Unterbrechung der patrilinearen Ordnung dargestellt,808 die Töchter heiraten nicht, ein uneheliches Kind stirbt ungeboren, die jüngste Tochter begeht Selbstmord, das Land wird verkauft. Der Übergang von der alten in die neue Welt, so Mary Crosgrove, werde als Katastrophe dargestellt, die Moderne erscheine als ebenso problematisch wie die zugrunde gehende alte Welt.809 Auch der Architekt und dessen Frau, die eine der drei Parzellen kaufen, bleiben kinderlos. Das Haus, das sie auf dem Grundstück bauen, wird nicht zum Schauplatz einer Familienchronik, es wechselt je nach politischen Verhältnissen den Besitzer, suggeriert also keine in Traditionen und Besitz verankerte Kontinuität, sondern vermittelt Erfahrungen von Verlust und Vertreibung.810 In diesem Sinne hinterfragt Erpenbeck auch das Konzept von Heimat, da der Bezug zu einem Ort, der diesem Begriff entsprechen könnte, immer wieder plötzlich aufgelöst wird.811 Die genealogischen Brüche, die in den beiden Romanen thematisiert werden, verweisen über ihre familiäre und generationelle Bedeutung hinaus auf eine grundlegende Verunsicherung in der Verortung in der Welt, auf Zweifel an der möglichen Weitergabe des Existierenden und seiner Fortsetzung in der Zukunft. Der gesellschaftliche Umbruch von 1989 kann als Auslöser einer solch destabilisierten Weltsicht angesehen werden, einige der dargestellten Brüche sind mit der Lebens- und Familiengeschichte der Autorin verbunden. Das in Heimsuchung dargestellte Haus ist von der Geschichte des Hauses inspiriert, das Er808 809 810 811

So Cosgrove 2012, S. 73. Ebd. Vgl. dazu Shafi 2012, S. 32f. Vgl. Kramer 2013, S. 200f.

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penbecks Großeltern, die Schriftsteller Hedda Zinner und Fritz Erpenbeck, in der DDR gepachtet hatten.812 Jenny Erpenbeck wird in einem Interview zugeben, dass sie durch den Verlust des Hauses »durch die Restitution an den Alteigentümer […] heimgesucht worden [ist]«.813 Auch die in Aller Tage Abend erzählte Geschichte einer Assimilation, ebenso wie andere Erfahrungen der Protagonistin, gehen auf die Familiengeschichte von Erpenbecks Großmutter Hedda Zinner zurück, die, wie die Autorin berichtet, auch von den gesellschaftlichen Veränderungen 1989 stark betroffen war, plötzlich »keinen Halt mehr [hatte] und […] darüber buchstäblich den Verstand [verlor]«.814 Die fiktionale Gestaltung der Figur einer alternden und dement werdenden Großmutter in zwei Erzählungen aus dem 2003 erschienenen Erzählband Tand815 zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit der 1994 verstorbenen Großmutter und offensichtlich auch mit der Familiengeschichte und deren Brüchen, die in den beiden Romanen fortgesetzt wird.816

3.2.3. Geschichtszeit und Lebenszeit Einbruch von Geschichte Genealogische Brüche erfolgen jedoch nicht nur durch zufällige Kinderlosigkeit oder eine zwar historisch bedingte, doch bewusste Abkehr von der eigenen Herkunft, sondern sie werden auch durch historische Gewalt bewirkt. In beiden Romanen wird eine auf die Zukunft ausgerichtete individuelle Lebenszeit immer wieder von Momenten der Geschichte unterbrochen, die plötzlich über die Individuen hereinbricht und den Lauf ihres Lebens verändert, durcheinanderbringt, zerstört, auslöscht. Beiden Romanen ist zunächst der Zivilisationsbruch von Auschwitz eingeschrieben. Im zweiten Buch von Aller Tage Abend, in dem die Protagonistin als junge Frau Selbstmord begeht, erfährt man im letzten Teilkapitel in Form einer Prolepse, dass ihre jüngere Schwester 1944 in Auschwitz ermordet wird.817 Bis zu ihrem Tod trägt sie das Tagebuch der älteren Schwester bei sich, das nun »in den 812 813 814 815

Vgl. Döbler 2008. Vgl. Schuster/Paul/Erpenbeck 2008. Vgl. Reif/Erpenbeck 2009. So die Titelerzählung »Tand« (2000) sowie »Anzünden oder Abreisen« (2001), in: Erpenbeck 2003, S. 35–51 und S. 119–124. 816 Vgl. dazu Kap. 3.2.5. dieser Arbeit. 817 »Im Jahr 1944 wird in einem Birkenwäldchen ein Heft […] auf die Erde fallen, als ein Wachposten eine junge Frau mit seinem Gewehrkolben vorwärts stößt […]. Das Heft wird in den Dreck fallen, und die Frau wird nicht zurückkommen können, um es aufzuheben […].« (ATA, 132)

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Dreck fallen« wird, »Schritte werden darüber hinweggehen, bis alle Geheimnisse, die dort aufgeschrieben sind, die gleiche Farbe haben wie der Morast.« (ATA, 132). Die Familiengeschichte und deren Vermittlung werden gewaltsam unterbrochen: »Wir sind in einem Moment angelangt«, schreibt Katja Schubert, »an dem eine Familiengenealogie und die Möglichkeit der Zeugenschaft und ihrer Lesbarkeit gewaltsam und definitiv an ihr Ende gekommen sind.«818 In Heimsuchung betrifft die Auslöschung die Familie des Tuchfabrikanten, der eine der drei Parzellen des Grundstücks erworben hatte. Im Gegensatz zu den anderen im Roman dargestellten Familien werden gerade hier zunächst die generationellen Verbindungen hervorgehoben. Das Kapitel setzt mit einer Aufzählung aller Familienmitglieder ein, die dann noch zweimal wiederholt wird und sich im Laufe des Textes in ein Totengebet, in eine »Memento-Schrift«819 verwandelt: Hermine und Arthur, seine Eltern. Er selbst, Ludwig, der Erstgeborene. Seine Schwester Elisabeth, verheiratet mit Ernst. Die Tochter der beiden, seine Nichte, die Doris. Dann seine Frau Anna. Und nun die Kinder: Elliot und die kleine Elisabeth, genannt nach seiner Schwester. (H, 49, 56, 60)

Immer wieder werden im Text in fast biblischem Duktus die genealogischen Familienverhältnisse betont. Aufgrund der politischen Lage, es ist die Zeit des Nationalsozialismus und die Nachbarn grüßen mit »Heil« (H, 50),820 möchte Ludwig auf dem Grundstück nicht bauen, sein Vater besteht darauf, wenigstens eine Weide zu pflanzen: »Arthur, Vater von Ludwig und Elisabeth, Großvater von Doris, nimmt den schlanken Stamm vom Boden auf […]« (H, 54). Hermine, Doris’ Großmutter, sagt zu ihr: »Wenn die Weide schon groß ist und mit ihren Haaren die Fische kitzelt, wirst du immer noch hier zu Besuch sein, bei deinen Cousins und Cousinen […]« (H, 55). »Auch wenn du eine alte Frau bist, sagt ihr Großvater Arthur, wirst du dich noch hier ans Ufer setzen, um zu sehen, wie die Sonne hinter den See rutscht.« (H, 59) Familiale Rückversicherung und Projektionen in die Zukunft verweisen auf einen festen Familienzusammenhang, der brutal auseinandergerissen wird. Die Passage, so Franziska Meyer, »zielt[e] auf

818 Schubert 2016, S. 105. 819 Ludorowska 2011, S. 258. 820 Im Roman wird das bedrohende »Heil« immer wieder mit der Partikel »heim« parallel geführt, einer Heimat, an der die Eltern Arthur und Hermine bis zum Schluss festhalten (z. B. H, 50).

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das rückwärts gewandte Erschrecken der Leser vor der abgebrochenen Zukunft im Vergangenen.«821 Während der Vater Arthur immer wieder auf den Begriff des Erbes insistiert und an die Fortschreibung der Familiengeschichte auf dem Grundstück am See glaubt, hat sein Sohn Ludwig längst begriffen, dass er in Deutschland keine Zukunft mehr hat. Er emigriert 1936 rechtzeitig nach Südafrika, wo die Eltern ihn 1937 noch besuchen. Arthur und Hermine gelingt später die Ausreise ebenso wenig wie Ludwigs Schwester und deren Familie. Die Eltern werden in Kulmhof (Chełmno) ermordet, der Schwager stirbt durch Zwangsarbeit, Schwester und Nichte werden ins Warschauer Ghetto gebracht und von dort aus deportiert. Der Roman erzählt das Schicksal der Familie nicht linear, die zahlreichen chronologisch nicht aufeinanderfolgenden kürzeren Abschnitte verweisen auf das Fragmentarische, das Unvollendete dieser Leben, die plötzlich durch Gewalt beendet werden. Ludwigs nach seiner Schwester benannte Tochter822 ist das letzte Glied der anfangs beschworenen Ahnenreihe, es ist der verzweifelte Versuch, die Genealogie der Familie fortzusetzen, gleichzeitig aber auch die Erinnerung an die Schwester wachzuhalten.823 Das Mädchen Doris, Ludwigs Nichte, reflektiert den Einbruch der Geschichte in ihr Leben in ihrem Versteck im Warschauer Ghetto in Begriffen der Zeitwahrnehmung: Während sie auf der kleinen Kiste sitzt, und ihre Knie an die gegenüberliegende Wand stoßen, […], vergeht Zeit. Wahrscheinlich vergeht Zeit. Zeit, die sie wahrscheinlich immer weiter und weiter entfernt von dem Mädchen, das sie vielleicht einmal war […]. […] Zeit hat sich zwischen sie und ihre Eltern, zwischen sie und alle übrigen Menschen geschoben, Zeit hat sie mit sich fortgerissen und in diese dunkle Kammer gesperrt. […] Lief die schwarze Zeit immer weiter, auch wenn der Mensch nur noch saß, lief die Zeit immer weiter und riß selbst ein versteinertes Kind noch mit sich fort? (H, 79f.)

Während dem individuellen Zeitempfinden des Mädchens in der Situation des angstvollen Wartens konkrete Zeitbegriffe abhandenkommen, weiß es, dass es aus seinem früheren Leben herausgerissen, vom Strom der Geschichte mitgerissen wird. Während sie selbst erstarrt in ihrem Versteck verharrt und »versteinert« keine Lebenszeit mehr empfindet, nehmen Zeit und Geschichte ihren

821 Meyer 2012, S. 337. 822 Dabei sind dieser Namensgebung die erlittene Gewalt und der Bruch eingeschrieben und werden formal durch die einzige Zäsur, den einzigen Zeilensprung bei der Aufzählung der Familienmitglieder repräsentiert: »Und nun die Kinder: Elliot und die kleine Elisabeth, ge-/ nannt nach seiner Schwester.« (H, 49, 56, 60). 823 Vgl. dazu Thyen 2018, S. 118.

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schnellen Lauf: die Erfahrung von Stillstand und das Bewusstsein von einem unabwendbaren Schicksal treffen hier aufeinander.824 Neben dem Zivilisationsbruch von Auschwitz, der im Roman an ganz zentraler Stelle steht, wird der Einbruch von Geschichte auch durch andere Figuren reflektiert. Eine grundsätzlich andere Zeitwahrnehmung als Doris hat zunächst die Frau des Architekten auf dem Nachbargrundstück. Während die Familie ihrer jüdischen Nachbarn, von deren Situation sie und ihr Mann durch den billigen Erwerb eines zusätzlichen Grundstücks profitierten, vom Lauf der Geschichte fast ganz ausgelöscht wurde, empfindet die Frau des Architekten Zeit als etwas Immergleiches, sich Wiederholendes, von der Geschichtszeit und dem politischen Kontext Unabhängiges: »So hatte sie schon vor dem Krieg hier gesessen, […] und auch während des Krieges […] und saß so noch immer. Gern würde sie bis in alle Ewigkeit einfach so sitzen.« (H, 65). Die empfundene Zeitlosigkeit geht einher mit einer grundlegenden Geschichtsvergessenheit: So gehen die Jahre und sind wie ein Jahr. Ob die Maikäferplage siebenunddreißig war oder doch ein Jahr später, könnte sie jetzt gar nicht mehr sagen […]. Ob es achtunddreißig war, oder neununddreißig, vielleicht auch erst vierzig, als sie begannen, den Steg des leerstehenden Nachbargrundstücks zu nutzen […], wüßte sie jetzt nicht mehr genau zu sagen. Das Bootshaus hat er wohl erst gebaut, als ihnen der Nachbargrund schon gehörte, aber wann das war? Sommer um Sommer Schwimmen, Sonnenbaden und Himbeeren pflücken […], Herbst um Herbst hören, wie der Gärtner das Laub im Garten zusammenrecht […], Winter um Winter sich auf dem Segelschlitten über das Eis jagen lassen […]. Heute kann heute sein, aber auch gestern oder vor zwanzig Jahren […], die Zeit scheint ihr zur Verfügung zu stehen wie ein Haus, in dem sie mal dieses, mal jenes Zimmer betreten kann. (H, 70)

Der Kontrast zum Schicksal der Nachbarn könnte größer nicht sein: wurden einzelne Jahreszahlen für jene zur Zäsur, da ihr Leben und Überleben von den diskriminierenden Maßnahmen und geschichtlichen Ereignissen abhing, lebt die Frau des Architekten unbeeinflusst vom Lauf der historischen Zeit im Rhythmus der Jahreszeiten, in der »Gleichförmigkeit« der sich »in Endlosschleife wiederholenden«825 Ereignisse. Doch auch die Frau des Architekten wird schließlich Geschichte am eigenen Leib zu spüren bekommen, als Soldaten der Roten Armee 1945 ihr Haus besetzen: »Hätte es nicht diese eine Nacht gegeben, diese eine Nacht in dem von ihrem Mann eigens für sie entworfenen begehbaren Schrank, würde sie vielleicht noch immer glauben, daß ihr Mann ihr damals […] ein Stück Ewigkeit gekauft hat, und daß diese Ewigkeit an keiner Stelle ein Loch hat.« (H, 72) In diesem Schrank 824 Schubert (2016, S. 97) assoziiert die »schwarze Zeit« mit »Dan Diners Definition des Ghettos als ›Ort der den Todgeweihten geliehenen Zeit‹«. 825 So Probst 2010, S. 76.

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kommt es zu einer Vergewaltigungsszene, die sowohl aus der Perspektive der Frau als auch des jungen sowjetischen Majors beschrieben wird und in der die Rollenverteilung zwischen »Opfer« und »Täter« erstaunlich ambivalent bleibt. Dennoch ist der Körper Träger dieser Erinnerung,826 die historische Zeit bestimmt von nun an das Leben der Frau. Plastisch beschreibt der Text deren individuelle Zeitwahrnehmung wie das langsame Ablaufen einer Sanduhr, die unweigerlich auf ein Ende zuläuft: »Und dabei rinnt nun schon seit etwa sechs Jahren durch das Loch, das der Russe gegen Ende des Krieges in ihre Ewigkeit gebohrt hat, die Zeit fortwährend aus.« (H, 75) Am Jahresende wird sie mit ihrem Mann nach West-Berlin gehen und das Haus am See verlassen. Der opportunistische Architekt, Mitglied der Gruppe von Albert Speer, muss Anfang der 1950er Jahre aus der DDR fliehen, um seiner Verhaftung zu entgehen. Während sein Beruf es ist, »Heimat [zu] planen«, ein Haus wie eine »dritte Haut« (H, 39) zu entwerfen, Stabilität zu schaffen, wird er jetzt selbst von der Geschichte eingeholt: »Drei Dimensionen waren bisher sein Beruf, Höhe, Breite und Tiefe […], aber die vierte hat ihn jetzt eingeholt, die Zeit, und die jagt ihn jetzt aus seinem Gehäuse.« (H, 39) Der Roman erzählt noch von vielen anderen Schicksalen, die von der historischen Zeit überrollt wurden. Der junge Rotarmist meldete sich mit fünfzehn Jahren freiwillig zur Armee, nachdem seine Familie von den Deutschen grausam ermordet worden war (H, 95). Er erinnert sich an die Zukunftsversprechen seiner Kindheit und sieht diese zurückgenommen: »In der Schule hatte er gelernt, daß in der Sowjetunion die Saat für die glückliche Zukunft der Menschheit gesät würde. Aber nun […] holte die sowjetischen Männer die schmutzige Vergangenheit ein, die ihnen bis dahin unbekannt gewesen war, und riß sie zurück in die Fremde.« (H, 103) Die Schriftstellerin, die das Haus im Anschluss an den Architekten bewohnt, war ins Exil gegangen und nach dem Krieg wieder zurückgekommen, mit dem Bewusstsein, dass sich ein nicht wieder zu behebender Bruch vollzogen hatte: »Jene, die vor ihrer eigenen Verwandlung ins Ungeheure aus der Heimat geflohen waren, wurden durch das, was sie von zu Hause erfuhren, nicht nur für die Jahre der Emigration, sondern, wie es ihr inzwischen scheint, auf immer ins Unbehauste gestoßen, unabhängig davon, ob sie zurückkehrten oder nicht.« (H, 117) Die in ihren Memoiren eindringlich beschworene Heimkehr – »I-c-h k-e-h-r-e h-e-i-m, war der Satz, den sie gestern zuletzt auf der Schreibmaschine geschrieben hat.« (H, 113) – wird kein wirkliches Heimischwerden mit sich bringen, der Satz erinnert wie ein Echo an den jüdischen Tuchfabrikanten. Eine Besucherin, die regelmäßig im Haus weilt, musste am Ende des zweiten Weltkriegs mit ihren drei Enkelkindern aus Polen fliehen, ihre Tochter blieb verschollen (H, 129f.). Der »Unterpächter« des Bootshauses, 826 Ebd., S. 83.

