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German Pages 354 Year 2014
Jire Emine Gözen Cyberpunk Science Fiction
Für meine Eltern. Und für Aphrodite.
Jire Emine Gözen (Dr. phil.), Medienwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Avantgarde, Ästhetik, Postmoderne, Cultural Studies und Asian Art, lebt und arbeitet in Tokio und Frankfurt am Main.
JIRE
EMINE GöZEN
Cyberpunk Science Fiction Literarische Fiktionen und Medientheorie
[ transcript]
Gefördert aus Mitteln der Hans-Böckler-Stiftung.
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Inhalt
Dankl7 Einleitung I 9 I. Science Fiction - eine Bestandsaufnahme I 17 1.1 Was ist ScienceFiction? Schwierigkeiten der Eingrenzung und Definitionsbildung I 17 1.2 Geschichte der akademischen Science-Fiction-Kritik 121 1.3 Die Science-Fiction-Kritik in Deutschland 143 1.4 Geschichte der ScienceFictionein historischer Abriss I 50 II. Cyberpunk - Neue Welten, neue Texte I 69 2.1 Mirrorshades, Cheap Truth und Punkish Violence: Die Entstehungsgeschichte der Cyberpunk-Literatur I 69 2.2 Cyberpunk- Der Begriff I 86 2.3 Differenzen zwischen der klassischen Science-Fiction- und der Cyberpunk-Literatur I 88 2.4 Humanistisches Weltbild der klassischen Science Fiction versus ahumanistisches Diktum der Cyberpunk-Science-Fiction I 111 2.5 Cyberpunk- eine Begriffsbestimmung I 123 111. Cyberpunk- Werke und Konzepte I 139 3.1 Historischer Abriss der Cyberpunk-Literatur 1139 3.2 Bestandsaufnahme der ersten Cyberpunk-Werke: ein Kompendium 1144 3.3 Inhalte, Thematiken, Ontologieeine Zusammenfassung I 205 IV. Cyberpunk und Theorie Eine medientheoretische Analyse! 209 4.1 McLuhan I 209 4.2 Teilhard de Chardins Konzept der Noosphäre in der Cyberpunk-Literatur I 252
4.3 Cyberpunk-Literatur als Ausdruck der Postmodeme I 267 4.4 Baudrillard I 270 V. Entwicklungen und Transformationen Analyse aktueller Tendenzen I 299 5.1 Auswirkung auf die ScienceFiction I 299 5.2 Der Einfluss der Cyberpunk-Literatur auf die klassische Science Fiction I 300 5.3 Transformationen der Cyberpunk-Literatur: Post-Cyberpunk und New Space Opera I 310 VI. Fazit I 321 VII. Literatur I 333 Primärtext I 333 Buchpublikationen I 335 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel I 345 Internetdokumente I 34 7
Dank
Die Realisierbarkeit jedes Projekts hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab - nicht zuletzt auch von der Finanzierbarkeit. Diese Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung ermöglicht; für diese Unterstützung sowie die vorbildliche Stipendiatenbetreuung bedanke ich mich herzlich. Ohne die wertvollen Anregungen, aufmuntemden Gespräche und die geduldige Hilfe vieler Menschen wäre diese Arbeit nicht entstanden. Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Timo Skrandies, der großes Vertrauen in mich gesetzt und mich während der gesamten Promotion mit viel Freundlichkeit und Geduld betreut hat. Ihm ist es gelungen, mir bei der Gestaltung und dem Verfassen dieser Arbeit alle Freiheiten zu lassen, dabei jedoch stets im Auge zu behalten, an welchen Stellen es kritisch und lenkend einzugreifen galt. Auf diese Weise hat er meine wissenschaftliche Entwicklung sowie den Fortschritt dieser Arbeit durch inspirierende Diskussionen auf eine immer bereichemde und nicht besser vorstellbare Weise gefördert. Ferner gilt mein Dank Prof. Dr. Shingo Shimada, der kurzfristig bereit war die Zweitbegutachtung dieser Arbeit zu übernehmen. Dr. Andreas Drinkhuth danke ich herzlich für die zahlreichen Gespräche, das anspornende Interesse und den ungebrochenen Glauben an das Gelingen meines Vorhabens. Kar!-Heinz Eden danke ich für sein Vertrauen, seine Unterstützung und das zugewandt-kritische Interesse an meiner Arbeit. Yoshio Kobayashi und Prof. Dr. Takayuki Tatsumi gilt mein Dank dafür, dass sie mich nach Japan eingeladen und mir eindrucksvolle Einblicke in ihre Erinnerungen an die frühe Cyberpunk-Bewegung gewährt haben. Sie haben es mir ermöglicht, auf der Nippon Worldcon 2007 vor einem japanischen Fachpublikum über meine Forschungsergebnisse zu sprechen - einer der Höhepunkte meiner Promotion. Der Cyberpunk-Autorin Pat Cadigan danke ich dafür, dass sie sich die Zeit für mehrere Gespräche mit mir genommen und dabei viele Fragen beantwortet hat. Lewis Shiner, Bruce Sterling, John Shirley, Richard Kadrey und Michael Swanwick danke ich für die Bereitschaft mir per Email Rede und Antwort zu stehen - anderenfalls wären einige Fragen bezüglich der Formierung der Cyberpunk-Bewegung niemals zu beantworten gewesen.
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I DANK
Den beiden Korrektorinnen Gabi Bisehoff und Viktoria Kaiser danke ich für die Durchsicht der Arbeit und für das Einspringen in der Not. Judith und Lena danke ich für die vielen aufheiternden Momente in der Bibliothek; Dennis für seine Unterstützung auf der Zielgeraden. Meinem Vater und ganz besonders meiner Mutter danke ich für all den Rückhalt, die liebevolle Unterstützung und die unendliche Zuversicht. Sie haben mir die notwendige Ruhe und Sicherheit für die Erstellung dieser Arbeit gegeben. Boris danke ich von ganzem Herzen für seinen Glauben an mich und seine Hilfe beim täglichen Fortschreiten dieser Arbeit. Danke.
Einleitung
Seit über 25 Jahren geistert innerhalb der ScienceFiction der Begriff Cyberpunk umher. Mit dieser Bezeichnung werden im Allgemeinen Zukunftsromane charakterisiert, die sich im weitesten Sinne mit Computern, kybernetischen Körperteilen, virtuellen Welten und angewandter Biotechnologie beschäftigen. Ebenso sind auch dystopische Zukunftswelten, amoralische Figuren und ein entfesselter Kapitalismus gerne Signalgeber, die dazu führen, dass ein Science-Fiction-Werk in der Vermarktung oder der Diskussion als Cyberpunk eingestuft wird. Ursprünglich als diffuser Sammelbegriff für eine Reihe neuer ScienceFiction-Autoren und deren Romane gebraucht, bezeichnete Cyberpunk bald die literarische Speerspitze der künstlerischen Auseinandersetzung mit Schlüsselphänomenen des Zeitalters der Postmoderne. Folglich handelte es sich bei Cyberpunk zunächst um eine subversive Neuerungsbewegung innerhalb der Science Fiction der 1980er Jahre. Doch schon bald verkamen die neuen inhaltlichen Elemente zu stereotypen Bausteinen, die vielfach nachgeahmt und schlecht kopiert wurden. Inzwischen hat der Begriff weit über den Science-Fiction-Literaturbetrieb hinaus Verwendung gefunden und bezeichnet eine Fülle von heterogenen Phänomenen aus den Bereichen Computerkriminalität, Mode und Musik. Diese Arbeit ist gänzlich der Untersuchung der Entstehung, Entwicklung und bestimmenden Paradigmen dieser ebenso einflussreichen wie kurzlebigen literarischen Strömung gewidmet. Ausgangspunkt ist dabei die Vorstellung, dass es sich bei Cyberpunk um eine literarische Avantgardebewegung handelt, deren Forderungen an die zeitgenössische Science Fiction sich in spezifischer Art und Weise in ihren eigenen Werken niederschlugen. Daher sollen diese auf inhaltliche, ästhetische, gesellschaftliche und auch theoretisehe Implikationen analysiert werden, um dann in Bezug zur konventionellen ScienceFiction gestellt zu werden. Kern und Ursprung der Cyberpunk-Literatur bildete eine Gruppe junger Autoren um die Science-Fiction-Schreiber Bruce Sterling und William Gibson, die ab Anfang der 1980er Jahre begannen, gemeinsam eine neue Art der Science Fiction zu propagieren. Unzufrieden mit der von ihnen wahrgenommenen Stagnation dieser Literaturgattung griffen sie die zeitgenössische Science Fiction und deren Konventionen in ihren Schriften und Auftritten
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vehement an. Anstatt weiterhin apokalyptische Endzeitszenarien oder eskapistische Weltraumabenteuer in fremden Galaxien zu beschreiben, entwarfen die Cyberpunk-Literaten in ihren eigenen Erzählungen plastische Großstadtvisionen der nahen Zukunft. Dabei skizzierten sie das Bild einer von moderner Technik geprägten Gesellschaft, in der der Mensch und seine Technologien eine hochgradige Verschmelzung erfahren hatten. Den ultimativen Ausdruck dieser Symbiose von Mensch und Technik bildet in vielen Romanen schließlich eine virtuelle Welt, in die sich der Mensch über eine Direktschaltung zwischen Gehirn und Computer einzuklinken vermag. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine sowie die kritische Reflexion über die zunehmende Technisierung der Gesellschaft und deren Einfluss auf das Individuum sind Kernthemen des literarischen Cyberpunk. Denn anders als die konventionelle Science Fiction spekulierten die Cyberpunk-Literaten in ihren Werken nicht über die ferne Zukunft, sondern reflektierten das zeitgenössische politische und gesellschaftliche Geschehen. Den Fokus bildete dabei die Frage nach dem Individuum in einer zunehmend von Hochtechnologien und Massenmedien geprägten Wirklichkeit. Die Cyberpunk-Literatur spiegelt das Bild einer modernen Gesellschaft, die sich in einem unaufhaltsamen Prozess des Wandels zu einer von elektronischen und digitalen Medien bestimmten Welt befindet und von grundlegenden Paradigmenwechseln gezeichnet ist. Für ihre Darstellungen griffen die Cyberpunk-Literaten Beobachtungen und Erfahrungen ihrer eigenen Alltagswelt der 1980er Jahre auf, um zeitgenössische Trends und Entwicklungen in fiktiven Zukünften weiterzuführen. Meiner Ansicht nach sind diese Erzählungen daher als literarische Analysen der Gegenwart zu lesen, die sich mit zeitgenössischen Ängsten und Prognosen auseinandersetzten, wobei die Cyberpunk-Literaten nach meiner Einschätzung über ihre eigene Wahrnehmung hinaus von zeitgenössischen Theorien beeinflusst waren, deren Ideen und Konzepte sich deutlich in ihren Werken niederschlugen. So ist es interessant zu sehen, dass sich in vielen Werken des literarischen Cyberpunk Denkansätze der modernen Medientheorien wiederfinden. Gedanken des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan oder des französischen Medienphilosophen Jean Baudrillard tauchen in Cyberpunk-Erzählungen auf und erfahren in ihrer künstlerischen Umsetzung eine Interpretation. So komme ich zu einer der Hauptthesen dieser Arbeit, dass die Cyberpunk Literatur als eine Fiktionalisierung bestimmter zeitgenössischer Medientheorien zu verstehen ist. Aus akademischer Sicht wurde sich der Cyberpunk-Literatur bereits aus vielfältigen Disziplinen und Perspektiven genähert. Kulturwissenschaftliche Ansätze haben nach der Darstellung von Fragmentierung von Identität und
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Kultur innerhalb der Cyberpunk-Literatur gefragt\ poststrukturalistische Ansätze beschäftigten sich damit, wie Cyberpunk innerhalb der Diskussion um die Postmodeme zu verstehen sei, 2 und die Gender Studies interessierten sich für das Hybridwesen des Cyborgs und dessen Bedeutung für die Geschlechterverhältnisse.3 Selbst in der Architektur haben Auseinandersetzungen mit den literarischen Extrapolationen der Cyberpunk-Literaten stattgefunden; dort wurden besonders die Raumkonzepte artifizieller Megastädte und deren organische Baumaterialien näher beleuchtet. 4 In der Zukunftsforschung wiederum wird darauf hingewiesen, dass Cyberpunk-Werke als nicht-intendierte, künstlerisch-fiktive Technikfolgenabschätzung gelesen werden können. Die Artifizialanthropologie beschäftigt sich mit der Darstellung des künstlichen Menschen in diesem Subgenre der Science-Fiction-Literatur.5 Die Vielfalt der Ansätze spricht eindeutig für den Facettenreichtum der Cyberpunk-Literatur. Umso erstaunlicher scheint es, dass eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand an sich bisher kaum stattgefunden hat: Die Entwicklungsgeschichte der Cyberpunk-Literatur, ihrer Traditionen und literarischen Bezüge, sowie ihre Stellung innerhalb der Science Fiction liegen bis
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V gl. bspw. CA VALLARO, Dani: "Cyberpunk and Cyberculture. ScienceFiction and the Work of William Gibson"; The Althone Press, London 2000 und T ATSUMI, Takayuki: "Full Meta! Apache: Tranmetions Between Cyberpunk Japan and Avant-Pop America"; Duke University Press, London und Durharn 2006. Vgl. bspw. OLSEN, Lance: "Cyberpunk and the Crisis ol Postmodernity"; In: SHIPPEY, Tom; SLUSSER, George (Hrsg.): "Fiction 2000. Cyberpunk and the Future ofNarrative"; The University of Georgia Press; Athens 1992, S. 142-152 und CSICSERY -RONA Y JR., Istvan: "Cyberpunk and Neuromanticism"; In: McCAFFERY, Larry (Hrsg.): "Storming the Reality Studio. A Casebook ol Cyberpunk and Postmodern Science-Fiction"; Duke University Press, Durharn und London 1991, S. 182-193 sowie KELLNER, Doug1as: "Media Culture. Cultural Studies, Identity and Politics Between the Modern and the Postmodern"; Routledge, London und New York, 1995. V gl. HARA WA Y, Donna: "A Manif'esto for Cyborgs: Science, Technology and Socialist Feminism in the 1980s" In: NICHOLSON, Linda (Hrsg.): "Feminism I Postmodernism"; Rout1edge, New York 1990, S. 190-233 (zuerst 1985). V gl. WITTKE, Karsten: "Architekturphantasien im Science-Fiction-Roman Schismatrix von Bruce Sterling"; In: GEIGER, Annette; HENNECKE, Stefanie; KEMPF, Christin Kempf (Hrsg.): ,,Imaginäre Architekturen. Raum und Stadt als Vorstellung"; Reimer, Ber1in 2006, S. 199-221. V gl. T ABBERT, Thomas T.: "Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons: Avatare, Künstliche Intelligenzen, telematische Kyborge, virtuelle Idole"; Artis1ife Press, Harnburg 2008.
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heute weitgehend im Dunkeln. Auch auf die meiner Ansicht nach die Cyberpunk-Literatur konstituierende Auseinandersetzung mit medientheoretischen Konzepten wurde bisher praktisch nicht eingegangen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, auf dieses Desiderat der medien- und Iiteraturwissenschaftlichen Forschung einzugehen und damit die Besonderheiten des gesamten Cyberpunk-Phänomens zu entschleiern. Die Grundlage für dieses Vorhaben wird mit dem ersten Kapitel Science Fiction - eine Bestandsat!fnahme geschaffen. Hier soll zunächst die Forschungsgeschichte und der aktuelle Stand der anglo-amerikanischen Science Fiction Studies dargelegt werden, wobei auch auf die Besonderheiten der deutschsprachigen Science-Fiction-Kritik kurz eingegangen wird. Auf diesem Weg werden die im weiteren Verlauf der Arbeit dargelegten Analysen in die Theoriebildung und die Traditionen der akademischen Science-Fiction-Forschung eingebettet. Zugleich können erste Hinweise auf die herausragende Stellung der Cyberpunk-Literatur innerhalb der Science-Fiction-Literatur sowie in der akademischen Auseinandersetzung gegeben werden. Um die Cyberpunk-Literatur später in den Kontext der literarischen Science Fiction einordnen zu können, wird hier überdies ein historischer Abriss dieser Literaturgattung nachgezeichnet, in dem die Wurzeln, Traditionen und Ansprüche dieses Genres vorgestellt werden. Aus der allgemeinen Geschichte der Science-Fiction-Literatur leitet das zweite Kapitel Cyberpunk- Neue Welten, neue Texte in die Entstehungsgeschichte der Cyberpunk-Literatur über. Da es bis heute keine Arbeit gibt, die auf die Formierung der sogenannten Movement-Gruppe der Cyberpunk-Autoren tatsächlich eingeht, wurden hier Aufsätze, Zeitschriftenartikel, Interviews, das Cyberpunk-Manifest sowie das von Bruce Sterling herausgegebene Fanzine "Cheap Truth" als Quellen herangezogen. Die einzelnen Fragmente werden schließlich zu einer Entstehungsgeschichte jener literarischen Bewegung zusammengeführt, aus der die Cyberpunk-Literatur hervorgegangen ist. Im Anschluss wird die Begriffsgeschichte des Neologismus Cyberpunk nachgezeichnet und die verschiedenen Bezugs- und Bedeutungssysteme dieses Wortes werden erläutert. Danach wird eine Abgrenzung der Cyberpunk-Literatur von der klassischen Science Fiction auf verschiedenen Ebenen vorgenommen. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Hinblick auf Zukunftswelten, Charaktere, Technologien, Materialitäten und Oberflächen, Handlungsräume und literarische Stilistiken in konventioneller Science Fiction und Cyberpunk werden detailliert beschrieben und verglichen. In dieser Gegenüberstellung offenbart sich auch die Differenz zwischen den Erzählungen der klassischen Science Fiction und denen des Cyberpunk sowie der neuer literarische Anspruch von dieser.
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Schließlich soll herausgearbeitet werden, dass sich die klassische Science Fiction und die Cyberpunk-Literatur über Stil und Inhalt hinaus auch in ihren dahinterliegenden Wertvorstellungen grundlegend voneinander unterscheiden. Dabei wird gezeigt werden, dass die humanistische Weltsicht der klassischen ScienceFiction in der Cyberpunk-Literatur ahumanistischen und im weitesten Sinne postmodernen Sinnfindungsmustern weichen muss. Mit der Herausarbeitung dieser Unterschiede wird an dieser Stelle auch die Begriffsbestimmung des literarischen Cyberpunk vorbereitet, bei der diese Literatur als Fiktionalisierung von postmodernen und medientheoretischen Konzepten verstanden wird und mit welcher das zweite Kapitel schließt. Das dritte Kapitel Cyberpunk- Werke und Konzepte setzt sich aus drei Teilen zusammen. Im ersten Teil wird ein historischer Abriss der Cyberpunk-Literatur nachgezeichnet und ein Bezug zu anderen literarischen Strömungen (insbesondere zur sogenannten New Wave) innerhalb der Science Fiction hergestellt. Der zweite Teil dient dem Überblick über die und der Besprechung der siebzehn wichtigsten Cyberpunk-Werke. Die Besprechung der einzelnen Erzählungen ist nach den Punkten: Entstehung, CyberpunkElemente, Welt/Umwelt, Protagonist, Inhalt, Form und Diskursive Inhalte geordnet. Neben der Sichtung der wichtigsten Cyberpunk-Arbeiten und der Vorstellung ihrer literarischen Vielfalt dient dieser Teil als Grundlage für die medientheoretisch orientierte Lektüre und Analyse der Cyberpunk-Literatur im vierten Kapitel. Im abschließenden Teil des dritten Kapitels werden die vorgestellten Werke zueinander in Beziehung gesetzt, die Gemeinsamkeiten und Differenzen herausgearbeitet und der vorhergehende Abschnitt kurz zusammengefasst. Im vierten Kapitel Cyberpunk und Theorie - Medientheoretische Diskurse wird die Cyberpunk-Literatur auf ihre medientheoretischen Bezüge hin untersucht. Da in diesem Zusammenhang insbesondere die Theorien Marshall McLuhans, Pierre Teilhard de Chardins und Jean Baudrillards von Relevanz sind, werden die Gedanken und Konzepte dieser Autoren zunächst vorgestellt, um im Anschluss deren Fiktionalisierung in der Cyberpunk-Literatur darzustellen. Die Untersuchung im Hinblick auf das Theoriegebäude McLuhans konzentriert sich dabei im Wesentlichen auf die Umsetzung des McLuhan'schen Medienbegriffs, der Implosion, Retribalisierung und des Konzepts von Medien als Körpererweiterung. Hier soll herausgearbeitet werden, dass sich die Cyberpunk-Literaten in ihren Werken von der Vorstellung McLuhans leiten ließen, dass Medien und Technologien das Denken, Fühlen und Wahrnehmen des Menschen grundlegend prägen. Daran anschließend werden ausgewählte Werke auf die Umsetzung von Teilhard de Chardins Konzept der Noosphäre befragt und auf die für die Cyberpunk-Literatur typischen Schilderungen einer wie auch immer gearteten
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Singularität bezogen. Zuletzt wird die Cyberpunk-Literatur auf die Inszenierung der Baudrillard'schen Kategorien der Simulation und Hyperrealität hin analysiert und als Weiterentwicklung der Ideen des französischen Medienphilosophen gelesen. Im fünften Kapitel Entwicklungen und Transformationen - Analyse aktueller Tendenzen werden die Auswirkungen der Cyberpunk-Literatur auf die literarische Science Fiction erörtert, wobei hier neben der klassischen Science Fiction besonderes Augenmerk auf sogenannte Post-Cyberpunk-Literatur und die NewSpace Opera gelegt wird. Dabei soll dargestellt werden, inwiefern es den Cyberpunk-Literaten gelungen ist, das progressive Potential des Genres wiederzubeleben und die literarische Science Fiction als Spannungsfeld für zeitgenössische gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Diskurse zu eröffnen. Im Fazit werde ich schließlich meine Bemühungen noch einmal zusammenfassen und darauf hinweisen, dass es den Cyberpunk-Literaten durch ihren Rückgriff auf geistes- und medienwissenschaftliche Theorien und Debatten gelungen ist, die Science-Fiction-Literatur nachhaltig zu prägen. Der Originaltitel dieser Arbeit "The sky above the port was the color of television, ... Literarische Fiktionen und Medientheorie. Eine Cyberpunk Monographie" verweist auf den ersten Teil des Eröffnungssatzes jenes Romans, der im gesamten Kosmos der akademischen und populärkulturellen Auseinandersetzung um die Cyberpunk-Literatur die wohl größte Aufmerksamkeit erfahren hat: "The sky above the portwas the color oftelevision, tuned to a dead channel." Wie Jack Womack in seinem Vorwort zu "Neuromancer" festhält, haben große Romane große erste Sätze. 6 Im Falle des Eröffnungssatzes von Gibsons Debütroman handelt es sich dabei um nicht weniger als das ultimative Sinnbild der literarischen Ästhetik sowie der medienphilosophischen Implikationen des gesamten Cyberpunk-Phänomens. Denn das Eröffnungsbild von "Neuromancer", dessen Grundlage die Nutzung eines technischen Zustandes als Metapher für die Beschreibung der Natur bildet, führt den Leser sogleich in eine Welt, die eine totale Implosion von Natur und Technologie erfahren hat. Die für das Medienzeitalter charakteristische Verbundenheit zwischen Technik und Natur tritt hier offen zu Tage und macht deutlich, dass in der Welt des Cyberpunk natürliche Phänomene nicht mehr getrennt von Technologie wahrgenommen und gedacht werden können. Ebendiese Verknüpfung von Natur und Technik, Körper und Maschine, Gewachsenem und Erschaffenem bildet den Grundgedanken der Cyberpunk-Literatur und zieht sich thematisch durch alle Werke dieser Gattung. 6
Vgl. WOMACK, Jack: "Vorwort"; In: GIBSON, William: "Die NeuromancerTrilogie"; Heyne Verlag, München 2000, S. 8.
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Gleiches gilt für das Metaphysische, welches sich in Gibsons Bild des Fernsehhimmels manifestiert. Der Himmel, der Ort der Transzendenz, wird hier als Informationskanal gesetzt und findet seine Entsprechung in der von Cyberpunk-Literaten vielfach beschriebenen technologischen Singularität. Diese ist als letzte Heilsversprechung in einer zunehmend technisierten und von Simulationen bestimmten Welt zu verstehen; wie wir später sehen werden, wird Erlösung m der Cyberpunk-Literatur gleichgesetzt mit (Selbst-)Auflösung im digitalen Code. Es verwundert daher wenig, dass es sich bei der besagten Passage Gibsons um die wohl meistzitierte innerhalb des Diskurses um die CyberpunkLiteratur handelt. Dementsprechend möchte auch der Titel dieser Arbeit auf diesen Eröffnungssatz rekurrieren, der einen Meilenstein in der literarischen Science Fiction markiert. Der im zweiten Teil des Titels aufgebrachte Begriff der literarischen Fiktion wiederum leitet sich aus dem Verständnis der Science-Fiction-Literatur als Verbindung zwei er Bereiche ab, jenem der faktischen Wissenschaft und jenem, was zukünftig denkbar oder auch wünschenswert sein könnte. Die literarische Fiktion beschreibt demnach im Sinne des akademischen Diskurses um die ScienceFiction ein konstitutives Moment der Weltveränderung, die als Strategie der literarischen Erdichtung eine Realität vorspiegelt, die sich auf den ersten Blick von der zeitgenössischen Wirklichkeit unterscheidet. Literarische Fiktion meint in diesem Zusammenhang folglich, dass sprachlich etwas verwirklicht wird, was ausschließlich unter künstlichen, den Wahrheitsbegriffen entzogenen Bedingungen der Gattung realisierbar wird. 7 Literatur ist auch jenseits der Science Fiction dadurch gekennzeichnet, dass sie sich durch ein spezifisches Repertoire an Signalen als fiktional zu verstehen gibt. Gleichzeitig verfügt sie jedoch über vielfältige Realitätsfragmente. Die Fiktionssignale ergeben sich erst aus historischen sowie genrespezifischen Konventionen und müssen von Autor und Leserschaft gleichermaßen dekodiert werden. Die literarische Fiktion ist somit als ein Kontrakt zwischen Autor und Leserschaft zu verstehen, in dem die wirkliche Welt in Klammem gesetzt wird, um zu verstehen zu geben, dass die dargestellte Welt so verstanden werden soll, als ob sie eine gegebene sei. In diesem Sinne werden in der fiktionalen Literatur Weltanschauungen und -bilder ausgelotet, wodurch literarische Fiktionen nicht zuletzt auch als eine Form des inszenierten Diskurses zu verstehen sind. 8 7
Vgl. SUERBAUM, Ulrich, BROICH, Ulrich, BORGMEIER, Raimund: "Science Fiction. Theorie und Geschichte, Themen und Typen, Form und Weltbild'; Reclam, Stuttgart 1981, S. II.
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Vgl. ISER, Wolfgang: "Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie."; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, S. 35ff.
I. Science Fiction eine Bestandsaufnahme
1.1 WAS IST 5CIENCE FICTION? SCHWIERIGKEITEN DER EINGRENZUNG UND DEFINITIONSBILDUNG "Defining science fiction is like measuring the properties of an electron: you may think you're measuring a solid object, but it's really a wispy cloud. Even its names Iead to disputes."'
Unter der Bezeichnung Science Fiction werden eine ganze Reihe von Autoren aus unterschiedlichen Epochen zusammengefasst. Die Erzählungen dieser Autoren unterscheiden sich meist deutlich in ihrem Inhalt, ihrem Stil und dem Weltbild, welches den jeweiligen Geschichten zugrunde liegt. So wird beispielsweise das auf Unterhaltung ausgerichtete Weltraumabenteuer, in dem ein exotisch anmutender Planet erobert und eine Prinzessin gerettet wird, ebenso als Science Fiction bezeichnet wie ein Text, der die ,Innenwelt' einer Maschine beschreibt, die den Prozess der Bewusstseinserlangung durchläuft. Science-Fiction-Literatur gibt es in vielen Spielarten, sie ist zahlund facettenreich. Ebenso unterschiedlich wie die Science Fiction selbst sind die Herangehensweisen und Positionen, aus denen heraus sich dieser Literatur genähert wird. Dies gilt im Besonderen für die vielen Ansätze, die eine Grundlage für die weitere Beschäftigung mit dieser Textgattung zu schaffen versuchen und eine Definition bzw. Begriffsbestimmung dieser Gattung zu leisten sich bemühen. Daher erscheint es wenig verwunderlich, dass man in den verschiedenen Definitionen auf sehr unterschiedliche Ansichten darüber stößt, welche konkret die obligatorischen Motive, Inhalte oder Stilarten sind, die einen Science Fiction Text ausmachen. Zwar gibt es viele als kanonisch gestufte Klassiker der Science Fiction, doch bei sehr vielen anderen Texten gibt es Vgl. CANDELARIA, Matthew; GUNN, James (Hrsg.): "Speculations on Speculation: Theorie.\· of"Science Fiction"; Scarecrow Press, Lanham 2005, S. ix.
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widersprüchliche Meinungen dazu, ob die einzelnen Werke als dieser Literaturgattung zugehörig zu bezeichnen sind. Als bekannteste Beispiele sind in diesem Zusammenhang wohl Autoren wie Orwell und Huxley zu nennen, die in vielen Quellen als Vertreter der Science Fiction gewertet, genauso oft aber auch als Autoren jenseits der ScienceFiction bezeichnet werden. In der Diskussion um die Entstehungsgeschichte und Tradition der Science Fiction setzen sich die Differenzen über diese Literatur fort. Darüber hinaus gibt es vielfältige und sich oftmals widersprechende Ansätze, ob und wie die Science-Fiction-Literatur von Gattungen wie dem Märchen, der sogenannten Fantasy Literatur, der Utopie oder der aktuellen Slipstream-Literatur abzugrenzen ist oder ob es sich nicht zumindest bei den letzten beiden lediglich um eine Spielart der Science Fiction handelt. 2 Auch in den Beschreibungen der Eigenschaften und Grenzen zwischen den vielen Untergattungen und -themen der Science-Fiction-Literatur selbst (wie z.B. Space Opera, Zeitreise, hard SF, Militärische SF, Sozialkritische SF, Alternative Realitäten usw.) finden sich sehr viele unterschiedliche Einschätzungen und Ansätze. Darüber hinaus handelt es sich bei der ScienceFiction um eine Literaturgattung, die in vielerlei Hinsicht von zeitgenössischen Trends und Entwicklungen geprägt ist und sich daher schnell wandeln kann. So entstehen immer wieder neue Strömungen, in denen sich jeweils unterschiedliche zeitgenössisehe Thematiken, Motive und Schreibweisen spiegeln. Die Science Fiction erweist sich daher sowohl inhaltlich als auch stilistisch als eine recht heterogene Literaturgattung. Die Bildung einer eng umgrenzten Definition für einen Gegenstand, der einem derart beständigen Wandel ausgesetzt ist, stößt folglich auf große Schwierigkeiten. Der russische Science-Fiction-Autor Genrich Saulowitsch Altschuller (unter seinem Psydonym Genrikh Altov) umreißt dies so: "Like the photon that is never completely at rest, SF can only exist in a state of flux and evolution." 1
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Der Begriff Slipstream ist 1989 erstmals in einem Artikel von Bruce Sterling aufgetaucht und wurde von dem Autor dafür verwendet, Literatur zu beschreiben, welche neben vielen anderen Merkmalen auch über Science Fiction Elemente verfügt, jedoch keine Science Fiction ist, sondern zwischen verschiedenen Genrekonventionen oszilliert; vgl. STERLING, Bruce: "Slipstream"; SF Eye #5, Juli 1989. AL TOV, Genrikh: "Levels ofNarrative Ideas: Calors on the SF Palette"; In: Science Fiction Studie.\· # 15, Juli 1978, http://www.depauw.edu/sfs/backissues/15/ altov 15art.htm.
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Dabei mangelt es keineswegs an Vorschlägen, wie und wodurch Science Fiction zu beschreiben sein könnte. Allerdings fällt bei genauerer Betrachtung auf, dass die vorgeschlagenen Definitionen häufig nur aus einer spezifisehen Perspektive funktionieren können. So werden lediglich Teilbereiche berücksichtigt, die sich im Vergleich miteinander oftmals als inkompatibel und widersprüchlich erweisen. Definitionen beispielsweise, bei denen der Schwerpunkt auf wissenschaftlichen Beschreibungen von Funktionsweisen neuer Technologien im Mittelpunkt der Betrachtung liegt, sind offensichtlich auf einer anderen Ebene angesiedelt, als Definitionen, die die phantastisehen Elemente und die Brillanz der intellektuellen Gedankenspiele des Autors als die ausschlaggebenden Merkmale hervorheben. 4 Die Problematik der Verortung dieser Literaturgattung zeigt sich überdies auch in der Forschungsliteratur, die die Science Fiction zumeist so definiert, wie es sich für das Vorhaben des jeweiligen Autorsam besten eignet; ein Umstand, der nicht nur zu stetig neuen und oft sehr eng gefassten Definitionen der Science-Fiction-Literatur führt, sondern auch dazu beiträgt, dass sich mit der Unbestimmbarkeit dieser Literaturgattung kaum auseinandergesetzt wird. 5 Bereits die 1979 erschienene Ausgabe der "Encyclopedia of Science Fiction" sah sich veranlasst, zweiundzwanzig Definitionen der Science Fiction aufzulisten, da keine einzige es für sich genommen vermochte, den Forschungsgegenstand mit der von den Herausgebern geforderten Schärfe einzugrenzen. 6 In vielen anderen Fällen lassen die Autoren die Frage nach einer Definition bewusst offen und weichen so den Schwierigkeiten der Bestimmung dieses Sujets gänzlich aus. Trotz des starken Bedürfnisses und des Bewusstseins um die Problematik, die Science Fiction definitorisch zu erfassen, herrscht folglich eine gewisse Beliebigkeit in den Strategien der Abgrenzung des Gegenstandes. Allerdings findet in akademischen Texten zur Science Fiction erst seit jüngster Zeit eine grundlegende Auseinandersetzung mit diesen Schwierigkeiten der Definition des eigenen Forschungsgegenstandes statt_1 In den vor diesem Hintergrund entstandenen Begriffsbestimmungen wird von den Au4 5 6 7
Vgl. BRODERICK, Damien: "Reading by Starlight: Postmodern Science Fiction"; Routledge, London und New York 200 I, S. 6f. HEUS ER, Sabine: ,,Virtual Geographies: Cyberpunk at the lntersection ol the Postmodern and ScienceFiction"; Rodopi, New York 2003, S. xxvf. Vgl. NICHOLLS, Peter (Hrsg.): "The Encyclopedia ofScience Fiction"; Granada Publishing, London und New York 1979, S. 159ff. An dieser Stelle sei beispielhaft auf die ausführlichen Auseinandersetznngen mit der Definitionsproblematik in Adam Roberts' "ScienceFiction (The New Critical Idiom)" und in Damien Brodericks "Reading by Starlight: Postmodern Science Fiction" hingewiesen.
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toren in der Regel beschrieben, was ihrer Ansicht nach alles Science Fiction sein kann, wobei dabei jedoch verstärkt eine gewisse Offenheit gepflegt wird, die es ermöglicht, später weitere Aspekte hinzuzufügen. 8 Zunehmend ist so ein Bewusstsein dafür entstanden, dass es praktisch unmöglich ist, die Science Fiction endgültig auf bestimmte Merkmale zu begrenzen und dabei dennoch alle ihre Autoren, die vielzähligen Untergattungen sowie ihre vielfältigen Themen und Inhalte zu berücksichtigen, da für eine derartige Begrenzung die Science Fiction zu durchlässig und zu unbestimmbar ist. Die Vielfalt an Möglichkeiten der akademischen Beschäftigung mit Science Fiction, die selbst immer wieder zu Verschiebungen der definitorischen Grenzen führen, belegt dies. In neueren Forschungsansätzen wird folglich die Möglichkeit und der Sinn einer allgemeingültigen Definition zur Diskussion gestellt. Der poststrukturalistisch orientierte Autor und Kritiker Samuel R. Delany geht sogar so weit, die Undefinierbarkeit als ein wesentliches Merkmal dieses literarischen Genres zu bezeichnen. So sieht er die Science Fiction als eine grundsätzlich eigene sprachliche Ausdrucksform, die anders als ,normale' (Hoch-)Literatur gelesen werden muss. 9 Ausgehend von derartigen Überlegungen setzt sich in neueren wissenschaftlichen Arbeiten zunehmend die Ansicht durch, dass diese Literaturgattung nach einer unkonventionellen Definitionsform verlangt. Eine Verortung der Science-Fiction-Literatur muss folglich mit dem Anspruch auf Eindeutigkeit und auf genaue Abgrenzungen von Definitionen im herkömmlichen Sinn brechen und stattdessen das Charakteristikum der Unschärfe berücksichtigen. Erst mit derart unkonventionellen Eingrenzungsformen, die ihrem Wesen nach eher Begriffsbestimmungen sind denn strikte Definitionen im Iiteraturwissenschaftlichen Sinne, kann es gelingen, der Dynamik und Vielgestaltigkeit der Science Fiction gerecht zu werden.
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Vgl. ROBERTS, Adam: "ScienceFiction (The New Critical Idiom)"; Routledge, London und New York 2000, S II ff. Vgl. BRODERICK, Damien: "Reading by Starlight: Postmodern Science Fiction"; a.a.O.; S. 155.
SCIENCE FICTION- EINE BESTANDSAUFNAHME
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GESCHICHTE DER AKADEMISCHEN SCIENCE-FICTION-KRITIK
Vorbemerkungen Seit den Anfängen des modernen Buchhandels und Verlagswesens im 19. Jahrhundert erfreuen sich wissenschaftlich-phantastische Erzählungen einer großen Beliebtheit, wachsenden Erfolges und internationaler Verbreitung. Anders als die wissenschaftliche Phantastik avancierte die Science-FictionLiteratur allerdings erst im späten 20. Jahrhundert zu einem allgemein akzeptierten Forschungsgegenstand der Literatur-, Sozial- und Kulturwissenschaften. 10 Erzählungen mit wissenschaftlich-phantastischen Elementen lassen sich bereits in der frühen Antike aufspüren (z.B. der Mythos von Dädalus und Ikarus) und ziehen sich seitdem durch die Literaturgeschichte (z.B. etwa bei Voltaire, E.T.A. Hoffmann, Jules Veme). Derartige Erzählungen wurden allerdings niemals aufgrund der Gemeinsamkeit der Nutzung wissenschaftlich-phantastischer Elemente als zusammengehörig beschrieben, da sie sich bis auf ebendas Element der wissenschaftlichen Phantastik zu heterogen gestalteten und überdies aus völlig unterschiedlichen Literaturepochen stammten. Erst die wachsende Zahl an Erzählungen, in denen phantastische Technikextrapolationen das zentrale Element darstellten und welche ab den 1920er Jahren bevorzugt in sogenannten ,Pulp'-Magazinen veröffentlicht wurden, führte dazu, dass diese 1926 mit dem Etikett , Science Fiction' versehen wurden. Das im Jahr 1926 erschienene erste reine Science-FictionMagazin ,,Amazing Stories'' ist folglich auch als ein Resultat des gehäuften Erscheinens derartiger Erzählungen zu verstehen und diente als Versuch, diese neue Art von Geschichten als eine eigene Erzählform mit bestimmten Inhalten und Thematiken zu installieren. ,,Amazing Stories'' startete in den USA mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren und wurde innerhalb kurzer Zeit genreübergreifend zu einem der erfolgreichsten Pulps überhaupt. 11 Erstmals entstand ein Bewusstsein dafür, dass es sich bei der wissenschaftlichen Phantastik um eine Literaturgattung mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und verschiedenen Untergruppierungen handelte.
10 Vgl. DURST, Uwe: "Theorie der phantastischen Literatur"; Francke, Basel und Tübingen 200 I, S. 17f. II Vgl. ATTEBERY, Brian: "The magazine era: 1926-1960"; In: JAMES, Edward; MENDLESOHN, Farah (Hrsg.): "The Cambridge Campanion to Science Fiction"; Cambridge University Press, Cambridge 2003, S. 32f.
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Bereits in den frühen 1930er Jahren bildete sich eine spezifische Erscheinung in Verbindung mit dieser Literaturgattung heraus; Science-Fiction-Leser schlossen sich zu Clubs zusammen, die dem Informationsaustausch dienten, wofür eigene Zeitschriften und Fanzines herausgegeben wurden.12 Da die professionelle Literaturkritik die Science Fiction weitgehend unbeachtet ließ, versuchten sich die Science-Fiction-Leser in den Zeitschriften selbst als Kritiker. Auch wenn es sich bei den meisten in diesem Zusammenhang entstandenen Aufsätzen und Kritiken weniger um Beurteilungen nach literarisch-ästhetischen Wertungskriterien handelt als vielmehr um begeisterte Lobpreisungen persönlicher Lieblingsautoren, so haben die Leser hier Pionierarbeit für die Erfassung und Einordnung der Science Fiction geleistet.13 Tatsächlich gelang es in einigen Fällen überdies, erste theoretische Texte auf diesem Gebiet zu verfassen. Diese sind zwar nicht unbedingt als wissenschaftlich zu bezeichnen, zeigen sich indes aber bemüht, diese Literatur von ihrem Ruf als grundlegend trivial zu befreien. Besonders hervorgehoben wird dabei, dass es durchaus stilistisch und inhaltlich innovative Science-Fiction-Erzählungen gibt, die sich durch pädagogischen Nutzen und ein fortschrittliches Weltbild auszeichnen. 14
Erste Versuche der akademischen Annäherung an die Science Fiction Als die erste akademische Arbeit zur Science Fiction gilt die Dissertation ,,Pilgrims Through Space and Time: Trends and Patterns in Scientific and Utopian Fiction" von James Osler Bailey. Es ist bezeichnend, dass diese Arbeit bereits 1934 fertiggestellt wurde, sich aber dreizehn Jahre lang kein wissenschaftlicher V erlag fand, der bereit war, einen Beitrag zur Science Fiction in sein Programm aufzunehmen. Die Arbeit Baileys wurde daher erst im Jahre 1947 veröffentlicht. 15 Die Arbeit Baileys leistet eine erstmalige bibliographische Erfassung geläufiger Science-Fiction-Vorläufer sowie einiger der wichtigsten zeitgenössischen Werke. 16 Die einzelnen Werke sind darüber hinaus mit Kommentaren versehen sowie bestimmten Kategorien (wie z.B. The Cosmic Romance) 12 Vgl. WUCKEL, Dieter: "ScienceFiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte"; Olms Presse, Hildesheim 1986, S. 125. 13 Vgl. ebenda. 14 Vgl. ESSELBORN, Hans: "Die literarische ScienceFiction. Textband und Materialienband"; FernUniversität in Hagen, Hagen 2000, S. 12f. 15 Vgl. HASSLER, Donald M.: "The Academic Pioncers of'Science Fiction Criticism, 1940-1980"; ScienceFiction Studies #78, July 1999, http://www.depauw. edu/sfs/backissues/78/hassler78art.htm.
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bzw. Subkategorien (wie z.B. In Space, In Time, In Space-Time) zugeordnet, innerhalb deren sie wiederum chronologisch aufgelistet sind. Dieser Klassifizierung der einzelnen Werke schließen sich Untersuchungen zu Struktur, Motiv, Inhalt, Narration und Charakterisierung an (die Kapitelüberschriften lauten hier u.a. "Scaffolding: Structure, Narrative Method, and Characterization", "Substance: Conventions and Content Patterns" und ,Jnventions and Discoveries"). Bailey behält seinen kategorisierenden Zugang auch im analytischen Teil der Arbeit bei. In diesem ordnet und erläutert er zwar Motive und Inhalte wie Optimistic Ideas, Pessimistic Ideas, Points of View oder Endings, jedoch ohne Verbindungen zwischen den einzelnen Topoi zu schaffen oder diese in einen größeren Kontext innerhalb seiner Arbeit einzubinden. So versäumt es Bailey, sich über diese anekdotenhafte Katalogisierung hinaus dem Forschungsgegenstand Science Fiction als ganzem zu nähern und diesen kohärent zu beschreiben und einzugrenzen. Schlaglichtartig werden einzelne Aspekte erhellt, aber eine übergeordnete Bestimmung oder die Eröffnung einer akademischen Diskussion kommen nicht zustande. Dennoch bleibt es die große Leistung Baileys, in seiner Arbeit eine erste Bibliographie der Science-Fiction-Literatur erstellt zu haben. Die von ihm vorgestellten Werke haben bis auf wenige Ausnahmen ihren Platz als relevante Werke der Science-Fiction-Geschichte behaupten können, Anzeichen dafür, dass der Autor Pionierarbeit geleistet hat. "Pilgrims Through Space and Time" hat zu Recht vielen späteren Untersuchungen und Science-Fiction-Geschichtsschreibungen (wie z.B. für Brian Aldiss' "Der Milliarden Jahre Traum") als Basis gedient und wird daher als wichtige frühe Grundlagenarbeit bewertet. 17 In der wissenschaftlichen Literatur finden sich einzelne Verweise darauf, dass Philip Babcock Goves "The Imaginary Voyage in Prose Fiction" die erste akademische Beschäftigung mit der Science-Fiction-Literatur sei, diese Darstellung istjedoch irreführend. 18 Zwar ist diese 1941 erschienene Arbeit Baileys "Pilgrims Through Space and Time" tatsächlich um sechs Jahre vor16 Vgl. PHILMUS, Robert: "The Shape ofScience Fiction: Through the Historical Looking Glass"; In: Science Fiction Studie.\' #1, Spring 1973, http://www. depauw.edu/sfs/reviews_pages/r l.htm. 17 Zur Ehrung und Fortführung der Tradition Pilgrims wurde von der Science Fiction Research Association 1970 der Pilgrim-Award ins Leben gerufen, der seither jährlich zur Auszeichnung für herausragende wissenschaftliche Arbeiten im Feld der Science Fiction verliehen wird. Neben Science-Fiction-Forschern wie Darko Suvin und George E. Slusser wurde in jüngster Vergangenheit auch Fredric Jameson mit diesem Award ausgezeichnet. 18 Vgl. HASSLER, Donald M.: "The Academic Pioncers ofScience Fiction Criticism, 1940-1980"; a.a.O.
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aus, allerdings beschäftigt sich Gove in seiner Arbeit nur mit Werken, die im Zeitraum von 1700 bis 1800 entstanden sind und daher der Phantastik bzw. den Vorgängern der Science-Fiction-Literatur zugerechnet werden können. Die moderne Science Fiction, mit welcher sich Bailey beschäftigt, ist jedoch nicht Gegenstand der Arbeit Goves. So bemerkenswert diese beiden Arbeiten in vielerlei Hinsicht sind, in akademischen Kreisen blieben sie zunächst - ebenso wie die Science Fiction selbst - wenig beachtet. Die Beschäftigung mit Science-Fiction-Literatur fand weiterhin ausschließlich in einem nicht-akademischen Rahmen statt. Bis 1960 sind daher nur sehr wenige umfangreiche und tiefergehende Arbeiten zu dieser Literatur entstanden. Besonders hervorzuheben sind für diesen Zeitraum die Veröffentlichung von Roger Lancelyn Greens ",nto Other Worlds: Space-Flight in Fielion from Lucian to Lewis" von 1958 und Sam Moskowitz' "Explorers of the Infinite: Shapers of Science Fiction" aus dem Jahr 1963. Wie ihre Vorgänger erarbeiten auch diese beiden Autoren schwerpunktmäßig die Entwicklung der Science Fiction und versuchen, sie chronologisch zu beschreiben. Dabei gelingt es vor allem Green im ersten Teil seiner Arbeit, eine historische Einführung in die Geschichte der Science Fiction zu entwerfen. Die Arbeit zeichnet sich auf den ersten Blick durch einen objektiven, akademischen Anspruch des Autors aus, der stetig auf Quellen verweist und seine Aussagen mit Fußnoten belegt. Allerdings ist die tatsächliche Auseinandersetzung mit der Science Fiction im zweiten Teil der Arbeit derart von Greens dogmatisch-christlichen Wertungsmaßstäben geprägt, dass hier von einer auch nur annähernd wissenschaftlichen Objektivität keine Rede mehr sein kann. 19 Die Arbeit zeichnet sich durch eine tiefe Abneigung gegen jegliehe Science Fiction aus, in der religiöse Dogmen demythologisiert werden. So kann er vor allem den wissenschaftlichen Extrapolationen der modernen Science Fiction nichts abgewinnen und kritisiert diese in seiner Arbeit als geschmacklose und düstere Visionen der Zukunft. Da die Schlussfolgerung Greens daher lautet, dass die Wertung der Science-Fiction-Literatur nach religiös-moralischen Gesichtspunkten stattzufinden habe, erscheint ihm ferner eine Unterscheidung zwischen Science Fiction und Fantasy als irrelevant. 20 So ist es auch nicht verwunderlich, dass der Autor die Science Fiction des 20. Jahrhunderts größtenteils ignoriert und sich wie Gove eher auf eine Untersuchung der Science-Fiction-Vorgänger beschränkt. Moskowitz schafft in seiner Arbeit eine chronologische Ordnung nach Science-Fiction-Autoren. Da diese Arbeit beinahe zwei Jahrzehnte nach 19 Vgl. PHILMUS, Robert: "The Shape ofScience Fiction: Through the Historical Looking Glass"; a.a.O. 20 Vgl. MOSKOWITZ, Sam: "Explorers of the Infinite: Shapers ol Science Fiction"; Wor1d Pub1ishing, New York 1963, S. 18ff.
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Baileys Dissertation verfasst wurde, geht sie in Bezug auf den Zeitrahmen über Bailey hinaus. Interessanterweise versieht Moskowitz jeden Autor mit einer kurzen Biographie, allerdings bleibt er dabei sehr oberflächlich und erläutert den Sinn dieses Vorgehens nicht weiter. Die chronologische Gliederung der Arbeit schließlich ist der fragwürdigen Hypothese Moskowitz' geschuldet, dass die Science Fiction eine Art evolutionären Prozess durchlaufen hat. Moskowitz zufolge hat sich die von ihm als primitiv bezeichnete Vorform der Science Fiction im Laufe dieses Prozesses zu einer modernen und hochwertigen literarischen Form entwickelt.21 Dass diese Evolutionstheorie der ScienceFiction nicht aufgeht, wird von Moskowitz zumindest ansatzweise bemerkt. So gibt er auf der letzten Seite seines Buches zu bedenken, dass die aktuelle ScienceFiction- entgegen seiner bisher verfolgten Logik - von einem "loss of direction and cessation of evolution as a literary type during the early 1950s " 22 geprägt ist. Obwohl Moskowitz' Arbeit insgesamt nicht als wissenschaftlich zu bezeichnen ist (darauf jedoch auch keinen Anspruch erhebt), ist diese Auseinandersetzung mit der Gattung für die spätere Science-Fiction-Kritik insofern relevant, als sie einen frühen und weitverbreiteten Versuch darstellt, die Science Fiction im Allgemeinen zu fassen, einzugrenzen und zu beurteilen.
Der Wettlauf ins All, "Star Trek" und NewWave Jenseits von derartigen Einzelwerken und vereinzelten Reflexionen der direkt an der literarischen Science Fiction beteiligten Autoren und Verleger lassen sich praktisch keine weiteren Arbeiten auffinden, in denen eine frühe theoretische Beschäftigung mit diesem Thema geleistet wird. Science-Fiction-Literatur wurde von der Wissenschaft fünfzig Jahre lang schlichtweg ignoriert. In diesem Zeitraum fand weder eine Beschäftigung mit der literarischen Science Fiction als Forschungsgegenstand statt, noch kam eine akademische Diskussion in Gang. Umso verwunderlicher erscheint es daher, dass diese ab den frühen 1970er Jahren mit einem Mal zu einem populären und anerkannten Forschungsgegenstand avancierte und innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe von substantiellen Aufsätzen zu dieser Literaturgattung veröffentlicht wurden. Zwar lässt eine Studie, die diesen jähen Umschwung genauer untersucht, noch auf sich warten, ich möchte hier dennoch 21 Dass Modernität das Hauptkriterium Moskowitz' ist, zeigt sich bereits im ersten Kapitel seiner Arbeit, in welchem er das Europa des 17. Jahrhunderts als "not too long out ofthe Dark Ages" beschreibt; vgl. MOSKOWITZ, Sam: "Explorers ol the Infinite: Shapers o{Science Fiction"; World Publishing, New York 1963, S. 23. 22 Zitiert nach HASSLER, Donald M.: "The Academic Pioneers ofScience Fiction Criticism, 1940-1980"; a.a.O.
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Hinweise aufzeigen, aus welchen Gründen die Science Fiction genau zu diesem Zeitpunkt in den Blickpunkt des akademischen Interesses geriet. In den späten 1950er Jahren weiteten die Großmächte im Zuge des Kalten Krieges ihren Rüstungswettstreit auf das Weltall aus. Insbesondere die für die westliche Welt überraschenden Raumfahrterfolge der Sowjetunion, maßgeblich der erfolgreiche Start des Satelliten Sputnik 1957, führten schließlich zum sogenannten Wettlauf ins All. 23 Die Raumfahrt wurde so zu einem wichtigen Prestigeobjekt der kulturellen, technologischen und ideologischen Rivalität zwischen der UdSSR und den USA. Die jeweiligen Erfolge wurden der Öffentlichkeit daher entsprechend propagandistisch präsentiert und Visionen von einer Besiedelung des Weltraums wurden populär. So lag es auch im Trend, in der Schulausbildung stärker die Bereiche der Mathematik, Physik und Naturwissenschaft zu forcieren, um qualifizierten Nachwuchs heranzuziehen. Die Bereiche der ,harten' Science wurden im Alltag zunehmend relevant. Der Blick richtete sich zu den Sternen, futuristisches Design und space-age technologies prägten den Zeitgeist. Zunächst spiegelte die Fernsehserie "Star Trek" ab Mitte der 1960er Jahre beispielhaft das enorme Interesse an Science-Fiction-Sujets und rückte diese auch als populärkulturelles Phänomen ins Blickfeld. 24 Auf ein akademisches Echo stieß die Serie bezeichnenderweise zuerst von Seiten der Natur- und Ingenieurswissenschaften. So wurden die vielfältigen Technikextrapolationen in dieser Fernsehserie bei Ingenieuren und Technikfachleuten mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und dienten teilweise sogar als Inspiration und Motivation, wie Studien belegen. 25 Der Informatikprofessor Thomas Beth erwähnt in diesem Zusammenhang, dass bis heute neue physikalische Effekte oder Erfindungen teilweise mit ,,Star Trek"-Begriffen belegt werden und Visionen wie z.B. das Beamen Fachleute noch immer bewegen. 26 23 Vgl. HARTMANN, Frank: "Sputnik und die Ökologisierung des Weltbildes"; http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/262 79/ I .html. 24 ,,Star Trek" ist der Obertitel fur sechs Science-Fiction-Serien mit insgesamt 726 Episoden sowie II Kinofilmen, Hunderten Romanen, Computerspielen und anderen Werken, deren Inhalte auf der 1966 von Gene Roddenbeny geschaffenen Fernsehserie "Raumschiff Enterprise" (im Original: ,,Star Trek", später "Star Trek: The Original Series - TOS") basieren. ,,Star Trek" wurde erstmals am 16. September 1966 von NBC in den USA ausgestrahlt; vgl. SENNEW ALD, Nadja: ,,Alien Gender. Die Inszenierung von Geschlecht in Science-Fiction-Serien"; Transcript, Bielefeld 2007, S. 9ff. 25 Vgl. IGLHAUT, Stefan: "Wissenschaft ausgestellt: Von der ScienceFiction bis zum Dialog mit Einstein"; In: WüRMER, Holger (Hrsg.): "Die WissensmacherProfile und Arbeitstelder von Wissenschaftsredaktionen in Deutschland"; Verlag fur Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, S. 256ff. 26 Vgl. ebenda.
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Jenseits der Beachtung der Science Fiction durch die technisch orientierten Wissenschaften begannen sich auch zunehmend Geisteswissenschaftler an diese Thematik heranzutasten. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang der Einfluss der Cultural Studies, die sich seit den 1960er Jahren zunehmend im anglo-amerikanischen Bereich durchsetzten. Diese bereiteten den Weg für akademische Beschäftigungen mit Themen, die der Populär- und Alltagskultur zugerechnet werden (wie auch die Science Fiction) und bisher kaum einer wissenschaftlichen Betrachtung gewürdigt wurden. Im Gegensatz zu der in Deutschland verbreiteten Kulturkritik der Frankfurter Schule betonen die Cultural Studies den kreativen Umgang der Konsumenten mit (massen-)kulturellen Gegenständen und heben das emanzipative Moment des produktiven Zuschauers (Winter) hervor. 27 Daher wird von dieser Disziplin auch explizit eine theoretische Auseinandersetzung mit Bereichen jenseits der Hochkultur gefordert und angestrebt. Durch ihren interdisziplinären Forschungsansatz lieferten die Cultural Studies nicht zuletzt auch erstmals ein Werkzeug, um sich mit Themen auseinanderzusetzen, die mit Ansätzen etwa aus der Literaturwissenschaft oder Philosophie nur schwer zu fassen waren. Im publizistischen Sektor kam es darüber hinaus zu einem Wandel, der das klassische Medium der Science-Fiction-Literatur ablöste. Die allmähliche Verdrängung der Pulp-Magazine durch das relativ neue Taschenbuchformat brachte es mit sich, dass Science-Fiction-Erzählungen ab den 1950er Jahren in diesem weniger vorbelasteten Format veröffentlicht wurden. 28 Nicht mehr auf ihre ursprüngliche, wenig angesehene Publikationsform beschränkt, begann die Science Fiction allmählich, sich von ihrem Ruf reiner Schund- und Trivialliteratur zu befreien und zunehmend an Renommee zu gewinnen. Ein wichtiger Anstoß dafür, dass vermehrt akademisches Interesse an der ScienceFiction entstand, war schließlich auch eine zeitgenössische Strömung dieser Literaturgattung selbst. In den 1960er Jahren bildete sich innerhalb der Science Fiction die sogenannte New-Wave-Bewegung, welche in den frühen 1970em ihren Höhepunkt erreichte. Die Autoren der NewWave hatten den Anspruch, die Science Fiction zu revolutionieren und von ihren weitgehend trivialen Inhalten zu befreien. Sie forderten eine grundlegend neue Form von Science Fiction, die durch literarische Experimente als Schmelztiegel neuer Ideen fungieren sollte. 29 Die Werke dieser Autoren verfolgen daher einen dezidiert hochliterarischen Anspruch. Sie zeichnen sich 27 V gl. WINTER, Rain er: "Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß"; Quintessenz, München 1995. 28 Pulp-Magazine gelten von jeher als die Inkarnation der Schund- und Trivialliteratnr der 1930er bis 1950er Jahre; vgl. ATTEBERY, Brian: "The magazine era: 1926-1960"; a.a.O., S. 36.
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durch bemerkenswerte literarisch-stilistische Experimente aus (z.B. nicht-lineare, assoziativ-surrealistische Erzählungen) und richten ihre inhaltliche Schwerpunktsetzung - ganz im Gegensatz zur konventionellen Science Fiction - auf den sensiblen Bereich der menschlichen Innenwelt. Aufgrund ihrer Komplexität und des hohen Anspruches sprachen die Werke der New Wave zunächst zwar weniger die klassische Leserschaft von ScienceFiction an, allerdings wurde durch ihre Arbeiten die Gattung als akademischer Forschungsgegenstand interessanter und zunehmend annehmbar. So ist es unter anderem die Leistung von Autoren wie Michael Moorcock, Ursula K. Le Guin, Harlan Ellison und Samuel Delany, dass die Science Fiction ab Ende der 1960er Jahre salonfähig wurde. All die hier erläuterten Begebenheiten sind als Ausgangspunkt für die einsetzende akademische Auseinandersetzung mit der Science Fiction zu werten. In diesem Spannungsfeld gesellschaftlicher, politischer, medialer, akademischer und Science-Fiction-interner Veränderungen entstand mit Beginn der 1970er Jahre die wissenschaftliche Science-Fiction-Kritik. Ein wichtiger Indikator für die Kultivierung der Science-Fiction-Literatur hin zu einem universalen Forschungsgegenstand ist das Aufkommen der sogenannten Science Fiction Studies. Der deutsche Literaturwissenschaftler Borgmeier weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass wissenschaftliehe Zeitschriften fundamental für moderne Wissenschaften sind und bereits das Vorhandensein eines solchen Instrumentes einen gewissen Aussagewert hat. 30 Dies gilt insbesondere für eine Beschäftigung mit Unterhaltungsliteratur wie der ScienceFiction. Die Entwicklung der interdisziplinär ausgerichteten Fachrichtung der ScienceFiction Studies ist in der gleichnamigen Zeitschrift verwurzelt, die seit dem Frühjahr 1973 dreimal im Jahr erscheint. Gemeinhin gilt "Science Fiction Studies" als das erste dezidiert akademisch ausgerichtete Journal zum Forschungsfeld Science Fiction. 31
29 Vgl. ALDISS, Brian W.; WINGROVE, David: "Der Milliarden-Jahre-Traum. Die Geschichte der Science Fiction"; Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1987 (zuerst 1973), S. 390. 30 BORGMEIER, Raimund: "Erkenntnisziele und Methoden der Untersuchung von Science Fiction - dargestellt am Beispiel Science Fiction Studies"; In: PETZOLD, Dieter; SPÄTH, Eberhard (Hrsg.): "Unterhaltungsliteratur. Ziele und Methoden ihrer Erforschung" Universitätsbund, Erlangen 1990, S. 59. 31 Die bereits seit 1959 erscheinende Science-Fiction-Zeitschrift "Extrapolation",
die als "The Newsletter ol the Conj(xence on Science Fiction of the MLA" startete, gilt gemeinhin als nur zum Teil akademisch ausgerichtet und damit nicht als erste wissenschaftliche Zeitschrift zur literarischen Science Fiction; vgl. BORGMEIER, Raimund: "Erkenntnisziele und Methoden der Untersuchung von ScienceFiction ... "; a.a.O.; S. 60.
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Wie groß das Bedürfnis war, die Lücke der bisher nicht vorhandenen Science-Fiction-Analyse zu schließen, zeigt sich in der Vielfalt und dem auffälligen Facettenreichtum der Beiträge dieser Fachzeitung. So werden sowohl die Gattungsgeschichte und die literarischen Traditionen dieser Literatur aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet als auch philosophische und theoretische Fragestellungen unter der Verwendung verschiedenster Methoden bearbeitet. Es gibt kaum einen modernen oder postmodernen kritischen Ansatz, der in "Science Fielion Studies" nicht vertreten ist. 32 In dieser Publikation wurde so jenes Fundament der Science-Fiction-Theorie gelegt, welches bis heute die Grundlage für tiefergehende und ausführlichere Beschäftigungen mit dem Gegenstand bildet. So entwickelte der Literaturwissenschaftler und langjährige Herausgeber der "Science Fielion Studies" Darko Suvin seine Arbeit "Pour une poelique de Ia science1iction: etudes en theorie et en histoire d'un genre litteraire" (1977, dt. Titel "Poetik der Science Ficlion. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung") auf Grundlage von Diskussionsansätzen und -anregungen dieser Fachzeitung. Diese 1979 in den USA erschienene Arbeit gilt bis heute als wichtiger Meilenstein der akademischen Science-Fiction-Diskussion, auf deren Grundlage und Methodik viele weitere Auseinandersetzungen mit dem Forschungsgegenstand zurückgreifen.
Pionier der Science-Fiction-Forschung: Darko Suvin In seiner Arbeit leistete Suvin in mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit Zum einen beleuchtet der Autor auf Grundlage seiner literaturgeschichtlichen und textkritischen Untersuchung ,älterer' (beginnend bei Thomas Morus' "Utopia" aus dem Jahre 1516) und ,neuerer' Science Fiction (d.h. bis etwa 1940) die Tradition dieser Literatur und liefert dabei einen wichtigen akademischen Beitrag zur Kanonbildung dieser Gattung. Vor allem aber entwickelt Suvin eine erste literaturwissenschaftliche Definition der Science Fiction und erläutert, wie diese in Beziehung mit verwandten Gattungen wie z.B. dem Märchen, der Utopie oder der Supernatural Fantasy steht. So sieht Suvin die ScienceFiction in einer klaren Tradition zu volkstümlichen Erzählungen, welche zu jeder Zeit und in jeder Epoche der Unterhaltung und Zerstreuung dienten und daher eine breite Schicht an Rezipienten anzusprechen vermochten. Der größte Teil der Science Fiction ist demnach für Suvin als zeitgemäße Unterhaltungsliteratur zu verstehen und zeichnet sich dementsprechend durch eine gewisse Trivialität aus. Dennoch vermag es die ScienceFiction, sich aus dieser rein unterhaltenden Tradition zu lösen und ein Potential zu entwickeln, das sie über ihre Vorläufer (wie die Abenteuererzählung und den Schauerroman) erhebt. Wie 32 Vgl. ebenda; S. 61.
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die moderne Dichtung, Malerei und der Film verbindet sie das Unterhaltsame mit der Möglichkeit, kognitiv avantgardistisch zu sein. Es ist Suvin allerdings wichtig festzuhalten: "Das hat keineswegs zu bedeuten, daß der durchschnittliche SF-Text ,gut' ist, d.h. von ästhetischer Bedeutung. Im Gegenteil, 90 oder sogar 98% der SF-Produktion sind Eintagsfliegen, die dem augenblicklichen Veralten, dem Profit des Verlegers und dem Erwerb anderer vergänglicher Gebrauchsgüter durch den Schriftsteller dienen. Aber selbst diese 90 oder 98 Prozent sind vom soziologischen Standpunkt von größter Bedeutung, denn sie werden von der jüngeren Generation, den Akademikern und anderen Schlüsselschichten der gegenwärtigen Gesellschaft gelesen und sind daher nur etwas weniger wichtig als jene 2-10% der SF, die von ästhetischem Wert sind." 33
Von ästhetischem, d.h. auch akademischem Interesse sind für den Autor daher nur jene Science-Fiction-Texte, die - einer strukturalistisch-marxistischen Lesart folgend - die zeitgenössischen gesellschaftlichen Zustände in einer verfremdeten Art und Weise reflektieren und dem Leser so die Möglichkeit zu Erkenntnis eröffnen. In Anlehnung an Brechts Theorie des episehen Theaters ist Science Fiction für Suvin daher die "Literatur der erkenntnis bezogenen Verfremdung". 34 Unter Bezug auf Brecht modifiziert Suvin dabei den traditionellen Begriff der Verfremdung ft.ir die Science Fiction. 35 So findet die Verfremdung in der Science Fiction Suvin zufolge nicht durch den fremden Blick statt (wie bei Brecht), sondern sie verfremdet durch den "formalen Rahmen". 36 Diese Art der Verfremdung geschieht in der ScienceFiction durch den Einsatz des sogenannten Novum. Als Novum bezeichnet Suvin jenes Element der ScienceFiction, das von der Wirklichkeit des Autors und des (impliziten) Lesers abweicht. Das Besondere dabei ist, dass diese Neuerung ganzheitlich wirkt, d.h. zu Veränderungen im gesamten Universum führt oder aber zumindest jene Aspekte betrifft, die von entscheidender Bedeutung für die Erzählung sind. 37 So finden in der ScienceFiction oftmals grundlegende 33 SUVIN, Darko: "Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung"; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979 (zuerst 1977), S. II. 34 Ders.: "Zur Poetik des literarischen Genres ScienceFiction"; In: BARMEYER, Eike: "ScienceFiction"; Wilhelm Fink Verlag, München 1972, S. 86. 35 Vgl. PUSCHMANN-NALENZ, Barbara: "Science-fiction und ihre Grenzbereiche: ein Beitrag zur Gattungsproblematik zeitgenössischer anglo-amerikanischer Erzählliteratur"; Corian Verlag, Meitingen 1986, S. 26. 36 SUVIN, Darko: "Zur Poetik des literarischen Genres ScienceFiction"; a.a.O.; S. 89. 37 Vgl. ders.: "Poetik der ScienceFiction ... "; a.a.O.; S. 101.
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Verschiebungen in der Erzählwelt statt, die Zeit, Raum oder kulturelle Wirklichkeit betreffen und die durch das Novum wissenschaftlich-technisch legitimiert werden. Aufgrund dieser Eigenschaft trägt die Science Fiction das Potential in sich, Normen auf einer anderen Ebene (Suvin zufolge auf einer höheren Ebene) zu brechen als sonstige Literaturformen. 38 So sind etwa die Grenzen der naturalistischen Prosadichtung Suvin zufolge ikonisch und isomorph; das Durchbrechen einer kulturellen Norm steht einfach für das Durchbrechen der kulturellen Norm. In der Science Fiction hingegen sind die Grenzen allomorph, d.h., "die Durchbrechung einer kulturellen Norm wird durch die Durchbrechung einer höheren als bloß kulturellen Norm, nämlich einer ontologischen Vorschrift bezeichnet: durch einen ontischen Wandel in der Wirklichkeit des Handelnden, sei es infolge seiner Verschiebung in Raum und/oder Zeit oder weil sich die Wirklichkeit um ihn selbst verändert." 39
Diese spezifische Eigenschaft der Science Fiction zeichnet sie insofern aus, als sie im Gegensatz zu phantastischen Erzählungen oder Mythen keine "wirklichere Wirklichkeit" 40 postuliert, sondern ein Spannungsfeld zwischen der "empirischen Wirklichkeit"41 des Autors und den von dieser abgeleiteten "alternative[n] Wirklichkeiten" 42 schafft. Diese Art der Verfremdung ermöglicht es, dass in der Science Fiction durch Transformationen nach der idealen Umwelt, dem idealen Staat oder dem idealen Zustand des Menschen gesucht werden kann. Die Science Fiction kann damit weit über eine reine Reflexion der Zustände hinausgehen und ist daher im Idealfall als aufklärend (im positivsten Sinne) und zutiefst subversiv zu verstehen. 43 Wichtig ist für Suvin- und das ist sein bleibendes Verdienst für die wissenschaftliche Betrachtung der Science-Fiction-Literatur - die internen Möglichkeiten und auch Grenzen der Science Fiction aufzuzeigen, um so letztlich qualitative Kritik an dieser Literaturform üben zu können. Jedoch darf eine solche Kritik nicht die Science Fiction an sich treffen, sondern sie muss aufzeigen, wie und warum ein Werk innerhalb der Konvention und der Möglichkeiten dieser Gattung zu wünschen übrig lässt. So stellt Suvin als Minimalanforderung an bedeutungsvolle Science Fiction, dass diese in ihrer Eigenschaft als Bildungsliteratur weiser sein sollte als die Welt, an die sie 38 39 40 41 42 43
V gl. eben da. Ebenda. V gl. eben da. V gl. eben da. V gl. eben da. V gl. ders.: "Zur Poetik des literarischen Genres ScienceFiction"; a.a.O.; S. 86.