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der in den 1960er Jahren nach einem Fluchtversuch aus der DDR im Gefängnis saß, sich dann mit seinem Leben im Land abgefunden hatte, sieht einen erneuten Bruch vor sich, da er das Bootshaus nach 1989 wird verlassen müssen. Er denkt, »daß es schön wäre, wenn es seiner Frau und ihm gelingen würde zu sterben, bevor über das Eigentum endgültig entschieden ist.« (H, 155) Der Umbruch von 1989 zerstört auf seine Art Lebenszusammenhänge. Die mit dem Haus seit ihrer Kindheit eng verbundene Enkelin der Schriftstellerin, nun »unberechtigte Eigenbesitzerin« (H, 172), muss der Rückübertragung und dem Verfall des Hauses beiwohnen, wobei die vergangene Zeit sie schmerzhaft an den Ort bindet: Du hast deine Zeit dort gehabt. Sie hat ihrem Mann aber nicht erklären können, daß von dem Moment an, als sich abzeichnete, daß sie in diesem Haus nicht alt werden würde, die vergangene Zeit in ihrem Rücken zu wuchern begann, daß da ihre sehr schöne Kindheit ihr, die längst erwachsen war, mit so großer Verspätung noch über den Kopf wuchs und sich als sehr schönes Gefängnis erwies, das sie für immer einschließen würde. Wie mit Schlingen band die Zeit den Ort dort fest, wo er war, band die Erde an sich selbst fest, und band sie an dieser Erde fest, […]. (H, 183)

Der Verlust der Kindheit wird hier noch einmal auf andere Weise als in Erpenbecks Debüt thematisiert, einmal mehr deutet der Roman an, dass sich die Zeit vom Menschen schwer bändigen lässt, weder die historische Zeit noch die durch diese beeinflusste individuelle Lebenszeit. Anke S. Biendarra zufolge unterwandere Erpenbeck hier »das in der Moderne kanonisch gewordene Verständnis einer rationalen Zeitlichkeit, die von einem historischen Subjekt kontrolliert, archiviert und erhalten werden kann.«827 Durch die pflanzliche Metapher des Wucherns der Zeit erscheint Zeit hier, so Katrin Dautel, als »etwas Eigenständiges und Aktives […], das jenseits des Zivilisatorischen geschieht und in dessen Fortschreiten nicht eingegriffen werden kann«.828 Auf formaler Ebene stellt der Roman den Einbruch der Geschichte in das Leben der Individuen durch erzählerische Diskontinuitäten dar. Nach dem ersten Hauptkapitel sind die folgenden Kapitel nicht chronologisch angeordnet, sondern zeitlich ineinander verschachtelt: die erzählte Zeit springt vom Anfang der 1950er Jahre (»Der Architekt«) zurück in die 1930/1940er Jahre (»Der Tuchfabrikant«), dann wieder in die 1950er Jahre (»Die Frau des Architekten«) und zurück in die 1940er (»Das Mädchen«) und ins Jahr 1945 (»Der Rotarmist«), daraufhin in die beginnenden 1970er Jahre (»Die Schriftstellerin«), später noch in die Nachwendezeit (»Die Unterpächter«, »Die unberechtigte Eigenbesitzerin«). Die einzelnen Kapitel enthalten zahlreiche Analepsen und Prolepsen, die noch einmal unterschiedliche Zeitebenen evozieren. Des Weiteren spielt der Text mit einer Mischung aus wenigen absoluten Zeitangaben in Form von Jahres827 Biendarra 2014, S. 143. 828 Dautel 2019, S. 252.

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zahlen, zahlreichen relativen Zeitangaben sowie Hinweisen auf geschichtliche Ereignisse, die über die einzelnen Kapitel verstreut sind, aufeinander verweisen und den Leser auffordern, die erzählte Zeit zu rekonstruieren, um sich im Text zu orientieren. Dabei kommt es aber auch zu unauflösbaren Unstimmigkeiten, die fiktionale erzählte Zeit ist nicht immer mit der realen kalendarischen bzw. historischen Zeit abgleichbar.829 Diese Relativität der Zeitangaben entspricht einer allgemeinen Wahrnehmung von Zeit und Geschichte, die nicht durchschaubar ist und von der die Figuren »heimgesucht« werden: diese Bedeutung des Titels dominiert über die den Kapiteln ebenfalls eingeschriebene Suche nach einem Heim, einer Heimat – eher wird deren Verlust thematisiert.830 Diese Heimsuchungen entsprechen den »Eckdaten der (deutsch-)deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts«,831 und obwohl diese Geschichte von Menschen verantwortet wurde, trägt ihre Aneinanderreihung – auch wenn der Roman sie nicht chronologisch erzählt – fatalistische Züge. Der hier angedeutete Geschichtspessimismus wird lediglich durch das Einschreiben der Handlung in die noch größeren Zusammenhänge einer natürlichen Zeit relativiert. Lebensgeschichte und Kontingenz Auch in Aller Tage Abend werden die Protagonisten von der Geschichte immer wieder heimgesucht, doch spielt hier das Moment des Zufalls eine wesentliche Rolle, so dass der scheinbare Fatalismus einer Kontingenz weicht, die Geschichte und »Zeit als Möglichkeitsrahmen«832 offen lässt. »Schön wäre es, […], wenn der 829 Zwei Beispiele: Das Haus des Architekten wurde 1936 fertiggestellt und der Gärtner nimmt seine Arbeit auf: rekonstruierbar ist dieses Datum durch den Sieg Max Schmelings über Joe Louis (Juni 1936), von dem im Radio berichtet wird (H, 28). Als der Architekt definitiv sein Haus verlässt, vergräbt er im Garten Wertgegenstände mit einem Spaten, »dessen hölzernen Stiel sein Gärtner im Laufe der letzten zwanzig Jahre blankgegriffen hat.« (H, 36) Allerdings flieht er nicht 1956, sondern wahrscheinlich Ende 1951/Anfang 1952, auch hier gibt es Unklarheiten: es ist der »erste Tag im neuen Jahr« (H, 38), »sechs Jahre nach Kriegsende« (H, 42). Er will einer Verhaftung in der DDR entgehen, da er mit Privatgeld in West-Berlin Schrauben gekauft hatte, um ein Gebäude zum »dritten Jahrestag« (H, 71) der Republik (also Oktober 1952) fertigzustellen. Er verlässt das Haus an einem Wochenende, da er weiß, dass da niemand verhaftet wird (H, 39). Doch weder der reale 1. Januar 1952 (Dienstag) noch der 1. Januar 1951 (Montag) fallen auf ein Wochenende. Auch in dem in den 1970er Jahren spielenden Kapitel »Die Schriftstellerin«, das auf realen Erfahrungen von Erpenbecks Großmutter Hedda Zinner beruht, gibt es Unstimmigkeiten in Form von Anspielungen auf Johannes R. Becher, der die Frau besucht, während der reale Becher bereits 1958 starb: »Der Dichter, der sie damals versteckte, bewohnt jetzt mit seiner Frau ein Sommerhaus auf der anderen Seite des Sees, heute nachmittag werden die beiden vielleicht bei ihnen am Steg anlegen […]« (H, 119). 830 Probst 2010, S. 85. 831 Ebd., S. 86. 832 Vgl. dazu Werner 2011, S. 151.

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Zufall regieren würde, und nicht Gott.« (ATA, 14), denkt die junge Mutter zu Beginn von Aller Tage Abend nach dem Tod ihres Kindes. Das den traditionellen Zeitvorstellungen inhärente Prinzip der Providenz wird im Roman dann tatsächlich durch das der Kontingenz ersetzt,833 denn dieses Prinzip des Zufalls, des Nicht-Voraussehbaren und Nicht-Erwartbaren macht er sich als poetologisches Prinzip zu eigen. Dank in den Text eingebauter Intermezzi wird das jeweilige Schicksal der Figur immer wieder verändert, »wird im Irrealis die Todesszene mit einer mitunter klitzekleinen narrativen Stellschraube verdreht«.834 Der Zufall verhindert immer wieder den Tod, so dass die individuelle Lebensgeschichte weitergehen kann: der im ersten Buch gestorbene Säugling wird im Intermezzo dadurch ins Leben zurückgeholt, dass ihn die Mutter mit einer Handvoll Schnee abreibt: »So wäre das Schicksal still geblieben, und der erste Moment, in dem das Kind hätte sterben können, wäre ohne viel Aufhebens vorübergegangen.« (ATA, 72) Im Intermezzo nach dem zweiten Buch hätte die Siebzehnjährige auf ihren Selbstmord verzichtet, weil sie rechtzeitig ihre Großmutter antraf und dann nach Hause zurückging, entschlossen, ein neues Leben zu beginnen: »Eine ganze Welt aus Gründen gab es, warum ihr Leben nun an ein Ende gekommen sein könnte, wie es gleichzeitig eine ganze Welt aus Gründen gab, warum sie jetzt noch am Leben sein könnte und sollte.« (ATA, 137) Und im Intermezzo nach dem vierten Buch wäre die Frau nicht gestürzt: »Nur fünf Minuten später die Treppe hinunter und den Eingang in die Unterwelt verfehlen […]« (ATA, 241). »In seiner ästhetischen Durchformung und durch das Konstruktionsprinzip der Variation«, so Anke S. Biendarra, »konkretisiert der Roman […] die Idee, dass der Zufall das eigentliche Grundprinzip darstellt, das die menschliche Existenz strukturiert.«835 Ebenso werde »die Idee gradliniger Lebensgeschichten per se als Fiktion entlarvt.«836 Im dritten der fünf Bücher des Romans, das formal im Zentrum steht und am Beispiel des Stalinismus am stärksten historische Zusammenhänge reflektiert, endet die Protagonistin nicht durch einen Schicksalsschlag des privaten Lebens, durch plötzlichen Kindstod, Selbstmord oder Treppensturz, sondern durch politische Willkür. Als kommunistische Emigrantin im Moskau der dreißiger Jahre versucht sie unter dem stalinistischen Terror zu überleben. Ihr Mann wurde bereits verhaftet, ihr Pass ist abgelaufen, nun schreibt sie einen Lebenslauf, um die sowjetische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Doch weiß sie nicht, welche Version ihres Lebens gerade als akzeptabel gilt, welche früheren Verhaltensweisen und Bekanntschaften sie verschweigen muss, welche Fehler sie eingestehen, 833 834 835 836

Zur literarischen Gestaltung dieser Konzepte in historischer Perspektive vgl. Frick 1988. Hermann 2014, S. 149. Biendarra 2014, S. 142. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 141.

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wieviel Selbstkritik sie ausüben soll: »Käme sie mit einer Wahrheit weiter als mit einer Lüge? Und welche der vielen möglichen Wahrheiten oder Lügen soll sie dann nehmen? Wenn sie doch nicht weiß, wer lesen wird, was sie schreibt.« (ATA, 142) Die Protagonistin ist in einem ungewissen »Jetzt« gefangen, in dem sie sich ihres »ohnmächtigen Unterworfenseins unter die Zeit« bewusst wird, so Tanja van Hoorn, sowie des »gescheiterte[n] Engagement[s] für einen politischen Wandel, der neue Zeiten hätte bringen sollen: Das Jetzt ist […] auch ein Negativ der Zeiten, d. h. der Geschichte.«837 Auch hier regiert der Zufall, doch in Form einer schizophrenen Macht, deren Reaktionen nicht voraussehbar sind und die die Vergangenheit permanent neu interpretiert: »Durch die Bewegungen, die in der Gegenwart stattfanden, bewegte sich also auch die Vergangenheit. Aber konnte ein Blick auf die Dinge tatsächlich die Dinge selbst wandeln?« (ATA, 160) Selbst einst beständige ›Werte‹ wie Lenin können plötzlich neu beurteilt werden: »War er vielleicht, als sie den Tee holen ging, noch ein Klassiker, und als sie mit der Tasse in der Hand zurückkam, schon ein Verbrecher?« (ATA, 163) Die Momente des Umschlags eines menschlichen Schicksals stehen auch in diesem dritten Buch im Mittelpunkt, doch in Form der impliziten Anklage eines unmenschlichen politischen Systems, an das die Protagonistin kurz vorher selbst noch glaubte. Den Erinnerungen an die eigene Vergangenheit, als sie noch vertrauensvoll in die Zukunft blickte, stehen die Bruchstücke des eigenen Lebens in Form des selbstkritischen, schwankenden Lebenslaufs gegenüber sowie als in den Text einmontierte Fragmente von Prozessprotokollen und denunziatorischen Berichten (z. B. ATA, 146, 152f.).838 Die Protagonistin wird letztendlich verhaftet und stirbt im Gulag, das dritte Intermezzo holt sie ins Leben zurück. Durchgespielt werden die Reaktionen von Funktionären des NKWD, die Kaderakten auf unterschiedliche Stapel sortieren und so über das Schicksal der Betroffenen entscheiden. Im Moment der geplanten Verhaftung ist die Protagonistin zufällig nicht zu Hause, in der Woche darauf ist man auf der Namensliste bereits weiter. Die Frau kommt mit dem Leben davon, der Leser ist – wie bereits zweimal zuvor – erleichtert: die Geschichte und die Geschichten gehen weiter. Doch diesmal sollte man angesichts dieses Neubeginns innehalten, denn es kommen nicht dieselben harmlosen Zufälle ins Spiel wie in den ersten beiden Intermezzi: die Verbrechen werden 837 Van Hoorn 2016, S. 149. Der Artikel analysiert detailliert die unterschiedlichen Aspekte der im Roman dargestellten Momenterfahrungen. 838 Erpenbeck benutzt hier die Stenogramme einer Parteiversammlung der deutschen Kommission des Sowjet-Schriftstellerverbandes, die Anfang September 1936 zusammentrat, um über Abweichler und Parteifeinde zu urteilen und diese zu denunzieren. Teilnehmer waren u. a. Johannes R. Becher, Willi Bredel, Ernst Ottwalt, Alfred Kurella, Georg Lukács und Friedrich Wolf. Satzbrocken aus den Protokollen werden teils wörtlich übernommen, teils leicht verändert. Das Material findet sich in Müller 1991.

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nicht rückgängig gemacht, andere werden anstelle der Frau deportiert und sterben. Geschichte wird hier nicht ins Positive gewendet, es wird kein anderer oder besserer möglicher Verlauf der Dinge entworfen, die Autorin schlägt trotz der zahlreichen Zufälle und Konjunktivierungen keine kontrafaktischen Entwürfe, keine Alternativweltgeschichte vor.839 Für das im Roman dargestellte Geschichtsverständnis ist dies zentral, denn die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus sowie dem Scheitern kommunistischer Utopien und Glücksvorstellungen durchzieht ihn bis an sein Ende.840 Das Spiel mit der Kontingenz ist in diesem Sinne, wie Timm Menke feststellt, auch eine »literarisch verarbeitete Infragestellung des Verständnisses von Geschichte als einer fortschrittlichen und vernunftgeleiteten Entwicklung zu einem Ziel« und »was Teleologie und historischen Fortschritt betrifft, als Kritik an der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx zu verstehen.«841 Nach dem dritten Intermezzo wird die Frau wieder in die Geschichte entlassen, ihr Leben geht im nächsten Buch nahtlos weiter, als bekannte Schriftstellerin in der DDR wird sie über diese Ereignisse schweigen, sich – immer noch und trotz der eigenen Erfahrungen – für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft einsetzen. Das fünfte und letzte Buch führt die Protagonistin bis in die Zeit nach dem Mauerfall, wo sie mit 90 Jahren eines natürlichen Todes stirbt. Diesmal ist der Alterstod nicht rückgängig zu machen und mit der alten Frau scheint auch die historische Entwicklung durch den Mauerfall an ihr Ende gekommen zu sein. Im letzten Intermezzo, in dem der Treppensturz vermieden wurde, heißt es: Im Herbst neunundachtzig fällt die Wand zwischen dem östlichen und westlichen Teil Deutschlands, umgerannt wird sie, übersprungen, niedergemacht, die Volksmenge, die in Aufruhr geraten ist, stürzt aus dem eigenen Land hinaus und sinkt den kapitalistischen Brüdern und Schwestern in die Arme, Freudentaumel, vergisst sich, ein ganzes Staatswesen entleert sich, übergibt sich, wem eigentlich übergibt man sich, wenn man sich übergibt, übergibt die Gewalt, die Staatsgewalt, und sackt dann in sich zusammen, ist hin. (ATA, 241)842 839 Marx/Schöll (2014, S. 9) lesen den Roman als eine Abwandlung des Genres der »AlternateHistory-Romane«, insofern nicht gefragt wird, »was passiert wäre, wenn die Makrogeschichte anders verlaufen wäre«, sondern »was geschieht, wenn durch winzige Zufälle die Mikrogeschichte des einzelnen Subjekts sich je anders gestaltet, es sich in je anderen zeithistorischen Machtverhältnissen behaupten muss.« 840 Insofern verfehlt eine Lektüre, die ausgehend von der Traumatheorie und vermeintlichen intertextuellen Bezügen auf W. G. Sebald und Primo Levi den Holocaust zum Referenzpunkt des Textes macht, den Kern des Romans. Vgl. Gisbertz 2018, S. 96–112. Ebenso wenig nachvollziehbar ist die Parallelisierung von Mauerfall und Holocaust (ebd., S. 110). 841 Menke 2016, S. 439. 842 Diese und weitere Passagen aus Aller Tage Abend übernimmt Erpenbeck in ihrem fiktiven »Grenz-Dialog« mit Christian Daniel Schubart in der 2013 gehaltenen Dankesrede zum gleichnamigen Literaturpreis. Vgl. Erpenbeck 2018, S. 144.