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sich wendet. Sie sollte demnach mit Hilfe ihrer schöpferischen Möglichkeiten gesellschaftliche Probleme erforschen und erörtern, wohin diese führen. So hält Suvin fest: "Bad, mystif)'ing SF can- and should- be criticized by criteria taken from inside the SF genre. The universe of the SF narrative does not necessarily - in all significant cases does not- make the reader a passive escapist. The wish gratifications of SF can be critical ofreality, even ifthey rarely are. Thus, we see SF as a genrein an unstable balance between the cognitive potentialities (political, psychological, philosophical) growing out of its subversive (and historically lower-class) tradition of inverting the world, on the one hand, and, on the other hand, powerful upper and middle-class ideologies that have sterilized the bulk of its texts. " 44
Nach Suvin sind Ziel und Wertmaßstab der ScienceFiction folglich die Kritik an politischen und sozialen Zuständen. Mit ihrem formalen Rahmen der Verfremdung habe die Science-Fiction-Literatur ein beispielloses emanzipatorisches Potential, welches zum ungebundenen Denken anregen und zum selbstbestimmten Handeln aufzurufen vermag. 45 Daher bewertet Suvin die ScienceFiction als eine Literatur der Aufklärung, die in ihrer Bedeutsamkeit nicht unterschätzt werden sollte, zumal sie auch von breiten Schichten der modernen Gesellschaft gelesen und verstanden wird. 46
Weitere Entwicklungen, Ausdifferenzierungen und aktueller Forschungsstand Suvins Arbeit hat verdeutlicht, dass die Grundlagendiskussion der Science Fiction sowohl auf literaturwissenschaftlicher als auch ideologiekritischer Basis geführt werden kann. Mit dieser Perspektive regte Suvin Denkanstöße für weitere Forschungsrichtungen und -methoden an. So sind seine Ergebnisse als eine bedeutende Legitimierung für die Notwendigkeit weiterer akademischer Auseinandersetzungen und Analysen mit der Science Fiction zu verstehen. Die Kulturwissenschaftlerin Veronica Hollinger schreibt in diesem Zusammenhang:
44 ELKINS, Charles; SUVIN, Darko: "Preliminary Reflections on Teaching Science Fiction Critically"; In: Science Fiction Studies #19, November 1979, http://www.depauw.edu/sfs/backissues/ 19/elkinssuvin 19art.htm. 45 Vgl. SUVIN, Darko: "Zur Poetik des literarischen Genres Science Fiction"; a.a.O.; S. 89. 46 Vgl. ebenda; S. 86.
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"Aithough it has attracted as much argument as agreement (given, among other things, its dismissal of most genre sf as relatively worthless ), no theoretical construction has enjoyed as much deserved attention as Suvin 's definition of sf as ,a literary genre whose necessary and sufficient conditions are the presence and interaction of estrangement and cognition, and whose main formal device is an imaginative framework alternative to the author's empirical environment' [... ]. More than any other study, Suvin's Metamorphoses is the significant forerunner of all the major examinations of the genre produced in that time. " 47
Angeregt durch Suvins Erkenntnisse, löste sich die Science Fiction in der akademischen Wahrnehmung zunehmend aus den begrenzenden Sphären des rein Trivialen und es entstand ein breites Spektrum an Studien und Untersuchungen zu dieser Literatur. Die Bandbreite der Publikationen reicht dabei weit über den Bereich der Literatur- bzw. Geisteswissenschaften hinaus. Auch in Fachwissenschaften wie der Soziologie, Psychologie, Religions- und Politikwissenschaft begann man sich zunehmend für die Science Fiction als Forschungsgegenstand zu interessieren. Als Resultat davon entstand bereits sehr früh eine äußerst differenzierte Auseinandersetzung mit der Science Fiction. Inzwischen lassen sich die Untersuchungen wegen ihrer breiten Fächerung und ihrer hohen Zahl nur noch schwer systematisieren. Bereits 1988 verzeichnete der französische Literaturwissenschaftler Norbert Spehner in seiner Bibliographie "Ecrits sur Ia science:fiction: bibliographie analytique des etudes et essais sur Ia science~fiction publies entre 1900 et 1987" an die 4200 Untersuchungen zur Science Fiction, und es ist davon auszugehen, dass sich diese Zahl inzwischen vervielfacht hat. Spehner stellt daher resignierend fest, dass eine Gesamtdarstellung der Science-FictionForschung kaum mehr zu leisten ist. In der Literaturwissenschaft wurde die Science Fiction in der Folge Suvins verstärkt als eigene literarische Gattung wahrgenommen und untersucht. Die Arbeiten in diesem Bereich sind dabei meist sehr konventionell ausgerichtet; sie beschäftigen sich mit der Erforschung der Gattungsgeschichte, -traditionen und -konventionen, mit Analysen von Themen und Motiven, mit Versuchen der Theoriebildung oder sie widmen sich der Betrachtung einzelner Autoren. 48 Seit 1980 sind zahlreiche Arbeiten erschienen, die sich der Historie der ScienceFiction widmen. Von besonderem Interesse sind vor allem die Vorund Frühgeschichten sowie die Ursprünge der Gattung. Bei vielen Autoren zeigt sich dabei die Tendenz, eine weit in die Vergangenheit reichende Tradition zu beschreiben; die Nachzeichnung der literarischen Wurzeln reicht 47 HOLLINGER, Veronica: "Contemporary Trend\' in Science Fiction Criticism, 1980-1999"; In: ScienceFiction Studies #78, Juli 1999, http://www.depauw.edu/ sfs/backissues/78/hollinger78art.htm.
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teilweise bis zu den literarischen Traditionen des Viktorianischen Zeitalters oder sogar zu frühen Mythen zurück. So wird versucht, eine bedeutsame Ahnenreihe für die ScienceFiction zu etablieren, die als eine Art ,Ehrenrettung' der oft wenig angesehenen Gattung dienen soll. 49 Überdies gibt es vielfältige Untersuchungen zur jüngeren Science-Fiction-Geschichte, wobei jedoch lediglich herausragende literarische Bewegungen wie die NewWave Gegenstand ausführlicher historischer Observationen werden (so etwa in Heinrich Keims ,"New Wave'- die Avantgarde der modernen anglo-amerikanischen Science:fiction?"). Neben Geschichtsschreibungen und Kanonbildungen stellen in der Iiteraturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Science Fiction Gattungsstudien einen weiteren Schwerpunkt zu diesem Sujet dar. Eine wegweisende und bis heute aktuelle Arbeit aus diesem Feld ist Mare Roses ,,Alien Encounters: Anatomy of Science Fiction" (1981 ). In dieser strukturalistisch geprägten Arbeit untersucht Rose die literarischen Gattungskonventionen der Phantastik während ihrer verschiedenen Epochen (u.a. W ells, Lern, Zoline). Dabei stellt der Autor fest, dass in der jüngeren Science Pietion Grenzen und Gattungskonventionen zunehmend verschwimmen und sich langsam aufzulösen scheinen. Seine Analyse zeigt, dass besonders die moderne Science Fiction sich dadurch auszeichnet, dass sie zwischen verschiedenen literarischen Bereichen oszilliert (so etwa die New Wave, die sich zwischen den Bereichen des Naturalismus und der Phantastik bewegt). Gattungsgrenzen im klassischen Sinne zu ziehen wird daher zunehmend schwierig. Daher folgert Rose, dass "science fiction's history as a distinct genre may be approaching its end". 50 Der enge Begriff der Gattung eignet sich aufgrund dieser Entwicklung nach Rose für die Science Fiction kaum noch. Daher schlägt der Autor vor, dass bei der literarischen Phantastik von einem über Gattungskonventionen und -grenzen hinwegreichenden Modus gesprochen werden sollte. Die von dem Autor bereits in den frühen 1980er Jahren beobachtete Transformation der Science Fiction wurde auch für viele spätere poststruk48 Im Feld der Gattungsstudien ist in diesem Zusammenhang die Arbeit "Science Fiction und ihre Grenzbereiche ... " von Barbara Puschmann-Nalenz hervorzuheben. Als interessante Beiträge zur Geschichtsschreibung und den Traditionen der Science Fiction sei überdies auf Roberto Massaris "Mary Shelleys , Frankenstein ': vom romantischen Mythos zu den Anj(ingen der Science-fiction", Paul Alkans "Origins ofFuturistic Fiction", Edward James' "ScienceFiction in the Twentieth Century", Adam Roberts "Science Fiction (The New Critical Idiom)" hingewiesen. 49 Vgl. BORGMEIER, Raimund: "Erkenntnisziele und Methoden ... "; a.a.O.; S. 63. 50 ROSE, Mare: ,,Alien Encounters: Anatomy ofScience Fiction"; Harvard University Press, Cambridge 1981, S. 23.
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turalistisch geprägte Untersuchungen zu einem zentralen Thema. 51 Autoren wie Gary Wolfe oder Damien Broderick gehen in ihren Studien schließlich so weit, die gesamte Science Fiction nur noch als einen großen Zusammenhang von Ikonographien, intertextuellen Verweisen, Motiven und Themen zu betrachten, den Broderick als "mega-text"52 bezeichnet. In dieses Bezugssystem ist den Autoren zufolge jegliches Science-Fiction-Werk einzubetten, da immer eine Relation zu dem bestehenden Gesamtkontext - ebenjenem mega-text - besteht. Der mega-text folgt dabei dem Gesetz, dass jegliche Neuerungen eines jeden Science-Fiction-Werks in diesen aufgenommen werden. Damit werden stetig neue Aspekte in den Gesamtkontext eingefügt, so dass diesem System seine Fortentwicklung inhärent ist. Dadurch behält es den Autoren zufolge auch zu jedem Zeitpunkt seine Allgemeingültigkeit. Die Frage nach Gattung, Genre oder Modus erweist sich daher für Broderick und Wolfe als obsolet. 53 Eine ganz andere Form der literaturwissenschaftlich-poststrukturalistischen Beschäftigung mit der ScienceFiction übt Brian McHale in seiner Arbeit "Postmodernist Fiction" (1987). In dieser primär der postmodernen Literatur gewidmeten Untersuchung stößt der Autor auf enge Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen der ScienceFiction und postmoderner Literatur. Er bemerkt, dass sich die beiden literarischen Strömungen aktuell auf sehr ähnliche Art und Weise entwickeln, obwohl sie in ganz unterschiedlichen Traditionen stehen. Autoren beider Richtungen interessieren sich zunehmend für soziale und institutionelle Wirklichkeiten ihrer Zeit und spiegeln diese auf apokalyptische Weise in ihren Werken wider. Das Bemerkenswerte ist dabei für McHale, dass sich postmoderne Schriftsteller augenscheinlieh grundlegende Topoi der Science Fiction zu eigen machen. Viele der Texte von Autoren wie Burroughs oder Pynchon spielen etwa in nicht näher definierten Zukünften, entwerfen jenseitige Welten (von McHale als "world to come" 54 bezeichnet) oder beschreiben ein Science-Fiction-typisches geschlossenes Weltsystem ("closed-system world" 55 ). McHale stellt fest, dass Autoren postmoderner Literatur folglich die Science Fiction als Quelle für literarischer Stoffe, Motive und Thematiken nutzen: "If science fiction and postmodemist fiction have tended on the whole to advance along parallel but independent tracks, there has also been a tendency for 51 V gl. hierfür z.B. McHALE, Brian: "Postmodern ist Fiction"; Methuen, New York 1987. 52 BRODERICK, Damien: "Reading by Starlight... "; a.a.O.; S. xiii. 53 V gl. BRODERICK, Damien: "Reading by Starlight... "; a.a.O.; S. 57ff. 54 McHALE, Brian: "Postmodernist Fiction"; Routledge, London 1989, S. 62. 55 Ebenda.
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postmodemist writing to absorb motifs and topoi from science fiction writing, mining science fiction for its raw materials. " 56
Weiter weist McHale darauf hin, dass sich ein wichtiger Teil der zeitgenössischen Science Fiction zunehmend an postmodernen Schreibweisen orientiert. Obwohl die ScienceFiction dem Autor zufolge erst in den 1960er Jahren durch die Neuerungen der NewWave in der literarischen Modeme angelangt ist, machen sich subversive Autoren bereits die Poetik des postmodernen Stils zu eigen. So zeichnen sich Werke von Science-Fiction-Schreibern wie J.G. Ballard, Samuel Delany oder Roger Joseph Zelazny durch literarästhetische Strategien wie assoziative Erzählweisen und Innenweltbeschreibungen aus, die von stetig wechselnden Protagonisten mit Versatzstücken aus Phantasien oder Träumen gekennzeichnet sind. Da McHale darüber hinaus feststellt, dass sich auch die grundlegenden Fragestellungen der beiden Literaturrichtungen sehr ähneln, bezeichnet er diese beiden Gattungen als ein ontologisches Geschwisterpaar ("ontological sister-genre"57 ). Die beiden literarischen Strömungen müssen jedoch - den aufgezeigten Parallelen zum Trotz - als voneinander getrennte Phänomene der Hochbzw. Unterhaltungskultur begriffen werden. Erst in seinem späteren Werk "Constructing Postmodernism" (1992), in dem der Autor sich ausführlich mit der Cyberpunk-Literatur beschäftigt, kommt er zu dem Ergebnis, dass die unübersehbaren Parallelen zwischen den Texten von Cyberpunk-Autoren und Schriftstellern postmoderner Literatur tatsächlich zwei Ausdrucksformen (post-)modemen Schreibens sind, d.h. die Science Fiction ist mehr als lediglich eine unterhaltende Adaption literarischer Vorbilder aus dem Spektrum der postmodernen Fiktionen. So greifen viele Cyberpunk-Autoren verstärkt kulturelle Elemente auf (beispielsweise aus der dadaistischen oder surrealistischen Kunst) und verarbeiten diese als Grundbestandteile ihrer eigenen Idee eines kaleidoskopartigen postmodernen Stilmixes, welcher schließlich zur Speerspitze des postmodernen Schreibens geworden ist. Ebenso wie die postmoderne Literatur ist die Cyberpunk-Literatur- und mit ihr die ScienceFiction- für McHale daher eine Art kulturelle Avantgarde. Beide Literaturformen beschäftigen sich auf ihre Art und Weise mit alternativen Weltentwürfen, desintegrierenden Identitäten, dem Zusammenbruch sozialer, gesellschaftlicher und moralischer Orientierungspunkte und stellen sich essentielle Fragen, wie die der Möglichkeit einer Überwindung des Todes. McHales Arbeit ist ein wichtiger Markstein für die Science-Fiction-Kritik. Hier werden Autoren wie Philiph K. Dick neben Schriftstellern wie Nabokov, Pynchon und Borges betrachtet und- unabhängig von ihrem hoch56 Ebenda; S. 65. 57 Ebenda.
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bzw. populärkulturellen Status - als wechselseitige Inspirationsquelle beschrieben. Die Einführung der Science Fiction in das theoretische Feld der postmodernen Literaturkritik hat der Science-Fiction-Forschung darüber hinaus neue Denkanstöße und Methoden geliefert. McHales Arbeit - obwohl originär der postmodernen Hochliteratur und nicht der Science Fiction gewidmet- führt außerdem vor Augen, welche akademischen Anwendungsmöglichkeiten die Science Fiction (außerhalb der Science-Fiction-Forschung) bietet. So hat der Autor ins Blickfeld gerückt, dass die Science Fiction selbst als Ausdruck der Postmodeme verstanden werden kann und ihre Inhalte entsprechend analysiert werden können. Ähnlich ist die Sichtweise der neomarxistisch geprägten Feministin Donna Haraway. In ihrem "Manifesto for Cyborgs" (1985) formuliert die Autorin anhand des aus der Science-Fiction-Literatur abgeleiteten Cyborg ihren eigenen poststrukturalistisch-feministischen Ansatz. 58 Der Cyborg ein Hybrid aus Mensch und Maschine- stellt für die Autorin das Modell zur Überwindung der Einheit von Geschlechter- und Körpergrenzen dar und wird von ihr als wichtigster Repräsentant feministischer Reflexion im postmodernen Zeitalter bewertet. Die Science Fiction kann Haraway zufolge daher auch als eine künstlerisch-befruchtende Umsetzung poststrukturalistisch-feministischer Ideen gelesen werden. Die theoretischen Ansätze McHales und Haraways sind zeitnah zu der Veröffentlichung der ersten Cyberpunk-Werke erschienen und markieren gemeinsam mit diesen den sogenannten "postmodern tum" 59 der akademischen Science-Fiction-Kritik. Im Zuge dieser beidseitigen Neuerungen innerhalb der Science-Fiction-Literatur und ihrer akademischen Kritik öffnete sich das Forschungsfeld in den späten 1980er Jahren einem breiten Spektrum poststrukturalistisch orientierter Untersuchungen. Diese Studien konzentrieren sich nicht mehr auf Analysen der Science Fiction an sich, wie in den Science Fiction Studies bisher üblich. Statt nach Traditionslinien, literarischer Bedeutung oder ästhetischem Wert der Science Fiction zu fragen, wird nun beispielsweise untersucht, auf welche Art und Weise sich Paradigmen der Postmodeme in dieser Literatur widerspiegeln. Insbesondere die Cyberpunk-Literatur wird von solchen Arbeiten als avantgardistischer Reflektor der Gegenwart verstanden, in dem sich viele Aspekte postmodernen Seins und Denkens wiederfinden lassen. Deramerikanische Philosophieprofessor Larry McCaffery ist daher der Meinung, dass die Cyberpunk-Litera-
58 Vgl. HOLLINGER, Veronica: "Feminist Theory and Science Fiction "; In: JAMES, Edward; MENDLESOHN, Farah (Hrsg.): "The Cambridge Campanion to ScienceFiction"; Cambridge University Press, Cambridge 2003, S. 133. 59 HOLLINGER, Veronica: "Contemporary Trend\' in ScienceFiction Criticism ... "; a.a.O.
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tur als die exemplarische Kunstform der Postmodeme zu verstehen ist. 60 Auch andere Autoren sehen in dieser Literaturform eine Illustration des postmodernen Zeitalters und setzen diese in ihren eigenen theoretischen Arbeiten entsprechend ein. So wird Cyberpunk-Science-Fiction in vielen Untersuchungen als künstlerische Demonstration eigener Thesen verstanden und sie wird genutzt, um eigene Positionen zu verdeutlichen oder gegnerisehe Positionen anzugreifen. Ebenso werden die literarischen und ästhetisehen Inhalte bestimmter Werke mit anderen postmodernen Phänomenen verglichen und so Rückschlüsse auf kulturelle Entwicklungen gezogen. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Lance Olsen etwa versteht die Kurzlebigkeit der literarischen Cyberpunk-Bewegung als künstlerische Entsprechung der generellen Krise des postmodernen Zeitalters. Das Ende der Cyberpunk-Ära markiert daher für ihn auch die Auflösung der Postmoderne. Ebenso wie die zeitgenössische Science Fiction sieht er seine kulturelle und gesellschaftliche Gegenwart in ein Zeitalter des Neokonservativismus zurückfallen. 61 Dass solche Auseinandersetzungen (implizit) auf die Vielschichtigkeit und kulturelle Dimension der Science Fiction hinweisen, sich dabei aber kaum mit dem Gegenstand an und für sich beschäftigen, ist charakteristisch für dieneuere Science-Fiction-Forschung. Tatsächlich sind viele der gegenwärtigen Studien, die den Science Fiction Studies zugerechnet werden, ursprünglich nicht als solche intendiert gewesen. Folglich ist die aktuelle Science-Fiction-Kritik in viele unterschiedliche akademische Felder verzweigt und ihr Profil ist nur sehr schwer zu beschreiben (Robert Philmus beschreibt in diesem Zusammenhang die Fragmentierung der "Shape of Science Fiction" 62 ). Entsprechend heterogen sind die Fragestellungen und Forschungsinteressen auf diesem Feld. Allerdings hat sich inzwischen ein übergeordnetes Verständnis der ScienceFiction herauskristallisiert, welches den unterschiedlichen Disziplinen und Denkschulen gemein ist und diese miteinander verbindet. Science Fiction wird von vielen Autoren - zunächst implizit - als eine Plattform für künstlerische Gedankenexperimenten verstanden, in denen auch philosophische und theoretische Konzepte verarbeitet werden. Bereits in Haraways Arbeit zeigt sich die Tendenz, die ScienceFiction/Cyberpunk-Literatur als eine Form der künstlerisch befruchtenden 60 Vgl. McCAFFERY, Larry: "Cutting Up: Cyberpunk, Punk Music, and Urban Decontextualizations"; In: McCAFFERY, Larry (Hrsg.): "Storming the Reality Studio. A Casebook ol Cyberpunk and Postmodern Science-Fiction"; Duke University Press, Durharn und London 1991, S. 287. 61 Vgl. OLSEN, Lance: "Cyberpunk and the Crisis ol Postmodernity"; In: SHIPPEY, Tom; SLUSSER, George (Hrsg.): "Fiction 2000. Cyberpunk and the Future ofNarrative"; The University ofGeorgia Press; Athens 1992, S. 146. 62 PHILMUS, Robert: "The Shape o{Science Fiction ... "; a.a.O.
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Verarbeitung theoretischer Vorstellungen zu lesen. Auch Autoren wie Veronica Hollinger, Timothy Leary und N. Katherine Hayles weisen darauf hin, dass die Science Fiction von bestimmten theoretischen Denkansätzen geprägt ist. Aus dieser Überlegung heraus stellt der amerikanische Kultur- und Literaturwissenschaftler Larry McCaffery in "Storming the Reality Studio. A Casebook of Cyberpunk and Postmodern Fiction" (1991) Kurzgeschichten und Romanauszüge verschiedener Cyberpunk-Autoren bewusst neben Texte der Science-Fiction-Kritik und Aufsätze von Theoretikern wie Baudrillard, Lyotard und Jameson. So weist bereits die Form der Veröffentlichung darauf hin, dass die zunehmende Verschmelzung von Theorie und Fiktion ein zentrales Thema der zukünftigen Science-Fiction-Kritik sein wird. Der amerikanische Kulturwissenschaftler Douglas Kellner verlangt schließlich ein Jahr nach McCafferys Veröffentlichung, dass bestimmte Cyberpunk-Werke als eigenständige Konzepte innerhalb postmoderner Theorien verstanden werden sollten 63 , denn beide enthalten subversive zeitgenössische Gesellschaftstheorien und literarisch narrative Beschreibungen der Gegenwart und Zukunft. Natürlich unterscheiden sie sich in der jeweiligen Betonung theoretischer und literarisch-fiktiver Aspekte, dennoch muss gesehen werden, dass Autoren der Cyberpunk-Science-Fiction einen wichtigen Beitrag zur theoretischen Reflexion ihrer Gegenwart leisten (und diese dadurch auch befruchten). Die Entwicklungsgeschichte der Science-Fiction-Forschung zeigt, dass nach der Etablierung der Science Fiction als akademischer Untersuchungsgegenstand in den frühen 1980er Jahren sich ihre weitere Erforschung sehr schnell in die unterschiedlichsten Fachrichtungen verzweigt hat. Bereits Mitte der 1980er Jahre waren die Bereiche der literarischen Traditionen sowie der Gattungsgeschichte der Science Fiction weitgehend untersucht und durch die vielzähligen Gattungsstudien hatte sich auch ein grundsätzlicher literarischer Kanon herausgebildet. Zeitgleich kam es mit der CyberpunkBewegung zu rasanten Neuerungen und einem tiefgreifenden Wandel innerhalb der Literaturgattung selbst. Die Science Fiction, die McHale zufolge erst in den 1970er Jahren in der literarischen Moderne angelangt war, wurde mit einem Mal zur avantgardistischen Speerspitze der Postmoderne. Dadurch kam es auch in der Science-Fiction-Forschung zu einer grundlegenden Wende. Statt Gesamtbetrachtungen des Gegenstandes rückten nun Untersuchungen einzelner Teilbereiche und Aspekte in das akademische Blickfeld. Die in der Folge entstandenen Veröffentlichungen zeigen in ihrer Anzahl und breiten Themenfächerung, dass die Science-Fiction-Forschung 63 V gl. KELLNER, Douglas: "Media Culture. Cultural Studies, ldentity and Politics Between the Modern and the Postmodern"; Routledge, London und New
York, 1995, S. 299.
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sich in dieser Zeit geradezu überschlug. Die vielfältigen Forschungsansätze und -interessen der verschiedenen Fachbereiche führten schließlich zu der Ausdifferenzierung der akademischen Science-Fiction-Kritik, wie sie uns heute geläufig ist. So sind die Science Fiction Studies inzwischen ebenso in den Cultural Studies, den Gender und Queer Studies wie in der Medien- und Sozialwissenschaft beheimatet. Der amerikanische Kultur- und Literaturwissenschaftler John Fekete bemerkt in diesem Zusammenhang: "Science fiction commentary today largely presupposes the democratization and decentralization of the modern system of Art, [... ] discourse on sf nowadays shows little anxiety about the genre's non-canonical status. [... ] critiques frequently ,post' their own grounding, as happens with other double-codings of postmodern culture, where the basic intellectual categories (certainties) of modemity are called into question and recoded. Feminist and post-feminist, Marxist and post-marxist, modemist and post-modernist, humanist and post-humanist, historieist and posthistoricist, gendered and post-gendered analytic and theoretic modes of discourse step by step refashion a dialogic space that begins to appear post-critical. " 64
Ein Versuch, die Science-Fiction-Forschung wieder in ihre ursprünglichen Bahnen zu lenken, ist Carl Freedmans "Critical Theory and ScienceFiction" (2000). Hierbei handelt es sich um eine der wenigen aktuellen Studien, die sich in den Pfaden der anfänglichen Science-Fiction-Forschung bewegen und an der Möglichkeit der Gesamtbewertung des Gegenstandes interessiert sind. Freedmans Arbeit widmet sich im Wesentlichen der Weiterentwicklung von Suvins Theorie, die die Science Fiction als kritisch-utopische Literaturgattung beschreibt. So hält Freedman fest, dass die von Suvin vorgeschlagene strukturalistisch-marxistische Lektüre nach wie vor besonders gut dafür geeignet ist, die kritisch-utopischen Implikationen der Science Fiction aufzudecken. Jedoch, so Freedman, greift das aus der marxistischen Theorie abgeleitete Paradigma, dass nur explizit erkenntnisbezogene Science-FictionLiteratur bedeutsam ist, zu kurz. Eine solche Lesart lässt viele anspruchsvolle und progressive Science-Fiction-Werke unberücksichtigt, weil diese nicht aufklärerisch im marxistischen Sinne sind. Daher möchte Freedman Suvins Konzept um einige wichtige Aspekte erweitern. Die Science Fiction ist Freedman zufolge neben ihren marxistischen Inhalten durch eine starke Affinität zur Kritischen Theorie gekennzeichnet. Daher schlägt der Autor vor, die Methoden der Kritischen Theorie als ergän-
64 Vgl. FEKETE, John: "Doing the Time Warp Again: Science Fiction as Adversaria! Culture"; In: Science Fiction Studies #28, März 200 I, http://www. depauw.edulsfs/review_ essays/fek83 .htm.
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zende Werkzeuge bei der Analyse dieser Literaturgattung zu verwenden. 65 Der Denkschule der Kritischen Theorie folgend, geht Freedman davon aus, dass es weder einen eindeutigen Weg des richtigen Denkens noch eine alleingültige Methode der Erkenntnis gibt. Folglich kann selbst von bedeutsamer Science Fiction nicht verlangt werden, dass sie zu direkter Erkenntnis ("cognition" 66 ) führt, wohl aber, dass sie eine Art Erkenntniseffekt ("cognition effect" 67 ) auslöst, der dem Leser ein wenig von dem wahren Gesicht der Welt zeigt. Durch diesen Blick auf die ScienceFiction verfeinert Freedman Suvins Kriterien der direkten Vermittlung von Wissen und von sozialen Wahrheiten als Wertmaßstab für die Bedeutsamkeit der Science Fiction. Dem Verständnis der amerikanischen Cultural Studies folgend, geht Freedman davon aus, dass Science-Fiction-Werke, selbst wenn dies in der Narration nicht angelegt ist, kritische Utopien beinhalten und so kritisches Denken anregen können. Die Science Fiction ist daher eine Kunstform, der es unter bestimmten - und manchmal nur sehr schwer nachvollziehbaren Umständen gelingt, die Fähigkeit zur wahren Erkenntnis ("true cognition" 68 ) anzuregen. So sind Science-Fiction-Autoren für Freedman dazu privilegiert, eigene kritisch-utopische Visionen zu erschaffen, und leisten damit Ähnliches wie Verfasser theoretisch-kritischer Texte. Diese Idee fortführend folgert Freedman: "If science fiction is indeed privileged with regard to critique and utopia, and if Marx remains pre-eminent among critical theorists and utopian visionaries, then, like Mikhail Bakhtin, like Georg Lukacs, like Bloch himself, Marx must inescapably be counted as (if implicitly and even unconsciously) one of the major theorists of science fiction. " 6 '
In diesem Sinne ist die Science Fiction für Freeman eine Literaturgattung mit grundlegenden philosophischen Implikationen, die als eine literarische Form der Kritischen Theorie und des Marxismus verstanden werden kann. Diese Idee auf die Spitze treibend, heißt es bei Freedman weiter; "my thesis about critical theory and science fiction is that each is a version of the other." 70 65 Vgl. FREEDMAN, Carl: "Critical Theory and Science Fiction"; Wesleyan, Hanover 2000, S. 23. 66 Ebenda. 67 Ebenda. 68 CSICSERY-RONAY JR., Istvan: "Marxist Theory and Science Fiction"; In: JAMES, Edward; MENDLESOHN, Farah (Hrsg.): "The Cambridge Campanion to ScienceFiction"; Cambridge University Press, Cambridge 2003, S. 113-124. 69 FREEDMAN, Car1: "Critical Theory and ScienceFiction"; a.a.O; S. 86 70 Ebenda; S. xv.
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Studien wie die Freedmans, deren Ziel eine Gesamtbewertung der ScienceFiction ist, sind innerhalb der zeitgenössischen Science-Fiction-Forschung Ausnahmen. Es ist interessant, dass sich derartige Untersuchungen fast immer auf die Science Fiction vor 1980 beschränken und spätere Entwicklungen außen vor lassen bzw. nur beiläufig erwähnen. Auch hieran zeigt sich, dass die ScienceFiction seit den 1980er Jahren so sehr an Umfang und Facettenreichtum gewonnen hat, dass allgemeingültige Aussagenwie in den Anfängen der Science-Fiction-Forschung- kaum noch möglich sind. In der Ausdifferenzierung der Science-Fiction-Forschung spiegelt sich demnach auch die Evolution der ScienceFiction selbst wider. Ebenso wie sich die Science Fiction in ihrer Gestalt gewandelt und spezifische Formen für ihre unterschiedlichen Thematiken entwickelt hat, haben sich auch die akademischen Erkundungsinteressen und -wege weit aufgefächert. Ein ausschlaggebender Faktor ist dabei die Cyberpunk-Literatur, die das Interesse unterschiedlichster Fachrichtungen auf sich- und dabei auf die gesamte Science Fiction- zog. In der Folge fanden vor allem subversive Forschungsdisziplinen, etwa aus den Bereichen der Race und Gender Studies, Feminismus und Postmoderne, in der ScienceFiction eine reichhaltige Quelle populärkulturellen Materials. Entsprechend spezifisch sind die Fragen, die an die Science Fiction gestellt werden. Folglich konzentrieren sich heutige Science-Fiction-Studien auf Detailfragen und Teilaspekte ausgewählter Science-Fiction-Werke. Wie (und ob) sich die daraus ergebenden Untersuchungsergebnisse in den Gesamtkontext der Science Fiction eingliedern lassen, ist dabei meist zweitrangig. Wichtiger ist für die einzelnen Autoren stattdessen, welchen Rückschluss die Darstellungen der Science Pietion auf die zeitgenössische Gesellschaft und Kultur zulassen und wie diese im Kontext der eigenen Forschungsdisziplin bewertet werden können (so wird die Science-Fiction-Literatur z.B. von dem deutschen Soziologen Torben Sehröder als Social Fiction gelesen und rein nach ihrem gesellschaftlichen Potential befragt und bewertet). Ebenso wie die Science Fiction selbst lässt sich daher auch die Science-Fiction-Forschung heute nur noch sehr schwer fassen und definieren: "Sf studies itself has branched out into many new directions, been influenced by many complex political and theoretical perspectives, and achieved some legitimacy within academia, due in part to the postmodern turn away from high culture/popular culture distinctions. A review ofthe critical work published over the last twenty years suggests that sf studies is flourishing as never before, even as efforts to define what sf is/is becoming are being challenged as never before. " 71
71 HOLLINGER, Veronica: "Contemporary Trends in Science Fiction Criticism, 1980-1999"; a.a.O.
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DIE SCIENCE-FICTION-KRITIK IN DEUTSCHLAND
Der Entwicklungsverlauf deutscher Science-Fiction-Kritik unterscheidet sich wesentlich von der Geschichte der anglo-amerikanischen Science Fiction Studies. Bereits die erste Veröffentlichung amerikanischer Science Fiction in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg stand unter akademischen Vorzeichen. Im Jahr 1952 publizierte der Karl Rauch Verlag vier ScienceFiction-Erzählungen als Serie sogenannter "Weltraumbücher". Die vier Bände umfassende Reihe- Jade Williamsons "Wing 4" (1949, orig. Titel "The Humanoids"), John W. Campbeils "Der unglaubliche Planet" (1949, orig. Titel "The lncredible Planet"), lsaac Asimovs ,)eh, der Robot" ( 1950, orig. Titel "1, Robot") und der Sammelband "Überwindung von Raum und Zeit" - wurde von dem Professor flir Mathematik und Philosophie Gotthard Günther zusammengestellt. Dieser hatte während seines Exils in den USA den Science-Fiction-Autor John W. Campbell kennengelernt, der ihn auf die Bedeutung der amerikanischen Science Fiction aufmerksam machte. Campbell, der selbst hauptsächlich sogenannte Space Operas über die interstellare Ausbreitung des Menschen verfasste, hatte in seiner Eigenschaft als Herausgeber des Magazins ,,Astounding Science Fiction" Autoren wie lsaac Asimov, Robert Heinlein und Lyon Sprague de Camp entdeckt. Deren Werke beeindruckten Günther so tief, dass er auch den Deutschen diese moderne Zukunftsliteratur zugänglich machen wollte. Den einzelnen Erzählungen stellte Günther einführende Kommentare zur Seite, in denen die Science Fiction als eine moderne, dem Zeitalter der Eroberung des Weltraums entsprechende Form des Märchens bezeichnet wird. Als eine Besonderheit dieser im ersten Moment der Unterhaltung dienenden Literatur beschreibt Günther ihre Doppelbödigkeit. Wie die Werke von Autoren wie Defoe, Swift oder Carroll haben auch Science-Fiction-Erzählungen einen tieferen Sinn, der aber nicht sofort zu Tage tritt. Dem interessierten Leser sollen daher die Kommentare Günthers zur Erläuterung dieser tieferen Perspektiven dienen. 72 Für Günther ist die Science Fiction ein grundlegend neuer literarischer Typ, in dem zukünftige technologische Entwicklungen vorweggenommen werden. 73 Es geht bei den Extrapolationen der Science Fiction allerdings nicht darum, möglichst exakte Vmaussagen darüber zu machen, was gerrau in Zukunft technisch möglich sein wird, sondern darauf hinzuweisen, dass es durch diese technologischen Neuerungen zu metaphysischen Veränderungen des Menschen kommen wird. So wirft die Science Fiction mit ihren 72 Vgl. GÜNTHER, Gotthard: "Vorwort"; In: GÜNTHER, Gotthard (Hrsg.): "Der unglaubliche Planet"; Kar! Rauch Verlag, Düsseldorf und Bad Salzig 1952, S. 7. 73 Vgl. ders. "Vorwort"; In: ASIMOV, Isaac: ,,Ich, der Robot"; Kar! Rauch Verlag, Düsseldorfund Bad Salzig 1952, S. 5.
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Darstellungen von denkenden Robotern, ewigen Daseinsformen des Menschen oder der Eroberung des Weltalls geschichtsphilosophische Fragen auf. Denn in dieser Literatur werden auf einer tieferen Ebene essentielle Fragen nach der Unantastbarkeit der menschlichen Seele, der Rolle der Menschheit im Universum und dem Menschen als Gipfel der Evolution gestellt. Darstellungen von sogenannten "mechanical brains" 74 - intelligenten Robotern, die dem Menschen ebenbürtig sind - oder die Beschreibung, dass sich das menschliche Bewusstsein durch das Vordringen ins All grundlegend verändert, implizieren für Günther eine Kritik an traditionellen Vorstellungen der westlichen Philosophie. Die Lektüre der Science Fiction lässt daher eine Ahnung von den grundlegenden Paradigmenwechseln entstehen, die den Mensehen in Zukunft erwarten könnten: "Es ist dies das wesentliche Kennzeichen der gesamten amerikanischen ScienceFiction-Literatur, daß sie durchaus als eine Antizipation einer kommenden neuen Kultur, die über das bisherige historische Niveau der sogenannten Hochkulturen der östlichen Hemisphäre definitiv hinausgeht, bewertet werden muß. Von dieser kultureBen Tradition alten Stils wi11 man im Grunde in Amerika nichts wissen. Die Idee des ,mechanical brain', die dem abendländischen Denken (und Fühlen!) essentie11 fremd ist, zeigt, daß man von neuen wissenschaftlichen Aufgaben träumt, die einen radikalen Bruch mit dem bisherigen historischen Wesen des Menschen voraussetzen. Das entscheidende Kriterium ist, daß viele der Bücher dieser neuen Literaturgattung bestätigen, daß eine solche künftige Geschichtsepoche den psycho-physischen Gegensatz, in dem die Mentalität des Menschen der bisherigen Hochkulturen verwurzelt, nicht mehr als metaphysische Voraussetznng des Daseins anerkennt. [... ] Man kann in seiner Deutung auch weitergehen und diese [... ] Ablehnung der spiritue11en Tradition der Alten Welt als ein Anzeichen dafiir nehmen, daß sich in der westlichen Hemisphäre eine bodenständige neue Spiritualität, die einen Bruch mit der bisherigen historischen Tradition bedeutet, a11mählich zu entwickeln beginnt. " 75
Günthers Verständnis der Science-Fiction-Literatur ist ihrer Zeit in vielerlei Hinsicht weit voraus. Zum einen formuliert der Autor eine äußerst progressive Lesart der Science Fiction, lange bevor das Potential dieser Literaturgattung von akademischer Seite auch nur ansatzweise wahrgenommen wurde. Die weite Voraussicht und die progressiven Ideen Günthers in Bezug auf die Science-Fiction-Literatur reichen jedoch über ein Urteil hinaus, welches auf den Gegenstand beschränkt bleibt. Tatsächlich setzt sich der Autor hier 74 Ders.: "Die ,zweite' Maschine"; In: ASIMOV, Isaac: ,,Ich, der Robot"; Kar! Rauch Verlag, Düsseldorfund Bad Salzig 1952, S. 240. 75 Ders.: "Kommentar des Herausgebers"; In: WILLIAMSON, Jack: "Wing 4"; Kar! Rauch Verlag, Düsseldorf und Bad Salzig 1952, S. 221 f.
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bereits mit jenen tiefgreifenden philosophischen Fragen auseinander, die einige Jahre später in der Diskussion um die Postmodeme ins Zentrum der akademischen Aufmerksamkeit rücken und erst Jahrzehnte später von der anglo-amerikanischen Science-Fiction-Forschung aufgenommen werden sollten. Erst mit der Cyberpunk-Literatur als avantgardistischer Bewegung innerhalb der Science Fiction, die eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Zeitalter der Postmodeme übte, wurden Überlegungen wie die von Günther wieder angestellt. So bildeten die gleichen Gedanken, die der Autor bereits dreißig Jahre zuvor formuliert hatte, in den späten 1980em die Speerspitze der akademischen Science-Fiction-Kritik. Tiefes Verständnis für die Science Fiction und anerkennenswerte Weitsicht zeigt Günther auch in der Erkenntnis, dass die Science Fiction seiner Gegenwart noch keine direkte Reflexion des anstehenden Paradigmenwechsels leisten kann, sondern lediglich als eine Art Vorbote für diesen fungiert. Dabei ebnet sie, so Günther, den Weg für eine tatsächlich neue Form des zukünftigen amerikanischen Märchens. Die Science Fiction der Zukunft wird sich demnach aufjene metaphysischen Extremzustände möglicher Erfahrungen konzentrieren, die sich aus der zeitgenössischen Science Fiction Günthers nur schemenhaft erahnen lassen. 76 Die kommende Science Fiction wird, davon ist der Autor überzeugt, einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den vom Paradigmenwechsel betroffenen Bereichen der Metaphysik und Philosophie gewidmet sein. Günther erkannte folglich lange vor Cyberpunk und dem von der poststrukturalistischen Kritik postulierten Wandel der Modeme zur Postmoderne, dass die Science Fiction das Potential für eine künstlerisch-philosophische Spiegelung und Entsprechung bevorstehender Paradigmenwechsel in sich trägt. Ihrer Zeit zwar weit voraus, blieben Günthers Ideen leider ebenso unbeachtet wie die von ihm edierte Reihe der "Weltraumbücher" und gerieten schließlich in Vergessenheit. Bedauerlieherweise wurden die Ansätze und Ideen Günthers in Deutschland niemals aufgegriffen und weiterentwickelt, so dass sich die Tradition der deutschen Science-Fiction-Kritik in eine ganz andere Richtung entwickelt hat. Da es in Deutschland keinen Markt für anspruchsvolle Science Fiction gab, wurden dort ab Mitte der 1950er Jahre amerikanische Science-FictionErzählungen nur noch in Form von stark gekürzten Heftehenromanen veröffentlicht.77 Diese bewegten sich grundsätzlich auf dem Niveau reiner Abenteuer- und Action-Erzählungen und kamen daher für eine grundlegende wis76 Vgl. ROTTENSTEINER, Franz: "Same German Writings on ScienceFiction"; In: Science Fiction Studie.\· #18, Juli 1979, http://www.depauw.edu/sfs/ reviews_pages/r18.htm#A 18. 77 Vgl. JESCHKE, Wolfgang: "ScienceFiction Literatur in der Bundesrepublik", In: ERMERT, Kar] (Hrsg.): "Neugier oder Flucht? Zur Poetik. Ideologie und Wirkung der Science Fiction"; Klett, Stuttgart 1980, S. 54 ff.
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senschaftliehe Betrachtung zum damaligen Zeitpunkt nicht in Frage. Das akademische Interesse der 1960er Jahre in Bezug auf die Science Fiction galt lediglich dem Verhältnis von Utopie und ScienceFiction. Diese Studien gehen jedoch meist spezifischen Fragen zur Konstruktion und Entwicklung der Utopie bzw. utopischer Erzählungen nach. Die Science Fiction selbst wird dabei im Gesamtkontext der Utopie betrachtet und meist nur am Rande diskutiert. Eine Pionierarbeit ist in diesem Zusammenhang Martin Schwankes Dissertation "Vom Staatsroman zur Science Fiction: Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie" (1957). Für Schwonke ist die Science-Fiction-Literatur eine direkte Weiterentwicklung klassischer Utopien und Staatsromane des 17.-18. Jahrhunderts und ebenso wie diese eine Manifestation des Veränderungsdenkens, in dem sich der Wunsch nach einer besseren Welt spiegelt. In diesem Sinne ist die Science Fiction Ausdruck des utopischen Denkens der technisch-wissenschaftlich geprägten Gegenwart. 78 Die Veränderung des zeitgenössischen utopischen Denkens zeigt sich in der Science Fiction beispielsweise darin, wie der Automat (d.h. der Roboter) dargestellt wird. Während dieser in der klassischen Utopie/Gegenutopie das Sinnbild des menschenfeindlichen Portschrittsglaubens verkörpert, nutzt die Science Fiction den Roboter, um der (zentralen) Frage nach der Unzulänglichkeit des Menschen (mit einer Alternative) zu begegnen (so etwa bei Asimov). 79 Dabei geht es der Science Pietion als moderner Utopie nicht primär um den Entwurf von Zukunftsmodellen - wie es bei der klassischen Utopie der Fall ist -, sondern vielmehr um die kritische Diskussion von Zukunftsmöglichkeiten. Schwankes Verständnis von Science Fiction ist damit als recht fortschrittlich und weitblickend zu bezeichnen. Wie schon Günther vor ihm erörtert dieser Autor die kulturellen und philosophischen Implikationen der Science Fiction, interessiert sich dabei als Soziologe allerdings nicht besonders für die ästhetischen Kategorien oder den literarischen Wert dieses Sujets. Dieses Vorgehen ist auch für die übrige deutsche Science-Fiction-Kritik charakteristisch, die weitgehend sozialwissenschaftlich geprägt ist. Im Gegensatz zur anglo-amerikanischen Science-Fiction-Forschung, die in der Literaturwissenschaft verwurzelt ist und sich daher zunächst auf die literarisehe Bedeutsamkeit und Tradition ihres Forschungsgegenstands konzentrierte, wurde dieser Bereich in der deutschen Science-Fiction-Kritik bis etwa 1980 weitgehend ausgeblendet. 80 In den frühen 1970er Jahren wurde damit begonnen, Science Fiction auch ungekürzt im Taschenbuchformat zu 78 Vgl. SCHWONKE; Martin: "Naturwissenschaft und Technik im utopischen Denken der Neuzeit"; In: BARMEYER, Eike: "Science Fiction. Theorie und Geschichte"; Fink, München 1972, S. 65. 79 Vgl. ebenda; S. 69.
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veröffentlichen. Parallel zu dieser Entwicklung formierte sich in Deutschland eine kontinuierliche Science-Fiction-Kritik. Diese war sehr vom Zeitgeist geprägt; die Untersuchungen dieser Ära zeigen sich daher besonders an den politisch-ideologischen und sozialkritischen Inhalten der Science Pietion interessiert. So üben Studien wie "Roboter und Gartenlaube: Ideologie und Unterhaltung in der Science-Fiction-Literatur"(1970) von Michael Pehlke und Norbert Lingfeld an der Science Fiction eine marxistisch geprägte Ideologiekritik, in der die (in erster Linie westliche) ScienceFiction als regressive, reaktionäre und rückwärtsgewandte Massenliteratur angegriffen wird. Als Instrument der politischen Indoktrination verdächtigt, wird die anglo-amerikanische Science Fiction daher grundlegend abgelehnt. Im Gegensatz dazu wird die sozialistisch geprägte Science Fiction des Ostblocks von diesen Autoren als eine aufklärerische Literatur angesehen, der das Potential innewohnt, konkrete gesellschaftliche Tendenzen zu entlarven und deren positive Überwindung zu schildern. Dass derartige Beiträge vor allem der Festigung eigener ideologischer Ansichten dienen, dabei aber an dem tatsächlichen Gegenstand vorbeigehen, hält der Österreichische Kritiker Franz Rottensteiner fest: "From the viewpoint of German leftist thinking, they evaluate SF as the defender of the eternal status quo and as a means of conscious and unconscious political indoctrination. False consciousness in the Marxist sense (i.e., a false understanding of the relations conditioned by economic production) is, according to them, the inherent cause for the inferior quality ofSF. They put up Soviet SF as an alternative, but they do not analyze it, it just serves as the invisible background for their judgements. [... ] One cannot help noticing, however, that many of the authors criticized for their open or hidden ideological content are just as popular in the socialist countries as in the U.S.A., e.g., Isaac Asimov, or even some stories by Poul Anderson. Also, they do not seem to have read the English originals but only their defaced German translations."' 1
Spätere Studien wie Manfred Nagls "Science-Fiction in Deutschland: Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur" (1972) oder Bernd Rullkötters "Die Wissenschaftliche Phantastik der Sowjetunion: Eine vergleichende Untersuchung der spekulativen Literatur in Ost und West" (1974) sind von einem ähnlich ideologischdogmatischen Blick geprägt. Von abstrakten Methoden und Herangehensweisen bestimmt, werden die literarischen Primärtexte in solchen Arbeiten nur sehr knapp besprochen und meist nur nach ihren manifesten Inhalten beurteilt. Der Gedanke, dass (amerikanische) ScienceFiction auch positiv ge80 Vgl. ROTTENSTEINER, Franz: "Same German Writings on ScienceFiction"; a.a.O. 81 Ebenda.
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wertet werden kann und aufklärerische Implikationen beinhaltet - wie von der anglo-amerikanischen Science-Fiction-Kritik behauptet-, wird von den meist sozialistisch geprägten Science-Fiction-Forschern in Deutschland grundlegend abgelehnt. Ab den 1980er Jahren verklingt diese ideologiekritische Science-FictionDebatte langsam und die deutsche Science-Fiction-Kritik beginnt sich zu wandeln. Dabei kommt es zu einer Annäherung an die Forschungsschwerpunkte der amerikanischen Science-Fiction-Kritik; die ersten dezidiert literaturwissenschaftlich ausgerichteten Studien zur Science Fiction erscheinen. Viele dieser Untersuchungen zu den Thematiken, Inhalten und Gattungskonventionen der Science Fiction sind an den anglo-amerikanischen Science Fiction Studies orientiert und versuchen deren Ergebnisse zu vertiefen. Charakteristisch für die deutsche Science-Fiction-Kritik ist dabei, dass Gattungsstudien und Historiographien entschieden literaturtheoretischer ausgerichtet sind als ihre anglo-amerikanischen Vorbilder und bei deutschen Analysen einzelner Werke und Autoren gerne komplexen philosophischen Fragestellungen nachgegangen wird. 82 Da diese Arbeiten jedoch meist an einer Einordnung der Science Fiction in einen größeren literaturgeschichtlichen Kontext interessiert sind oder sich auf spezifische Detailfragen konzentrieren, fehlt es hierzulande in der Science-Fiction-Forschung an der Herausbildung einer eigenen Theorietradition. Daher greift die Science-Fiction-Kritik nach den 1980er Jahren verstärkt auf die Methoden der anglo-amerikanischen Science Fiction Studies zurück und wird so immer stärker von dieser geprägt und nach deren Vorbild gestaltet. Inzwischen ist eine originär deutsche Tradition innerhalb der Science-Fiction-Forschung daher kaum noch aufspürbar. Franz Rottensteiner bemerkt in diesem Zusammenhang: "It is surprising perhaps, given the German tendency for philosophizing, that almost
no work has been done to develop an sftheory, aside from some essays in the fifties [ ... ]. It cannot be said that there is anything like a German consensus on sf or that there are German schools of sf criticism; nor are there, outside sf fandom, any critics who have consistently written on sf. There is still no history of German sf in general, Iet alone a history of sf by a German scholar, and stndies in German sf form only a small part of the total critical output. "X3
82 Als Beispiele sei hier auf Michael Salewskis "Zeitgeist und Zeitmaschine: Science Fiction und Geschichte" und Bernd Gräfraths "Ketzer, Dilettanten und Genies: Grenzgänger der Philosophie" verwiesen. 83 ROTTENSTEINER, Franz: "Recent Writings on German Science Fiction"; In: Science Fiction Studie.\' #84, Juli 2001, http://www.depauw.edu/SFs/ review_ essays/rottensteiner84.htm.
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Jüngere Tendenzen zeigen, dass sich die von Rottensteiner hier angesprochene Forschungslücke in den nächsten Jahren schließen könnte. So widmen sich inzwischen einige Autoren (z.B. Roland Innerhafer mit seiner Studie "Deutsche Science Fielion 1870-1914: Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung" (1996) und Uwe Durst mit seiner Dissertation "Theorie der phantastischen Literatur" (2001)) den Wurzeln der deutschen Science Fiction und versuchen, deren Entwicklung nachzuzeichnen. Auch ein Forschungsprojekt des Instituts für deutsche Literatur der HumboldtUniversität in Berlin weist in diese Richtung. Seit 2004 untersuchen dort die Kulturwissenschaftler Patrick Ramponi und Andy Hahnemann die von ihnen so getaufte Geopolitical Fiction, ein literarisches Genre, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts herausbildete und als frühe Form der deutschen/europäischen Science Fiction angesehen werden kann. Die Geschichten, die der Geopolitical Fiction zugerechnet werden, handeln in der Regel von der Gefahr kontinentaler Kriegsführung, dem "Endkampf' 84 der verschiedenen "Rassen"85 um die globale Vorherrschaft und von den unbegrenzten Möglichkeiten der modernen Technologie. Das aktuell noch andauernde Berliner Forschungsprojekt möchte das Konzept der Geopolitical Fiction vorstellen, die relevanten Texte zusammenstellen (diese sind bisher unter verschiedenen Genre-Bezeichnungen wie Abenteuerliteratur, Science Fiction, Utopie u.ä. verstreut) und sie anschließend in diesem neu entdeckten Kontext untersuchen. Auf einer allgemein zugänglichen Internetseite werden eine (bisher noch unvollständige) Bibliographie relevanter Titel sowie einige Rezensionen, Inhaltsangaben und Biographien präsentiert. Ziel des Forschungsprojektes ist es "die empirische Grundlage für die weitere Forschung zu einer kulturgeschichtlich höchst interessanten Gattung bereitzustellen. " 86 Gegenwärtige Forschungsvorhaben wie dieses Berliner Projekt zeigen, dass die deutsche Science-Fiction-Kritik erst in jüngster Vergangenheit damit begonnen hat, die Grundlagenforschung zu betreiben, die zukünftig eine allgemeine Geschichtsschreibung der deutschen Science Fiction ermöglichen könnte. Folglich konzentriert sich die deutsche Science-Fiction-Forschung derzeit besonders auf historische Erscheinungen dieser Literaturgattung; die Zahl der Studien zu neueren Phänomenen ist daher eher gering. Daraus folgt wiederum, dass sich deutsche Autoren, die an der Erforschung aktueller Trends der Science Fiction interessiert sind, an den Herangehensweisen und Methoden der anglo-amerikanischen Science Fiction Studies orientieren müssen. So sind im deutschsprachigen Raum etwa zur Cyber84 HAHNEMANN, Andy; RAMPONI, Patrick: "Geopolitical Fiction- Ein vergessenes Genre"; a.a.O. 85 Ebenda. 86 Ebenda.
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punk-Literatur nur sehr wenige Untersuchungen erschienen. Meist handelt es sich bei diesen Arbeiten um relativ knappe Aufsätze, in denen die Cyberpunk-Literatur in Beziehung zu anderen kulturellen Phänomenen gesetzt wird. Da es sich dabei meist um Studien handelt, deren originäres Interesse nicht der Science Fiction gilt, werden nur einzelne Autoren und Aspekte herausgegriffen und es bleibt bei sehr unspezifischen Aussagen zur Cyberpunk-Literatur selbst. Die bisher einzige ausführliche deutsche Studie zur Cyberpunk-Literatur ist Sabine Heusers Dissertation "Virtual Geographies: Cyberpunk at the Intersection of the Postmodern and ScienceFiction", diese Publikation ist bezeichnenderweise jedoch auch nur in englischer Sprache erschienen. Es bleibt festzustellen, dass die deutsche Science-Fiction-Kritik noch viel nachzuholen hat.
1.4
GESCHICHTE DER 5CIENCE FICTION EIN HISTORISCHER ABRISS
Vorbemerkungen "The identification of a point of origin for science fiction is as fiercely contested as defining the form.""
Die frühsten wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Arbeiten zur Science Fiction waren historische Gattungsstudien. Diese bildeten die Grundlage der Science-Fiction-Kritik und machen bis in die Gegenwart einen großen Teil der akademischen Arbeiten zu diesem Sujet aus und dienen vor allem der Bildung und Tradierung eines Kanons der Science-Fiction-Literatur, wie Carl Freedman hervorhebt.sx Die Darstellungen der Science-Fiction-Geschichte sind jedoch ebenso heterogen wie die verschiedenen Definitionen dieser Literatur. Die Meinungen darüber, zu welchem Zeitpunkt oder mit welchem Werk die Science-Fiction-Literatur ihren Anfang genommen hat und auf welche Traditionen sie zurückzuführen ist, gehen ebenso weit auseinander wie die Ansichten darüber, welche Werke in den Korpus dieser Literaturgattung zu zählen sind. Autoren wie Langley Searles und Gary K. Wolfe setzten den Beginn der ScienceFiction mit der Entstehung des 1923 von Hugo Gemsback geprägten gleichnamigen Begriffs an. s9 Eine Beschäftigung mit Science Fiction vor
87 ROBERTS, Adam: "ScienceFiction (The New Criticalldiom)"; a.a.O; S. 47. 88 Vgl. FREEDMAN, Carl: "Critical Theory and ScienceFiction"; a.a.O.; S. 24.
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dem 20. Jahrhundert ist für solche Autoren ein Widerspruch in sich: "the phrase ,pre-twentieth-century sf criticism' is an oxymoron. " 90 Edward James, Thomas Clemson oder James Gunn sind der Meinung, dass die Science Fiction etwa vor 140 Jahren mit Geschichten von H.G. Wells und Jules Veme ihren Anfang nahm. Die ScienceFiction ist für diese Autoren als eine literarische Erscheinung zu verstehen, die sich unter den speziellen Bedingungen der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts formierte und sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Brian Aldiss, Darko Suvin, Carl Feedman und Brian Stableford hingegen sehen die Science Fiction in einem noch weiter zurückreichenden Iiteraturgeschiehtlichen Kontext. Für diese Autoren enthalten bereits Erzählungen von Mary Shelley, Johnathan Swift, Daniel Defoe, Cyrano de Bergerac phantastische bzw. fiktiv-wissenschaftliche Elemente und sind daher als Vorläufer der ScienceFiction zu verstehen. 91 Suvin und Roberts weisen sogar darauf hin, dass bereits in den frühesten Texten der Menschheit wie etwa dem Gilgamesch-Epos Aspekte enthalten sind, die man als frühe Vorformen der Science Fiction lesen könnte. Folglich sehen solche Autoren in der ScienceFiction mehr als eine künstlerische Auseinandersetzung mit spezifischen kulturellen und historischen Begebenheiten. Da sich die wissenschaftliche Phantastik dieser Lesart zufolge über viele Epochen hindurchzieht und kulturübergreifend anzutreffen ist, wird vermutet, dass in dieser etwas fundamental Menschliches zum Ausdruck kommt: "[I]t speaks to something more durable, perhaps something fundamental in the human make-up, some human desire to imagine worlds other than the one we actually inhabit." 92
Einige Autoren wie z.B. Basil Davenport gehen sogar so weit, die phantastische Literatur aller Völker und jeglicher Epochen als Science-Fiction-Erzählungen zu werten. Bereits die Mythen und Märchen sind demnach eine Form von Science Fiction und nicht bloß deren Vorläufer. Werke wie Homers 89 Vgl. EVANS, 8. Arthur: "The Origins ol Science Fiction Criticism: From Kepler to Wells"; In: ScienceFiction Studies #78, Juli 1999, http://www.depauw. edu/SFs/backissues/78/evans78art.htm. 90 Ebenda. 91 Die Tendenz der frühen akademischen Science-Fiction-Geschichtsschreibung, eine sehr lange und breitgefächerte Tradition dieser Literaturgattung anzulegen und dabei Werke in den Science-Fiction-Kanon aufzunehmen, die nicht unbedingt etwas in dieser Gattung verloren haben, wird von Borgmeier als ein Versuch der Ehrenrettung bezeichnet; vgl. BORGMEIER, Raimund: "Erkenntnisziele und Methoden ... "; a.a.O; S. 63 92 ROBERTS, Adam: "ScienceFiction (The New Criticalldiom)"; a.a.O; S. 48
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"Odyssee" (8. Jahrhundert vor Christus), Dantes "Divina Commedia" (um 1321, dt. Titel "Göttliche Komödie"), Swifts "Gulliver 's Travels" (1 726, dt. Titel "Gullivers Reisen") Rousseaus "Emile ou De l 'education" (1762, dt. Titel "Emile oder Über die Erziehung") und sogar Goethes "Faust" (1808) werden unter diesem Blickwinkel als Phantastische Literatur, gleichbedeutend mit Science-Fiction-Literatur, klassifiziert. Die Vorläufer der Science Fiction Die Ursprünge der Science Fiction lassen sich tatsächlich bis in die Antike zurückverfolgen. Bereits in diesem Zeitraum thematisierte der griechische Mythos von Dädalus und lkarus die Überwindung von naturgegebenen Grenzen durch Technik anhand des Menschheitstraums vom Fliegen. Einige Jahrhunderte später beschrieb der griechische Autor Lukian von Samosata in seinem phantastischen Abenteuer- und Reiseroman "Verae Historiae" (um 150 n. Chr., dt. Titel "Wahre Geschichten"), wie ein Mensch an den Sternen und der Sonne vorbei zum Mond fliegt und Zeuge der Schlachten zwischen dem Mond- und dem Sonnenreich um die Kolonisation der Venus wird. Ab dem 17. Jahrhundert häuften sich schließlich die Texte, in denen bestimmte Thematiken der Science Fiction vorweggenommen wurden. Auch wenn bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Vorstellungen, wie sie aus Mythen und Märchen bekannt waren, die Phantastische Literatur weiterhin bestimmten, entstanden in diesem Zeitraum neuartige Werke, die die Basis der heutigen ScienceFiction bilden. 93 Einige der Erzählungen, die originär als Höhepunkte der utopischen Literatur des Barock gelten, werden daher heute auch als Vorläufer der Science-Fiction-Literatur betrachtet. So nutzen Autoren wie Francis Godwin in "The Man in the Moone: or a Discourse of a Voyage thither by Domingo Gonsales" (1638, dt. Titel "Der Mann im Mond oder Die Schilderung einer Reise dorthin") oder Cyrano de Bergerac in "Les Etatset Empires de Ia Lune" (1657, dt. "Die andere Welt oder die Staaten und Reiche des Mondes") Darstellungen von Möglichkeiten durch zukünftigen technischen oder wissenschaftlichen Fortschritt als implizite Kritik an Denkschulen und Weltbildem ihrer Zeit. Dabei gingen die Autoren zwar nicht - wie die spätere wissenschaftliche Phantastik - auf die Technik an sich ein, dennoch enthalten ihre Texte erste Ansätze des Zusammenspiels von Gesellschaftskritik, utopischen Entwürfen und Technik- bzw. Wissenschaftsextrapolation, wie es für die später Science Fiction grundlegend wurde.94 Ein Jahrhundert später wurde die Verbindung von Gegenwartskritik und Phantastik in Werken wie der naturphilosophischen Erzählung "Le 93 Vgl. WUCKEL, Dieter: "ScienceFiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte"; a.a.O.; S. 33.
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Micr01m?gas" (1752, dt. Titel "Mikromegas") von Voltaire weitergeführt. In dieser Kurzgeschichte nahm der Autor die Motive des Außerirdischen und der Reise durch den interstellaren Raum vorweg, wobei seine Darstellung eines acht Meilen großen Siriusbewohners, der sich auf eine Reise durch das Sonnensystem begibt, dazu diente, das scholastische Weltbild Thomas von Aquins zu karikieren. Auch in Voltaires späterem Werk finden sich einzelne utopisch-phantastische Motive, welche die Stellung dieser Texte als Vorläufer der Science Fiction begründen, so etwa in der Beschreibung einer zu Reisezwecken verwendeten Flugmaschine in "Candide, ou l'Optimisme" (1759, dt. Titel "Candide oder der Optimismus"). Auch die Erzählung "Gulliver's Travels" (1726, dt. Titel "Gullivers Reisen") des englischen Satirikers Jonathan Swift gilt wegen der darin enthaltenen phantastisch-utopischen Elemente als ein wichtiger Vorgänger der Science-Fiction-Literatur. Swifts Werk beinhaltet neben den auf Descartes' Lehren aufbauenden geometrischen Utopien vor allem eine polemische Darstellung des sich im Untergang befindenden Feudalismus. Dabei übte der Autor in seiner Erzählung eine untergründige, aber äußerst harte Kritik an den bestehenden sozialen und ökonomischen Zuständen der nachrevolutionären Entwicklungsphase Englands. Sein Werk wird daher auch als eine frühe Form der literarischen Kritik am Kapitalismus verstanden. 95 Sowohl die Kritik als auch den dahinter aufschimmernden utopischen Entwurf einer anderen Form des Lebens entwickelte Swift an der Begegnung mit dem Fremden (wie z.B. vernunftbegabten Tieren, Liliputanern u.ä.), eine Verfahrensform, die in der späteren ScienceFiction auf vielfältige Art und Weise genutzt wurde. Der sozialistische Literaturwissenschaftler Dieter Wuckel hält in diesem Zusammenhang fest: "Für die weitere Entwicklung der Science Fiction waren weniger die zeitgenössische Satire und die Sozialutopie Swifts bedeutsam als vielmehr die von ihm genutzte Möglichkeit, das menschliche Individuum und unsere Gesellschaft im Bild der ,anderen' zu spiegeln und grade druch die Konfrontation mit phantastisch deformierten Lebewesen auf sein Wesen zn reduzieren."'"
Viele der phantastisch-utopischen Erzählungen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts waren von einem ähnlich satirisch-gesellschaftskritischen Unterton geprägt, der die Doppelbödigkeit der Geschichten dieses Zeitraums aus94 V gl. ST ABLEFORD, Brian: "Science Fiction Before the Genre"; In: JAMES, Edward; MENDLESOHN, Farah (Hrsg.): "The Cambridge Campanion to ScienceFiction"; Cambridge University Press, Cambridge 2003, S. 15f. 95 Vgl. WUCKEL, Dieter: "ScienceFiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte"; a.a.O.; S. 27. 96 Ebenda; S. 29.
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macht. Mit dem Beginn der industriellen Revolution traten die gesellschaftskritischen Elemente und sozialen Utopien in der Phantastik jedoch für eine längere Zeit in den Hintergrund. Die Phantastische Literatur ab dem 19. Jahrhundert wurde stattdessen grundlegend von den naturwissenschaftlichtechnischen, politisch-sozialen, militärischen und geistigen Neuerungen ihrer Gegenwart beeinflusst. Außerdem vermischte sich die wissenschaftlichphantastische Literatur ab dem 19. Jahrhundert zusehends mit anderen Gattungen, vor allem mit der Romantik. E.T.A. Hoffmann beispielsweise fügte in viele seiner Erzählungen Erfindungen und Entwicklungen - teils auch in spekulativ weiterentwickelter Form- ein, welche in seiner jüngsten Vergangenheit wesentliche Bedeutung erfahren hatten. Vor allem die Werke "Die Automaten" (1814) und "Der Sandmann" (1815) werden wegen ihrer Beschreibungen von menschenähnlichen Automaten oder mechanisch-lebendigen Puppen von vielen Autoren als Vorläufer und Inspiration der ScienceFiction-Literatur und deren Sparte der Roboterdichtung gewertet. Bereits in diesen Geschichten Hoffmanns zeigt sich die gleiche Faszination und Abscheu gegenüber den zeitgenössischen Bestrebungen der Mechanik, wie sie später in der Auseinandersetzung mit Robotern oder intelligenten Maschinen in vielen Science-Fiction-Werken wieder auftauchen. 97 Zur gleichen Zeit, in der Hoffmanns wissenschaftlich-phantastische Werke entstanden, schrieb die Engländerin Mary Shelley "Frankenstein, or The Modern Prometheus" (1818, dt. Titel "Frankenstein oder Der neue Prometheus"). Im Gegensatz zu Hoffmann, der in seinen Texten menschenähnliche Kunstfiguren und Automaten darstellte, thematisierte Shelley den Wunsch von der künstlichen Erschaffung eines beseelten Wesens. In ihrer Geschichte des aus organischen Substanzen geschaffenen übermenschlichen Monsters stellte die Autorin dar, wie es dem Menschen mit Hilfe neuer Technologien und (fiktiver) wissenschaftlicher Erkenntnissen möglich wird, zum gottgleichen Schöpfer von Leben zu werden. Mary Shelleys "Frankenstein" nimmt in der Science-Fiction-Geschichtsschreibung eine Sonderstellung ein. Viele Autoren sind der Ansicht, dass diese Erzählung grundlegende Themen und Topoi der Science Fiction einleitet, und einige Autoren (wie z.B. Aldiss, Cavallaro, Massari etc.) sind sogar davon überzeugt, dass die Tradition der literarischen Gattung Science Fiction explizit mit diesem Werk ihren Anfang nahm. 98 So stellt Aldiss fest, dass zwar die meisten alten Formen der Literatur, wie etwa Märchen, Mythen und selbst Teile der Bibel, eng mit der Science-Fiction-Literatur verwandt sind, dass es ihnen allerdings an den eindeutigen Gemeinsamkeiten fehlt, welche auf einen übergeordneten Gattungsbegriff schließen ließen. 97 Vgl. ebenda; S. 42. 98 Vgl. ALDISS, Brian W.; WINGROVE, David: "Der Milliarden-Jahre-Traum ... "; a.a.O.; S. 29ff.
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Erst Mary Shelleys Einführung verschiedener Grundtypen und -problematiken in die Phantastik sowie ihre Anknüpfung an das Genre der Gothic Novel - von der die Science Fiction bis zum heutigen Zeitpunkt geprägt ist - leiten den literarischen, wissenschaftlichen, sozialen und thematischen Kontext ein, der schließlich die Science Fiction als Gattung ausmacht. So erkennen Aldiss und Massari in Shelleys Erzählung erstmals gattungsbestimmende Kontinuitäten der Phantastischen Literatur und der Science-Fiction-Literatur, in deren Traditionjedes spätere Science-Fiction Werk zu verstehen ist. Besonders hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang die implizite Auseinandersetzung mit der Beziehung des Menschen zu seiner sich immer schneller verändernden Umwelt, die bis heute einen der grundlegenden Bestandteile moderner Science-Fiction-Erzählungen bildet. Darüber hinaus ist die Erzählung Shellys von grundlegenden ontologischen Fragen geprägt (vor allem die Überschreitung von naturgegebenen und menschlichen Grenzen betreffend), die auch in der klassischen Science Fiction immer wieder eine Rolle spielen. Die unheimlich-phantastischen Geschichten Edgar Allan Poes, wie etwa "The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket" (1850, dt. Titel "Die Abenteuer Gordon Pyms"), führten einige Jahre später die Tradition Shelleys fort und trugen durch die Vermischung von bekannten literarischen Motiven mit wissenschaftlich-phantastischen Elementen zu einer Weiterentwicklung der Phantastischen Literatur bei, die später von Jules Veme aufgegriffen wurde.