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Die von der Erzählinstanz sarkastisch vermittelte Kritik an der Art und Weise, wie sich der gesellschaftliche Umbruch vollzog, wird später vom Sohn der Frau noch einmal explizit gemacht und mit einer unterschiedlichen Zeiterfahrung in Verbindung gebracht. Während einer Wien-Reise reflektiert er eine Form von ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, denn während auf der einen Seite Zeit nicht zu vergehen scheint und die Stadt Wien Dauer und Kontinuität repräsentiert, findet auf der anderen Seite ein Gesellschaftsexperiment statt, wird eine neue Zeit erfunden und wieder rückgängig gemacht, fast ohne Spuren zu hinterlassen: Verging in Wien die Zeit tatsächlich so langsam? Oder gar nicht? Da war im Osten Deutschlands ein Staat gegründet worden, war vierzig Jahre lang Staat gewesen, war vierzig Jahre lang Alltag gewesen […], und irgendwann, nach einem ganzen Leben in diesem Leben, waren Alltag und Staat zugrundegegangen, verschwunden, in den Boden gestampft, von der Landkarte gewischt, zusammengekracht, vom Volk hinweggefegt – in Wien aber hat, wie es scheint, indessen einfach nur alles, was immer schon da war, überdauert. (ATA, 264)

Während Zeit im Roman bisher immer wieder zurückgedreht wurde, kommt diese der Fiktion zu verdankende Reversibilität nun an ihr Ende, es gibt kein weiteres Intermezzo, das neue Optionen bereithalten würde. So wird mit dem Ende des Romans ein ›Ende der Geschichte‹ angezeigt, welches sich auch in der Zeitwahrnehmung der gealterten Protagonistin ausdrückt. Der Zusammenbruch des Staates fällt mit dem physischen und psychischen Verfall der Protagonistin zusammen, der Mauerfall stellt die einstigen Lebensziele der alten Frau in Frage: »Jetzt weht ein anderer Wind, was bisher ein Leben hieß, heißt nun ein vierzig Jahre langes Warten, das sich endlich gelohnt hat, was ist ein Fünfjahrplan? Alles heißt jetzt anders, neue Ufer brechen über die Menschen herein […]« (ATA, 241f.) Die alte Frau Hoffmann, die im Roman erst jetzt einen Namen erhält, dem die Zukunft eingeschrieben schien wie »das Echo einer Hoffnung«843 – auch Lutz Seiler wählt den Namen als Ausdruck einer Utopie844 – leidet unter Altersdemenz. Sie nimmt Zeit nur noch als Zustand des Wartens und des Nichtvergehens wahr. Im Gegensatz zu ihrem früheren aktiven und nach vorn gerichteten Leben845 ist nun »die Zeit ein Brei aus Zeit, ist zäh, will nicht vergehen, muss totgeschlagen werden, verbracht, abgesessen werden, und zieht sich.« 843 Chiarloni 2018, S. 345. 844 Vgl. Kap. 1.3.2. 845 So heißt es im dritten Buch über ihr politisches Engagement: »[…] auch sie gehörte nun zu denen, in deren Leib und Seele die Gegenwart nach Jahrhunderten der Reglosigkeit endlich bei sich selbst angekommen war und vorwärts zu jagen begann, viel zu groß und viel zu schnell war diese Gegenwart für einen allein, aber gemeinsam würden sie sich halten können auf der Höhe der Zeit, und zwar in vollem Galopp.« (ATA, 159)

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(ATA, 261) Diese nunmehr unkonturierte Zeit charakterisiert metaphorisch auch die Zeitwahrnehmung einer Gegenwart, die sich als »breite Gegenwart« ausdehnt und keine eschatologischen Zukunftsversprechen mehr bietet. Sie symbolisiert, um noch einmal mit Hartmut Rosa zu sprechen, den Stillstand und das ›Ende der Geschichte‹ im Moment eines »Epochenumbruchs ohne korrespondierende Vision eines ›kulturellen Neustarts‹, mithin ohne eine neue sinnhafte Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«.846

3.2.4. Naturzeit und mythische Zeit In beiden Romanen Erpenbecks spielen natürliche Phänomene und die ihnen eigene Zeitlichkeit eine Rolle. Während die natürliche Zeit in Heimsuchung vor allem der Relativierung und Infragestellung von Geschichtszeit dient, erfolgt in Aller Tage Abend eine Parallelführung von natürlicher, biologischer und historischer Zeit, wobei der Topos der unvorhersehbaren Natur noch einmal das Prinzip der Kontingenz unterstreicht, dem die Protagonisten unterliegen. Im zweiten Buch von Aller Tage Abend interessiert sich der an der meteorologischen Anstalt Wien arbeitende Vater für Erdbebenphänomene und macht sich regelmäßig Notizen aus sogenannten »Aufzeichnungen über Erdbeben in der Steiermark« (ATA, 89). Die von ihm abgeschriebenen Passagen, die im Text kursiv gedruckt sind und in denen Erpenbeck zwei authentische Dokumente verarbeitet,847 sind für den Vater Ausgangspunkt von Überlegungen, die die Auswirkungen von Geschichte auf das Leben des Einzelnen reflektieren. Naturphänomene werden implizit mit geschichtlichen Vorgängen parallel geführt: weit über das Epizentrum hinaus werden die Folgen von Erdbeben wahrgenommen, so wie die Erschütterungen der ›großen‹ Geschichte bis in die entlegensten Gebiete des Habsburgerreiches zu spüren sind: Es ist eine bemerkenswerte Erscheinung der Erdbebenperiode, welche mit dem Laibacher Osterbeben des Jahres 1895 begann, dass unter den lange andauernden Nachbeben manche recht heftige Wirkungen erzielten, die zerstörend auftraten und ganz ähnliche Erscheinungen zeigten wie die Haupterschütterung selbst. (ATA, 85)848

Im Roman sind es die »Nachbeben« des Ersten Weltkriegs, die das Leben der Familie im Januar 1919 beeinflussen. So wie das Erdbeben »gewöhnliche 846 Rosa 2003, S. 41. 847 Die Autorin mischt zwei Quellen, die sie bis auf geringe Abweichungen wörtlich in den Text einfügt: den Bericht von R. Hoernes »Erdbeben in Steiermark während des Jahres 1897« sowie »Mittheilungen der Erdbeben-Commission der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien«. 848 Gleichzeitig Hoernes 1897, S. 19.

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Schweizeruhren« (ATA, 88) stillstehen lässt, steht die Zeit der Familie still: sie besteht nur noch aus nächtlichem Warten und Anstehen, um ein paar Lebensmittel zu besorgen (ATA, 86). So wie sich das Erdbeben auf die Landschaft auswirkt, hinterlässt die Geschichte Spuren im Körper der Menschen, der Vater versucht bei der Betrachtung seiner schlafenden Frau zu begreifen, »wie nämlich Vorgänge, Zustände oder Ereignisse, die allgemeiner Natur sind – zum Beispiel ein Krieg, oder lang andauernder Hunger […] – in ein beliebiges privates Gesicht hineinschlüpfen können.« (ATA, 88). Eben solche Vorgänge findet er in den Berichten über Erdbeben beschrieben: »Wie nämlich ein und dieselbe Ursache tausenderlei verschiedenen Wirkungen haben kann auf verschiedene Landstriche und Orte.« (ATA, 89) Natürliche, vom Menschen nicht beeinflussbare Phänomene haben eine nicht vorauszusehende Zeitlichkeit, so wie die Kontingenz der geschichtlichen Entwicklungen individuelle Leben erschüttert und aus der Bahn wirft. Im Roman wird das Bild der Natur noch in einem anderen Kontext verwendet und hat dabei zwei Funktionen: es steht einerseits als Verweis auf eine Zeitlosigkeit, die der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens und menschlicher Handlungen entgegensteht, andererseits aber auch als Vorverweis auf die kommende Gewalt. Im dritten Buch, in dem der Aufenthalt der Protagonistin im stalinistischen Moskau beschrieben wird, werden in den Text kurze Passagen eingebaut, die eine Steppe beschreiben: Während sie in die Gemeinschaftsküche hinübergeht, […] kommt, weit entfernt von ihr, auf einem Stück Steppe, 45.61404 Grad nördlicher Breite, 70.75195 Grad östlicher Länge, Wind auf. Der Wind fährt durch die Grasbüschel, die dort wachsen, er hat ein paar Sandkörner mitgebracht, die bleiben zwischen den Grashalmen hängen, ein paar andere Sandkörner […] trägt er mit sich fort. […] Ein Käfer, der aus dem Nirgendwo kommt und ins Nirgendwo unterwegs ist, vertreibt sich die Zeit, indem er an einem der Grashalme hinaufkriecht, und, oben angekommen, wieder umkehrt und nun mit dem Kopf nach unten seinen Weg fortsetzt. […] Jetzt, da der sechsbeinige Besucher die Erde wieder erreicht hat […], ist der Halm wieder aufrecht, zittert hin und wieder nur leicht in der ruhigen Luft, die man Windstille nennt. (ATA, 162f.)

Dem ruhigen Ablauf natürlicher, vom Menschen unabhängiger Vorgänge ist dennoch etwas Bedrohliches eingeschrieben, denn die Längen- und Breitengrade verweisen auf die kasachische Steppe, in der es bekanntermaßen mehrere Gulags gab.849 Eine weitere in den Text eingeflochtene Passage, die auf einen Gesprächsmitschnitt über die Verhaftung eines jungen Dichters folgt, beschreibt die Steppe diesmal als Ort, an dem »es nur drei Monate im Jahr keinen Frost [gibt]. Schon in wenigen Wochen wird das Gras die grüne Farbe, die es jetzt noch hat, 849 Darunter das Lager in Karaganda, in dem die deutsche Kommunistin Margarete BuberNeumann interniert war.

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verlieren, es wird braun werden […]. Bevor noch der erste Schnee fällt, werden winzige Eiskristalle die Halme überziehen […].« (ATA, 181) Hier ist die Natur bereits rauer, am Ende stirbt die Protagonistin im Winter 1941 im Gulag, nachdem sie im Sommer mit anderen Frauen ihr eigenes Grab schaufeln musste, den Ort, »der ihr zur Wohnung für den ewigen Winter bestimmt war.« (ATA, 192) Dabei »[fliegen] Gras, kleine Insekten und Staub […] umher« (ebd.), der natürliche Ablauf der Dinge folgt weiterhin seinem Rhythmus und ist dem Schicksal des Menschen gegenüber gleichgültig. Die Protagonistin hingegen gibt noch über den Tod hinaus und entgegen der eigenen Erfahrung die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht auf. In einer fantastische Züge tragenden Szene, in der die Seelen der Toten »etwa 250 Meter über dem Steppenboden« (ATA, 191) miteinander ins Gespräch kommen, heißt es: Vielleicht werden auch hier, mitten in der Wüste, einmal Blumen wachsen, Tulpen vielleicht sogar, vielleicht wird die Anwesenheit unzähliger Schmetterlinge eines Tages einmal ebenso wirklich sein, wie es jetzt die Abwesenheit jeglicher Schmetterlinge ist, bei Minus 63 Grad Celsius. Sie hat nun, wie die anderen Toten, alle Zeit der Welt, um auf andere Zeiten zu warten. (ebd.)

Natur wird hier zur Projektionsfläche von Utopien, ihre mögliche Umgestaltung durch den Eingriff des Menschen ruft noch einmal den eschatologischen Fortschrittoptimismus kommunistischer Weltveränderungsprojekte auf. Doch nicht nur die Protagonistin als Opfer stalinistischer Gewalt bleibt in der Zeitlosigkeit des imaginären Wartens gefangen, dem die Natur einen Raum gewährt. Der am Ende des Romans angezeigte Stillstand der Geschichte signalisiert auch das Ende der Utopien. In Heimsuchung ist die in das Leben der einzelnen Figuren einbrechende Geschichtszeit gleich zu Beginn in eine langfristige, natürliche Zeit eingebettet, die im Prolog und im Epilog den historischen Zeitgefügen gegenübergestellt wird. Der Prolog beschreibt die vor »vierundzwanzigtausend Jahren« (H, 9) einsetzenden geologischen Bewegungen, die das Grundstück formten. Zu Beginn des Romans werden also ganz andere Zeitdimensionen eingeführt als diejenigen, denen dann die Geschichte des Jahrhunderts unterliegt. Der schnellen Aufeinanderfolge der historischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts – Nationalsozialismus, Kriegsende, Teilung Deutschlands und DDR, Nachwendezeit – steht das langsame Wirken natürlicher Vorgänge gegenüber: »Dann wurde es nach und nach still und das Eis begann seine Arbeit, den Schlaf. Während es über Jahrtausende hinweg seinen riesigen kalten Körper nur zentimeterweise austreckte oder herumschob, schliff es die Felsbrocken unter sich allmählich rund.« (H, 9) Die geologische Zeitrechnung kennt nur »Jahr[e], Jahrzehnt[e], Jahrhundert[e]« (ebd.), in denen sich kleinste Veränderungen vollziehen, aus dem Eis wurde der See, an dem das Haus steht und »eines Tages würde er auch wieder vergehen […].

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Auch in der Sahara gab es einmal Wasser. Erst in der Neuzeit trat dort das ein, was man in der Wissenschaft als Desertifikation bezeichnet, zu deutsch Verwüstung.« (H, 10f.) Der Prolog verweist zudem auf das Konstruktionsprinzip des Romans selbst: das Modell der Schichtung entspricht den sich abwechselnden Haupt- und Zwischenkapiteln,850 die fehlende Chronologie wird ersetzt durch »Blasen oder Einsprengsel aus vergangenen Zeiten«, die sich »an dem Ort abgelagert haben«.851 Inga Probst zufolge »werden zeitliche Gesetzlichkeiten des Linearen und Sukzessiven strategisch ausgeschaltet und Geschichte als Geschichtetes sichtbar, das sich in ständiger Bewegung befindet […]«.852 Ähnliche Motive einer geologischen Tiefendimension mit temporaler Bedeutung und dem Gedanken der Geschichte als Schichtung hat auch Lutz Seiler in seinem Roman Kruso benutzt.853 Der Rückgriff auf eine natürliche, geologische Zeitlichkeit relativiert das Zeitmaß menschlichen Handelns, andererseits verweist die Vorläufigkeit der natürlichen Vorgänge, der Hinweis auf eine kommende Verwüstung, metaphorisch auch auf die im Roman dargestellten geschichtlichen Ereignisse sowie auf den Abriss des Hauses. Insofern kann Monika Shafi zufolge das im Prolog als riesiger, unangreifbarer und Kraft suggerierender Körper beschriebene Eis als Parallele zu den im Roman beschriebenen politischen Systemen gelesen werden, die für die Ewigkeit gedacht waren und schließlich doch zusammenbrachen.854 Im Epilog schließlich wird der Abriss des Hauses in all seinen technischen Einzelheiten beschrieben855 und auf die Rückkehr der Natur verwiesen, die zumindest vorläufig die Oberhand gewinnt: »Bevor auf demselben Platz ein anderes Haus gebaut werden wird, gleicht die Landschaft für einen kurzen Moment wieder sich selbst.« (H, 189) Der zyklische Gestus einer Rückkehr der Natur, die wieder an die Stelle der Zivilisation tritt, sowie das eingangs benutzte Bild der Desertifikation unterstreichen insgesamt den Gedanken vom Ende linearer, geschichtlicher Prozesse, die bisher die Entwicklung der Menschheit vorangetrieben haben. Insofern unterscheidet sich auch Erpenbecks zivilisationskritischer Ansatz von den in der späten DDR-Literatur entworfenen Szenarien, da auch hier kein Platz für Utopien mehr zu finden ist.856 Auch die Figur des Gärtners, des Protagonisten der Zwischenkapitel des Romans, stellt der Abfolge unterschiedlicher historischer Ereignisse Stillstand und Zeitlosigkeit entgegen. Anders als die sich ablösenden Bewohner des Grund850 851 852 853 854 855

Vgl. Stobbe 2016, S. 95. Ebd., S. 97f. Probst 2010, S. 73. Ähnlich auch Schöll 2014, S. 41f. Vgl. dazu Kap. 1.2.2. dieser Arbeit. Vgl. Shafi 2012, S. 32. Vgl. auch Jenny Erpenbecks thematisch ähnlichen Text »Häuser« (Erpenbeck 2011, S. 57– 59). 856 Vgl. dazu die Bemerkungen zu Julia Schoch im Kapitel 2.2.3., S. 161f.