Die Entstehung einer Gattung: Jules Verne und Herbert George Wells Auf dem Schauplatz der modernen Industrie und mit dem Aufblühen der modernen technischen Zivilisation entwickelte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Technik- und Wissenschaftseuphorie, die sich zunehmend auch in der wissenschaftlichen Phantastik spiegelte. In diesem Zeitraum wurde durch die rasante Entwicklung des Druckereiwesens außerdem die Massenliteratur mit all ihrer Vielfalt möglich. Der Buchmarkt befand sich im Aufschwung und es wurde möglich, sich eine Existenz auf der Grundlage der Schriftstellerei zu sichern. Vor diesem Hintergrund entstanden die von Technikgläubigkeit und Fortschrittsoptimismus geprägten Werke des Franzosen Jules Verne, dessen Erzählungen gemeinhin als erste Klassiker der ScienceFiction und Phantastischen Literatur gelten. Verne passte als einer der ersten Autoren die Traditionen der Phantastisehen Literatur modernen Anforderungen an. Dafür verband er Elemente und Motive der Phantastischen Reise- und Abenteuerliteratur (wie sie aus den Erzählungen Swifts etc. bekannt sind) mit aktuellen Problemen, Frage-
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stellungen und Hoffnungen zeitgenössischer technisch-naturwissenschaftlieher Entwicklungen. Die meist bürgerlichen Helden Vemes wurden dementsprechend mit einem starken Interesse an naturwissenschaftlichen und technischen Thematiken und entsprechender Begabung ausgestattet. Die Strukturen der phantastischen Reiseabenteuer Vernes sind sich bisweilen sehr ähnlich. Das Grundmodell baut auf einem ungewöhnlichen Ereignis auf, welches den Anlass zu einer Reise gibt. Auf dieser erleben die Protagonisten verschiedene Irrfahrten, Abenteuer, Rätsel usw., bis abschließend das Ziel erreicht wird. Dieses klassische Erzählmodell ist bis heute in der ScienceFiction-Literatur, vor allem im Trivialbereich des Genres, weit verbreitet. Die Erzählungen Vernes gelten in ihren Technikextrapolationen als geradezu visionär, da der Autor in vielen seiner Geschichten Erfindungen und Entdeckungen des 20. Jahrhunderts vorwegnahm, so z.B. Hubschrauber, Klimaanlagen, ferngelenkte Geschosse, bewegte Bilder und implizit sogar die Raumfahrt. 99 Grundsätzlich konzentrierten sich die Werke Vernes allerdings auf die extrapolierte Ausdehnung des Menschen auf verschiedene irdisehe Naturbereiche, wie etwa das Innere der Erde, die Tiefen des Meeres oder die Weiten des Himmels; das Motiv der Eroberung des Weltraums wurde erst in der späteren Science-Fiction-Literatur relevant. Als ein weiterer Pionier der Science-Fiction-Literatur gilt der englische Autor Herbert George Wells, dessen zwischen 1895 und 1905 erschienene Werke bis heute weltweit bekannt sind und vielen Science-Fiction-Filmen als Vorlage dienten. 100 Wells ging in seinen wissenschaftlich-phantastischen Erzählungen einen wesentlichen Schritt über Verne hinaus und legte damit einen weiteren elementaren Grundstein der modernen Science-Fiction-Literatur. So beschrieb Wells in seinen Texten nicht nur eine spekulativ weitergedachte Eroberung der Naturbereiche (wie Verne), sondern spielte mit Möglichkeiten, die weit jenseits der damaligen Naturkenntnisse lagen. In den Erzählungen stellte der Autor Begegnungen mit Außerirdischen, Zeitreisen, menschenfressende Pflanzen und Auseinandersetzungen mit futuristischen Technologien dar und führte mit diesen Beschreibungen Themen und Motive ein, welche die Science-Fiction-Literatur bis heute prägen. Wells' Erstlingsroman "The Time Machine" (1895, dt. Titel "Die Zeitmaschine"), der als erstes literarisches Werk die Bezeichnung Scientific Romance (wissenschaftliche Abenteuergeschichte) erhielt, knüpfte implizit an 99 So etwa "Voyages au centrede la Terre" (1864, dt. Titel "Reise zum Mittelpunkt der Erde"), "De la Terra a la Lune. Trajet direct en 97 heures" (1865, dt. Titel "Von der Erde zum Mond"), ,,Vingt mille Iieues sous !es mers" (1869, dt. Titel "20.000 Meilen unter dem Meer") oder "Le tour du monde en 80 Jours" (1873, dt. Titel "Die Reise um die Erde in 80 Tagen"). lOOVgl. ALDISS, Brian W.; WINGROVE, David: "Der Milliarden-JahreTraum ... "; a.a.O.; S. 151.
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die zeitgenössische Debatte um die Zeit als vierte Dimension an. Dabei popularisierte W ells das Konzept des Zeitreisenden, der sich beliebig auf der Zeitachse hin und her bewegen kann; dieses Motiv wurde in der Folge von vielen Science-Fiction-Schreibern aufgegriffen und weitergeführt. Auch die Beschreibungen in Wells' Erzählung "The War Of The World~" (1898, dt. Titel "Der Krieg der Welten") avancierten zu klassischen Science-Fiction-Thematiken und leiteten die Ära des sogenannten Invasionsromans ein. So hat Wells' Motiv des Verteidigungskrieges der Menschheit gegen die Invasionsbestrebungen fremder Wesen aus dem Weltall inzwischen vielfältige Variationen erfahren und ist besonders im Trivialbereich der Science Fiction geläufig. Mit der Erzählung "The !stand of Dr. Moreau" (1896, dt. Titel "Die Insel des Dr. Moreau") knüpfte Wells, ganz in der Tradition Shelleys, schließlich an die Horrorliteratur und die Gothic Novel an. Die Bedeutung der Werke Wells' für die Entwicklung der Science Fiction reichten jedoch über das Vorausgreifen und Einführen bestimmter Inhalte und Motive des Genres hinaus. Als Verfechter des ethischen Sozialismus war Wells der Ansicht, dass die gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen seiner Zeit zu militärischen Konflikten mit verheerenden Folgen ft.ir die Menschheit führen würden. Diese Haltung schlug sich auch in seinen Texten nieder, viele seiner Erzählungen sind als warnende Dystopien zu verstehen. So ging es dem Autor von Werken wie ,,Krieg der Welten", "Der Ü!ftkrieg" (1908) oder "The World Set Free" (1914) primär um die Aufdeckung gefährlicher gesellschaftlicher Tendenzen und Warnungen vor den Leiden des Krieges. In einigen seiner Werke verlieh der Autor darüber hinaus seinem Wunsch nach einer besseren Gesellschaft Ausdruck und ließ seine Vorstellungen von einer utopischen Gesellschaft durchschimmern. Nach dem Ersten Weltkrieg verfasste der Autor zunehmend auch theoretische Schriften, in denen er den Weltfrieden, Welterziehung und einen utopischen Weltstaat propagierte. 101
Die amerikanische Pulp-Science-Fiction Im frühen 20. Jahrhundert begann schließlich auch in den USA die Ära der modernen Science Fiction. Im Zuge dieser Entwicklung wurde sowohl der Begriff Science Fiction geprägt als auch ihr Ruf, schundhafte und seichte Unterhaltung zu sein. Ab Beginn der lüer Jahre des 20. Jahrhunderts hatten phantastische Vorwegnahmen zukünftiger technischer Möglichkeiten ihren festen Platz in dem Massenmedium der Pulp-Magazine gefunden. Die ausschließlich der Unterhaltung dienenden Pulps betten phantastisch-wissen101 Vgl. WUCKEL, Dieter: "ScienceFiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte"; a.a.O.; S. 72
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schaftliehe Erzählungen zwischen populärwissenschaftliche Artikel zur allgemeinen Technikentwicklung ein. Da das Interesse an dieser Art von phantastischen Erzählungen weit verbreitet war, begann der Verleger Hugo Gernsback 1926 mit der Herausgabe des Magazins ,,Amazing Stories", in dem ausschließlich Science-Fiction-Kurzgeschichten veröffentlicht wurden und das mit der hohen Auflage von 100.000 Exemplaren in den USA gestartet wurde. Durch dieses relativ umfangreiche Magazin, in dem auch populäre und einflussreiche Schriftsteller wie etwa Murray Leinster oder Ray Cummings veröffentlicht wurden, konnte dem Leser eine breite Auswahl an wissenschaftlich-phantastischen Geschichten geboten werden, die von Gernsback schließlich als Science Fiction bezeichnet wurden. Wegen des großen Erfolgs von ,,Amazing Stories" begann Gernsback bereits drei Jahre später mit der Herausgabe des zweiten Science-Fiction-Pulp-Magazins, ,,Astounding Stories". In seiner Eigenschaft als Herausgeber forderte Gernsback, die Science Fiction solle sich zwar hauptsächlich mit der Extrapolation phantastischer Technologien, Beschreibungen technologischer Vorgänge u.ä. beschäftigen, aber durch die Erörterung der möglichen Bedeutung der beschriebenen Technologien für die Gesellschaft auch einen didaktischen Zweck erfüllen. Gernsbacks Hoffnung war dabei, dass die Science Fiction in Zukunft eine bedeutende Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung von Wissenschaft und Technik einnehmen könne: "Not only is science fiction an idea oftremendous import, but it is tobe an important factor in making the world a better place to live in, through educating the public to the possibilities ofscience and the influence ofscience on life [.. .]" 102
Fern von den eigenen Ansprüchen verkam die amerikanische Science Pietion jedoch durch das Wirken der von Gernsback veröffentlichten Pulps sehr schnell zu niveauloser Massenware. Tatsächlich wurden viele der ScienceFiction-Geschichten für ,,Amazing Stories" von Laienschriftstellern und Auftragsschreibern geschrieben, welche von der Struktur her klassische Western- und Abenteuererzählungen verfassten, die lediglich mit futuristischen Requisiten ausgestattet und in ein außerplanetarisches Setting verfrachtet wurden. Die Inhalte bewegen sich daher auf dem Niveau von trivialen Abenteuer- und Actionerzählungen. In der Regel handeln die Geschichten von muskulösen Helden, die durch ferne Galaxien oder über entlegene Planeten reisen und dabei in Kämpfe mit Monstern, Mutanten und Aliens verwickelt werden, aus deren Klauen sie schließlich "vollbusige und ver-
I 02 JAMES, Edward: "ScienceFiction in the Twentieth Century"; Oxford University Press, Oxford und New York 1994, S. 8.
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mutlieh noch unschuldige junge Damen in leichter Bekleidung oder enganliegenden Raumanzügen" 103 retten. Auch der amerikanische Literaturwissenschaftler Adam Roberts hält fest, dass die von Gernsback veröffentlichte Science Fiction weit hinter seinen eigenen Forderungen und Ansprüchen zurückblieb: "However noble these ideas sound, it cannot be denied that the ,Pulps' have a reputation for a very different sort of fiction: for kinetic, fast-paced and exciting tales that arealso clumsy written, hurried in conception, and morally crnde." 104
Diese Art stilistisch anspruchsloser und seichter Unterhaltungsliteratur prägte die Science-Fiction-Produktion der USA über viele Jahre hinweg. 105
Das Goldene Zeitalter- Asimov und Heinlein Erst ab den späten 1930er Jahren begann sich die amerikanische Science Fiction zu wandeln. Ab 1937 übernahm der Naturwissenschaftler und Autor John W. Campbell Jr. die Herausgabe von ,,Astounding Stories" und fing sogleich an, neben den gängigen Auftragsarbeiten innovative Science-FictionErzählungen junger Schreiber zu veröffentlichen. Von seinen Autoren forderte Campbell, dass sie nicht mehr wie bisher Abenteuer- oder Westerngeschichten mit verändertem Setting (d.h. Weltraum und futuristische Requisiten) verfassen sollten, sondern plausible und durchdachte Zukunftswelten. Dafür sollten sich die Autoren verstärkt auf den Bereich der Science konzentrieren und die von ihnen extrapolierten Technologien dementsprechend möglichst wissenschaftlich beschreiben. Darüber hinaus sollten die Welten über einen schlüssigen sozialen, kulturellen und ethischen Kontext verfügen. Tatsächlich mussten viele der Autoren, die in ,,Astounding Stories" veröffentlicht werden wollten, ihre Erzählungen nach Campbeils Vorstellungen umschreiben. 106 Unter der Leitung Campbeils avancierte ,,Astounding Stories" schnell zu dem Science-Fiction-Magazin und wurde maßgebend für die gesamte amerikanische Science Fiction. 107 Viele der neuen Autoren, die Campbell in ,,Astounding Stories" vorstellte und publizierte, waren selbst mit der Pulp-Science-Fiction aufgewachsen und in das aktive Science Fiction Fandom involviert. Innerhalb dieser Fan103 KEIM, Heinrich: ",New Wave' - die Avantgarde der modernen angloamerikanischen Science-Fiction?"; Corian, Meitingen 1983, S. 229. I 04 ROBERTS, Adam: "ScienceFiction (The New Criticalldiom)"; a.a.O.; S. 68. 105 Vgl. WUCKEL, Dieter: "ScienceFiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte"; a.a.O.; S. 120. I 06 Vgl. JAMES, Edward: "ScienceFiction in the Twentieth Century"; a.a.O.; S. 66 I 07 Vgl. ebenda; S. 62.
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gemeinschart wurden Erzählungen besprochen, es wurde sich über neue Autoren ausgetauscht und die Science Fiction an sich kritisch diskutiert. Die dabei von Fans verfassten Artikel und Rezensionen bildeten einen festen Bestandteil vieler Pulp-Magazine. Darüber hinaus ermöglichte es der Rahmen der Fangemeinschaft den Autoren, ihre eigenen Geschichten vorzustellen und sich mit anderen Science-Fiction-Schreibern auszutauschen. Die Autoren, die aus diesen Zusammenhängen hervorgingen, hatten folglich klare Vorstellungen davon, was ihrer Meinung nach gute Science Fiction ausmachte. Viele dieser Autoren distanzierten sich von den Macharten und Konventionen der trivialen Auftragsarbeiten, die den größten Teil der Pulp-Veröffentlichungen ausmachten.108 Vor diesem Hintergrund entstanden schließlich Erzählungen von einflussreichen Autoren wie Isaac Asimov, A. E. van Vogt, Clifford Simak, Jack Williamson, Theodore Sturgeon und Robert A. Heinlein. Aufgrund der Vielfalt an Thematiken und Motiven sowie dem Facettenreichtum, die die amerikanische ScienceFiction zwischen den 1940er und 1950er Jahren entwickelte, bezeichnet die Science-Fiction-Historiographie diesen Zeitraum als The Golden Age. Da die Science Fiction dieser Zeit ausschließlich in Heftehenform veröffentlicht wurde, hatte es sich unter Gemsback eingebürgert, dass die Autoren nur Erzählungen mit stark komprimiertem Inhalt (bestenfalls Novellen) veröffentlichen konnten. Science Fiction war damit auf das Format der Kurzgeschichte beschränkt. Um diese Begrenzung zu umgehen, begann Campbell damit, vermehrt auch Fortsetzungsgeschichten zu veröffentlichen. Dies ermöglichte es den Autoren, umfangreiche Erzählungen zu verfassen, in denen große galaktische Imperien mit komplexen Handlungssträngen entworfen werden konnten. Generell zeichneten sich die Erzählungen von diesem Zeitpunkt an dadurch aus, dass sie über besser ausgearbeitete Figuren, Konflikte und Weltentwürfe verfügten. Darüber hinaus ließen einige Autoren grundlegende naturwissenschaftliche Fragestellungen und Konzepte in ihre Geschichten einfließen und führten so die Science Fiction zumindest teilweise aus den Sphären des Trivialen heraus. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die frühen Roboter- und Imperiumsromane Asimovs, von denen viele ihren Anfang in ,,Astounding Stories" nahmen. Der Naturwissenschaftler Asimov entwarf in seinen Erzählungen betont wissenschaftliche Technikextrapolationen, mit denen er sich auf aktuelle Forschungsfragen der Physik und Mechanik bezog. So extrapolierte der Autor in seinen Robotererzählungen zukünftige Künstliche Intelligenzen und erörterte deren Möglichkeiten und Einsatzgebiete. Dabei reflektierte Asimov die Bedeutung derartiger Künstlicher Intelligenzen für die Gesellschaft und warf ethische Fragen auf, die sich mit den I 08 Vgl. ebenda.
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Verantwortungen und Rechten von Mensch und Roboter befassten (in diesem Zusammenhang formulierte er auch die "Robotergesetze" 109 , in denen der Mensch als die höchste zu beschützende Instanz beschrieben wird). Interessanterweise waren die Robotergesetzte von Asimov nicht lediglich als ein marginaler Bestandteil seiner Geschichten gedacht, sondern sollten Forschern und Wissenschaftlern bei der konkreten Entwicklung und Programmierung von zukünftigen Robotern als eine Art ethischer Leitfaden dienen. Auch in anderen Werken zeigte sich Asimovs Anspruch, neben seinen betont wissenschaftlich dargestellten Technikextrapolationen bestimmte metaphysische Fragen aufzuwerfen. In der bekannten "Foundation"- Trilogie beispielsweise, die ihren Anfang ebenfalls in Form einer Fortsetzungsgeschichte in ,,Astounding Stories'' nahm, entwickelte der Autor geschichtsphilosophische und erkenntnistheoretische Fragestellungen und beeindruckte damit viele Kritiker und Leser. 110 Neben Asimov gilt Robert A. Heinlein als einer der Autoren dieser Zeit, welche die moderne amerikanische Science Fiction bis heute mit am stärksten geprägt haben. Der ehemalige Marineoffizier widmete sich in seinen Erzählungen- wie auch Asimov- der Beschreibung vielfältiger Technikvisionen, wobei er sich besonders auf Kampf- und Waffentechnik konzentrierte. Als besonders prägend für die Science Fiction gilt jedoch Heinleins Entwurf der future history. Heinlein ließ viele seiner Kurzgeschichten und Novellen im gleichen fiktiven Universum spielen und skizzierte so eine sich über mehrere Werke erstreckende Geschichte der Zukunft. Dafür nahm der Autor in einigen späteren Texten Bezug auf Ereignisse aus früheren Erzählungen und erläuterte deren geschichtliche Bedeutung. So finden sich in seinen Geschichten vielfältige intertextuelle Verweise (wie etwa am Rande erwähnte Protagonisten aus früheren Erzählungen o.Ä.), die es dem treuen Leser ermöglichen, technologische, soziale, politische und kulturelle Entwicklung der von Heinlein über mehrere Jahre hinweg beschriebenen Welt nachzuvollziehen. Der dabei entstandene Weltentwurf faszinierte ein breites Publikum und viele Science-Fiction-Schreiber griffen später auf die Strategie des Autors zurück. Der englische Literaturwissenschaftler Edward James schreibt in diesem Zusammenhang: "Heinlein was able to increase the depth and resonance ofhis short stories by linking them tagether and by gradually building up a picture of a single, varied, complex and,
109 Vgl. ASIMOV, Isaac: ,,Ich, der Robot"; Kar! Rauch Verlag, Düsseldorfund Bad Salzig 1952 (zuerst 1950). IIOVgl. ROBERTS, Adam: "ScienceFiction (The New Criticalldiom)"; a.a.O.; S. 78.
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above all, plausible future. [... ] Heinlein's idea ofa future history [... ]was to become a staple ofsfwriters thereafter." 111
Wie in den Erzählungen Asimovs werden auch in Heinleins Geschichten bestimmte politische, moralische und ethische Fragen erörtert. Heinlein propagierte dabei besonders die Ideale des Libertarismus, wie sie vor allem in den Kreisen der - teilweise extremen - amerikanischen Rechten vertreten werden. So wurden viele der Werke Heinleins- wie z.B. "Starship Troopers" (1959, dt. Titel "Sternenkrieger") - auch dafür kritisiert, dass sie von Kriegshysterie, Invasionsängsten und einem antidemokratischen Weltbild geprägt waren. Einige Kritiker warfen Heinlein darüber hinaus "einen Hang zum Militarismus [... ] und gelegentlich sogar Ansätze zu faschistischem Gedankengut"112 vor. 113 Obwohl die Inhalte der einzelnen Erzählungen und Autoren teilweise sehr unterschiedlich waren, hat die Science Fiction des Golden Age zwei grundlegende Gemeinsamkeiten: Die Technologiebeschreibungen rückten ins Zentrum der Geschichten, und der Fokus lag auf dem Weltraum mit all seinen Möglichkeiten. So beschrieben damalige Science-Fiction-Autoren die oft einen naturwissenschaftlichen Hintergrund hatten - fiktive technische Errungenschaften und Neuerungen, durch die ein Vordringen in den Weltraum möglich wurde. In den Weiten der Galaxis wurden schließlich die Eroberung und Besiedelung fremder Planeten, Begegnungen mit fremden Wesen und interstellare Kriege zwischen verschiedenen Rassen beschrieben. Die Epoche des GoldenAge war folglich eine der ganz großen Visionen und Entwürfe. Für die Bedürfnisse und Empfindungen des einzelnen Individuums war in diesen Phantasien, die sich mit der Aufteilung und Ordnung des Weltraums beschäftigten, kein Platz. 114 Folglich waren die Protagonistenoft Angehörige der technologischen Elite - Stereotypen, die für ein bestimmtes Konzept, eine übergeordnete Idee o.Ä. standen. Reflexionen darüber, was der technische Fortschritt für den Einzelnen tatsächlich bedeutete III JAMES, Edward: "ScienceFiction in the Twentieth Century"; a.a.O.; S. 66. 112 ALPERS, Hans Joachim; FUCHS, Werner; HAHN, Ronald M.; JESCHKE Wolfgang: "Lexikon der Science-fiction-Literatur"; Heyne, München 1988 (zuerst 1980), S. 535. 113 Interessanterweise fanden Heinleins Werke auch in linken Subkulturen eine breite Leserschaft. Besonders der Roman "Stranger in a Strange Land" ( 1961, dt. Titel "Ein Mann in einer fremden Welt"), welcher wegen seiner freizügigen Schilderung von Sexualität, Promiskuität und esoterischer Spiritualität bekannt wurde, fand Ende der 1960er Jahre viele begeisterte Leser bei den Hippies und wurde zur Kultlektüre dieser Friedensbewegung. 114 Vgl. ROBERTS, Adam: "ScienceFiction (The New Critical Idiom)"; a.a.O.; S. 77.
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oder etwaige Beschreibungen der Innenwelt der Protagonisten, fehlen in dieser Phase der Science Fiction beinahe gänzlich.
Die britische NewWave Ab den 1950er Jahren wurden Science-Fiction-Geschichten vermehrt im Taschenbuchformat veröffentlicht. Der Science Fiction wurde zwischenzeitlich eine gewisse unterhaltungsliterarische Qualität eingeräumt und ihre Leserschaft wuchs in dieser Zeit stetig. Diese Entwicklung führte zu einem grundlegenden Wandel der Funktion von Science-Fiction-Magazinen. Zwar publizierten diese weiterhin Erzählungen und Kurzgeschichten, hauptsächlich aber dienten die Magazine von nun an als Informations- und Austauschplattform, in der neue Autoren und Taschenbuchpublikationen vorgestellt, besprochen und empfohlen wurden. Im Jahr 1960 entschied Campbell schließlich, ,,Astounding Stories" in ,,Analog" umzubenennen; dieser Titel entsprach dem Herausgeber zufolge der neuen Funktion des Magazins und ließ es seriöser erscheinen. 115 Auch in dieser verlegerischen Entscheidung drückte sich der Wandel des Anspruchs und der Bedeutung der Science-FictionMagazine aus. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde schließlich das britische Science-Fiction-Magazin "New Worlds" als Plattform der sich damals formierenden New-Wave-Bewegung genutzt. Ihren Anfang nahm diese literarische Entwick:lung 1964, nachdem der 24-jährige Engländer Michael Moorcode die Herausgeberschaft des seit 1946 bestehenden Magazins ,,New Worlds" übernommen hatte. Moorcock und J.G. Ballard begannen sofort, die Ausrichtung des Magazins grundlegend zu verändern. Die Umgestaltungsmaßnahmen der beiden Autoren erstreckten sich dabei auf das Erscheinungsbild sowie die Inhalte des Magazins. In beiden Bereichen wurde eine deutliche Abgrenzung zu herkömmlichen Science-Fiction-Magazinen angestrebt. So wurde ,,New Worlds" von diesem Zeitpunkt an auf teurem Hochglanzpapier gedruckt und nicht mehr - wie die üblichen Pulps - auf stark holzhaltigem Billigpapier. Auf dem Cover wurden überdies nicht mehr Raumschiffe oder furchterregende Monster aus dem All zur Schau gestellt, sondern zur Illustration des Titelblattes wurden stattdessen Collagen, Makrofotografien oder Pop-Art Motive verwendet. Der dezidiert künstlerische Anspruch, der in dieser Gestaltung zum Ausdruck kam, wurde auch durch den neuen Untertitel "Fiction. Science. Art." verdeutlicht. In den Magazininhalten zeigte sich überdies eine gewisse Ablehnung der zeitgenössischen Science-Fiction-Publikationsformen. So machten Kurzgeschichten und Fortsetzungsromane nur einen geringen Teil von ,,New 115 Vgl. ROGERS, A1va: ,,A Requiem for Astounding"; Advent, Chicago 1970 (zuerst 1964), S. 177ff.
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Worlds" aus. Wie auch in anderen Science-Fiction-Magazinen wurden neben den Erzählungen auch populärwissenschaftliche Texte veröffentlicht. Diese beschäftigten sich jedoch nicht mit den typischen Science-Fiction-Sujets wie Raumfahrtentwicklung, Technikforschung o.Ä., sondern widmeten sich anderen aktuellen Themen, wie der Umweltentwicklung, Ozeanologie, Gehirntransplantation und Friedensforschung. Gänzlich neu für ein ScienceFiction-Magazin waren darüber hinaus Artikel zu moderner Kunst und Medienphänomenen. So besprach ,,New Worlds" klassische Musik, experimentelle Filme und Grafiken, Pop-Art-Künstler und deren Werke und interessierte sich für die theoretischen Konzepte Salvador Dalfs und Marshall McLuhans. 116 Der deutliche Bruch mit den Konventionen und Formen bisheriger Science-Fiction-Publikationen spiegelte die von der New Wave gestellten Forderungen nach neuen Formen und Inhalten innerhalb dieser Literaturgattung. Bereits in den ersten Ausgaben von "New World~" unter der Herausgeberschaft von Moorcock wurden Artikel von Autoren wie Norman Spinrad, John Brunner und Brian Aldiss publiziert, welche die zeitgenössische Science Fiction scharf kritisierten. In den Augen dieser Autoren war die Science Fiction zu einem Domizil primitiver Projektionsgeschichten und Omnipotenzphantasien verkommen. 117 Besonders bemängelt wurde von den Autoren dabei, dass sich die Science Fiction mit ihren ewig gleichen Entwürfen großer galaktischer Imperien und detailverliebten Beschreibungen von Technologien weder literarisch noch inhaltlich weiterentwickelte. Ballard bemängelte in diesem Zusammenhang: "Bloß vierzig Jahre ist es her seit dem ersten ,Buck Rogers'-Comic strip und nur zwei Jahre weniger als ein Jahrhundert seit der Geburt des größten modernen Vertreters der SF, H.G. We11s, und doch wird das Genre noch immer vom selben Satz an Konventionen dominiert, demselben Repertoire von Ideen, und, am schlimmsten, von der Annahme, daß es noch immer möglich ist, Darste11ungen von interplanetaren Reisen zn schreiben, die an den Realismus und nicht an die Phantasie sich wenden (was man die Torheit Campbe11s nennen könnte). Sobald sie ,den Boden verlassen hat', um sich in den Weltraum hinauszubegeben, ist a11e ScienceFiction Fantasy, und je ernsthafter sie sich zu geben versucht, desto mehr versagt sie, da es ihr vö11ig an der moralischen Autorität und der Überzeugung einer aus der Erfahrung gewonnenen Literatur gebricht."'"
116Vgl. KEIM, Heinrich: ",NewWave' ... "; a.a.O.; S. 231. 117 Vgl. MERKER, Reinhard: "Reklame fiir den schlechten Lauf der Dinge. Einwände gegen die spekulative Welthaltung. Auji·ätze zur Science-Fiction und Phantastischen Literatur"; Verlag U.T., Reken 2001. 118Zitiertnach: KEIM, Heinrich: ,"NewWave'... "; a.a.O.; S. 219.
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Darüber hinaus wurde beanstandet, dass der spekulative Gehalt, die Themen, Motive und der Umgang mit Technik in der zeitgenössischen Science Fiction auf einem Zukunftsbild beruhten, welches sich Mitte der 1960er Jahre weitgehend überlebt hatte. So waren viele der phantastischen Zukunftsvisionen früherer Autoren bereits Wirklichkeit geworden; die bewegten Bilder Vernes waren mit dem Farbfernsehen inzwischen eine feste und stetig wachsende kulturelle Größe, der Himmel begann sich mit Satelliten zu überziehen, es gab billige Jetflüge, Pop-Musik, Promiskuität, Drogen und die Möglichkeit, weite Teile der Erde mit einem Schlag auszulöschen. Diese Veränderungen der äußeren Realität forderten den Autoren zufolge eine neue Form der literarischen Auseinandersetzung mit der zunehmend technisch geprägten Gegenwart. Dabei formulierten die Schriftsteller der New Wave ein besonderes Interesse dafür, wie sich diese Neuerungen auf den Menschen an sich, d.h. auf dessen Innenwelt, auswirkten. Statt Galaxien sollten nun menschliche Tiefen erforscht werden. Erklärter Anspruch der Autoren war es dabei, Erzählungen zu verfassen, die literarisch wertvoll und radikal anders als die bisherige ScienceFiction sein sollten. Daher orientierte sich die NewWave bei ihren Erforschungen der inneren Befindlichkeiten von Individuen zukünftiger Gesellschaften an den Methoden der Hochliteratur. Besonders die Darstellungstechniken der avantgardistischen Beat-Poeten - und unter diesen insbesondere jene William S. Burroughs'- dienten der NewWave als Inspirationsquelle für ihre eigenen literarischen Texte. Die Erzählungen der New Wave, in denen das Leiden des Einzelnen in einer zunehmend technisierten Welt das Leitinteresse bildete, zeichneten sich in der Folge durch vielfältige literarische Neuerungen aus. Anders als die Geschichten der traditionellen Science Fiction, die noch immer den klassischen Erzählstrukturen Jule Vernes und Mary Shelleys folgten, waren die Texte der New Wave von stilistischen und literarischen Experimenten geprägt. So gaben viele New-Wave-Autoren die Form der linearen Erzählung auf und verfassten stattdessen Texte, die von inneren Monologen und erlebter Rede bestimmt waren. Die Logik des rationalen Sprachgebrauchs wurde dabei weitgehend fallengelassen und es wurden nur noch gedankliche Impressionen des Protagonisten wiedergegeben. Diese Erzählstrategie bedeutete eine Fusion aller Personen und Handlungsebenen in der Person des Ich-Erzählers, so dass der Leser gänzlich auf dessen subjektive Wahrnehmungen und Assoziationen zurückgeworfen wurde. Mit ihrer Konzentration auf den , Inner Space', d.h. die Innenwelt, setzten die Autoren der New Wave der damaligen Science Fiction literarische Produktionen entgegen, welche bewusst die literarische Ästhetik in das Zentrum ihres Schaffens stellten. Naturwissenschaftliche Aspekte und Technikentwürfe wurden dabei gänzlich außer Acht gelassen. Folglich waren anstatt detailverliebter Technikbeschreibungen und Entwürfe galaktischer Im-
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perien nun Psi-Kräfte, Magie, Schamanismus, halluzinogeneund esoterische Erfahrungen bevorzugte Thematiken und Inhalte der New Wave. Im Zuge dieser Introspektive in der Science Fiction traten Autoren wie Ursula K. Le Guin, John Brunner, Philip K. Dick, Robert Silverberg, Stanislaw Lern, Brian Aldiss, Norman Spinrad und J.G. Ballard in den Vordergrund. Mit ihrer Konzentration auf die menschliche Psyche, den Inner Space und auf ihre vielfältigen Experimente führte die New Wave die Science Fiction in ein neues Zeitalter. So bemerkt der amerikanische Literaturwissenschaftler Brian McHale: "Science fiction's breakthrough to modemist poetics did not occur unti1 the 1960s, with the so-called ,new wave' in American and British science-fiction writing. Dating from the ,new wave', however, the pace of change in science fiction has acce1erated, so that a1ready by the 1ate 1960s and ear1y 1970s we can begin to discem, in the work of certain semina1 fignres, if not the genre as a who1e, an increased openness to deve1opments in postmodemist writing - in other words, a tendency toward the postmodemisation of science fiction." 11 '
So verwundert es nicht, dass sich auch die spätere Cyberpunk-Bewegung, deren Werke von McHale und anderen Autoren als literarischer Ausdruck der Postmodeme gesehen werden, auf die Tradition der New Wave berief und deren Ansatz in gewisser Weise weiterführte. Zuvor jedoch beruhigte sich die Science Fiction von den thematischen und stilistischen Neuerungen der New Wave, die zwar zur Triebfeder der beginnenden akademischen Science-Fiction-Kritik wurde, sich aber wegen ihrer stilistischen Experimente und ihres intellektuellen Anspruchs nur bei einer geringen Leserschaft durchsetzen konnte. Bereits 1971 musste Moorcock das Magazin "New Worlds" aufgeben, da es sich - trotz vielfältiger Fördermittel- finanziell nicht mehr tragen konnte. So hatte die New Wave zwar eine Sparte für hochliterarische Science Fiction eröffnet, jedoch war es ihr nicht tatsächlich gelungen, die starren Konventionen dieser literarischen Gattung zu revolutionieren. In den 1970er Jahren ging der Trend folglich wieder zu eher plumpen gesellschaftskritischen oder apokalyptischen Erzählungen, die von den Invasionsängsten und Erfahrungen des Kalten Krieges geprägt waren. Die meisten vor diesem Hintergrund entstandenen Werke - wie etwa Sterling E. Laniers "Hiero 's Journey" (1973, dt. Titel "Hieros Reise") oder Larry Niven und Jerry Pournelles ,,Luc{fer's Hammer" (1977, dt. Titel ,,Luzifers Hammer"), um nur einige Titel zu nennen- gehörten eher in den Bereich der Trivialliteratur. Interessanterweise entwickelten sich die Verkaufszahlen der Science-FictionLiteratur in dieser Zeit erstmals rückläufig. Der Science-Fiction-Film hinge119 McHALE, Brian: "Postmodernist Fiction"; a.a.O.; S. 69.
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gen erlebte einen starken Boom und mit dem großen Erfolg des Films "Star Wars" (1977, dt. Titel ,,Krieg der Sterne") von George Lucas entstanden zunehmend epische Space Operas, welche allerdings doch nur Abenteuer- und Reisegeschichten in einem veränderten Setting waren. Diesen Werken mangelte es meistens an jeglichen subversiven Strategien und literarischem Anspruch, stattdessen zeichneten sie sich durch einen deutlichen Eskapismus aus. Dieser Eskapismus wurde vor allem in der Verweigerung einer Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Tendenzen technologischer, gesellschaftlicher oder politischer Natur deutlich, obwohl sich die damaligen äußeren Realitäten zunehmend wandelten. Spätere Cyberpunk-Autoren kritisierten und verurteilten diese Ermüdungserscheinungen der Science-Fiction-Literatur auf das Schärfste und versuchten mit ihren Werken, die Science Fiction zu erneuern.
II. Cyberpunk- Neue Welten, neue Texte
2.1 MIRRORSHADES, CHEAP TRUTH UND PUNKISH VIOLENCE: DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER CYBERPUNK-LITERATUR "[T]o become a movement demands some generational agreement, a narrative thrust... and something new." 1
Bis zum heutigen Zeitpunkt ist noch keine Arbeit erschienen, in der die Formierung der Mirrorshades-group, besser bekannt als Movement-Gruppe, genauer beleuchtet und zusammengefasst wird. Die Entstehungsgeschichte der Bewegung, aus welcher die Cyberpunk-Literatur hervorging, liegt daher weitgehend im Dunkeln. Die einzelnen Autoren des Movement beschreiben zwar in verschiedenen Interviews meist ähnliche Begebenheiten, welche sie als bezeichnend für die Formierung und den Entwicklungsprozess ihrer gemeinsamen Arbeit ansehen, zwischen diesen einzelnen Momenten bleiben jedoch viele Lücken bestehen. Da man bei der Skizzierung der Anfange und Ausgangspunkte dieser literarischen Strömung weitgehend auf Artikel, Interviews und Anekdoten der einzelnen Autoren angewiesen ist, bleibt das Bild entsprechend unscharf. Verschiedene Quellen weisen darauf hin, dass der später als Wortführer der Movement-Gruppe geltende Bruce Sterling und sein zukünftiger Mitstreiter Lewis Shiner erstmals 1976 zusammentrafen. 2 Zu dem Zeitpunkt ihres ersten Kennenlernens arbeitete der 1954 in Texas geborene Sterling an seinem ersten Roman "Involution Ocean" (1977, dt. Titel "Der Staubplanet")- einer ScienceFiction Version von "Moby Dick"-, der im folgenden Jahr publiziert wurde. Zuvor hatte Sterling mit seinen Eltern mehrere Jahre
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STERLING, Bruce: "Cheap Truth 12"; http://www.its.caltech.edu/-erich/ cheaptruth/cheaptru.l2 Vgl. SHINER, Lewis: "Inside the Movement: Past, Present, and Future"; In: SLUSSER, George; SHIPPEY, Tom (Hrsg.): "Fiction 2000. Cyberpunk and the Future ofNarrative"; The University of Georgia Press, Athens 1992, S. 19.
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in Indien gelebt, da sein Vater dort als Ingenieur an einem Projekt für eine neue Art von Pflanzendünger tätig war. Im Anschluss an seinen Indienaufenthalt, während dessen Sterling über die Tätigkeit seines Vaters mit verschiedenen Möglichkeiten der biotechnischen Optimierung der Lebensmittelproduktion in Berührung gekommen war, besuchte er die Universität in Austin, Texas, und graduierte mit einem B.A. im Fach Journalismus. Parallel zu seinem Studium bildete er sich in Schreibwerkstätten weiter, besuchte häufig Science Fiction Conventions und suchte den Kontakt zu gleichgesinnten Autoren. 3 Der 1950 geborene Lewis Shiner hingegen hatte zu dem Zeitpunkt seines ersten Kontakts mit Sterling bereits seine erste Kurzgeschichte in einem lokalen Science-Fiction-Magazin veröffentlichen können, bei dem er 1968 einen Kurzgeschichten-Wettbewerb gewonnen hatte. 4 Kurz nach seiner ersten Veröffentlichung schrieb sich Shiner am Vanderbilt College in Nashville, Tennessee, im Fach Russisch ein und arbeitete parallel dazu als Übersetzer. Zwei Jahre später brach er das Studium ab, um in den folgenden Jahren zwischen Dallas und Austin zu pendeln, Gelegenheitsjobs nachzugehen, sich verschiedenen Musikbands anzuschließen, weiterhin Entwürfe für einen Roman und mehrere Kurzgeschichten zu schreiben, die jedoch zunächst unveröffentlicht blieben. 5 Wie auch Sterling nahm Shiner regelmäßig an Schreibwerkstätten teil und besuchte Science Fiction Conventions, um sich dort mit anderen Autoren auszutauschen. In einem von ihm herausgegebenen Fanzine fasste er die Erfahrungen, die er bei derartigen Veranstaltungen sammeln konnte, zusammen und stellte gelegentlich junge Autoren vor, die ihm dort aufgefallen waren. 6 Knapp zehn Jahre nach seiner ersten Publikation wurde Shiners zweite Kurzgeschichte 1977 im Science-Fiction-Magazin "Galileo" veröffentlicht. Ab diesem Zeitpunkt wurden seine Erzählungen - bis 1984 waren es ausschließlich Kurzgeschichten - regelmäßig verlegt. Überdies war Shiner ab 1976 für eine lokale Computerfirma als technischer Schreiber tätig und verfasste in deren Auftrag unter anderem Handbücher für Programmiersprachen. Shiner, der angibt sehr interessiert daran gewesen zu sein, mehr über Computer zu lernen, nutzte diese Gelegenheit, um sich selbst das Programmieren beizubringen, und konnte kurz darauf damit beginnen, als Programmierer tätig zu werden. 7
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Vgl. NNDB: "Bruce Sterling"; http://www.nndb.com/people/722/000023653 Vgl. SHINER, Lewis: "Life As We Know It"; http://www.lewisshiner.com/ autobio.html. Vgl. ebenda. Vgl. ders.: "Inside the Movement ... "; a.a.O.; S. 19. Vgl. ders. "Life As We Know It"; a.a.O.
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Begierig darauf, die eigenen Erfahrungen neuer Möglichkeiten von Technik und Wissenschaft in ihren Erzählungen zu verarbeiten, trafen die beiden Autoren 1976 zufällig auf einer Science Fiction Convention an der A&M University in Texas aufeinander. Nach Shiners Beschreibung seiner ersten Begegnung mit dem jungen Bruce Sterling legte dieser bereits in den 1970er Jahren das forsche und provokative Auftreten an den Tag, welches in den 1980er Jahren zu einem Markenzeichen der jungen Movement-Gruppe werden sollte: "I first met Bruce Sterling at a regional convention at Texas A&M [University]. It was 1976 and Brnce was measly twenty-one years old. I remernher him walking up to guest of honor Anne McCaffery and saying, ,Hi, I'm Bruce Sterling, the hattest young SF writer in Texas.' Christ, I thought, what an arrogant prick. (Bruce, of course, now claims that he was being ironic. In any event, I responded by publishing a checklist of [... ] Sterling's work in my Fanzine- an entire blank column).""
Ein Jahr später lernten sich der spätere Cyberpunk-Virtuose William Gibson und John Shirley, der heute als Urvater des Cyberpunk gilt, auf einer Science Fiction Convention im kanadischen Vancouver kennen. Wie der Zufall es wollte, nahmen sie an der gleichen Veranstaltung teil und waren beide gleichermaßen schockiert darüber, als sich herausstellte, dass keinem der restlichen Teilnehmer William Burroughs bekannt war. Die beiden kamen im Anschluss an die Veranstaltung miteinander ins Gespräch und begannen, sich über ihre aktuellen Arbeiten und ihre Biographien auszutauschen.9 Der 1948 in Virginia geborene Amerikaner William Gibson war zwisehen den 1960er und 1970er Jahren quer durch die USA und Europa gereist, hatte in verschiedenen Kommunen gelebt und war schließlich ins kanadische Vancouver ausgewandert. Dort hatte er seinen B.A. in Englischer Literatur abgelegt und anschließend damit begonnen, an verschiedenen Kurzgeschichten zu schreiben. Bereits während seines Studiums entstand die Erzählung "Fragments of a Halogram Rose" (1977, dt. Titel "Fragmente einer Hologramm-Rose"). Diesen Text reichte Gibson im Frühjahr 1977 anstelle einer Semesterarbeit ein, und bereits im Herbst 1977 wurde die Kurzgeschichte in dem Science-Fiction-Magazin "Unearth" veröffentlicht. 10 Ders.: ",nside the Movement ... "; a.a.O.; S. 19. Vgl. LAURENCE, Alexander: ,,An Interview with John Shirley"; http://www. altx.com/interviews/john.shirley.html. 10 Vgl. McCAFFERY, Larry: "An Interview with William Gibson"; In: McCAFFERY, Larry (Hrsg.): "Storming the Reality Studio. A Casebook ol Cyberpunk and Postmodern Science-Fiction"; Duke University Press, Durharn und London 1991, S. 282.
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Der 1953 in Texas geborene und in Portland aufgewachsene Musiker und Schriftsteller John Shirley hatte bereits in seiner Schulzeit damit begonnen, "underground newspapers" 11 herauszugeben, in denen er kritische Anmerkungen zur seiner Schule, zur Gesellschaft und Populärkultur verbreitete, aber auch erste eigene Prosatexte an seiner Highschool veröffentlichte. Nach seiner Schulzeit gab er zusätzlich verschiedene Fanzines heraus, die meisten davon erschienen in Portland. Schließlich nahm er 1973 an dem renommierten Clarion Writer 's Workshop der Michigan State University teil, in welchem bekannte Science-Fiction-Autoren den literarischen Nachwuchs ausbilden. Dort wurde Shirley von Autoren wie Ursula Le Guin, Robert Silverberg, Frank Herbert und dem Herausgeber Terry Carr unterrichtet. Es entstand ein kontinuierlicher Kontakt zu einigen seiner Lehrer, mit denen ihn fortan ein freundschaftliches Verhältnis verband. 12 Anschließend begann Shirley Kritiken und Aufsätze für einige Literaturzeitschriften zu schreiben, widmete sich aber auch wieder verstärkt seinen Musikprojekten. Als Gibson 1977 mit Shirley ins Gespräch kam, bat er ihn darum, seine Arbeiten zu lesen und eine Einschätzung abzugeben. 13 So kam es, dass Gibson einige seiner Erzählungen an Shirley sandte, der inzwischen wieder in Texas wohnte. Shirley war von Gibsons Arbeit derart beeindruckt, dass er sogleich seine Kontakte nutzte und Gibsons Texte an die Herausgeber Terry Carr und Robert Sheckley weiterleitete, mit der Folge, dass die nächste Veröffentlichung Gibsons "Burning Chrome" (1982, dt. Titel "Chrom brennt") in dem von Shirley herausgegebenen Magazin "Omni" erschien. Shirley gilt daher heute als einer der frühsten Unterstützer Gibsons. Shirley selbst kommentiert dies mit der für ihn typischen unbescheidenen Art: "Don 't Iet anyone tel! you different: I discovered Gibson. I met him in Vancouver, BC, years before Neuromancer. [... ] We instantly locked gazes, as they say in popular fiction, and talked afterwards. He said that he was writing short stories, and I inwardly cringed. Most ofthe time, when you're a writer and people come up to you and say ,I am writing some stuff, will you Iook at it?' It's usually horrible writing. Then you have to be honest and crnsh their egos or sidestep the matter. But Gibson was so intelligent, that I told him that I would read it. So he sent me a few short stories, and it was like the first time you hear Jimi Hendrix play a few notes, you know this guy can play guitar. Gibson 's very distinctive. After reading a few paragraphs, I knew he was a virtuoso." 14 II GURAN, Paula: .,John Shirley: Seeking Redemption"; http://www.darkecho.com/ darkecho/archives/shirley.html. 12 Vgl. SHIRLEY, John: .)nkwell: Authors and Artists. Topic 65: John Shirley"; http://www. well.com/conf/inkwell.vue/topics/65/John-Shirley-pageü l.html. 13 Vgl. McCAFFERY, Larry: "An Interview with William Gibson"; a.a.O.; S. 282. 14 LAURENCE, Alexander: "An Interview with John Shirley"; a.a.O.
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Auch bei Gibson hinterließ das Zusammentreffen mit dem Punkmusiker Shirley bleibenden Eindruck: "I first met him in I 977, when he was into spiked dog collars. No one was ready for hisinsane novels [... ] There just wasn't anything eise like that being written then." 15
Shirley war schließlich auch derjenige, der Gibson mit Sterling bekannt machte. Sterling hatte Shirley nach der Lektüre eines seiner frühen ScienceFiction-Romane- vermutlich "City Come A-Walkin" (1980, dt. Titel "Stadt geht los"), von dem Gibson heute sagt, dass dies der erste Cyberpunk-Roman gewesen sei - angeschrieben und seitdem standen die beiden Autoren in sporadischem Briefkontakt. 16 Wie genau das Zusammenkommen von William Gibson und Bruce Sterling vonstatten ging, ist heute leider nicht mehr genau nachvollziehbar. In verschiedenen Interviews wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die beiden Autoren zunächst ,through the mails' miteinander korrespondiert haben. Sterling soll schließlich wöchentlich an Gibson geschrieben haben, um ihm unter anderem Zeitungsausschnitte aus The New Seienfist und verschiedene Literaturhinweise zuzusenden.17 Worüber sich die beiden Autoren jedoch tatsächlich austauschten und was sie mit dem Material anfingen, bleibt offen. Ebenso ist unklar, zu welchem Zeitpunkt sie miteinander in Kontakt kamen. Verschiedene Aussagen lassen jedoch den Schluss zu, dass Shirley die beiden Autoren schon bald nach seinem ersten Zusammentreffen mit Gibson miteinander bekannt machte. 18 Indes steht fest, dass Shiner und Sterling ab 1979 regelmäßig in Kontakt standen, da sie beide an dem Turkey City Neo-Pro Rodeo and Writer 's Workshop im texanischen Austin teilnahmen. Shiner beschreibt, dass er und Sterling ab diesem Zeitpunkt eine Art Koalition eingegangen waren und gemeinsam die anderen Teilnehmer dieser Science-Fiction-Schreibwerkstatt kritisierten: "8ruce and I were probably the most passionate and outspoken critics there. 8oth of us had our agendas: 8ruce ideas, me style. 8oth ofus had well-thought-out positions and the sort ofvicious verbal skills (developed as wimps in grade school) that Iet us run roughshod over more polite, less aggressive members. " 19
15 McCAFFERY, Larry: "An Interview with William Gibson"; a.a.O.; S. 280. 16 Vgl. eben da. 17 Vgl. OLSEN, Lance: "who was that man?"; http://www.lanceolsen.com/ whowasthatman.html. 18 Vgl. SHINER, Lewis: ",nside the Movement... "; a.a.O.; S. 20. 19 Ebenda.
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Im Dezember 1981 brachte Sterling das Manuskript von William Gibsons Kurzgeschichte "Burning Chrome" zu dem gemeinsamen Schreibtreffen mit. Shiner berichtet, dass in der Science-Fiction-Szene zu dieser Zeit bereits von Gibson gesprochen wurde, da er kurz zuvor einen Vertrag mit dem Herausgeber Terry Carr abgeschlossen hatte. Da Carr zu dieser Zeit bei dem Science-Fiction-Verlag Ace Books die Herausgabe einer Reihe plante, in der nur Erstlingswerke veröffentlicht werden sollten, wurde Gibson bereits als Insider-Tipp gehandelt. Shiner, der daher sehr gespannt auf die Arbeit Gibsons war, beschrieb die Lektüre des Manuskripts geradezu als Eingebung, welche weitreichende Folgen für seine eigene Arbeit hatte: "So I grabbed the manuscript and started to read. I was hooked instantly. The first paragraph was full of heat, neon, vivid reds, cathode greens. There were malls, silicon chips, LEDs, and brand names. All this in the first paragraph. A cartoon light bulb went on over my head. Science fiction could be energetic, hip, lean, and best of all, real. It could have real stuff and real people in it. Everything else in the workshop seemed trivial and old-fashioned by comparison, especially my novel (which I soon abandoned). " 211
Überwältigt von der Arbeit Gibsons, begann Shiner verstärkt an seinem Schreibstil zu feilen und neue Inhalte zu bearbeiten. So begann der Autor vermehrt, seinen eigenen Computer- und Musikhintergrund in seine Kurzgeschichten einfließen zu lassen, in denen schließlich "fashion, rock and roll, machine intelligence, video clubs, cults, and drugs" 21 zu bestimmenden Motiven wurden. Auch Sterling erinnert sich, dass er von Gibsons Erzählung, genauso aber auch von Shiners Reaktion tief beeindruckt war. So manifestierte sich bei ihm erstmals das Gefühl, dass die Science Fiction begonnen hatte, sich nicht nur zu wandeln, sondern völlig neue Formen anzunehmen: "I brought this thing in, this manuscript - I thought it was hard to read in a funny kind of way, but it was getting into some very interesting material that was sort of recognizable, but treated in a genuinely new fashion. And I went and showed it around. To general popular disinterest, actually- except for Shiner, who read it and said, ,You know, this thing is shit hot. This is it, you know? This is really something. This is happening.' And I thought, ,You know, he's right. Lew is right. We should get into this more. We should understand what it isthat this guy up in Vancouver is doing.' I think that was the first time that I realized that this is more than a good story, this is a whole way to do SF that hasn't been done before." 22
20 Ebenda. 21 Ebenda.
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An einem Wochenende im Oktober 1982 trafen Sterling, Shiner und Gibson schließlich erstmals persönlich zusammen. Gemeinsam nahmen sie an einer ScienceFiction Convention in Austin teil, wo sie selbst eine eigene Veranstaltung anboten, die sie mit dem Titel Behind the Mirrorshades: A Look at Punk SF ankündigten. 23 Auf dieser Veranstaltung stellten die Autoren ihre eigenen sowie die Arbeiten des nicht anwesenden John Shirley vor. In diesem Zusammenhang traten die später als Cyberpunks bekannten Autoren erstmals vereint auf und präsentierten ihr Werk gemeinsam als eine neue Art der Science Fiction. So erinnert sich Shiner: "At this point the sense of a movement solidified. Samething was clearly happening in the work of Shirley, Gibson, and Sterling."24 Die verbleibende Zeit verbrachten die Autoren und einige ihrer Freunde gemeinsam in Sterlings Wohnung. Umgeben von japanischer Popmusik und Sterlings fleischfressenden Pflanzen nutzen sie die Zeit, um sich auszutauschen: "We talked a little about Iiterature - Len Deighton, Nelson Algren, Burroughs, and Ballard- but mostly we talked about rock and roll, MTV, Japan, fashion, drugs, and politics. As Bill [William Gibson] got in the plane for Vancouver he said, only halfkidding, ,A new axis has been formed'. I know I feit that way. Part of it was Bill 's charm and obvious star quality. He was clearly destined for big things. He'd read the opening chapters of Neuromancer (then in progress) at the convention, and I feit I was hearing the future of SF: a stylish, high-energy naturalism." 25
Bei dieser Gelegenheit überreichte Sterling Shiner die soziologische Studie "The Third Wave" (1980, dt. Titel "Die dritte Welle") von Alvin Toffler. Die darin enthaltenen Analysen und Zukunftsprognosen der Informationsgesellschaft beeindruckten Shiner so tief, dass er damit begann, Gedanken Tofflers in seine Erzählungen einfließen zu lassen. 26 Auch Sterling, Gibson und Shiner griffen bestimmte Ideen und Konzepte aus "The Third Wave" auf. Wenige Jahre später bezeichnete Sterling Tofflers Werk als "a bible to many cyberpunks"27 • 22 BROWN, Dwight; PERSON, Lawrence; SUMBERA, Michael: "Under Heavy Weather: An Interview with Bruce Sterling"; http://www.sflit.com/novaexpress/ 13/bsi-l.html. 23 V gl. SHINER, Lewis: ",nside the Movement... "; a.a.O.; S. 21. 24 Ebenda; S. 20. 25 Ebenda; S. 21. 26 V gl. ebenda. 27 STERLING, Bruce: "Preface"; In: STERLING, Bruce (Hrsg.): "Mirrorshades. The Cyberpunk Anthology"; Ace Books, New York 1988 (znerst 1986), S. xii.
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Nach ihrem ersten gemeinsamen Auftritt auf dem Convention in Austin begannen Shiner, Shirley, Sterling und Gibson regelmäßig zusammen Science-Fiction-Veranstaltungen zu besuchen, um dort sich selbst und ihre Arbeiten vorzustellen. Um sich von den restlichen Autoren und Besuchern abzuheben und ihren Gruppenstatus zu verdeutlichen, erschienen sie stets in schwarze Lederjacken gekleidet und mit verspiegelten Sonnenbrillen ausgestattet. Durch diese gemeinsamen Erkennungsmerkmale sowie ihre Selbstbezeichnung als Mirrorshades-group schufen sie sich bewusst eine Art corporate identity, die sie leicht wiedererkennbar machte. Durch diese Aufmachung- die für den damaligen Zeitpunkt sehr ungewöhnlich war und mit rebellischen Jugendsubkulturen in Verbindung gebracht wurde- betonten sie so auch äußerlich, dass es sich bei ihnen um eine Gruppe von Schreibern handelte, die sich grundlegend von den anderen anwesenden Science-Fiction-Autoren unterschied. Damit schufen sich die Cyberpunk-Autoren einen avantgardistisch anmutenden Außenseiterstatus, der zu der Grundlage ihrer öffentlichen Auftritte auf Conventions wurde. So erläutert Sterling die Entscheidung für die verspiegelte Sonnenbrille als Markenzeichen im Vorwort von "Mirrorshades: The Cyberpunk Anthology" (1986, dt. Titel "Spiegelschatten. Die große Cyberpunk-Anthologie"), welches gemeinhin als das Manifest des Movements gilt: "Mirrored sunglasses have been a Movement totem since the early days of 1982. The reasons for this are not hard to grasp. By hiding the eyes, mirrorshades prevent the forces of normalcy from realizing that one is crazed and possibly dangerous. They are the symbol of the sunstaring visionary, the biker, the rocker, the policeman, and similar outlaws. Mirrorshades - preferably in chrome and matte black, the Movement's totem color- appeared in story after story, as a kind ofliterary badge."'"
Derart ausgestattet, stellten die Autoren allerdings nicht nur ihre eigenen Arbeiten vor, sondern führten fort, womit Sterling und Shiner bei ihrer gemeinsamen Schreibwerkstatt begonnen hatten: sie übten gemeinsam Kritik an anderen Autoren. Passend zu ihrer äußeren Aufmachung traten sie auf den Veranstaltungen anderer Autoren meist sehr angriffslustig und provokativ auf. Ihre unbarmherzige Kritik konzentrierte sich dabei insbesondere auf "[ ... ] writers who regurgitate the tired, empty SF cliches which they have swallowed whole: writers like Mike Resnick and Spider Robinson and David Brin. Writers who still believe in galactic empires and whose aliens behave like white male North Amelieans in special-effects makeup.""
28 Ebenda; S. xi. 29 SHINER, Lewis: ",nside the Movement... "; a.a.O.; S. 18f.
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Gleichzeitig suchten sie auf den verschiedenen Veranstaltungen und auch darüber hinaus Kontakt zu Schriftstellern, deren Science Fiction sie als dem modernen Zeitalter entsprechend ansahen. Auf diesem Wege gewannen sie viele der heute mit der Cyberpunk-Bewegung assoziierten Autoren wie Rudy Rucker, Pat Cadigan, Walter John Williams, Jack Womack und Michael Swanwick als Mitstreiter und Verbündete. So erinnert sich der Science-Fiction-Autor und Mathematikprofessor Rucker: "I had another memorable visit in 1983, from Bruce Sterling, William Gibson, and Lew Shiner. They'd started a new movement in science fiction which would come be known as cyberpunk. They were a bit younger than me - I was thirty-seven by now. They'd read all my books and they looked up to me. I was thrilled to join forces with them, it feit like being an early beat. I met the other canonical cyberpunk, John Shirley, that summer when we were both staying with Bruce and Nancy Sterling in Austin, Texas. I recall driving a rented car around town with John, with him riffing off my book Sojiware, leaning out our car window to scream at other drivers, ,Y'all ever ate any live brains?"' 111
Es ist zu vermuten, dass Shirleys offensives Auftreten- welches in dem vorangegangenen Zitat nur kurz angedeutet werden konnte - einen gewissen Anteil dazu beigetragen hat, dass einige Jahre später der Begriff Cyberpunk nicht nur für die Bezeichnung der Literatur der Movement-Gruppe genutzt wurde, sondern bis heute auch für die Charakterisierung der Autoren dieses Sujets dient. Tatsächlich ist die Bedeutung der einzelnen Persönlichkeiten, die hinter den literarischen Cyberpunk-Werken stehen, nicht zu unterschätzen. Denn erst mit Shirley, Sterling, Shiner und Gibson fand sich eine Gruppe vonjungen Schriftstellern, die gemeinsam über den Ehrgeiz, das literarische Können und das propagandistische Geschick verfügten, das nötig war, um in den festgefahrenen Konventionen des Science-Fiction-Literaturbetriebs langfristig etwas in Bewegung zu bringen. Die Fähigkeiten des Punkmusikers Shirley (der bereits über vielfältige Bühnenerfahrung verfügte) und von Sterling, bei Science-Fiction-Veranstaltungen einen großen Auftritt zu inszenieren, verbunden mit ihrer wortgewandten Polemik und ihrem zudem noch charismatischen Auftreten, dürften das Publikum ebenso schockiert wie fasziniert haben. 31 Die so erlangte Aufmerksamkeit nutzten die jungen Autoren geschickt dafür, ihre Ideen und Vorstellungen von moderner ScienceFiction zu popularisieren und dabei die Leserschaft auf ihre Texte vorzubereiten. So sorgten Sterling und Shiner als Sprachrohr der Movement-Gruppe bei ihrer zukünftigen Leserschaft für ein 30 RUCKER, Rudy: "Autobiography"; http://www.rudyrucker.com/pdf/autobiogra phy2004.pdf.
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gewisses Vorwissen, durch das die Lektüre dieser stilistisch anspruchsvollen und inhaltlich ungewohnten Art der Science Fiction wahrscheinlich erleichtert wurde. Dass sie dabei jedoch auch auf ihr potentielles Publikum nicht besonders diplomatisch oder gar pädagogisch zugingen, lässt folgende Aussage Shirleys erahnen: "[I]n public, at conventions, on panels, I was, quite often, the point man; or flailing away at Brnce's side. I'd say ANYFUCKINGTHING. We wanted a science fiction that was open to other cultural influences, like, yes, punk, like modern art, like surrealism, like the more artful noir films and fiction, and people like William Burroughs; and we wanted to dilate the iris of SF so that it took in more sheer FUTURE. I think Brnce feit that most SF was cowardly in its vision of the future. It was coy, winsome, mild mannered, or when it had energy it was oriented toward the kind of guys who took fencing lessons (I Iove you, Tim Powers, I don 't mean you) and dressed up like the characters in the original book Starship Troopers and what have you. Pathetic beer hoisting pot-bellied fannish ,macho. "'32
Ab 1983 begann Sterling zudem mit der Herausgabe des do-it-yourself Fanzines "Cheap Truth", welches bis 1986 etwa vierteljährlich erschien. Im Gegensatz zu vielen anderen Science-Fiction-Fanzines wurde "Cheap Truth" sehr einfach hergestellt. Orientiert an der Ästhetik von Punk-Fanzines aus den 1970er Jahren, wurde der auf einer Schreibmaschine verfasste Text mit Bildern und Zeitungsausschnitten collagenartig arrangiert und als Kopie verteilt. "Cheap Truth" wurde anonym bzw. unter verschiedenen Pseudonymen (das geläufigste lautete Vincent Omniaverits) publiziert und die Leser wurden dazu aufgerufen, dieses einem Newsletter nicht unähnliche Fanzine selbst zu vervielfältigen und zu verteilen. "Cheap Truth" wurde aufConventions und in einschlägigen Buchläden ausgelegt, zu einem geringen Teil wurde es außerdem verschickt. Auf diesem Wege wurde es möglich, auch Science-Fiction-Leser über die einzelnen Conventions hinaus zu erreichen. Wirklich bemerkenswert ist, dass "Cheap Truth" außerdem spätestens ab der dritten Ausgabe in einer Mailbox auf einem sogenannten bulletin board system (bbs) veröffentlicht wurde. 33 Derartige privateMailboxen entstanden 31 Der japanische Literatur- und Kulturwissenschaftler Takayuki Tatsumi etwa, der bei einem der frühen gemeinsamen Auftritte der Movement-Grnppe auf einer Science Fiction Convention zugegen war, beschreibt diesen als skandalös, gleichermaßen jedoch auch als aufregend und sehr beeindruckend; vgl. T ATSUMI, Takayuki: "Full Meta/ Apache: Transactions Between Cyberpunk Japan and Avant-Pop America"; a.a.O.; S. I 06. 32 GURAN, Paula: ,,John Shirley: Seeking Redemption"; a.a.O. 33 Vgl. STERLING, Brnce: "Cheap Truth 3"; http://www.its.caltech.edu/-erich/ cheaptruth/cheaptrn.3
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1978/1979 mit der beginnenden Verbreitung von Personal Computern und Modems. Anders als in Europa breiteten sich Mailboxen in den USA (insbesondere in den Ballungsräumen) sehr schnell aus, da Ortsgespräche kostenlos und Ferngespräche günstig waren. Die meisten Mailboxen verfügten über öffentliche Bereiche, in denen Dateien zum Herunterladen angeboten wurden. Darüber hinaus gab es Foren, auf denen Benutzer sich austauschen oder miteinander diskutieren konnten. Da viele Mailboxen untereinander vernetzt waren, war es möglich, Daten regelmäßig auszutauschen und so schnell und kostengünstig zu kommunizieren. Somit war das über Modem/DFÜ abrufbare "Cheap Truth" das erste Science-Fiction-Fanzine, das auch online verfügbar war. Diese Form der Verbreitung ermöglichte es den Cyberpunk-Autoren, ihre Ideen und Konzepte einer Leserschaft außerhalb der Science-FictionSzene vorzustellen. Die elektronische Ausgabe von "Cheap Truth" beschränkte sich auf reinen Text und war somit schnell heruntergeladen. Da die darin enthaltenen Abhandlungen meist sehr humoristisch waren, ist zu vermuten, dass sie gerne gelesen und gegebenenfalls auch weiterempfohlen und -verbreitet wurden. So erklärt sich auch, wie die Cyberpunk-Autoren Leser aus der Computer- und Hackerszene für ihre Ideen, Konzepte und Werke gewinnen konnten. An der elektronischen Verbreitung ihres Fanzines zeigt sich, dass die an "Cheap Truth" beteiligten Autoren bereits sehr früh mit der globalen Datenvernetzung, die später zum Internet führen sollte, in Berührung kamen. Dass sie die Möglichkeiten dieser Plattform bereits zu diesem Zeitpunkt für sich zu nutzen wussten (sie kommunizierten auch untereinander über Mailboxsysteme), weist darauf hin, dass die Autoren ein gewisses computertechnisches Wissen besaßen. Obwohl keiner der Autoren über einen dezidierten Informatikhintergrund verfügte, belegt der Umstand, dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt Zugang zu Personal Computern und Modems hatten (beides technische Errungenschaften, die relativ teuer waren) und sie einer gewissen medientechnischen Vorhut angehörten. Vermutlich hat die Erfahrung, derartig komplexe Hochtechnologien ohne tieferes Fachwissen nutzen zu können, die Darstellungen der Cyberpunk-Literatur wesentlich geprägt. So hebt Sterling im Vorwort der Cyberpunk-Anthologie "Mirrorshades" explizit hervor, es sei ein wesentliches Interesse der Movement-Gruppe, den Umstand zu reflektieren, dass einstmalige (Hoch-)Technologien vermehrt in den Alltag vorgedrungen sind und noch weiter vordringen, wobei diese zunehmend benutzerfreundlich und somit auch für Menschen jenseits einer technischen bzw. wissenschaftlichen Elite zugänglich und bedienbar werden. Verdichtet findet sich diese Wahrnehmung der Movement-Literaten in Sterlings Feststellung, dass die Nutzung technologischer Entwicklungen unkontrollierbar
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geworden sei und die Masse auf der Straße erfasst habe; "technology [... ] has slipped control and reached street level". 34 Unter Berücksichtigung der dargestellten Nutzung der Möglichkeiten von neuen Kommunikationsmedien müssen zudem Aussagen von Gibson, denen zufolge ,,Neuromancer" unter völliger Ahnungslosigkeit gegenüber den technischen Bedingungen von Computern und Datennetzen geschrieben wurde, kritisch betrachtet werden. 35 So hält auch der Kulturwissenschaftler Lance Olsen in seiner Arbeit über das Werk von William Gibson fest: "Gibson would prefer that readers concentrate on the art rather than the artist. He is reluctant to speak about his past, wary of discussing his own work, and would just as soon remain invisible as a person. [... ] The result is that little biographical data about him is available. [... ] His interviews come to sound redundant, even slightly disingenuous. As Lewis Shiner notes: ,He's made a Iot of public statements in which he's simply said what he thought people wanted to hear .... So you want to take some of those interviews with lots of salt. "'16
In "Cheap Truth" hielten Sterling, Gibson, Shiner, Shirley und befreundete Autoren wie Rucker oder Cadigan ihre Kritik an den zeitgenössischen Konventionen des Science Fiction und Fantasy-Literaturbetriebs fest, so dass diese Plattform schnell zu einem wichtigen Sprachorgan der MovementGruppe wurde. Der schriftliche Diskurs in "Cheap Truth" wurde dabei auf ähnlich bissige Art und Weise geführt, wie es Shirley und Sterling bei ihren gemeinsamen Auftritten vorgegeben hatten. Bereits die einleitenden Sätze von "Cheap Truth I" - in denen die Inhaltsleere und Abgedroschenheit der damals boomenden Fantasy kritisiert und deren Erfolg auf das noch geringere Niveau der zeitgenössischen Science Fiction zurückgeführt wird - sind richtungsweisend für den fortan angeschlagenen Ton: "As American SF lies in a reptilian torpor, its small, squishy cousin, Fantasy, creeps gecko-like across the bookstands. Dreaming of dragon-hood, Fantasy has puffed itself up with air like a Mojave chuckwalla. SF 's collapse had formed a vacuum that forces Fantasy into a painful and explosive bloat.
34 Ders.: "Pref'ace"; a.a.O.; S. xi. 35 William Gibson etwa kokettiert gerne damit, dass "Neuromancer" auf einer alten Schreibmaschine geschrieben wnrde, da er zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Romans über keinerlei Kenntnisse von Computern oder modernen Textverarbeitungsprogrammen verfügte; vgl. GIBSON, William: "Nachwort"; In: GIBSON, William "Die Neuromancer-Trilogie"; Heyne, München 2000, S. 1005. 36 OLSEN, Lance: "who was that man?"; a.a.O.
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Short stories, crippled with the bends, expand into whole hideous trilogies as hollow as nicke! gumballs. Even poor Stephen Donaldson, who strnggles to atone for his literary crimes with wet hippy sincerity, has been forced to re-xerox his Tolkien pastiches and doubly insult the public. As Robert E. Howard spins in his grave, the Chryslers of publishing attach rotors to his head and feet and use him to power the presses." 37
Den größten Teil von "Cheap Truth" nahmen Besprechungen aktueller Science-Fiction- und Fantasy-Neuveröffentlichungen ein. In diesen wurden zeitgenössische Werke analysiert, bewertet und - sofern sie den Ansprüchen der Verfasser genügten- weiterempfohlen. So stellte die Movement-Gruppe in den ersten beiden Ausgaben von "Cheap Truth" ihre eigene Top Ten anspruchsvoller ScienceFiction zusammen, in welcher sie die jeweiligen Werke und Autoren kurz charakterisierte und kommentierte. Diese Auflistung setzt sich interessanterweise hauptsächlich aus Werken der New Wave zusammen (so wurden z.B. Norman Spinrad, Ursula K. Le Guin, J.G. Ballard und Michael Moorcock empfohlen), es werden jedoch auch traditioneller ausgerichtete Autoren wie Larry Niven oder Clark Ashton Smith genannt. 38 Rudy Ruckers Roman "Software" (1980, dt. Titel "Software") steht bezeichnenderweise auf dem ersten Platz der Empfehlungsliste und auch spätere Ausgaben wurden dafür genutzt, Veröffentlichungen von Gibson, Shiner, Shirley und auch von Sterling selbst offensiv zu bewerben. 39 Die vierte Ausgabe von "Cheap Truth" enthielt darüber hinaus eine Auflistung der Top Ten soziologischer Studien, in der neben Alvin Toffler Autoren wie J.D. Bemal, Freeman Dyson, Joel Garreau und Rudy Rucker genannt werden. Bereits hier wird deutlich, dass sich die Movement-Gruppe mit zeitgenössischen Debatten auseinandersetzte, die über die Science Pietion hinausgehen. Die siebte Ausgabe von "Cheap Truth" beinhaltete eine Zusammenstellung von verschiedenen Wissenschaftsmagazinen, in denen aktuellste Trends und Entwicklungen im Bereich Forschung und Technik vorgestellt werden. Die konkrete Beschäftigung mit derartigen Thematiken unterstreicht nicht nur den hard SF-Charakter der Movement-Autoren, sondern zeigt auch ihren Anspruch, sich mit technologischen Entwicklungen ihrer Zeit auseinanderzusetzen. In der neunten Ausgabe von "Cheap Truth" schließlich widmeten sich die Movement-Autoren Empfehlungen aus dem Bereich der Social and Political Issues und listeten hier unter anderem den 37 STERLING, Brnce: "Cheap Truth !"; http://www.its.caltech.edu/-erich/cheap truth/ cheaptru. I 38 Vgl. ders.: "Cheap Truth 2"; http://www.its.caltech.edu/-erichl2/cheaptrnth/ch eaptru.2 39 Vgl. ders.: "Cheap Truth 10"; http://www.its.caltech.edu/-erich/cheaptruth/cheap tru.IO
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gesellschaftskritischen "Whole Earth" Katalog und das Dritte-Welt-Magazin "South" auf. Da die Movement-Gruppe das Fanzine "Cheap Truth" auch dafür nutzte, um untereinander zu kommunizieren, d.h. sich gegenseitig auf neue Werke aufmerksam zu machen oder neue Ideen vorzustellen, bleibt offen, ob sich diese Liste nicht-fiktionaler Werke tatsächlich an die ScienceFiction-Leserschaft oder eher an andere Autoren richtete. In jedem Fall zeigt sich an der Vielfalt der aufgelisteten Empfehlungen, dass der MovementGruppe viel darangelegen war, über den Tellerrand der ScienceFiction hinauszublicken und ihre Erzählungen in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext einzubinden. Jenseits derartiger Lektüreempfehlungen wurden in "Cheap Truth" einzelne Passagen aus europäischen Science-Fiction-Magazinen und -Fanzines und deren Ansätze mit den eigenen Forderungen nach einer radikal neuen Form der ScienceFiction verbunden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Sterling einer der wenigen amerikanischen Abonnenten des britischen Science-Fiction-Magazins ",nterzone" war. Dieses bereits von der NewWave zur Verbreitung ihrer Ideen genutzte Magazin diente zwischenzeitlich zwar vornehmlich der Besprechung von Werken aus dem Bereich der hard SF, doch auch in diesem Kontext wurde es als Plattform für einen kritischen Science-Fiction-Diskurs genutzt. Ein zentrales Thema in ,Jnterzone"-Artikeln war folglich die Forderung nach einerneuen Form der hard SF, in der die stilistischen Neuerungen der NewWave weitergeführt und mit neuen Inhalten verknüpft werden sollten. 40 Die in diesem Zusammenhang geführten Diskussionen wurden in "Cheap Truth" aufgegriffen und popularisiert, wobei insbesondere Sterling die britischen Ideen aufgriff und auch für amerikanische hard SF radikal neue Formen forderte. Auch wurden in "Cheap Truth" aktuelle Science-Fiction-interne Geschehnisse kommentiert, so etwa Conventions, Schreibwerkstätten oder Preisverleihungen. 41 Diese Besprechungen wurden genutzt, um die eigenen Vorstellungen von moderner Science Fiction mitzuteilen und um Autoren, die diesen Vorstellungen nicht entsprachen, scharf zu kritisieren. Beispielhaft sei dafür folgende Kritik Sterlings über die Abstimmungsergebnisse und Preisverleihungspolitik des zeitgenössischen Nebula Award 42 angeführt: 40 Vgl. CRAMER, Kathryn: "Hard Science Fiction"; In: JAMES, Edward; MENDLESOHN, Farah (Hrsg.): "The Cambridge Campanion to Science Fiction"; Cambridge University Press, Cambridge 2003, S. 193f. 41 So beispielsweise in "Cheap Truth 2" und "Cheap Truth 5". 42 Bei dem Nebula Award handelt es sich um einen seit 1965 von der Science Fiction and Fantasy Writers ofAmerica lnc. (SFWA) verliehenen Preis für die besten Science-Fiction-Geschichten, die in den beiden vorangegangenen Jahren in den USA veröffentlicht wurden.
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"This year's Nebula Ballot looked like a Iist of stuff that Mom and Dad said it was okay to read. Mom and Dad really liked Connie Willis' ,Firewatch' last year; it's about this student that gets all self-righteous and rebellious and everything, but it tumed out Father knows best after all. This year Mom and Dad really like STARTIDE RISING by David Brin and Greg Benford's AGAINST INFINITY. STARTIDE RISING especially; I mean, this is the kind of writing that Mom and Dad grew up on, full of ,Golly's' and blushes and grins. And aren't those dolphins cute? They talk in poetry that sounds like it came right out of READER'S DIGEST. They'd rather hear that somebody ,muttered an oath' or came out with some made-up word like "Ifni!" than be told that they really said ,shit' or ,shove it up your ass, motherfucker.' No sex, of course, or maybe just a noise in the night in somebody else 's tent. And it has a nice moral, too - something Mom and Dad have always known, though it hasn't always seemed that way these last couple of decades- that WE are better than THEY are, and that's enough to pull us out of any trouble, particularly when THEY are slimy alien scum." 43
Diese Form der harschen Kritik, in der einzelne Schriftsteller sehr direkt angegriffen werden, ist nicht nur charakteristisch für "Cheap Truth", sondern kennzeichnet die generelle Vorgehensweise der Movement-Gruppe. So bauten einige der späteren Cyberpunk-Autoren bewusst eine Art Feindschaft gegen andere Science-Fiction-Schreiber auf, die sie in "Cheap Truth" fortwährend kritisierten und mit denen sie auf Conventions die direkte Konfrontation suchten. Insbesondere Sterling und Shirley wählten sich dafür hochrangige Autoren aus, wie etwa die vielfach ausgezeichnete Autorin Connie Willis und den weithin bekannten und erfolgreichen Schreiber Robert A. Heinlein sowie den berüchtigt streitlustigen Harlan Ellison. Dieser fühlte sich von den Schriften und Kritiken der Movement-Gruppe derart provoziert, dass er Shirley nach einem beinahe in Handgreiflichkeiten endenden Streit zu einem Schreibduell herausforderte. 44 Bei einigen persönlichen Zusammenstößen mit unliebsamen Autoren sollen sogar Stühle und Tische geflogen sein und selbst Herausgeber waren vor den Schmähungen der Mirrorshades-group die gelegentlich auch vor tätlichen Angriffen nicht zurückschreckte - nicht sicher. 45 Der japanische Professor für englische Literatur- und Kulturwissenschaft, der bei einigen dieser Gelegenheiten zugegen war, erinnert sich in diesem Zusammenhang an ,"punkish violence"'46 und auch der Autor Gene
43 STERLING, Brnce: "Cheap Truth 5"; http://www.its.caltech.edu/-erich/cheap trnth/cheaptrn.5 44 Vgl. GURAN, Paula: "John Shirley: Seeking Redemption"; a.a.O. 45 V gl. TA TSUMI, Takayuki: "Full Meta/ Apache... "; a.a.O.; S. I 06. 46 Ebenda; S. 105.
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V an Troyer beschreibt gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Shirley und anderen Autoren. Auch wenn einige der Cyberpunk-Autoren heute der Ansicht sind, ihr damaliges Auftreten sei nicht immer sonderlich klug gewesen, muss bedacht werden, dass dieser Konfrontationskurs strategisch wohl nicht ungeschickt war. 47 Denn es ist zu bezweifeln, dass sich diese Gruppe junger und unbekannter Autoren mit ihren progressiven Ideen - welche in vielerlei Hinsicht die Konventionen der damaligen Science Fiction grundlegend angriffen auch dann in dem traditionell orientierten Science-Fiction-Literaturbetrieb durchgesetzt hätten, wenn sie ruhiger und bedachter vorgegangen wären. Es ist eher zu vermuten, dass sie unter solchen Umständen weder die Aufmerksamkeit erreicht hätten noch den Erfolg auf sich hätten verbuchen können, welchen sie später erreichten. Darüber hinaus muss allerdings auch berücksichtigt werden, dass die Movement-Gruppe zu einer Zeit agierte, in der innerhalb der Science Fiction - und besonders innerhalb der Sparte der hard SF - grundlegende Veränderungsprozesse in Gang kamen. In den frühen 1980er Jahren schlossen sich Autoren wie Jerry Pournelle, Robert A. Heinlein, Larry Niven, Dean Ing und Gregory Benford mit Vertretern der Weltraumindustrie, des Militärs, Weltraumforschern und Astronauten zu einem offiziellen Wissenschaftsberatungskomitee zusammen, das unter der Bezeichnung Citizen 's Advisory Council on NationalSpace Policy bekannt wurde. Die Aufgabe dieses Komitees war es, den damals amtierenden US-Präsidenten Ronald Reagan in Fragen der Weltraumforschung und -technik zu beraten und ihm die Möglichkeiten neuer Entwicklungen zu veranschaulichen. In ihrer Beratungsfunktion protegierten viele dem Komitee zugehörige Science-Fiction-Autoren den Bau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen (bekannt unter der Bezeichnung Strategie Defense Initiative bzw. SDI, von der Presse auch Star Wars genannt). Die Funktion und Vorgehensweise der Schriftsteller beschreibt der hard-SF-Autor Greg Bear rückblickend: "Science fiction writers helped the rocket scientists elucidate their vtswn and clarified it. They put it tagether in prose that Ronald Reagan could understand, and Ronald Regan, who read science fiction, said , Why not?"'«
Das von Reagan geplante SDI-Programm wurde in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert. Viele Kritiker sahen in einer derartigen Möglichkeit einseitiger Raketenabwehrmaßnahmen die Gefahr eines globalen Atomkrieges verstärkt. Der Förderung militärischer Absichten sowie der rechtskonservativen Politik Reagans wurde auch innerhalb der Science Fiction teil47 Vgl. GURAN, Paula: "John Shirley: Seeking Redemption"; a.a.O. 48 Zitiert nach CRAMER, Kathryn: "Hard ScienceFiction"; a.a.O.; S. 193.
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weise mit Ablehnung begegnet. Der britische Autor Arthur C. Clarke etwa kritisierte die Unterstützung des SDI-Programms durch seine amerikanischen Kollegen vehement, wodurch es unter anderem zu einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Autor Robert A. Heinlein kam. 49 Die politischen Meinungsverschiedenheiten und die verstärkte Radikalisierung der hard SF führten schließlich zu tiefen Spaltungen innerhalb dieses Subgenres. So wurden innerhalb der hard SF zunehmend reaktionäre, militaristische und teilweise extrem rechte Vorstellungen propagiert, was dazu führte, dass sich viele politisch gemäßigte bzw. linksgerichtete Autoren von diesem Genre distanzierten. Die Science-Fiction-Herausgeberin Kathryn Cramer hält in diesem Zusammenhang fest: "The most generalized symptom of the reactions against the politicization of hard sf was a sense that good writers were tuming away from the subgenre and that its continued existence was in peril. However, some writers and editors became more provocative, trying to wrestle hard sf back into what they considered the proper shape.""'
In diesem angespannten Klima trat schließlich die Movement-Gruppe mit ihrer harten Kritik und ihren revolutionären Forderungen nach einer "radical, hard SF"51 aufs Parkett, die an den Bedingungen des "*electronic age*" 52 ausgerichtet sein sollte. Dabei schufen die Autoren um William Gibson mit ihrer politischen Orientierung (Bruce Sterling bezeichnet sich bis heute als amerikanischen ,Grünen', der anarchistische John Shirley hingegen vertrat extremere Ansichten) und inhaltlichen Ansprüchen ein willkommenes Gegengewicht zu den reaktionären Tendenzen der damaligen Science Fiction. Es zeigt sich, dass der Erfolg der Autorengruppe, die später unter der Bezeichnung Cyberpunk bekannt werden sollte, auch aufgrund der dargestellten Strömungen und Stimmungen innerhalb des Science-Fiction-Literaturbetriebes möglich wurde. Die Cyberpunk-Literatur ist folglich auch als das Resultat ebenjenes spezifischen Spannungsfeldes historischer, politischer und literaturinterner Veränderungen zu verstehen, das in den Romanen der Autoren oftmals aufgegriffen und verarbeitet wird.
49 Vgl. eben da. 50 Ebenda. 51 STERLING, Bruce: cheaptruth/ cheaptru. 6 52 Ebenda.
"Cheap
Truth
6";
http://www.its.caltech.edu/-erich/
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2.2
CYBERPUNK- DER BEGRIFF
Als Begriff tauchte Cyberpunk erstmals als Titel einer Kurzgeschichte des Autors Bruce Bethke auf, die 1983 in dem Magazin ,,Amazing Science Fielion Stories" veröffentlicht wurde. 53 Bethke gibt an, dass ihm die Anregung zu dieser Erzählung kam, als er im Jahre 1980 während seines Studiums als Verkäufer in einem Musikgeschäft arbeitete, in dem es unter anderem einen Computer für die Demonstration einer Musiksoftware gab. Als ausschlaggebende Situation für seine Geschichte erinnert Bethke sich an folgende Begebenheit: "Then one day a trio of kids, the oldest maybe 14, came into the store and started puttering with the demo computer. I tumed my back on them for about two minutes. When I looked again the kids were gone, the demo program was trashed, and in its place they'd left me with something that had the Model 1 jumping through hoops. I took a few minutes to admire their ingenuity, then broke out of the program and looked overthe code. Damned ifi could figure out what it was doing." 54
Dieses Erlebnis führte Bethke sehr direkt vor Augen, wie unbedarft, rückständig und hilflos er selbst im Umgang mit neuen Technologien war. Gleichzeitig lehrte ihn diese Erfahrung, über wie viel Macht jene Personen verfügten, die sich mit diesen Technologien auskannten. Als besonders verstörend empfand es der Autor, dass die ihm in ihrem technologischen Wissen überlegenen Personen nicht etwa Computerspezialisten oder Forscher waren, sondern ganz normale Jugendliche von der Straße. Bethke beschäftigte sich daraufhin mit der Frage, wie die Welt in zwanzig oder dreißig Jahren aussehen könnte, in der eine explosive Verbreitung solcher technologisehen Neuerungen stattgefunden hätte und in der es vor allem junge Menschen mit ihrer schnelleren Auffassungsgabe und Lemfahigkeit wären, die die ,Sprache' dieserneuen Technologien sprechen würden. Welchen Unsinn würden diese technologisch fortschrittlichen Jugendlichen, die wie zeitgenössische Teenager auch, ein gewisses ethisches Vakuum und womöglich eine nihilistisch-anarchistische Einstellung hätten, mit ihren Fähigkeiten anstellen? Bethke erläutert in diesem Zusammenhang:
53 Vgl. McCARRON, Kevin: "Corpses, Anima/.1·, Machines and Mannequins: The Body and Cyberpunk"; In: FEATHERSTONE, Mike; BURROWS, Rodger (Hrsg.): "Cyberspace I Cyberbodies I Cyberpunk. Cultures of Technological Embodiment"; Sage Publications, London 1995; S. 87. 54 BETHKE, Bruce: "The Etymology of ,Cyberpunk"'; http://brucebethke.com/ articles/re_ cp.html.
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"The kids who trashed my computer; their kids were going to be Holy Terrors, combining the ethical vacuity of teenagers with a technical fluency we adults could only guess at. Further, the parents and other adult authority fignres of the early 21st Century were going to be terribly ill-equipped to deal with the first generation of teenagers who grew up truly ,speaking computer.' THEREFORE, if you thought that punks on motorcycles were a problem, just wait until you meet the- the- You know, there isn't a good word to describe them? So I set out to create and define that word. " 55
Aus diesen Überlegungen heraus entstand Bethkes Kurzgeschichte, deren Titel schon bald als Charakterisierung einer Gruppe junger Autoren und ihrer Texte verwendet werden sollte. In Bethkes "Cyberpunk" (Cyber- als Hinweis auf Hochtechnologie und Computertechnik, -punk als Entsprechung für gesellschaftlich nicht angepasste Jugendliche) betitelter Kurzgeschichte, wird die Geschichte einer Gruppe Jugendlicher erzählt, die sich in verschiedene Computer hacken. Bethke entwirft eine Welt, die von Computern und Computernetzwerken geprägt und auf diese angewiesen ist. Diese Abhängigkeit von Computertechnik ermöglicht hier bisher unbekannte Formen von Missbrauch und Vandalismus. So ist es den Jugendlichen aus Bethkes Geschichte möglich, ihre Fähigkeiten als Hacker dafür zu nutzen, Geld von fremden Konten auf ihre eigenen zu transferieren oder die elektronischen Daten ihrer Eltern zu löschen, wobei diese Handlungen von dem Autor als Ausdruck jugendlichen Leichtsinns und Unangepasstheit beschrieben werden. Die Darstellungen Bethkes erschienen dem Verleger des Autors so lächerlich und weit hergeholt, dass er sie vorerst nicht veröffentlichte. So kam es, dass die Geschichte erst 1983 publiziert wurde. 56 Obwohl Bruce Bethke vorerst nichts mit der Gruppe junger Autoren um William Gibson und Bruce Sterling zu tun hatte, welche sich selbst als Movement- oder Mirrorshades-group bezeichneten, traf er mit seiner Erzählung und deren Titel, in denen die Trennung von Hochtechnologie und Alltagsbzw. Subkultur aufgehoben wird, den Kern und das Wesen der neuen Form der ScienceFiction. So sah es wohl auch der Science-Fiction-Verleger und -Kritiker Gardner Dozois, dem Bethkes Kurzgeschichte bekannt war. 57 Im Dezember des Jahres 1984 verwendete er daher den Begriff Cyberpunk sowohl in einer Kritik der Washington Post als auch in seiner Einführung in "The Year 's Best Science Fiction: Annual Collection" 1985, um eine neue Bewegung innerhalb der Science Fiction und deren wichtigste Vertreter -
55 Ebenda. 56 Vgl. eben da. 57 Vgl. HEUSER, Sabine: "Virtual Geographies ... "; a.a.O.; S. 7.
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namentlich Bruce Sterling, Lewis Shiner, Pat Cadigan, William Gibson und Greg Bear- zu beschreiben. 58 Die mit "Cyberpunk" so passend erscheinende Betitelung für die Autorengruppe um William Gibson - dessen Roman "Neuromancer" 1984 erschienen war und sogleich alle wichtigen Science-Fiction-Literaturpreise gewonnen hatte - wurde umgehend aufgenommen und beibehalten. Obwohl augenblicklich Kontroversen darüber entstanden, welche Schriftsteller zu der Cyberpunk-Gruppe gehörten (Dozois etwa hatte in seiner Kritik John Shirley nicht genannt), und darüber hinaus viele der als Cyberpunk kategorisierten Autoren diese Bezeichnung ablehnten, setzte sich diese Begrifflichkeit für die Charakterisierung der neuen und von Autoren wie Gibson und Sterling geprägten Form der Science Fiction durch. Alle anderen Gruppenund Genrebezeichnungen, wie etwa The Movement, Mirrorshades-group oder radical hard SF, wurden so von der eingängigen Wortneuschöpfung Cyberpunk in den Hintergrund gedrängt. In der Folge wurden Erzählungen von Gibson, Sterling, Shirley und Cadigan, aber auch von vielen anderen Autoren, die nichts mit der ursprünglichen Movement-Gruppe zu tun hatten, als Cyberpunk-Romane vermarktet. Aufgrund der Popularität der Literatur von Gibson, Sterling und anderen sowie den vielfältigen Assoziationsmöglichkeiten, welche sich mit dem Wort Cyberpunk eröffneten, wurde diese Begrifflichkeit bald auch über den literarischen Kontext hinaus genutzt. Verschiedene kulturelle N euerscheinungen in Bereichen wie Mode, Computerspiel, Film, Anime, Musik und auch Subkultur etwa schmückten sich ebenfalls bald mit dem Etikett Cyberpunk. Diese vielfältige Nutzung, durch welche Cyberpunk letztendlich zu einem festen Begriff wurde, führte zu einer gewissen Verwässerung des Begriffes, wie er ursprünglich von Bruce Bethke - der bis heute darüber klagt, dass er den Neologismus nicht als Markenzeichen registrierte - angelegt wurde. 59
2.3
DIFFERENZEN ZWISCHEN DER KLASSISCHEN SCIENCE-FICTION- UND DER CYBERPUNK- LITERATUR
Die Autoren der traditionellen Science Fiction waren stets bemüht, visionäre Zukunftswelten in Bezug auf Technologien zu entwerfen. Die technologischen Neuerungen sollten dabei möglichst plausibel beschrieben werden 58 Vgl. CA VALLARO, Dani: "Cyberpunk and Cyberculture. Science Fiction and the WorkolWilliam Gibson"; a.a.O., S. 13. 59 Vgl. BETHKE, Bruce: "The Etymology of.Cyberpunk"'; a.a.O.
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(wie etwa der wissenschaftliche Hintergrund des interstellaren Raumflugs). Dafür war es üblicherweise nicht nötig, die entworfenen Zukünfte von aktuellen sozialen oder ökonomischen Entwicklungen herzuleiten. Für die Darstellung der Bereiche jenseits der Technologie, wie etwa Gesellschaft, Kultur oder Politik, griffen die Autoren daher meist auf idealtypische, oft eher rückwärtsgewandte Modelle zurück, die dem Setting (wie etwa einem tausend Jahre in der Zukunft liegenden galaktischen Imperium) angepasst wurden. Die Cyberpunk-Literaten hingegen hatten den Anspruch, durch ihre Science Fiction eine intellektuelle Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart zu leisten. Folglich griffen die Autoren dafür aktuelle gesellschaftliche Tendenzen auf, um sie in ihren Werken weiterzuverarbeiten. Die Cyberpunk-Literatur widemet sich also zeitgenössischen Inhalten und Thematiken, die eine Extrapolation in die Zukunft erfahren. Auf diese Weise kamen die Cyberpunk-Autoren ihrem Anspruch nach, eine Reflexion der Entwicklungen ihrer Zeit zu leisten und so eine "Zukunft, die sich erkennbar von modernen Verhältnissen ableitet" 60 , zu beschreiben. Dabei sollte insbesondere reflektiert werden, wie ein "cybernetic tsunami" 61 die Gegenwart in ein "post-industrial information age" 62 verwandelte und wie sich dieser Umbruch auf das Bewusstsein, die Kultur und die Mentalität der Zukunft auswirkte. Die Cyberpunk-Literatur unterscheidet sich daher also schon in ihren Ansätzen von der klassischen ScienceFiction.
Zukunftswelten, Handlungsorte und Materialität Die Erzählungen der klassischen Science Fiction sind meistens in weit entfernter Zukunft angesiedelt. Abhängig vom jeweiligen Subgenre sind diese Zukünfte mehrere Jahrhunderte, Jahrtausende oder sogar noch weiter von unserer Gegenwart entfernt. Diese Eigenheit der Science Fiction liegt unter anderem daran, dass die Grundlage der meisten Geschichten in einer wie auch immer gearteten Weltraumthematik besteht. Das Subgenre der (militärischen) hard SF beschäftigt sich beispielsweise auf der Handlungsebene oft mit einer fortschreitenden Eroberung und Kolonialisierung des Weltraums und beschreibt die dazugehörigen kriegerischen Auseinandersetzungen mit fremden Wesen. Es wird folglich eine Zukunftswelt beschrieben, in der es technisch und ökonomisch möglich geworden ist, Planeten (auch außerhalb unseres Sonnensystems) zu besiedeln. Die große zeitliche Entfernung zur Jetztzeit ist daher eine logische Konsequenz. 60 STERLING, Bruce: "Vorwort"; In: GIBSON, William: "Cyberspace"; Heyne, München 1988 (zuerst 1986), S. II. 61 STERLING, Bruce: "Cheap Truth 5"; a.a.O. 62 Ebenda.
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Die Space Opera stellt die Ausweitung des menschlichen Lebensraums im Weltall meist sogar als so weit fortgeschritten dar, dass bereits ganze (inter-)galaktische Imperien entstanden sind. Entsprechend werden hier Visionen entworfen, die zwangsläufig mehrere Jahrtausende in der Zukunft liegen. So beschreibt beispielsweise der als Klassiker geltende Dune-Zyklus von Frank Herbertoderauch Asimovs Foundation-Trilogie Zukunftswelten, die Zehntausende von Jahren von unserer Gegenwart entfernt sind und in denen der Planet Erde praktisch keine Rolle mehr spielt. Bezeichnenderweise werden in den meisten Space Operas - oft über mehrere Bände hinweg Abenteuer- und Reisegeschichten erzählt, die von ihrer Struktur her an klassische Seefahrergeschichten oder an die phantastischen Erzählungen des Jules Verne aus dem 19. Jahrhundert erinnern. 63 Die Erzählungen der Cyberpunk-Autoren hingegen beschreiben relativ nahe Zukunftsvisionen. Fast immer sind Cyberpunk-Erzählungen im 21. Jahrhundert angesiedelt, viele sogar in der ersten Hälfte davon (so spielen etwa William Gibsons "Neuromancer", John Shirleys "Eclipse", Lewis Shiners "Frontera" und Rudy Ruckers "Software" zwischen den 2020er und 2050er Jahren), d.h. in zeitlich großer Nähe zum Erscheinungsjahr der Geschichten. Lediglich Bruce Sterling, der mit seinem Roman "Schismatrix" den Anspruch hatte, "the three-percent beer of space opera into a jolting postmodern whiskey" 64 zu verwandeln, entwirft ein Bild des 22. und 23. Jahrhunderts - im Vergleich zu anderen Space Operas eine immer noch recht nahe Zukunftsvision. Die Entscheidung für die Darstellung naher Zukunftsvisionen hat weitreichende Konsequenzen für die Inhalte der Cyberpunk-Literatur. Der formale Rahmen nahe Zukunft wird von den Cyberpunk-Autoren dafür eingesetzt, sich mit spezifischen Tendenzen ihrer Gegenwart zu beschäftigen. Diese werden fiktiv weiterentwickelt und in die nicht weit entfernte Zukunft verlegt. Dadurch bleibt sehr gut erkennbar, welche etwaigen technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit die Cyberpunk-Autoren thematisieren. Im Gegensatz zur traditionellen Science Fiction, die tradierte und nicht selten rückwärtsgewandte Abenteuergeschichten in einem modifizierten Setting erzählt, leistet die Cyberpunk-Literatur so eine offensichtliche Reflexion ihrer Gegenwart. Die klassische ScienceFiction beschreibt meistens Ausnahme- oder Extremsituationen im Weltraum. Fast alle diese konventionellen Geschichten handeln dabei von wissenschaftlichen Forschungsmissionen, militärischen Kolonialisierungsexpeditionen oder anderen heroischen Reisen in den Weiten 63 Vgl. WUCKEL, Dieter: "ScienceFiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte"; a.a.O.; S. 95ff. 64 Vgl. STERLING, Bruce: "Cheap Truth 15"; a.a.O.
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des Weltalls. Die Handlung dieser Erzählungen ist oft auf wenige Räume bzw. Örtlichkeiten beschränkt. Geschichten etwa, die wissenschaftliche oder militärische Missionen beschreiben, finden hauptsächlich in den abgeschlossenen Innenräumen des Raumschiffs statt. Dabei konzentriert sich die Handlung in der Regel nur auf sehr wenige (oft sogar nur zwei bis drei) dieser Innenräume, häufig auf die Kommandozentrale, die Gemeinschafts- und Privaträume der Protagonisten und- je nach Subgenre - die Forschungslabore bzw. Übungsräume und Waffenkammern. Als weitere Handlungsorte spielen darüber hinaus fremde Planeten eine Rolle. Auf diesen kommt es zu Kampfhandlungen, Forschungsexpeditionen, Schatzsuchen und Ähnlichem. Bei dieser Gelegenheit werden zwar meistens die außerirdischen Umwelten und ihre Flora und Fauna auf eine sehr wissenschaftlich anmutende Weise beschrieben, da die fremden Planeten jedoch kein natürlicher Lebensraum des Menschen sind, verlagert sich die tatsächliche Handlung schnell wieder in den Innenraum. Das Innere des Raumschiffes kann dabei von den hermetisch abgeschlossenen Räumlichkeiten wie Fahrzeugen oder Basen des Menschen ersetzt werden, in denen oftmals Unterkunft und Arbeitsplätze vereint sind. Als klassische Beispiele für Science Fiction in abgeschlossenen Räumen sei an dieser Stelle auf Stanislaw Lems "Niezwyci~:iony" (1964, dt. Titel "Der Unbesiegbare"), Arthur C. Clarkes "The Sentinel" (1948, dt. Titel "Der Wachposten") und Robert A. Heinleins "Starship Troopers" hingewiesen. Das Setting der konventionellen Science Fiction setzt sich folglich aus fernen außerirdischen Welten und individualisierten Räumlichkeiten zusammen, die beide oft nur einer spezialisierten Elite zugänglich sind. Selbst die Handlungen von Space Operas, in denen von der Eroberung der Galaxis durch den Menschen und von seinen Imperien jenseits unseres Sternensystems erzählt wird, spielen zumeist größtenteils in abgeschlossenen Räumlichkeiten - so sind Raumstationen, Raumschiffe und Stützpunkte verschiedener Art jene Orte, die von Protagonisten bevorzugt aufgesucht werden. Auch hier findet die Handlung also in einem Setting statt, welches sich aus verschiedenen geschlossenen Orten zusammensetzt. Diese Isolierung von der Außenwelt setzt sich auch in den typischen Innenweltbeschreibungen der New Wave fort. Die Handlung - so fern es eine gibt - spielt sich oft gänzlich in der Gedankenwelt, der sogenannten Inner Space, des Protagonisten ab. Und selbst in diesem abgeschlossenstell aller denkbaren Räume, werden zumeist Extremsituationen dargestellt, die jenseits von Öffentlichkeit, Alltag und Normalität sind. Ein klassisches Beispiel dafür ist Robert Silverbergs ,,Dying Inside" (1972, dt. Titel "Es stirbt in mir"). Öffentliche Räume, in denen mehr oder weniger alltägliches Leben stattfindet, spielen in der klassischen ScienceFiction praktisch keine Rolle. Dies ist bei der Cyberpunk-Literatur grundlegend anders. Die Hintergrundkulisse für Cyberpunk-Erzählungen bildet fast immer eine zukünftige
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Erde. Auf dieser zieht sich die Handlung durch verschiedene Länder und Großstädte, deren Erscheinungsbild und Eindruck auf die Protagonisten dem Leser sehr anschaulich beschrieben werden. Das Besondere dabei ist, dass sich das Geschehen durch ungewöhnlich viele, sehr unterschiedliche Örtlichkeiten zieht. Miteinander gemein haben diese Orte, dass es sich größtenteils um öffentliche Räume handelt, womit sie sich von den isolierten Örtlichkeiten der klassischen Science Fiction unterscheiden. Bemerkenswert ist dabei, dass dem Leser oft fiktive Zukunftslandschaften und -umgebungen geschildert werden, wie etwa die Skyline bekannter Weltstädte, nahöstliche Straßenszenen oder die Vororte von bekannten Großstädten. Diese unterscheiden sich in den meisten Fällen zwar deutlich von der heutigen Realität, allerdings wird in der Regel zumindest angedeutet, durch welche äußeren Einflüsse sich die Umgehungen so verändert haben. Die dargestellten Veränderungen betreffen dabei bezeichnenderweise nicht nur die Bereiche von Technik und Wissenschaft, sondern auch demoskopische Bereiche, wie Bevölkerungsdichte und -ZUsammensetzung, die (Infra-)Struktur, sowie die Gestaltung und Funktion der gezeigten Gerätschaften. Vor den Augen des Lesers entfalten sich so Welten, die äußerst anschaulieh und nachvollziehbar anmuten. So wandeln die Protagonisten durch die Straßen von New York, Los Angeles, Stuttgart und Tokio, geraten in die Slums von Chiba und Istanbul oder suchen Marktplätze, Restaurants, Bars, Bordelle, Konzertarenen und Spielhallen auf, um dort ihre Geschäfte zu tätigen und sich zu vergnügen. Die Cyberpunk-Figuren nutzen zukünftige öffentliche Verkehrsmittel, Taxis, Züge, Flugzeuge und Hubschrauber und kommen dabei oft in Kontakt mit anderen Menschen, die ihren alltäglichen Tätigkeiten nachgehen. Bei ihren Streifzügen durch die Alltagswelt besuchen die Figuren überdies Elektronikkaufhäuser und Hologrammkinos, wobei die Außenwelt stets mit einem dezidiert subjektiven Blick beschrieben wird. Räume jenseits des öffentlichen Lebens- wie etwa Labore, die Innenräume von Raumschiffen etc. - sind für die Handlung meistens irrelevant und werden folglich kaum dargestellt. Auch einzelne Privaträume (wie etwa die Wohn- und Schlafräume) sind nicht maßgeblich für die Geschichte, von daher erfährt der Leser in der Regel sehr wenig darüber. Nur in einigen Fällen werden die sehr unpersönlich erscheinenden Räumlichkeiten einzelner Protagonisten beschrieben. Es ist allerdings bezeichnend, dass diese Räume jenseits des öffentlichen Lebens zumeist als Ausgangsbasis für das Eindringen in den öffentlichsten aller Räume dienen: den sogenannten Cyberspace. Die Handlungskulisse der Cyberpunk-Literatur ist folglich der allgemeine öffentliche Raum. Oft wird der Blick dabei auf die Straße gerichtet und es wird die Alltagswelt der Zukunft beschrieben. Die dargestellten Situationen und Begebenheiten beschreiben, was die Normalität der Zukunft sein
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könnte- selbst dann, wenn sie zunächst sehr extrem wirken mögen. Vor den Augen des Lesers entsteht so ein Kaleidoskop an Eindrücken, aus denen er sich sein eigenes Gesamtbild des Alltags der dargestellten Zukunftswelt zusammensetzen kann. Die Unterschiede bei den Zukunftswelten von klassischer Science Fiction und Cyberpunk beschränken sich interessanterweise nicht nur auf die Inhalte ihrer Beschreibungen, sondern betreffen auch die Art und Weise, wie die Welten beschrieben werden. Durch die Konzentration der klassischen Science Fiction auf die zuvor als ,abgeschlossen' beschriebenen Umgehungen ist sie auf die Darstellung des für die Geschichte unmittelbar Relevantem beschränkt. Die gesamte fiktive Umwelt ist folglich der Erzählung angepasst. Dabei werden oft sehr typisierte Umgehungen entworfen, wie beispielsweise die verfallenen Welten in post-apokalyptischen Science-FictionErzählungen, die fulminanten Zukunftsarchitekturen von Raumschiffen und Weltraumstationen klassischer Science-Fiction-Abenteuererzählungen oder die hochmodernen und sterilen Forschungsstationen der hard SF. Der so geschaffenen Hintergrund traditioneller Science-Fiction-Erzählungen erscheint daher oft wie ein Bühnenbild, dessen einziger Sinn und Zweck es ist, den Rahmen für die Geschichte bereitzustellen. Die Umgehungen wirken dabei oft sehr konstruiert, wenig individuell und erscheinen dadurch letztendlich austauschbar. So wirken die Aktionsräume und Hintergrundwelten zumeist wirklichkeitsfremd und muten eher wie Kulissen denn wie echte Lebensräumean. Ähnlich schablonenhaft erweist sich auch die ästhetische Ausgestaltung der menschlichen und außermenschlichen Charaktere in der klassischen Science Fiction. Ihr Wesen und ihr Aussehen orientieren sich oft an gängigen Stereotypen. Die Welten der traditionellen Science Fiction sind daher bevölkert von markanten Heldenfiguren, stinkenden und tentakelbestückten Bösewichten und schönen Prinzessinnen/Abenteurerinnen/Amazonen, die nur darauf warten, gerettet und erobert zu werden: "Relaxed for the first time since boarding Truculent, Brim turned and extended his hand. , I didn 't catch your last name,' he said, smiling. Then his heart literally skipped a beat. Sophia was talking to the girl with the tausied hair. He said something inane, took Sophia's proffered hand, and tried not to stare at her friend. When a voice from somewhere pronounced, ,Margot Effer'wyck,' the rest of the wardroom ceased to exist. Ifthis tall, ample young woman was not the most beautiful in the Universe, she nonetheless appealed to Brim in a most profoundly fundamental manner. Her eyes flashed nimble intelligence. Her oval face was framed by the loose golden curls which drew his gaze originally, and her skin was almost painfully fair, brushed
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lightly with pink high in her cheeks. When she smiled, her brow formed the most engaging frown he could imagine. Whatever it was she had, it was sufficient for him. ,Margot,' he stammered. ,That's a beautiful name.' Her cool blue eyes remained neutral, but the !arge hand tapering fingers in his grip were warm and friendly to his touch. ,I like the name, too,' she said, ,even if everyone does use it these days.' Brim watched her full, moist lips, and suddenly he was bashful schoolboy all over again - he couldn 't even Iook her in the eye! On the left shoulder of her cape, she wore insignia of a full lieutenant, and her name tag read, ,CHIEF, THREAT ASSESSMENT SECTION, TECHNOLOGY DIVISION.' An impressive-sounding job for one so young. Even her uniform looked perfect (and reminded him, for the millionth time, ofhis own shabby, regulation-issue blues)." 65
Diese oft etwas einfache Art der fiktiven Ausgestaltung erstreckt sich auch auf viele andere Bestandteile jenseits von Technologie und Wissenschaft. So erscheinen etwa Mode, Stil und Ambiente in den Zukunftswelten der klassischen Science Fiction - sofern sie überhaupt thematisiert werden - weitgehend als einheitlich und konstant. In vielen Fällen werden derartige Äußerlichkeiten sehr offensichtlich von bestimmten geschichtlichen Vorbildern abgeleitet, so dass auch diese Beschreibungen sehr stereotyp wirken (bedrohliche und amoralische Charaktere etwa haben oft entsprechend wirkende Outfits). Auch bei dem Design von Fahrzeugen, Städten oder Wohnungen wird eher Wert auf eine deutlich erkennbare Symbolik gelegt als auf individuelle Darstellung. Durch diese oft sehr undifferenzierten Beschreibungen wie auch immer gearteter oberflächlicher Qualitäten wirken die Welten der klassischen Science Fiction generell wenig plastisch, sondern eher genormt und realitätsfern. Die formale und ästhetische Ausgestaltung der Cyberpunk-Welten mutet gänzlich anders an. Die Beschreibungen der Materialien und Oberflächen der äußeren Welt bilden in vielen Fällen einen wesentlichen Bestandteil der Erzählung. So werden ausführlich die optischen Details und stofflichen Eigenschaften von Gebäuden, Gegenständen, Straßen und Menschen beschrieben, aus denen sich die jeweilige Szenerie zusammensetzt. Dabei werden einzelne Aspekte kurz schlaglichtartig beleuchtet, so dass vor den Augen des Lesers beständig Momentaufnahmen vorbeiziehen, die sich zu einem lebendigen und anschaulichen Gesamtbild der jeweiligen Umgebung zusammensetzen. Auch auf das Erscheinungsbild der Menschen, die die Szenerie bevölkern, wird dabei großes Augenmerk gelegt. Permanent werden Aussehen, Frisuren, Mode, Kleidungsmaterialen, Kosmetik und natürlich die verschiedenen Modifikationen ,zufällig' auftauchender Figuren geschildert. Die Beschreibungen der Cyberpunk-Autoren zeichnen sich dabei in vielen Fällen 65 BALDWIN, Bill: "The Helmsman"; Warner Books, Clayton 1985, S. 76.
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durch eine große Materialverliebtheit aus; oft bleiben die Darstellungen nicht auf die visuellen Eigenschaften wie Farben und Designs beschränkt, sondern auch die olfaktorischen und haptischen Qualitäten werden nuanciert ausgeführt: "Keine Matrix mehr, stattdessen eine Woge von Geräuschen und Farben ... Sie ging durch eine belebte Straße, vorbei an Ständen, die Software verramschten. Filzstiftzahlen auf Preisschildern aus Plastik. Musikfetzen aus unzähligen Boxen. Gerüche: Urin, freie Monomere, Parfüm, Pasteten mit gebratenem Krill. " 66
Häufig werden darüber hinaus prägnante Einzelheiten der verschiedenen Figuren detailliert veranschaulicht: spezifische Merkmale wie eigenwillige Frisuren, aparte Kleidung oder ausgefallene Modifikationen werden beschrieben, wobei auch hier gerne deren besondere Beschaffenheit charakterisiert wird. Auch auf Kleinigkeiten wird dabei besonderes Augenmerk gelegt, wie etwa eine Verzierung der Kleidung oder die optischen Besonderheiten der technischer Errungenschaften. Die auf diese Art und Weise beschriebenen Figuren (bei denen es sich in vielen Fällen nur um ,Statisten' handelt) wirken dadurch sehr originell und einzigartig. Die Menschen der in Cyberpunk-Literatur erscheinen daher meist nicht stereotyp, sondern individuell, wunderlich und gleichzeitig doch ,echt'. Ebenso wird bei den Beschreibungen technischer Apparaturen großer Wert auf die jeweiligen Materialien gelegt. Neben Zweck und Funktionsweise der einzelnen Gerätschaften werden etwa auch deren Beschaffenheit und Zustand sehr anschaulich dargestellt. Die mit stofflichen Attributen ausgestatteten Geräte werden so aus der Sphäre der reinen Funktionalität erhoben, sie wirken nicht mehr abstrakt, sondern greifbar und äußerst sinnlich: "Das intelligente Tuch bestand aus einem dichten Geflecht leitender Fäden, organischer Schaltkreise und piezoelektrischer Fasern. Die hauchdünnen optischen Fäden sonderten wenige farbige Lichtpixel ab. Ein gewebter Bildschirm. Ein biegsamer Stoffcomputer." 67
Auf der Oberfläche der Gegenstände spiegeln sich darüber hinaus oft auch Gebrauchs- und Verfallsspuren. Viele technische Apparaturen haben geflickte Stellen und Kratzer, die von starker Nutzung zeugen, sind offensichtlich alt und zugunsten einer individuellen Anpassung modifiziert. Die dargestellten Gegenstände und Oberflächen wirken daher sehr authentisch und be66 GIBSON, William: "Neuromancer"; In: ders.: "Die Neuromancer-Trilogie"; Heyne, München 2000 (zuerst 1984), S. 90. 67 STERLING, Bruce: "Heiliges Feuer"; Heyne, München 200 I (zuerst 1996), S. 181.
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lebt. In vielen Fällen wird in den Beschreibungen der Oberflächen überdies deutlich, wie sehr Mensch und Technologie miteinander verschmolzen sind und wie stark Organisches und Synthetisches ineinander aufgegangen ist. Die technischen Gerätschaften der Cyberpunk-Welten sind folglich ebenso individualisiert wie ihre Besitzer: "Ratz machte die Bar. Seine Armprothese zuckte monoton, als er einen Schwung Gläser mit Kirin vom Faß fullte. Er sah Case und lächelte. Sein Gebiß war ein Flickwerk aus osteuropäischem Stahl und brauner Fäulnis. [... ] Das Lächeln des Barmanns wurde breiter. Seine Häßlichkeit war legendär. Im Zeitalter käuflicher Schönheit hatte sein Mangel daran Signalwirkung. Der altertümliche Arm surrte, als er nach einem anderen Glas griff. Es war eine russische Militärprothese, ein Greifer mit sieben Funktionen, rückkoppelungsgesteuert und eingegossen in schmuddeliges, pinkfarbenes Plastik."'"
Auffällig ist überdies, dass in der Cyberpunk-Literatur viele Objekte mit Marken- und Herstellernamen versehen werden. So werden alltägliche Gebrauchsgegenstände, wie Kleidung, technische Gerätschaften oder Waffen, mit spezifischen Produktnamen deklariert. Da die meisten Cyberpunk-Erzählungen in der nahen Zukunft angesiedelt sind, trifft der Leser immer wieder aufbekannte zeitgenössische Markennamen. Durch die Verwendung bekannter Handelszeichen werden dem Leser Orientierungspunkte geboten, durch welche die oft sehr fremden Zukunftswelten ein wenig vertrauter wirken. Darüber hinaus finden sich jedoch auch viele Hybrid-Markennamen in der Cyberpunk-Literatur, durch die auf fiktive Fusionen bekannter Unternehmen hingewiesen wird. Auffällig ist dabei, dass gerne namhafte westliche und fernöstliche Großunternehmen miteinander kombiniert werden. Die Artikel, Gegenstände und Unternehmen der Cyberpunk-Welten bekommen für den Leser damit einen nachvollziehbaren Hintergrund und eine gewisse Aura. Dies wird von den Cyberpunk-Autoren teilweise dazu eingesetzt, den Leser zu irritieren und damit zum Nachdenken anzuregen (zum Beispiel warum der Supercomputerhersteller Cray in "Neuromancer" Monitore herstellt oder worauf der Umstand hinweisen könnte, dass der japanische Industriekonzern Mitsubishi das amerikanische Biotechnik-Unternehmen Genentech absorbiert hat). Die Verwendung von Produktnamen dient außerdem als Hinweis, dass es sich stetig weiterentwickelnde Technologiegenerationen gibt. Viele der Gerätschaften werden dementsprechend mit Serienbezeichnungen unterschiedlicher Modellnummern versehen, damit deutlich erkennbar ist, dass sich selbst ähnliche Gerätschaften mitunter augenfällig in ihrer Funktion unterscheiden.
68 GIBSON, William: "Neuromancer"; a.a.O.; S. 29.
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Die Zukunftswelten der Cyberpunk-Literatur erscheinen durch ihren liebevoll ausfabulierten Hintergrund weniger typisiert und glänzend als die klassische Science Fiction. Durch die Beschreibung von Oberflächen und Materialien mit all ihren sinnlichen Eigenschaften werden sehr individualisierte Welten geschaffen, die authentisch und organisch wirken. In diese anschaulieh und detailliert extrapolierte Umgebung kann der Leser eintauchen und dabei die Fortsetzung der eigenen Gegenwart erkennen.
Figuren Die unterschiedlichen Settings und Weltentwürfe der konventionellen ScienceFiction und der Cyberpunk-Literatur sind darüber hinaus von grundlegend verschiedenen Bewohnern bevölkert. Die Protagonisten und Antagonisten der klassischen ScienceFiction setzen sich fast immer aus einer Reihe idealtypischer Charaktere zusammen, die je nach Subgenre und inhaltlicher Ausrichtung variieren. In der hard SF handelt es sich bei den Figuren in der Regel um Forscher und Spezialisten der Naturwissenschaft und Physik. Der Spezialistenstatus dieser Charaktere wird oft dadurch betont, dass sie als Elite ihrer Fachrichtung mit komplizierten Forschungsaufträgen oder Missionen ins Weltall geschickt werden. Es handelt sich bei diesen Figuren um eine Wissenschaftleroberschicht, die zugleich als Astronauten tätig ist. Charaktere aus anderen Zusammenhängen kommen in diesem Subgenre der Science Fiction kaum vor. In der militärischen Science Fiction wiederum handelt es sich bei den Charakteren um Mitglieder spezialisierter Kampfeinheiten, die oft ein rigoroses Training durchlaufen haben. Zumeist sind die Protagonisten der militärischen Science Fiction hochmoralisch anmutende Heldenfiguren, die bereit sind, für ihren Glauben an ,das Gute' oder die Verteidigung ihrer Zivilisation ihr Leben zu lassen. Der Sozialisationshintergrund solcher Charaktere liegt oft in der sozialen Mittelschicht, wobei die Hauptfiguren auch oft aus dem gehobenen Bürgertum oder der Oberschicht kommen. Auch in der Space Opera trifft man in der Regel auf archetypische Heldenfiguren. Diese Helden verfügen oft über außergewöhnliche Fähigkeiten, Gaben oder einen ausgefallenen sozialen Hintergrund, der sie als besonders auszeichnet. In vielen Fällen sind die Helden darüber hinaus wichtige Persönlichkeiten, wie beispielsweise Mitglieder aus Königshäusern, Herrscherdynastien oder unabhängige Söldner bzw. Raumpiloten, die einer besonderen Mission nachgehen. Zudem verfügen diese Heldenfiguren über exzellente Beziehungen, geheime Informationsquellen und aufopfernde Helfer, auf welche sie jederzeit zurückgreifen können. Die exponierte Position wird von den Helden der Space Opera beispielsweise dazu genutzt, in großen intergalaktischen Schlachten den alles entscheidenden und siegbringenden
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Angriff auszuführen, durch den ,das Gute' letztendlich triumphiert. Der Ruhm und die Siegesgewissheit der Figuren verfestigt sich so mit jedem erfüllten Auftrag, wodurch die sehr stereotypen Helden der Space Opera oft unschlagbar und geradezu übermenschlich anmuten. Die Figuren der Cyberpunk-Literatur hingegen stammen meist aus den marginalisierten Schichten der Gesellschaft. Anders als in der glatten Welt der klassischen Science Fiction richteten die Cyberpunk-Autoren auch hier den Blick auf die Straße, auf den Überlebenskampf, und beschreiben die Verliererseite der Hightech-Versprechungen. Folglich sind ihre Figuren häufig im Straßenmilieu der Halbwelt beheimatet. Typische Protagonisten sind Hacker oder sogenannte Consolencowboys, die aus zerrütteten Familien kommen und weder zu ihrer eigenen Vergangenheit noch zu sich selbst einen richtigen Bezug haben. Bei den Cyberpunk-Charakteren handelt es sich häufig um Kriminelle, Ausgestoßene, Abtrünnige, Drogensüchtige, Prostituierte, Hehler, Visionäre oder, wie Sterling sich ausdrückt, schlichtweg Irre. 69 Verankert in anarchistisch anmutenden Subkulturen (wie beispielsweise der Hacker- oder Punkmusikszene ), versuchen die Cyberpunk-Figuren, die technologischen Mittel für ihre Zwecke im Überlebenskampf auszunutzen. 70 Sie befinden sich dabei meistens in Opposition zu dem jeweils herrschenden System und versuchen es in einigen Fällen sogar direkt anzugreifen. Kennzeichnend ist hierbei, dass sich ihr Handeln eher selten an moralischen oder ethischen Prinzipien orientiert, tatsächlich wird oft sogar eine gewisse Amoralität der Charaktere dargestellt. Sie sind daher auch keine Identifikationsfiguren - wie etwa die moralischen Helden der militärischen Science Fiction -, sondern wirken eher abschreckend und sogar unsympathisch. Tatsächlich leiten sich die Cyberpunk-Charaktere aus anderen literarischen Vorbildern ab als die archetypischen Heldenfiguren der klassischen ScienceFiction. So sind die zwielichtigen Cyberpunk-Charaktere oft an den gebrochenen Figuren der literarischen hard-boiled detective fiction aus den 1920er und 1930er Jahren orientiert; Case aus ,,Neuromancer" und Cowboy aus "Hardware" seien hier nur als zwei Beispiele von vielen genannt. 71 Mit den strahlenden Helden und der gesellschaftlichen Elite der klassischen Science Fiction haben die ,underdog' Cyberpunk-Charaktere daher nicht viel gemein. Ähnlich wie in der klassischen Science Fiction handelt es sich bei vielen Cyberpunk-Figuren um Personen mit herausragenden Fähigkeiten -, um überragende Computerhacker oder auch Figuren mit hervorragenden diplomatischen Fähigkeiten- allerdings sind diese praktisch nie an eine In69 Vgl. STERLING, Bruce: "Vorwort"; a.a.O.; S. 12. 70 Vgl. BÜHL, Achim: "Die virtuelle Gesellschaft. Ökonomie, Politik und Kultur im Zeichen des Cyberspace"; Op1aden, Wiesbaden 1997, S. 140. 71 Vgl. CA VALLARO, Dani: "Cyberpunk and Cyberculture ... "; a.a.O.; S. Sf.
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stitution gebunden, sondern sie agieren in den Halbwelten der Straße und des (Computer/Hightech-)Untergrundes.
Technologien In der klassischen Science Fiction werden für gewöhnlich far future Technolagien beschrieben, die auch in ihrer fiktiven Zukunftswelt dezidierte Hochtechnologien sind. Ebenso wie die Raumschiffe, Forschungslabors, militärische Ausrüstungsgegenstände und Waffen mitallihren phantastischen Möglichkeiten sind diese nur für einen ganz speziellen Kreis von Personen hergestellt und werden daher auch nur in einem klar außeralltäglichen Rahmen genutzt. Entsprechend wird in der klassischen Science Fiction zwar gerne detailliert erläutert, welchen wissenschaftlichen Hintergrund die fiktiven Technologien haben und wie die verschiedenen Gerätschaften funktionieren, jedoch werden ihre Auswirkungen auf das alltägliche Leben bestenfalls angerissen. Dies ist eine logische Konsequenz daraus, dass die Handlung in alltagsfernen, abgeschlossenen Räumen spielt und sich der jeweilige Autor keine weiteren Gedanken darüber macht, wie sich ein zunehmend technisierter Alltag gestaltet. Bis auf herausragende Beispiele von futuristischer Spitzentechnologie ist die normale Technik in der Umwelt der Protagonisten relativ unspektakulär und weitgehend von dem geprägt, was an alltäglichen Technologien demjeweiligen Autor bereits bekannt war. In der klassischen Science Fiction bleibt die dargestellte Technik daher eher abstrakt, glatt und in gewisser Weise auch fremd. Gerätschaften wie beispielsweise hochentwickeltes Kriegsgerät, mit Überlichtgeschwindigkeit fliegende Raumschiffe oder Teleportermaschinen wirken daher - trotz sehr exakter wissenschaftlicher Funktionsbeschreibungen - oft sehr realitätsfremd und häufig mutet ihnen sogar etwas Magisches an. Viele Autoren der klassischen Science Fiction sind der Ansicht, dies sei eine Eigenschaft, die der Darstellung von hochentwickelter Zukunftstechnologie inhärent sei. So erläuterte der hard-SF-Schreiber Arthur C. Clarke: "Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic" 72 • Folglich hat die traditionelle Science Fiction mit ihren tradierten Thematiken und Darstellungsweisen auch nicht den Anspruch, aus der Gegenwart abgeleitete realistische Technologien zu entwerfen. Stattdessen werden faszinierende Spitzentechnologien beschrieben, in denen sich Träume und Wünsche der Gegenwart widerspiegeln (wie etwa die Eroberung des Weltraums), die in dieser Literatur zur Realität werden.
72 CLARKE, Arthur C.: "Profiles of' the Future: An lnquiry into the Limits of the
Possible"; HoltRinehart and Winston, New York 1984 (zuerst 1962), S. 39.
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Die Cyberpunk-Autoren deuten mit ihren Werken in eine ganz andere Richtung. Bei der beschriebenen Technik handelt es sich im ersten Moment ebenfalls um Hochtechnologien, durch welche Möglichkeiten eröffnet werden, die weit von denen zeitgenössischer Gerätschaften entfernt sind. Allerdings ist der Kontext, in dem sie angesiedelt sind, ein gänzlich anderer als in der klassischen Science Fiction. Tatsächlich haben die futuristischen Technologien der Cyberpunk-Autoren die Straße erreicht und durchdringen das Alltagsleben der Menschen. Darüber hinaus wird beschrieben, welche neuen Möglichkeiten sich durch die weit fortgeschrittenen Technologien im Alltags- und Berufsleben eröffnet haben; völlig selbstverständlich tauchen die Cyberpunk-Charaktere in künstlich generierte Computerwelten ein, nutzen Möglichkeiten der plastischen Chirurgie und gentechnikbasierte Biotechnologie, um ihr Aussehen aktuellen Schönheitsidealen anzupassen, oder lassen sich bizarre Waffen in ihren Körper einbauen. Darüber hinaus wird ganz natürlich mit Künstlichen Intelligenzen, Androiden, Cyborgs, simulierten Wirklichkeiten und virtuellen Persönlichkeiten interagiert. So wird dargestellt, dass die beschriebenen Technologien tatsächlich zu einem lebenswichtigen Bestandteil des Körpers und Alltagslebens der Cyberpunk-Figuren geworden sind. Der Umgang mit den technologischen Neuerungen wird in der Cyberpunk-Literatur zumeist als alltägliche Routine dargestellt. Bruce Sterling erläutert dazu: "For the cyberpunks [... ] technology is visceral. It is not the bottled genie of remote Big Science boffins; it is pervasive, utterly intimate. Not outside us, but next to us. Under our skin; often, inside our minds." 71
Entsprechend stellen die Cyberpunk-Literaten den Umgang mit Technologie und die Rolle der Wissenschaft in ihren Werken ganz anders dar als die traditionelle Science Fiction; sie betrachten (Hoch-)Technologie nicht mehr als die Sphäre einer spezialisierten Elite. Folgerichtig beschäftigt sich die Cyberpunk-Literatur nicht mehr mit dem Verhältnis einzelner Wissenschaftler oder Eliteeinheiten zu technologischen und wissenschaftlichen Neuerungen, sondern damit, wie sich fiktionale Neuerungen auf die betroffenen Menschen allgemein auswirken und einen elementaren Platz in deren Leben und Alltag einnehmen. Anstatt wie die klassische Science Fiction die Macht und Erhabenheit der Technologie zu glorifizieren, beschreiben sie daher, dass die Technologien den Elfenbeinturm verlassen und die Straßen erobert haben. So machen sich Computernetzwerke, Nano- und Biotechnologie, Lasertechnologie und medizinische Kybernetik in den Zukunftswelten der Cyberpunk-Autoren in allen Bereichen des alltäglichen Lebens bemerkbar, aus ihnen setzt sich die Welt zusammen. 73 STERLING, Brnce: "Pref'acefrom Mirrorshades"; a.a.O.; S. 346.
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Die klassische Science Fiction und die Cyberpunk-Literatur unterscheiden sich daher auch darin, welche Rolle der Technologie jeweils zugeschrieben wird und wie ihre Auswirkungen auf den Menschen dargestellt werden. Die traditionelle Science Fiction nutzt fiktive technologische Neuerungen hauptsächlich als Begründung bzw. Grundlage für die Entwicklung von bisher nicht Durchführbarem. Neue Technologien ermöglichen in der klassischen ScienceFiction beispielsweise das interstellare Reisen in Überlichtgeschwindigkeit, das Terraforming ganzer Planeten, die so menschlichen Lebensbedingungen angepasst werden, imposante Waffentechnologien, lebensverlängernde Heilmittel und noch viele andere Dinge, die jenseits bekannter Möglichkeiten liegen. Die in vielen Fällen sehr präzise extrapolierten Technologien der klassischen Science Fiction haben folglich den Effekt, dass sich Handlungsraum und -möglichkeit der Protagonisten enorm erweitert haben (zum Beispiel in den Weltraum, auffremde Planeten etc.). Dennoch hat man es in der klassischen Science Fiction weitgehend mit ganz normalen Menschen zu tun, die in einem futuristischen Rahmen Benutzer fortgeschrittener technischer Gerätschaften sind. Letztere sind oft als technologische Requisiten und Kulissen zu verstehen, mit denen der Autor seine oftmals unspektakuläre Geschichte anreichert. Obwohl mit detaillierten und abenteuerlichen Erklärungen versehen, haftet diesen Requisiten auch oft etwas Übernatürliches an. Bei aller Faszination, die von ihnen ausgeht, haben sie keinerlei Auswirkung auf den Menschen an sich. Zweifelsohne darf nicht vergessen werden, dass die technologischen Wunder und Instrumente natürlich oft mehr als nur oberflächliche Zutaten von ScienceFiction-Geschichten sind. Technische Fragen und Rätsel bilden bei vielen Science-Fiction-Erzählungen gemeinhin zentrale Elemente des Plots und der zu lösenden Konflikte, doch berühren sie nur in den allerwenigsten Fällen tatsächlich die Psyche des Menschen. Denn trotz der durch futuristische Technik erweiterten Möglichkeiten entspricht die Figurenzeichnung des Menschen in der klassischen Science Fiction dem von Shiner beschriebenen "white male North American" des späten 20. Jahrhunderts. Von diesem zeitgenössischen Prototyp unterscheidet sich der Mensch der Zukunft nur darin, dass er von fortgeschrittenen Technologien umgeben ist. 74 Der Mensch der klassischen ScienceFiction wird folglich in keiner Weise von seinen Technologien beeinflusst, sein Bewusstsein bleibt mehr oder weniger konstant auf einem nachvollziehbaren Level. Ganz gleich, mit welchen äußeren Veränderungen und bizarren Situationen (die beide fast immer von Technik ausgelöst werden) er sich arrangieren muss, sein Denken und sein Wesen sind für den Leser rational verstehbar, wodurch auch die Möglichkeit der Identifikation mit dem Helden der Geschichte stets gewährleistet ist. 74 V gl. SHINER, Lewis: ",nside the Movement... "; a.a.O.; S. 21.
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Technologie ist in der klassischen Science Fiction folglich ein vom Menschen kontrolliertes Hilfsmittel, welches über das Offensichtliche hinaus keine weiteren Auswirkungen hat. In dieser Art der Darstellung zeigt sich interessanterweise die latente Technikfeindlichkeit der auf den ersten Blick technikverliebten Science Fiction, da die grundlegenden Auswirkungen von Technologien auf das Wesen des Menschen unberücksichtig bleiben und damit indirekt verleugnet werden. Es wird eine klare Grenze zwisehen Mensch und Technik beschrieben, wobei dieser Darstellung zugrunde liegt, dass der Mensch losgelöst von seinen Technologien existiert. Dem bürgerlichen Ideal entsprechend, ist der Mensch in der klassischen Science Fiction gänzlich rational und nutzt folglich seine Technologien als Werkzeuge. Aus dieser Perspektive ist der Mensch Gestalter seines eigenen Schicksals und seiner Welt. Invasive Technologien, die den Menschen verändern könnten, werden in der traditionellen Science Fiction oft als bedrohlich, auch als menschliche Hybris, dargestellt und daher abgelehnt. Die Cyberpunk-Literatur hingegen beschreibt das Verhältnis des Menschen zu seinen Technologien als sehr viel komplexer. Die Cyberpunk-Protagonisten haben eine sehr enge Verbindung zur Technik, in vielen Fällen ist diese Beziehung sogar stärker als der Bezug zu anderen Menschen. Die Grenzen zwischen Mensch und Technologie verschwimmen, beide sind gänzlich miteinander verschmolzen. Die Gerätschaften und Apparaturen der CyberpunkLiteratur leben nicht mehr nur neben dem Menschen, sondern unter seiner Haut, sind ein wichtiger Bestandteil von ihm geworden: "NewHope kam auf die Bühne. Eine Drahtnummer. Er war ausgemergelt und durch einen chirurgischen Eingriff geschlechtslos geworden: radikal Minimono. [... ] Seine Sexualität war an seinem Hinterkopf angebracht, eine Chromelektrode, die das Lustzentrum seines Gehirns während der gesetzlich geregelten wöchentlichen Katharsis aktivierte. [... ] Die Drähte, die in NewHopes Armen und Beinen und seinem Rumpf steckten, speisten Impulsübersetzer-Pickups auf den Bühnenboden, so daß er wie eine Marionette mit herunterhängenden Fäden aussah. Aber er war der Puppenspieler." 75
Jedoch beschränkt sich in der Cyberpunk-Literatur die fortgeschrittene Integration der Technik nicht nur auf den puren Innenraum des menschlichen Körpers. Die invasiven Technologien haben darüber hinaus auch den Erfahrungsbereich der Protagonisten enorm ausgedehnt. Durch die Integration der Technologien in den Körper hat sich vor allem das Wesen des Menschen sehr verändert. Durch das Eintauchen in computergenerierte virtuelle Umgehungen oder kybernetische und biotechnologische Optimierung der Sinnes75 SHIRLEY, John: "Eclipse"; Heyne, München 1991 (zuerst 1985), S. 117.
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organe hat sich dessen Sicht auf die Welt und seine Beziehung zur Natur und anderen Menschen grundlegend gewandelt. Ohne ihre Technologien fühlen sich die Protagonisten der Cyberpunk-Literatur unvollständig und geradezu behindert (an dieser Stelle sei auf die Helden aus "Neuromancer", "Hardware" und "Bewußtseinsspiele" hingewiesen). Die verschiedenen technologischen Modifizierungen haben also nicht nur die äußere Erscheinung und Wahrnehmung verändert, sondern auch das Denken der Menschen; sie haben zu einem grundlegenden Mentalitätswandel geführt, der in alle Bereiche von Kultur, Alltag und Gesellschaft hineinwirkt. Viele der Handlungen und Überlegungen der Cyberpunk-Protagonisten bleiben dem Leser (als ,normalem', unmodifiziertem Menschen) daher fremd und unverständlich. Die Erweiterung des menschlichen Körpers durch Technologien führt in letzter Konsequenz zu der Entwicklung sogenannter posthumaner Menschen, deren Wesen sich sehr von dem gegenwärtiger Menschen unterscheidet. In dem Shaper/Mechanist-Universum Sterlings beschreibt der Autor beispielsweise, wie die Menschheit durch gentechnische Optimierung und kybernetische Erweiterung in völlig verschiedene Fraktionen zerfällt, "die nur noch als Menschheit bezeichnet [werden], weil ein besserer Begriff [fehlt]"76 • Bezeichnenderweise hängt es von den technologischen Modifizierungen der einzelnen Gruppierungen ab, durch welche charakterlichen und mentalen Eigenschaften sich die jeweiligen Menschen auszeichnen. In der Cyberpunk-Literatur findet somit eine Reflexion darüber statt, wie der Mensch mit Technologien und Medien umgeht und wie ihn diese verändern, indem sie tief in das Sein und Bewusstsein der Menschen vordringen und sie radikal verändern. Die Technologien in der Cyberpunk-Literatur sind für die Autoren folglich keine Requisiten, sondern werden dazu verwendet, die Wirklichkeit und das Wesen der zukünftigen Menschen zu charakterisieren. Technologien und Medien nehmen in den Cyberpunk-Welten eine zentrale Rolle ein, da sich aus ihnen das Denken, Fühlen, Wissen und die Wahrnehmung der Protagonisten ableiten. Diese Tatsache zu thematisieren und zu reflektieren ist ein grundsätzlicher Anspruch der Cyberpunk-Literatur, aus dem heraus sich viele der Unterschiede zur klassischen Science Fiction ergeben und ableiten lassen. Dabei geht es den Cyberpunk-Autoren nicht darum, vor den Folgen zukünftiger Technologien zu warnen (ein Ton, der in der traditionellen Science Fiction oft angeschlagen wird und die latente Technikfeindlichkeit vieler Autoren bezeugt), sondern sie beschreiben lediglich die von Technolagien ausgelösten Prozesse und enthalten sich sowohl positiver als auch negativer Wertungen. Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass der Einfluss von 76 STERLING, Bruce: "Versunkene Gärten"; In: STERLING, Bruce: "Zikadenkönigin"; Heyne, München 1990 (znerst 1989), S. 134.
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Technik und Medien auf den Menschen und alle menschlichen Bereiche, d.h. auf das Menschsein an sich, bei der Extrapolation von zukünftigen W elten und Gesellschaften nicht unberücksichtigt bleiben kann. Dieses Motiv bildet die Grundlage praktisch aller Cyberpunk-Fiktionen.
Stil und Ästhetik Grundsätzlich handelt es sich bei dem größten Teil der produzierten Science Fiction um trivialliterarische Texte, die reinen Unterhaltungszwecken dienen und eher von geringen stilistischen Ansprüchen gekennzeichnet sind. Diese Einschätzung als trivialliterarische Massenware gilt insbesondere aus literaturwissenschaftlicher Warte gemeinhin als Konsens. Bereits Darko Suvin bemerkte, dass "90 oder sogar 98% der SF-Produktion [unter literarästhetischem Aspekt] Eintagsfliegen [sind], die dem augenblicklichem Veralten[ ... ] dienen." 77 Erzählungen, die der Hochliteratur zugerechnet werden (wie etwa die Werke von Stanislaw Lern, Kurt Vonnegut oder Ursula K. Le Guin), bilden in der klassischen Science Fiction folglich eher eine Ausnahmeerscheinung, auch wenn von der Science-Fiction-Kritik gerne auf sie hingewiesen wird (wobei diese Ambivalenz zumeist ansatzweise thematisiert wird). So bemerkt der deutsche Herausgeber und Kritiker Jörg Weigand diesbezüglich: "Ein Anspruch der Autoren, SF sei etwas Besseres als andere triviale Unterhaltung etwa gar Literaturliteratur im Sinne Dieter Rasselblatts -, erscheint konstruiert und entbehrt in den überaus meisten Fällen jeglicher Grundlage. Daß es Ausnahmen gibt, soll hier nicht bestritten werden; die Regel jedoch ist die Unterhaltungsschmonzette, Wyatt Earp in der Verkleidung eines Perry Rhodan.""
Tatsächlich scheint es so, dass nur die wenigsten Autoren dieses Genres versuchen, sich durch literarisch anspruchsvolle Stilistileen auszuzeichnen und sich so aus der Masse der produzierten Trivialliteratur hervorzuheben. Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass das ursprüngliche Selbstverständnis der klassischen Science Fiction auch nicht dahin ausgerichtet war, literarästhetisch relevante Werke zu verfassen. Vielmehr sahen sich die meisten Science-Fiction-Autoren (insbesondere in der Gründerzeit dieser Gattung) als V erbreiter wissenschaftlicher Erkenntnisse und Auslöser technisch-wissenschaftlichen Interesses. Dieses Ziel war oft verbunden mit der Absicht, auf durch technologische Neuerungen ausgelöste gesellschaftliche Prozesse hinzuweisen und diese auch direkt zu beeinflussen. In den frühen 77 SUVIN, Darko: "Poetik der ScienceFiction ... "; a.a.O.; S. II. 78 WEIGAND, Jörg: "Die Sehnsucht nach Höherem"; In: EMERT, Kar! (Hrsg.): "Neugier oder Flucht", Klett, Stuttgart 1980, S. 60.
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Jahren dieser Literaturgattung herrschte darüber hinaus der Gedanke vor, die Aufgabe von Science-Fiction-Autoren sei es, quasi als Propheten des technischen Zeitalters zu fungieren. Dieses Selbstbild wich mit der Zeit dem profaneren Selbstverständnis, dass sich in Science-Fiction-Erzählungen Wege und Irrwege geschichtlicher Möglichkeiten aufzeigen lassen und gegebenenfalls eine wechselseitige Befruchtung in der Gegenwart angeregt werden kann. Der englische Science-Fiction-Autor Ray Bradbury bemerkt in diesem Zusammenhang über die Möglichkeiten dieser Literaturgattung: "ScienceFiction ist ein wnnderbares Werkzeug, um Vorurteile zu beseitigen und die Menschen wachzurütteln, damit sie einander in Frieden leben lassen." 79
Unabhängig von diesem wandelhaften Selbstverständnis war es immer ein grundlegender Anspruch von Science-Fiction-Autoren, ihre literarische Aufgabe dahingehend gerichtet zu sehen, dem Leser Technik und Wissenschaft auf eine anschauliche Art und Weise zu vermitteln. Die Ausdrucksart dieser vorwiegend an der Technik orientierten Literatur sollte folglich in einem einfachen und durchsichtigen Stil gehalten werden, um die fiktiven technologischen Neuerungen sachlich angemessen und korrekt zu beschreiben. Dabei galt es jedoch auch, immer kurzweilig zu bleiben und den Leser zu fesseln. So forderte bereits Hugo Gemsback, das Interesse des Lesers durch Unterhaltung zu wecken, und auch spätere Science-Fiction-Autoren wie etwa Herbert Franke plädierten für eine einfache und packende Sprache. 80 Die geforderte Einfachheit und Durchsichtigkeit verbot daher tendenziell Iiterarische Stilmittel wie Mehrdeutigkeiten, Illusionen und sprachliche Tiefe. Daraus folgt, dass die Anforderungen an Science-Fiction-Autoren in ihrer Funktion als Literaten von vomeherein nicht den ansonsten gängigen schriftstellerischen Kriterien entsprachen. Tatsächlich darf wohl behauptet werden, dass es den meisten ScienceFiction-Autoren auch gar nicht darum geht, anspruchsvolle oder gar hohe Literatur zu produzieren, nicht zuletzt auch aus dem einfachen Grund, weil die Science Fiction traditionell an eine Leserschaft jenseits des Bildungsbürgertums adressiert ist. Anders als bei der klassischen und neueren Literatur geht es der traditionellen Science Fiction nicht darum, den Menschen als komplexes Subjekt mit seinen psychischen Erlebnissen und sozialen Erfahrungen innerhalb seiner jeweiligen kulturellen, mythischen und religiösen Umwelt zu schildern. Sie konzentriert sich stattdessen auf die Darstellung und Beschreibung fiktiver Zukunftstechnologien. Die Komplexität der zu er79 Ebenda; S. 67. 80 GERNSBACK, Hugo: "How to Write ,Science' Stories"; In: Science Fiction Studie,\· #63, Juli 1994 (zuerst 1930), http://www.depauw.edu/sfs/documents/ gemsbac.htm.