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stücks und des Hauses ist der Gärtner »immer schon da«, niemand weiß, »[w]oher er gekommen ist«, er »wohnt […] schon immer« in einer »verlassenen Jagdhütte am Rande des Waldes«, wird »nur Der Gärtner genannt, als hätte er sonst keinen Namen.« (H, 13) Über die Jahreszeiten hinweg hilft er den Bauern und Dorfleuten bei der Verrichtung ihrer Tätigkeiten, wobei er sich in allem auskennt, auch wenn er etwas zum ersten Mal unternimmt. Der Gärtner besitzt scheinbar ein ewiges Wissen, arbeitet »ohne je zu ermüden« (H, 28), was ihm irreale und mythische Züge verleiht. Die in den Hauptkapiteln dargestellten Biographien werden so durch ein weitreichendes, mythologisches Raum-ZeitGefüge gerahmt, das Begriffe wie Zugehörigkeit und Besitz relativiert.857 Seine Arbeit folgt dem zyklischen Rhythmus der Natur, egal, für welchen Besitzer er arbeitet,858 seine Tätigkeiten ähneln sich Jahr für Jahr. Dass die Zeit voranschreitet, bemerkt man höchstens, wenn neue Technik hinzukommt, das Gießen der Wiese nunmehr mit dem »Rasensprenger« (H, 33) erfolgt. Dieses »Gleichmaß der gärtnerischen Tätigkeit« steht den »großen Ausschläge[n] auf der Handlungsebene«859 entgegen, die Ewigkeit der Natur suggeriert eine Zeitlosigkeit und Gleichförmigkeit, die im Gegensatz zu den wechselhaften menschlichen Schicksalen von historischen Ereignissen nicht beeinflusst wird.860 Neben dieser zyklischen Wiederholungsstruktur natürlicher Vorgänge fungiert der Gärtner auch als Verbindungsglied zu den im Prolog beschriebenen überzeitlichen geologischen Prozessen und hält durch das wiederholte Graben im Boden »Spuren der vor- bzw. nicht-menschlichen Geschichte präsent«.861 Nachdem der immer schon da gewesene, offenbar kaum alternde Gärtner jahrelang die gleichen Arbeiten verrichtet hat, beginnt in den 1960er Jahren, als er für das Schriftstellerehepaar arbeitet, ein langsamer Verfallsprozess, der sowohl den Gärtner als auch Garten und Haus betrifft. Der Gärtner bricht sich ein Bein und »geht seither nur noch langsam über das Grundstück« (H, 125), ein großer Walnussbaum muss gefällt werden, während der Krankheit des Gärtners werden 857 Shafi 2012, S. 30. 858 In kritischer Perspektive kann die Figur des Gärtners auch als »Jasager«, »Bystander« und »Mitläufer« interpretiert werden, »der sich an jede neue Situation anpasst, sie stabilisiert, der aber zugleich auch seiner anderen mythischen Ordnung, die in ihrer Gleichförmigkeit und in ihrem anderen Wissen den wechselnden Regimen widerspricht, treu bleibt.« Schubert 2016, S. 99. 859 Stobbe 2016, S. 96. 860 Eine Ausnahme bildet die Zerstörung des Gartens durch die das Haus besetzenden sowjetischen Soldaten, die »den Garten zur Pferdekoppel umfunktioniert hatten« (H, 71), sodass der Architekt »damals sogar den Gärtner hat weinen sehen.« (H, 72) Dies wird jedoch nur aus der Perspektive der Frau des Architekten erinnert; im entsprechenden Zwischenkapitel erfährt man nur, wie der Gärtner wie gehabt seine Arbeit fortsetzt: »Nachdem die Russen abgezogen sind, beschneidet der Gärtner die Sträucher und Büsche, damit sie vielleicht ein zweites Mal treiben.« (H, 107). 861 Stobbe 2016, S. 98.

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alle Obstbäume von Pilz befallen. Später zieht er in das Gästezimmer des Hauses, das nach und nach von Schwamm und Schimmelpilz befallen wird. Der ursprünglich Natur und natürliche Zeitrhythmen repräsentierende Gärtner wird kulturalisiert,862 bevor die Natur wieder ihre Rechte über das Haus beansprucht und er selbst eines Tages so plötzlich verschwindet, wie er gekommen war. Als das Haus nach dem Mauerfall für die kommenden Investoren geräumt wird, wurde der Gärtner »nicht wieder gesehen« (H, 171). Zuletzt sieht man seine Spuren im Schnee (H, 170), so wie es vor langer Zeit bei Klara der Fall war (H, 25). Ein Kreis schließt sich, ein Zyklus – der des Hauses und seiner Bewohner – geht zu Ende: im Epilog bleibt die unbebaute Landschaft, Klaras Grundstück. Der Gärtner repräsentiert insofern bis zum Ende die zyklische Zeit der Natur,863 die einer dem Haus inhärenten linearen Geschichtszeit entgegensteht. Gleichzeitig kann man sich jedoch fragen, warum der Gärtner ausgerechnet vor dem Hintergrund der erzählten Zeit der DDR erkrankt und nach dem Fall der Mauer aus dem Text verschwindet. Wie in anderen modernen Gesellschaften ersetzte in der DDR eine zunehmende Rationalisierung traditionelle Formen der Arbeit; die auf unbedingten Fortschrittsoptimismus zielende Ideologie und der von ihr verbreitete Topos der Neuerung ließen für das ›Alte‹ keinen Platz. Insofern könnte der Niedergang des Gärtners diesen Prozess der Verdrängung symbolisieren, Natur und natürliche Zeit sind nunmehr nicht mehr unabhängig, sondern unterliegen dem Einfluss des Menschen. Ähnliches suggerierte die Vision der im stalinistischen Gulag gestorbenen Protagonistin in Aller Tage Abend. Gleichzeitig signalisiert der Text durch den zunehmenden Verfall des Grundstücks und des Hauses, dass ein solcher Fortschrittsglaube eine Illusion ist. Für das völlige Verschwinden des Gärtners nach dem Ende der DDR schlägt Katja Schubert eine Lektüre vor, die nach dem »Platz des mythischen Erzählens nach 1989« fragt: Wenn nun der Gärtner als Figur eines solchen mythischen Repertoires den Text mit strukturiert, aber in der erzählten Zeit nach 1989 verschwindet, hieße das, dass nach 1989 die kollektiven Deutungsmuster in der Welterklärung nicht mehr möglich sind, dass die »Auflösung« post-Mauerfall nicht mehr wirklich zu bewältigen ist, weil eben die gesamte Richtung, und damit auch das Funktionieren mythischer Welterklärung mitsamt ihrer Sprache und ihrem »Bewältigungswerkzeug« im Zeitalter der Globalisierung abhandengekommen sind?864

862 Ebd., S. 101. 863 Goodbody (2015) assoziiert den Gärtner mit der mittelalterlichen Figur des »grünen Mannes« und interpretiert sein Verschwinden als »Sieg von Eigennutz, Hektik und Entfremdung von der Natur«. 864 Schubert 2016, S. 100.

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Es scheint, als laufe auch dieser Roman auf das ›Ende der Geschichte‹ hinaus, die weder Bewegung noch Orientierungsangebote mehr bereitstellt. Ähnlich wie Julia Schoch greift Jenny Erpenbeck in ihrem Roman auf Bilder der kommenden Verwüstung durch Naturprozesse zurück, ebenso auf das Bild des Abrisses der von Menschenhand errichteten Bauwerke. Doch während Schoch im Wesentlichen die Rücknahme jeglicher Zukunft nach dem Zusammenbruch des Sozialismus darstellt und am Ende von Mit der Geschwindigkeit des Sommers den Hoffnungsschimmer einer gänzlich leeren, neu zu gestaltenden Zeit bestehen lässt, erscheint bei Erpenbeck der Abriss des Hauses lediglich als Etappe einer sich wiederholenden und im Leerlauf befindenden Geschichte, welcher der (durch den Gärtner symbolisierte) ›Mythos‹ auch in seiner ursprünglichen Bedeutung als sinngebende ›Erzählung‹ abhandengekommen ist.

3.2.5. Zeit der Erinnerung Heimsuchung und Aller Tage Abend sind Romane, die vergangene Geschichte wieder präsent machen und die Erinnerung an unterschiedliche Schicksale des 20. Jahrhunderts in die Gegenwart einschreiben. Einerseits bewahren sie dadurch das kollektive Gedächtnis, problematisieren aber auch individuelle Erinnerung und Fragen der transgenerationellen Weitergabe von Geschichte und deren Relevanz für die Gegenwart. Kollektives Gedächtnis Obwohl in beiden Romanen ganz unterschiedliche Epochen der Geschichte thematisiert werden, kreisen sie vor allem um zwei Perioden: den Nationalsozialismus in Heimsuchung und den Stalinismus in Aller Tage Abend. Beide Texte greifen auf konkretes historisches Material zurück, wobei vor allem der Roman Heimsuchung selbst auch als Teil der Aufarbeitung der Opfergeschichte angesehen werden kann. Heimsuchung wurde als »ein Roman der Nachgeschichte des Faschismus, ein Trauerbuch, ein Buch des Totengedenkens«865 gelesen, der »auf das Heimholen, die Reterritorialisierung historischer Gewalttaten in das Gedächtnis der Gegenwart« ziele.866 Eine besondere Rolle spielen dabei das dritte Hauptkapitel über den Tuchfabrikanten und dessen Familie, sowie das fünfte Hauptkapitel, in dessen Mittelpunkt das »Mädchen« Doris steht. Beide Kapitel beruhen auf historischen Nachforschungen der Autorin. Bei Recherchen über die Geschichte des Hauses ihrer Großeltern stieß Jenny Erpenbeck zufällig auf den 865 Meyer 2012, S. 326. 866 Ebd., S. 327.

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jüdischen Vorbesitzer des einen Teils des Grundstücks, den Gubener Tuchfabrikanten Heinz Engel.867 Sie fand Überlebende der Familie und bekam so Zugang zu Fotos und Briefen der Enkelin Doris, die im Familienarchiv hinterlegt waren: 65 Jahre später fand ich in diesen Briefen ein Mädchen, wie ich es hätte gewesen sein können, und mir wurde klar, dass Doris, die zwei Jahre in eine Berliner Schule ging und auf dem Grundstück ihres Onkels, bevor es verkauft werden musste, womöglich Wochenenden und Ferien verbracht hat, mit ähnlichen Erinnerungen, wie ich sie im Kopf habe, in den Tod gegangen sein mag.868

Erpenbeck dokumentiert in einem erst nach der Veröffentlichung des Romans erschienenen Paratext, »Über das 5. Kapitel des Romans Heimsuchung«,869 ihre eigenen Recherchen, um den Lebensweg des Mädchens Doris bis zu ihrem Tod nachzuvollziehen. Doch ist bereits der Roman dem Mädchen Doris Kaplan gewidmet, in der Danksagung finden sich Hinweise auf die Nachforschungen der Autorin. Durch diese Recherchen und die daraus entstehenden Kapitel des Romans bewahrt Erpenbeck literarisch die Erinnerung an die Familie und an Doris, die sie im Roman in ihrem Versteck Folgendes denken lässt: »Jetzt wird ihr klar, was sie die ganze Zeit nicht bedacht hat: Wenn niemand mehr weiß, daß sie da ist, wenn sie nicht mehr da ist, wer weiß dann von der Welt?« (H, 89) Dank der Autorin weiß der Leser nun von Doris’ kindlicher und glücklicher Welt auf dem Grundstück, aus der sie brutal herausgerissen wurde, und von einer Welt, die den Holocaust möglich machte – die Autorin dokumentiert im Roman und in ihrem Recherche-Text ebenfalls das Verhalten der ›normalen‹ Deutschen, die aus dem Schicksal ihrer jüdischen Mitbürger Profit schlugen. Doch nicht nur dem Leser ist nun das Schicksal der Familie und des Mädchens präsent, der Text »schreibt die Familie […] auf einer abstrakteren Ebene auch ins kulturelle Funktionsgedächtnis ein.«870 Das fünfte Kapitel des Romans endet mit dem Tod des Mädchens und ihrem zurückgenommenen Leben: Drei Jahre lang hat das Mädchen Klavierspielen gelernt, aber jetzt, während sein toter Körper in die Grube hinunterrutscht, wird das Wort Klavier von den Menschen zurückgenommen, jetzt wird der Rückwärtsüberschlag am Reck, den das Mädchen besser beherrschte als seine Schulkameradinnen, zurückgenommen […], all das wird ins Unerfundene zurückgenommen, und schließlich, ganz zuletzt, auch der Name des Mädchens selbst, bei dem niemals mehr jemand es rufen wird: Doris. (H, 92)

867 ›Über das 5. Kapitel des Romans Heimsuchung‹, in: Catani/Marx 2015, S. 13. 868 Ebd., S. 13f. 869 Der 2015 veröffentlichte Text beruht auf einem im Wintersemester 2012/2013 gehaltenen Vortrag an der Universität Bamberg. 870 Biendarra 2014, S. 136.

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Und dennoch bleibt dieser Name am Ende lebendig, wird an den Leser weitergegeben, damit er gegenwärtig bleibt – darin Paul Celans Evokation des Namens Sulamith am Ende des Gedichts »Todesfuge« nicht unähnlich, dessen Nachhall eindringlich in der Erinnerung bleibt. Scheitern eines intergenerationellen Gedächtnisses Während in Heimsuchung historische Fakten verarbeitet werden und somit individuelle Schicksale in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben werden, thematisiert Aller Tage Abend stärker die (Un-)Möglichkeiten transgenerationeller Weitergabe von Geschichte. Auch in diesem Roman werden zentrale historische Ereignisse verarbeitet, einerseits die Verfolgung der Juden und der Holocaust, andererseits der Stalinismus in der Sowjetunion der 1930/1940er Jahre. Dabei liegt der Fokus des Romans stärker auf dem zweiten Aspekt, dem »Erstehen und Nachleben des Kommunismus« als der »zweiten Großerzählung des zwanzigsten Jahrhunderts«.871 Im Zentrum allerdings steht das familiäre Verschweigen von Geschichte. Es beginnt im ersten Buch mit der Schlüsselszene des Pogroms im galizischen Brody, wird im zweiten Buch weitergegeben, wo die Distanzierung der Protagonistin gegenüber dem Judentum auch ihre Töchter von der Familiengeschichte abkoppelt. Im dritten Buch ist es die erwachsene Tochter, die der Mutter verschweigt, dass ihr Mann in Moskau verhaftet wurde, »denn für jemanden, der die Wahrheit nicht kennt, macht es ja keinen Unterschied, ob einer verhaftet ist oder nur sehr weit entfernt.« (ATA, 173) Im Intermezzo, das den Tod der Frau im Gulag zurücknimmt und sie nach Kriegsende nach Berlin reisen lässt, heißt es: »Auf Einladung der Genossen, von ihr aus auch nach Berlin, ja, warum nicht, ihr Brief an die Mutter schon lange mit dem Stempel Evakuiert nach dem Osten an sie zurück, in Wien also keine Familie mehr, wahrscheinlich nirgendwo mehr.« (ATA, 206) Diesen Brief, der ihr die Deportation und Ermordung der Mutter attestiert, wird die Schriftstellerin im vierten Buch jahrelang im Wäscheschrank verbergen, doch während sie die Treppe hinunterstürzt, denkt sie auch daran: »Jetzt wird der Sohn diesen Brief irgendwann finden. Jetzt hat sie keine Geheimnisse mehr. Jetzt kann sie den Sohn nicht mehr schützen. Und auch sich nicht.« (ATA, 214) Dieses Verschweigen, das unbewusst von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, führt dann im fünften Buch dazu, dass der erwachsene Sohn die Geschichte seiner Familie vollständig ignoriert und ihm auch seine Wienreise keine weiteren Erkenntnisse bringt:

871 Ebd., S. 141.

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Wien ist, was den Mann angeht, von Geschichten ganz und gar reingewaschen, und es hat nicht einmal ein Menschenleben gedauert, bis ihn, den Nachfahren einer Wienerin, diese Stadt nichts mehr angeht. Nicht einmal ein Menschenleben, bis Herkunft und Heimat zweierlei sind. […] in seinem Inneren trägt er als großes schwarzes Land all die Geschichten, die seine Mutter ihm nicht erzählt oder verschwiegen hat, mit sich herum […]. (ATA, 267)

Da der Sohn nicht weiß, »welche Fragen er stellen müsste« (ebd.), wird er auch nichts über die Deportation seiner Urgroßmutter, Großmutter und Tante erfahren. In einem Antiquariat sucht er nach einem Geschenk für seine alte Mutter und weiß nicht, dass die Gegenstände, die er dort findet, darunter eine Standuhr und eine vollständige Goethe-Ausgabe, einst der Familie gehörten, nur die auktoriale Erzählinstanz berichtet davon, wie diese Gegenstände von Großmutter und Urgroßmutter vor der Deportation zurückgelassen werden mussten. Genealogische Verbindungen werden immer wieder gekappt. Die Objekte, die normalerweise eine Weitergabe von Familiengeschichte garantieren,872 werden nicht als Familienobjekte erkannt.873 Dabei verweist die Standuhr symbolisch auf die unterbrochene Lebenszeit eines Teils der Familie, denn als die Großmutter die Uhr von ihrer eigenen, bereits deportierten Mutter bekommt, sieht sie, dass »in der gespannten Feder […] noch das Leben ihrer Mutter steckt […], […], und schaut zu, wie die Zeit, die jetzt für immer zu spät ist, vergeht.« (ATA, 271) Die Goethe-Ausgabe wiederum, die einmal der Urgroßmutter gehörte, versammelt ebenfalls die Familiengeschichte von ihren Anfängen an, denn bei dem im ersten Buch des Romans beschriebenen Pogrom in Brody wird der 9. Band dieser Ausgabe von einem durch die Fensterscheibe geworfenen Stein getroffen (ATA, 19). Fast einhundert Jahre später bemerkt der Mann im Antiquariat in Wien, dass der Band »am Rücken leicht abgeschabt ist« (ATA, 268), doch interpretieren kann er dieses Zeichen nicht.874 Kurz vor ihrem Tod bemerkt die 90jährige Protagonistin im Gespräch mit ihrem Sohn, dass sie Angst hat, »dass alles verlorengeht – dass die Spur verlorengeht. Welche Spur, fragt der Sohn.« (ATA, 278) Die Spuren der eigenen Familiengeschichte, der vergangenen Zeit, aber auch des Engagements der Mutter875 bleiben für ihn unsichtbar; er sei »ohne Nachlass, ohne Identität und ohne Fragen«, so Anna Chiarloni, »der unwissende Sohn seiner Geschichte« und »Waise der Erinnerung«.876 872 Und in diesem Sinne im Werk Lutz Seilers auch eine wichtige »Portalfunktion« als Zugang zur Geschichte einnehmen. Vgl. dazu Kap. 1.1.1. dieser Arbeit. 873 Vgl. dazu Vedder 2014, S. 61. 874 Thyen (2018, S. 148) interpretiert dieses Nichtwissen und Nichterkennen auch als Form der »Postmemory«, die hier nur aus Schweigen und Leerstellen besteht, die aber ins Unbewusste der nachfolgenden Generationen übertragen werden. 875 So heißt es im vierten Buch: »Hat ihr Sohn ihr überhaupt zugehört, wenn sie ihm von all dem Neuen, was sie hier versuchten, erzählte?« (ATA, 223) 876 Chiarloni 2018, S. 347, 346.

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Bereits für Heimsuchung wurde angemerkt, dass der Roman den üblichen Modellen der seit den 2000er Jahren florierenden Familien- und Generationenromanen nicht entspricht, da er durch die Geschichte eines Hauses, das niemandem zur Heimat wird, sowie durch seine Struktur vornehmlich Brüche der Geschichte und Brüche in der transgenerationellen Weitergabe thematisiert. Gleiches gilt für Aller Tage Abend, wo dies noch expliziter dargestellt wird. Nicht nur die lineare Geschichtszeit wird durch die ständigen fiktionalen Neuansätze immer wieder unterbrochen, sondern auch die Zeit der Erinnerung, da sich die Figuren immer nur selbst ihrer Vergangenheit bewusst sind, ohne diese Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Schreiben als Fortsetzung und Korrektur des Familiengedächtnisses Diesem Befund auf der Ebene der fiktionalen Welt stellt Jenny Erpenbeck auf produktionsästhetischer Ebene allerdings etwas ganz Anderes gegenüber, denn dort funktioniert das Familiengedächtnis. Zahlreiche Aspekte der beiden Romane haben ihren Ursprung in der Familiengeschichte der Autorin, welche für ihre Texte immer wieder auf das verschriftlichte Material dieser Geschichte in Form der Erinnerungen und der fiktionalen Werke ihrer Großmutter, der Schriftstellerin Hedda Zinner, zurückgreift. In Heimsuchung geht es wie bereits erwähnt um die Geschichte des Hauses, das Erpenbecks Großeltern seit den 1950er Jahren in Diensdorf am Scharmützelsee pachteten. In Hedda Zinners Erinnerungen heißt es zu diesem Ort: Diensdorf wurde für Fritz und mich nach Jahren ständiger Veränderungen, der Emigration und des Wohnungswechsels zu einer Art Refugium. Wir arbeiteten niemals so gut wie dort, etliche unserer Bücher sind dort entstanden […]. Auch Jonny, später seine Frau und seine kleine Tochter, liebten und lieben Diensdorf.877

Die später selbst schreibende Enkelin wird hier bereits als eng mit dem Ort verbunden dargestellt. Die Großmutter wird in Heimsuchung durch die Figur der Schriftstellerin, die ihre Erinnerungen niederschreibt, fiktionalisiert: »Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland hatte all ihre Leidenschaft dem Versuch gegolten, durch die Buchstaben hindurch ihre Erinnerungen in die Erinnerungen anderer zu verwandeln, ihr Leben auf dem Papier wie auf einer Fähre in andere Leben überzusetzen.« (H, 124). Die Weitergabe der eigenen Erfahrungen war auch ein Vorhaben der Schriftstellerin Hedda Zinner. Die in der DDR veröffentlichten Erinnerungen Auf dem roten Teppich (1978/1986) und Selbstbefragung (1989), wo es vor allem um das sowjetische Exil geht, sind an manchen Stellen erstaunlich 877 Zinner 1986, S. 237. Im Buch befindet sich auch ein Foto des Hauses aus dem Jahre 1965, untertitelt mit »Unser kleines Paradies« (ebd., S. 479).

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offen, zeugen aber auch immer wieder von einer bedingungslosen Loyalität gegenüber dem DDR-Regime.878 Jenny Erpenbeck schöpft für ihre Romane aus dem Fundus der erzählten Erlebnisse und Anekdoten; die Memoiren der Großmutter, aber auch deren fiktionales Werk, sind ein wichtiger Intertext ihrer eigenen Arbeit,879 in Aller Tage Abend sogar der wesentliche Hypotext.880 Die Enkelin lenkt jedoch verstärkt das Augenmerk auf die verschwiegenen und nichterzählten Teile dieser Biographie, der Familiengeschichte gegenüber legt sie ein ganz anderes Verhalten an den Tag als der fiktionale Sohn in Aller Tage Abend. So lässt sie die fiktionale Schriftstellerin in Heimsuchung über die willentlichen Auslassungen in ihren Erinnerungen reflektieren: Mit den Buchstaben hat sie manches an die Oberfläche geholt, was ihr bewahrenswert schien, anderes in die Versunkenheit zurückgestoßen, was wehtat. Jetzt weiß sie nicht mehr, ob die Auswahl selbst schon der Fehler war, denn das, was sie ihr ganzes Leben lang vor ihrem inneren Auge hatte, sollte doch eine ganze Welt sein, keine halbe. (H, 124)

Diese »halbe Welt« und halbe Wahrheit betrifft vor allem die Zeit des Stalinismus. So heißt es in Heimsuchung an anderer Stelle: Manches, woran sie sich erinnert, schreibt sie nicht. Sie schreibt nicht, daß sie Nein sagte, als nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion eine deutsche Genossin, deren Mann eben verhaftet worden war, mit ihrem kleinen Kind zu ihr kam und um ein Versteck bat. Nein sagte, weil ihre eigene Aufenthaltsgenehmigung schon abgelaufen war […]. (H, 118)

Verschwiegen wird auch der latent kursierende Antisemitismus: »Sie schreibt nicht, daß sie dann doch, nachdem in der folgenden Zeit einige als Juden bekannte Genossen verschwunden waren, begann, ihre kupferroten Haare zu färben, für die sie schon in ihrer deutschen Kindheit als Jüdin gehänselt worden war.« (H, 119) Elemente dieser offenbar verschwiegenen Geschichte tauchen

878 Zu den Gründen dieser Loyalität und des Schweigens über bestimmte Aspekte der Geschichte vgl. Combe 2019. 879 Dieser Aspekt kann hier nur an wenigen Beispielen aufgezeigt werden: »I-c-h k-e-h-r-e h-e-i-m« ist ein Satz aus den Memoiren der Schriftstellerin, der in Heimsuchung immer wieder beschworen wird (H, 113, 115,118, 120, 122). Hedda Zinner informiert so ihre Freunde und Bekannten in Moskau über ihre Rückkehr nach Deutschland (»Ich kehre heim«, Zinner 1986, 10). Zinner gibt auch die Begegnung mit einem sowjetischen Soldaten wieder, der sie fragt: »Sie hatten doch alles, diese Deutschen, […], kannst du mir sagen, warum sie uns überfallen haben?« (ebd, 32). In Heimsuchung heißt es: »Je mehr deutsche Häuser sie betraten, desto schmerzhafter stellte sich ihnen die Frage, warum die Deutschen nicht hatten dort bleiben können, wo ihnen zum Bleiben nichts, aber auch wirklich nicht das Allergeringste fehlte.« (H, 95) Zinner berichtet, dass geflohene Nazis ihr Silber im Garten vergruben (Zinner 1986, 42), dies ist auch in Heimsuchung ein wiederkehrendes Motiv. 880 Und nicht W. G. Sebald, wie Gisbertz (2018, S. 99) vermutet.

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Vom »Umkippen der Zeit«

auch im Roman Aller Tage Abend noch einmal auf. So die verwehrte Hilfeleistung für die Frau eines verhafteten Schauspielers und deren Sohn (ATA, 184f.) Diese fiktionalen Begebenheiten beruhen auf realen Ereignissen und finden sich auch in den Memoiren Hedda Zinners, werden dort also nicht einmal verschwiegen. Die 1989 kurz vor dem Zusammenbruch der DDR erschienenen Erinnerungen in Selbstbefragung lesen sich wie der vorsichtige Beginn einer Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, im Vorwort ist die Rede von »Illusionen und Lebenslügen«,881 selbstkritisch erwähnt Zinner den damals nicht verstandenen Personenkult, und dennoch wird die allgemeine Entwicklung der Geschichte niemals in Frage gestellt, die Errungenschaften des Sozialismus immer wieder hervorgehoben. Zinner erwähnt in ihrem Buch durchaus einige Aspekte des Stalinismus, die Angst vor willkürlichen Verhaftungen, vor abgelaufenen Pässen, das eigene menschliche Versagen angesichts der Not anderer. Hinter der in Heimsuchung und Aller Tage Abend erwähnten Episode der mit ihrem Kind Schutz suchenden Genossin steht die Frau des Schauspielers Julius Unruh, die Zinner darum bittet, sie und ihre zweijährige Tochter für eine Nacht aufzunehmen, was die Autorin ablehnte: »Der verzweifelte, hilflose Blick der Frau verfolgte mich. Ich hatte mich unmenschlich benommen. Meine Versuche, mich vor mir selbst zu rechtfertigen, scheiterten. […] Allein das alles täuschte mich nicht darüber hinweg, daß ich einen verzweifelten Menschen, daß ich ein kleines Kind im Stich gelassen hatte…«.882 Obwohl Zinner in ihren Memoiren einige selbstkritische Reflexionen unternimmt und die eigene Blindheit dem Stalinismus gegenüber unterstreicht, wird sie auch 1989 noch nicht das wahre Ausmaß der Verbrechen schildern. Wenn sie darüber berichtet, dass sie regelmäßig Gedichte jüdischer Dichter aus dem Jiddischen übersetzte, heißt es plötzlich lakonisch: »Ich übersetzte in der Folgezeit viele Gedichte von Kwitko und von anderen jüdischen Dichtern. Echten Dichtern, großen Dichtern. Echten Sowjetbürgern. Zu denken, daß sie ermordet wurden, ist schwer zu ertragen.«883 Wie und durch wen sie ermordet wurden, erfährt der Leser nicht, man könnte angesichts der erinnerten Zeit zunächst an eine Ermordung durch die Nationalsozialisten denken. Dass Leib Kwitko, einer der wichtigsten jiddischen Dichter, gemeinsam mit anderen jüdischen Persönlichkeiten erst 1952 im Zuge stalinistischer Säuberungen in Moskau starb, wird verschwiegen.884 In ihrem Roman Aller Tage Abend wird Jenny Erpenbeck dieses grundlegende Verschweigen der stalinistischen Verbrechen umkehren und im zentralen dritten 881 882 883 884

Zinner 1989, S. 5. Ebd., S. 106. Ebd., S. 50. An anderer Stelle heißt es über den jüdischen Dichter David Hofstein, der in derselben Nacht wie Kwitko erschossen wurde, lakonisch: »Auch er ist nicht mehr.« Ebd., S. 81.

Verstrickung von Lebens- und Geschichtszeit

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Buch die perversen Mechanismen der damaligen Zeit aufdecken, ebenso wie die Existenz der Gulags, die bei Hedda Zinner ausgespart wird. Unter Rückgriff auf zahlreiche Anekdoten, die in Selbstbefragung erzählt werden, füllt sie die Lücken des Nichterzählten durch eine eigene Auseinandersetzung mit der Geschichte des Stalinismus. Auch die Thematisierung des Judentums und der Verfolgungsgeschichte der Familie als jüdische Opfer kann im Roman als Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte gelesen werden, da sich die Großmutter Hedda Zinner in ihren Erinnerungen eher vom Judentum distanziert.885 Im Gegensatz zur Figur des Sohns in ihrem Roman, der keinerlei Verbindung mehr zur Vergangenheit der Familie hat, nimmt sie die existierenden Spuren auf und hinterfragt sie, gleichzeitig aktualisiert sie dadurch einen DDR-spezifischen literarischen Kanon.886

3.2.6. Fazit: Abschied von der Utopie In Erpenbecks Romanen wird die vergangene Zeit als Erinnerung an die Familiengeschichte aktiviert, wobei die literarische Gestaltung dieser Geschichte durch die Großmutter Hedda Zinner eine wesentliche Quelle ist. Gleichzeitig wird die transgenerationelle Weitergabe von Lebensgeschichte in einer kritischen Perspektive behandelt und angesichts der eigenen Erfahrung mit Geschichte aktualisiert. Den zukunftsgewissen und fortschrittsorientierten Zeitmodellen der älteren Generation werden die historischen Brüche entgegengesetzt, die diese Generation ignorierte. Das Scheitern des neuen, sozialistischen Gesellschaftsprojekts, des nie hinterfragen Lebensziels der Großeltern- und Elterngeneration, steht am Ende von Heimsuchung und Aller Tage Abend. Beide Romane reflektieren die diesem Projekt inhärenten Fehlentwicklungen, schließen aber auch mit Bildern der Trauer. In Heimsuchung ist es die Trauer über den Verlust eines Teils der eigenen Geschichte, die die »unberechtigte Eigenbesitzerin« im letzten Hauptkapitel das nun leerstehende und dem Verfall preisgegebene Haus noch einmal begehen und reinigen lässt. Einen alten Eimer füllt sie »mit dem Staub, dem Schutt«, der 885 So äußert sich Zinner reserviert über das Jiddische als Sprache und Kultur und betont, als Kommunistin emigriert zu sein, während Jenny Erpenbeck in Aller Tage Abend gerade das Jiddische und dessen Kultur aufwertet. 886 Auch Hedda Zinners fiktionale Familiengeschichte, die Romantrilogie Ahnen und Erben, wurde in Erpenbecks Roman verarbeitet. So beruhen Elemente des zweiten Buchs, die Herkunft der Familie aus Galizien, die Versetzung des Vaters nach Wien, auf Zinners Regina (1968), das Verhältnis der Schwestern und der Selbstmord der »Großen« auf Die Schwestern (1970), schließlich die im dritten Buch erzählte Politisierung der Protagonistin auf Fini (1973).