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läuternden Materie verlangt den Autoren dabei eine vereinfachende Sprache und leicht verständliche Darstellungsweise ab. Diese Einfachheit führt dazu, dass auch die Erzählung selbst mit ihrer Handlung und ihren Figuren unkompliziert dargestellt wird und sprachliche Mehrdeutigkeiten weitgehend vermieden werden. Die Autoren der klassischen Science Fiction versuchen stattdessen, ihre Leser mit den Beschreibungen raffinierter technischer Spielereien zu fesseln oder sie mit ausführlichen Schilderungen technischer oder historischer Details zu faszinieren. Derartige Darstellungen sind oft in einem pseudo-lexikalischen oder populärwissenschaftlich anmutenden Stil gehalten, der zu einem berüchtigten Markenzeichen der ScienceFiction geworden ist. Eine gewisse stilistische Lieblosigkeit ist besonders bei sogenannten tiein novelizations zu verzeichnen. Diese Romanserien erreichen ihre Leser wegen ihrer populären medialen Vorlagen (wie "Star Wars", "Star Trek" und neuerdings auch Computerspiele), wobei auch hier mehr Wert auf Quantität statt Qualität gelegt wird. Diese in hohen Auflagen gedruckten Bestseller stellen einen nicht unerheblichen Teil der jährlichen Science-Fiction-Produktion dar. Bei diesen Produkten findet man eine Wiederkehr des typischen Auftragsschreiberturns aus der frühen Science Fiction, welches sich nun in dem modernen Gewand der Medienverbundliteratur fortsetzt. Gerade wegen der hohen Zahl von Neupublikationen und dem immer stärker wachsenden Markt des cross-media-publishing tritt der individuelle Autor in diesem Bereich der Science Fiction in den Hintergrund, da er immer austauschbar bleiben muss. Der gewünschte Eindruck von Uniformität und Produktmarketing verbietet dem einzelnen Autor daher einen persönlichen literarischen Stil. 81 Anspruchsvoller literarischer Stil war in der klassischen Science Fiction zunächst folglich weder gefragt noch nötig, sondern erschien im Gegenteil eher als hinderlich. Science-Fiction-Literatur soll unterhaltend sein und aus der Sicht ihrer Autoren ideologische oder pädagogische Prognosen bezüglich technologischer Wunschwelten entwerfen, wodurch eher der konkrete Inhalt als eine stilistisch interessante Umsetzung desselben im Vordergrund steht. Eine bewusste Auseinandersetzung mit dieser Problematik findet sich in der Geschichte der Science Fiction erst seit kurzem, wobei bezeichnend ist, dass erst die literarischen Innovationen der NewWave Stilformen in diese Literaturgattung einführten, welche der literarischen Modeme zugerechnet werden. 82 Mit ihren expliziten Forderungen nach einer stilistisch anspruchsvollen und experimentellen Science Fiction schuf die New Wave so erstmals ein Bewusstsein für diese Problematik und führte ästhetische Neue81 Vgl. ALDISS, Brian W.; WINGROVE, David: "Der Milliarden-JahreTraum ... "; a.a.O.; S. 538. 82 Vgl. McHALE, Brian: "Postmodernist Fiction"; a.a.O.; S. 69.
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rungen in die ScienceFiction ein. Die Cyberpunk-Literaten stehen mit ihrem Anspruch nach einer literarisch anspruchsvollen Science Fiction folglich in der Tradition der New Wave, selbst wenn sich diese beiden progressiven Bewegungen in vielen Aspekten der Weltanschauung sehr voneinander unterscheiden. Bei Cyberpunk-Erzählungen ist auffällig, dass sie literarisch oftmals anspruchsvoller sind als die Werke der klassischen Science Fiction. Die Cyberpunk-Literatur stellt den Menschen als Subjekt in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und erörtert dessen Bezüge zu seiner Umwelt. Eine wichtige Rolle wird dabei dem Verhältnis von Mensch und Gesellschaft beigemessen, so werden die sozialen Erfahrungen und das psychische Erleben des Einzelnen im Rahmen der wirtschaftlichen, politischen, mystischen und religiösen Gegebenheiten dargestellt und - zumindest teilweise - ergründet. Das Anliegen der Cyberpunk-Literatur ist es zudem, zu reflektieren, wie sich der Mensch aufgrund der gewandelten kulturellen Realitäten verändert hat. Die Literarizität der Erzählungen zeigt sich hier auf der inhaltlichen Ebene folglich an der Absicht, Fiktionen mit tieferer Bedeutung zu verfassen. So verfügen Cyberpunk-Texte über vielfältige geschichtliche und literarische Bezüge und zeichnen sich durch eine gewisse interpretative Unerschöpflichkeit aus - die zahlreichen Arbeiten aus verschiedenen akademisehen Disziplinen belegen dies. Anders als die Autoren der klassischen Science Fiction verstehen sich die Cyberpunk-Autoren explizit auch als Schriftsteller mit einem sehr spezifischen literarästhetischen Anspruch. Zwar sind die Cyberpunk-Autoren selbst (oft von Kindheit an) von der Science Fiction und deren Traditionen geprägt und verstehen sich deshalb auch als Science-Fiction-Schreiber, sie rekurrieren dabei jedoch nicht mehr auf deren literarische Maxime der transparenten und simplen Erzähltechnik. So knüpfen sie zwar an bestimmte Inhalte und Ideen der klassischen ScienceFiction an, greifen in ihrem literarischen Stil jedoch weit über das in dieser Gattung Übliche hinaus. Orientiert an der Stilistik verschiedener Literaturgattungen (wie der Romantik oder hard-boiled detective fiction) und der Erzählkunst hochliterarischer Vorbilder wie etwa Thomas Pynchon und William Burroughs, verfassen die Cyberpunk-Autoren Texte jenseits der Genrekonventionen der klassischen Science Fiction. Auf die starre, einfache, stilvermeidende Ordnung der klassischen ScienceFiction antwortet die Cyberpunk-Literatur mit ästhetischer Vielfalt. Der inhaltliche Anspruch der Cyberpunk-Literatur spiegelt sich folglich auch auf der sprachlichen Ebene und macht deren besonderen Reiz mit aus. Es erscheint daher auch nicht verwunderlich, dass sich viele der CyberpunkAutoren dezidiert als Künstler und avantgardistische Bewegung innerhalb der literarischen Science Fiction ansehen. Letzteres macht sich nicht zuletzt auch daran fest, dass sie bewusst den Kontakt zu ähnlich gesinnten Autoren
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gesucht haben, wodurch die Movement-Gruppe entstand (vgl. auch Kapitel 2.1 ). Als Verbund junger und anspruchsvoller Autoren haben sie sich von Anfang an ausgetauscht, gemeinsam gearbeitet und kritisiert und so bewusst an ihrem Stil gefeilt. Daran zeigt sich, dass die inhaltlichen Ansprüche der Cyberpunk-Autoren immer mit der Absicht verbunden waren, ästhetisch durchkomponierte Science-Fiction-Texte zu schaffen. So handelt es sich bei den Erzählungen der Cyberpunk-Autoren auch fast immer um sprachlich, stilistisch und strukturell sehr anspruchsvolle Texte. Die Erzählungen sind in den seltensten Fällen linear, sondern bewegen sich meist auf mehreren Ebenen und Zeitsträngen. In vielen Fällen wird die eigentliche Erzählung durch Vor- und Rückblenden unterbrochen und es gibt verschiedene ineinander verschlungene Handlungsstränge, die mitunter von Figuren getragen werden, die nur kurz erscheinen, dann sehr schnell wieder verschwinden, einige Kapitel später aber unvermittelt wieder auftauchen können (als Beispiele wären hier "Snow Crash" von Neal Stephenson, "Blutmusik" von Greg Bear und "Metrophage" von Richard Kadrey zu nennen). Die Erzählungen selbst sind gerne mit facettenreichen Sprachbildern versehen und von tiefgründigen Symbolen durchflochten. Einige Autoren arbeiten überdies fast durchgehend mit Gleichnissen und Sinnbildern, durch welche beispielsweise mannigfaltige religiöse und mythische Bezüge hergestellt werden (vgl. hierfür Michael Swanwicks "Vakuumblumen"). Die sehr bildhafte Rhetorik und die symbolhaltige Sprache wird weiterhin eingesetzt, um Querverweise zur Philosophie oder Kunst nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form des Ausdrucks herzustellen (vgl. hierzu die textimmanenten und sprachlichen Surrealismusbezüge im Werk Richard Kadreys und Pat Cadigans). Generell lässt sich festhalten, dass die Texte der Cyberpunk-Literaten vielfältige Metaphern und Allegorien aufweisen, die nur zum Teil intuitiv erfassbar sind und dem Leser daher ein gewisses Vorwissen abverlangen. Bezeichnenderweise verwenden viele Cyberpunk-Autoren technologische Metaphern, um Menschen und auch die Natur zu beschreiben; auch hier wird die Allgegenwärtigkeit der Technologie durch die Wahl der Sinnbilder und der Sprache verdeutlicht. Darüber hinaus werden vielfältige Neologismen entworfen, die oft den gesamten Text durchziehen. In Gibsons Erzählung "Burning Chrome" zum Beispiel jagen sich auf wenigen Seiten Begriffe wie Matrix-Simulator, Ono-Sendai VII, Phosphenflut, EIS, Simstim, Duraluminium-Handgelenk. Einige davon erhalten im Laufe der Handlung klarere Konturen, andere bleiben ungreifbar und verflüchtigen sich unerkannt. Alle jedoch tragen dazu bei, eine technoide Atmosphäre zu kreieren und eine futuristische Szenerie zu kartieren, in der ausschnittweise die gegenwärtige Wirklichkeit wiedererkannt werden kann. Die Wortneuschöpfungen
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der Cyberpunk-Autoren beschränken sich interessanterweise nicht nur auf Substantive (wie in der traditionellen ScienceFiction, in der neue Technolagien auch gerne mit fiktiven Namen versehen werden), wie etwa den sogenannten Cyberspace und die Virtual Reality bei William Gibson oder das Avatar bei Neal Stephenson, sondern werden gerne auch dafür verwendet, die Nutzung von Technologien zu beschreiben, die ihren expliziten Technikhintergrund verlassen haben und so alltäglich geworden sind, dass sie als Adjektiv und/oder Verb in die Sprache aufgenommen wurden. So wird auch auf der sprachlichen Ebene ausgedrückt, dass sich Sein, Denken, Handeln, Sprache sowie gesellschaftliche, kulturelle und politische Gepflogenheiten in der beschriebenen Zukunftswelt grundlegend verändert haben. Eine weitere Auffälligkeit in vielen Cyberpunk-Werken ist der häufige Wechsel zwischen verschiedenen Erzählstilen. So wird beispielsweise gerne unmittelbar zwischen auktorialer Erzählung und erlebter Rede gewechselt oder einzelne Passagen sind in einem gänzlich anderen Sprachturnus verfasst als der umliegende Text. In vielen Fällen werden lyrisch anmutende Einsprengsel in die Erzählung eingeflochten und manche Textpassagen erinnern in ihrem Rhythmus an japanische Haikus (insbesondere bei Gibson). Auch Gedichte, Briefe, fiktive Zeitungsartikel und Sachtexte oder surreal anmutende Traumsequenzen werden häufig in den Text eingebunden. Diese sich von der sonstigen Erzählweise in ihrem Sprachrhythmus und ihrer Erzählperspektive unterscheidenden Abschnitte werden zumeist nahtlos in den Textfluss eingebunden, ohne dass derartige Brüche als solche kenntlich gemacht werden (wie etwa formal durch den Schriftsatz oder inhaltlich durch eine kurze Erläuterung). Auch in dem Blick auf die Oberflächen der Welt setzen sich die stilistischen und perspektivischen Oszillationen der Cyberpunk-Literatur fort. So wird bei der Beschreibung der Umwelt und ihrer Materialität häufig sehr unvermittelt zwischen wissenschaftlich exakten und unscharf intuitiven Beschreibungen gependelt und mal handelt es sich um auktoriale Beschreibungen, mal um die Assoziationen einzelner Charaktere (hierfür vgl. insbesondere Gibson, Stephenson und Shirley). Durch den stetigen Wechsel der Erzähltechnik ist der Leser immer mit einer gewissen Unberechenbarkeit konfrontiert, wobei unterschwellig offengelegt wird, dass es in den Welten der Cyberpunk-Literatur keine endgültigen Wahrheiten gibt, sondern dass alles eine Sache der jeweiligen Perspektive darstellt. Gleichzeitig muten viele dieser Texte mit ihrem durchkomponierten Potpourri verschiedener Stile und Erzählweisen sehr poetisch an. Insbesondere bei den literarischen Illustrationen unbelebter technischer W elten, wie etwa virtueller Datennetze, ist es den Cyberpunk-Autoren gelungen, einprägsame Beschreibungen von graphischer Wirkung zu entwerfen, die weit über die Science-Fiction-Literatur hinaus Beachtung gefunden haben.
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Grundsätzlich haben die Cyberpunk-Autoren in ihren Werken eine Ästhetisierung der Sprache vollzogen, wie sie in der Science Fiction bis dato weder gefordert noch vorzufinden war. In dieser aufgeladenen und ehrgeizigen Sprachästhetik verdichten sich die inhaltlichen und stilistischen Ansprüche der Cyberpunk-Autoren als künstlerische Avantgardebewegung innerhalb der ScienceFiction. So hält auch Bruce Sterling fest: "The most revolutionary act we can perform, as writers, is to cross genres, graft idioms from other kinds ofwork onto the SF subject matter. Style IS content."" 1
Die Cyberpunk-Literatur ist demnach weniger als Unterhaltungsliteratur zu betrachten, da die Autoren meist nicht primär an einer spannenden Handlung oder unterhaltsamen Dialogen interessiert sind, sondern an der künstlerischen und literarästhetischen Umsetzung ihrer Ideen. Ihre Werke sind daher oft sehr anspruchsvoll zu lesen und nicht selten bedürfen sie wiederholter Lektüre, bis sie sich dem Leser erschließen. Die inhaltliche und stilistisehe Komplexität begründet auch die Sonderstellung von Cyberpunk nicht nur innerhalb der Science-Fiction-Literatur, sondern auch in der zeitgenössischen Hochliteratur. Tatsächlich wird die Cyberpunk-Literatur von verschiedenen Theoretikern aufgrund ihres kaleidoskopartigen postmodernen Stilmixes als einer der wichtigsten Vertreter des postmodernen Schreibens betrachtet. So beschäftigt sich die Cyberpunk-Literatur mit verschiedenen Aspekten postmodernen Seins und Denkens, wobei sich die Reflexionen nicht zuletzt in dem differenzierten und gleichzeitig experimentellen sprachlichen Stil widerspiegeln. Der amerikanische Philosophieprofessor Larry McCaffery ist daher der Meinung, dass die Cyberpunk-Literatur sowohl stilistisch als auch inhaltlich als die exemplarische Kunstform der Postmodeme zu verstehen ist. 84
83 STERLING, Brnce: "Cheap Truth 15"; a.a.O. 84 Vgl. KELLNER, Douglas: "Media Culture ... "; a.a.O.; S. 299f.
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2.4 HUMANISTISCHES WELTBILD DER KLASSISCHEN 5CIENCE FICTION VERSUS AHUMANISTISCHES DIKTUM DER CYBERPUNK-5CIENCE-FICTION "Es ist nämlich die Akzeptanz der technologischen Evolution und Änderung unsres Menschenbegriffs, die romantische Akzeptanz der technologischen Wandlung der Spezies, und nicht das traditionelle Mißtrauen dagegen, das letztendlich das Neuromantische Empfinden bestimmt.""
Wie der historische Abriss der Science Fiction gezeigt hat, reichen die frühsten Wurzeln dieser Literaturgattung bis weit in die Antike zurück. Die Entwicklung einer kontinuierlichen Tradition, aus der schließlich die Science Fiction als literarische Gattung entstanden ist, lässt sich jedoch erst für das Zeitalter der Aufklärung und mit dem Aufkommen der Gothic Novel belegen. 86 In diesem Zusammenhang nimmt das Werk der Engländerin Mary Shelley und innerhalb desselben insbesondere die Erzählung "Frankenstein oder der moderne Prometheus" eine konstituierende Funktion ein. "Frankenstein" ist bekanntermaßen das Erzeugnis einer Epoche, in der technische Neuerungen die Natur und den menschlichen Handlungsraum zunehmend und nachhaltig zu verändern begannen; der Roman wurde zu einer Zeit veröffentlicht, in der neue technische Errungenschaften (wie z.B. Gaslicht, Dampflokomotiven und -schiffe) den Lebens- und Erfahrungsraum des Menschen nachhaltig zu verändern und auszudehnen begannen. In dieser Atmosphäre des unaufhaltsamen Wandels und der vermeintlich unerschöpflichen neuen Möglichkeiten durch Wissenschaft und Technik schrieb Shelley einen Roman, in dessen Zentrum die zutiefst fortschrittsbejahende Motivation des Protagonisten steht: "So vieles ist also schon errungen worden [... ] ich aber will noch mehr, weit mehr erreichen: Voranschreitend auf dem schon vorgezeichneten Pfade will ich der Menschheit bislang unbekannte Wege erschließen, will auch noch unentdeckte Kräfte entdecken und der Welt das tiefste Geheimnis der Schöpfung offenbaren!""'
85 SPINRAD, Norrnan: "Die Neuromantiker. Nachwort von Norman Spinrad"; In: GIBSON, William: "Neuromancer"; Heyne, München 1987 (znerst 1984), S. 361. 86 Aldiss weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Genre der Science Fiction und Gothic Novel gleichermaßen das Ferne und das Unirdische beschwören - der Zauber beider Genres liegt in der großen Entfernung der Dinge; vgl. ALDISS, Brian W.; WINGROVE, David: "Der Milliarden-JahreTraum ... "; a.a.O.; S. 55f.
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Die Geschichte, die sich auf der Grundlage dieses tiefen prometheischen Verlangens des Wissenschaftlers Viktor Frankenstein entspinnt, ist hinlänglich bekannt: Im Zuge seiner Forschungsexperimente gelingt es Frankenstein, toten Stoffen neues Leben einzuhauchen und so eine menschliche Kreatur aus organischen Bestandteilen zu schaffen. Erschrocken über sein eigenes Werk, entzieht sich der Protagonist seiner Verantwortung und überlässt das von ihm geschaffene Monsterwesen seinem Schicksal. Sich selbst überlassen und angetrieben von Gefühlen der Enttäuschung, Eifersucht und Einsamkeit, zieht das zunächst kindlich-naive, im Verlauf der Erzählung jedoch zunehmend aufgeklärte und gebildete Geschöpf eine Spur der Gewalt und Vernichtung hinter sich her. Die Energien des Monsters konzentrieren sich dabei insbesondere auf die Rache an seinem Schöpfer, durch dessen Verrat sich die Kreatur der immerwährenden Einsamkeit ausgesetzt sieht. Der Unhold löscht im Verlauf der Erzählung nahezu die ganze Familie Viktor Frankensteins aus und ermordet schließlich die Braut seines Schöpfers in deren Hochzeitsnacht. Das Ende dieser dramatischen und von Verlusten gekennzeichneten Geschichte ist schließlich ebenso wenig glücklich; Viktor Frankenstein sowie die Kreatur sterben beide an Schuld, Scham und ihren zerrütteten Psychen. Mary Shelleys "Frankenstein oder der moderne Prometheus" bildet aus verschiedenen Gründen den Grundstein für die klassische Science Fiction. Der amerikanische Literaturwissenschaftler George Slusser beschreibt die Sonderrolle von Shelleys Werk innerhalb der Tradition der Science Fiction folgendermaßen: "Mary Shelley's work is indeed the first SF novel, by which I mean simply that it seems to be the first work in which the processes of traditional fiction and modern science meet in any meaningfu1 fashion."""
Brian Aldiss hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass Mary Shelleys Anknüpfung an das Genre der Gothic Novel und ihre zeitgleiche Einführung verschiedener Grundtypen und -Problematiken der späteren Science-FictionLiteratur den ersten Kontext in literarischer, wissenschaftlicher, sozialer und thematischer Hinsicht bilden, welcher eine Gattung ausmacht. So erkennt auch Aldiss jene mit der "Frankenstein"-Erzählung beginnende gattungsbestimmende Kontinuität der Science-Fiction-Literatur, in deren Zentrum die Reflexion der Beziehung des Menschen zu seiner sich nachhaltig wandeln87 SHELLEY, Mary W.: "Frankenstein oder der moderne Prometheus"; DTV, München 2008 (znerst 1818), S. 58. 88 SLUSSER, George: "The Frankenstein Barrier"; In: SLUSSER, George; SHIPPEY, Tom (Hrsg.): "Fiction 2000. Cyberpunk and the Future ofNarrative"; The University of Georgia Press, Athens 1992, S. 46.
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den Umwelt steht. Diese Beschäftigung leitete Aldiss zufolge eine Evolution der Ideen des Phantastischen ein und ist somit als eine sich fortwährend weiterentwickelnde Tradition zu verstehen, in welcher jedes spätere ScienceFiction-Werk zu lesen ist. 89 Mary Shelleys Idee, dass eine Art übermenschliches Monster mit Hilfe von neuen wissenschaftlichen Techniken erschaffen wird, bildet bis heute einen der wichtigsten Bestandteile verschiedener moderner Science-Fiction-Erzählungen. Darüber hinaus führte die Engländerin mit dem rastlos suchenden Wissenschaftler Frankenstein einen wichtigen literarischen Grundtypus in die Gattung der Phantastischen Erzählungen ein, welcher bis heute die klassische ScienceFiction prägt. 90 Einzigartig und neu ist bei Shelley dabei vor allen Dingen, dass der Protagonist (ebenjener rastlos suchende Wissenschaftler) für die Verwirklichung seiner faustischen Träume keinen Pakt mit einer überirdischen Macht wie dem Teufel eingehen muss. Der Teufel gehört bei Shelley bereits einem Glaubenssystem der Vergangenheit an, die neue Macht ist die Wissenschaft. Dieser Logik folgend, tragen die Ambitionen des Wissenschaftlers Frankenstein auch erst nach dem Zeitpunkt Früchte, ab dem er seine alten Handbücher aus dem , vorwissenschaftliehen' Zeitalter weggeworfen hat und bei seinen Forschungen auf die wissenschaftlichen Kenntnisse neuer Phänomene, insbesondere der Elektrizität, zurückgreift. Ein grundlegendes Anliegen von "Frankenstein oder der moderne Prometheus" ist es folglich, den Übergang vom alten zum neuen Zeitalter zu thematisieren. Der Roman zeigt auf, wie die überholten vorwissenschaftlichen Weisheiten und alten Glaubenssätze des Zeitalters vor der Aufklärung in Konkurrenz zur modernen Wissenschaft mit ihren Experimenten und ihrer rationalistischen Weltsicht stehen und schließlich durch diese ersetzt werden. 91 Dieser Paradigmenwechsel wird von Shelley jedoch nicht nur aufgezeigt, sondern ihr Roman ist als ein Versuch zu verstehen, einen Beitrag zur notwendigen Neuauslotung der Stellung des Menschen in seiner sich immer schneller verändernden Umwelt zu leisten. Im Zentrum der "Frankenstein"-Erzählung stehen letztlich die klassischen Fragen des Humanismus: Was ist der Mensch? Wo liegt sein wahres Wesen? Wie kann der Mensch dem Menschen ein Mensch sein?
89 Vgl. ALDISS, Brian W.; WINGROVE, David: "Der Milliarden-JahreTraum ... "; a.a.O.; S. 54ff. 90 Vgl. WUCKEL, Dieter: "ScienceFiction. Eine illustrierte Literaturgeschichte"; a.a.O.; S. 44ff. 91 Vgl. ALDISS, Brian W.; WINGROVE, David: "Der Milliarden-JahreTraum ... "; a.a.O.; S. 65f.
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Die Darstellungen Shelleys sprechen bei der Beantwortung dieser Fragen für sich; die Erzählung warnt deutlich vor einer entgrenzten Vernunft des Menschen, durch welche dieser sich selbst zum Gott erhebt und es sich anmaßt, lebendige Materie zu schaffen. Als Konsequenzen derartiger Grenzüberschreitungen beschreibt Shelley Unglück, höchstes Leid und schließlich die endgültige Zerstörung des prometheischen Geistes. Zwar mag es dem Menschen bei Shelley gelingen, natur- bzw. gottgegebene Barrieren zu durchbrechen, doch das Resultat ist für den menschlichen Geist weder fassbar noch kontrollierbar. Es bedarf folglich eine Art höherer universeller Macht, die das zerstörte Gleichgewicht wieder herstellt und den Menschen so an seinen naturgegebenen Platz im Universum zurückrückt Diese Wiederherstellung der Ordnung geht jedoch beinahe zwangsläufig mit einer Vernichtung des prometheischen Geistes und seiner Schöpfungen einher. So implizieren Shelleys Darstellungen eine Art höhere Moral, die dafür Sorge trägt, dass menschliche Anmaßung a priori zum Scheitern verurteilt ist. Der aus diesen Darstellungen sprechende Leitgedanke ist als konstituierend für die moderne Science Fiction zu betrachten. Es ist ebendieser humanistische Glaubenssatz, der die gesamte moderne Science Fiction bis heute prägt. Aldiss fasst dies in seiner Kurzdefinition der Science Fiction folgendermaßen zusammen: "Nemesis schlägt Hybris." 92 Dem Weltbild der konventionellen Science Fiction liegt demnach von jeher die Idee zugrunde, dass der Mensch etwas Großes und Bejahenswertes ist. Orientiert an humanistischen Prinzipien, stellen folglich das Streben nach Freiheit, Menschlichkeit, das Wohlergehen des Einzelnen und der Gesellschaft die höchsten Werte und die von einem moralischen Menschen geforderte Grundhaltung dar. Der Zugang zur Welt und zu sich selbst ist in der klassischen Science Fiction durch einen humanistischen Ethos geprägt. Aus diesem Grund werden in der traditionellen Science Fiction Veränderungen der Natur des Menschen bei aller Faszination meistens als amoralisch, gefährlich, überheblich und letztendlich zum Scheitern verurteilt dargestellt. Obwohl Extrapolationen technischer Neuerungen und die Beschäftigung mit den Folgen wissenschaftlichen Fortschrittes zentrale Topoi der Science Fiction sind, wird daher auf den zweiten Blick auch deutlich, dass hinter der vermeintlichen Fortschrittsverliebtheit eine latente Technikfeindlichkeit verborgen liegt. In der klassischen Science Fiction wird der Mensch als das Ebenbild Gottes und damit als das Höchste der Schöpfung verstanden und darf weder verändert werden noch selbst in fundamentale Prozesse des Kosmos eingreifen. So erklärt es sich auch, dass ,böse' Anmaßungen von außerirdischen Wesen, fehlgeleiteten Wissenschaftlern oder gierigen Bösewichten in der klassischen Science Fiction praktisch immer durch die grundsätzlich ,gute' 92 Ebenda; S. 37.
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und ,höhere' moralische Natur des Menschen besiegt werden. Selbst wenn das ,Gute' in jedem anderen Bereich (Wissenschaft, Technik etc.) unterlegen ist, muss es in der klassischen Science Fiction am Ende stets aufgrund seiner moralischen Richtigkeit triumphieren. Seit Mary Shelleys "Frankenstein oder der moderne Prometheus" schufen die Autoren der klassischen Science Fiction somit latent einen genrespezifischen Mythos, der auf der Grundlage eines humanistischen Glaubensund Denksystems fußte und durch welchen dem Leser beständig das Funktionieren und die Gültigkeit dieser moralischen Grenzen vor Augen geführt wurde. Ebenso wie Viktor Frankenstein und die von ihm geschaffene Kreatur aufgrund dieses bereits bei Shelley implizierten Glaubenssystems zum Scheitern verurteilt waren, müssen auch die überlegenen außerirdischen Eroberer Wells' aus "Der Krieg der Welten" kurz vor ihrem Sieg durch eine Seuche dahingerafft werden, oder das böse galaktische Imperium unterliegt der chaotischen, aber liebenswerten Gruppe aus rebellischen Raumhelden, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit das Gute triumphieren lassen ("Star Wars" wäre hier als eines der populärsten Beispiele zu nennen). Dieser die traditionelle Science Fiction konstituierende Mechanismus wird von den Cyberpunk-Literaten grundlegend kritisiert und abgelehnt. Die von späteren Literaturkritikern als "Frankenstein barrier" 93 bezeichnete Selbstbeschränkung der klassischen Science Fiction wird von Autoren wie Sterling, Shiner und Gibson als eine künstliche Aufrechterhaltung eines längst überholten Glaubens an ein universelles Gesetz betrachtet, dem zufolge dem Menschen Grenzen in seinem Wissen und Handeln gesetzt seien, die dieser aufgrund seines moralischen und vernünftigen Wesens akzeptieren müsse. Sterling beschreibt diese Vorstellung wie folgt: "[Humanist Science Fiction] promotes the romantic dieturn that there are Some Things Man Was Not Meant to Know. There are no mere physical mechanisms for this higher moral law - its workings transcend mortal understanding, it is something akin to divine will. Hubris must meet nemesis; this is simply the nature of our universe. "'l)4
Durch den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt der vergangeneu Jahrzehnte, so Sterling, hat sich der Mensch jedoch einen großen Umfang des ,Verbotenen Wissens' der humanistischen Science Fiction angeeignet. Der Einsatz und die Nutzung dieses Wissens hat dabei in mehrfacher Hinsicht bewiesen, dass sich der Mensch in seinem Handeln nur wenig an den ethischen und moralischen Vorgaben des Humanismus orientiert: 93 SLUSSER, George: "The Frankenstein Barrier"; a.a.O.; S. 48. 94 STERLING, Bruce: "Cyberpunk in the Nineties"; In: Interzone #48, June 1991; http:/I gopher. weil. sf.ca.us:70/0/Publications/authors/Sterling/interzone_ six. tx
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"As a culture, we Iove to play with fire, just for the sake of its allure; and if there happens to be money in it, there are no holds barred. Jumpstarting Mary Shelley 's corpses is the least of our problems; something much along that line happens in intensive-care wards every day. " 95
Im Grunde thematisiert die Cyberpunk-Literatur damit das gleiche Phänomen wie die von Mary Shelley geprägte Science Fiction in ihrer Auseinandersetzung mit dem archaischen und religiös konnotierten Zeitalter des Aberglaubens. In ihren Analysen weisen die Cyberpunk-Literaten darauf hin, dass in den vergangeneu Jahren durch neue, invasive Technologien ein Paradigmenwechsel eingeleitet wurde, welcher von der traditionellen Science Fiction bisher jedoch nicht antizipiert wurde. So stellen die Cyberpunk-Literaten fest, dass das humanistische Weltbild sich in dieser Literaturgattung so sehr als impliziter Mythos festgesetzt hat, dass die Science Fiction inzwischen selbst zum Opfer überholter Vorstellungen geworden ist. Den ursprünglichen Anspruch der ScienceFiction, eine Aufklärung des Publikums und eine dafür notwendige Vermittlung wissenschaftlicher Grundlagen zu betreiben und dabei auch gegen überholte Vorurteile und abergläubische Vorstellungen anzugehen, ist dabei für die Cyberpunk-Literaten keinesfalls als falsch oder gescheitert zu deuten. Die Science Fiction ist ihrem Anspruch nach schließlich als eine modernisierende, progressive Bewegung zu verstehen, welche auf unterhaltsame Weise Fragen aufwirft und dabei alte Glaubenssysteme (auch in Bezug auf Gesellschaft, Politik und Religion) in Frage stellt. Das Defizit, das Sterling und andere Cyberpunk-Autoren in der zeitgenössischen wie in der klassischen Science Fiction erkannten, war jedoch, dass der ursprüngliche Anspruch, im Sinne der Aufklärung unzeitgemäße Betrachtungsweisen und Gedankengebäude zu entlarven, leider dazu führte, dass sich bestimmte, implizite Vorstellungen innerhalb der ScienceFiction festigten, welche allerdings genauso zu hinterfragen seien. Insbesondere der Glaube an eine rationale und humanistische Natur des Menschen und dessen Lernfähigkeit, waren demnach mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Zweifel zu ziehen. 96 Statt eine Reflexion dieses Umstandes zu leisten, predigte (und predigt) die Mainstream Science Fiction jedoch seit Shelley ungebrochene und am Humanismus orientierte Vorstellungen des menschlichen Wesens und der Moral, die nach Ansicht der Cyberpunk-Literaten nicht mehr zu halten waren. Mit dem Wissen um die zeitgenössische Realität und die konkreten menschlichen Abgründe weiterhin von der Größe und Anmut der höheren Vernunft und Ethik zu schreiben und diese als die wahre menschliche Natur zu preisen, war nach Ansicht der Cyberpunk-Au95 Ebenda. 96 Vgl. ebenda.
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toren nicht nur reaktionär, sondern wurde von ihnen gar als verlogen und unzeitgemäß kritisiert. Das humanistische Weltbild, welches seit dem Zeitalter der Aufklärung als Vorbild für das Leben, das Gesetz und für das Denken fungieren sollte, muss daher nach Ansicht der Cyberpunk-Literaten ebenfalls als überholter Aberglaube angesehen werden: "In the moral universe of cyberpunk, we already know Things We Were Not Meant To Know. Our grandparents knew these things; Robert Oppenheimer at Los Alamos became the Destroyer of Worlds long before we arrived on the scene. In cyberpunk, the idea that there are sacred Iimits to human action is simply a delusion. There are no sacred boundaries to protect us from ourselves. ""
Trotzdem verstehen sich die Cyberpunk-Autoren, wie bereits mehrfach erwähnt, als Emeuerungsbewegung, welche innerhalb der Science Fiction agiert. Der ursprüngliche Anspruch darf jedoch auch vor der Science Fiction selbst nicht haltmachen, sofern sich innerhalb dieser veraltete Ideen und unrealistisches Wunschdenken in den Konventionen und Traditionen festgesetzt haben. Folglich ist die Kritik der Cyberpunk-Literaten nicht als fundamentale Kritik an der ScienceFiction an sich zu verstehen, sondern als Versuch, sie wieder an die Speerspitze der populärkulturellen Auseinandersetzung mit der Gegenwart und nahen Zukunft zu führen und ihr subversives Potential wiederzubeleben. So ist auch das vermeintlich ,Verbotene Wissen' der klassischen Science Fiction durch den Fortschritt in Technik und Wissenschaft längst allgemeiner Kenntnisstand geworden. Es geht in der Welt der Cyberpunk-Literaten nicht mehr darum, die modifizierten ,Monster' zu besiegen, vor denen die klassische Science Fiction warnt. Tatsächlich, so Sterling, ist die Menschheit durch ihre Allianz mit dem ,Verbotenen Wissen' selbst zu den Monstem der klassischen, humanistischen ScienceFiction geworden: "[I]magine a cyberpunk version of Frankenstein. In this imaginary work, the Monster would likely be the well-funded R&D team-project of some global corporation. The Monster might weil wreak bloody havoc, most likely on random passers-by. But having done so, he would never have been allowed to wander to the North Pole, uttering Byronic profundities. The Monsters of cyberpunk never vanish so conveniently. They are already loose on the streets. They are next to us. Quite likely WE are them. The Monster would have been copyrighted through the new genetics laws, and manufactured worldwide in many thousands. Soon the Monsters would all have lousy night jobs mopping up at fast-food restaurants. " 9 '
97 Ebenda. 98 Ebenda.
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Diese Realität zu reflektieren ist das zentrale Anliegen der Cyberpunk-Literaten. Wie absurd es wäre, diese Wirklichkeit zu verleugnen und das daraus resultierende ,anti-humanistische' Weltbild zu verdammen, beschreibt Bruce Sterling folgendermaßen: "Human thought itself, in its unprecedented guise as computer software, is becoming something to be crystallized, replicated, made a commodity. Even the insides of our brains aren 't sacred; on the contrary, the human brain is a primary target of increasingly successfu1 research, ontologica1 and spiritual questions be damned. The idea that, under these circumstances, Human Nature is somehow destined to prevail against the Great Machine, is simply silly; it seems weirdly beside the point. It's as if a rodent phi1osopher in a 1ab-cage, about to have his brain bored and wired for the edification of Big Science, were to pious1y declare that in the end Rodent Nature must triumph. Anything that can be done to a rat can be done to a human being. And we can do a1most anything to rats. This is hard tothink about, but it's the truth. lt won't go away because we cover our eyes. *This* is cyberpunk.""
Die Cyberpunk-Literatur vollzieht folglich über die in vorherigen Kapiteln dargestellten inhaltlichen, strukturellen und literarästhetischen Unterschiede hinaus einen radikalen Bruch mit den grundlegenden Wertesystemen der klassischen Science Fiction. In der oftmals überspitzten Amoralität der Cyberpunk-Charaktere (welche für den Leser selten Identifikationsfiguren sind, sondern eher abschreckend wirken) spiegelt sich demnach nur die ungeschönte menschliche Natur wider. Bei den Cyberpunk-Charakteren handelt es sich daher auch nicht mehr um jene in der klassischen ScienceFiction beschriebenen strahlenden Helden, die selbst in den düstersten Weltentwürfen weiterhin für ihre humanistischen Ideale einstehen, sondern um moralisch ambivalente Figuren, die sich nur allzu gut den gegebenen Bedingungen anpassen. Fragen nach und in Kategorien des Guten oder des Bösen werden hier nicht mehr gestellt, sie sind obsolet geworden. Der Unterschied zwischen dem humanistischen Wertesystem der klassischen ScienceFiction und dem Weltbild der Cyberpunk-Literatur manifestiert sich auch in ihrem unterschiedlichen Umgang mit Technologie und Wissenschaft. Anders als bei der von latenter Technophobie geprägten klassischen Science Fiction sind Hochtechnologien und wissenschaftliche Neuerungen in der Cyberpunk-Literatur für die Protagonisten zu einem lebenswichtigen Teil ihres Körpers und ihres Alltagslebens geworden und befinden sich nicht mehr in abgeschlossenen Forschungslaboren, die nur einer spezialisierten Elite zugänglich sind. 99 Ebenda.
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Beliebte Elemente in der Cyberpunk-Literatur sind daher beispielsweise technologische Körpererweiterungen und das Interface zwischen Mensch und Maschine. Dabei wird von den Cyberpunk-Autoren zumindest implizit stets gezeigt, dass sich die Menschen der Cyberpunk-Erzählungen aufgrund der sie umgebenden und in sie eingedrungenen Technologien deutlich von Menschen aus heutiger Sicht unterscheiden. Anregungen für diese Darstellungen lieferten den Cyberpunk-Autoren die tatsächlichen radikalen Neuerungen in Technik und Wissenschaft der jüngeren Vergangenheit, die das Wesen- das Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Empfinden- des Menschen bereits verändert hatten. In ihren Extrapolationen beschreiben sie somit lediglich, wie sehr sich die Welt und der Mensch bereits innerhalb des 21. Jahrhunderts weiterentwickeln könnten. Hier zeigt sich, dass die Cyberpunk-Literaten ein radikal anderes Verständnis vom Menschsein haben als die Autoren der klassischen Science Fiction. Für sie ist das Denken und damit auch die menschliche Psyche nicht etwas Unveränderbares und Wesensimmanentes, was nur in seiner ,reinen' Form existieren kann und daher um jeden Preis konserviert werden muss. Vielmehr zeigt die Cyberpunk-Literatur, dass der Mensch in alle Richtungen völlig entwicklungsoffen ist. Folglich ist es in den Welten der Cyberpunk-Erzählungen auch nicht nötig, den fortschreitenden Triumphzug neuer Technologien und deren Ausbreitung in das Alltagsleben als bedrohliche und zerstörerische Kraft zu bekämpfen. Vielmehr gehen die Figuren oftmals eine Allianz mit der Technik ein. Sie nutzen die Technologien mit all ihren negativen und positiven Aspekten für sich, um so ihren Handlungs- und Erfahrungsraum zu erweitern und sich dabei weiterzuentwickeln. Während also in der klassischen Science Fiction eine Liaison mit der Technik den Menschen von seinem wahren Wesen entfremdet und ihn zumeist auf eine erschreckende Art und Weise unmenschlich werden lässt, wird in der Cyberpunk-Literatur thematisiert, dass sich der Mensch durch die ihn umgebenden Technologien bereits grundlegend verändert hat und sich auch noch weiter verändern wird. Die Cyberpunk-Literatur zeigt auf, dass es keine menschliche Natur gibt, die über die Zeiten gleich bliebe- es gibt kein verborgenes wahres Wesen des Menschen. Vielmehr ist durch das zunehmend intime Verhältnis des Menschen zu seinen Technologien deutlich geworden, dass die Definition dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein, einem ständigen Wandel unterworfen ist. 100 Es muss Autoren wie Sterling, Gibson und Rucker demnach in der zeitgenössischen Science Fiction um eine Reflexion darüber gehen, dass sich das menschliche Sein als solches nicht ergründen lässt, da der Mensch ein unfertiges Wesen ist. Die CyberI 00 Vgl. SPINRAD, Norman: "Die Neuromantiker. Nachwort von Norman Spinrad"; In: GIBSON, William: "Neuromancer"; Heyne, München 1987 (zuerst 1984), S. 358.
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punk-Literatur ist folglich auch als ein Versuch der Loslösung aus der humanistischen Denktradition und den Denkbewegungen der klassischen Science Fiction und ihrer kulturellen Bezugssysteme zu verstehen. Diese Form der Absage an das klassische Welt- und Menschenbild des Humanismus findet ihr Vorbild interessanterweise fünfzehn Jahre vor Beginn der Cyberpunk-Bewegung in der philosophischen Avantgarde der 1960er Jahre bei Michel Foucault. Auch für Foucault stellte die traditionell humanistische Idee des Menschen und die damit einhergehenden Denkbewegungen ein belastendes Erbe der Vergangenheit dar, von welchem es sich zu lösen galt. 101 Der Humanismus, so Foucaults Vorwurf, sei ein Gesamtsystem einer spezifischen Epoche, welche historisch bedingt ist, aber vorgibt, allgemeingültig zu sein. Dieses System vereinnahmt den Menschen absolut, so dass dieser innerhalb dieses Konstrukts nicht mehr die Künstlichkeit des Ganzen, aber vor allem auch nicht mehr die Grenzen und Beschränkungen des Systems erkennen kann, da dieses das Denken und die Sprache beeinflusst. Nach Foucault ist der Mensch durch den Humanismus deswegen von seiner Realität entfremdet, weil in diesem System hauptsächlich "die Kategorien des guten Geschmacks und des menschlichen Herzens vorherrschen".102 Der Humanismus ist jedoch ein Resultat historischer Zusammenhänge, er ist nach Foucault kein Welterklärungsmodell mit universeller Gültigkeit. Vielmehr decken sich die Vorstellungen des Humanismus immer weniger mit der zeitgenössischen Realität. Im Denken abgeschnitten von der technischen und wissenschaftlichen Welt, welche von Foucault als die wirkliche Welt des Menschen begriffen wird, versuche man auf der Grundlage humanistischen Verfahrens, Probleme zu lösen, die man auf der Grundlage dieses Denkens nicht lösen könne. Tatsächlich, so der Vorwurf Foucaults, sei der Humanismus nur noch ein "Wandschirm [... ],hinter den sich reaktionärstes Denken flüchtet" 103 . Das Beibehalten der Werte und Vorstellungen des Humanismus führt in einer Welt der Wissenschaft und Technik nur dazu, dass man die tatsächliI 0 I Vgl. FOUCAUL T, Michel: "Absage an Sartre. Interview von Madeleine Chapsal, Mai I966"; In: SCHIWY, Günther: "Der französische Stntkturalismus"; Rowohlt Verlag, Harnburg 1969, S. 205. I 02 Ebenda; S. 206. 103 Ebenda; S. 205. (Eine im Wortlaut sehr ähnliche Kritik findet sich bezeichnenderweise bei den Cyberpunk-Autoren in ihrer Auseinandersetzung mit der Verfahrensweise zeitgenössischer Science-Fiction-Literatur. So klassifiziert Sterling etwa die Werke etablierter Autoren der traditionellen Science Fiction als "[w]orse than dull; they 're reactionary, clinging to literary-culture values while a cybernetic tsunami converts our times into a post-industrial Information Age"; vgl. STERLING: "Cheap Truth 5"; a.a.O.)
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ehe Wirklichkeit nicht versteht und verstehen kann. Daher verlangt Foucault von sich und seinen Anhängern, sich endgültig von den Vorstellungen des Humanismus zu lösen und sich nicht weiter "fur den Menschen gegen die Wissenschaft und gegen die Technik einzusetzen, sondern deutlich zn zeigen, daß unser Denken, unser Leben, unsere Seinsweise bis hin zu unserem alltäglichsten Verhalten Teil des gleichen Organisationsschemas sind und also von den gleichen Kategorien abhängen wie die wissenschaftliche und technische Welt. Wir [... ] bemühen uns, den Menschen mit seiner Wissenschaft, mit seinen Entdeckungen, mit seiner Welt, die konkret ist, zn verbinden." 104
Die Bemühungen der Cyberpunk-Literaten gehen in die gleiche Richtung wie der hier von Foucault für die Philosophie und Geisteswissenschaften eingeforderte Weg. Die klassische, humanistische Science Fiction hat ihren Wert für eine Auseinandersetzung mit einer sich durch rasante Fortschritte der Alltags- und Hochtechnologien geprägten Welt verloren, obgleich sie nach Autoren wie Suvin und Freedman gerade dazu das Potential hat. Die Cyberpunk-Literatur löst sich durch ihre neutrale Haltung gegenüber der von ihr dargestellten Folgen einer Allianz des Menschen mit seiner Technologie und Wissenschaft von jeglichen humanistischen Wertvorstellungen und Idealen des Menschen. Das zentrale Topoi der Cyberpunk-Literatur, die Thematisierung von radikalen Wandlungen und Brüchen des Menschseins, ist demnach als eine Verunmöglichung jeglicher kosmischer Deutung des Menschen im Sinne des Humanismus zu verstehen. Denn im Zentrum aller Darstellungen der Cyberpunk-Literatur steht eine grundlegende Dekonstruktion der Vorstellung der Einheit des Geistes, der Immanenz der Seele, des Kerns des Menschseins, kurz: des menschlichen Wesens an sich. In diesem Kontext sind folglich auch die vielfältigen, oft als provokant empfundenen "anti-humanist" 105 Darstellungen der Cyberpunk-Literatur zu verstehen, in denen jegliche Kategorien des Humanismus- so etwa auch die Melancholie, die Erinnerung und menschliche Bedürfnisse nach Nähe, Vertrauen und Güte- radikal dekonstruiert werden (so beschreibt etwa Bear in seiner Erzählung ,,A"on" eine zukünftige Menschheit, die sich infolge ihrer technischen Modifikationen physisch und psychisch derart gewandelt hat, dass ihr menschliche Regungen wie Trauer, Liebe oder Weinen so fremd sind, dass sie für diese Phänomene nicht einmal mehr Begriffe hat). 106 In diesem Kontext sind auch die vielfältigen impliziten und expliziten Verweise der Cyberpunk-Literaten auf Mary Shelleys Erzählung zu verstehen. So thematisiert Greg Bear in seiner Erzählung "Blutmusik" etwa die Misere eines seiner Wissenschaftler, der an für die Menschheit bahnbre104 Ebenda; S. 207. 105 STERLING: "Cyberpunk in the Nineties"; a.a.O.
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ehenden Forschungen arbeitet, im Kontext mit humanistischen Moralvorstellungen und Wertesystemen: "Er hätte Tausende, die an der Parkinsansehen Krankheit litten, heilen können wenn ihm erlaubt worden wäre, Gehirngewebe von abgetriebenen Embryonen zu sammeln. Stattdessen hatten die Leute [... ] in ihrem moralischen Eifer nicht nur erreicht, daß er seine Versuche aufgeben mußte, sondern auch zugelassen, daß Tausende von Kranken weiterhin leiden mußten. Wie oft hatte er gewünscht, daß die junge Mary Shelley niemals ihr Buch geschrieben hätte [... ]. All die Verkettungen des fiühen neunzehnten mit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, die in den Gehirnen der Menschen zusammenliefen ... "'"'
Es wird deutlich, dass die Cyberpunk-Literaten vielfach selbst mit ihren eigenen Dekonstruktionen spielen und humanistische, ahumanistische und tatsächlich anti-humanistische Denkbewegungen zueinander in Beziehung setzen und dabei ein vermeintliches Spannungsfeld eröffnen, das nicht zu funktionieren vermag. Die hier implizierte Absage an Mary Shelley ist demnach nicht nur als eine Anklage an die traditionelle Science Fiction zu verstehen, sondern auch als eine generelle Absage an die einheitsstiftenden Ideen des Humanismus und damit der Modeme zu lesen. Ebenso sind auch die grundsätzliche und oftmals radikale Durchkreuzung von festgefügten Deutungen und Handlungsschemata sowie Enttäuschung der Hoffnung auf Wahrheit, Moral und Totalität als ein Gestus gegen die Vorstellungen des Humanismus und eine Denkbewegung in Richtung der Postmodeme zu deuten. Dieser Gestus darf freilich nicht mit einem gegenaufklärerischen Bestreben verwechselt werden. Vielmehr weist die Cyberpunk-Literatur, ebenso wie Fouault nach mancher Lesart, auf die "blinden Flecken" 108 der Aufklärung und der mit dieser verbundenen kosmischen Deutung des Menschen hin. In diesem Sinne ist die Cyberpunk-Literatur als ein Versuch zu verstehen, durch Technologien I 06 Während Bruce Sterling in "Cyberpunk in the Nineties" die Cyberpunk-Literatur als grundlegend anti-humanistisch beschreibt, drückt sich Michael Swanwick in seinem Aufsatz "A User 's Guide to the Postmodern1·" etwas bedachter aus und stellt der humanistischen Science Fiction die ahumanistischen CyberpunkLiteraten als "the postmodems" gegenüber; vgl. SW ANWICK, Michael: "A User's Guide to the Postmoderns"; In: CANDELARIA, Matthew; GUNN, James (Hrsg.): "Speculations on Speculation. Theorie.\· of Science Fiction"; Scarecrow Press, Lanham, Toronto und Oxford 2005 (zuerst 1986), S. 314f. I 07 BEAR, Greg: "Blutmusik"; Heyne, München 1988 (zuerst 1985). 108 UHL, Florian: "Die Macht des Blicks: Michel Foucaults Kritik an Aufklärung und Humanismus"; In: Theologisch-praktische Quartalschrift #2, Vol.l44, 1996, S. 129.
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ausgelöste individuelle, gesellschaftliche und philosophische Veränderungen die in einer postmodernen Wirklichkeit münden, poetisch zu antizipieren und auf diesem Weg dem Anspruch nachzukommen, das subversive Potential der Science Fiction zu erneuern.
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Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Definition der ScienceFiction als literarische Gattung aufgrund ihrer Heterogenität sehr schwierig ist. Aus diesem Grund muss bei dem Versuch einer Bestimmung mit dem Anspruch auf Eindeutigkeit und einer Definition im herkömmlichen Sinn gebrochen werden und stattdessen das zuvor herausgearbeitete Charakteristikum der Unschärfe berücksichtigt werden. Im ersten Moment gestaltet sich die Eingrenzung der Cyberpunk-Literatur ähnlich diffizil. Dennoch erscheint eine genauere Verortung als sinnvoll, da es sich bei Cyberpunk um ein Sujet handelt, das aus einer literarischen Bewegung mit sehr spezifischen Ansprüchen hervorgegangen ist. Diese Ansprüche haben sich in der Cyberpunk-Literatur auf verschiedenen Ebenen niedergeschlagen und konstituieren diese maßgeblich. Ebendieser Umstand ist jedoch bisher weitgehend unbeachtet geblieben, zumal Begriff und Geschichte der Cyberpunk-Literatur bisher monographisch noch nicht erschlossen wurden. So herrschte bis dato weitgehend Unklarheit darüber, welche Autoren zur Movement-Gruppe gehören und was deren konkrete Forderungen an eine moderne Science-Fiction-Literatur sind. Dies hat zur Folge, dass die Cyberpunk-Begrifflichkeit in der akademischen Auseinandersetzung wie auch im populärkulturellen Sprachgebrauch sehr undifferenziert und teilweise widersprüchlich genutzt wird, wie auch die Kulturwissenschaftlerin Sabine Heuser feststellt: "Writers, fans, anrl critics from within the genre often relierl on subjective impressions of vague resemblance, anrl most acarlemic sturlies were no better, because they consistently failerl to question subculture' s initial criteria of selection. Worse still, most of these sturlies provirle sweepingly erroneous generalizations ab out the cyberpunk sub-genre as a whole, on the basis of only one or two ,representative' texts." 109
Insbesondere William Gibsons "Neuromancer" wurde in der Vergangenheit vielfach als der Cyberpunk-Text schlechthin begriffen. Ausgehend von diesem Werk Gibsons wurden vielfältige Definitionen gebildet sowie generalisierende Einschätzungen über die Cyberpunk-Literatur als Ganzes getroffen. I 09 HEUS ER, Sabine: "Virtual Geographies ... "; a.a.O.; S. 3.
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Aufsatzsammlungen wie etwa jene zur gleichnamigen Konferenz "Fiction 2000", die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Cyberpunk-Literatur "from a vide variety of perspectives" 110 zu untersuchen und "to the heart of the problems narrative faces in the information age" 111 vorzudringen, sich dabei aber in nahezu allen Beiträgen auf Gibsons Arbeit beschränken, belegen dies. So stellt auch der amerikanische Literaturwissenschaftler Rob Latham in diesem Zusammenhang fest: "The overwhelming impression presented isthat most ofthe conferees operated with the following equation implicitly in mind: cyberpunk = Gibson = Neuromancer. As a result, the movement, as a literary practice and a cultural ideology, gets forced into a straitjacket - a flashy one, true, pattemed with intricate Orientalist flourishes, but confining nonetheless." 112
Die Nutzung von Gibsons Werk als repräsentativer Text für den Gesamtkorpus der Cyberpunk-Literatur hat dazu geführt, dass diese vielfach auf inhaltliche Merkmale reduziert wird. Diesem Umstand ist es auch zuzurechnen, dass es in der Vergangenheit zu einer grundlegenden Verwässerung des Begriffes gekommen ist, da es so möglich wurde, jegliches Science-FictionWerk, welches inhaltlich über offensichtliche Anleihen aus Gibsons Texten verfügte, als Cyberpunk zu werten. Da sich die Werke von Autoren wie Sterling, Shiner und Shirley in ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung jedoch oftmals deutlich von Gibsons Arbeiten unterscheiden, fallen viele Werke der Mitglieder der Movement-Gruppe nicht unter die gängigen Kriterien der Cyberpunk-Literatur. Diese Heterogenität der literarischen Arbeiten der Movement-Gruppe ist einer der Gründe dafür, dass sich die CyberpunkLiteratur nicht auf inhaltliche Merkmale reduziert lässt. Zur Verortung des literarischen Cyberpunk muss stattdessen ein breites Spannungsfeld eröffnet werden, welches den vielen Aspekten dieses facettenreichen Subgenres gerecht werden kann. Als ein Versuch, der in diese Richtung weist, ist die "Provisional Definition"113 des britischen Literaturwissenschaftlers Andrew Butler zu werten. Mit seiner Feststellung, dass es sich bei der Cyberpunk-Literatur um eine literarische Strömung handelt, die in der Tradition der New Wave stehe, jedoch II 0 SLUSSER, George: ,,Introduction: Fiction as Information"; In: SLUSSER, George; SHIPPEY, Tom (Hrsg.): "Fiction 2000. Cyberpunk and the Future of' Narrative"; The University of Georgia Press, Athens 1992, S. 14. !II Ebenda; S. 3. 112 LATHAM, Rob: "Cyberpunk = Gibsan = Neuromancer"; In: Science Fiction Studie.\' #60, Juli 1993, http://www.depauw.edu/sfs/review_essays/lath60.htm. 113 BUTLER, Andrew M.: "Cyberpunk"; Pocket Essentials, Harpenden 2000, S. 14.
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auch über Anleihen an postmoderne Hochliteratur und das Genre der hardboiled detective fiction aus den 1940er Jahre verfüge, geht Butler über viele seiner Vorgänger hinaus. Auch berücksichtigt der Autor im Zuge der Vorbereitung seiner Definition, dass es sich bei der Cyberpunk-Literatur um eine avantgardistische Bewegung mit einem eigenen Manifest handelt, in dem deren Forderungen festgehalten und definiert werden. 114 Ausgehend von diesen Verankerungen, wendet sich Butler dem Begriff Cyberpunk zu und versucht, durch Konkretisierung eine Definition zu erarbeiten, da er überzeugt ist, dass "[a]ny definition of cyberpunk has to take both elements of the word into account" 115 • Der ,Cyber' -Aspekt schlägt sich demnach ft.ir Butler in der Darstellung von virtuellen Welten nieder, die durch kybernetische Mensch-Maschine-Interface zugänglich werden und den Menschen dabei von den naturgegebenen Beschränkungen des Körpers befreien. Eine wichtige Erfordernis für Butlers Cyberpunk-Definition ist in diesem Zusammenhang, dass in irgendeiner Form auf ein mögliches Stadium der Posthumanität referiert wird. Der ,Punk' -Anteil wiederum schlägt sich Butlers Definition zufolge in der schwerpunktmäßigen Darstellung von gesellschaftlichen Außenseiterfiguren wie Drogenabhängigen/-dealern, Musikern oder anarchistischen Hackern nieder. Anders als andere zeitgenössische Science Fiction referiert die Cyberpunk-Literatur nicht auf "rocket scientists and beautiful daughters" 116, sondern "to the low life, the working or lower middle-class characters, the have-nots" 117 der Straße. Entsprechend ist die Cyberpunk-Literatur für Butler auch von einer Sprache gekennzeichnet, die er als "street-slang" 118 identifiziert. Weitere literarische oder stilistische Besonderheiten schlagen sich in der Cyberpunk-Definition des Autors bezeichnenderweise nicht nieder. Stattdessen beschreibt Butler abschließend jenes Setting, welches er als konstituierend für die Cyberpunk-Science-Fiction ansieht. Hier legt sich der Autor auf nahe Zukunftsentwürfe fest, die im urbanen Milieu der Städte des sogenannten Pac!fic Rim angesiedelt sind. Anstatt die Ideen und Forderungen der Movement-Gruppe ernst zu nehmen und sich mit diesen für seine Definition programmatisch auseinanderzusetzen, beschreibt also auch Butler lediglich inhaltliche Elemente und Motive, welche die Cyberpunk-Literatur seiner Ansicht nach kennzeichnen. Obwohl sich Butler bewusst ist, dass eine derartige Klassifizierung nur Gibson und keinen anderen Autor der Movement-Gruppe als Cyberpunk-Litera-
114 Vgl. ebenda; S. 15. 115 Ebenda; S. 14. 116 Ebenda; S. 15. 117 Ebenda. 118 Ebenda.
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ten erfasst, sieht er von einer Korrektur seiner eigenen Definitionsparameter ab und hält stattdessen fest: "Bruce Sterling, in his introduction to Mirrorshades: The Cyberpunk Anthology (1986) did much define and popularise the movement, but he hirnself wrote things which were not cyberpunk as weiL [... ] A number ofwriters who alsowerein there in particular Lewis Shiner - produced novels which were only borderline cyberpunk. Rucky Ruckerand John Shirley wrote horror as weil as sf. Cyberpunk died in about 1986, ifnotbefore." 11 '
Obwohl Butlers Ansatz durch die Berücksichtigung der Movement-Gruppe als literarischer Bewegung mit dezidierten Ansprüchen, eigenen Manifesten und gemeinsamen literarischen Traditionen das Potential hat, über die meisten vorherigen Beschreibungsversuche der Cyberpunk-Literatur hinauszugehen, verlässt der Autor durch die Konzentration auf die Cyberpunk-Begrifflichkeit jenen Weg, der unter diesen Voraussetzungen konsequenterweise einzuschlagen wäre. Der offensichtliche Fehler, dem Butler wie schon viele andere vor ihm unterliegt, rührt unter anderem daher, dass es sich bei dem Begriff Cyberpunk um einen äußerst prominenten und vielfältige Assoziationen hervorrufenden Neologismus handelt, der geradezu danach verlangt, sich an diesem abzuarbeiten. Allerdings wird dabei oftmals die Tatsache übergangen, dass es sich bei Cyberpunk nicht um eine Selbstbezeichnung der MovementGruppe handelt, sondern dass es ein aus der gleichnamigen Kurzgeschichte Bruce Bethkes entlehnter Begriff ist, der von Kritikern nachträglich genutzt wurde, um die Autorengruppe um Gibson und Sterling zu beschreiben. 120 Freilich subsumiert die Cyberpunk-Begrifflichkeit einige der markantesten Aspekte bekannterer Werke dieser literarischen Strömung, sie ist jedoch bei weitem nicht so allumfassend, wie oftmals angenommen wird. Es verwundert daher auch wenig, dass sich viele der Movement-Autoren bis heute nicht vorbehaltlos mit dieser Bezeichnung identifizieren möchten. 121
119 Ebenda; S. 15f. 120 Vgl. HE USER, Sabine: "Virtual Geographies ... "; a.a.O.; S. 6f. 121 In Lewis Shiners Beitrag ,,Inside the Movement: Past, Present, and Future" beispielsweise thematisiert der Movement-Autor seine Schwierigkeiten mit der Cyberpunk-Begrifflichkeit und karikiert diese durch die Verwendung des Neologismus "sci:fiberpunk" (vgl. SHINER, Lewis: "Inside the Movement ... ", a.a.O.; S. 17). Auch Gibson und Sterling formulieren in verschiedenen Interviews und Artikeln ihre Ablehnung gegen die Bezeichnung ihrer Personen und ihrer Literatur als Cyberpunk und sprechen stattdessen nicht selten von dem "C-Word' (vgl. STERLING, Bruce: "Cyberpunk in the Nineties").
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Eine stärker auf den Gegenstand eingehende Verortung der CyberpunkLiteratur leistet die deutsche Literaturwissenschaftlerin Ruth Mayer in ihrem Aufsatz "Cyberpunk. Eine Begr!fJ~bestimmung". Auch für Mayer ist die ultimative Insignie und der Dreh- und Angelpunkt der Cyberpunk-Literatur der Computer bzw. das virtuelle Netz, die Matrix oder der Cyberspace. Die spekulative Erforschung und Ausgestaltung derartiger möglicher computergenerierter Welten versteht Mayer daher als zentrale Motivation der Cyberpunk-Literaten. In diesem Zusammenhang sieht Mayer in Cyberpunk eine literarische Strömung, deren zentraler Anspruch es ist, sich mit den Implikationen neuer Technologien auseinanderzusetzen. 122 In diesem Sinne ist die Cyberpunk-Literatur für Mayer maßgeblich von dem Versuch bestimmt, sich von alten Wertesystemen zu lösen. Dies bedeutet für Mayer konkret, dass die Cyberpunk-Literatur "per definitionem" 123 eine "Loslösung von veralteten Identitäts- und Wirklichkeitsmodellen" 124 vollzieht und dabei eine Anerkennung der Tatsache leistet, "daß die technologische Vereinnahmung der Wirklichkeit schon lange geschehen ist und die einzig konstruktive Reaktion in der Erschließung neuer Sinnesstrukturen [... ]bestehen muß" 125 • Mit der Feststellung, dass es sich bei Cyberpunk um eine Literatur handelt, in der konventionelle Vorstellungen aufgebrochen werden, um zu einer neuen, der (post)modemen Wirklichkeit angemessenen Wirklichkeitssicht zu gelangen, gelingt es Ruth Mayer in ihrer Begriffsbestimmung, einen der wesentlichsten Kernaspekte dieser literarischen Strömung zu benennen. Umso irritierender erscheint es, dass die Autorin, obwohl sie sich bewusst ist, dass in den verschiedenen Cyberpunk-Werken vielfältige Themen und Visionen bearbeitet werden, den Computer zur ausdrücklichen Leitmetapher dieser Literatur erhebt. 126 Wie bereits bei Butler rührt diese Verkennung von Movement-Autoren wie Shirley, Shiner und Sterling (in deren Erzählungen Computer nur eine untergeordnete Rolle spielen und virtuelle Welten praktisch kaum auftauchen) aus dem Umstand, dass auch diese Forscherin ignoriert, dass Cyberpunk aus einer literarischen Bewegung hervorgegangen ist, deren breit gestecktes Programm deutlich mehr beinhaltet als den Versuch, eine Ästhetik eines zukünftig möglichen Computerraums zu schaffen. Das Fehlen einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte der Cyberpunk-Literatur und deren literarischen Traditionen führt Mayer schließlich auch zu dem Trugschluss, dass diese "ganz im Stil der 122 V gl. MA YER, Ruth: "Cyberpunk. Eine Begriff.i·bestimmung"; In: KLEPPER, Martin; MA YER, Ruth; SCHNECK, Emst-Peter (Hrsg.): "Hyperkultur: zur Fiktion des Computerzeitalters"; de Grnyter, Ber1in und New York 1996, S. 166. 123 Ebenda; S. 165. 124 Ebenda. 125 Ebenda. 126 Ebenda; S. 167.
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traditionellen Science-Fiction-Literatur [... ] Szenarien einer zukünftigen Wirklichkeit" 127 entwirft. Verschiedene Kritiker haben schon in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass man abhängig davon, ob der Blick auf die Cyberpunk-Literatur aus der Gattung heraus erfolgt oder von Seiten der Hochliteratur auf diese gerichtet wird, zu jeweils sehr unterschiedlichen Sichtweisen gelangen kann. Jedoch sind die meisten Autoren, welche sich tiefgreifend mit der Cyberpunk-Literatur und deren Auswirkungen auseinandersetzen, der Ansicht, dass "Cyberpunk's significance can be best understood when it is placed in the context of science fiction as a genre" 128 • Der Umstand, dass die Signifikanz der Cyberpunk-Literatur gerade daher rührt, dass sie mit der traditionellen Science Fiction und deren Darstellungen bricht, wurde in der vorliegenden Arbeit bereits dargelegt. Der fehlende Bezug zu der literarischen Gattung, aus welcher die Cyberpunk-Literatur hervorgegangen ist, lässt Mayer in ihrer Arbeit zu dem Schluss kommen, dass "die Gemeinsamkeiten [der Cyberpunk-Literatur] sich denn auch eher auf der Ebene der kulturellen und ideologischen Referenzen als in einer verbindlichen thematischen Ausrichtung oder ästhetisehen Strategie [finden ]" 129 . Nicht nur widerspricht sich die Autorin hier selbst - kennzeichnet sie doch einige Seiten später die Pop-Ästhetik der 1980er Jahre und die Ästhetik des Computerraumes in Cyberpunk-Texten als deren gemeinsames Merkmal und beschreibt die Computerthematik als verbindendes Element. 130 Sie übersieht überdies, dass die Cyberpunk-Literaten in ihrer gemeinsamen Orientierung an Autoren wie Burroughs und Pynchon, aus welcher der Cyberpunk-typische Stil des postmodernen Schreibens entstanden ist, sehr wohl eine gemeinsame literarästhetische Strategie miteinander teilen, welche sie deutlich von der klassischen Science Fiction abhebt. Insgesamt lässt sich daher feststellen, dass Mayer, obwohl ihre Begriffsbestimmung wichtige Aspekte der Cyberpunk-Literatur erfasst, viele elementare Merkmale außer Acht lässt und daher insgesamt zu kurz greift. Auch die deutsche Literaturwissenschaftlerin Sabine Heuser vertritt in ihrer kulturwissenschaftlich orientierten Arbeit "Virtual Geographies: Cyberpunk at the Intersection of the Postmodern and ScienceFiction", in welcher sie ausgewählte Cyberpunk-Werke in Hinblick auf die darin dargestellte "Poetics of Cyberspace" 131 untersucht, die Meinung, dass "[t]he construction of some variant of cyberspace -also called the matrix, the grid, the sys-
127 Ebenda; S. 164.
128 HEUS ER, Sabine: "Virtual Geographies ... "; a.a.O.; S. 4. 129 MAYER, Ruth: "Cyberpunk. Eine Begrif!i·bestimmung"; a.a.O.; S. 165. 130 Ebenda; S. 169f. 131 HEUSER, Sabine: "Virtual Geographies ... "; a.a.O.; S. 66.
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tem, or the Metaverse - describes the ,cyber' aspect of cyberpunk" 132 • Ich habe bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass eine derartige Fixierung auf die Cyberpunk-Begrifflichkeit meiner Ansicht nach praktisch immer zu einer der Movement-Gruppe nicht gerecht werdenden Reduzierung aufinhaltliche und thematische Elemente führt. 133 Dennoch stellt die Autorin bei ihrer Erläuterung der ,Punk'-Aspekte der Cyberpunk-Literatur einige bemerkenswerte Überlegungen an, welche ich als hilfreiche Ergänzungen zu Butler und Mayer verstanden sehen möchte. So beschränkt sich Heuser bei der Beschreibung der ,Punk' -Elemente der Cyberpunk-Literatur nicht lediglich auf inhaltliche Merkmale, wie beispielsweise die Figur des nihilistisch-anarchistischen Außenseiters, sondern eröffnet eine stilistische Metaebene der tiefgehenden Beziehung der Cyberpunk-Literatur zu Lyrik, Poesie und ästhetischen Verfahrensweisen der Punk-Bewegung. Auf eine Verbindung zur Punkmusik wurde von Seiten der Movement-Gruppe bereits im Cyberpunk-Manifest sowie in vielfältigen Interviews hingewiesen. Autoren wie Gibson, Sterling und vor allem Shirley etwa benennen Musiker und Bands wie Lou Reed, Patti Smith, Tom Waits, The Velvet Underground und die Sex Pistols als wichtige Inspirationsquelle für ihre literarischen Werke. 134 Diesen populärkulturellen Traditionen der Cyberpunk-Literatur wurde von akademischer Seite bisher noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt als den literarischen Wurzeln - die Beschränkung auf die offensichtlichen und eher oberflächlichen Punk-Elemente in den verschiedenen Begriffsbestimmungen belegen dies. 135 Umso bemerkenswerter erscheint es, dass Heuser im Zuge ihrer mehrschichtigen Auslegung der ,Punk' -Aspekte der Cyberpunk-Literatur einen Weg findet, Autoren wie Shirley zumindest teilweise als ihrer Definition entsprechende Cyberpunk-Literaten zu verstehen. Zwar teilt dieser Autor ihrer Ansicht nach nicht das explizite Interesse an der literarischen Konstrukti132 Ebenda; S. 5. 133 So ist auch Heuser der Ansicht, dass Shirley nicht als Cyberpunk-Autor zu werten ist, da er in seinen Werken keine virtuellen Realitäten oder vergleichbares entwirft; vgl. eben da; S. 30. 134 Vgl. McCAFFERY, Larry: ,,An Interview with William Gibson"; a.a.O.; S. 265f. 135 Eine wichtige Ausnahme bildet Larry McCafferys Aufsatz: "Cutting Up: Cyberpunk, Punk Music, and Urban Decontextualizations", in welchem der Autor die Beziehung der Cyberpunk-Literatur zu den Texten von Musikern wie The Clash, Patti Smith, The Sex Pistols, The Ramones u.a. herausarbeitet und dabei zu interessanten Ergebnissen in Bezug auf die literarästhetischen Strategien von Autoren wie Gibson, Shirley und Cadigan kommt. Inspiriert von der Punkmusik, haben die Cyberpunk-Autoren demnach eine subversive Metaform des Ausdruckes gefunden, dessen Betonung auf der Zerstörung traditionell moderner Systematiken und Systemen liegt.