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Vom »Umkippen der Zeit«

überall herumliegt – auch hier erscheint Geschichte noch einmal als etwas Abjektes –, kippt den Inhalt in die Büsche und geht »mit dem leeren Eimer in der Hand« (H, 178) zum See Wasser holen. Die Spuren der Vergangenheit werden beseitigt, wie in Geschichte vom alten Kind repräsentiert der »leere Eimer« diesen Verlust der eigenen Geschichte und Herkunft. Durch das Säubern vollzieht die Frau, die Enkelin der Schriftstellerin, einen rituellen Abschied vom Haus, »[d]as Fegen galt bei den Azteken als heilige Handlung« (H, 185), heißt es, gleichzeitig denkt sie an den Tod ihrer Großmutter, an deren Bestattung, sieht im Traum »die festlich aufgebahrte Tote vor sich […], seltsamerweise mit einem indianischen Gesicht.« (ebd.) Die Trauerrituale nach dem Verlust der Großmutter überlagern sich mit dem schmerzlichen Abschied vom Haus, rufen auch noch einmal die bereits am Ende des ersten Kapitels aufgezählten Rituale bei Todesfällen auf (H, 26f.). Der Roman vollzieht eine zyklische Bewegung zwischen Anfang und Ende, der auch das Haus selbst unterliegt, das am Ende der Natur weicht. Auch Aller Tage Abend endet mit dem Bild der Trauer, »trauern« (ATA, 283) ist das letzte Wort des Romans. Er begann mit den jüdischen Trauerritualen nach dem plötzlichen Tod des Kindes, einer Trauer, die noch nach kollektiven Bräuchen und in einer rituellen, Halt bietenden Zeit abläuft. Er endet mit der einsamen Trauer des Sohns der Schriftstellerin, einer Trauer, die keinen zeitlichen, keinen gesellschaftlichen Rahmen mehr hat. Eher instinktiv wacht der Sohn eine Woche lang zu dem Zeitpunkt auf, zu dem die Mutter wohl starb: »Noch eine Woche lang wird er jeden Morgen genau um 4 Uhr und 17 Minuten wach werden, jeden Morgen genau im Moment der größten Stille, unmittelbar bevor die Vögel anfangen zu singen.« (ATA, 282) Und »[v]iele Morgende« wird er in der Frühe in die Küche gehen und weinen, und sich »fragen, ob diese merkwürdigen Laute und Krämpfe wirklich alles sind, was dem Menschen gegeben ist, um zu trauern.« (ATA, 283) Dieses ganz individuelle Trauern und die den Menschen überkommenden Emotionen stehen am Ende des Romans, doch die Frage des Sohns, ob das alles sein kann, um der Trauer und dem Verlust Ausdruck zu verleihen, lässt rückblickend auf die im Roman erzählten geschichtlichen Ereignisse auch die Frage aufkommen, ob die nach 1989 scheinbar an ein Ende geratene geschichtliche Zeit nun kollektiv aufgegeben wird. Die verstorbene Mutter, Kommunistin, Schriftstellerin, repräsentierte einen Teil der gescheiterten Geschichte kommunistischer Utopien. Es scheint, als würde der von den Spuren dieser Geschichte offenbar unbelastete Sohn sich am Ende doch die Frage stellen, wie man dieser Zeit gedenkt: durch individuelle Emotionen oder durch etwas Anderes? Dieses Andere wären dann die fiktionalen Denkspiele, die die Autorin Jenny Erpenbeck dank ihrer Romane vollzieht, Spiele mit der Zeit, die unterschiedliche Formen annehmen. Als versuchtes Zurückdrehen der Zeit in Geschichte vom alten Kind, als Aufdecken der Zeitschichten und -brüche eines bestimmten Ortes

Verstrickung von Lebens- und Geschichtszeit

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in Heimsuchung, als immer wieder versuchter Neuanfang mit möglichen Geschichten in Aller Tage Abend. Dieser Roman treibt das fiktionale Spiel mit Zeit und Geschichte am weitesten voran, doch weist die Konjunktivierung in den Intermezzi nicht nur auf die Fiktionalität des Ganzen hin, sondern stellt von Anfang an auch immer die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Erzählten, und schafft so durch die ausgewiesene Konstruiertheit Distanz.887 Das Schreiben, die Fiktion ermöglicht es, vergangene Zeit und Geschichte immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, unterschiedliche Facetten aufzuzeigen und Potenziale und Hoffnungen aufzudecken. Doch am Ende steht das bereits im Titel angezeigte Scheitern, denn, so Timm Menke, die »naiv-optimistisch[e] Redensart, es sei noch nicht aller Tage Abend«, werde »resigniert in [ihr] Gegenteil verkehrt«: »Der Titel signalisiert […] einen Verlust: den Tod nicht nur eines einzelnen Menschen, sondern ebenso den Tod gesellschaftspolitischer Hoffnungen ganzer Generationen.«888 Insofern reflektieren die Romane auf ihre Weise einen sehr viel größeren Bruch als den lebensweltlich erfahrenen eines Umkippens und Verschwindens von Alltag, nämlich den durch den gesellschaftlichen Umbruch von 1989 eingeläuteten Niedergang der großen Utopien.

887 Vgl. dazu Mueller 2014, S. 165. 888 Menke 2016, S. 441.

Schluss: Zeitwahrnehmung im ostdeutschen Erfahrungshorizont

In jüngeren Arbeiten zur Zeitthematik werden verstärkt Phänomene der Pluralisierung von Zeitvorstellungen hervorgehoben, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen,889 wobei der Begriff der »polychronen Moderne« jedoch vor allem auf die »grundständige Vielheit moderner Zeitlichkeiten«890 verweist und ein normatives Zeitverständnis in Frage stellt. Im Bereich der Gegenwartsliteratur hat vor allem Johannes Pause darauf aufmerksam gemacht, dass viele Werke im Gegensatz zur Moderne um 1900 nicht nur eine in die Krise geratene subjektive Zeit spiegeln, sondern auch eine gestörte gesellschaftliche bzw. physisch-objektive Zeit, die zu einer »mehrfache[n] Erschütterung des Zeitbewusstseins« führt.891 Zeit erscheint als »eine Vielzahl verschiedener, durch das Subjekt kaum noch synchronisierbarer gesellschaftlicher Eigenzeiten«, die »widersprüchliche ›Zeitlogiken‹ produzieren«892 und in gegenwärtigen Romanen häufig durch spielerische Zeitszenarien thematisiert werden, durch Szenarien der Rekursivität und die Darstellung von Parallelwelten bzw. möglichen Welten oder durch die Problematisierung der »Referenzlosigkeit der eigenen Wahrnehmungen und Erinnerungen«.893 Als Fazit stellt Johannes Pause für das von ihm untersuchte Korpus der Gegenwartsliteratur und die dort analysierten Zeitparadoxien und unterschiedlichen Erklärungsmodelle fest, dass es sich »in die Tradition der literarischen Phantastik einordnen« lasse.894 Für die in dieser Arbeit untersuchten Werke ostdeutsch sozialisierter AutorInnen, die im selben Zeitraum wie die von Pause untersuchten Texte erschienen sind, lässt sich ein solch literarisch-spielerischer Umgang mit Zeitszenarien nur am Rande feststellen, vornehmlich im Werk Jenny Erpenbecks. Wenn den eigenen Wahrnehmungen und Erinnerungen Referenzen verloren gegangen sind, 889 890 891 892 893 894

Gamper/Hühn 2014, S. 27. Ebd., S. 21. Pause 2012, S. 10, 9. Ebd., S. 16. Ebd., S. 216. Ebd., S. 325.

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Schluss: Zeitwahrnehmung im ostdeutschen Erfahrungshorizont

wie es bei Johannes Pause heißt, dann zunächst nicht aufgrund einer subjektiv nicht mehr zu verarbeitenden Vielzahl gesellschaftlicher Eigenzeiten, sondern in Folge der konkreten historischen Situation des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989.895 Nicht die spielerische Auseinandersetzung mit einer problematischen Pluralität von Zeiten in der Spätmoderne kommt in den Werken von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck zum Tragen, sondern der Versuch, sich in den nach 1989 destabilisierten Zeitkoordinaten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu zu situieren. Wenn literarische Texte die Möglichkeit bieten, konventionelle Auffassungen von Zeit spielerisch zu erweitern und menschliche Zeiterfahrung zu modifizieren,896 so stehen diese Aspekte in den hier analysierten Texten selten im Vordergrund, es geht vielmehr um den Versuch, den lebensweltlich erfahrenen Zeitenbruch literarisch zu gestalten, sich in der eigenen Geschichte neu zu verorten und mittels literarisch inszenierter Erinnerungen auf das Verschwinden von Geschichte zu reagieren. Die Desorientierung in der Zeit ist also sehr viel stärker historisch bedingt als in anderen Texten der Gegenwartsliteratur und sie wird aus der Wahrnehmungsperspektive von Figuren und Erzählern dargestellt, die vor einem spezifischen soziokulturellen Hintergrund agieren. Wenn das Gefühl der Irrealität zur Sprache kommt, dann auch, weil die gerade noch erlebte Gegenwart plötzlich zur Vergangenheit geworden ist und man sich des Gelebten und Erlebten vergewissern muss, auch durch literarische Erinnerungsarbeit. Nicht zufällig haben viele der analysierten Werke einen stark autofiktionalen Charakter. Ihre »Erfahrungshaftigkeit«, ihre »Verortung […] im zeitlichen Nahhorizont, d. h. in einer Erinnerungsnähe, die eigenen Erfahrungen gleichkommt«, führt zu einer grundsätzlichen Verschmelzung von fiktiver und außerliterarischer Zeit.897 Die Haltung der Vergangenheit gegenüber trägt bei den drei AutorInnen grundsätzlich ähnliche Züge, unterscheidet sich jedoch je nach den Möglichkeiten, die eigene Geschichte tatsächlich zu erinnern. Lutz Seilers Schreiben kann auf sinnlich fest eingeprägte Erinnerungen zurückgreifen, die er in seiner Literatur heraufbeschwört und aktualisiert, auch für Jenny Erpenbeck sind die Erinnerungen präsent und ersetzen die verschwundene Wirklichkeit, während Julia Schoch Vergangenes als vorhandene Prägung wahrnimmt, die eigene Geschichte jedoch nicht vollständig greifbar wird und nur unter Rückgriff auf Imagination zu rekonstruieren ist. Lutz Seiler beschrieb den Zeitenbruch im eigenen Leben zwar als einen tiefen Einschnitt, der für sein Schreiben aber auch »verlockend«898 895 Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich Pauses Hauptkorpus ausschließlich aus westdeutsch sozialisierten Autoren zusammensetzt. 896 Benz 2013, S. 17. 897 Wodianka 2005, S. 183. 898 Kasaty 2007, S. 380.

Schluss: Zeitwahrnehmung im ostdeutschen Erfahrungshorizont

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gewesen sei, bei Jenny Erpenbeck und Julia Schoch herrschen negative Gefühle des Schmerzes899 und der Trauer900 vor, eine Haltung, die sicher auch aus dem weniger großen Abstand zur eigenen Kindheit und dem erlebten Verlust von Anhaltspunkten in einem jungen Alter zu erklären ist. Dieser lebensweltlich erfahrene Bruch kommt in den untersuchten Werken auf unterschiedliche Weise durch die erzählerische Darstellung einer besonderen Zeitwahrnehmung zum Ausdruck. Ausgehend von einer als problematisch empfundenen Gegenwart werden die drei Zeitkoordinaten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Beziehung gesetzt und hinterfragt: als vergangene Zeiterfahrung in der DDR, als Erfahrung einer Übergangszeit im Kontext des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989, als erlebte Gegenwart und als Wahrnehmung einer Zukunft, die noch von vergangenen Zukunftsvorstellungen geprägt ist. Dabei führen die Werke zwei Formen der Zeitwahrnehmung zusammen: einerseits die individuelle und subjektive Wahrnehmung, die sich über die jeweiligen Gesellschaftssysteme und Zeitregime hinaus als Streben nach Eigenzeitlichkeit ausdrückt, andererseits die Wahrnehmung einer kollektiven und historischen Zeit, zu der sich die Subjekte in Beziehung setzen und die in den Werken ähnliche Deutungen erfährt.

Subjektive Zeitwahrnehmung Über die jeweils spezifischen thematischen und ästhetischen Setzungen der einzelnen Werke hinaus lassen sich bestimmte Gemeinsamkeiten feststellen, die zunächst die individuelle Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und deren ästhetische Gestaltung betreffen. Die Vergangenheit in Form des linearen und kontinuierlich auf Fortschritt und Zukunft ausgerichteten Zeitregimes der DDR wird in den Werken, deren erzählte Zeit in der DDR zu verorten ist, distanziert und ohne nostalgischen Blick betrachtet. Sowohl in Lutz Seilers Roman Kruso als auch in Julia Schochs Erzählung »Der Körper des Salamanders« wird der offiziellen, fortschreitenden Zeit die Suche nach einer – intertextuell überformten – poetischen Eigenzeit und ästhetischen Zeitlosigkeit gegenübergestellt. Die Verweise auf die Romantik, die in beiden Texten besonders präsent sind, rufen auch deren spezifisches Welt- und Zeitverständnis auf, dem die Kritik des Fortschrittsgedankens und dessen »dysfunktionalen, desillusionierenden Nebenfolgen und Krisenphänomene[n]« ebenso inhärent ist wie 899 Julia Schoch spricht in ihrem Essay ›Meine Mythomanien‹ von einem »Schmerz«, den sie nur durch die imaginäre Rückerinnerung »aushalten« kann. Schoch 2014, S. 4. (Vgl. 2.2.5.) 900 Erpenbeck spricht im Zusammenhang mit den auch materiellen Überresten und Trümmern ihrer Vergangenheit von Trauer (›Heimweh nach dem Traurigsein‹, in: Erpenbeck 2018, S. 47. (Vgl. 3.1.6.)

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Schluss: Zeitwahrnehmung im ostdeutschen Erfahrungshorizont

die »Tendenz zur Subjektivierung der Lebenswelt und Selbstreflexion des Individuums«.901 Auch die Autoren der DDR-Literatur hatten bereits auf das Modell der Romantik zurückgegriffen, um die Diskrepanz zwischen genormten gesellschaftlichen Fortschrittsvorstellungen und ihrer eigenen Subjektivität zu verdeutlichen. Während in diachroner Perspektive in der DDR geltende Zeit- und damit auch Gesellschaftsauffassungen distanziert betrachtet werden, kommt der Vergangenheit in synchroner Perspektive jedoch eine andere Funktion zu. In einer Gegenwart, die die Figuren als destabilisierend und nicht sinnstiftend wahrnehmen, fungiert die Vergangenheit als Rückzugsort. Dies wird besonders eindringlich in Lutz Seilers Erzählungen dargestellt, in denen der gedankliche Übergang in die Vergangenheit durch Schwellensituationen figuriert wird, die eine besondere Zeitlosigkeit charakterisiert und in denen Momente des Archaischen und Mythischen eine Entschleunigung und Detemporalisierung der Gegenwart suggerieren. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang der Kindheit zu, die bei Lutz Seiler und Jenny Erpenbeck als idealer Urzustand oder Schutzraum dargestellt und in ihrer besonderen Zeitlichkeit aufgewertet wird. Seiler unterstreicht dies durch die Hervorhebung bestimmter prägender Situationen und Gegenstände, die als Zeitspeicher vergangener Erfahrungen fungieren. Jenny Erpenbeck stellt in ihrer Verwandlungsgeschichte die Rückeroberung der Normalität eines verlorenen Alltags durch die dominante Verwendung eines immerwährenden Präsens als Ausdruck einer Zeit der Sorglosigkeit dar. Aus der Gegenwartsperspektive heraus erscheint die Vergangenheit jedoch auch als unzugänglich und diskreditiert. Bei Erpenbeck tritt die verdrängte Vergangenheit symbolisch als Abjektes auf, bei Julia Schoch als lächerliche Kuriosität. Während die Figuren sich mit der Last einer entwerteten Vergangenheit auseinandersetzen müssen, erscheint auf produktionsästhetischer Ebene seitens der Autoren das Schreiben als ein Mittel, diese Vergangenheit durch die Literatur zurückzuerobern. In zahlreichen Essais hat Julia Schoch dargelegt, wie sie sich nur durch das Schreiben und die Imagination ihrer Vergangenheit rückversichern kann, wobei sie diese Fiktionalität vor allem in ihren ersten Texten auch immer wieder offenlegt. Auch für Lutz Seiler ist das Verschwinden der eigenen Geschichte Movens seines Schreibens, bei der Rekonstruktion des Gewesenen geht es ihm auch darum, vergangene Realitäten in der Literatur zu ›retten‹, beispielhaft die Figur des Arbeiters in der Erzählung »Die Zeitwaage«. Die Zeitwahrnehmung der Gegenwart selbst wird vor allem bei Julia Schoch dargestellt, sie kann vor der Folie bestimmter zeitsoziologischer Konzepte wie der »erstreckten Gegenwart«, dem »rasenden Stillstand« oder dem spätmodernen Spielertypus gelesen werden. Die literarische Gestaltung dieser bestimmten 901 Middeke 2002, S. 3.

Schluss: Zeitwahrnehmung im ostdeutschen Erfahrungshorizont

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Zeitwahrnehmung erfolgt über Figuren- und Handlungskonstellationen wie der des Paars bzw. der Sabotage und des Glücksspiels. Bei Jenny Erpenbeck erscheint die Gegenwart vor allem als Moment des Verlustes, der in Heimsuchung durch den Abriss des Hauses und in Aller Tage Abend durch die Reflexionen des Sohns über den schnellen Wechsel der Gesellschaftssysteme repräsentiert wird. Zukunft ist in den Texten auf der individuellen Wahrnehmungsebene der Figuren vornehmlich eine abwesende Sinnkategorie. In Lutz Seilers Romanen geht es fast ausschließlich um das Ausleben einer gegenwärtigen poetischen Eigenzeitlichkeit. Bei Julia Schoch werden die blockierten Zukunftsperspektiven der Gegenwart mit den Zukunftsversprechen der Vergangenheit konfrontiert, die sich jedoch ebenfalls als irreführend herausstellen. Auch bei Jenny Erpenbeck existiert die Zukunft aus subjektiver Perspektive im Wesentlichen als negative Kategorie des Unvorhersehbaren. Sowohl was die Ebene der erzählten Vergangenheit als auch diejenige der Gegenwart betrifft, reagieren die Figuren auf das sie umgebende dominante Zeitregime mit Entwürfen einer Eigenzeitlichkeit und Anderszeitlichkeit, die an bestimmte Orte des Rückzugs gebunden ist. Für mehrere Texte konnte Foucaults Konzept der Heterotopie als am Rande der Gesellschaft existierender Gegenort nutzbar gemacht werden, die damit einhergehende andere Zeitwahrnehmung der Heterochronie verweist auf einen radikalen Bruch in Bezug auf traditionell erfahrene Zeit. Dies gilt für die Insel in Lutz Seilers Roman Kruso als Gegenstück zum Zeitregime der DDR ebenso wie für das Stadtviertel des Prenzlauer Bergs in Stern 111, das in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs zum besonderen Rückzugsort wird. Beide Heterotopien erlauben eine Anderszeitlichkeit, die in eine poetische und ästhetische Eigenzeit mündet. Bei Julia Schoch fungiert neben dem Jahrmarkt in der Erzählung »Schießübung« vor allem das Kasino im Roman Selbstporträt mit Bonaparte als heterotoper Ort. Dessen Zeitlosigkeit bietet einen Ausgleich zu einer ständig geschäftigen und doch sinnentleerten Gegenwart. Bei Jenny Erpenbeck kommt aus der Perspektive des Mädchens dem Kinderheim die Charakteristik eines Ortes der Anderszeitlichkeit zu. Im Sinne Foucaults wäre dies zwar keine Heterotopie, sondern ein Ort der Herrschaft und Machtausübung, allerdings macht sich das Mädchen gerade diesen Ort für seine Zwecke zunutze. Die besondere subjektive Zeitwahrnehmung der Figuren wird in den Texten neben erzählerischen Strategien der Verlangsamung oder diskordanten Wahrnehmungsperspektiven immer wieder durch Elemente des Irrealen, des Märchenhaften und des Fantastischen dargestellt, ohne dass die Texte selbst dabei der literarischen Fantastik zuzuordnen wären. Die dadurch intendierte Entwirklichung funktioniert als Korrektiv zu einer real gegebenen Zeitordnung, zu der die einzelnen Figuren als Subjekte auf Distanz gehen.