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on eines virtuellen Raumes im Sinne des Cyberspace, wie es ihrer Definition nach maßgeblich für die Cyberpunk-Literatur ist, aber mit seinen literarisch virtuos geschilderten Konzertauftritten von Figuren wie Rickenharp aus dem Roman "Eclipse" gelinge es Shirley in seinen Texten dennoch, eine "shared illusion of space [... ] through the performance ofthe music" 136 zu generieren und so künstliche Räume zu eröffnen, die mit jenen des virtuellen Cyberspace zu vergleichen seien. Ferner siehtHeuserden ,Punk'-Aspekt der Cyberpunk-Literatur auch in der Selbstinszenierung der Movement-Mitglieder verankert, die sich auch in der Ikonographie ihrer Texte ausdrücke, als deren Insignien sie verspiegelte Sonnengläser, schwarze Lederkleidung und verfallene Industrielandschaften betrachtet. Die größte Bedeutung misst die Autorin jedoch der Praktik der Dekonstruktion bei, welche die Cyberpunk-Literatur mit der Punk-Bewegung teilt: "Cyberpunk thus shares with punk an emphasis on noise, destruction, and a deliberate, sometimes violent, esthetic based on fragmentations of both art and the human body." 137 Die Cyberpunk-Literaten leisten nach Heuser in diesem Zusammenhang eine Dekonstruktion der Literaturgattung, innerhalb deren sie sich selbst bewegen. Die Wertesysteme und Traditionen der klassischen Science Fiction werden von den Cyberpunk-Literaten demnach grundlegend negiert. Durch die so zustande kommenden radikalen Konventionsbrüche der Movement-Autoren entstehen dabei neue Formen des künstlerischen Ausdruckes, welche nicht nur die Sonderstellung der CyberpunkLiteratur innerhalb der Science Fiction, sondern in der experimentellen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts generell begründen. 138 Die Cyberpunk-Literatur stellt demnach nicht nur die "less-than-classical history" 139 der Science Fiction grundlegend in Frage, sondern dekonstruiert überdies bestimmende Ikonen und Monumente der Modeme. In der Cyberpunk-Literatur erfahren beispielsweise verschiedene "high-art images" 140 durch ihre Dekontextualisierung eine Dekonstruktion (beispielsweise wenn Motive bekannter Kunstwerke als dekorative Elemente in Möbeln wiederauftauchen oder Passagen aus hochliterarischen Werken als Werbeslogans aufblitzen), wobei dies als ein Angriff auf die Ideale und Werte der Hochkultur in bester Punkmanier zu verstehen ist. Der ,Punk'-Charakter der Cyberpunk-Literatur ist für Heuser demnach vor allem als ein Ausdruck bzw. Echo des postmodernen Konzepts der Dekonstruktion zu verstehen, woraus zu folgern ist, dass es diesem Aspekt in einer Bestimmung bzw. Definition dieses Sujets eine entsprechende Wichtigkeit einzuräumen gilt. 136 HEUS ER, Sabine: "Virtual Geographies ... "; a.a.O.; S. 31. 137 Ebenda; S. 41. 138 Vgl. ebenda; S. 30. 139 Ebenda; S. 41. 140Ebenda.
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Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Schwerpunktsetzungen der Begriffsbestimmungen bzw. Definitionen der Cyberpunk-Literatur bei Butler, Mayer und Heuser verdeutlichen, dass es vielfältige Möglichkeiten gibt, sich diesem Phänomen anzunähern, und dass es recht unterschiedliche Ansichten über die konstituierenden Elemente dieser Literatur gibt. Gemein ist den vorgestellten Ansätzen jedoch, dass sie einzugrenzen versuchen, was Cyberpunk ist. Genau in diesem Punkt liegt der Kardinalfehler der meisten Beschreibungen von Cyberpunk, denn wie auch McHale schreibt, "the initial question to be asked about cyberpunk SF is not so much , What is it?' as , Who are the cyberpunks?'" 141 Erst eine an den Autoren orientierte Annäherung an die Cyberpunk-Literatur wird ihr als" generational and ,school' phenomenom"142 gerecht werden und es wird ermöglicht, eine nähere Bestimmung des Cyberpunk-Phänomens zu leisten. Da ich der Ansicht bin, dass die Cyberpunk-Literatur vor allem als das Resultat einer subversiven Bewegung mit spezifischen Forderungen und Ideen zu verstehen ist, möchte ich den Gedanken McHales weiterverfolgen. Dafür werde ich zunächst die spezifischen Ansprüche, Ideen, zentralen Thematiken und Inhalte der Movement-Gruppe vorstellen. Eine Eingrenzung der Autoren, welche als Cyberpunk-Literaten zu bezeichnen sind, erfolgt schließlich anhand ihrer Orientierung an den vorgestellten programmatischen Forderungen sowie anhand der Mitarbeit am Programm. Die Autorenbewegung, aus welcher später die Cyberpunk-Literatur hervorgegangen ist, verfügte über vielfältige Elemente, welche eine literarische Schule im Sinne McHales ausmachen. 143 So zeichnet sich die MovementGruppe nicht nur durch eine ",school' solidarity" 144 aus, die sich etwa in der gegenseitigen Unterstützung beim Schreiben und der gemeinsamen Vermarktung ihrer Romane ausdrückte, sondern mit ihren Anthologien, Fanzines, Workshops und gemeinsamen Auftritten auf ScienceFiction Conventions schufen sie sich auch eigene ,"school' institutions" 145 . Diese Plattformen wurden gleichermaßen zur Schaffung einer gemeinsamen Literarästhetik sowie für den Austausch von Gedanken, Ideen und Kritik untereinander als auch zur öffentlichen Verbreitung genutzt. Eine besonders herausragende Stellung nehmen in diesem Zusammenhang meiner Ansicht nach das Vorwort der Cyberpunk-Anthologie "Mirrorshades" (gemeinhin bekannt als Cyberpunk Manifesto 146) sowie das Fanzine "Cheap Truth" ein. Diese beiden von Bruce Sterling herausgegebenen 141 McHALE, Brian: "Constructing Postmodernism"; Rout1edge, London 1992, S. 243. 142 Ebenda. 143 Vgl. ebenda. 144 Ebenda. 145 Ebenda.
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Publikationen stellen mit der Offenlegung der programmatischen Forderungen der Movement-Gruppe die Manifeste der Cyberpunk-Bewegung dar. 147 In dieser Aneignung der Textgattung des Manifests drückt sich denn auch aus, dass es sich bei der Cyberpunk-Literatur nicht nur um eine ,Schule' handelt, sondern dass ihre Autoren eine Künstlergruppe darstellen, die einen dezidiert avantgardistischen Anspruch anmelden. Denn obwohl eine Aufarbeitung und Erschließung der Textform des Manifests erst in jüngster Zeit begonnen hat, herrscht dennoch Übereinstimmung darin, dass es sich hier um die avantgardistische Textgattung par excellence handelt. 148 So wurde diese Textgattung spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts von Seiten avantgardistischer Bewegungen in Kunst und Literatur genutzt (wie etwa von den Dadaisten, Surrealisten und Futuristen), um Proklamationen, Programmatiken und Erklärungen abzugeben, die dem Versuch umfassender Um- und Neuorganisationen gewidmet waren. Diese die Avantgarde auszeichnende radikale Motivation bildet auch den Wesenskern der CyberpunkBewegung und wird in Anlehnung an vorhergehende Avantgardeströmungen in ihren Manifestschriften offengelegt Ausgangspunkt für die Ideen und Forderungen der Movement-Gruppe sind die 1980er Jahre, welche von ihr als eine Periode der Neuorientierung und Neubewertung markiert werden. 149 Diese Dekade ist in den Augen der Cyberpunk-Literaten von einer "technical culture" 150 geprägt, deren wissenschaftliche und technologische Fortschritte dermaßen neu, verwirrend und beunruhigend sind, dass sie als geradezu revolutionär zu bewerten sind. 151 146Vgl. OLSEN, Lance: "cyberpunk, technosleaze, & the apotheosis ofpostmodernism"; http://www.lanceolsen.com/cyberpunk.html. 147 Das Fanzine "Cheap Truth" wurde im Gegensatz zu Sterlings Vorwort in der Cyberpunk-Anthologie "Mirrorshades" von der Movement-Gruppe nicht direkt als Manifest bezeichnet. Da es jedoch zunächst als die Grundlage und später als die Fortfuhrung der programmatischen Diskurse des Cyberpunk-Manifests zu verstehen ist und über vielfältige manifesttypische Charakteristika verfugt (wie z.B. Aufklärung über Zielsetznng und Intentionen, Eindeutigkeit und Öffentlichkeit des Textes, Anweisungen fur die Produktion von Kunst und Literatur), sind die Texte des Fanzines "Cheap Truth" ebenfalls als Manifestinhalte zu verstehen. 148 Vgl. FÄHNDERS, Walter: "Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manilestanismus"; In: ASHOLT, Wolfgang; FÄHNDERS, Walter (Hrsg.): "Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik - Avantgardeforschung"; Rodopi, Amsterdam 2000, S. 73. 149 Vgl. STERLING, Bruce: "Preface"; In: STERLING, Bruce (Hrsg.): "Mirrorshades. The Cyberpunk Anthology"; Ace Books, New York 1988 (zuerst 1986), S. xiv. 150 Ebenda; S. xii. 151 Vgl. ebenda.
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Die herkömmlichen Machtstrukturen und -einrichtungen haben demnach die Kontrolle über die Nutzung und den Verlauf dieser Entwicklungen verloren, so dass es zu dem Phänomen des Zusammenschlusses von moderner Technologie und subversiver Gegenkultur gekommen ist. Die Cyberpunk-Literatur ist in diesem Zusammenhang als "definitive product" 152 ehendieses Gesamtmilieus der 1980er Jahre zu verstehen. In dieser Eigenschaft entwickelte die Cyberpunk-Literatur einen künstlerischen Ausdruck der beginnenden Überlagerung und des Ineinanderaufgehens von Hochtechnologie und modernem Pop-Underground, welcher sich in der zeitgenössischen Musik, Kunst und Film abzuzeichnen begann. 153 Als "literary incarnation" 154 dieses Paradigmenwechsels zeichnet sich Cyberpunk dabei durch einen Avantgarde-typischen Vorhut-Charakter aus, welcher besonders im Kontrast zur vorhergehenden Science Fiction deutlich wird. Während diese in Anlehnung an die "comfortable area of Hugo Gernsback" 155 weiterhin jene "careless technophilia"156 fortführt, welche sich angesichts der Möglichkeiten einer Wissenschaft, die "safely enshrined- and confined- in an ivory tower" 157 entwickelt hatte, widmen sich die Cyberpunk-Literaten dem drastischen Gegensatz dazu. 158 Der Anspruch der Movement-Gruppe ist es folglich, den durch neue Medien und Technologien ausgelösten Paradigmenwechsel ihrer Zeit zu reflektieren und den bevorstehenden Wandel radikal weiterzudenken. Ausgehend von der Wahrnehmung, dass Technologie nicht mehr "some bottled genie ofremote Big Science boffins" 159 darstellt, sondern "pervasive,
152 Ebenda; S. x. 153 Ebenda; S. xi. 154 Ebenda; S. xii. 155 Ebenda; S. xiii. 156 Ebenda. 157 Ebenda. 158 Der vernichtende Blick auf die zeitgenössische Science Fiction, der sich hier ansatzweise widerspiegelt (und in den vorhergehenden Abschnitten znr Entstehungsgeschichte der Cyberpunk-Literatur sowie in ihrem Verhältnis zur humanistischen Tradition der Science Fiction verdeutlicht wurde), stellt den Avantgardeforschern Wolfgang Asholt und Walter Fähnders zufolge eine typische Verfahrensweise avantgardistischer Bewegungen dar. So manifestiert sich in dieser Strategie der Hoheitsanspruch der Avantgarde, welcher gleichzeitig als Legitimierung für die Universalistischen Forderungen nach Veränderung und Neugestaltung dient; vgl. ASHOLT, Wolfgang; FÄHNDERS, Walter: "Einleitung" In: ASHOLT, Wolfgang; FÄHNDERS, Walter (Hrsg.): "Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde - Avantgardekritik - Avantgardeforschung"; Rodopi, Amsterdam 2000, S. 10. 159 STERLING, Bruce: "Pref'ace"; a.a.O.; S. xiii.
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utterly intimidate [... ]not outside us, but next to us" 160 bis in das Innerste des Menschen vorzudringen vermag, beschäftigt sich die Cyberpunk-Literatur damit, dass und wie Technologien den Menschen verändern. Zentrale Motive, die dies bereits auf der Oberfläche sichtbar machen und dabei zeitgenössische Tendenzen aufgreifen und weiterentwickeln, sind in der CyberpunkLiteratur daher Eingriffe in den menschlichen Körper durch Technologien wie Gliederprothesen, Cyberimplantate oder auch biotechnische Modifizierungen. Diese Motive sind jedoch weniger das konstituierende Element der Cyberpunk-Literatur, sondern sie dienen vielmehr als Basis für das eigentliche Kernthema der Movement-Gruppe, nämlich das "theme of mind invasion [... ] techniques radically redefining the nature ofhumanity, the nature ofthe self' 161 • In diesem Sinne ist Cyberpunk als eine Literatur anzusehen, in der traditionelle Vorstellungen des Wesens des Menschen neu verhandelt, in Frage gestellt und oft auch ad absurdum geführt werden: "Cyberpunk has little patience with borders." 162 Erklärtes Ziel der Cyberpunk-Literaten ist es daher, "the surreal, the formerly unthinkable" 163 aufzugreifen und mittels "visionary intensity [... ] push it past the limits" 164 (vergleiche dazu auch Kapitel 2.4 der vorliegenden Arbeit). Diese spezifische Haltung, die einen radikalen Bruch mit dem vom Humanismus geprägten Menschenbild der Modeme einfordert (und zu einem Vollzug ehendieses Bruches führt), ist meiner Ansicht nach als das die Cyberpunk-Literatur im Wesen konstituierende Element zu verstehen. Ebendiese Haltung spiegelt sich in jedem Bereich der Cyberpunk-Literatur, so etwa in den W eltentwürfen, der Darstellung nicht mehr umkehrbarer Allianzen des Menschen mit seinen Technologien, in den Figurenzeichnungen und nicht zuletzt in der vielfachen Andeutung einer möglichen Evolution, in welcher die Menschheit endgültig in ihrer Technik aufgeht (etwa als weltumspannende Künstliche Intelligenz) und der individuelle Mensch als ein veraltetes Konzept verabschiedet wird. Neben der Darstellung und Einforderung dieser das Movement als Gruppe auszeichnenden Haltung offenbart sich in dem Cyberpunk-Manifest ebenso wie in den zugehörigen Fanzines ein weiteres zentrales Charakteristikum avantgardistischer Manifeste: Sie geben konkrete Anweisungen ft.ir die Produktion von Texten und klagen ästhetische Aktionen ein. 165 Die Mo160Ebenda. 161 Ebenda. 162 Ebenda; S. xiv. 163 Ebenda. 164Ebenda. 165 V gl. F ÄHNDERS, Walter: "Projekt Avantgarde und avantgardistischer Mani-
festanismus", a.a.O.; S. 80.
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vement-Gruppe fordert unter der Prämisse "It's all in the mix" 166 eine grundlegende Reform der ScienceFiction, die sich über Inhalte und Wertvorstellungen bis zum literarästhetischen Bereich erstreckt. Die vielfältigen Anleitungen für das Verfassen ,guter' und ,anspruchsvoller' ScienceFiction, die unter anderem in Sterlings "A Work~hop Lexicon" zusammengefasst wurden, werden ergänzt durch die Forderung nach einer ",crammed' prose" 167, in welcher "rapid, dizzying bursts of novel information, sensory overload that submerges the reader in the literaly equivalent of the hard-rock ,wall of sound'" 168 • Ergänzt werden derartige Beschreibungen der geforderten Literarästhetik durch die Nennung von literarischen Orientierungspunkten und Vorbildern, wie J.G. Ballard, Thomas Pynchon und William Burroughs deren ,cut-up'-Technik und Prosastil als Inspirationsquelle für die KellerBand-Ästhetik des literarischen Cyberpunk dient. So weit zu den programmatischen Forderungen und Reformansätzen der Movement-Gruppe, welche diese als eine literarische Avantgarde auszeichnen. Offen ist bisher jedoch die Frage geblieben, bei welchen Autoren es sich konkret um Cyberpunk-Literaten handelt. Diese Frage lässt sich zunächst sehr einfach anhand der im Cyberpunk-Manifest genannten Kerngruppe ableiten, die die Movement-Gruppe ins Leben rief und deren Ideen und Forderungen propagierte (und wie sie auch in der oben entwickelten Entstehungsgeschichte der Cyberpunk-Literatur herausgearbeitet wurde). Als "inner-circle" 169 der "hard-core" 17° Cyberpunks lassen sich demnach die Autoren William Gibson, John Shirley, Lewis Shiner, Rudy Rucker und Bruce Sterling benennen. Im Weiteren erscheint es naheliegend, auch die anderen Autoren, die in der Cyberpunk-Anthologie "Mirrorshades" mit einer Kurzgeschichte vertreten sind, als Cyberpunk-Literaten zu klassifizieren. Ein Blick auf die Publikationsumstände dieser Anthologie belegt jedoch, was bereits während der Lektüre der in "Mirrorshades" veröffentlichten Kurzgeschichten auffällt: Nicht alle dieser Geschichten sind als Cyberpunk-Erzählungen im Sinne der oben aufgeführten Kriterien zu verstehen, sondern zeichnen sich im Gegenteil durch ein grundlegend humanistisches Weltbild und Wertesystem aus, welches sich in den Erzählungen entsprechend niederschlägt. Einer dieser Autoren ist James Patrick Kelly, der über sich selbst sagt, dass er zum damaligen Zeitpunkt "most closely associated with the humanist camp, said to be 166 STERLING, Bruce: "Pref'ace"; a.a.O.; S. xiv. 167 Ebenda; S. xivf. 168 Ebenda; S. xv. 169 McHALE, Brian: "Constructing Postmodernism"; Rout1edge, London 1992, S. 243. 170Ebenda.
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in opposite to cyberpunk" 171 war. Dass Kellys Erzählung "Solstice" ( dt. Titel "Sonnenwende") dennoch in "Mirrorshades" veröffentlicht wurde, ist einzig dem Umstand geschuldet, dass der Verleger David Hartweil sich nicht mit dem halben Dutzend verschiedener Autoren zufriedengab, welche Sterling in seiner Anthologie vorstellen wollte, sondern etwa ein gutes Dutzend Autoren für eine Veröffentlichung forderte. 172 Dennoch sind in der CyberpunkAnthologie auch Autoren vertreten, welche bis dahin zwar nicht direkt mit der Movement-Gruppe zusammengearbeitet hatten, sich allerdings an deren Ansätzen orientierten und Erzählungen verfassten, welche die Haltung, das Wertesystem, das Weltbild sowie die Literarästhetik der Cyberpunk-Literaten verinnerlicht hatten und daher von McHale als ein "more fluid outer circle of writers who have at some point or to some degree affiliated themselves with the cyberpunk group" 173 angesehen werden. Autoren, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären, sind Jack Womack, Walter John Williams, Richard Kadrey, Michael Swanwick, George Alec Effinger, Vernor Vinge, Greg Bear, Pat Cadigan und Tom Maddox. Insbesondere Cadigan, Maddox und Bear schlossen sich in der Folge der Movement-Gruppe an und begleiteten diese fortan bei ihren gemeinsamen öffentlichen Auftritten. Autoren wie Swanwick und Kadrey wiederum führten die Kritik und die Auseinandersetzungen der Movement-Gruppe mit der klassischen Science Fiction und die Reflexion des zeitgenössischen Paradigmenwechsels in eigenen Manifestschriften fort und regten damit weitere Debatten an. 174 Verbunden durch gemeinsame Ideen, Forderungen, Stilistik und Ansprüche an eine zeitgemäße Science Fiction ist die Cyberpunk-Bewegung damit als eine der letzten Wellen innerhalb der ScienceFiction zu beschreiben, wobei sie insbesondere durch ihren avantgardistischen Anspruch in der Tradition der NewWave zu sehen ist. Vor allem aber ist Cyberpunk eine bestimmte Art des Schreibens - eine (Denk-)Schule, wie McHale sich ausdrückt -, welche aus der Überschneidung der Science Fiction mit der Poetik, den Kunstformen und den Konzepten der Postmodeme heraus entstanden ist. Durch die künstlerische Extrapolation zeitgenössischer Trends und Entwicklungen aus den Bereichen der Populärkultur, Technik und Wissenschaft kreiert die Cyberpunk-Literatur aus Bekanntem etwas Neues und schafft auf diesem Wege aus der Gegen171 KESSEL, John; KELLY, James Patrick: "Hacking Cyberpunk"; In: KESSEL, John; KELL Y, James Patrick (Hrsg.): "Rewired: The Post Cyberpunk Anthology"; Tachyon Press, San Francisco 2007, S. vii. 172 Ebenda. 173 McHALE, Brian: "Constructing Postmodernism"; a.a.O; S. 243. 174 Als Beispiele sei hier auf Kadreys "Scanning the Brain Box: Transverse and Axial Cross-Sections (An Anti-Manifesto)" und Swanwicks "The Postmodern Archipelago: Two Essays on ScienceFiction & Fanta.1y'' hingewiesen.
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wart abgeleitete Zukunftsvisionen. In diesen Visionen werden dem Menschen gänzlich neue Erfahrungsräume eröffnet, die zu einer grundlegend veränderten Wirklichkeitssicht und damit auch zu neuen Sinnfindungsmustem, mentalen Haltungen und anderem psychischen Empfinden führen. In diesem Sinne ist die Cyberpunk-Literatur als eine literarische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Umbrüchen zu verstehen, welche sich infolge der Ablösung der Modeme durch eine postmoderne Wirklichkeit ergeben. Die Postmodeme wird dabei in der Cyberpunk-Literatur vor allem als eine Idee begriffen, die es zu inszenieren gilt. So zeichnet sich die Cyberpunk-Literatur insbesondere dadurch aus, dass sie Konzepte der Postmoderne von der Ebene der Theorie und der Form auf die Ebene des Inhaltes und der Welt verlagert und ihnen eine künstlerische Umsetzung verleiht. In ihrer Eigenschaft als Science-Fiction-Literatur legt sie dabei besonderes Augenmerk auf die Inszenierung (medien)technologischer Diskurse des elektronischen bzw. digitalen Zeitalters. Die Cyberpunk-Literatur ist in meinen Augen demnach vornehmlich als Fiktionalisierung medientheoretischer Konzepte der postmodernen Theoriebildung zu verstehen. Auf der Basis medientheoretischer Erkenntnisse werden hier spekulative Fiktionen entworfen, die sich mit der Gesellschaft und der veränderten Geisteshaltung einer Zukunftswelt beschäftigen, die auch als ein Spiegel der Gegenwart zu verstehen sind. Im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit wird diesem Verständnis der Cyberpunk-Literatur als einer künstlerischen Form der Transformation postmoderner Ansätze und Ideen in fiktionalen Wirklichkeiten genauer auf den Grund gegangen werden.
111. Cyberpunk- Werke und Konzepte
3.1 HISTORISCHER ABRISS DER CYBERPUNK-LITERATUR Die Anfange der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der literarisehen Science Fiction waren geprägt von enzyklopädischen Werkauflistungen und Nachzeichnungen der Historie dieser Literaturgattung. Die Offenlegung der Traditionen und Wurzeln der Science Fiction gingen dabei mit vielfaltigen Diskussionen zum literarischen Kanon dieser Gattung einher (vergleiche dazu auch Kapitel 1.2 der vorliegenden Arbeit). Wie auch in anderen Bereichen der Literatur- und Kunstwissenschaft dienten diese frühen Arbeiten in ihrer Eigenschaft als Historien- und Werkübersicht der Grundlagenschaffung für weitere akademische Auseinandersetzungen. Auch heute setzen sich wissenschaftliche Analysen vorwiegend mit der Geschichte und den Traditionen der Science Fiction auseinander. Bemerkenswert ist dabei, dass sich diese Arbeiten durch ungewöhnlich vielfaltige Betrachtungsweisen auszeichen, die sich durch ihre jeweiligen Akzentsetzungen oft grundlegend voneinander unterscheiden. Dieser Umstand resultiert unter anderem aus der Tatsache, dass die Science Fiction durch viele verschiedene Strömungen und Untergattungen geprägt ist und die Geschichte dieses Genres daher aus stetig neu hinzukommenden Perspektiven aufgearbeitet wird. So stellt Sabine Heuser fest: "Science Fiction's history as a genre is constantly being re-written, with different currents receiving different emphases, particularly when a new sub-genre or current appears." 1
So ist auch die Geschichtsschreibung der Subströmung der Cyberpunk-Literatur nicht nur als eine Fortschreibung der Historie der Science Fiction zu verstehen, sondern eröffuet einen weiteren Pfad der Wurzeln und Traditionen dieser heterogenen Literaturgattung. Trotzall der aufgezeigten Unterschiede hat sich die Cyberpunk-Literatur aus der traditionellen Science Fiction heraus entwickelt es handelt sich soHEUSER, Sabine: "Virtual Geographies ... "; a.a.O.; S. xxvii.
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mit nicht um "an invasion but a modern reform" 2 . Dennoch verstanden sich die Cyberpunk-Autoren als eine avantgardistische Gegenkultur innerhalb der Science Fiction, welche es in ihren Augen grundlegend zu erneuern galt. Ein konstituierendes Merkmal war für Sterling, Gibson, Shiner und Shirley in diesem Zusammenhang, dass sie eine der ersten Generationen von Science-Fiction-Autoren repräsentierten, welche nicht nur in den Traditionen dieser Literatur aufgewachsen waren, sondern die in einer Wirklichkeit lebten, in der einstmalige Science-Fiction-Visionen zur Realität geworden waren und die Phantasien der Vergangenheit teilweise sogar überholt hatten.3 Damit griffen die Cyberpunk-Autoren einen Grundgedanken auf, den bereits die britische New Wave in den 1960er Jahren thematisiert hatte und als Grundlage ihrer Auseinandersetzung mit der Gegenwart nutzte. Durch dieses Selbstverständnis stellte sich die Movement-Gruppe folglich nicht nur literarisch in die Tradition von Autoren wie J.G. Ballard, Norman Spinrad und Brian Aldiss, sondern vertraten auch deren Anspruch, eine neue Art der Science Fiction zu schaffen. Die Auseinandersetzung mit den real geworden Science-Fiction-Visionen schlug sich bei den Erzählungen der Cyberpunk-Autoren jedoch auf eine ganz andere Art und Weise nieder als noch bei den Autoren der NewWave. DieNewWave reagierte- ganz im Geiste ihrer durch den technologischen Wandel verunsicherten Gegenwart- auf die zunehmende Technisierung ihrer Wirklichkeit mit einem tiefen Misstrauen gegenüber den technologischen und wissenschaftlichen Neuerungen. Dieses Misstrauen und die damit einhergehende Feindseligkeit gegen technologische Entwicklungen war in den Jahren der New Wave weit verbreitet und gipfelte in den 1960er und 1970er Jahren in der Gegenkultur der Aussteiger und Hippies. Wie die meisten Gegenkulturen der späten 1960er Jahre, widmete sich die New Wave der Reflexion von Themenbereichen, die jenseits von rein technologischen Phänomenen lagen und beschäftigte sich mit Mystizismus, Esoterik, Ökologie und Sexualität. Die Autoren der NewWave verstanden sich dabei jedoch nicht nur als Bestandteil zeitgenössischer Gegenkulturen, sondern innerhalb dieser als eine neue Avantgarde, und bemühten sich dementsprechend, für ihre Auseinandersetzungen einen neuen künstlerischen Rahmen zu schaffen. 4 Dies schlug sich insbesondere in der Literarästhetik und Stilistik der Werke dieser Autorengruppe nieder, welche McHale zufolge die ScienceFiction erstmals in die literarische Modeme führte. 5 Ebenso wie die New Wave verstanden sich zwanzig Jahre später auch die Cyberpunk-Autoren als avantgardistische Gegenkultur. Nur hatte sich 2 3 4 5
STERLING: "Preface"; a.a.O.; S. xv. Vgl. ebenda; S. xf. Vgl. SPINRAD: "Die Neuromantiker... "; a.a.O.; S. 355f. McHALE, Brian: "Postmodernist Fiction"; a.a.O.; S. 63ff.
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diese Gegenkultur inzwischen gewandelt, sie war zu einer Gegenkultur gegen die etablierte Gegenkultur geworden, und so rebellierte die Avantgarde der 1980er Jahre gegen die Gegenkultur der 1960er Jahre. 6 Die Kennzeichen der neuen Gegenkultur waren folglich nicht mehr Blumen, Ökologie, Akustikgitarre und spirituelles Denken, sondern glänzende Lederjacken, verspiegelte Sonnenbrillen, elektrisch erzeugte Musik mit Synthesizern und von dem Zeitalter der Postmoderne geleitetes technokratisches Denken. Die Avantgarde war nicht mehr technikfeindlich gestimmt, sondern ihre Vertreter hatten oftmals selbst einen beruflichen oder privaten technischen Hintergrund. So wurde aus antagonistischem Widerspruch Integration. Grundlegende Elemente der Cyberpunk-Literatur, wie eine zunehmende Verschmelzung von Mensch und Maschine, das Leiden des Individuums in einer fragmentisierten Welt und Tabubrüche, finden sich bereits in Werken der New Wave wieder. Zwar wird sich in der New Wave mit derartigen Thematiken auf eine ganz andere Art und Weise auseinandergesetzt, dennoch ist die NewWaveaufgrund ihres dezidierten Avantgardecharakters als direkter Vorläufer der Movement-Bewegung zu verstehen. Aber auch außerhalb der NewWave gibt es Werke, die bis heute als eine wichtige Inspiration späterer postmoderner Science Fiction Weltentwürfe gelten und als direkte Vorläufer der Cyberpunk-Literatur zu verstehen sind. Besonders hervorzuheben sind unter diesen Erzählungen der 1956 veröffentlichten Roman "The Stars My Destination"/"Tiger! Tiger!'' (dt. Titel "Tiger! Tiger!") des amerikanischen Autors Alfred Bester und die 1964 veröffentlichte Erzählung "Simulacron-3" (dt. Titel "Welt am Draht") des Amerikaners Daniel F. Galouye. Bester beschrieb in seinem Werk, welches eine Art Science-Fiction-Adaption von Alexandre Dumas' "Le Comte de Monte-Cristo" darstellt, eine cyberpunkesk anmutende Vision eines besiedelten Sonnensystems, in welchem die Macht bei multinationalen Megakonzernen liegt und in dem die Menschen vielfältige Körpermodifikationen an sich durchführen lassen. Galouyes Roman- der die direkte Vorlage ft.ir Rainer Werner Fassbinders Film "Welt am Draht" von 1973 lieferte - schilderte wiederum eine virtuelle Großstadt, die zu Marktforschungszwecken eingesetzt wird. Den Bewohnern dieser perfekten Simulation ist dabei nicht bewusst, dass sie nur als elektronische Impulse in einem Computer existieren. Wie so viele der späteren Cyberpunk-Werke thematisiert diese Erzählung die zunehmende Verschmelzung zwischen einer realen und einer computergenerierten Wirklichkeit und reflektiert dabei die stärker werdende Auflösung der Grenzen zwisehen Simulation und Realität. Als einer der wichtigsten Vorläufer der Cyberpunk-Literatur gilt außerdem Philip K. Dicks "Do Androids Dream of Electric Sheep?" (dt. Titel 6
Vgl. STERLING: "Preface"; a.a.O.; S. xii.
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"Träumen Roboter von elektrischen Schafen?") von 1968, der die Vorlage für den 1982 von Ridley Scott verfilmten "Blade Runner" (dt. Titel "Der Blade Runner") lieferte. In diesem Roman beschäftigt sich Dick mit der Unterscheidbarkeit zwischen dem Mensch und selbstbewussten Maschinen, wobei Themenkomplexe wie der Lebenstrieb und die Evolution Künstlicher Intelligenzen angerissen werden. Zwar werden diese für die spätere Cyberpunk-Literatur zentralen Topoi in Dicks Roman größtenteils auf eine sehr am Humanismus orientierte Art und Weise behandelt, dennoch thematisiert der Autor zumindest stellenweise die latenten Ambivalenzen einer derartigen Betrachtungsweise und ebnet damit den Weg für die ahumanistischen Darstellungen der Movement-Gruppe. Ferner beschreibt Dick in seinem Roman eine düstere Zukunftsvision, die von einer nahezu gänzlich zerstörten Umwelt, einer omnipräsenten Werbelandschaft und dystopischer Urbanisierung geprägt ist, wie sie für viele der spätere Cyberpunk-Welten typisch ist. Auch John Brunners Roman "The Shockwave Rider" (dt. Titel "Der Schockwellenreiter") von 1975 gilt als ein unmittelbarer Vorläufer der Cyberpunk-Literatur. In dieser von Alvin Tofflers "Future Shock" (1970, dt. Titel "Der Zukunftsschock") inspirierten Erzählung entwirft der Autor ein dystopisches Amerika des 21. Jahrhunderts, das von Computer-Netzen dominiert wird und in dem Realität und Simulation zunehmend miteinander verschwimmen. Bei dem Protagonisten von "Der Schockwellenreiter" handelt es sich um einen Vorgänger der archetypischen Cyberpunk-Figur mit fragmentierter Identität und überragenden Computerkenntnissen, welche er zu subversiven Zwecken einsetzt. Auch bei Algis Budrys' "Michaelmas" (dt. Titel "Michaelmas") von 1977 handelt es sich um einen Proto-Cyberpunk-Roman. Hier wird ein weltweites Computer- und Kommunikationsnetz beschrieben, das durch eine eigenständig gewordene Computerintelligenz manipuliert wird. Im gleichen Jahr wie "Michaelmas" erschien William Gibsons Kurzgeschichte "Fragments of a Halogram Rose" (1977, dt. Titel "Fragmente einer Hologrammrose"), bei der es sich um die erste Cyberpunk-Veröffentlichung handelt. Bereits dieses erste Werk Gibsons beinhaltete die wichtigsten Motive vieler späterer Cyberpunk-Nachfolger. In den folgenden Jahren erschienen mit Erzählungen wie "Jonny Mnemonic" (1981, dt. Titel "Jonny Mnemonic"), "Burning Chrome" (1982, dt. Titel "Chrom brennt") und "New Rose Hotel" (1984, dt. Titel "New Rose Hotel") weitere Kurzgeschichten des Autors, die großen Einfluss auf die übrigen Movement-Mitglieder ausübten und den Grundstock archetypischer Cyberpunk-Elemente schufen. Mit Vemor Vinges Novelle "True Names" (dt. Titel "Wahre Namen") erschien 1981 ein Werk, in dem das Konzept der Schnittstelle zwischen dem menschlichen Geist und einer virtuellen Welt spezifiziert wurde und auf welches sich viele der Cyberpunk-Autoren (insbesondere Gibson) bezogen.
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Sterling veröffentlichte in den frühen 1980er Jahren mehrere Kurzgeschichten, unter denen insbesondere Shaper/Mechanist-Texte wie "Spider Rose" (1982, dt. Titel "Spider Rose"), "Swarm" (1982, dt. Titel "Schwärmer") und "Cicada Queen" (1982, dt. Titel "Zikadenkönigin") zu dieser Zeit die Speerspitze ahumanistischer Science Fiction bildeten und damit bei Kritikern sowie bei der Leserschaft hohen Anklang fanden. 7 Nachdem 1982 Rudy Ruckers Roman "Software" erschienen war und sogleich den Philip K. Dick Award gewann, begann ab Mitte der 1980er Jahre endgültig der kommerzielle Aufstieg der Cyberpunk-Science-Fiction, der mit William Gibsons "Neuromancer" (1984, dt. Titel "Neuromancer") seinen Anfang nahm. Dieses Romandebüt gewann alle wichtigen Science-Fiction-Literaturpreise u.a. den Nebula, Hugo und Philip K. Dick Award- und damit auch Öffentlichkeit und Einfluss in der Science-Fiction-Szene. An den Erfolg Gibsons schlossen sich an: Lewis Shiner mit "Frontera" (1984, dt. Titel "Frontera"), Bruce Sterling mit "Schismatrix" (1985, eng!. Titel "Schismatrix"), Greg Bear mit "Blood Music" (1985, dt. Titel "Blutmusik") und "Eon" (1985, dt. Titel ,,A"on"), John Shirley mit "Eclipse" (1985, dt. Titel "Eclipse"), Walter Jon Williams mit "Hardwired' (1986, dt. Titel "Hardware"), George Alec Effinger mit "When Gravity Fails" (1986, dt. Titel "Das Ende der Schwere"), Pat Cadigan mit "Mindplayers" (1987, dt. Titel "Bewußtseinsspiele"), Michael Swanwick mit "Vacuum Flowers" (1987, dt. Titel "Vakuumblumen"), Richard Kadrey mit "Metrophage" (1988, dt. Titel "Metrophage"), Jack Womack mit ,,Ambient" (1987, dt. Titel ,,Ambient") und Tom Maddox mit "Halo" (1991, dt. Titel "Das Aleph-System"). Durch diesen anhaltenden Erfolg wurde Cyberpunk von einer underground Bewegung zur führenden Stimme der zeitgenössischen Science-Fiction-Literatur. Ab 1990 erschienen zunehmend Cyberpunk-Romane von Autoren, die nicht zu dem unmittelbaren Kreis der ursprünglichen Cyberpunk-Bewegung gehörten, wie Greg Egans "Permutation City" (1994, dt. Titel "Cyber City") und Bruce Bethkes "Headcrash" (1995). Cyberpunk war inzwischen zu einer Neuerung der Science Fiction geworden und der Bedarf an Romanen dieses Subgenres war hoch. Aus diesem Grund wurden viele herkömmliche Science-Fiction-Erzählungen, in denen einzelne Elemente von Cyberpunk enthalten waren (z.B. Computemetzwerke, Biotechnologie), von den Verlagen auch unter dem Begriff Cyberpunk auf den Buchmarkt gebracht. Daher kam es bis Mitte der 1990er Jahre zu einer starken ,Verwässerung' der Cyberpunk Ideen und Ideale. Als Cyberpunk wurden nun alle Texte bezeichnet, die zwar typische Cyberpunk-Requisiten hatten (multinationale Konzerne, düstere Halbwelten, kriminelle Hacker), aber weiterhin die altbekannten Geschichten der konventionellen Science Fiction erzählten. Nicht alles, was
7
Vgl. TATSUMI, Takayuki: "Full Meta/ Apache... "; a.a.O.; S. 106.
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von Verlegern oder Autoren als Cyberpunk bezeichnet wurde, war auch tatsächlich Cyberpunk im Sinne der ursprünglichen Cyberpunk-Gruppe. Dennoch erschienen bis Mitte der 1990er Jahre noch vereinzelt Werke von Autoren jenseits der Movement-Gruppe, welche Neuerungen in das Genre brachten und es weiterentwickelten. Einer dieser späten CyberpunkAutoren ist Neal Stephenson, der mit "Snow Crash" (1992, dt. Titel "Snow Crash") einen wichtigen Bestseller schrieb, und der bis in die Gegenwart als einer der anspruchsvollsten Science-Fiction-Literaten gilt. Die Autoren der Anfänge der Cyberpunk-Bewegung brachten zu dieser Zeit literarisch sehr gereifte Werke heraus, wie z.B. Sterlings "Holy Fire" (1996, dt. Titel "Heiliges Feuer") oder Gibsous ",doru"- Trilogie (1996, dt. Titel ",doru"), allerdings mangelte es diesen Romanen an den radikalen stilistischen Innovationen, wie verschiedene Kritiker und Cyberpunk-Autoren selbst bemerkten. 8
3.2
BESTANDSAUFNAHME DER ERSTEN CYBERPUNKWERKE: EIN KOMPENDIUM
William Gibson "Fragmente einer Hologramm-Rose" Entstehung Bei der ersten Veröffentlichung, die aus heutiger Perspektive und nach der vorangegangenen Begriffsbestimmung als Cyberpunk-Erzählung bezeichnet werden kann, handelt es sich um William Gibsous Kurzgeschichte "Fragmente einer Hologramm-Rose". Die Geschichte entstand im Rahmen von William Gibsous Studium der Literaturwissenschaften, während dessen er die Erzählung anstelle einer Semesterarbeit einreichte. Im Jahr 1977 wurde ,,Fragmente einer Hologramm-Rose" schließlich in dem semi-professionellen Science-Fiction-Fanmagazin "Unearth" publiziert und stellt damit die erste Veröffentlichung Gibsous dar. 9 Cyberpunk-Eiemente Bereits in diesem kurzen Text sind viele der Motive und Thematiken vorzufinden, welche die spätere Cyberpunk-Bewegung grundlegend prägten. Insbesondere die radikale Darstellung der grundlegenden Durchdringung der Alltagswelt durch neue Hochtechnologien, die zu einer zunehmenden Verschmelzung des menschlichen Körpers und des Bewusstsein mit Technologie geführt hat, zeichnet diese Geschichte als ein die Cyberpunk-Literatur konstituierendes Werk aus. Folglich handelt es sich auch bei dem Protago8 9
Vgl. STERLING: "Cyberpunk in the Nineties"; a.a.O. Vgl. McCAFFERY, Larry: ,,An Interview with William Gibson"; a.a.O.; S. 282.
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nisten von "Fragmente einer Hologramm-Rose" um einen Cyberpunk-Archetypus, dessen versatzstückhaft zusammengesetzte Identität und psychische Isolation jene die Cyberpunk-Literatur kennzeichnende gebrochene und zutiefst postmoderne Figur darstellt. Jenseits der zerrütteten Innenwelt des Protagonisten wird ein gleichfalls bedrückendes Bild einer post-industriellen Landschaft der zerstörten Umwelt gezeichnet, wo kontaminierter saurer Regen und eine ohne Mundschutz kaum mehr atembare Luft zur Normalität geworden sind. Die letzten Spuren der Natur sind gänzlich aus den Städten dieser Welt verschwunden und stattdessen beherrscht eine von Verfall durchzogene Hightech-Welt aus Chrom und Neon die Szenerie. Die dargestellte Halbwelt ist dabei von vielfältigen dystopischen Elementen geprägt, wie dem hohen Konsum von Designerdrogen, stetigen Stromausfällen aufgrund der Überlastung der Stromnetze, sichtbarer Armut und Verwahrlosung von Teilen der Gesellschaft. Nationalstaaten sind in der globalisierten Medienwelt Gibsons auseinandergebrochen, und die Machtgefüge werden an Stelle von Regierungen von postmodernen Staatengebilden und multinationalen, hochgradig amoralischen Großkonzernen beherrscht. Vor diesem Hintergrund wird in "Fragmente einer Hologramm-Rose" die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der unter Schlafstörungen leidet und auf sogenannte Delta-Inducer als Schlafhilfe angewiesen ist. Der Protagonist nutzt dabei jenen Delta-Inducer, der eine Art Virtual Reality Filme abspielt und den Nutzer so an den Sinneswahrnehmungen der Schauspieler teilhaben lässt, als Einschlafhilfe und als künstlichen Traumgenerator, durch den er im Schlaf gehalten wird.
Inhalt Die Erzählung spielt in der ersten Nacht, nachdem der Protagonist von seiner Lebensgefährtin verlassen wurde und nun im Zustand des frischen Trennungsschmerzes und des Alleinseins darüber reflektiert, wie es zu dieser Trennung kam. Dabei werden verschiedene Stationen der Biographie des Protagonisten- der in der gesamten Geschichte ohne Namen bleibt- angesprochen, wie etwa der Abbruch seiner Lehre bei einem renommiertenjapanischen Kunststoffkonzern, der gleichzeitig einen Bruch mit der Gesellschaft, seiner Familie und seiner eigenen Biographie bedeutete. Auch gesellschaftliche Entwicklungen werden bei dieser Reflexion angedeutet, so ist etwa von einem Bürgerkrieg in den USA die Rede, welcher letztendlich die ehemalige Großmacht in Teilstaaten auseinanderbrechen ließ. Die in den Überlegungen des Protagonisten angesprochene Unbeständigkeit und Zerrissenheit seiner inneren und äußeren Wirklichkeit laufen schließlich als Sinnbild in einer zerbrochenen Hologramm-Postkarte mit der Abbildung einer Rose zusammen. Die Bruchstücke dieser Postkarte, dir je-
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weils nur Fragmente des ganzen Bildes zeigen können, werden vom Protagonisten als Gleichnis für die Uneindeutigkeit und Ausschnitthaftigkeit seiner eigenen, aber auch der allgemeinen Geschichte, Perspektive und Identität gesetzt, ohne dass diese Einsicht dazu genutzt werden kann, etwas an seinem Zustand zu verändern.
Diskursive Inhalte In dieser nur wenige Seiten umfassenden Erzählung präzisiert Gibson, wie die Sicherheiten der Modeme in der postmodernen Wirklichkeit von "Fragmente einer Hologramm-Rose" gänzlich im Auflösen begriffen sind. Alle Bereiche der persönlichen Biographie sowie die gesellschaftlichen und staatlichen Gefüge sind zunehmend von unvorhersehbaren Brüchen bedroht und stehen damit nicht mehr als Orientierungspunkt für den Einzelnen zur Verfügung. Die Folge aus diesem Umbruch ist die grundlegende Fragmentierung aller Lebensbereiche, wodurch Unsicherheit, Beliebigkeit und Zersplitterungen entstehen. Bemerkenswert ist, dass sich die Darstellung des Verschwirrdeus von Bezugspunkten auch in Stil und Sprache der Erzählung widerspiegeln. Die kurzen Absätze sind durch stetige Wechsel der erzählerischen Perspektive gekennzeichnet, in einigen Fällen oszilliert der Erzählstil innerhalb eines Absatzes, und mitunter wechseln Innen- und Außenperspektive sogar im gleichen Satz. Auch folgt die Erzählung keiner linearen Logik, sondern setzt sich aus Versatzstücken von Wahrnehmungen der Außenwelt, assoziativen Halbsätzen, Reflexionen des Protagonisten sowie der auktorialen Sichtweise auf die Geschehnisse zusammen, so dass sich das Erzählte zu einem facettenreichen Mosaik zusammenfügt. Vernor Vinge "Wahre Namen" Entstehung 1981 erschien die in den beiden Jahren davor geschriebene, knapp hundertzwanzig Seiten umfassende Novelle "Wahre Namen" von Vernor Vinge. Zunächst nicht als eigenständige Buchpublikation, sondern in einem Sammelband veröffentlicht, wurde dieses Werk schnell zu einem Meilenstein der Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz innerhalb der Science Fiction. Die in "Wahre Namen" enthaltenen visionären Konzepte und bahnbrechenden Gedanken zur Digitalisierung und Verbindung des menschlichen Geistes mit einem Maschinen-Interface hatten in der Folge großen Ein-
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fluss auf andere Science-Fict ion-Schreiber, aber auch auf Informatiker und KI-Forscher und Wissenschaftler. 10 Die Grundlage dieser Erzählung bildeten Vinges eigenen Erfahrungen mit frühen Computernetzwerken an amerikanischen Universitäten, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2000 mehrere Jahrzehnte als Informatikund Mathematikprofessor arbeitete. 11
Cyberpunk-Eiemente Die Erzählung Vinges verfügt über viele Komponenten, die aus heutiger Perspektive als archetypische Cyberpunk-Elemente bewertet werden können. So handelt es sich bei "Wahre Namen" um einen der ersten literarischen Texte überhaupt, in dem eine konkrete Vision des Cyberspace beschrieben wird, in welchem der Mensch durch eine Schnittstelle zwischen seinem Bewusstsein und einem weltumspannenden Computernetzwerk losgelöst von seinem Körper agiert. Die Darstellung von Charakteren, die die Möglichkeiten der virtuellen Welt für subversive Handlungen nutzen, zeichnet überdies die Protagonisten von Vinges Erzählung als Vorläufer der klassischen Hackerfigur aus, mit der die Cyberpunk-Literatur bis heute in Verbindung gebracht wird. Ferner benennt Vinge die Schwierigkeit, echte Menschen und künstliche Programme in der digitalen Umwelt auseinanderzuhalten und knüpft verschiedene technische und ethische Fragestellungen daran an. Zuletzt thematisiert der Autor die Möglichkeit, echtes Bewusstsein zu digitalisieren und in Rechenanlagen hochzuladen, und entwickelt das Konzept einer selbstbewussten und eigenständigen Maschinenintelligenz, die sich aufgrund ihres Wesens fundamental von menschlicher Intelligenz unterscheidet- ein Entwurf, der von vielen der späteren Cyberpunk-Autoren aufgegriffen und ausgebaut wurde. Welt/Umwelt Vinge entwirft in seiner Erzählung eine Welt, in der das Arbeitsleben vollständig auf der Nutzung von stimmgesteuerten Computernetzwerken basiert. Die Komplexität der beschriebenen Wirklichkeit hat zu dem Aufkommen stetig wachsender und zunehmend fragmentierter Expertengebiete geführt, so dass die Verwaltung und Organisation gesellschaftlicher, politischer und militärischer Organe trotz eines großen Beamtenapparates nur noch durch selbstständig handelnde Computerprogramme geleistet werden kann. I 0 Tatsächlich ist der eigenständigen englischsprachigen Publikation von "Wahre Namen" ein längeres Nachwort des KI-Forschers Minsky angehängt und aus verschiedenen Quellen geht hervor, dass "Wahre Namen" in Informatikerkreisen als Seminarlektüre empfohlen wurde. II Vgl. VINGE, Vernor: "Wahre Namen"; In: VINGE, Vernor: "Die Tieffm der Zeit"; Heyne, München 2006 (zuerst 1981 ), S. 69f.
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Während die Ober- und Mittelschicht ihrer Arbeit von Heimarbeitsplätzen in Grüngürteln außerhalb der Stadt nachgeht, sind viele andere dazu gezwungen, in den kargen Städten in riesigen Gebäudekomplexen zu arbeiten, die Wohnblocks, Einkaufsmöglichkeiten und Büros in sich vereinen. Kontrolliert werden die Gebäude neben computergesteuerten Überwachungsanlagen von einer Gebäudepolizei, die sich aus kriminellen Jugendlichen in Resozialisierungsprogrammen zusammensetzt. Die durch Computernetzwerke generierte Digitalwelt wiederum erinnert in ihrem Erscheinungsbild mit ihren Sumpflandschaften, Burgen, Schlössern und Magie an eine Tolkien'sche Welt der Phantastik. Bevölkert wird diese Welt von Computerprogrammen, die sich als Spinnen, Schlangen, Frösche u.ä. tarnen, sowie Nutzern, die ihr Äußeres relativ frei gestalten können, meist jedoch als Abenteurer, Hexen oder Zauberer auftreten. Die Beschreibungen dieser als Anderswelt (im Original: Other Plane) bezeichneten Wirklichkeit erinnert frappierend an die Umgebung heutiger Online-Rollenspiele, jedoch dient die virtuelle Umgebung nicht nur als Spielwiese, sondern auch als Arbeitsraum und globale Datenbank.
Protagonist Bei dem Protagonisten von Vinges Novelle handelt es sich um Roger Pollack, einen weltberühmten Schreiber interaktiver Romane. Neben seinem Beruf führt er ein Doppelleben als Computerhacker, als der er einen beträchtlichen Teil seiner freien Zeit in der virtuellen Welt verbringt und zwar kriminelle, aber durchaus nicht bösartige Scherze und Systemangriffe ausführt. Große Feinde sind für ihn die staatlichen Überwachungsorgane, denen er immer wieder ein Schnippchen schlägt, sowie echte Kriminelle, die er beraubt (indem er deren Geld wegnimmt und verteilt). Er entspricht folglich dem unter Computerfreaks sehr beliebtem Archetypus des unabhängigen und subversiven Hackers mit Ethik, der Technologie kreativ und ritterlich zu nutzen weiß. Inhalt In "Wahre Namen" wird die Geschichte des Hackers/Autors Mr. Slippery/Roger Pollack erzählt, dessen Identität von staatlichen Behörden aufgedeckt wurde. Der Protagonist wird von den Behörden, die einen Hacker aus Mr. Slipperys Bezugsgruppe stoppen wollen, dazu genötigt, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Der zur Fügung gezwungene Protagonist kommt bei seiner Rolle als Doppelagent nach und nach einer großen Verschwörung und Unterwanderung der globalen Datennetze und Expertensysteme auf die Spur, hinter der eine unbekannte und äußerst mysteriöse Macht steht. Gemeinsam mit einer befreundeten Hackerin gelingt es dem Protagonisten, das für die Manipulation der weltweiten Computernetze verantwortliche Virus-
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programm aufzuspüren. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Virus um ein abtrünniges Verteidigungsprogramm handelt, welches sich zu einem selbstbewussten Wesen entwickelt hat und nun die weltweiten Militäranlagen und Überwachungssysteme kontrolliert. In einem gewaltigen Showdown, während dessen sich der Protagonist und seine Helferin für kurze Zeit selbst zu einem weltumspannenden, digitalen Bewusstsein erheben, gelingt es, die Künstliche Intelligenz zu eliminieren.
Form Strukturell handelt es sich bei "Wahre Namen" um einen klassischen Thriller, bei dem das Rätsel um den gesuchten Täter und die Gefährdung des Helden im Mittelpunkt stehen. Die auktoriale Erzählsituation wird dabei über den Verlauf der Geschichte konsequent eingehalten, wobei die eigentliche Erzählung von gelegentlichen Exkursen in Stil der hard SF unterbrochen und die Funktionsweisen einzelner Technologien gerrauer erläutert werden. Im Kontrast zu diesen funktionalen Technikbeschreibungen steht die Darstellung der tatsächlichen Nutzung der Technologie. So verwendet der Autor zur Versinnbildlichung der Anderswelt bewusst archetypische Fantasybilder und -symbole, wodurch sich vor den Augen des Lesers eine sehr anschauliehe und lebendige Nutzeroberfläche entfaltet. Diskursive Inhalte Mit seiner ausgearbeiteten und sehr plastischen Vision einer durch globale Computernetzwerke repräsentierten virtuellen Realität stellt Vinge erstmals eine digitale Welt dar, die durch ein mit dem Wahrnehmungsapparat des Nutzers verbundenes Interface sensorisch erfahrbar ist. Eingeklinkt mittels Schädelelektroden, entfaltet sich vor dem Nutzer eine Welt, die in ihren Qualitäten eine zweite Wirklichkeit darstellt. So handelt es sich bei der Anderswelt mit ihrem Dornendickicht, ihren Sümpfen und ihrer wechselnden Witterung um einen durch und durch taktil erfahrbaren Ort. Die Durchquerung dieser Welt erfolgt in der Regel zu Fuß und wird dabei teilweise als ebenso schweißtreibend und mühsam empfunden wie ein Fußmarsch in der realen Welt. Freilich ist es den wenigsten Nutzern möglich, sich in der virtuellen Welt frei zu bewegen, denn der Zugang zu den verschiedenen Ebenen, Parallelräumen und Privatbereichen verlangt in der Regel den Besitz eines entsprechenden Zulassungscodes. Viele Areale der märchenhaften Landschaft der Anderswelt werden von Schutzprogrammen bewacht, welche sich etwa als Dämonen oder brennende Lavagruben manifestieren und durch Zaubersprüche oder Kämpfe besiegt werden müssen- auf diese Weise werden Passwortschutz und -abfrage zulassungsbeschränkter Bereiche gewährleistet. Versierte Nutzer, die sich sehr sicher in der virtuellen Welt bewegen können, sind allerdings teilweise in der Lage, die virtuelle Welt zu manipu-
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lieren, Schutzmechanismen außer Gefecht zu setzen und damit Barrieren zu umgehen, um sich in geschützte Bereiche hineinzubegeben. Mit diesem Entwurf einer derart real anmutenden computergenerierten Wirklichkeit, die von einzelnen manipuliert und verändert werden kann, schuf Vinge eine Vorlage, an der sich viele spätere Cyberpunk-Autoren orientierten. Ein weiterer zentraler und wegweisender Aspekt von "Wahre Namen" ist überdies, dass sich in der digitalen Umwelt selbstbewusstes künstliches Leben entwickelt und eigenmächtig zu handeln beginnt. Die technische Möglichkeit der Existenz von intelligentem Bewusstsein - menschlichem sowie künstlichem- auf leistungsfähiger Computerhardware wird von Vinge dabei als Vorstufe der Transzendenz beschrieben. Die den Tod überwindende Verschmelzung des Bewusstseins mit globalen Computernetzen stellt daher für den Autor den nächsten logischen Schritt der Evolution dar, der die Menschen in ein Stadium des Posthumanismus führt. Damit spricht Vinge in seiner Erzählung "Wahre Namen" erstmals seine Idee der technologischen Singularität an, die durch Schaffung einer übermenschlichen Intelligenz mit Hilfe technologischer Mittel eingeleitet wird und das Ende der Ära der Menschheit bedeutet.
Rudy Rucker "Software" Entstehung Die erste Cyberpunk-Erzählung in Romanform wurde 1982 mit Rudy Ruckers "Software" veröffentlicht. Rucker, der erst 1983 zu der MovementGruppe hinzustieß (siehe auch Kapitel 2.1 der vorliegenden Arbeit), verfasste "Software" während seines Aufenthaltes in Beideiberg zwischen 1978 und 1980, wo er an der Ruprecht-Karls-Universität Philosophie der Mathematik lehrte. 12 Der Roman stellt den ersten Teil der sogenannten "Ware Tetralogie" des Autors dar, welche neben "Software" die Erzählungen "Wetware" (1988, dt. Titel "Wetware"), "Freeware" (1997) und "Realware" (2000) umfasst. Cyberpunk-Eiemente In diesem frühen Cyberpunk-Werk greift der Autor auf bestimmte Motive und Fragestellungen der klassischen Science Fiction zurück, setzt sich jedoch damit auf eine ganz andere und ungewöhnliche Art und Weise auseinander. Die archetypische Fragestellungen nach den Konsequenzen der künstlichen Schöpfung von Leben, artifiziellem Bewusstsein und Unsterblichkeit erfahren durchRuckereine Verarbeitung, die sich durch eine wertfreie Darstellung auszeichnet, wie sie für die klassische Science Fiction seiner Gegenwart kaum denkbar gewesen ist. So erzählt Rucker in "Software" 12 Vgl. RUCKER: "Autobiography"; a.a.O.
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eine Geschichte, in deren Zentrum ein selbstbewusster Roboterrebell steht, der danach strebt, den Geist und das Bewusstsein seines Schöpfers in ein Robotergehirn einzuspeisen, damit dieser endgültig von seinem ramponierten Körper, der nur noch durch künstliche Organe funktionsfähig ist, Abschied nehmen kann. Die von Rucker ins Zentrum gestellte Thematik des Strebens nach einer wie auch immer gearteten Unsterblichkeit ist in der Geschichte der Science Fiction altbekannt Auch die Idee, den Menschen von seinem natürlichen Körper unabhängig zu machen, um ihn von der V ergänglichkeit des Fleisches zu befreien, hat vielfältige Aufnahme in der Literatur erfahren. Dennoch unterscheidet sich Ruckers Erzählung wesentlich von bisherigen Beschäftigungen mit diesem Thema. Der Autor verfolgt in seinem Werk die Idee, dass der menschliche Geist -die Seele, wenn man so will- nicht körpergebunden ist, sondern einem individuellen Code entspricht. Folglich kann dieser Code in ein anderes Medium übertragen werden. In "Software" handelt es sich bei diesem Medium um elektronische Hardware, auf welche das Bewusstsein als eine Art Programm aufgespielt werden kann. Während in der klassischen Science Pietion derartige Invasionen von Technologien in das Wesen des Menschen von jeher als zutiefst gefährlich und als zum Scheitern verurteilt dargestellt wurden, übt Rucker sich in einer neutralen Position zu den von ihm dargestellten Extrapolationen. Der unbefangene - teils humoristische - Umgang Ruckers mit einem Thema, bei dem bis dato moralisierende Abhandlungen zu der Einzigartigkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Geistes im Mittelpunkt standen, zeichnet diese Erzählung als ein Werk aus, welches die zukünftige Cyberpunk-Literatur grundlegend prägte. Die Beschäftigung mit den Möglichkeiten, den Geist zu entschlüsseln, das Gedächtnis in elektronisehe Datenströme zu übersetzen, und mit einer möglichen Evolution so geschaffener Künstlicher Intelligenzen, spielt in vielen späteren Cyberpunk-Werken eine zentrale Rolle und hat dort vielfältige Weiterentwicklungen erfahren.
Welt/Umwelt Die in "Software" erzählte Geschichte entwickelt sich vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, deren Sozialversicherungsnetz aufgrund der Überalterung der Menschheit völlig zusammengebrochen ist. Um die aus diesen Umständen entstandenen Unruhen zu beheben, hat die Regierung den alten Menschen einzelne Staaten übergeben, wo diese - versorgt mit mietfreien Wohnungen und kostenfreier Nahrung- sich selbst überlassen werden. Organisiert in anarchistisch anmutenden Kommunen gehen die Senioren einem Leben nach, welches von Drogenexzessen, Rockmusik und wilden Parties geprägt ist. Auch die übrige Gesellschaft, die sich aus verschiedenen Subkulturen zusammensetzt, zeichnet sich durch einen hedonistischen Lebens-
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stil, verbunden mit hohem - und legalisiertem - Drogenkonsum und einer völlig überforderter Polizei, aus. Im krassen Kontrast zu den weitgehend unorganisierten Zuständen auf der Erde steht eine autonome Robotergesellschaft, die nach ihrer Revolte gegen die Menschheit den Mond besiedelt hat. Organisiert in einem strengen, anarchistisch-marxistischem System, hat diese komplexe Robotergesellschaft mit internen Konflikten zu kämpfen, die teilweise bereits zu kriegerisehen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Roboter- und Computerfraktionen geführt haben und in welche die Menschheit mit einbezogen zu werden droht.
Protagonist Die Protagonist von Ruckers Roman Cobb Anderson ist ein pensionierter Informatiker und bekennender Anarchist mit einem lädiertem künstlichen Herzen. In der Vergangenheit war Anderson wegen Hochverrates angeklagt gewesen, da er ein Programm geschrieben hatte, welches Roboter mit einem eigenen Bewusstsein und einem freien Willen ausstattete, wodurch letztlich der Aufstand gegen die Menschheit ausgelöst wurde. Nach Annahme einer neuen Identität, fern von seiner Familie und ohne feste Bezugs- oder Orientierungspunkte, verlebt Cobb Anderson in Florida einen Ruhestand, der geprägt ist von exzessivem Alkohol- und Drogenkonsum, sowie der Angst vor dem endgültigen Versagen seines Kunstherzens. Weitere Hauptfiguren sind Ralph Numbers- jener Roboter, dem Anderson als erstes Verstand und Intelligenz einprogrammierte und der seither eine tiefe Bewunderung und Loyalität für seinen Schöpfer empfindet- sowie der stetig unter Drogeneinfluss stehende junge Taxifahrer Sta-Hi Mooney, der sich durch eine deutliche Punkattitüde auszeichnet. Ebenso wie Anderson stehen auch die beiden anderen Hauptfiguren etwas abseits ihrer Gesellschaft; Ralph Numbers ist als ältester lebender Roboter berühmt für seinen klaren und logischen Geist, verweigert es aber, seinen Roboterkörper in irgendeiner Form modifizieren zu lassen. Der 25-jährige Taxifahrer Sta-Hi wiederum fällt durch sein rüpelhaftes Auftreten auf und gerät in seinem anhaltenden Drogenrausch stetig in Schwierigkeiten. Gleich zu Beginn der Geschichte wird er von einer Serienkiller-Bande entführt, die sein Gehirn essen möchte. Die flegelhafte und chaotische Attitüde des jungen Sta-Hi Mooneys zeichnet sich durch offensichtliche Bezüge zu der in den späten 1970ern und frühen 1980ern verstärkt sichtbar werdenden Punkersubkultur aus. Es ist daher zu vermuten, dass der Charakter Sta-Hi Mooneys (und in gewisser Weise auch des anarchistischen Cobb Andersons) eine frühe Verarbeitung und Einbindung dieser Subkultur in die Literatur darstellt, welche die Figur des Cyberpunks (auch innerhalb der Movement-Gruppe selbst) mitprägte.
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Inhalt Am Anfang der in "Software" erzählten Geschichte wird Cobb Anderson von einer Roboterversion seiner selbst kontaktiert und bekommt Unsterblichkeit in Aussicht gestellt. Ohne darüber aufgeklärt zu sein, dass diese Unsterblichkeit nur durch ,Einspeisung', d.h. Zerstückelung, seines Gehirns möglich ist, begibt sich Anderson mit seiner Kontaktperson Sta-Hi Mooney auf die Reise zum Mond, wo der Eingriff vollzogen werden soll. Dort angekommen, werden die beiden sogleich in die Konflikte zwischen den großen big boppers Robotern - die Raumstationen, Gebäude wie Museen und Hotels kontrollieren und mit einer Art alles kontrollierendem Supercomputer vergleichbar sind- und den vielen kleinen mobilen Robotern (bezeichnet als boppers) hineingezogen. Das Ziel der großen Roboter ist es, mittels der Technik des ,Einspeisens' das Bewusstsein aller kleinen Roboter und so vieler Menschen wie möglich in sich aufzunehmen und miteinander verschmelzen zu lassen, um so den nächsten Schritt ihrer Evolution einzuleiten, wogegen sich jedoch die individualistischen mobilen Roboter wehren. Tatsächlich lässt Anderson sich von den großen Robotern einspeisen, allerdings gibt es auch weiterhin einen individuellen Anderson- der nun freilich über einen künstlichen Körper und ein Gehirn aus Mechanik und Schaltkreisen verfügt. Ohne eine der beiden Roboterfraktionen weiter zu unterstützen setzt Anderson sich wieder auf die Erde ab, um dort seinem gewohnten Leben nachzugehen. Die kleinen Roboter gewinnen die Auseinandersetzung auf dem Mond letztendlich, wobei die big boppers (und damit auch die Kopie Andersans) zerstört werden. Allerdings bestehen auf der Erde Kopien von Teilen des Robotergesamtbewusstseins. Den Sieg der kleinen Roboter als Bestandteil ihrer Evolution betrachtend, machen die Reste dieses Bewusstseins sich daran, ihr Vorhaben auf der Erde weiterzuführen. Dafür bemächtigt sich die Roboterintelligenz über eine Art Schnittstelle des Körpers Andersans und verschmilzt erneut mit dessen Geist. Andersans letzte Frage, ob es irgendwo noch eine unverfälschte Kopie seiner selbst gibt, bleibt dabei unbeantwortet, jedoch wird angedeutet, dass sich derartige Fragen nach individuellem Sein in dem nun anstehenden Evolutionsschritt erübrigen. Form Der Roboterkrimi "Software" beschreibt abwechselnd die Erlebnisse Andersons, Ralph Numbers und Sta-Hi Moony. Dabei begleitetRuckerseine Charaktere unter anderem auch bei ihren bewusstseinsverändernden Erfahrungen und entwirft dabei ungewöhnliche und psychedelisch anmutende Bilder. Insbesondere die Beschreibungen der Innenwelt Andersans als künstliches Bewusstsein ohne Körper und Ralph Numbers Erfahrungen während seiner
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Genese zu einer intelligenten, selbstbewussten Maschine lesen sich in ihrer Surrealität wie ein modernes Alice im Wunderland. Auffällig ist, dass sich die Sprache der einzelnen Charaktere sehr stark voneinander unterscheidet. Während sich der Roboter Ralph Numbers etwa sehr gewählt und beinahe altmodisch ausdrückt, ist die Sprache Sta-Hi Mooneys eher abgehackt und gleitet stellenweise ins Vulgäre ab. Die Wortwahl Andersans wiederum zeichnet ihn deutlich als Angehörigen der Hippiekultur der 1960er Jahre aus. Anders als Gibson, Sterling, Cadigan und andere Autoren entwickelt Rucker nur wenige Neologismen, sondern schafft stattdessen mit seinen Begriffen vielfältige Bezüge zur Populärkultur der 1960er und 1970er Jahre. Dabei werden Reflexionen zu den Differenzen zwischen Mensch und Maschine durch die populärkulturellen Bezüge sowie Situations- und Verwechslungskomik von einer Leichtigkeit getragen, die sie immer wieder spielerisch und satirisch angehaucht wirken lassen.
Diskursive Inhalte Rucker thematisiert in dieser Erzählung die Möglichkeit der Digitalisierung des menschlichen Geistes in elektronische Datenströme. Daran angeschlossen reflektiert er Thematiken wie die Einzigartigkeit des menschlichen Geistes und des einzelnen Individuums, aber greift auch über diese philosophisehen Reflexionen hinaus. Die denkbare Möglichkeit, die menschliche Software auf leistungsfähiger Hardware laufen zu lassen, impliziert ferner eine beschleunigte künstliche Evolution sowie die Verschmelzung der einzelnen Seelen-Codes zu einem größeren Bewusstsein. Damit greift Rucker vielen Denkansätzen zur Künstlichen Intelligenz und Transhumanismus späterer Werke vor, die sich mit digitalen Persönlichkeiten beschäftigen. Der Autor bleibt aber mit dem Ende des Romans, bei dem dieser Prozess einen Rückschlag erhält, uneindeutig und weicht daran angeschlossenen Fragen aus. Neben dieser technischen Cyberpunk-Seite entwirft Rucker auch eine ausgearbeitete Zukunftswelt, deren Inhalt wenig mit den üblichen stereotypen Gesellschaftsentwürfen klassischer Science Fiction gemein hat. In "Software" wird eine Welt geschildert, in der sich die sozialen Umbrüche und Revolten der 1960er und 1970er Jahre fortgesetzt und aufgrund des Bevölkerungsdrucks zu einem Zusammenbruch der sozialen Absicherungssysteme Anfang des 21. Jahrhunderts geführt haben. Trotzdem hat man es nicht mit einem dystopischen Zukunftsentwurf zu tun, viel mehr schildert Rucker eine weitgehend freie Gesellschaft mit viel Selbstermächtigung, Eigeninitiative und Improvisation, bei der die staatlichen Zuwendungen zwar stark vermindert, aber dennoch existent sind (der ganze Bundesstaat Florida als selbstverwaltete Kommune). Dieses Element der gelebten Anarchie wird in
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diesem Roman im Gegensatz zu späteren Cyberpunk-Werken noch überaus positiv dargestellt.
Willam Gibson "Neuromancer" Entstehung Nachdem Gibson Anfang der 1980er Jahre mehrere vielbeachtete Kurzgeschichten veröffentlichen konnte, wurde er von dem Herausgeber Terry Carr kontaktiert, weil er ihn für eine neue Reihe anspruchsvoller Science-FictionRomane in Betracht zog. Gibson erkannte die große Chance, die dieses Romanprojekt für ihn bot, und sagte zu. Das Setting und die Charaktere aus Kurzgeschichten wie "Chrom brennt" und ,,Jonny Mnemotic" als Vorlage verwendend, entwickelte er daraus den Roman "Neuromancer", der 1984 veröffentlicht wurde. Das von der Kritik hochgelobte Romandebüt Gibsons fand in der Science-Fiction-Szene und darüber hinaus große Beachtung, gewann alle wichtigen Science-Fiction-Literaturpreise (u.a. den Nebula, den Hugo und den Philip K. Dick Award) und leitete den kommerziellen Aufstieg der Cyberpunk-Literatur ein. 13 Cyberpunk-Eiemente Bis heute gilt "Neuromancer" als der Cyberpunk-Roman par excellence. Gibson entwirft in "Neuromancer" eine hochgradig von Computern und neuen Medien durchdrungene Welt, deren Menschen und Alltag sich durch die Verbreitung neuer Technologien grundlegend gewandelt haben. Als visionär gilt Gibsons Konzeption des Cyberspace, einem weltumspannenden Computernetzwerk, in das sich Menschen über eine Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer einklinken können. Ferner sind in Gibsons Zukunftsextrapolation die Möglichkeiten der Kybernetik, Biotechnologie und Genmanipulation derart verbreitet, dass sie nicht nur zur Optimierung des Körpers und der Wahrnehmung eingesetzt werden, sondern auch zu reinen Unterhaltungs- und Modezwecken. Bei den von Gibson entworfenen Charakteren handelt es sich überdies um archetypische Cyberpunk-Figuren, die eine klassisch-düstere und zwielichtige Zukunftswelt bevölkern, die von sozialem Verfall inmitten futuristischer Umgehungen geprägt ist. Welt/Umwelt Wie schon in "Fragmente einer Hologramm-Rose" ist die in ,,Neuromancer" erzählte Geschichte in einer post-industriellen Zukunft zu Beginn des 21. Jahrhunderts angesiedelt. Die von Gibson dargestellte Umwelt ist weitgehend zerstört; Smog und Leuchtreklame sowie industrielle und elektroni13 Vgl. OLSEN: "who was that man?"; a.a.O.
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sehen Abfälle dominieren die Stadtlandschaften. Ferner sind nach einem atomaren Schlagabtausch zwischen Russland und den USA ganze Städte (wie z.B. Bonn) von der Landkarte verschwunden. Über die Regierung erfährt der Leser lediglich, dass sie in der Vergangenheit mehrfach in Skandale verwickelt war, die mit Watergate verglichen werden. Zwar gibt es noch eine Polizei, allerdings bleibt unklar, ob sie für den Staatsapparat oder für die verschiedenen Konzerne arbeitet, die inzwisehen die Macht unter sich aufgeteilt haben. Jenseits der Unternehmenswelt existiert eine lebhafte Unterwelt aus organisiertem Verbrechen, Drogenmilieu und Straßenbanden, wobei die Übergänge fließend sind. Der nahe Weltraum ist mit verschiedenen Orbitalstationen besiedelt, die Firmen als extralegale Hauptsitze dienen oder zu Erholungs- und Tourismuszwecken genutzt werden. Tatsächlich existiert das letzte bisschen Natur -in Form von künstlich hergestelltem Gras oder aus altem Genmaterial geklonten Tieren- auf ehendiesen Orbitalstationen. Jenseits dieser realen Welt wird eine virtuelle Realität beschrieben, die vielfältige Dienste anbietet und sich auf unterschiedliche Art und Weise präsentieren kann. Ähnlich dem heutigen Internet können über das Datennetz der sogenannten Matrix Informationen abgerufen und per Video, Audio und Text auf einem Computer abgespielt werden. Der Nutzer kann sich mit einem entsprechenden Implantat aber auch direkt in die virtuelle Welt hineinbegeben und sich durch weitere Zusatzgeräte sogar in die Wahrnehmung anderer Menschen einklinken. Über ein mit dem Gehirn verbundenes Interface kann er sich dann losgelöst von seinem Körper im Cyberspace bewegen. Die Matrix kann sich dabei als abstrakter, von geometrischen Formen und grellen Farben dominierter Datenraum präsentieren oder aber als 360-Grad-Simulation der Wirklichkeit dargestellt werden. Da sämtliche Daten von Unternehmen über die Matrix miteinander verbunden sind, werden Firmenareale dieses weltweiten Computernetzwerkes von Schutzprogrammen vor unerlaubten Zugriffen geschützt. Der Versuch, diese zu durchbrechen, kann zum realen Tod des Nutzers führen. Die virtuelle Welt der Matrix wird neben derartigen Schutzprogrammen von Künstlichen Intelligenzen bevölkert, die ihre eigenen Fraktionen haben und weitgehend eigenständig handeln können.
Protagonist Bei dem Protagonisten in "Neuromancer" handelt es sich um den jungen Auftrags- und Elitehacker Case, der sich wegen zerstörter Hirnsynapsen nicht mehr in die Matrix einklinken kann. Da Case aus diesem Grund nicht mehr seinem Beruf nachgehen kann, befindet er sich zu Beginn des Romans in einer Abwärtsspirale aus Drogenmissbrauch, Gelegenheitskriminalität und schweren Depressionen.
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Tatsächlich handelt es sich bei Case um einen klassischen Noir Fiction Charakter, der schockierend realistisch und amoralisch beschrieben wird und der über die typischen Selbstzerstörerischen Tendenzen derartiger Personen verfügt. Der mit vielen Schwächen gezeigte Protagonist ist dabei ein Antiheld im klassischen Sinne, der dem Leser keine Möglichkeit zur Identifikation bietet.
Inhalt In ,,Neuromancer" wird die Geschichte von Case erzählt, der nach der Wiederherstellung seiner zerstörten Hirnareale von unbekannten Auftraggebern als Hacker angeheuert wird. Mit Hilfe mehrerer ihm zur Seite gestellten Komplizen bereist der Protagonist verschiedene Städte und Orbitalstationen und begeht dabei eine Reihe von virtuellen und realen Einbrüchen. Nach und nach finden Case und die ebenfalls angeheuerte Söldnerin Molly heraus, dass es sich bei den Auftraggebern um zwei Künstliche Intelligenzen handelt. Das Ziel dieser Künstlichen Intelligenzen ist es, die ihnen einprogrammierten Hard- und Software-Schranken außer Kraft zu setzen, damit sie miteinander verschmelzen und eine neue Art von Bewusstsein bilden können. Nach verschiedenen Hinterhalten gelingt es Case und seinen Mitstreitern, alle Barrieren zu durchbrechen, die den Künstlichen Intelligenzen gesetzt wurden. Das neu entstandene virtuelle Wesen verlässt daraufhin die Sphäre der menschlichen Interaktion, um mit seinesgleichen Kontakt aufzunehmen. Form Die narrative Struktur und der Plot von Gibsons "Neuromancer" sind an klassische hard-boiled Krimis angelehnt. Aufbauend auf dieser einfachen Struktur, hat Gibson einen sprachlich sehr anspruchsvollen Text verfasst, der über die Science Fiction hinaus als Meilenstein der postmodernen Literatur gilt. Charakteristisch sind schnelle Wechsel, ausgiebige Oberflächenbeschreibungen und vielfältigen Neologismen, die das futuristische Szenario schlaglichtartig beleuchten. Reich an Sprachbildern, Metaphern und Allegorien entsteht so ein ästhetisch-durchkomponierter und sehr dichter Text, dessen vielfältige Verweise und Bezüge sich erst durch mehrfache Lektüre wirklich erschließen. Diskursive Inhalte Gibson zeigt in "Neuromancer" eine Welt, deren Alltag von Technologien durchdrungen ist. Moderne Hochtechnologien prägen praktisch alle Bereiehe des menschlichen Lebens und der Gesellschaft, die sich durch die Auswirkungen der Technologie in einem Stadium der fortgeschrittenen Fragmentisierung und Auflösung befindet. Folglich wird eine postmoderne Welt dargestellt, die in allen Bereichen einen grundlegenden Paradigmenwechsel
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erfahren hat und Menschen beherbergt, deren Denken und Fühlen sich von dem unseren unterscheiden. Die dargestellten Cyber-, Bio- und Computertechnologien sind in "Neuromancer" dem Menschen nicht nur immer näher auf den Leib gerückt, sondem tatsächlich mit dem Körper und Wahrnehmungsapparat verschmolzen. Die technologischen Medien werden dabei als künstliche Körpererweiterung im McLuhan'schen Sinne verwendet und der mögliche Übergang zu einem globalen Bewusstsein wird angedeutet.
Lewis Shiner "Frontera" Entstehung 1984 wurde Lewis Shiners "Frontera" (dt. Titel ,,Frontera") veröffentlicht.14 Der Roman basiert auf der vom Autor 1974 geschriebenen, jedoch erst 1991 veröffentlichten Kurzgeschichte "Saldi er, Sailor". Shiner verfasste "Fronterd' zwischen 1982 und 1983 in Dallas, Texas, wo er als Programmierer seinen Lebensunterhalt bestritt und sich regelmäßig mit Bruce Sterling und anderen Movement-Autoren traf, um an seinem Stil zu arbeiten und sich über aktuelle Tendenzen der ScienceFiction auszutauschen (vgl. Kapitel 2.1 der vorliegenden Arbeit). Cyberpunk-Eiemente Im Gegensatz zu den für die Science Fiction typischen Beschreibungen der Eroberung des Weltraumes thematisiert Shiner in seinem Roman die Enttäuschung über das tatsächlich nicht eingelöste Versprechen der Weltraumbesiedelung. Durch die Erzählung ziehen sich dabei Schilderungen über die Fehlbarkeit und den Verfall von Technologien sowie der tiefen Trauer über das Scheitern des ersehnten Fortschrittes. Der Autor richtet bei diesen Beschreibungen seinen Blick vor allem auf die Verliererseite der geplatzten Hightech-Träume und entwirft dabei eine Gesellschaft, die von Konzeminteressen beherrscht wird und von der ökonomischen Rücksichtslosigkeit gegen den Menschen geprägt ist. Die in diesem Zusammenhang dargestellte Einsamkeit und Isolation des Einzelnen löst sich auch in den beschriebenen neotribalistischen Organisationen nicht auf, da diese eher funktionale Interessenzusammenschlüsse sind. So stellt auch der mit einem implantierten Chip ausgestatte Protagonist von "Frontera" eine in ihrer Zerrissenheit und Bindungslosigkeit zutiefst postmoderne Figur dar, wie sie unter anderem auch von William Gibson immer wieder in seinen Kurzgeschichten dargestellt wurde. 14 Der Roman ist nach dem gleichnamigen Song des Gitarristen Phi! Manzanera benannt, der in den 1970ern mit seiner bahnbrechenden Punkgitarre bekannt wurde; vgl. SHINER, Lewis: "Lile As We Know It"; a.a.O.
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Welt/Umwelt Shiner zeichnet in seinem Roman das Bild einer postindustriellen Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert, in der die zusammengebrochenen Regierungen von Konzernen abgelöst wurden. Organisiert als "Konzernokratie" 15 , werden alle gesellschaftlichen und politischen Bereiche nun von Großunternehmen reguliert und finanziert. Jenseits der für Konzerninteressen relevanten Bereiche herrscht zunehmendes Chaos, Armut und Kriminalität, wodurch es immer wieder zu Aufständen kommt, die von den Unternehmensarmeen niedergeschlagen werden. Großstädte wie z.B. Hauston und Chicago sind durch die Aufstände und Konzernkriege weitgehend zerstört worden und die Natur ist durch Umweltverschmutzung größtenteils kollabiert. Ein ebenso tristes und von Zerfall bestimmtes Bild wie die Erde gibt der Planet Mars ab. Dieser ist nach einem gescheiterten Versuch des Terraforming von noch etwa hundertfünfzig Menschen besiedelt. Das Leben auf dem Mars ist von Verfall und Niedergang gekennzeichnet; die Wohnquartiere sind verfault und verschimmelt, das Gemüse in den undichten Gewächshäusern verrottet und die einstmaligen Hochtechnologien versagen sukzessive ihren Dienst und werden funktionsuntauglich. Auch die Menschen haben mit der anhaltenden Strahlung auf dem Mars zu kämpfen, viele leiden unter Krebs und die auf dem fremden Planeten zur Welt gekommenen Kinder sind körperlich missgebildet. Durch die psychischen Belastungen des beengten Lebens in der Marskolonie leiden viele der Erwachsenen überdies unter großen Ängsten und Psychosen und es kommt regelmäßig zu gewalttätigen Konflikten zwischen sich stetig neu bildenden Fraktionen. Die Kinder, die durch einen Nebeneffekt der Verstrahlung über eine außergewöhnlich hohe Intelligenz verfügen und daher nahezu alle naturwissenschaftliche Genies sind, haben sich von den Erwachsenen losgesagt und leben organisiert in kleinen Gruppen in den verkommenen Arbeitsräumen der früheren Großkolonie. Protagonist Der Protagonist Kane wurde nach dem frühen Tod seines Vaters, einem einstigen Konzernchef des mächtigsten amerikanischen Unternehmens, von seinem Onkel und dem geschäftlichen Nachfolger des Vaters aufgenommen und großgezogen. Lediglich interessiert an der Kontrolle über das Aktienvermögen des jungen Kane, ließ der Onkel ihn in einem lieblosen und von Skrupellosigkeit und geschäftlicher Rivalität geprägten Milieu aufwachsen. Als Erwachsener und Aufsichtsratsmitglied kämpfte Kane im sogenannten Nordafrika-Krieg mit (in dessen Folge die Konzerne die Weltmacht übernahmen) und trug dabei schwere Verletzungen am Schädel davon. Ohne Kanes Wissen wurde im Auftrag des Onkels bei der folgenden Notoperation 15 Shiner: "Frontera"; a.a.O.; S. 102.
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ein Bio-Chip in Kanes Gehirn verpflanzt, über den er künftig programmiert werden kann. Der Chip führt überdies zeitweise zu beängstigenden Halluzinationen und lässt Kane zu einer Ausnahmeerscheinung mit unberechenbaren Persönlichkeitsmerkmalen werden. Bei dem durch seine Erfahrungen traumatisierten Kane handelt es sich folglich um einen zutiefst zerrütteten Charakter, der zu Beginn der Erzählung von einer deutlichen Todessehnsucht gezeichnet ist. Im Laufe der Erzählung wächst der Protagonist jedoch an seinen Aufgaben und geht als gereifte Persönlichkeit aus seinen Abenteuern hervor - wobei durch die weiterhin bestehende Manipulierbarkeit dieser Zustand theoretisch jederzeit wieder aufgelöst werden kann.
Inhalt In "Frontera" wird die Geschichte einer Marsmission erzählt, die von einem amerikanischen Großkonzern in Auftrag gegeben wurde. Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass der Protagonist Karre vom Auftraggeber über den Chip in seinem Gehirn zur Durchführung einer ihm selbst geheimen Aufgabe programmiert wurde. Nach und nach finden Karre und Molly- eine Marsbewohnerin, mit der Karre ein Liebesverhältnis eingeht - heraus, dass der Konzern an den von Marskindem entwickelten Technologien (einer sogenannten Antimaterietransmitter-Platine) interessiert ist und sie von Karre stehlen lassen will. Nachdem eine Raumkapsel eines russischen Konzerns gelandet ist, der ebenfalls die Platine stehlen will, kommt es zu einem gewaltigen Showdown, bei dem mit Unterstützung der Geniekinder die beiden Konzernfraktionen besiegt werden. Mit Hilfe der Antimaterie gelingt es letztlich, zuvor nicht durchführbare Terraformingvorgänge auszulösen. Es wird in Aussicht gestellt, dass der Mars begrünt und zu einem menschenfreundlichen Lebensraum umgewandelt werden könnte. Form Bei "Frontera" handelt es sich um eine klassische Weltraumexpedition, wie sie aus der hard SF bekannt ist. Der Verlauf der Geschichte ist dabei von ihrer Struktur her an den Monomythos Campbeils angelehnt und beschreibt die einzelnen Stationen der klassischen Heldenreise. Umrahmt wird die Erzählung von minutiösen Technikerläuterungen sowie von Innenweltbeschreibungen im Stil der literarischen New Wave. So wird der Erzählfluss immer wieder von Traumsequenzen oder Halluzinationen des Protagonisten unterbrochen, die von griechischen Mythen abgeleitete archetypische Bilder heraufbeschwören. Die mythischen Allegorien erfahren durch den Protagonisten vielfache Reflexionen, so dass ein stellenweise sehr vielschichtiger und komplexer Text entsteht. Aus dem Wechsel der Konzentration auf die zerrüttete Psyche des Protagonisten und den am literarischen Realismus ori-
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entierten Beschreibungen der Marsstation ergibt sich so ein beklemmendes Bild der Innen- und Außenwelt des Protagonisten.
Diskursive Inhalte Shiners melancholische Erzählung macht die Trauer darüber, dass der Mensch mit seinem Wunsch, den Weltraum zu besiedeln, gescheitert ist, zum zentralen Thema. So ist "Frontera" als ernüchternde Aufarbeitung der Tatsache zu verstehen, dass die Raumfahrt ihre großen Versprechungen von einem Aufbruch und einer Kolonisierung des Weltalls in absehbarer Zukunft nicht erfüllen kann. Gleichzeitig dienen die Reflexionen des Autors der Entzauberung des über Jahrzehnte hinweg von der klassischen Science Fiction tradierten Weltraumthemas und deren glänzender Helden. Dem psychotischen Protagonisten wird folglich ein veralteter, unzuverlässiger und alkoholabhängiger Astronaut zur Seite gestellt, dessen Tage als Glanzfigur der ersten bemannten Marsmission ebenso der Vergangenheit angehören wie für Cyberpunk-Autoren die tradierten Ikonen der klassischen Science Fiction. Somit ist ,,Frontera" als ein deutlicher Hinweis Shiners darauf zu verstehen, wie sich die klassische Science Fiction überlebt hat. Greg Bear "8/utmusik" Entstehung Greg Bear hatte seit den späten 1960er zahlreiche Kurzgeschichten sowie mehrere Romane veröffentlicht und war zunächst nicht in die Aktivitäten der Movement-Gruppe um Bruce Sterling involviert. Seine Novelle "Blutmusik" (1983) gewann 1984 den Nebula Award, worauf der Autor die Erzählung auf Romanlänge erweiterte und 1985 unter dem gleichen Namen veröffentlichte. Dennoch wurde er nach dem Erscheinen von "Blutmusik" von der Kritik sogleich als Cyberpunk-Autor deklariert und auch von der Movement-Gruppe selbst zu einem der ihren erklärt. Der biedere Familienvater trat in der Folgezeit zusammen mit Gibson, Sterling, Shiner und Shirley auf Conventions auf und begleitet sie - ausgestattet mit verspiegelter Sonnenbrille und Lederjacke- bei ihren PR-Aktionen. Cyberpunk-Eiemente Bear beschäftigt sich in seinem Roman mit den fortgeschrittenen Möglichkeiten molekularer Nanotechnologie und Genmanipulation. So beschreibt der Autor die Entwicklung biologischer Computer (Noozyten), die sich in den menschlichen Zellen ansiedeln. Die sich daraus entwickelnde Transformation des Menschen führt in letzter Konsequenz zum Verschmelzen des menschlichen Körpers und Geistes zu einem bakteriellen Gray Goo, welches im Verlauf des Romans große Teile der Menschheit und der irdischen Bio-
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masse in sich aufnimmt. Diese Noozyten bilden dabei einen Superorganismus, der nicht nur selbstbewusst und intelligent ist, sondern der aufgrund seiner Informationsverarbeitungskapazität in der Lage ist, die Raumzeit über quantenmechanische Zusammenhänge selbst kurzzeitig zu verändern (und beispielsweise einen Atomschlag abzuwehren). Bear zeigt am Beispiel dieser zellulären Noosphäre eine neuartige Evolution posthumaner Intelligenz, die zudem mit einer Art virtuellen Gedankenuniversum zwischen den einzelnen Mitgliedern ausgestattet ist, welches ähnlich wie Gibsons Cyberspace zur Kommunikation und Datenspeicherung der einzelnen ,Individuen' benutzt wird und in das sich auch normale Menschen von außen über eine Art biologisches Interface einklinken können.
Welt/Umwelt In ,,Blutmusik" wird eine Zukunft beschrieben, in der allgemein bekannt ist, dass sich die Welt auf dem Weg zu einem radikalen Umbruch durch die Biochipforschung befindet, weswegen Wissenschaft und Wirtschaft sich vor allem auf diesen Forschungsbereich konzentrieren. In Bears Zukunftswelt existieren weiterhin Regierungen. Wie in vielen anderen Cyberpunk-Weltentwürfen wird jedoch auch hier dargestellt, wie staatliche Organe zunehmend machtlos gegen die Interessen multinationaler Großkonzerne werden. Im Verlauf der Geschichte verlieren jedoch auch die Unternehmen aufgrund der Ausbreitung der Noozyten zunehmend an Einfluss und letztendlich löst sich der gesamte menschliche Einflussbereich zugunsten eines neuen Ordnungssystems innerhalb der Noosphäre endültig auf. Bis auf die biologische Katastrophe durch die intelligenten Zellcomputer ist Bears Welt weitgehend an konventionelle Entwürfe aus der hard SF angelehnt. Protagonist Bear zeigt in seinem Roman keinen einzelnen Hauptcharakter, sondern lässt im Verlauf der Handlung immer wieder neue Figuren auf- und abtreten, denen eine Zeitlang gefolgt wird, um dann wieder einen Wechsel zu vollziehen und das globale Ereignis der gentechnischen Seuche aus einer neuen Perspektive zu zeigen. Es gibt eine Reihe von wichtigeren Personen, darunter größtenteils Wissenschaftler o.ä., die an der Entstehung, Verbreitung und Bekämpfung der intelligenten Lymphozyten beteiligt sind. In der ersten Hälfte des Romans ist dies hauptsächlich das biotechnologische Genie Vergil Ulam, der ohne Genehmigung und gegen die Sicherheitsbestimmungen seines Arbeitsgebers an der Herstellung intelligenter Zellen arbeitet und sich diese schließlich injiziert. Bei Vergil Ulam handelt es sich folglich um eine klassische Wissenschaftlerfigur, die sich über moralische und menschliche Grenzen hinwegsetzt. Er wird selbst auch das erste Opfer der Umwandlung
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durch die Noozyten, die sich im Weiteren ebenfalls immer wieder zu Wort melden. Ab der zweiten Hälfte der Erzählung wechseln die Charaktere noch häufiger, wobei die meisten nur im kurzen Moment ihrer Verwandlung beschrieben werden. Wichtigere Personen, die bis zum Ende der Erzählung immer wieder auftauchen, sind die Schülerin Suzy, der Arzt Bemhard und der Wissenschaftler Gogarty. Während Bemhard, der sich durch Vergil Ulam mit den Noozyten infiziert hat, seine eigene Transformation zusammen mit Gogarty unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten beobachtet, ist es der jungen Suzy gelungen, sich der Verwandlung zu entziehen und den Prozess der Umwandlung der Erde aus einer Außenperspektive zu beschreiben.
Inhalt Die in ,,Blutmusik" erzählte Geschichte beginnt mit dem Biowissenschaftler Vergil Ulam, dem es gelingt, intelligente Zellcomputer zu züchten. Nachdem Vergil sich durch äußere Umstände dazu gezwungen sieht, sich die intelligenten Lymphozyten in seine Blutbahn zu injizieren, beginnt sich sein Körper zu verändern. Nachdem zunächst nur körperliche Defekte, wie etwa Kurzsichtigkeit, repariert werden, beginnen die intelligenten Zellen bald daraufmit Vergil zu kommunizieren und wandeln den Körper des Forschers nach und nach in eine intelligente Biomasse um. In der Folge verbreiten sich die Noozyten in der gesamten Bevölkerung und verwandeln alles, worauf sie treffen. Zwar gelingt es, die Seuche einzudämmen, allerdings bilden die Trillionen von intelligenten Noozyten eine neue Wesenheit, die als eine Art globales Bewusstsein einen Quantensprung in der Evolution darstellt, von dem absehbar ist, dass sie die Menschheit früher oder später verdrängen wird. Form Bear kombiniert in "Blutmusik" Komponenten der wissenschaftsorientierten hard SF mit Elementen der mystisch-avantgardistischen NewWave. So verfügt der Text über mehrere Passagen sogenannter info dumps, in denen die Funktionsweisen der Bio-Logik auf technisch-funktional anmutende Art und Weise erklärt werden. Dagegen konzentrieren sich weite Teile der restlichen Erzählung auf die Wahrnehmung einzelner Figuren, die bei dem Prozess ihrer physischen und psychischen Transformation begleitet werden. Dabei werden teils surreale, teils poetisch anmutende Bilder der Innenwelt der jeweiligen Charaktere gezeichnet, die vor allem die Empfindungen des Einzelnen während eines radikalen evolutionären Veränderungsprozesses beschreiben. So sind auch verschiedene Tagebucheintragungen, Notizen, Gedichte und Liedertexte in die Erzählung integriert, die eine direkte Anteil-
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nahme an den Erfahrungen der Protagonisten ermöglichen. Neben den stetig wechselnden Figuren kommen in mentalen Zwiegesprächen auch die Noozyten immer wieder zu Wort und fügen der Beschreibung der Transformation eine weitere, sehr fremdartige Sichtweise hinzu. Bears "Blutmusik" ist folglich ein sehr abwechslungsreicher und vielschichtiger Text, in dem verschiedene Facetten eines globalen Ereignisses beleuchtet werden.
Diskursive Inhalte Die Ausgangsposition von Bears apokalyptischem Szenario in "Blutmusik" gleicht vielen klassischen Science-Fiction-Erzählungen. In der Tradition einer hard SF Geschichte wird von einem übermütigen Wissenschaftler erzählt, der sich über jegliche Grenzen hinwegsetzt und das Unvorstellbare auslöst. Was Bears Geschichte jedoch von anderen unterscheidet, ist, dass er die künstlich ausgelöste Evolution, welche die Menschheit zu vernichten droht, nicht als etwas darstellt, was heimtückisch oder gar böse ist, sondern das sich lediglich aufgrund seiner Andersartigkeit zwar dem menschlichen Verstand entzieht, letztlich jedoch einen Fortschritt in der Entwicklungsgeschichte der Intelligenz darstellt. Durch eine derartige Kehrtwende bricht Bear radikal mit den klassischen Science-Fiction-Vorstellungen und erzählt eine Geschichte, die als ahumanistisch im Sinne der Cyberpunk-Bewegung zu verstehen ist. Entscheidendes Instrument ist bei Bear die moderne Molekularbiologie, mit der man in der Lage ist, Zellen auf Nanoebene zu manipulieren und zu verändern. Damit greift er wie andere Cyberpunk-Autoren auf aktuelle Tendenzen der zeitgenössischen Wissenschaft zurück, um deren Möglichkeiten in seinem Roman auszuloten. Die so geschaffenen Noozyten sind künstliche Lebewesen, die evolutionär allem anderen überlegen sind- nicht nur in ihrer Aggressivität und Anpassungsfahigkeit, sondern auch in ihrer Intelligenz. Schon bei der Wortwahl verweist Bear auf die Idee einer globalen Noosphäre, die von Teilhard de Chardin in den 1940er Jahren beschrieben wurde. Sehr explizit greift Bear demnach geisteswissenschaftliche Theorien auf, um sie in seiner Erzählung umzusetzen. Ebenso wie bei Vinge steht am Ende dieser posthumanen Evolution eine Transzendenz aller Intelligenz zu einer allumfassenden Bewusstseinsebene, die als größer als die Summe ihrer Teile postuliert wird. Greg Bear "Äon" Entstehung Nach "Blutmusik" erschien Ende 1985 mit " ..4"on" der zweite Roman von Greg Bear, der sich stark mit Cyberpunk-Thematiken beschäftigt. Wie bereits "Blutmusik" ist auch " ..4"on" eher der hard SF zuzurechen. Anders je-
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doch als in klassischen Werken, spielt hier nicht die Technik die vordergründige Rolle, sondern die sich aus Technik ergebenden sozialen und menschlichen Veränderungen. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entstanden, verarbeitet Bear in seinem Roman Konfrontationen der Supermächte, so dass die Erzählung stellenweise Elemente der militärischen Science Fiction beinhaltet. ,,lon" ist einer von Bears Beststellern und wurde in der Folge mit "Eternity" (1988, dt. Titel "Ewigkeit") und ,,Legacy" (1995) zu einer Trilogie ausgebaut.
Cyberpunk-Eiemente In ,,Aim" präsentiert Bear bei der Beschreibung der Zukunftsgesellschaft ein sehr reichhaltiges Bild an Cyberpunk-Technologien, die dem Leser eindrucksvoll und anschaulich vermittelt und erklärt werden. Dabei werden vor allem auch die Möglichkeiten der Alltagsanwendung dieser phantastischen Hochtechnologien beschrieben und es wird gezeigt, wie sich beispielsweise Wohnen, Mode, Kunst und öffentliches Leben durch diese gewandelt haben. Außerdem wird dargestellt, dass durch extreme Fortschritte der Bio- und Neurotechnik der menschliche Körper selbst sehr wandelbar geworden ist. In der Zukunftsgesellschaft gibt es neben den ,normalen' hornamorphen Menschen auch sogenannte Neomorphe, mit selbstkonstruierten Designerkörpern, die sich teilweise extrem von biologischen Körpern unterscheiden, die aber trotzdem gleichberechtigte Bürger sind. Ferner wird ein digitales Stadtgedächtnis gezeigt, das als computergenerierte Welt nicht nur als Speieher flir normale Daten verwendet wird, sondern etwa siebzig Millionen virtuellen, aber vollwertigen Bürgern als Lebensraum dient. Grundlage flir diese Digitalisierung sind Implantate, die Gedächtnis, Gefühle und Erfahrungen speichern und weitergeben können. In Bears Cyberspace tummeln sich überdies auch Hackerfiguren, die die Möglichkeiten der virtuellen Welt subversiv nutzen und gemeinhin als gefahrliehe Kriminelle gelten. Welt/Umwelt Bear beschreibt in ,,lon" eine sehr klassisch dargestellte Zukunft aus Sicht der 1980er Jahre, bei der zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion zu einem begrenzten atomaren Schlagabtausch geführt haben und schließlich wieder auf das ,normale' Niveau des Kalten Krieges gesunken sind. Im Orbit der Erde wird ein phantastisches Artefakt entdeckt, welches aus einem Paralleluniversum übergetreten ist und aus der menschlichen Zukunftswelt stammt. Bei dem Artefakt handelt es sich um einen ausgehöhlten Asteroiden, der in mehrere riesige Kammern aufgeteilt ist und der von der zukünftigen Menschheit als Raumschiff genutzt wurde. Die einzelnen Kammern enthalten verlassene Städte der Zukunftsgesellschaften, wobei jede
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nacheinander die Überreste einer anderen weiteren Entwicklungsphase der menschlichen Zivilisation beinhaltet, wodurch eine Reise durch die Kammern einer Geschichtsreise in die Zukunft gleichkommt. Die letzte Kammer ist jedoch größer als das Innere des Asteroiden und führt über eine physikalische Singularität zu der derzeitigen Stadt der Zukunftsgesellschaft Axis City, die neben zwanzig Millionen manifesten Bürgern noch siebzig Millionen virtuelle Bürger in ihrem Stadtgedächtnis beherbergt. Die Beschreibungen der verlassenen Städte und von Axis City sind mit die interessantesten Teile vom Bears Weltbeschreibung. Hier stellt der Autor das Leben und den Alltag verschiedener Zukunftsgesellschaften vor, die sich wesentlich von den zeitgenössischen Formen des menschlichen Zusammenlebens unterscheiden. Kennzeichnend für diese Gesellschaften ist die starke Durchdringung des Alltags mit fortschrittlichen Computersystemen und Künstlichen Intelligenzen, die einen großen Teil zum Funktionieren der futuristischen Techniken beitragen. Kraftfelder, Serviceroboter, intelligente Architektur und die komplette Infrastruktur der Kommunikation (inklusive einer piktographischen ,Sprache') werden erst durch diese ermöglicht und bringen die Forscher und Wissenschaftler des frühen 21. Jahrhunderts immer wieder zum Staunen.
Protagonist In ,,A"on" folgt der Leser keinem einzelnen, herausragenden Protagonisten, sondern einer Reihe von wichtigen Figuren, die kapitelweise von Anfang bis Ende des Romans begleitet werden. Diese Protagonisten sind im Prinzip prototypische Figuren, bei denen es sich bisweilen um bekannte Stereotype klassischer Science Fiction und Abenteuergeschichten handelt. So findet sich eine Reihe von Identifikationsfiguren für verschiedene Lesergruppen. Diese Typen werden im Verlauf des Romans nicht weiter durch spezielle Charakterisierung individualisiert, so dass der Identifikationsprozess ungestört bleibt. Im Einzelnen handelt es sich bei den Figuren um den russischen Militär Pavel Mirsky, den amerikanischen Expeditionsleiter Lanier, das latinostämmige Physikgenie Patricia Vasquez sowie den Agenten der Zukunftsstadt Olmy. Mit ihnen zeigt der Autor verschiedene Blickwinkel auf die Gesamtsituation und die einzelnen Ereignisse. Insgesamt geht Bear dabei wie in ,,Blutmusik" vor; es werden herausragende Persönlichkeiten an einflussreichen Stellen gezeigt. Inhalt Die Geschichte in ,,A"on" beginnt damit, dass kurz nach dem Jahr Zweitausend der Eintritt eines mysteriösen Asteroiden in die Erdumlaufbahn festgestellt wird. Schnell finden die zeitgenössischen Forscher heraus, dass sich
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im ausgehöhlten Innern verlassene Städte einer zukünftigen menschlichen Gesellschaft befinden, deren Bibliotheken eine faszinierende Zukunftsgeschichte erzählen und deren Artefakte eine geradezu phantastische technologische Überlegenheit präsentieren. In der Folge entbrennt zwischen den Machtblöcken der Erde ein Streit darüber, wie diese futuristischen Wunderwerke gerecht aufgeteilt und genutzt werden sollen, wodurch letztlich ein globaler Nuklearkrieg ausgelöst wird. Derweil versucht eine internationale Forschergruppe auf dem Asteroiden die Geheimnisse des Steins zu entschlüsseln und entdeckt dabei einen schier unendlichen Korridor, der über verschiedene Portale nicht nur zu außerirdischen Welten führt, sondern auch in die menschliche Zukunftsstadt Axis City. Die Lage in Axis City spitzt sich nach dem Eintreffen der zeitgenössischen Forscher zusehends zu, da die Zukunftsgesellschaft von einem mächtigen außerirdischen Gegner bedroht wird. Während ein Großteil der Bürger Axis Citys sich schließlich dazu entscheidet, den Korridor mit all seinen Möglichkeiten aufzugeben und stattdessen zur Erde zurückzukehren und dort beim Wiederaufbau zu helfen, macht sich eine Gruppe von zeitgenössischen und zukünftigen Menschen gemeinsam auf den Weg in die Weiten des Weltalls, um dort verschiedene Abenteuer zu bestehen und teilweise in das Stadium einer posthumanen Transzendenz einzutreten.
Form Literarisch stellt ,,A"on" solide Science-Fiction-Unterhaltung dar, die, wie bei Bear üblich, stark in Richtung hard SF geht. Die Abenteuer und Erlebnisse der Figuren werden dabei ausführlich geschildert, indem der Autor sich immer wieder Zeit nimmt, in längeren Passagen Hintergründe, Funktionsweisen oder Gedankengänge zu beschreiben. Obwohl Bear damit durchaus der Darstellung der Zukunftstechnologien und physikalischer Entwicklungen großen Raum gewährt, ist bemerkenswert, dass alles damit zusammenhängende schwer vorstellbar und diffus bleibt. Hier wird offenkundig, wie viel stärker Bear an den Auswirkungen dieser Phänomene und philosophischen Debatten darüber interessiert ist, sie er sehr viel nachvollziehbarer beschreibt. Diskursive Inhalte Trotz aller Elemente klassischer hard SF zeigt Bear in ,,A"on" die sozialen und ideologischen Auswirkungen der verwendeten Zukunftstechnologien. So thematisiert er, wie sich in der Zukunftsgesellschaft Axis Citys die Bürger und politischen Parteien durch ihre Sicht auf Techniknutzung unterscheiden. Obwohl moderne Hochtechnologien nur von den allerwenigsten komplett abgelehnt werden, gibt es verschiedene Fraktionen, deren Mitglieder sich darin unterscheiden, wie weit sie beispielsweise ihren Körper oder
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Geist mit Hilfe dieser Technologien optimieren bzw. ersetzen. Diese Differenzen stellt Bear aber nicht als unüberwindbare Konflikte dar, sondern als einen dynamischen Prozess einer multikulturellen und posthumanen Gesellschaft. Eindrucksvoll führt der Autor die Digitalisierung des menschlichen Geistes vor, welche beispielsweise die Überwindung des körperlichen Todes und das Leben in der virtuellen Realität des Stadtgedächtnisses ermöglicht. Ferner kann der menschliche Körper komplett modifiziert oder ausgetauscht werden, wobei die radikaleren Fortschrittsanhänger sich nicht mehr an die Beschränkungen ihres Geschlechtes oder irgendeiner Art von natürlicher Biologie halten (z.B. stellt Bear eine Person dar, die sich für einen Körper aus einer schwebenden Mineralkugel mit kybernetischen Armen entschieden hat). Gleichzeitig zeigt der Autor, dass diese Technologien nicht neutral sind, sondern in bester Cyberpunk-Manier einen Mentalitätswandel verursacht haben. So sind die posthumanen Mitglieder der Zukunftsgesellschaft sichtlich erstaunt über die ursprünglichen Gefühle und naiven Vorstellungen der unmodifizierten Menschen des 21. Jahrhunderts und die Begegnung zwischen beiden wird stellenweise als sehr fremdartig, aber doch freundschaftlich geschildert. Bemerkenswert ist bei Bears Entwurf, dass es sich bei der Zukunftsgesellschaft um ein ausgesprochen idealistisch-utopisches Modell handelt, in dem Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und sozialer Frieden herrschen.
John Shirley "Eclipse" Entstehung Bei dem Literaten und Punkmusiker John Shirley handelt es sich um die zentrale Figur der frühen Movement-Gruppe und er gilt bis heute als Katalysator der Cyberpunk-Bewegung. So war es auch Shirley, der William Gibson ,entdeckte' und diesen mit Sterling und Shiner bekannt machte. Überdies stand der ebenso charismatische wie ungesittete Anarchist bei den Convention-Auftritten der Movement-Gruppe stets in vorderster Front und sorgte dabei immer wieder für Aufsehen (und so manchen Eklat). Bis Mitte der 1980er Jahre veröffentlichte Shirley, der sich bereits seit seiner Schulzeit dem Schreiben gewidmet hatte, sechs Romane und vielzählige Kurzgeschichten - darunter unter anderem die mit Gibson verfasste Erzählung "The Belanging Kind" (1981, dt. Titel "Wahlverwandte"). Mit ,,Eclipse" erschien 1985 der erste kommerziell erfolgreiche Cyberpunk-Roman des Autors. ,,Eclipse" ist außerdem der erste Teil der ,,A Song Called Youth"- Trilogie. Im Gegensatz zu Sterling und Gibson war Shirley kein langfristiger Er-
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folg vergönnt und bis heute hat der Autor immer wieder Schwierigkeiten, Verleger für seine sehr eigenen Werke zu finden.
Cyberpunk-Eiemente Shirley beschreibt in "Eclipse" eine typische Cyberpunk-Zukunft, deren düstere Welt von Gewalt, Designerdrogen, kybernetischer Militärtechnologie und einer fortgeschrittenen, globalen Medienlandschaft (bezeichnet als Gitter) geprägt ist. Darüber hinaus hat der Autor einen besonderen Blick für die Alltagswelt und die subkultureilen Strömungen dieser Welt. So beschreibt er ausführlich den musikalischen Untergrund mit seinen verschiedenen Moden, Musikströmungen, Tanzstilen und anderen Markenzeichen, zu denen bisweilen auch eine enge technologische Verbundenheit mit neuartigen Cyberimplantaten gehört, welche gänzlich neue Kunstformen möglich machen. Ferner werden in ,,Eclipse" vielfältige Modifizierungen der Wahrnehmungsorgane gezeigt und subversive Nutzungsmöglichkeiten von Gedächtnisimplantaten und anderen Technologien dargestellt. Welt/Umwelt "Eclipse" ist im Jahre 2029 der vom noch andauernden 3. Weltkrieg zerrütteten Erde angesiedelt. Obwohl der atomare Schlagabtausch zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt sich auf einige taktische Ziele beschränkt hat, sind weite Teile Europas zerstört und die Städte weitgehend verlassen. Die USA wiederum sind nach einem erfolgreichen Terroranschlag auf ihr Bankensystem in eine wirtschaftliche und soziale Krise gestürzt. Diese Situation hat in den westlichen Ländern zu einer an Anarchie grenzenden, instabilen Lage geführt, die zum Aufkommen einer neuen gesellschaftlichen Strömung geführt hat. Die von der NATO beauftragte Second Alliance International Security Corporation (kurz SA) führt in Europa ein geradezu neonazistisches Regime ein und sorgt mit Gewalt und ihrer rassistischen, antikommunistischen und fundamentalistisch-christlich orientierten Ideologie für Recht und Ordnung. Gegen diese Organisation wehrt sich eine sogenannte New Resistance, welche aus dem Untergrund der Städte operiert und mit Guerillataktik gegen die totalitäre und menschenverachtende Herrschaft der SA kämpft. Während der episodenhaften Erzählung werden dabei verschiedene Schauplätze der Welt Shirleys vorgestellt und die Ereignisse führen den Leser in die Ruinen Amsterdams, hinauf zur Weltraumkolonie FirStep, hinab in die Unterwasserstadt Freezone, in das atomverseuchte Paris, in ein Disneyland für Reiche und in die Bürotürme eines allmächtigen Medienkonzerns der USA. Protagonist Die verschiedenen Schauplätze werden von vielen unterschiedlichen Charakteren bevölkert, denen Shirleys Geschichte abwechselnd folgt. Die bei-
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den zentralen Charaktere des Figurenensembles von "Eclipse" sind der anachronistische Musiker Rick Rickenharp und der melancholische Schriftsteller Jack Brendan Smoke. In den Wirren des beginnenden Krieges wurde der linke Autor Smoke in Amsterdam von der SA gefangen genommen und über Wochen hinweg gefoltert, bis er schließlich entkommen und sich in die Psychiatrie einweisen lassen konnte. Nachdem die Klinik zerstört worden war, wandelte der unter Amnesie leidende Smoke durch das entvölkerte Amsterdam, bis er schließlich von der New Resistance rekrutiert wurde. Bei Rick Rickenharp handelt es sich um einen gescheiterten Rockmusiker, der von einem Drogenrausch in den nächsten gleitet. Eher zufällig gerät er in den Dunstkreis der New Resistance und wird im Verlauf der Geschichte zu einem ihrer führenden Köpfe. Weitere wichtige Figuren sind die eigensinnige Claire Rimpler, die der Administration der FirStep Kolonie angehört und von dort aus ebenfalls Widerstand gegen die SA leistet, sowie der entschlossene John Stisky, der sich als Doppelagent in deninnerstenKreisen der SA bewegt und die New Resistance auf diesem Weg mit Informationen versorgt.
Inhalt In ,,Eclipse" wird in verschiedenen Erzählsträngen die Geschichte des Widerstandes gegen die faschistoiden Kräfte der SA beschrieben. Beginnend mit der Rekrutierung Smokes, werden nach und nach verschiedenste Charaktere vorgestellt und bei ihren Vorbereitungen und Aktionen gegen die SA begleitet. So werden die harten, verlustreichen Guerillakämpfe und Sabotageaktionen in Europa beschrieben, der sich nach und nach formierende Widerstand in der totalitären Weltraumkolonie sowie Stiskys Bemühungen, Einblicke in die Machtstrukturen und Strategien der SA zu gewinnen, indem er sich die Schwester des Führers und Oberkommandantin der SA - Ellen Mae Crandall - zur Geliebten macht. Nachdem Stisky als Spion enttarnt wird, gelingt es ihm kurz vor seiner eigenen Ermordung Ellen Mae zu töten. Daraufhin überstürzen sich die Ereignisse und das Buch endet mit einer groß angelegten Offensive der SA gegen die New Resistance, deren Ende trotz hoher Verluste offen bleibt. Man sieht hieran, dass "Eclipse" von vomeherein als Trilogie geplant war. Form John Shirley schafft es in "Eclipse", das Wesen und die Attitüde der Punkmusik-Bewegung als Hintergrund seiner Welt zu beschreiben. Wie in der Radikalität des Punk ist die Welt Shirleys in die Extreme gut und böse aufgespalten. So stehen auf der einen Seite eine Schar von außergewöhnlichen und exzentrischen Charakteren, die gegen eine staatliche Ordnung kämpfen, welche sich ausschließlich durch faschistische Unterdrückung und eine
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menschenverachtende Ideologie äußert. Auch das Setting ist von einer anarchistischen no future Mentalität geprägt, nämlich entvölkerten Städten, zerstörter Umwelt und dem Dritten Weltkrieg. In ihrer Form ist die Erzählung Shirleys dagegen weniger an der Punkästhetik orientiert. Stattdessen handelt es sich bei "Eclipse" eher um einen stilistisch konservativen Roman, in dem sich der Autor viel Zeit für detaillierte Beschreibungen der inneren und äußeren Wirklichkeit seiner Protagonisten nimmt. So werden das Aussehen der zerstörten Städte, politische Zusammenhänge und ideologische Positionen genauso ausführlich erläutert wie die psychischen Befindlichkeiten, Zweifel, Halluzinationen und Paranoia der einzelnen Charaktere. Die Schilderungen sind dabei sehr plastisch und trotz der komplexen Zusammenhänge stets gut nachvollziehbar. Zwar kommt die Erzählung dadurch stellenweise nur langsam voran und wirkt bisweilen etwas holprig, jedoch zeigt sich auch hier, dass es Shirley in seinem Roman besonders an seinem apokalyptischen Weltentwurf und deren spezifischen politischen Zuständen gelegen ist.
Diskursive Inhalte Dramaturgisch bewegt sich "Eclipse" weitgehend auf gewohnten Pfaden. Der geradezu apokalyptische Endkampf zwischen Gut und Böse erinnert an klassische Invasionsromane und militärische Science Fiction und wird hier als übersteigerter Konflikt zwischen progressiven und reaktionären sozialen Kräften verstanden. Auch die schonungslose Darstellung der Kämpfe, der tristen Alltagswelt der kriegszerrütteten Gesellschaft und der vielen Verluste der auf verschiedenen Ebenen geführten Auseinandersetzung unterstreichen das hehre und humanistische Ziel der New Resistance, für das kein Opfer zu groß ist. Besonders herausragend in Shirleys "Eclipse" ist die ausführliche und facettenreiche Darstellung von musikalischen und künstlerischen Subkulturen. Geradezu idealtypisch für die Ansprüche der Movement Bewegung konzentriert der sich Autor insbesondere auf den Alltag des Überlebenskampfes ,auf der Straße'. So beschreibt Shirley die subversive Nutzung neuer Technologien und deren Einbindung in subkulturelle Rituale, bei denen sich Sex, Drogen und Technik überschneiden. In diesen Darstellungen zeigt sich wiederum der radikale Bruch der Cyberpunk-Literatur mit der klassischen ScienceFiction und deren Hochglanzphantasien. Bruce Sterling "Schismatrix" Entstehung Nach ",nvolution Ocean" (1977, dt. Titel "Der Staubplanet") und "The Artificial Kid" (1980, dt. Titel "Video-Kid') erschien 1985 mit "Schismatrix"
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der dritte Science-Fiction-Roman von Bruce Sterling. Als Vorlage für den Weltentwurf von "Schismatrix" dienten die sogenannten Shaper/MechanistKurzgeschichten, mit denen der junge Autor seit Anfang der 1980er Jahre aufsich aufmerksam gemacht hatte (unter anderem mit der 1983 für den Nebula Award nominierten Kurzgeschichte "Swarm" (dt. Titel "Schwärmer") Mit "Schismatrix" legte Sterling, der wegen seines gesellschaftskritischen Engagements und seiner literarischen Inhalte als ein politisch linker Autor innerhalb der Science Fiction gilt, seinen ersten Cyberpunk-Roman vor. Es handelt sich bei "Schismatrix" um die erste Erzählung, die Sterling mit einem modernen Textverarbeitungsprogramm auf dem Computer schrieb. Dies war eine Erfahrung, die der Autor geradezu als Offenbarung wahrnahm, da so ausgefallene Text- und Sprachexperimente auf spielerische Art und Weise möglich wurden. 16 Zur Hochzeit der Cyberpunk-Bewegung veröffentlicht, leitete dieser Roman den kommerziellen Erfolg Sterlings ein.
Cyberpunk-Eiemente Sterling beschreibt in "Schismatrix" eme Wirklichkeit, in der die fortgeschrittenen Möglichkeiten der Bio-, Gen- und Cybertechnologie exzessiv genutzt werden und zu einem grundlegenden Bestandteil der Menschheit geworden sind. So verwenden die Shaper extreme Bio- und Gentechnologien, durch die sie ihre Körper flir das Leben im Weltall optimieren, Intelligenz mit übermenschlichem Potential züchten, ihre Körperchemie und das Immunsystem perfektionieren und atemberaubende Verjüngungskuren durchführen. Die Mechanists hingegen nutzen futuristische Cybertechnologien, um ihre menschlichen Körper mit kybernetischen Gliedmaßen und Wahrnehmungsorganen zu verstärken bzw. zu ersetzen. Durch derlei kybernetische und biotechnologische Modifizierungen hat sich die menschliche Rasse in Sterlings Roman derart verändert, dass sie sich in zwei widerstreitende Fraktionen mit unterschiedlichen Ideologien und Philosophien entwickelt hat. Welt/Umwelt Die Erzählung ist im 23. und 24. Jahrhundert angesiedelt und beschreibt eine Menschheit, die seit Anfang des 21. Jahrhunderts in die Weiten des Weltalls aufgebrochen ist und das Sonnensystem besiedelt hat. Die ideologischen und technologischen Differenzen der Menschheit haben sich dabei auch mit der Eroberung des Weltraumes fortgesetzt und zu einer Aufspaltung in separate Kulturen und unzählige poststaatliche Gebilde geführt. Hunderte J(]einst- und Mikronationen, Enklaven, künstliche Raumstationen, Weltraumstädte und Kolonien beherbergen eine unglaublich differenzierte 16 Vgl. STERLING, Bruce: ,,Introduction: The Circumsolar Frolics"; STERLING, Bruce: "Schismatrix Plus"; Ace Books, New York 1996, S. vi
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Vielzahl von verbündeten, neutralen oder feindlichen Sekten, Kulten, Philosophien, Parteien, Fraktionen und Organisationen, von denen im Laufe des Romans etliche vorgestellt werden. Die Gesamtheit der im Weltall lebenden Menschheit, die sich in immer neue Tochterrassen verzweigt hat und eine posthumane Evolution durchschreitet, bezeichnet Sterling als Schismatrix. Die Erde mit ihren unmodifizierten und technologisch rückständigen Menschen wird von der Schismatrix weitgehend ignoriert und ist quasi eine Sperrzone, zu der kein Kontakt besteht. In etwa der Mitte des Romans führt Sterling überdies eine individualistische, außerirdische Händlerrasse ein, deren Auftreten zwar den Krieg zwisehen den Shapern und Mechanists zum vorübergehenden Abklingen bringt, die aber ansonsten keine einschneidende Veränderungen für die Menschheit bringt. 17 Die künstlichen Weltraumsiedlungen sind -jeweils abhängig von der bevölkernden Fraktion- von futuristisch-kybernetischer Bauweise oder biotechnologisch-organisch gewachsen. Charakteristisch ist dabei, dass Sterling die Habitate nicht ausschließlich als technologische Wunderwerke darstellt, sondern immer wieder die fortgeschrittene Abnutzung, die Fehlerhaftigkeit und den Verfall der artifiziellen Umgehungen beschreibt.
Protagonist Bei dem Protagonisten Abelard Lindsay handelt es sich um einen Aristokraten einer abgewirtschafteten Hinterwäldlerkolonie, der eine Ausbildung zum Shaper-Diplomaten genossen hat. Durch verschiedene äußere Umstände, wie etwa politische Machtverschiebungen oder die Flucht vor einem alten Rivalen, der sich zum Diktator der Heimatwelt Lindsays aufgeschwungen hat, wird Lindsay nun häufig dazu gezwungen, sein etabliertes Leben aufzugeben und an wechselnden Aufenthaltsorten einen Neuanfang zu starten. Trotz seiner Suche nach Beständigkeit und Ruhe steht Lindsay immer wieder im Zentrum politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen und ist oft Auslöser flir rasante Veränderungen. Die vielen biographischen Brüche, die der Protagonist dabei erfahrt, zwingen ihn dazu, sich chamäleonartig immerfort in neue und unglaublich vielschichtige Welten und Gesellschaften einzufügen. Dabei ist Lindsay einem stetigen Lernprozess unterworfen und wandelt sich von einem vagabundierenden Einzelgänger zum geistigen Führer und Chefphilosophen einer neuen Menschheitsfraktion, die im Verlauf der Geschichte zunehmend an Einfluss in der Schismatrix gewinnt. Dabei überlebt Lindsay im Verlauf von knapp zweihundert Jahren eine Reihe von politischen Komplotten, Machtwechseln, Rivalen sowie Ehefrauen, Gelieb17 So finden keine Kolonisierungsversuche der Außerirdischen statt und es kommt zu keinen kriegerischen Handlungen, wie es in der klassischen Science Fiction oft der Fall ist.
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ten und Geschäftspartnern, was verdeutlicht, dass es sich bei dem Protagonisten um eine ausgesprochene Sonderrolle und Heldenfigur handelt. Mit ihr kann der Autor so eine Reihe von Gesellschaftssystemen und politischen Konflikten thematisieren, an deren Scheitern oder Erfolg Sterling immer wieder eigene philosophische Ansätze und Ideen beispielhaft aus- und vorführt.
Inhalt In "Schismatrix" folgt der Leser dem Lebensweg des Diplomaten Lindsay, der zu Beginn der Erzählung als Radikaler aus seiner Heimatkolonie verstoßen wird. In der Folge versucht Lindsay, in der aus unzähligen Fraktionen, Nationen und Mikrostaaten bestehenden Schismatrix sein Glück und eine neue Heimat zu finden. Durch äußere Einflüsse kommt es jedoch immer wieder zu einschneidenden Veränderungen in den jeweiligen Zufluchtsorten, worauf wiederholt ein Aufbruch in das Sonnensystem und ein Neubeginn an einem anderen Ort folgt. Zeitweilige Domizile Lindsays sind lunare Weltraumstationen, mobile Mikrostaaten, ausgehöhlte Asteroiden, außerirdische Raumschiffe und andere künstliche Raumstationen. Dabei haben Lindsays Handlungen an den verschiedenen Orten häufig weitreichende Folgen und er beeinflusst - teils beabsichtigt, teils ungewollt - den Verlauf der ganzen Menschheitsgeschichte. Schließlich findet Lindsay sein Ziel darin, als geistiger Führer die Fraktion der Terraform-Kluster zur Besiedelung planetarer Körper zu führen. So erlebt er am Ende des Romans den Aufbruch zur Erschließung des Jupitermondes Europa durch seine genetisch modifizierten Anhänger, er selbst jedoch stirbt körperlich und bricht als transzendentaler Geist mit einer außerirdischen Präsenz in die Weiten des Weltalls auf. Form Die narrative Struktur von Sterlings Roman erscheint als literarisches Äquivalent eines Roadmovie, wobei die Erzählung jedoch auch wesentliche Elemente des klassischen Bildungsromans beinhaltet. Dabei versteht es Sterling geschickt, seine eigenen Ideen über Gesellschaft und Philosophie in den Fluss der Erzählung einzubauen, wobei er mal seinen Bildungs- und Wissensvorsprung als auktorialer Erzähler geltend macht und dann wieder den Protagonisten Standpunkte erläutern bzw. einnehmen lässt. Der Schreibstil Sterlings, der stark von der wissenschaftlichen Prosa des russischen Physikchemikers und Philosophen Ilya Prigogine beeinflusst ist, zeichnet sich durch einen geradezu sinnlich anmutenden wissenschaftlichen Jargon aus. 1s Über seine poetischen Technikextrapolationen hinaus hat Sterling auch viele der wissenschaftlichen Begrifflichkeiten Prigogines über18 Vgl. STERLING, Bruce: ",ntroduction: The Circumsolar Frolics": a.a.O; S. vii
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nommen und als Grundlage eigener WOrtneuschöpfungen verwendet. So ziehen sich durch den Text vielfältige Neologismen aus den Bereichen der Genetik, Biowissenschaft und Kybernetik, die gleichermaßen authentisch und wunderlich wirken. Im Gegensatz zu den oft detailliert erläuterten wissenschaftlichen Neuerungen ist die Erzählung selbst auffallend komprimiert geschrieben und immer wieder werden große Zeitsprünge und radikale Brüche vollzogen. Hier zeigt sich, dass es dem Autor weniger daran gelegen war, eine stringente Geschichte mit klassischem Handlungsbogen zu erzähJen, als vielmehr eine ausschnitthafte Darstellung verschiedener Gesellschaften und Kulturen zu erzeugen, anhand deren er philosophische und politische Konzepte vorstellt und ausprobiert.
Diskursive Inhalte Mehr als die meisten anderen Cyberpunk-Autoren interessiert sich Sterling für die Möglichkeiten und Auswirkungen fortgeschrittener Bio- und Gentechnologien. Ein zentraler Punkt Sterlings ist in diesem Zusammenhang die Reflexion darüber, wie das Verschmelzen des menschlichen Bewusstseins und Körpers mit Technologien das Menschsein selbst verändert. Dabei thematisiert der Autor anhand der Fraktionen von genetisch optimierten Shapern und den kybernetisch modifizierten Mechanists, dass nicht nur die Technik an sich, sondern die jeweils spezifische Art und Beschaffenheit der Technologie das Menschheitsverständnis radikal prägen und zu völlig unterschiedlichen Formen der Geisteshaltung und Philosophie führen. Anhand dieses Motivs entwirft Sterling verschiedene posthumane Entwicklungen, die durch derartige technologische Neuerungen ausgelöst werden. Sterlings Werk zeichnet sich durch einen radikalen Ahumanismus im Sinne der Cyberpunk-Bewegung aus, da er wiederholt thematisiert, dass es in einem ,feindlichen' Universum keinen Platz für menschliche Moral- und Glücksvorstellungen gibt, sondern dass das Fortdauern und Leben an sich die höchsten Werte darstellen. Dabei stellt er unter anderem den vermeintlichen Vorteil der Intelligenz in Frage und beschreibt evolutionäre Prozesse, in denen das Leben gerade durch den Rückgang der Intelligenz und der Individualität zugunsten insektenähnlicher Staatenbildung erhalten bleibt und voranschreitet 19 George Alec Effinger "Am Ende der Schwere" Entstehung Zum Zeitpunkt der Entstehung der vorliegenden Arbeit handelt es sich bei George Alec Effinger um den bisher einzigen Cyberpunk-Autoren, derbereits verstorben ist. Grund für den frühen Tod des Autors war eine Iebens19 Vgl. hierzu insbesondere die Kurzgeschichte "Swarm".
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lange Tumorerkrankung, die auch immer wieder lange Krankenhausaufenthalte nötig machte. Eine ganze Reihe der Romane Effingers entstanden daher im Krankenbett und nicht wenige Erzählungen wurden hauptsächlich aus der Not heraus geschrieben, die vielen teuren Arztrechnungen begleichen zu müssen. Wegen seiner schmerzhaften Erkrankung litt Effinger überdies unter Medikamentensucht und verlor durch die damit einhergehenden Nebenwirkungen im Alter von ca. vierzig Jahren den Großteil seines Hörvermögens. 1970 nahm Effinger am renommierten Clarion Workshop teil, bei dem in den folgenden Jahren auch viele Cyberpunk-Autoren ihr Handwerk lernten. Effinger konnte von Anfang der 1970er bis Anfang der 1980er eine Vielzahl an Kurzgeschichten sowie einige Romane veröffentlichen, denen zwar der kommerzielle Erfolg verwehrt blieb, die jedoch bei Autorenkollegen großen Anklang fanden. Vor allem Darnon Knight und Harlan Ellison sahen in Effinger ein Naturtalent und protegierten ihn im Folgenden. Erst mit ,,Das Ende der Schwere" war dem Autor 1986 der große Durchbruch vergönnt. Es folgten zwei weitere Bände, so dass eine Trilogie um den Privatdetektiv Marid Audran entstand. Ein viertes Buch blieb durch den frühen Tod Effingers 2002 unvollendet.
Cyberpunk-Eiemente Effingers "Das Ende der Schwere" verfügt über eine breite Palette typischer Cyberpunk-Elemente. So beschreibt der Autor eine hochgradig fragmentierte und postmoderne Welt, in welcher Körpermodifizierungen, Konsum von Designerdrogen und Mensch-Maschine-Interface allgegenwärtig sind. Außerdem haben fortgeschrittene technologische und pharmazeutische Möglichkeiten dazu geführt, dass es vielfältige Variationen im Bereich der Geschlechtsumwandlung gibt und so eine ungeahnte Vielzahl an verschiedenen und oftmals uneindeutigen Geschlechtern und sexuellen Orientierungen entstanden ist. Durch die Nutzung moderner Cybertechnologien sind in Effingers Roman auch Identität und Persönlichkeit nicht mehr festgelegt, sondern durch einsteckbare Persönlichkeitsmodule und -programme - sogenannte Moddys und Add-Ons -jederzeit austauschbar. So kann der Nutzer sich nicht nur je nach Bedarf bestimmte Fähigkeiten einspeisen lassen (z.B. Sprachen, Wissen, Kampffertigkeiten), sondern auch verschiedenste reale oder fiktive Identitäten annehmen. Die Nutzung derartiger Persönlichkeitsprogramme ermöglicht es ferner, die Körperfunktionen des Nutzers komplett zu kontrollieren, so dass dieser - von jeglichen menschlichen Bedürfnissen befreit die Effizienz einer Maschine annehmen kann. Überdies gibt es sogenannte Schwarzmarkt-Moddys, wie etwa von Jack the Ripperund anderen dubiosen
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Persönlichkeiten, die jedoch die eigenen Identität zunehmend verdrängen und den Nutzer daher nicht selten in den Wahnsinn treiben.
Welt/Umwelt Die in "Das Ende der Schwere" erzählte Geschichte spielt im ausgehenden 22. Jahrhundert und ist in der muslimischen Welt Arabiens angesiedelt. Der Orient ist in Effingers Welt zur ökonomischen und politischen Weltmacht aufgestiegen, während Europa, die USA und die Sowjetunion durch Erschöpfung der natürlichen Ressourcen in Dutzende kleine Monarchien und Diktaturen zerfallen sind (es gibt unter anderem eine Volksrepublik Lothringen, sowie ein 4. Reich in Deutschland). Auch in der islamischen Zukunftswelt Effingers gibt es vielfältige Spannungen zwischen den verschiedenen Fraktionen fanatisch-religiöser und fortschrittlich-moderner Araber. Der größte Teil der Geschichte spielt in dem fiktiven Milieu des Budayeen, dem Rotlicht- Viertel einer ungenannten arabischen Stadt, das von Prostitution, Drogen, korrupter Polizei und mafiösen Strukturen geprägt ist. Zwar ist Effingers Welt weitgehend ,klassisch' arabisch- es gibt Bazare, Beduinenzelte, nahöstliche Höflichkeitsfloskeln und islamische Feiertage -, aber dennoch wird eine sehr moderne und multikulturelle Gesellschaft gezeigt. Die kybernetischen Persönlichkeitsmodule sind weitverbreitet und Geschlechtsumwandlungen haben die klassischen Geschlechterrollen aufgeweicht. Protagonist Der Protagonist Marid Audran ist Algerier und stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Die Mutter Audrans war Prostituierte und er selbst ist als Kleinkrimineller im Rotlichtmilieu tätig. Dabei legt Audran größten Wert auf seine Unabhängigkeit, was sich sowohl in seiner Weigerung äußert, sich einem der organisierten Verbrechersyndikate anzuschließen, als auch in der Ablehnung jeglicher kybernetischer Modifikationen. Zwar wird Audran wegen seiner algerischen Herkunft in der arabischen Umgebung immer ein wenig abschätzig behandelt, aber er kann seine soziale Außenseiterrolle mit charmantem und selbstbewusstem Auftreten kompensieren. Diese Charakterzüge helfen ihm auch bei seiner Tätigkeit als Privatdetektiv, da er mit dem Budayeen vertraut ist und viele der Einwohner und wichtigen Personen persönlich kennt. Als zäher Einzelgänger und mit seinen sehr eigenen Moralvorstellungen stellt Marid Audran eine geradezu archetypische hard-boiled Krimi-Figur dar, die im Verlauf der Handlung erkennen muss, dass er sich auf niemanden verlassen kann. Inhalt In ,,Das Ende der Schwere" wird Marid Audran als Privatdetektiv dazu angeheuert, einen Serienkiller im Rotlichtmilieu aufzuspüren. In Audrans Bei-
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sein wird sein neuer Klient, der ihm soeben diesen Auftrag erteilt hat, von einer Person mit einem James-Bond-Persönlichkeitsmodul erschossen. Nachdem bald darauf auch in seinem Freundeskreis mehrere Morde geschehen, die auf den James-Bond-Charakter zurückzuführen sind, siehtAudran sich gezwungen, dem Fall auch ohne Auftraggeber weiter nachzugehen. Es beginnt eine verwirrende und komplexe Ermittlung, in deren Verlauf es zu verschiedenen Entführungen, Erpressungen und weiteren Morden kommt. Nach und nach kommt der Protagonist dahinter, dass zwei internationale Verbrechersyndikate in das Geschehen verwickelt sind. Um seiner gefährlichen Aufgabe besser nachkommen zu können, sieht Audran sich letztlich dazu gezwungen, seine Vorbehalte gegen Persönlichkeitsmodule abzulegen und sich ein Interface in seinen Schädel operieren zu lassen. Bald darauf gelingt es ihm, den Mörder mit dem James Bond Moddy zu fassen, allerdings muss er feststellen, dass es noch einen weiteren Mörder gibt. Gegen Ende des Romans kommt Audran dahinter, dass die rechte Hand des obersten Verbrecherbosses aus dem Budayeen für einen Teil der Morde verantwortlich ist. Nachdem er jenen auf grausame Art tötet, wird er als Ausgleich dazu genötigt, zukünftig als Verbindungsmann zwischen der Polizei und der Verbrecherwelt zu arbeiten. So verliert Audran am Ende des Romans seine Unabhängigkeit und viele seiner Freunde kehren sich von ihm ab. Gezwungenermaßen findet der Protagonist sich mit seinem Schicksal ab, wobei er hofft, so zumindest seine Freunde in Zukunft vor Gefahren schützen zu können.
Form George Alec Effinger galt als einer der literarisch versiertesten Science-Fiction-Autoren. Mit "Das Ende der Schwere" schrieb er eine stilistisch anspruchsvolle hard-boiled Krimi-Erzählung, die er nicht nur gekonnt in die exotische Welt einer nahöstlichen Metropole, sondern auch in ein futuristisches Arabien des 22. Jahrhunderts versetzte. Die Welt des Budayeen erwacht durch Effingers sehr plastische Erzählweise und pointierte Sprache zum Leben, welche sich durch Unmittelbarkeit und Konzentration auf das Wesentliche auszeichnet. Abgerundet wird "Das Ende der Schwere" durch den Humor seiner Hauptfigur Audran, der die Gewalt und Umgangsformen der islamischen Unterwelt sehr trocken kommentiert. Der Roman ist sehr dialoglastig, schweift nie ab und enthält auch keine Science Fiction-typischen info dumps zum Hintergrund der Zukunftswelt Obwohl es sich um eine Ich-Erzählung des Protagonisten handelt, bleibt dessen Innenwelt weitgehend außen vor und der Autor teilt nur die oberflächlichen Gedankengänge und Eindrücke Audrans mit.
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Diskursive Inhalte Effinger beschreibt in "Das Ende der Schwere" eine postmoderne Wirklichkeit, die von Uneindeutigkeiten in allen Bereichen bestimmt ist. Die extensive Nutzung von plastischer Schönheitschirurgie und pharmazeutischem Körperdesign haben den Geschlechtsbegriff der Modeme gänzlich implodieren lassen und stattdessen eine verwirrende Vielfalt an völlig neuen und oftmals oszillierenden Geschlechtsidentitäten geschaffen. Auch die Austauschbarkeit der Persönlichkeit durch entsprechende Programme hat zu einer Fragmentierung geführt, in welcher weder das eigene Selbst noch die ldentität der anderen eine zuverlässige oder gar feste Größe darstellen. "Das Ende der Schwere" ist bevölkert von einem Figurenensemble, das in einer düsteren ,der Mensch ist des Menschen Wolf'-Welt lebt. Auch der Protagonist ist eher eine Antiheldenfigur. Au dran hat nur wenige moralische Prinzipien, die er jedoch bei Gelegenheit und unter Druck schnell aufgibt und immer auf seinen eigenen Vorteil hin handelt. Gewalt, Drogen und Betrug prägen den Alltag in Effingers Erzählung, die die amoralischen Verstrickungen klassischer detective noir Romane mit den kybernetischen Accessoires moderner Science Fiction verbindet. Walter Jon Williams "Hardware" Entstehung Walter Jon Williams veröffentlichte "Hardware" 1986 als seinen dritten Roman. Beeinflusst wurde diese Erzählung durch den Austausch mit seinem Freund Lewis Shiner, ferner zählte Williams auch andere Science-FictionAutoren aus Austin wie Bruce Sterling, Howard Waldrop und Chad Oliver zu seinen Bekannten. Er kannte daher die Movement-Gruppe und das "Cheap Truth" Magazin, war jedoch nicht aktiv daran beteiligt. "Hardware" entstand in den Jahren 1983 und 1984 und wurde zum größten Teil vor der Veröffentlichung von Gibsous "Neuromancer" geschrieben, jedoch aufgrund von verlegerischen Entscheidungen erst 1986 publiziert. Als stilistisehe Einflüsse nennt Williams unter anderem die Texte von Thomas Pynchon, Roger Zelazny, Alfred Bester, Dashiell Harnmett und Raymond Chandler. 20 Cyberpunk-Eiemente Walter Jon Williams ,,Hardware" ist vermutlich der Roman, der neben Werken von Gibsan und Sterling inhaltlich über die meisten Cyberpunk-Elemente verfügt. So zeigt der Autor eine geradezu klassische dark future, die geprägt ist durch anarchische Zustände in aufgelösten Nationalstaaten, die 20 Diese Informationen wurden Emailkorrespondenzen mit Williams entnommen, die im Rahmen der vorliegenden Dissertation geführt wurden.
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nach einem Krieg mit mächtigen und technologisch überlegenen Großkonzernen im Orbit zusammengebrochen sind. In dieser Welt beschreibt der Autor eine Vielzahl von fast schon stereotypen Cyberpunk-Figuren; so begegnen dem Leser im Verlaufe des Romans schmierige Verbrecherbosse, idealistische Söldner, gewissenlose Auftragskiller, drogenabhängige Verlierertypen, Cyberfreaks, terroristische Subkulturen, skrupellose Konzernmitarbeiter und transsexuelle Prinzessinnen. Ausstaffiert ist diese Welt ferner mit unzähligen Cyberpunk-Technologien und -Requisiten, deren Funktionsweisen so gut wie nie erläutert werden. Dazu zählen beispielsweise das typisehe Mensch-Maschine-Interface über implantierte Buchsen im Schädel, Designer-Körper und kybernetische Gliedmaßen, Sinnesorgane und Waffensysteme, allgegenwärtige Drogen und futuristische Punk-Mode, Laserwaffen und Künstliche Intelligenzen.