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Schluss: Zeitwahrnehmung im ostdeutschen Erfahrungshorizont

Wahrnehmung von Geschichtszeit Die subjektive Zeitwahrnehmung und die Konstruktion von Eigenzeit als Reaktion auf die jeweilige gesellschaftliche Zeitordnung ist eng mit der Wahrnehmung von geschichtlicher Zeit verbunden, angefangen von dem als Zeitenbruch erfahrenen gesellschaftlichen Umbruch von 1989. Vor allem Julia Schoch und Jenny Erpenbeck konstruieren Figuren, die angesichts des historischen Ereignisses die Deutungshoheit über ihr Leben beibehalten möchten, sei es, indem wie bei Julia Schoch die Zäsur negiert wird, sei es, indem bei Erpenbeck die Zeit angehalten und der verlorene Alltag sowie die Kindheit zurückerobert werden. Das dabei benutzte Motiv der Verwandlung figuriert ein Stadium der Zwischenzeit und der Latenz, das metaphorisch auch die historische Phase des Umbruchs charakterisiert. Auch Lutz Seilers Romane repräsentieren eine solche Zwischenzeit: die Insel, die in kulturellen Interpretationen auch als Ort der Verwandlung gilt, erscheint in Kruso als ein Ort des Übergangs. Während Ed dort seinen Weg zur Poesie findet, werden die natürlichen Veränderungen der Insel und deren langsamer Verfall zum Sinnbild des in sich zusammenbrechenden Staates. In Stern 111 wird die Zwischenzeit des gesellschaftlichen Umbruchs ebenfalls als Zeit des persönlichen Übergangs zur Dichtung beschrieben, gleichzeitig repräsentiert die sich wandelnde Figur des Hoffi die in dieser historisch sehr kurzen Zeit aufkommenden Träume und deren Niedergang. Neben diesen literarischen Figurationen des Umbruchs bieten die Texte auch Überlegungen zu einer weiter gefassten, plötzlich ›aus den Fugen‹ geratenen Geschichtszeit. Ausgangspunkt und unterschwellige Referenz ist das dem Zeitregime der DDR eingeschriebene Modell einer linear verlaufenden und fortschrittsorientierten Geschichte, die an kollektive Zukunftsvisionen gebunden ist. Diese Geschichtsauffassung wird im Korpus je nach Text und gewählter Perspektive doppelt betrachtet: einerseits irritiert sie in den Texten, deren erzählte Zeit in der DDR zu verorten ist, andererseits verunsichert die Unterbrechung dieser gleichförmigen und nach vorn gerichteten Geschichtszeit in der Gegenwart. Paradigmatisch für die Infragestellung der teleologischen Geschichtsauffassung der DDR steht Lutz Seilers Erzählung »Gavroche«, die anhand von Anspielungen auf Walter Benjamins Geschichtsphilosophie und deren Fortschrittskritik das Konzept des »Jetzt der Erkennbarkeit« als individuelle und geschichtliche Konstellation aufwertet und als narrative Metalepse in den Text trägt. Bei Lutz Seiler und ansatzweise auch bei Julia Schoch werden zudem archaische und mythische Elemente eingesetzt, die eine Entzeitlichung und Dehistorisierung der Vergangenheit suggerieren und als Rückkehr zum Ursprung und zu den Wurzeln der Dinge, als Heraustreten aus der Geschichtszeit den geschichtsphilosophischen Optimismus des Zeitregimes der DDR in Frage stellen.

Schluss: Zeitwahrnehmung im ostdeutschen Erfahrungshorizont

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Obwohl die vor dem Hintergrund der DDR spielenden Texte deren Geschichtsauffassung in Frage stellen, ist die Erfahrung des Zusammenbruchs und Wegfalls dieses einst scheinbar unangreifbaren Geschichts- und Zeitmodells Ursache für Desorientierung und ein Misstrauen in den allgemeinen Lauf der Geschichte. In Julia Schochs Selbstporträt mit Bonaparte erscheint Geschichte nunmehr nur noch als episodenhaft und fragmentarisch, nicht dazu geeignet, Sinnzusammenhänge zu stiften. Bei allen drei AutorInnen findet man eine Reflexion über natürliche Prozesse, die der menschlichen Geschichtsentwicklung zuwiderlaufen oder diese letztlich überrollen: sowohl in Lutz Seilers Kruso als auch in Erpenbecks Heimsuchung werden geologische Ablagerungen als vertikale Zeitschichten beschrieben, die der horizontalen, nach vorn drängenden menschlichen Geschichte entgegenstehen. Bei Julia Schoch und Jenny Erpenbeck verweisen Bilder der Versteppung und Verwüstung auf eine zyklische Zeitauffassung, die in fine wieder zu einer Überschreibung der gegenwärtigen Zivilisation durch die Natur führt. Menschliche Geschichte wird so in größeren Zusammenhängen reflektiert, die bis dahin als vertraut geltende geschichtliche Ordnung wird nicht einfach durch eine andere ersetzt, sondern Geschichte und Fortschritt werden insgesamt in Frage gestellt, und dies auf radikalere Weise als es z. B. in der späten DDR-Literatur der Fall war, wo Zivilisationskritik mit dem Festhalten an einer Gesellschaftsutopie einherging. Geschichte wird von den Figuren als kontingent, nicht mehr beeinflussbar und nicht voraussehbar erlebt. Diese Momente der Kontingenz und der Diskontinuität sind den Werken als erzählerische Anachronien oder als ein Auseinanderfallen der Zeitwahrnehmung unterschiedlicher Figuren auch formal eingeschrieben. Jenny Erpenbeck lässt in Aller Tage Abend die Fiktion eingreifen, um Zufall und Kontingenz von Lebensgeschichte in unterschiedlichen historischen Epochen zu verdeutlichen. Jedoch wird auch ihr fiktionales Spiel den Lauf der Geschichte nicht ändern und beeinflussen können. Der gesellschaftliche Umbruch steht am Ende des Romans und scheint mit dem Niedergang der Utopien des zwanzigsten Jahrhunderts auch das Ende der Geschichte einzuläuten, ein Motiv, das auch bei Julia Schoch und in Lutz Seilers letztem Roman vorhanden ist. Mit langfristigen gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen gehen die Texte in der Regel sparsam um: Jenny Erpenbeck reflektiert die gescheiterten Visionen der Vergangenheit, in Julia Schochs Werken werden unterschiedliche Optionen skizziert. Wenn anfangs zumindest der ›Osten‹ als Denk- und Möglichkeitsraum existierte und im zweiten Roman Zukunft noch als leeres, neu zu beschreibendes Blatt erschien, wird sie in Selbstporträt mit Bonaparte nunmehr definitiv verabschiedet. Lediglich bei Lutz Seiler erscheint die Zukunft noch als eine mögliche Denkfigur, und zwar im Benjamin’schen Sinne als Verheißung, als latente Ge-

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Schluss: Zeitwahrnehmung im ostdeutschen Erfahrungshorizont

schichtskonstellation, die in der Zukunft erkannt wird und dann ihre auch poetische Kraft offenbart. Der Fokus auf die Darstellung von Zeitwahrnehmung in der Post-DDR-Literatur erlaubt es, subjektive, die Lebenszeit der Figuren betreffende Erfahrungen zu beschreiben und gleichzeitig die durch den Umbruch von 1989 erfolgte Veränderung von Geschichtsvorstellungen zu reflektieren. Auffällig ist die fehlende Vermittlung jeglicher Glückserfahrung. Vor allem Lutz Seilers Romane inszenieren Figuren, die sich dank des Umbruchs persönlich weiterentwickeln konnten, doch endet sein letzter Roman auch mit einem stark desillusionierenden Blick in Gegenwart und Zukunft. Bei Julia Schoch und Jenny Erpenbeck stehen Figuren im Mittelpunkt, die von der symbolischen Gewalt des lebensweltlichen Bruchs von 1989 zeugen. Die in den Romanen der Autorinnen dargestellte Geschichtsauffassung ist zutiefst pessimistisch, die existentielle Erfahrung einer veränderten Zeitverortung wirkt vorwiegend destabilisierend. Die in die Texte eingeschriebene Zeitsemantik verdeutlich insgesamt, dass Zeit eine bestimmte Struktur der Erfahrung widerspiegelt, nicht Anekdotisches, sondern grundsätzliche Prägungen und Wahrnehmungsmuster. Die Analyse der Zeitwahrnehmung ermöglicht eine Abwendung von der Frage der Repräsentation der Ereignisse und der Geschichte, und eine Hinwendung zu deren direkten und indirekten Auswirkungen in lebensweltlicher Perspektive. Insofern erlaubt der Rückgriff auf das Zeitparadigma, die Grundsätzlichkeit des gesellschaftlichen Umbruchs und des Transformationsprozesses noch einmal unabhängig von seiner thematischen Darstellung zu analysieren. Gleichzeitig sind die offengelegten Irritationen, die noch in den jüngsten Werken andauern, vielleicht ein Verweis darauf, warum sich die AutorInnnen noch dreißig Jahre nach dem Ende der DDR dieser Vergangenheit und ihrer Folgen – inklusive einer produktiven Auseinandersetzung mit ihrer Literatur – annehmen, als eines offensichtlich existenziellen Themas. Die Literatur bringt diese vorwiegend zeitliche Erfahrung durch bestimmte Formen, Motive und Erzähltechniken auf ganz eigene Weise zum Ausdruck. »Die wesentlichen Dinge entgehen uns […]« (SB, 45), reflektiert der Historiker Bonaparte in Julia Schochs Roman. Insofern ergänzt die Literatur die Geschichtserzählung, indem sie die Diskrepanz zwischen subjektiver und kollektiver Zeiterfahrung mit den ihr eigenen Mitteln zum Ausdruck bringt.

Literaturverzeichnis

1.

Primärliteratur

1.1.

Primärliteratur Korpus

Erpenbeck, Jenny –: –: –: –: –: –:

Geschichte vom alten Kind [1999]. München 2001. Tand. München 2003. Heimsuchung. Frankfurt a. M. 2008. Dinge, die verschwinden [2009]. München 2011. Aller Tage Abend [2012]. München 2014. Gehen, ging, gegangen [2015]. München 2017.

Schoch, Julia –: –: –: –: –: –:

Der Körper des Salamanders [2001]. München 2002. Verabredungen mit Mattok. München 2004. Mit der Geschwindigkeit des Sommers. München 2009. Selbstporträt mit Bonaparte. München 2012. Schöne Seelen und Komplizen. München 2018. Die Jury tagt. Hamburg 2020.

Seiler, Lutz –: –: –: –: –: –: –:

pech & blende. Gedichte. Frankfurt a. M. 2000. vierzig kilometer nacht. Gedichte. Frankfurt a. M. 2003. Die Zeitwaage. Erzählungen. Frankfurt a. M. 2009. im felderlatein. Gedichte. Frankfurt a. M. 2010. Kruso. Berlin 2014. Die römische Saison. Oberelchingen 2016. Am Kap des guten Abends. Berlin 2018.

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Literaturverzeichnis

–: Stern 111. Berlin 2020. –: ›Marokko‹, in: Études Germaniques (Lutz Seiler. Inédits et études) 2020/75:2, S. 281–284.

1.2.

Essays und Selbstaussagen (Korpus)

Erpenbeck, Jenny Essays

Erpenbeck, Jenny: ›Über das 5. Kapitel des Romans Heimsuchung‹, in: Catani, Stephanie/ Marx, Friedhelm (Hg.): Über Grenzen. Texte und Lektüren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Göttingen 2015, S. 13–30. –: Kein Roman. Texte und Reden. München 2018. – ›Siegfrieds Gedächtnisverlust in der Oper ›Götterdämmerung‹ von Richard Wagner‹ [1992] (S. 305–340). – ›Im Jenseits der Altstoffe‹ [2001] (S. 112–116). – ›Heimweh nach dem Traurigsein‹ [2013] (S. 42–60). – ›Christian Daniel Schubert‹ [2013] (S. 139–145). – ›Zur ›Geschichte vom alten Kind‹. Bamberger Vorlesung I‹ [2013] (S. 146–173). – ›Variationen über einen Satz. Bamberger Vorlesung IV‹ [2013] (S. 224–255). – ›Was macht die Zeit mit dem Schreiben?‹ Dankesrede zum Joseph-Breitenbach-Preis [2013] (S. 256–267). – ›Was man nicht sieht. Über das Projekt ›Priming‹ von Orit Raff‹ [2013] (S. 354–361). – ›Zeit‹. Rede zur Aufnahme in die Berliner Akademie der Künste [2015] (S. 69–71). – ›Thomas Mann‹. Dankesrede zum Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck und der Bayrischen Akademie der Schönen Künste [2016] (S. 274–281). – ›Ovids »Metamorphosen«‹. Rede anlässlich der Verleihung des Premio Strega Europeo [2017] (S. 290–293). – ›Im toten Winkel‹. Keynote anlässlich der Puterbaugh Fellowship der Universität Oklahoma [2018] (S. 410–424).

Interviews/Gespräche

– Birgfeld, Johannes: ›Gespräch mit Jenny Erpenbeck‹, in: Deutsche Bücher 2005/35, S. 177–183. – Eden, Wiebke/Erpenbeck, Jenny: ›Sich mit Worten auszudrücken, war immer das Nächste‹, in: Eden, Wiebke: »Keine Angst vor großen Gefühlen«. Die neuen Schriftstellerinnen, Berlin 2001, S. 11–22. – Oltermann, Philip/Erpenbeck, Jenny: ›»People in the west were much more easily manipulated«. Interview with Philip Oltermann‹, The Guardian, 6. 6. 2015. – Reif, Adalbert/Erpenbeck, Jenny: ›Erinnerung ist nur ein Blick zurück‹, in: Der Standard, 7./8. 11. 2009. – Schuster, Maren/Paul, Martin/Erpenbeck, Jenny: ›Man kann sich sein Verhältnis zur Vergangenheit nicht aussuchen‹. Interview mit Maren Schuster und Martin Paul,

Primärliteratur

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Julia Schoch Essays

Schoch, Julia: ›Orte, von denen ich schreibe‹, geschrieben für das Literaturhaus Köln, Lesung vom 27. 02. 2002, verfügbar unter: https://juliaschoch.de/essays/orte-von-denen -ich-schreibe/ [05. 08. 2021]. –: ›Naivität als Widerhaken. Dankesrede anläßlich der Verleihung zum Hölderlin-Förderpreis‹ [2002], zuletzt abgerufen am 1. 5. 2020 unter: https://www.juliaschoch.de/texte /aufsaetze.html#c5. Online nicht mehr verfügbar. –: ›Die wattierte Wirklichkeit und ihre Literatur‹, EDIT 2003/32, S. 52–55, verfügbar unter https://juliaschoch.de/essays/die-wattierte-wirklichkeit-und-ihre-literatur/ [11. 08. 2021]. –: ›Eine Rede‹, in: Bisanz, Elize (Hg.): Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugänge zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identität in Deutschland. Münster 2005, S. 43–50. –: ›Ich, Bewohner einer Zwischenzeit‹, in: Poesie und Stille. Schriftstellerinnen schreiben in Klöstern, hg. von der Klosterkammer Hannover. Göttingen 2009, S. 9–19. –: ›Der klassische Held und die Freiheit oder Taugt der unbehelligte Mensch für die Literatur?‹, in: Bella Triste 2009/25, S. 68–74. –: ›Ich, Arrière-Gardistin‹ [2013], in: Di Rosa, Valentina/Röhnert, Jan (Hg.): Im Hier und Jetzt. Konstellationen der Gegenwart in der deutschsprachigen Literatur seit 2000. Köln 2019, S. 299–304. –: ›Meine Mythomanien‹. Essay für die Internationale Literaturkonferenz »Identities in Motion« in Alexandria (Ägypten), April 2014, zuletzt abgerufen am 28. 04. 2020 unter https://www.juliaschoch.de/fileadmin/upload_julia_schoch/texte/Essai_Tagung_Alexa ndria.pdf. Online nicht mehr verfügbar. –: ›Brandenburg liegt am Pazifik. Über das Verschwinden der eigenen Vergangenheit, über Potsdam im Umbruch und das Leben in der Ewigkeit‹, in: Berliner Zeitung, 30. 12. 2015. –: ›Die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen‹, in: Jügler, Matthias (Hg.): Wir, gestern, heute, hier. Texte zum Wandel unserer politischen Werte. München 2020, S. 122–134. Gaudlitz, Frank/Schoch, Julia: FONTANESKE. Einmal so schreiben, so reisen: als ginge es um nichts. Potsdam 2019.

Interviews/Gespräche

– Leinemann, Susanne/Schmelcher, Antje: ›Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland? Zonenkinder im Gespräch (= Gespräch mit Julia Schoch, Jakob Hein, Andres Kubiczek und Jana Hensel)‹, in: Die Welt, 9. 11. 2002. – Literaturforum im Brechthaus: Schreiben nach Corona. Mit Kathrin Röggla, Julia Schoch, Yo¯ko Tawada und David Wagner. Moderation Elke Brüns, 18. 06. 2020, verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=yQ5WBbKZZr4 [12. 08. 2021].

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Seiler, Lutz Essays

Seiler, Lutz: Sonntags dachte ich an Gott. Frankfurt a. M. 2004. – ›Im Kieferngewölbe‹ [2003] (S. 9–30). – ›Heimaten‹ (II Herkunft) [2001] (S. 31–51). – ›»Nie hört die Nachkriegszeit auf«. Über Jürgen Becker‹ [2003] (S. 57–70). – ›»Und unter den Füßen liegen Vergangenheiten…«. Auszug aus einem Vortrag im Rahmen der »Wiener Vorlesungen zur Literatur«‹ [2001] (S. 71–80). – ›Im Ankerglas‹ [2004] (S. 123–131). –: ›Columbo‹, in: Neue Rundschau 2008/2 (Wolfgang Hilbig), S. 96–99. –: ›Der Geruch der Gedichte. Dankrede zum Fontanepreis‹, in: Sinn und Form 2011/1, S. 133–135. –: ›Der Ort, wo die Toten sind. Dankrede zum Uwe-Johnson-Preis‹, in: Sinn und Form 2014/6, S. 848–853. –: ›Laudatio auf Jürgen Becker (Georg-Büchner-Preis 2014)‹, verfügbar unter: https://tin yurl.com/5ffd9vyp (https://www.deutscheakademie.de/) [12. 08. 2021].

Interviews/Gespräche

– Kasaty, Olga Olivia: ›Ein Gespräch mit Lutz Seiler. Wilhelmshorst, 29. Juli 2005‹, in: Dies.: Vierzehn Autorengespräche. München 2007, S. 361–394. – Kruso. Lutz Seiler in Lesung und Gespräch, Literarisches Colloquium Berlin, 9. März 2015, verfügbar unter: https://www.dichterlesen.net/veranstaltungen/veranstaltung/de tail/kruso-2096/ [12. 08. 2021]. – Schuster, Maren/Paul, Martin/Seiler, Lutz: ›Während ich schreibe muss ich immerzu sprechen‹, 26. Oktober 2010, verfügbar unter: http://www.planet-interview.de/intervie ws/lutz-seiler/35306/ [12. 08. 2021]. – Seiler, Lutz/Hensel, Jana: ›Stern 111 und die Zeit nach der Wende‹, Suhrkamp DISKURS #6, verfügbar unter: https://tinyurl.com/5d9r7b6u (https://www.suhrkamp.de/video/) [12. 08. 2021]. – Studio LCB mit Lutz Seiler (Gesprächspartner Ursula März und Ingo Schulze), 21. 10. 2009, verfügbar unter https://tinyurl.com/35bra2nd (https://www.dichterlesen.net/) [12. 08. 2021].

Primärliteratur

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– Studio LCB mit Lutz Seiler (Gesprächspartner: Lothar Müller und Antje Rávic Strubel), 11. 06. 2014, verfügbar unter: https://tinyurl.com/8mjr8823 (https://www.dichterlesen. net/) [12. 08. 2021].

1.3.

Weitere Primärliteratur

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Personenregister

Ahbe, Thomas 26 Alliez, Éric 21 Aragon, Louis 60, 122 Arend, Ingo 134 Arlaud, Sylvie 44, 53, 110 Assmann, Aleida 11–13, 37, 169f. Augé, Marc 39, 159 Aumüller, Matthias 98 Avanessian, Armen 210f. Aversa, Francesco 157 Bachelard, Gaston 141, 157 Bachmann-Medick, Doris 20 Bachtin, Michail 24, 93, 193 Baier, Lothar 10f., 155 Baillet, Florence 10 Bal, Mieke 139 Banoun, Bernard 36, 45f., 53, 82, 86–88, 90f., 105, 108f. Baron, Christine 62–64 Barthes, Roland 63 Bartl, Andrea 219–221, 224 Baßler, Moritz 190 Basseler, Michael 140, 165f. Beaney, Tara 197, 204, 214, 223–225 Becher, Johannes R. 239 Becker, Jürgen 36, 40, 59 Benjamin, Walter 31, 35, 37f., 41, 57–63, 65–68, 71, 75, 122, 182f., 225 Bense, Max 46 Benthien, Claudia 148 Benz, Nadine 92, 202, 206, 262 Bernhardt, Rüdiger 70 Bessière, Jean 62

Biendarra, Anke S. 238, 240, 251 Bingel-Jones, Hanna 165f., 168 Birgfeld, Johannes 192 Birke, Dorothee 165f. Blanco Hölscher, Margarita 159 Bloch, Ernst 97, 107 Blumenberg, Hans 81, 85 Böhme, Hartmut 17 Bohrer, Karl Heinz 83, 89f., 92, 131, 226 Born, Arne 14, 21 Brauer, Juliane 125, 158 Braun, Volker 25 Bräunig, Werner 69, 76 Brecht, Bertolt 58, 196 Bremer, Ulrike 20 Brussig, Thomas 18, 20 Buber-Neumann, Margarete 245 Burdorf, Dieter 94 Burmeister, Brigitte 15 Caillois, Roger 219 Canetti, Elias 73f. Carow, Heiner 53 Carroll, Lewis 216 Catani, Stephanie 251 Cazenave, Michel 85, 87, 132 Celan, Paul 252 Chiarloni, Anna 53, 55, 243, 253 Chilese, Viviana 23 Chronister, Necia 191, 196, 219 Claude Lévi-Strauss 48 Clemmensen, Jesper 105 Cohn, Dorrit 210f. Combe, Sonia 255

290 Cosentino, Christine 172 Cosgrove, Mary 159, 232 Crosgrove, Mary 232 Daros, Philippe 63 Dautel, Katrin 238 Debary, Octave 47 Defoe, Daniel 90 Descartes, René 219f. Détrez, Christine 219f. Deupmann, Christoph 18 Di Rosa, Valentina 37, 101 Diner, Dan 236 Döbler, Katharina 233 Dostojewski, Fjodor M. 91 Douglas, Mary 221 Drawert, Kurt 15, 43, 221 Druxes, Helga 171 Ebel, Martin 42 Eden, Wiebke 190 Egger, Sabine 43, 101f. Eichendorff, Joseph von 50, 89, 140 Eichendorff, Jospeh von 44 Engel, Heinz 251 Engler, Wolfgang 53, 78 Erb, Elke 119 Erll, Astrid 169 Erpenbeck, Fritz 233 Ettenburg, Alexander 85, 88 Ewers, Hans-Heino 200 Faulkner, William 179 Fleig, Anne 127–130, 148 Foucault, Michel 98, 101f., 121, 132 Frick, Werner 240 Friedrich, Caspar David 104, 228 Fröhlich, Melanie 144, 146f. Fuchs, Anne 22, 87, 95f., 102f., 153, 160f. Fühmann, Franz 54 Fuhr, Eckhard 125, 129f. Fürstenberg, Paula 124 Galli, Matteo 23 Gamper, Michael 24, 27, 30, 261 Gansel, Carsten 191, 198f., 223

Personenregister

Gaudlitz, Frank 184, 186 Gebauer, Mirjam 23, 88, 94, 99 Genette, Gérard 28, 42, 62, 79 Georget, Jean-Louis 85f. Gisbertz, Anna-Katharina 242 Goethe, Johann Wolfgang v. 49f. Goethe, Johann Wolfgang von 50, 228 Goodbody, Axel 249 Gortych, Dominika Anna 108 Göttsche, Dirk 21 Goudin-Steinmann, Elisa 44 Grass, Günter 191 Grautoff, Otto 193 Gries, Rainer 26 Grimm (Gebrüder) 204, 216 Grub, Frank Thomas 15, 21 Grünbein, Durs 9, 12, 23, 25, 175 Gumbrecht, Hans Ulrich 13, 32, 75, 146 Haase, Michael 75, 77 Hage, Volker 189 Hähnel-Mesnard, Carola 16, 44, 57, 102, 107, 123, 126, 162f. Hanimann, Joseph 56 Harzer, Friedmann 193, 197, 205f., 212, 214–216, 219 Haupt, Sabine 84–87 Hebel, Johann Peter 181 Heine, Heinrich 50 Hennig, Anke 210f. Hensel, Jana 110, 116, 118 Hensel, Kerstin 20 Hermann, Iris 229, 231, 240 Herrmann, Leonhard 22 Herzinger, Richard 162 Hiepko, Andreas 103 Hilbig, Wolfgang 16, 25, 76–78, 86, 101, 118, 221 Hirsch, Marianne 170 Hoernes, R. 244 Hoffmann, E.T.A. 130 Hofmann, Franck 86f. Hofmann, Michael 55 Hofmann, Wilhelm 13 Hofstein, David 256 Hölderlin, Friedrich 136

Personenregister

Holzberg, Niklas 218 Horstkotte, Silke 22 Huchel, Peter 36f. Hugo, Victor 52 Hühn, Helmut 24, 27–30, 47, 104, 261 Jansen, Johannes 70 Jarausch, Konrad 18, 98, 137 Jeremiah, Emily 165 Jessen, Jens 126 Joachimsthaler, Jürgen 15 Jones, Katie 221 Jügler, Matthias 142 Kafka, Franz 50, 214, 221 Kämmerlings, Richard 125, 133 Kaplan, Doris 251 Kasaty, Olga 262 Kasaty, Olga Olivia 18, 35, 37, 45, 47, 68, 76 Kersten, Sonja 14 Kleinschmidt, Sebastian 44, 55–57, 92 Kleist, Heinrich von 228 Klessinger, Hanna 91 Klimek, Sonja 62 Königsdorf, Helga 20 Köppe, Tilmann 21 Kormann, Julia 20f. Koselleck, Reinhart 12, 26 Kott, Sandrine 12 Kramer, Sven 232 Krauß, Angela 23 Kristeva, Julia 220f. Kuczynski, Rita 15 Kühn, Bruno 53 Kühn, Ralf 21 Kundera, Milan 56 Kuon, Peter 212f. Kwitko, Leib 256 La Mettrie, Julien Offray de 219 La˘can, Carmen 32 Lämmert, Eberhard 42 Lange, Rainette 127, 158 Langner, Beatrix 150 Lartillot, Françoise 164, 168 Lefebvre, Henri 88

291 Leinemann, Susanne 18, 123, 170, 192 Lenk, Elisabeth 16 Lepper, Marcel 85f. Levi, Primo 242 Lévi-Strauss, Claude 48 Lindenberger, Thomas 95 Lindner, Bernd 26 Long, J.J. 22 Lüdeker, Gerhard 14 Ludorowska, Halina 234 Lüdtke, Alf 95 Ludwig, Janine 163 Mangold, Ijoma 49 Mann, Thomas 135, 192f. Martinez, Matias 42, 79 Marx, Friedhelm 149, 191, 198, 242, 251 Marx, Karl 55, 122, 242 März, Ursula 49, 64, 70, 129 Mau, Steffen 18 Melville, Herman 191 Menke, Timm 242, 259 Messling, Markus 85f. Meuser, Mirjam 163 Meyer, Franziska 151, 164f., 230, 234f., 250 Meyer-Gosau, Frauke 162 Middeke, Martin 21, 27 Middeke, Matthias 264 Miyazaki, Asako 23, 43f., 158 Morus, Thomas 97 Moser, Christian 80, 82, 97f. Mueller, Agnes C. 259 Müller, Heidelinde 189 Müller, Heiner 9–11, 25 Müller, Lothar 55f. Müller, Reinhard 241 Müller-Adams, Elisa 130 Neumann, Birgit 33 Nobile, Nancy 201, 215–217, 222f., 228 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 84, 86f., 106, 109f., 200, 228 Nowotny, Helga 12, 29, 32, 145f., 154 Nünning, Ansgar 30, 138, 140

292 Öhlschläger, Claudia 27 Oltermann, Philip 226 Oltmanns, Dietrich 77 Opitz, Michael 35–37, 40, 43, 75f., 107 Orth, Dominik 14 Ostheimer, Michael 16, 23–25, 79f., 86, 93, 101, 155 Ovid 193, 213f., 218f., 224f. Pabst, Stephan 19f., 47, 89, 112 Pause, Johannes 21, 39, 74, 136, 183, 261f. Plenzdorf, Ulrich 90 Ponge, Francis 46 Preußer, Heinz-Peter 162 Probst, Inga 230, 236, 239, 247 Proust, Marcel 44, 141 Pye, Gillian 22 Radisch, Iris 42, 49 Raff, Orit 222 Rakusa, Ilma 49 Raulet, Gérard 59, 67 Reimann, Kerstin E. 21 Renner, Ursula 49 Rétif, Françoise 218 Ricœur, Paul 27 Rilke, Rainer Maria 119, 215 Rilke, Rainer Marie 119 Rompe, Aljoscha 114 Rosa, Hartmut 11–14, 23, 32, 39, 88, 154f., 159, 175f., 180 Rosenlöcher, Thomas 9, 12, 15, 20f., 23, 25 Rousseau, Jean-Jacques 95–97, 200 Roussin, Philippe 62 Ruge, Eugen 22 Rüsen, Jörn 54f., 87, 181, 228f. Sabrow, Martin 11, 137 Samoyault, Tiphaine 90 Schalansky, Judith 124, 158 Scheffel, Michael 42, 79, 210 Schestokat, Karin 90 Schilling, Erik 184 Schlanger, Judith 90 Schmeling, Max 239 Schmidt, Kathrin 22

Personenregister

Schmitz-Emans, Monika 191, 194, 212, 214 Schöll, Julia 242, 247 Schreiber, Mathias 191 Schubart, Christian Daniel 242 Schubert, Katja 234, 236, 248f. Schulze, Ingo 24f. Schumacher, Eckhard 210f. Schütz, Stefan 70 Schwahl, Markus 198 Sebald, W.G. 242, 255 Seel, Martin 19, 197 Serres, Michel 220 Shafi, Monika 232, 247f. Sieroka, Norman 10 Simonis, Annette 21 Simonis, Linda 21 Sˇklovskij, Viktor 44f. Sommadossi, Tomas 142 Sparschuh, Jens 20 Spiegel, Hubert 191, 217 Steinert, Hajo 217 Stobbe, Urte 247f. Stockinger, Ludwig 96f. Stopka, Katja 103 Storm, Theodor 228 Strauss, Richard 216 Strigl, Daniela 49 Strubel, Antje Rávic 98 Tellkamp, Uwe 18, 160 Terrisse, Bénédicte 16, 76 Theunissen, Michael 27 Thyen, Laura 235, 253 Tieck, Ludwig 217f., 228 Tiedemann, Rolf 60, 67, 182 Trakl, Georg 47, 79, 90f., 97 Turner, Victor 40f. Ulrich, Silvia 68f. Unruh, Julius 256 Van Gennep, Arnold 40 Van Hoorn, Tanja 22, 27f., 229, 241 Van Ostaijen, Paul 88 Vedder, Ulrike 187, 230f., 253 Virilio, Paul 32, 154

293

Personenregister

Vogt, Jochen

103

Wagner, Richard 187 Waldenfels, Bernhard 41, 47f. Walser, Robert 191 Wehdeking, Volker 101 Weixler, Antonius 28, 206f. Werner, Lukas 28, 206f., 209, 239 Westphal, Bärbel 135 Wiest-Kellner, Ursula 40f.

Winkelvoss, Karine 212, 225 Winko, Simone 21 Wodianka, Stephanie 11, 262 Wolf, Christa 9, 16–18, 98, 162, 178f. Wolf, Werner 139 Würtz, Hannes 70 Zander, Judith 22 Zinner, Hedda 190, 233, 239, 254–257 Zubarik, Sabine 79f.

Weitere Bände dieser Reihe Band 27.2: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)

Schreiben, Text, Autorschaft II

Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen 2021. 420 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-1339-3

Band 27.1: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)

Schreiben, Text, Autorschaft I

Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten 2021. 340 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1272-3

Band 26: Eva Rünker

Konstruktionen christlichen Lebens im populären Frühmittelalter-Roman

Eine Untersuchung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart 2020. 493 Seiten, gebunden € 65,– D ISBN 978-3-8471-1195-5

Band 25: Sabine Egger / Stefan Hajduk / Britta C. Jung (Hg.)

Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa. Sarmatia – Germania Slavica – Central Europe

Vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums. From the Borderland in the East and Johannes Bobrowski’s Utopia to a Border Aesthetics 2021. 471 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-1193-1

Band 24: Britta C. Jung

Komplexe Lebenswelten – multidirektionale Erinnerungsdiskurse 2018. 310 Seiten, gebunden € 45,– D ISBN 978-3-8471-0866-5

Band 23: Monika Wolting (Hg.)

Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur 2017. 362 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-0741-5