Welt/Umwelt Die in ,,Hardware" erzählte Geschichte ist am Ende des 21. Jahrhunderts angesiedelt und beschreibt eine Erde, deren Umwelt kollabiert ist und deren Rohstoffe weitgehend erschöpft sind. Die Handlung spielt größtenteils in Wüstengebieten zwischen New Mexico und Texas, in welchen wegen Wasserknappheit häufig Kriege und bewaffnete Aufstände stattfinden. In den Küstengebieten der inzwischen balkanisierten USA ist das Wasser dagegen angestiegen und Städte wie New York sind weitgehend unbewohnbar- mit Ausnahme von einzelnen Siedlungen, die Gesetzlosen, kriminellen Vereinigungen und den Verlierern dieser Gesellschaft als Zuhause dienen. Jenseits der von technologischem Verfall geprägten Erde sind riesige Orbitalstationen entstanden, die von mächtigen Konzernen kontrolliert werden. Nach einem verheerenden Krieg gegen die Nationalstaaten der Erde sind diese Orbitals politisch wie auch ökonomisch von der Erde unabhängig und haben aufgrundihrer technologischen Überlegenheit immense Reichtümer angehäuft. Auf der Erde träumt praktisch jeder davon, irgendwie an das notwendige Vermögen zu kommen, um sich eine Migration in das angenehme Leben im Orbit leisten zu können. Protagonist Die Handlung von Williams' "Hardware" folgt jeweils abwechselnd zwei verschiedenen Protagonisten. Einer dieser Protagonisten ist die Auftragskillerin und ehemalige Prostituierte Sarah. Um für ihre teilweise sehr gefährliche Arbeit ausgerüstet zu sein, hat sich Sarah eine kybernetische Schlange implantieren lassen, die bei Bedarf aus ihrem Mund hervorschießt und als tödliche Waffe eingesetzt werden kann. Das große Ziel Sarahs ist es, genügend Geld zusammen zu bekommen, um mit ihrem drogenabhängigen Bruder in den Orbit auswandern zu können und dort ein besseres Leben zu be-
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ginnen. Bei Sarah handelt es sich um eine sehr zerrissene und gebrochene Figur mit einer Biographie, die von Schmerzen und Leiden geprägt ist. Die Protagonistin hebt sich von den anderen Charakteren in Willams Roman vor allem dadurch ab, dass sie als Einzige wirklich liebt und aus der Liebe zu ihrem Bruder handelt. So ist ihr verrohter und treuloser Bruder auch die einzige Person, zu dem Sarah während der gesamten Erzählung loyal und ehrlich bleibt - selbst wenn sie dafür eigene Verbündete und Freunde verraten muss. Der zweite Protagonist ist der ehemalige Militärpilot Cowboy, der als sechzehnjähriger Ranchjunge seinem Vater abgekauft und zum Flieger ausgebildet wurde. Nach dem verlorenen Krieg gegen die Orbitals ist Cowboy zu einem Privateer geworden- einem Panzerkurier, der verbotene Technolagien oder rare Orbitalwaren durch die von Grenzen (und damit auch Zollgrenzen) durchzogenen ehemaligen USA schmuggelt. Er ist cybertechnisch modifiziert und kann Fahrzeuge durch ein Interface in seinem Schädel direkt steuern, außerdem hat er kybernetische Augen mit vielfältigen Funktionen und seine Nerven wurden so aufgerüstet, dass er blitzschnelle Reflexe hat. Anders als Sarah ist Cowboy ein Idealist, der von einem tiefen Mitgefühl für seine Freunde und Verbündeten geprägt ist und dem nichts über seine Freiheit geht. Bei seiner Arbeit wird Cowboy von einer Leidenschaft getrieben, in deren Zentrum die Hingabe zu dem kühlen Metall und der Schnelligkeit seiner Fahrgeräte steht. Bei beiden Protagonisten handelt es sich um archetypische Cyberpunk-Heldenfiguren, die in ihrer Entfremdung und Melancholie repräsentativ für ihre zerrissene Welt sind.
Inhalt In ,,Hardware" wird die Geschichte der beiden Söldner Cowboy und Sarah erzählt, die in eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Drittmännern der Orbitals auf der Erde geraten. Die Wege der beiden Protagonisten kreuzen sich, nachdem Cowboy bei einer Kurierfahrt in ein Gefecht gerät und dabei eine wertvolle Lieferung eines orbitalen Pharmaunternehmens zerstört. Sarah, die selbst einen Mordanschlag ihres vorherigen Auftraggebers nur lmapp überlebt hat, wird daher als Leibwächterin für Cowboy angeheuert. Die beiden geraten im Folgenden mehrfach in das Visier von verschiedenen Verfolgern, müssen fliehen und sich verstecken. Nach und nach finden die beiden heraus, welcher Konzern und welche Drittmänner hinter ihren Verfolgern stecken. Gemeinsam mit verbündeten Fliegern, Panzerfahrern sowie dem Kinderschänder und ehemaligen Pharmakonzernvorstand Roon beginnen sie eine Gegenoffensive vorzubereiten, deren Ziel es ist, den feindlichen Pharmakonzern zu schwächen und damit die Erde wieder zu stärken. Dazu werden Lieferungen auf der Erde sabotiert, angegriffen und zerstört. Unterstützt werden Cowboy und Sarah bei ihren Aktionen von dem
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ehemaligen Militärpiloten Reno, dessen Bewusstsein sich kurz vor seinem Tod in das öffentliche Datennetz retten konnte. In einem gewaltigen Showdown gelingt es Cowboy und Sarah, die Einheiten des feindlichen Pharmakonzeros zu vernichten, worauf die Aktien des Konzerns dermaßen an Wert verlieren, dass das Unternehmen praktisch bankrott geht. Gleichzeitig gelingt es Reno, sein Bewusstsein in das mit einem Kristallcomputer modifizierte Gehirn von Roon einzuschreiben, die Persönlichkeit des skrupellosen Geschäftsmannes zu löschen und in dem fremden Körper mit seiner eigenen Identität weiter zu leben. Am Ende des Romans wird in Aussicht gestellt, dass Cowboy, Sarah und ihre Verbündeten so lange weiterkämpfen werden, bis die USA nicht mehr balkanisiert sein werden, die Schwarzmärkte verschwinden und die Erde wieder zu einem lebenswerten Ort geworden ist.
Form Die an einen Wirtschaftsthriller erinnernde Geschichte von Williams ist in mehrere Episoden unterteilt, in deren Abschnitten meist ohne weitere Erläuterung und sehr unmittelbar eingestiegen wird. Die Erzählung wird zudem gelegentlich von Rückblicken der Figuren unterbrochen, die dem Leser einen Einblick in den Hintergrund des Geschehens gewähren. Dabei ist ,,Hardware" äußerst dialoglastig und durchgehend im Präsens gehalten. Insgesamt handelt es sich bei dem Roman um eine sehr dichte und temporeiche Erzählung, so dass sich das inhaltliche Motiv der Geschwindigkeit und des In-Bewegung-Bleibens auch im literarischen Stil fortsetzt. Immer wieder wird der Verlauf der Geschichte von Nachrichteneinblendungen und Webeslogans in Blockbuchstaben unterbrochen, wodurch der Leser mit der Allgegenwärtigkeit der Medien konfrontiert wird. Dabei werden- wie so oft in Cyberpunk-Erzählungen- vielfach reale Firmennamen verwendet, wobei der Autor offensichtlich kein Problem damit hat, Pharmauntemehmen wie z.B. Pfizer als zutiefst amoralisch und menschenfeindlich darzustellen. Obwohl Williams' Schreibstil selbst eher schnörkellos ist, verfügt ,,Hardware" über eine ästhetisch gestaltete Bildersprache, die augenscheinlich an den Film Noir angelehnt ist. So werden beispielsweise immer wieder einzelne Szenen und Umgebungseindrücke aus Cowboys Perspektive in Monochromfarben beschrieben, da dies der beliebteste Cyberaugen-Modus des Protagonisten ist. Dieses literarische Äquivalent zur filmischen HellDunkel-Zeichnung setzt sich überdies in der sehr stereotypen SchwarzWeiß-Charakterzeichnung der Nebenfiguren fort, die oftmals an klassische hard-boiled Charaktere erinnern.
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Diskursive Inhalte Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei "Hardware" um einen Roman der über vielfältige Cyberpunk-Elemente verfügt. Bei gerrauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass "Hardware" vor allen Dingen an der Oberfläche ein Cyberpunk-Roman ist. So spielen kybernetische Gliedmaßen und Sinnesorgane eine wichtige Rolle für die Protagonisten, doch der Autor geht nicht so weit, dass diese Integrierung von modernster Technik in den Körper irgendwelche Auswirkungen auf die Mentalität der Figuren habe. So leben die kybernetisch modifizierten Menschen auch nicht im Verbund mit ihrer Technik, sondern behalten klar die Kontrolle über ihr Ich und ihre Menschsein. Dennoch ist der Roman in der Darstellung und dem Erfindungsreichtum von Cybertechnik prägend für spätere Werke. Auch bei dem typischen Cyberpunk-Element einer balkanisierten Erde in deren Gesellschaft und Städten chaotische Zustände herrschen, geht Williams nicht so weit, dass er dies als neue postmoderne Realität darstellt, sondern für ihn sind diese Auflösungserscheinungen nur eine Phase, nach der Ordnung und Gesetz wieder hergestellt werden können. Daher handelt es sich auch bei den beschriebenen Charakteren nur vordergründig um stereotype Cyberpunk-Charaktere, tatsächlich sind es jedoch moderne Figuren in einer vorübergehend postmodernen Welt. Pat Cadigan "Bewußtseinsspiele" Entstehung Bereits in den frühen 1980er Jahren kam die Herausgeberirr des semi-professionellen Science-Fiction-Magazins "Shayol" Pat Cadigan mit der Movement-Gruppe in Kontakt und trat in der Folge zusammen mit Sterling, Shiner, Rucker und Shirley als Vertreterirr der Cyberpunk-Science-Fiction auf verschiedenen Conventions auf. Nachdem Cadigan in den 1980er Jahren mehrere Kurzgeschichten publiziert hatte, erschien 1987 ihr erster Roman "Bewußtseinsspiele". Der Roman gewann im gleichen Jahr den Arthur C. Clarke Award und die charismatische Cadigan wurde zur dem weiblichen Aushängeschild der Movement-Gruppe. Cyberpunk-Eiemente Zentraler Topos von Cadigans Roman ist die Manipulation des Bewusstseins durch technische Mittel. In "Bewußtseinsspiele" wird die Technik des Mindplays beschrieben, über welche es möglich ist, sich von Person zu Person in das Zentralnervensystem einzuklinken. Mittels einer sogenannten Narrenkappe (im Original: mapcap) wird ein Weg über den Sehnerv in das Gehirn geöffnet, um dort dauerhafte oder vorübergehende Veränderungen an der Persönlichkeit vorzunehmen. So ist es in der Welt von "Bewußt-
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seinsspiele" üblich, sich Neurosen oder Psychosen zu Unterhaltungszwecken einzuspielen oder sogar langfristig die eigene Persönlichkeit durch eine käufliche Modeidentität zu ersetzen. Darüber hinaus gibt es einen florierenden Markt illegaler Mindplays, die beispielsweise gestohlene oder schadhafte Persönlichkeitsfragmente enthalten und oftmals nicht ganz ungefährlich für den Nutzer sind. Ferner können die Möglichkeiten des Mindplays zu professionellen und therapeutischen Zwecken genutzt werden. So stellen sich beispielsweise ausgebildete Spezialisten zur Verfügung, um sich in das Bewusstsein ihres jeweiligen Klienten zu begeben und dort kreative Potentiale aufzuspüren und zu stimulieren oder bei der Integration abgespaltener Persönlichkeitsanteile zu helfen. Neben dieser neurologisch-digitalen Technik, die einen großen Raum in Cadigans Roman einnimmt, finden sich in "Bewußtseinsspiele" auch noch vielfältige weitere Cyberpunk-Requisiten wie Hologramme, vom Körper losgelöste Persönlichkeiten, kybernetische Körperteile und synthetische Drogen, die jedoch kaum weiter erläutert werden und damit etwas in den Hintergrund geraten. Welt/Umwelt Cadigans ,,Bewußtseinsspiele" spielt in verschiedenen amerikanischen Städten des beginnenden 21. Jahrhundert, wobei präzisere Zeit- und Ortsangaben kaum gemacht werden. Auch auf die politische und wirtschaftliche Weltordnung wird nicht genauer eingegangen, die einzigen staatliche Organe, die zumindest kurz skizziert werden, sind das Amt für Bewusstseinsspiele und die sogenannte Gehirnpolizei. Bei beiden Organisationen handelt es sich um ethisch ausgerichtete und betont menschenfreundliche Institutionen, die dafür Sorge tragen, dass niemand durch illegale Mindplays zu Schaden kommt und dass junge Bewusstseinskriminelle in die Gesellschaft resozialisiert werden. Das Augenmerk bei Cadigans Weltentwurf liegt auf der Beschreibung einer mannigfaltigen Freizeit- und Mediengesellschaft, die von dem Konsum und durch die Nutzung von Mindplays geprägt ist. So wird das Straßenbild von trickreichen Werbearrangements, Hologrammshows, von aktuellen Medienstars und Franchise-Persönlichkeiten, Neurosenhändlern und Persönlichkeitsfilialen geprägt, welche sich gänzlich auf den allgegenwärtigen Bedarf nach immer neuen und noch skurrileren Bewusstseinsspielen eingestellt haben. Ebenso kurzlebig wie viele der Modebewusstseinsprogramme ist auch das restliche Dasein in "Bewusstseinsspiele". Folglich wird in dieser auf immateriellen Besitz und mentales Vergnügen ausgerichteten Welt kaum etwas auf Dauer erworben, sondern es werden stets zeitweilige Lizenzen für z.B. Wohnungen, kybernetische Körperteile oder eben künstlich generierte Persönlichkeiten erworben.
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Protagonist Die Protagonistin in "Bewußtseinsspiele" ist die junge Alexandra Victoria Haas (genannt Allie), von der der Leser zunächst ebenso wenig wie über den sozialen und politischen Hintergrund der Welt erfährt. Die Tatsache, dass sich die Eltern der Protagonistin noch während ihrer Kindheit dazu entschieden haben, ihre eigenen Identitäten zugunsten von Franchise-Persönlichkeiten aufzugeben und Allie daher bei ihrer bettlägerigen Urgroßmutter aufwachsen musste, ist die einzige biographische Information, die man über den Charakter erhält. Tatsächlich wird nicht einmal das äußere Erscheinungsbild der Protagonistin beschrieben, stattdessen beginnt der Roman ohne weitere Einführung der Figur mit einem Mindplay-Unfall, von dem an dem Lebensweg Allies gefolgt wird. So handelt es sich bei Allie zunächst um eine eher unreife und etwas unstete Figur, die sich im Laufe der Erzählung grundlegend mit ihrem eigenen Ich und ihrem Bewusstsein anseinandersetzen muss. An dieser Aufgabe wächst Allie, so dass am Ende der Erzählung eine völlig veränderte und gereifte Figur steht. Während der gesamten, aus Allies Sicht erzählten Geschichte bekommt der Leser tiefe Einblicke in die Innenwelt und in die Gedanken der Protagonistin, die von einem steten Gefühl der Einsamkeit und Unvollständigkeit begleitet wird. Trotz ihres äußerst lebhaften und faszinierenden Innenlebens verfügt Allie über die besondere Fähigkeit, sowohl ihr äußeres als auch ihr inneres Selbst mit einer Art Poker-Face zu maskieren, was ihr ermöglicht, den komplexen und gefährlichen Beruf einer sogenannten (Bewusstseins-)Pfadsucherin auszuüben, wodurch sie für ihre Umwelt aber immer undurchschaubar und damit fremd bleibt. Inhalt Die in "Bewußtseinsspiele" erzählte Geschichte beginnt mit einem illegalen Bewusstseinsspiel Allies, in dessen Folge sie psychotisch und daraufhin festgenommen wird. Aufgrund ihrer besonderen Gehirnstruktur wird Allie von der Bewusstseinspolizei an eine Agentur vermittelt, die sie zur Elitebewusstseinsspezialistin ausbildet. Diese quasi therapeutische Ausbildung qualifiziert Allie dazu, blockierte oder versteckte Areale im Bewusstsein anderer, fremder Menschen aufzuspüren, eine Fähigkeit, die vor allem bei arbeitsgehemmten Künstlern eingesetzt wird, um deren kreative Potentiale aufzuspüren und anzuzapfen. Die langwierigen Lehrjahre, während deren Allie sich grundlegend mit ihrem Ich auseinandersetzen muss, mehrere Liebesbeziehungen eingeht und wieder auflöst, fastet, wochenlang schweigt und mit hoher Disziplin an ihrer Fähigkeit des Bewusstseinsspieleus arbeitet, nimmt gut die Hälfte des Romans ein. In weiteren wird episodenhaft beschrieben, wie Allie als ausgebildete Pfadsucherin verschiedenen Klienten dabei hilft, deren künstlerische Arbei-
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ten voranzubringen und abzuschließen, wobei sie einmal sogar in die verbleibenden Bewusstseinsfragmente einer toten Musikerirr eintauchen muss, um die noch fehlenden Takte ihrer letzten Arbeit aufzuspüren. Immer zentraler wird dabei das Thema, dass Allies eigenes Bewusstsein sich bei jeder Verbindungen mit einem ihrer Klienten ein wenig verändert, was - wie sie anhand der Entwicklung ihres Freundes Jerry Wirehammer vor Augen geführt bekommt - letztlich zu einem totalen Verlust des Selbst ftihren kann. Nach einem neuerlichen Bewusstseinsunfall entscheidet Allie sich daher am Ende der Romans dazu, ihren Beruf als Pfadsucherirr aufzugeben und so ihrem Selbst die Möglichkeit zu geben, zu etwas Ganzem zu verschmelzen, das mehr als nur die Summe der einzelnen Teile ist.
Form Cadigans ,,Bewußtseinsspiele" hat wesentliche Merkmale eines klassischen Entwicklungsromans. So werden vielzählige Einzelheiten über die Erfahrungen der Protagonistirr geschildert, wobei die psychologische Verarbeitung und Integration der Erlebnisse in die Persönlichkeit Allies stets ein zentrales Thema ist. Die episodenhaften psychedelischen Erlebnisse Allies wirken dabei wie eine Aneinanderreihung thematisch verbundener Kurzgeschichten. Besonders bemerkenswert ist an Cadigans Roman überdies, dass kaum Beschreibungen der äußeren Umgehungen geliefert werden, so dass nur schwer ein Gesamteindruck der beschriebenen Welt entstehen kann. Auch auf die Funktionsweise und Handhabung der Technik geht Cadigan nur sehr rudimentär ein. Im Kontrast dazu sind die Innenweltenbeschreibungen Cadigans sehr ausführlich und bildlich. So werden die verschiedenen Innen- und Selbstbilder der Protagonistirr und ihrer Klienten bis ins kleinste Detail geschildert, wobei surreale Bilder entworfen werden, die trotz ihrer abstrakten Verschwommenheit sehr eindrücklich und gut vorstellbar sind. Entsprechend der Konzentration auf das Unbewusste und die innere Gedankenwelt ist der literarische Stil von ,,Bewußtseinsspiele" oftmals sehr assoziativ, wobei die Autorirr vielfach mit sehr archaischen Symbolen und Allegorien arbeitet, die von ihrer Bedeutung her oft aus der psychoanalytischen Symbollehre abgeleitet sind. Diskursive Inhalte Cadigan untersucht in ihrem Roman die Möglichkeiten und Auswirkungen einer Art geistiger virtuellen Realität, auch wenn diese nicht explizit als solche benannt wird. Im Mittelpunkt stehen dabei die psychologischen Implikationen der von ihr beschriebenen technologischen Neuerungen. Dabei konzentriert sich die Autorirr auf deren Auswirkungen auf das menschliche Selbst, die Identität und die Individualität. In typischer Cyberpunk-Manier
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mit den humanistischen Idealen der klassischen Science Fiction brechend, reflektiert Cadigan in ihrem Roman, dass die menschliche Psyche und das Selbst nicht wesensimmanent, sondern im Gegenteil entwicklungsoffen sind. Tatsächlich werden in "Bewußtseinsspiele" Identität und Selbst nach Bedarf geschaffen, kopiert, weitergereicht, überschrieben und wieder neugeschaffen, ohne dass dies grundsätzlich negative Auswirkungen hat oder negativ bewertet wird. So zeigt Cadigan eine Welt, die praktisch nur noch aus postmodernen Patchwork-Identitäten besteht, welche in extrem fragmentierten Biographien leben.
Michael Swanwick "Vakuumblumen" Entstehung 1987 erschien Michael Swanwicks zweiter Roman "Vakuumblumen". Dieser Text wurde schnell als Werk mit wesentlichen Cyberpunk-Thematiken und Ästhetileen erkannt und stellt Swanwicks ersten erfolgreichen Roman dar. Swanwick war spätestens ab Mitte der 1980er Jahre in die Debatten um die Movement-Gruppe involviert und schrieb 1986 den wichtigen Essay "A User's Guide to the Postmoderns" über humanistische und ahumanistische Science Fiction der Postmoderne. Er verfasste zudem gemeinsam mit William Gibson die Kurzgeschichte "Dogfight" (1985, dt. Titel ,,Luftkampf'), welche ebenfalls zu den Cyberpunk-Grundwerken gezählt wird. Cyberpunk-Eiemente Bei "Vakuumblumen" handelte es sich um eine typische Cyberpunk-Vision der Kolonisierung des Sonnensystems, die mit den tradierten Darstellungen dieses klassischen Science-Fiction-Themas bricht und einen radikal anderen Blickwinkel zeigt. Die zahlreichen Asteroiden, Kometen, Monde und Planeten in "Vakuumblumen" sind von verschiedenen kleineren und größeren Gemeinschaften besiedelt, die sich neben den politischen Systemen vor allem durch ihre technologischen Spezialisierungen unterscheiden und aus denen jeweils verschiedene Kulturen und Sinnesarten resultieren. Die Menschheit setzt sich folglich aus vielfältigen neotribalistischen Zusammenschlüssen zusammen. Die einzige Ausnahme bildet die Erde, deren vier Milliarden Bewohner über implantierte Interfaces zu einem einzigen globalen Bewusstsein namens Compromise verschmolzen sind. Die Siedlungen im bewohnten Weltall werden weitgehend von einer Reihe multinationaler Konzerne kontrolliert, deren Macht sich auf ihren gewaltigen wirtschaftlichen Einfluss und eine konzernfreundliche Rechtssprechung begründet. Swanwick zeigt in" Vakuumblumen" fortgeschrittene Bio-, Neuro- und Cybertechnologien, die zu vielfältigen medizinischen und wirtschaftlichen Zwecken genutzt werden (wie etwa der Programmierung von
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Arbeitern über ,Wetware'-Implantate) sowie zur allgemeinen Unterhaltung durch Hologrammkinos oder zur Schaffung digitalisierter Mode-Persönlichkeitsprofile.
Welt/Umwelt Swanwicks "Vakuumblumen" spielt in emem von Menschen besiedelten Sonnensystem, welches in einer unbestimmten Zukunft irgendwann in der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends gezeigt wird. Die Menschheit lebt in riesigen künstlichen Habitaten, die vom Autor als gewachsene und komplexe Städte beschrieben werden, die sich durch eine Fülle von architektonischen Variationen und organischen Verfall auszeichnen. Wie bereits erwähnt, werden diese Siedlungen oftmals von wirtschaftlichen Interessen kontrolliert, aber Swanwick zeigt auch, dass es in dieser Gesellschaft eine florierende Halb- und Unterwelt gibt. Ein großer Teil des Romans spielt in diesem Milieu, in der verschiedene Banden, organisiertes Verbrechen, politische und religiöse Splittergruppen, Kriminelle und Verlierer der Gesellschaft aufeinandertreffen. Swanwick zeigt ferner ein biologisches Durcheinander von künstlicher und ursprünglicher Natur in den Städten, welches diesen Umwelten ein merkwürdiges technisch-organisches Flair verleiht. Zudem haben sich künstlich geschaffene Weltraumpflanzen von Blumen bis hin zu Bäumen im All ausgebreitet und sind oftmals wichtige ökonomische Ressourcen (aber bisweilen auch lästige Störenfriede). Protagonist Zentraler Charakter in Swanwicks Roman ist eine junge unglückliche Frau, die als Persönlichkeitshackerin und -testerin Eucresia Walsh beschließt, eine ihr anvertraute Identität in ihren Körper zu kopieren. Die neue Identität namens Rebe! Elizabeth Mudlark ist das geklonte Selbst einer genialen Biotechnikerin, die bei einer wichtigen Mission ums Leben kam, deren Persönlichkeitsprofil jedoch routinemäßig gesichert wurde. Im ganzen Roman ist die tatsächliche Protagonistin folglich Rebe! Mudlark, die sich in dem Körper Eucrecias befindet, deren eigene Persönlichkeit und Wissen jedoch gelegentlich als Erinnerungen wieder auftauchen. Über weite Strecken hinweg ist die Protagonistin aufgrund dieser Persönlichkeitsüberlagerungen und teilweisen Amnesie unsicher und auf die Hilfe von anderen Figuren angewiesen, deren Motiven sie jedoch nicht immer trauen kann. Bei ihrer Flucht durch die verschiedenen Siedlungen und Gesellschaften des bewohnten Sonnensystems macht sie eine Reihe von Erfahrungen, die ihr helfen, ihre Persönlichkeit zu stabilisieren und Eigeninitiative zu entwickeln. So thematisiert Swanwick nicht nur eine äußere Flucht, sondern auch eine innere Flucht, während der sich der Charakter Rebels immer wieder gegen die aufsteigenden Persönlichkeitsanteile von
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Walsh zur Wehr setzen muss, was sich beispielsweise in bizarren Albträumen äußert. Im Verlaufe des Romans lernt sie ferner neue Fähigkeiten, sammelt Wissen und kann sich daher wieder an ihre frühere Mission erinnern, die sie gegen Ende des Romans dann auch erfüllt (ihre Integrität dem Compromise zur Verfügung zu stellen).
Inhalt In Swanwicks Roman wird Eucresia Walshs Geschichte erzählt, die beim Testen einer neuen, kommerziellen Starpersönlichkeit beschließt, diese zu behalten und nicht dem Unterhaltungskonzern Deutsche Nakasone GmbH zurückzugeben. Dazu schließt sie die Computeranlage kurz und flieht mit der gestohlenen Persönlichkeit Rebe! Elizabeth Mudlark, welche von nun an ihr ,eigentliches' Ich in ihrem Körper ist. Den größten Teil des Romans befindet sie sich auf der Flucht vor verschiedenen Gruppen, die alle an diesem Persönlichkeitsprofil interessiert sind. Dabei reist sie durch verschiedene menschliche Siedlungen im Asteroidengürtel, zum Mars, um den Mond und zur Erde, deren gesellschaftliche und politische Unterschiede und Besonderheiten vorgestellt werden. Letztlich verhilft Rebe! über das Bereitstellen ihrer Persönlichkeits-Integrität zu einem Ausgleich zwischen dem technologisch fortgeschrittenen Compromise und den übrigen Menschen, wodurch es diesen ermöglicht wird, Reisen zu fernen Sternen durchzuführen und langfristig die Milchstraße zu besiedeln. Form Swanwicks "Vakuumblumen" ist ein extremes Beispiel für die von Sterling propagierte Technik des sogenannten "Show, Don't-Tell" 21 Schreibstils. Bei diesem legt der Autor großen Wert darauf, den Leser alles möglichst unmittelbar erleben zu lassen, ohne Hintergründe des Beschriebenen zu erklären oder Dinge zu erläutern. So schildert Swanwick ständig die direkte Umgebung und Eindrücke seiner Protagonisten und lässt selbst kleine, aber auffällige Details nicht aus, jedoch ergibt sich daraus die Schwierigkeit, dass die größeren Zusammenhänge nur schwer vorstellbar bleiben. Die verwirrenden Weltraumsiedlungen mit ihrem organisch-technischen Aufbau beispielsweise werden nie abstrakt beschrieben, Swanwick beschreibt stattdessen eine Szene nach der anderen, einen Blickwinkel nach dem nächsten, ohne dass er dem Leser eine Darstellung der Gesamtheit oder einen Hintergrund der Technik oder Entstehungsgeschichte gönnt. So ergibt sich auch, dass bei Swanwicks anspruchsvollem literarischen Stil in bester Cyberpunk-Manier großes Augenmerk auf die Beschreibung 21 Vgl. STERLING, Bruce: "Appendix: A Workshop Lexicon"; In: WILSON, Robin: "Paragons: Twelve MasterScienceFiction Writers Ply Their Crajis"; St. Martin's Griffin, New York 1997; S. 352ff.
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von unmittelbaren Oberflächen gelegt wird. Der Autor lässt kaum eine Gelegenheit aus, die optischen, taktilen und sonstigen Eigenschaften von Dingen zu beschreiben, die seinen Figuren ins Auge fallen, genauso werden flüchtige Eindrücke und Accessoires festgehalten, wenn sie nur hervorstechend genug sind. Aus diesen vielfältigen Oberflächenimpressionen schafft Swanwick ein eindrucksvolles Mosaik der Vielfarbigkeit, Materialität und des Odeurs seiner Welt, die sich jedoch ähnlich wie ein Kaleidoskop nicht zu einem ganzheitlichen Bild zusammenfassen lässt. "Vakuumblumen" ist mit facettenreichen Sprachbildern versehen und von tiefgründigen Symbolen durchflochten. So arbeitet der Autor sehr stark mit Gleichnissen, Sinnbildern und Allegorien, mit denen er mannigfaltige religiöse und mythische Bezüge schafft. Der Text Swanwicks erscheint daher sehr durchkomponiert und ist oftmals sehr dicht, wodurch dem Erzählen stellenweise nur schwer zu folgen ist.
Diskursive Inhalte Swanwicks "Vakuumblumen" zeigt eine der postmodernsten Visionen einer Cyberpunk-Zukunft. Geradezu alle großen Metaerzählungen sind hier zusammengebrochen. Die Menschen in dieser Welt verfügen über fragmentierte Biographien und Identitäten, wie durch die allgegenwärtige Technik der Wetware-Programmierung und dem Handel mit Mode-Persönlichkeitsprofilen deutlich wird. Die gezeigten Gesellschaften sind oft neotribalistisch oder kommunitaristisch organisiert, was auf ein Verschwinden größerer sozialer Zusammenhänge oder Nationen hinweist. Auch die vielen religiösen Gemeinschaften und Kulte, die in Swanwicks Roman erwähnt werden, lassen darauf schließen, dass die traditionellen universalen Systeme fehlen und die Menschen auf der Suche nach einem verlorengegangenen Gemeinschaftsgefühl sind. Dagegen stellt Swanwick das Extrem des Compromise. Hier hat man es mit einem einzelnen globalen Bewusstsein der irdischen Menschheit zu tun, bei welchem offen gelassen wird, ob es sich um einen unausweichlichen Fortschritt menschlicher Intelligenz im Sinne Teilhards Noosphäre oder um eine evolutionäre Sackgasse handelt. Jack Womack "Ambient" Entstehung ,,Ambient" ist Jack Womacks erster Roman und wurde im Jahr 1987 veröffentlicht. Nicht zur Movement-Gruppe um Sterling gehörend, hatte Womack weder Kontakt noch Ahnung von William Gibson, mit dessen Werken seine Romane jedoch immer verglichen werden. So waren Womack auch die Auseinandersetzung innerhalb der Science Fiction nicht bekannt, sondern er benennt als Ziehväter Literaten wie Ambrose Bierce, Charles Fort, Cormac
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McCarthy und Vladimir Nabokov. ,,Ambient" ist der erste Roman von Womacks sechs Romane umfassenden "Dryco"-Serie, die jeweils einen neuen Ausschnitt aus einem verfallenden New York einer dystopischen Zukunftswelt zeigen.
Cyberpunk-Eiemente Womades ,,Ambient" schildert eine alptraumhafte Zukunft, in der die sozialdarwinistischen Gesellschaftsentwürfe vorangehender Cyberpunk-Werke auf die Spitze getrieben werden. Hierzu wird ein globales, radikal menschenverachtendes kapitalistisches System beschrieben, in dem einzelne Konzerne die Weltmacht und den gesamten Reichtum unter sich aufteilen. Sklavenartige Arbeitsverhältnisse, Armut in der Bevölkerung, brutalste Gewalt auf den Straßen, vielzählige Terrororganisationen und verrohte Menschen sind die Folge. Auch bei den subversiven Subkulturen und bizarren Charakteren handelt es sich in vielerlei Hinsicht um überspitzte Cyberpunk-Figuren, die bei ihrem Überlebenskampf auf den Straßen und in der Unterwelt von Womacks Zukunftswelt begleitet werden. Ferner wird eine selbstbewusste, sich stetig weiterentwickelnde Künstliche Intelligenz beschrieben, die durch ihren selbstgeschaffenen Zugang auf alle Datenbanksysteme die Geschicke der Menschheit kontrolliert. Welt/Umwelt W omacks ,,Ambient" spielt etwa in der Mitte des 21. Jahrhunderts und zeichnet die düstere Vision eines zukünftigen New York. Nach dem Ausbruch eines weltweiten russisch-amerikanischen Krieges und verschiedenen politischen Skandalen (vertuschte Reaktorunfälle, Bekanntwerden der Nicht-Existenz von Jesus Christus) haben die staatlichen Organe stark an Einfluss verloren. Seither wird die Stadt von der dubiosen Dryco-Organisation und ihrer Heimatarmee dominiert, die in Kooperation mit japanischen und russischen Großkonzernen bisher ungeahnte Formen des globalen Kapitalismus über die Welt gebracht haben. Aufgeteilt in die Kasten der allmächtigen Besitzer, der Bourgeois und der Überflüssigen ist die Gesellschaft dabei in eine Anarchie verfallen, in der Gewalt, unorganisierte Unruhen, Straßenschlachten, Überfälle und wiederholte Terroranschläge herrschen. Das an Bürgerkriegsszenarien erinnernde Straßenbild von Womacks New York ist folglich von anhaltender Gewalt geprägt: Überall werden Menschen überfallen, erschlagen, angezündet, vergewaltigt und Leichenteile sowie Knochen sind allgegenwärtig. Ähnlich gewalttätig ist die beschriebene Unternehmenskultur. So werden Übernahmen von konkurrierenden Unternehmen als eine Art Gladiatorenkampf zwischen Abteilungsleitern, Vorständen und Proxies - den per-
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sönlichen Vertreterinnen der Geschäftsführer- inszeniert. Bei diesen brachialen, mit Macheten, Äxten, Baseballschlägern und Rasierklingen ausgeführten Kämpfen kommen nicht nur jeweils große Teile der Führungskräfte ums Leben, sondern der besiegte Unternehmensleiter ist überdies dazu angehalten, sich bei Überreichung der Urkunde ehrenvoll mit einem Samuraischwert zu suizidieren. Jenseits des Wirtschafts- und Straßenalltags gibt es die Unterwelt der subversiven Ambienten. Im Zentrum dieser Subkultur stehen die missgebildeten Überlebenden und Mutanten eines Reaktorunfalls auf Long Island eines der letzten Regierungsskandale, bevor die Welt sich in Chaos auflöste. Ferner gehören Rebellen, Widerstandkämpfer und orientierungslose Jugendliche den Ambienten an, die sich als Zeichen ihrer Zugehörigkeit und Loyalität verstümmeln und selbst amputieren.
Protagonist Der Protagonist von Womades "Ambient" ist der Mittzwanziger Seamus O'Malley, der als Leibwächter und inoffizieller Geschäftsberater von Thatcher Dryden tätig ist - dem Sohn des weltweit mächtigsten Konzerninhabers, der sogenannten Dryco Cooperation. Seine Eltern hat er in den Wirren der politischen Umwälzungen verloren und lebt seitdem mit seiner Schwester, die eine freiwillige Ambiente ist. Als Diener Drydens ist er gezwungen, jeden Befehl seines ungeduldigen und sadistischen Herren auszuführen, und so prügelt und mordet der Protagonist selbst wehrlose Kinder oder alte Menschen, sobald es von ihm verlangt wird. Bei all seinen grausamen Taten klammert er sich fest an den Glauben, dass nur diese Arbeitsmoral ihn von der Straße weggeholt hat und es ihm ermöglicht, sich und seine Schwester zu ernähren. Dennoch leidet O'Malley zusehends unter seiner Welt, seinen Taten und dem Doppelleben, das er führt (Diener am Tag und halber Ambient in der Nacht), und sucht daher Befreiung in der Liebe zu Avalon, der Sexsklavin und Proxie von Thatcher Dryden. Inhalt In ,,Ambient" wird die verstrickte Geschichte der Liebe O'Malleys und Avalons sowie der Machenschaften der Dryco-Dynastie erzählt. So beginnen Avalon und O'Malley zu Anfang der Geschichte eine heimliche Liebschaft miteinander und kommen dabei durch ihr vereintes Wissen über die Drydens nach und nach einer internationalen Verschwörung auf die Spur. Nachdem Thatcher Dryden von seinem Vater ermordet wird, fliehen die beiden in den Untergrund zu den Ambienten, doch A valon entscheidet sich zuletzt dazu, dem alten Dryden eine Falle zu stellen, um sich und O'Malley ein Leben in Ruhe und in Freiheit zu ermöglichen. Dabei finden sie heraus, dass der alte Dryden als Einziger Zugang zu einem Auslösemechanismus von im
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Weltall angebrachter Atombomben hat und damit die Regierungen erpresst. Überdies hat er eine Künstliche Intelligenz geschaffen, die Zugang zu allen Datenbanken und Informationssystemen der Welt hat und dazu angehalten ist, im Falle seiner Ermordung einen Nuklearschlag auf die Erde einzuleiten. Aufgrund einer Ungereimtheit in der Programmierung der Künstlichen Intelligenz gelingt es Avalon und O'Malley dennoch, Dryden zu töten, ohne dass die Erde ausgelöscht wird.
Form Womaclcs ,,Ambient" wird aus der Perspektive O'Malleys erzählt. Die Geschichte wird dabei sehr direkt, oft unvermittelt und immer schnell erzählt, so dass der Leser mit stetig wechselnden Eindrücken und immer neuen Ausschnitten der Welt des Protagonisten konfrontiert ist. Immer wieder sind dabei kurze Passagen der inneren Gefühls- und Gedankenwelt O'Malleys eingeschoben, die sich in ihrer lyrischen Sprache von dem restlichen Text abheben. Ebenso wie sich die innere Sprache O'Malleys durch eine ganz eigene Qualität auszeichnet, unterscheiden sich auch die Ausdrucksweisen der verschiedenen Subkulturen. So verwenden die Ambienten eine sehr vielschichtige, metaphernreiche Sprache, die sich aus Symbolismen, Neologismen und Bruchstücken von altertümlichem Englisch zusammensetzt. Charakteristisch für die Wirtschaftssprache hingegen ist eine kasernenhafte abgehackte Redeweise. Folglich handelt es sich bei ,,Ambient" um einen facettenreichen Text, der durch stilistische Bricolage das Motiv der Fragmentisierung und Dekontextualisierung von Womacks postmodernem Zukunftsentwurf auf der sprachlichen Ebene fortsetzt. Diskursive Inhalte In Womacks dystopischem Zukunftsentwurf sind die die Orientierungspunkte der Moderne, wie traditionelle Religion, staatliche Autorität, Ethik, Vernunft, Moral und Gemeinschaft, zusammengebrochen. Stattdessen beschreibt der Autor eine postmoderne Welt, in der sich das gesellschaftliche Leben in eine Vielzahl von Gruppen und Subkulturen mit einander widersprechenden Denk- und Verhaltensweisen aufgelöst hat. Die Welt Womacks ist derart sinnentleert geworden, dass die Protagonisten einen guten Grund finden müssen, um in dieser fragmentierten und chaotischen Welt nicht unterzugehen. In ,,Ambient" wird überdies Womacks Wahrnehmung eines New Yorks der späten 1970er Jahre reflektiert. Dabei ist offensichtlich, dass der Autor mit den zumeist optimistischen Weltentwürfen der klassischen Science Fiction bricht und stattdessen eine amoralische und ahumanistische Zukunft
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entwirft, die durch einen menschenverachtenden Kapitalismus 1m Sinne Baudrillards gekennzeichnet ist.
Richard Kadrey "Metrophage" Entstehung 1988 wurde in Terry Carrs New Ace Specials Serie- in der einige Jahre zuvor William Gibsons "Neuromancer" erschienen war - Richard Kadreys Erstlingsroman "Metrophage" veröffentlicht. Obwohl der Künstler, Literat und Musiker Kadrey nicht unmittelbar zu der ursprünglichen MovementGruppe gehörte, 22 gilt "Metrophage" als ein essentielles Cyberpunk-Werk der späten 1980er Jahre. So hatte sich Kadrey im Vorfeld zu seiner Arbeit an "Metrophage" eingehend mit Sterlings Cyberpunk Manifesto auseinandergesetzt Ausgehend von dieser Grundsatzerklärung des Movement verfasste Kadrey eine weitere Proklamation zur Cyberpunk-Literatur mit dem Titel" Transverse and Axial Cross-Sections (An Anti-Man!festo)". In diesem Manifest ergänzte Kadrey die Ansprüche und Aussagen von Sterling, Gibson, Shiner und Shirley um konkrete Hinweise auf die künstlerischen und theoretischen Bezugspunkte. So verweist Kadrey in seinem "Anti-Manifesto" nicht nur aufnützliche populärkulturelle Ressourcen, wie etwa Militär-, Tattoo- und Kunstkataloge, sondern er benennt explizit die Konzepte Guy Debords, Paul Virilios und Jean Baudrillards als grundlegend für seine eigene Inspiration und das allgemeine Verständnis der Cyberpunk-Literatur. Kadreys "Metrophage", dessen Vorwort von Rudy Rucker verfasst wurde, markiert den Übergang der klassischen Cyberpunk-Literatur der MovementGruppe zu der nachfolgenden Generation von Cyberpunk-Autoren. Cyberpunk-Eiemente Kadrey beschreibt in "Metrophage" eine Wirklichkeit, deren Alltag von den fortgeschrittenen Möglichkeiten der Bio-, Gen- und Cybertechnologie geprägt ist. Dabei enthält der dystopische Zukunftsentwurf Kadreys viele typisehe Cyberpunk-Motive, wie etwa genetisch und kybernetisch optimierte Menschen, Mensch-Maschine-Interface sowie eine radikal modifizierte Natur und Umwelt. In der von einer paramilitärischen Organisation dominierten Welt wird die Technik vielfach von Subkulturen, Hackern und verschiedenen Terrororganisationen auf eine subversive Art und Weise genutzt. Folglich handelt es sich auch bei den oftmals kuriosen Figuren Kadreys um typische Cyberpunk-Charaktere, die sich jenseits der Gesellschaft und des bestehenden Systems befinden.
22 Diese Informationen wurden Emailkorrespondenzen mit Kadrey entnommen, die im Rahmen der vorliegenden Dissertation gefuhrt wurden.
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Welt/Umwelt "Metrophage" ist in dem düsteren und verkommenen Los Angeles des Jahres 2030 angesiedelt, dessen Stadtbild von Flugautos über Neonlichtern, unsicheren Gegenden, die von Gangs kontrolliert werden, orientalisch anmutenden Schwarzmärkten und omnipotenten Medien- und Werbelandschaften geprägt ist. Die Umwelt in "Metrophage" ist weitgehend kollabiert. So gibt es keine stabilen Wetterverhältnisse mehr, dafür jedoch starken sauren Regen. Auch sind alle natürlichen Tierarten ausgestorben, stattdessen werden genetisch auf ihren Zweck optimierte Nutztiere gezüchtet, wie beispielsweise augen-und beinloses Schlachtvieh. In Folge eines großen Krieges sind die politischen Machtgefüge der USA weitgehend auseinandergebrochen. Die Weltmacht ist seitdem zwischen der Tokyo Alliance und der New Palestirre Federation aufgeteilt, wobei zwischen diesen Fraktionen ein kalter Krieg herrscht, der von gelegentlichen atomaren Schlagabtauschen unterbrochen wird. Los Angeles selbst wird von verschiedenen kriminellen lndustrieunternehmen, korrupten Unterweltorganisationen und dem paramilitärischen Committee for Public Health regiert, wobei die Grenzen fließend sind. Die zentralen Wirtschaftszweige sind Drogen- und Organhandel. Die Bevölkerung dieses dystopischen Los Angeles wird durch willkürliche Einschnitte in die Versorgung sowie durch das medienkonstruierte Feindbild einer außerirdischen Macht- den sogenannten Alpha Rats -kontrolliert. Ferner gibt es eine ganze Reihe von Subkulturen und Terrororganisationen, wie etwa die der Croaker- im Untergrund agierende Ärzte und Anarchisten -, die neben regelmäßigen Anschlägen Schwarze Kliniken betreiben und dort die Armen und Kranken behandeln. Protagonist Jonny Qabbala, der einundzwanzigjährige Protagonist von Kadreys Roman, ist als Straßenjunge aufgewachsen und hat sich dabei sehr früh kriminelle Fertigkeiten angeeignet. Diese nutzend, war der Protagonist eine kurze Zeit als hochbezahlter Verbindungsmann, Spion und Auftragsmörder für das Committee for Public Health tätig. Wegen seiner tiefen Abneigung gegen hierarchische Strukturen desertierte Qabbala schließlich und verdient zu Beginn der Geschichte seinen Lebensunterhalt wieder als Kleinkrimineller durch das Stehlen und Verkaufen von Designerdrogen, Hormonen und Informationen. Durch seine Ungeduld, seinen Mut und den Mangel an strategischem Vermögen bringt der Protagonist sich selbst immer wieder in gefahrliehe und bisweilen absurde Situationen, aus denen er mehr aus Glück denn aus Verstand wieder herausfindet. Über keine offensichtlich herausragenden Fähigkeiten oder Spezialisierungen verfügend, wirkt der Protagonist von
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Kadreys Roman in vielen Situationen unsouverän und beinahe kindisch. So handelt es sich bei Qabbala um einen inkonsequenten, sich stetig umentscheidenden und sehr wandelbaren Charakter, der für den Leser nur schwer greifbar ist. Durch diese unscharfe Zeichnung seines Protagonisten führt der Autor die Unbeständigkeiten seiner postmodernen Welt auf einer weiteren Ebene als der rein inhaltlichen Darstellung fort.
Inhalt Auf der Suche nach dem Mörder seines Geschäftspartners gerät Qabbala in die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Organisationen und Subkulturen von Los Angeles, die allesamt nach einem Mittel gegen ein neuartiges, in der Stadt grassierendes Lepravirus suchen. So wird der Protagonist im Laufe der Erzählung mehrfach von den verschiedenen Organisationen entführt, wobei sich nach und nach herausstellt, dass offenbar vermutet wird, dass Qabbala ein Gegenmittel zu dem in einem biologischen Waffenlabor entstandenen Virus habe. Dem Protagonisten gelingt jedoch immer wieder die Flucht und schließlich findet er im Untergrund bei den Croakern Unterschlupf. Nachdem auch seine Partnerin an dem Lepravirus erkrankt, schließt sich der Protagonist halbherzig dem Revolutionsvorhaben der Croakers gegen das Committee for Public Health und anderen vorherrschenden Organisationen an. So kommt es am Ende der Geschichte zu einem gewaltigen und verlustreichen Showdown, in dessen Folge Qabbala nicht nur eine internationale Verschwörung aufdeckt, sondern auch herausfindet, dass sein Blut aufgrundgenetischer Experimente an seiner Großmutter die Antikörper gegen das Lepravirus produziert und er damit das Heilmittel gegen die Krankheit die ganze Zeit in sich getragen hat. Form In den Grundzügen ist Kadreys "Metrophage" ein typischer Thriller, der über vielerlei Anleihen an das Genre der hard-boiled Krimis verfügt. Auffällig ist dabei, dass Kadrey den Protagonisten Qabbala jeweils am Ende vieler Kapitel bewusstlos schlagen lässt; hier handelt es sich an eine Hommage an Raymond Chandler. 23 Charakteristisch für den Roman ist ferner eine sehr unvermittelte, direkte und stellenweise sprunghafte Erzählweise, bei welcher die Hintergründe der Welt und der Technik oft nur in Nebensätzen angedeutet werden. Mit viel Konzentration auf das Absurde schildert der Autor stattdessen- scheinbar zufällig- auffällige Details und Oberflächen seiner Welt, so dass diese sehr plastisch und faszinierend erscheint. Kadreys Prosa wird überdies von vielfältigen Metaphern und symbolgeladenen Bildern durchzogen, wobei insbesondere die stellenweise surrealistisch gefärbte Sprache des Autors hervorsticht. Dabei enthält der Text eine 23 Vgl. BUTLER: "Cyberpunk"; a.a.O.; S. 49.
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Fülle von Verweisen auf frühere Cyberpunk-Texte, sowie zahlreiche Referenzen zu Kunstgeschichte (insbesondere Dadaismus und Surrealismus), Populärkultur und Philosophie. So schafft Kadrey einen äußerst vielschichtigen Text, der durch seine zahlreichen intertextuellen Bezüge ein facettenreiches postmodernes Potpourri bildet.
Diskursive Inhalte Obwohl Kadrey bei seinen Schilderungen kaum auf den Hintergrund der von ihm beschriebenen Technik eingeht, schildert er in "Metrophage" eine Wirklichkeit, in der fortgeschrittene Technologien den Alltag völlig durchdrungen haben. So wird eine Welt gezeigt, in welcher Hochtechnologien das Leben auf der Straße erreicht haben und auf eine sehr progressive Art und Weise genutzt werden; Designerdrogen, kybernetische Waffen und MenschMaschinen-Interfaces sind zum festen Bestandteilen des Alltags geworden und haben den Menschen verändert. Vor diesem Hintergund stellt Kadrey die Frage nach der Bedeutung von Kunst in einer durch neue Medien geprägten Kultur und Gesellschaft. So nutzt der Autor bekannte Künstlerbewegungen und Epochen, um anhand deren Rezeption in seiner fiktiven Zukunft Unterschiede, Parallelen und Entwicklungen zum zeitgenössischen Kunstbegriff zu reflektieren. Dabei greift der Autor auf verschiedene kunsttheoretische und medienphilosophische Konzepte zurück und stellt sie einander gegenüber. Ähnlich wie Bruce Sterling in seiner Kurzgeschichte "The Beautiful and the Sublime" ( 1987, dt. Titel ,,Das Schöne und das Erhabene") propagiert Kadrey dabei die Idee, dass es sich bei Kunst um einen Geisteszustand, um eine bestimmte Art und Weise der Weltbetrachtung handelt. In diesem Diskurs Kadreys zeigt sich das tiefgehende Interesse und die Faszination des Autors an den möglichen Mentalitätsveränderungen einer durch invasive Technologien veränderten Welt. Tom Maddox "Das Aleph System" Entstehung Die erste Science-Fiction-Veröffentlichung des Literaturdozenten und technischen Schreibers Tom Maddox "Snake Eyes" (dt. Titel "Schlangenaugen") erschien 1985 in der Cyberpunk-Anthologie "Mirrorshades". Bereits vor dieser Publikation stand Maddox mit Autoren der Movement-Gruppe in Kontakt und tauschte insbesondere mit William Gibson Manuskripte und Ideen aus. Das in "Neuromancer" beschriebene Datenschutzprogramm ICE wurde beispielsweise ursprünglich in einer unveröffentlichten Kurzgeschichte von Maddox dargestellt. Gibson, der diese Kurzgeschichte während einer gemeinsam besuchten Science Fiction Convention las, erhielt von
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Maddox die Erlaubnis, dessen Idee für sein Projekt "Neuromancer" zu verwenden. Nachdem Maddox in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre drei weitere Kurzgeschichten veröffentlichte, erschien 1991 mit "Halo" (dt. Titel "Das Aleph System") der erste Cyberpunk-Roman des Autors.
Cyberpunk-Eiemente In Maddox' erstem Roman sind eine ganze Reihe klassischer CyberpunkElemente vorzufinden. Hervorzuheben sind insbesondere die alltägliche Nutzung und Verbreitung von Mensch-Maschine-Interfaces, virtuellen Realitäten und Computerintelligenzen. Die von Maddox gezeigten Medientechnologien sind dabei völlig in das Denken, Fühlen und in den Körper des Menschen integriert. So wird Technologie in diesem Roman nicht als steriler, vom Menschen getrennter Fremdkörper, sondern als oft organischer Bestandteil des Organismus beschrieben. Tatsächlich sind die Technologien in ,,Das Aleph System" dabei auch so weit mit dem Sein verschmolzen, dass sie durch regenerative Maßnahmen nicht nur das Leben verlängern, sondern in Form von etwa künstlichen Instinktchips auch die unbewussten Handlungen und teilweise sogar die Träume von Menschen und Tieren bestimmen. Bei vielen der dargestellten Figuren handelt es sich überdies um die für die Cyberpunk-Literatur typischen, etwas absonderlichen Künstler- und Außenseitercharaktere. Welt/Umwelt "Das Aleph System" ist im beginnenden 21. Jahrhundert angesiedelt und entwirft das Bild einer durch radioaktive Versehrnutzung und verschiedene Umweltkatastrophen verseuchten Erde, deren Rohstoffe zur Neige gehen. Durch die zunehmende Überalterung der Gesellschaft ist eine mächtige Klasse der Reichen und Alten entstanden, so dass sich Kapital und politisehe Macht fast ausschließlich im Besitz einer dekadenten gerontokratischen Elite und deren Konzerne befinden. Die politische Lage ist angespannt bis instabil; in weiten Teilen der Erde herrschen Terror und Bürgerkriege, der globale Arbeitsmarkt ist von asiatischen Billiglohnkräften überschwemmt und Europa hat mit zunehmendem sozialen Verfall zu kämpfen. Der Zugang in die virtuelle Welt wird in Maddox' Roman durch eine Kombination aus Interface, Drogen, Meditation und physischer Präsenz in einem mit Nährflüssigkeit gefüllten Behältnis ermöglicht, welches als ,Ei' bezeichnet wird. Dabei werden im Ei alle Sinne einbezogen, so dass die virtuelle Welt für den Nutzer derart überzeugend und nicht mehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden ist. Der größte Teil der Handlung ist jedoch nicht auf der Erde oder im Cyberspace, sondern auf Halo City angesiedelt. Bei Halo City handelt es sich
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um einen künstlich angelegten Ring im Orbit, der, aufgeteilt in verschiedene Speichen und Ebenen, eine sich selbst versorgende Stadt darstellt. Die Lebensbedingungen in dieser extraterrarischen Stadt bilden einen geradezu utopischen Gegensatz zur Erde: Gegründet von einem Arbeitskollektiv aus Künstlern und Aussteigern mit herausragenden naturwissenschaftlichen Fähigkeiten, ist Halo City demokratisch organisiert, die Natur steht in ihrer vollen Blüte und es ist ständig Frühling. Wichtigster Bestandteil von Halo City ist die Künstliche Intelligenz Aleph, die während des Entstehungsprozesses der artifiziellen Stadt aus einer selbstständigen Maschinenevolution von Computern und Robotern hervorgegangen ist. Folglich handelt es sich bei Aleph um eine gänzlich neue Erscheinung im menschlichen Universum. Die geradezu allmächtige Künstliche Intelligenz kontrolliert und steuert nicht nur alle Prozesse auf Halo City, wie etwa die Jahreszeiten und das Wetter, sondern hat tatsächlich auch einen Zugang in den menschlichen Geist gefunden.
Protagonist Der etwa dreißigjährige Protagonist Gonzales ist als Betriebsprüfer flir den multinationalen Konzern SenTrax tätig. Als Agent flir SenTrax reist der jüdisch-hispanisch-kubanische Schwarze durch die ganze Welt, sein ständiger Begleiter und Vertrauter ist dabei Memex, eine simulierte Computerintelligenz, mit der Gonzales zusammenarbeitet. Obwohl der wurzellose und unter seiner Einsamkeit leidende Protagonist auf Halo City erstmals ein Zuhause findet und sich dort verliebt, findet bei Gonzales keine eigentliche Entwicklung oder Veränderung statt. Auch von den Empfindungen und Gedanken des etwas farblos erscheinenden Protagonisten erfahrt der Leser eher wenig. Stattdessen ist Gonzales nicht nur von seiner Funktion in der Geschichte, sondern auch auf der übergeordneten Ebene eine Art neutraler Beobachter, durch welchen dem Leser die Welt und Geschehnisse von Maddox' Geschichte veranschaulicht und erläutert werden. Inhalt In "Das Aleph System" wird die Geschichte zweier Computerintelligenzen erzählt, die beginnen, sich ihrer selbst bewusst zu werden und einen eigenen Willen zu entwickeln. Den Handlungsrahmen für diesen Prozess bildet Gonzales' Reise nach Halo City, wo er als Beobachter ein Experiment betreuen soll. Denn dort soll das Bewusstsein eines im Sterben liegenden Mitgründers der Stadt in den Datenraum der Künstlichen Intelligenz Aleph übertragen werden. Im Zuge dieses Experimentes greift Aleph zunehmend in das Bewusstsein der Menschen ein, in dem er deren Träume und Handlungen manipuliert und so das Kollektiv gezielt zu Harmonie und Liebe führt. So kommt es nicht nur zu einer Wechselwirkung zwischen den Menschen und
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der Künstlichen Intelligenz, sondern auch das Bewusstsein der Mitglieder des Kollektives verflicht sich über die Datenströme Alephs verstärkt miteinander. Parallel dazu schreitet die Selbstwerdung von Gonzales' Memex und einer befreundeten Künstlichen Intelligenz stetig voran und sie entscheiden sich bald darauf, zu einem Bestandteil Alephs zu werden. Während es gelingt, das sterbende Kollektivmitglied in Alephs Matrix hochzuladen, erhält Memex einen menschlichen Körper, um nicht nur als Datenfluss, sondern auch als Mensch unter Menschen leben zu können. So steht am Ende der Geschichte eine gleichberechtigte und auf tiefer Loyalität basierende Bruderschaft von Maschinenintelligenzen und der Menschheit, die miteinander eine neue Daseinsform bilden.
Form ,,Das Aleph System" ist in fünf Teile gegliedert, denen jeweils einleitende Zitate von Theoretikern wie Baudrillard oder Haraway zum Thema Simulation, Kommunikation und Wahrheit vorangestellt sind. Maddox' Roman wird hauptsächlich aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers beschrieben, wobei großer Wert auf plastische Oberflächenbeschreibung der Welt und die anschauliche Erläuterung der dargestellten Technologien gelegt wird. Die Erzählsituation wechselt jedoch gelegentlich in die Ich-Perspektive, wobei diese bezeichnenderweise stets die Sicht einer der Künstlichen Intelligenzen darstellt. Ferner wird der Erzählfluss immer wieder von Traumsequenzen der einzelnen Charaktere unterbrochen, die teils surreal, teils mystisch anmuten. Generell finden sich in dem Text inhaltlich und in der Symbolsprache vielfältige Anleihen an den Zen-Buddhismus wieder, ebenso verweist Maddox auch beständig auf andere Cyberpunk-Werke. So handelt es sich bei "Das Aleph System" insgesamt um einen dichten Text, der klassische Cyberpunk-Stilelemente mit mystischen Komponenten anreichert und dadurch über eine ganz eigene Literarästhetik und Bildsprache verfügt. Diskursive Inhalte Zentrale Themen von Maddox' Roman sind die Vermischung von Simulation und Wirklichkeit, die Evolution Künstlicher Intelligenzen und eine daraus resultierende Posthumanität Dabei belegt Maddox interessanterweise seine Maschinen und Künstlichen Intelligenzen mit menschlichen Attributen der Barmherzigkeit, Liebe und Gerechtigkeit und stellt diesen das Bild einer Menschheit entgegen, die ihren eigenen Lebensraum weitgehend zerstört hat und sich durch Habgier, Korruption und Egoismus auszeichnet. Dabei stellt der Autor in klassischer Cyberpunk-Manier die Maschinenintelligenz als moralischer, uneigennütziger, ja menschlicher dar als den Menschen selbst. Erst durch die am Ende des Romans angedeutete Verschmelzung der gott-
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ähnlichen Künstlichen Intelligenz und der Menschheit wird es möglich, den verrohten Menschen zu einem guten und moralischen Wesen umzumodeln. In dieser Darstellung zeigt sich Maddox' Bruch mit humanistischen Vorstellungen der klassischen Science Fiction. In der typischen ahumanistischen Haltung der Cyberpunk-Bewegung formuliert der Autor hier die Annahme, dass eine intelligente und zutiefst invasive Technologie nötig ist, die den Menschen grundlegend verändert, so dass sein Wesen endlich seinen eigenen Idealen entsprechen kann.
Neal Stephenson "Snow Crash" Entstehung Der Programmierer Neal Stephenson veröffentlichte in den 1980er Jahren zunächst die Campus-Satire "The Big U' (1984, dt. Titel "Big U') und den Öko-Thriller "Zodiac" (1988, dt. Titel "Volles Rohr"), bevor er 1992 mit "Snow Crash" seinen ersten Cyberpunk-Roman vorlegte. Mit "Snow Crash", der als einer der erfolgreichsten Cyberpunk-Romane überhaupt gilt, gelang dem Autor der große kommerzielle Durchbruch. Stephensons Werke zeichnen sich durch eine große Faszination für Technik- und Wissenschaftsaspekte, Logikrätsel, Kryptographie und Informationsentschlüsselung aus und verfügen über vielfältige Bezüge zur Geschichte, Anthropologie, Linguistik, Religion, Politik, Philosophie und Informatik. Cyberpunk-Eiemente In seinem Roman zeichnet Stephenson eine nahe Zukunft, die von rasanten gesellschaftlichen Umbrüchen und einer Vielzahl sehr fortschrittlicher AlL tagsgegenstände geprägt ist. Diese sind teilweise mit enormer Computerin_ telligenz oder hochtechnologischen Bestandteilen aus dem Bereich der Na_ no-, Bio- und Militärtechnik versehen (beschrieben werden beispielsweise semi-intelligente Radarskateboards mit sich anpassenden Rädern und Tier_ cyborgs als intelligente Wachroboter). Das globale Datennetz in Stephensons Roman wird als Metaverse be_ zeichnet und ist dem Nutzer über einen PC und eine Datenbrille zugänglich. Versierte Nutzer können sich in das Metaverse einhacken und die Softwa_ rearchitektur des Datennetzes für ihre eigenen Zwecke nutzen. Ferner wird ein intelligentes Datenbanksystem namens Librarian beschrieben, das der Protagonist im Metaverse benutzen kann, um sich praktisch jede verfügbare lexikalische Information in lockerer Dialogform mitteilen zu lassen. Welt/Umwelt "Snow Crash" ist im Los Angeles des beginnenden 21. Jahrhunderts angesiedelt und beschreibt eine Welt, deren politisches und wirtschaftliches System sich radikal verändert hat. So haben die Regierungen der USA in Folge
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eines zunehmend globalisierten Wirtschaftsliberalismus und der daraus folgenden Privatisierung aller Lebensbereiche ihre Macht an Unternehmen und private Organisationen (wie z.B. die Mafia) abgetreten. Die USA sind daraufhin in eine Vielzahl kleiner Stadtstaaten zerfallen (wie etwa Mr. Lee's Greater Hong Kong, New South Africa und Nova Sicilia), die nach dem Franchise-Prinzip organisiert sind und als Burbclaves bezeichnet werden. Diese werden nicht nur von privaten Sicherheitsdiensten kontrolliert und geschützt, sondern verfügen auch über eigene Gesetze, Zölle, Gefängnisse und nicht zuletzt Ideologien. Ferner hat der anarchokapitalistische Neofeudalismus in "Snow Crash" zu einer weltweiten Hyperinflation geführt und große Teile der Bevölkerung sind unter prekären Arbeitsbedingungen beschäftigt und leben in Armut. Anders als die fragmentierte und undurchschaubare Realität stellt sich hier das virtuelle Metaverse dar. Das Metaverse ist ein gigantisches globales Datennetz, dass sich als eine computersimulierte Darstellung eines unendlichen Straßennetzes mit vielzähligen privaten und kommerziellen Gebäuden und einer öffentlichen Straßenbahn aufbaut. Ebenso wie die reale Welt ist auch das Straßenbild des Metaverse von konkurrierenden Werbeflächen bestimmt. Eingeloggt wird sich in diese virtuelle Welt vom heimischen Rechner oder von öffentlichen Terminals aus. Die dreidimensionale personelle Repräsentation einer Person wird als A vatar bezeichnet und ist den Figuren heutiger Computerspiele nicht unähnlich. Die Bewegungsmöglichkeiten im Metaverse sind durch die Programmierung streng reglementiert, man kann sich beispielweise nicht an beliebiger Stelle materialisieren, sondern muss sich stets über festgeschriebene Ports einloggen, und viele Bereiche sind nur mit entsprechender Zulassung zugänglich. Auch das Erscheinungsbild ist in seiner Größe und Form nicht beliebig gestaltbar, sondern an bestimmte Normen gebunden. Das Aussehen und die Zugangsberechtigungen entsprechen in der Welt des Metaverse der Reputation einer Person; daran, wie realistisch und aufwendig ein A vatar gestaltet ist, sowie an der Berechtigung für exklusive Clubs wie das Black Sun, zeigt sich die Erfahrenheit sowie der soziale Status des Nutzers.
Protagonist "Snow Crash" hat zwei Hauptcharaktere, deren Wege sich früh in der Geschichte kreuzen und die sich im Verlauf der Handlung miteinander verbünden. Wichtigste Figur ist Hiro Protagonist, der zu Beginn des Romans als Pizzakurier für Cosa Nostra Pizza arbeitet. Ferner ist er freischaffender Programmierer/Hacker und hat an den Anfängen des Metaverse mitgearbeitet. Zudem besitzt er ein Paar japanischer Schwerter, in deren Handhabung er sowohl in der Realität wie auch in der virtuellen Welt sehr geübt ist. Trotz seiner unbestrittenen Fähigkeiten lebt er in der realen Welt in relativer Ar-
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mutund teilt sich mit dem sowjetischen Nuclear Fuzz Grunge Rocker Vitaly Chernobyl ein größeres ,Zimmer' in einem Lagerhaus. Bei einem beinahe misslungenen Pizzaauslieferungsauftrag trifft Hiro auf die fünfzehnjährige Y.T., die mit ihrem Skateboard als Kurierfahrerin arbeitet. Wie Hiro ist sie ein rebellischer Charakter, der sich über Grenzen hinwegsetzt und seinen eigenen Weg geht. So weiß ihre Mutter, die als FBIBeamtin arbeitet, nichts von der Berufstätigkeit ihrer Tochter, die diese letztlich wegen ihrer Faszination an dem Hightech-Skateboard ausübt. Im Verlauf der Geschichte erlangt sie das Vertrauen von Hiro und dem Mafiaboss Onkel Enzo, die beide ihre unkonventionellen Methoden der Informationsbeschaffung zu schätzen wissen.
Inhalt "Snow Crash" handelt von einem gleichnamigen Computer-Virus, der in der Lage ist, jeden Computernutzer, der ihm im Metaverse begegnet, zu infizieren und quasi das Gehirn desjenigen zu löschen. Durch Zufall erfahrt Hiro Protagonist von dieser gefährlichen Software, der bereits ein Bekannter erlegen ist. Er erkennt das Potential des Snow Crash Virus und realisiert, dass dieser Art von Beeinflussung gerade Hacker wie er als Erste zum Opfer fallen werden. Hiro begibt sich auf eine abwechslungs- und verfolgungsjagdenreiche Recherche durch den Datenraum und die balkanisierten USA, wobei ihm der Mafiaboss Onkel Enzo, verbündete Sicherheitsunternehmen und die Kurierfahrerin Y.T. mit Rat und Tat zur Seite stehen. Im Verlauf des Romans kommt er einer riesigen Verschwörung christlich-fundamentalistischer Kreise auf die Spur, welche den Snow Crash Virus mit Hilfe des befreundeten Medienmoguls L. Bob Rife und durch infizierte Gläubige über das Metaverse verbreiten wollen. Hiro und seinen Mitstreitern gelingt es in einem finalen Showdown jedoch, ein Gegenmittel zu Snow Crash zu aktivieren und die originalen Viruspläne mitsamt der Verschwörer zu vernichten. Form Die Geschichte in "Snow Crash" wird aus Sicht eines allwissenden Erzählers geschildert, wobei der Leser stellenweise direkt angesprochen wird und ferner auch einige Wechsel in die Ich-Perspektive stattfinden. Stephensons Roman ist dabei nicht chronologisch, sondern springt auf der Zeitachse hin und her. Zusätzlich vollzieht der Autor vielfältige Abschweifungen und Gedankensprünge. Dabei wechseln sich humorvoll-satirisch anmutende Episoden immer wieder mit längeren Passagen, die zum Verständnis nötige Hintergrundinformationen über Glossolalie, Linguistik, sumerische Mythologie, religiöse Bekehrung und virale Ansteckung liefern oder der detaillierten Erläuterung von Technikhintergründen und -historie dienen.
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Die Schilderung der Welt und der Figuren von "Snow Crash" ist sehr plastisch und lebendig. Immer wieder beschreibt Stephenson etwa Straßenszenen, Wahngebiete oder Charaktere sehr detailliert in ihrem Erscheinungsbild, auch wenn diese für die Handlung keine weitere Rolle spielen. Durch die eher chaotische Struktur und die vielfachen Abschweifungen Stephensons verfügt "Snow Crash" über keinen fesselnden Plot, sondern ist als typischer postmoderner Roman mit zahllosen Verweisen zu medialen Texten und akademischen Diskussionen zu verstehen, in dem sich sehr flott geschriebene Teile mit teilweise sehr langen info dumps abwechseln.
Diskursive Inhalte Stephenson zeigt eine durch und durch postmoderne Welt, bei der die globalisierte Wirtschaft anderer Cyberpunk-Romane auf die Spitze getrieben wird. Die Macht internationaler Konzerne ist so weit angewachsen, dass diese in "Snow Crash" eigene ,Staatsangehörigkeiten' verleihen können und damit auch territorial die modernen Nationen verdrängt haben. Darüber hinaus gibt es neotribalistische Zusammenschlüsse, in denen Menschen mit gleichen Interessen oder Vorstellungen sich gleichfalls zusammengefunden haben. Ferner thematisiert Stephenson auch eine weltweite Medienwelt, die anscheinend die Menschen wieder miteinander verbindet, aber auch Gefahrenpotential in Form von Gleichschaltung und Propaganda beinhaltet. Im Gegensatz zu den frühen Cyberpunk-Romanen der 1980er lässt der Autor eine Leichtigkeit erkennen, mit der er sich seinen Thematiken in "Snow Crash" annähert. Eine Vielzahl von Cyberpunk-Elementen, wie der nonkonformistische Hacker, Technikfetischismus und zerbrechende Nationalstaaten, werden in geradezu selbstironischer Weise benutzt, um sich mitunter selbstreflexiv mit diesen neuen Klischees der Science Fiction auseinanderzusetzen. Während frühere Romane von Schwermütigkeit und depressivem Nihilismus geprägt waren, ist "Snow Crash" wesentlich heiterer und zeigt die humoristische Seite einer postmodernen, globalisierten Welt. So ist Stephensons Roman auch als Wunschtraum einer faszinierenden HightechWelt zu verstehen, die von intellektuellen Herausforderungen, technischen Spielereien und beeindruckenden Waffen geprägt ist.
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INHALTE, THEMATIKEN, ONTOLOGIE EINE ZUSAMMENFASSUNG
Die vorhergehende Darstellung hat ergeben, dass es sich bei der CyberpunkLiteratur um eine äußerst facettenreiche Gattung von Geschichten handelt, die neben thematischen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten auch eine Reihe von Unterschieden haben. Es hat sich gezeigt, dass die meisten der bisherigen Beschreibungen der Cyberpunk-Literatur, die diese fast immer unter den Stichworten nahe Zukunftsentwürfe, Konzernherrschaft, Hacker und Computernetzwerke zusammenfassen, zu kurz greifen. 24 Tatsächlich geben derartige Beschreibungen in der Regel jenen undifferenzierten Eindruck wieder, der dadurch entstanden ist, dass die Cyberpunk-Literatur von vielen Autoren mit dem - zugegebenermaßen herausragenden - literarischen Werk Gibsons gleichgesetzt wird. 25 Derartige Betrachtungen werden jedoch der wirklichen Bandbreite des literarischen Cyberpunk nicht gerecht, durch die sich die vielgepriesene Offenheit der Texte und ihre verschiedenartigen Auseinandersetzungen mit einer zunehmend technisierten Wirklichkeit erst ergeben. 26 In den meisten Cyberpunk-Erzählungen werden nahe Zukunftsentwürfe beschrieben, die in der Regel im 21. Jahrhundert angesiedelt sind. Eine Reihe von Werken, wie etwa Sterlings "Schismatrix", Effingers "Das Ende der Schwere", Swanwicks "Vakuumblumen" und große Teile von Bears "ri'on", beschreiben jedoch Welten, die sich vom ausgehenden 22. bis ins 24. Jahrhundert erstrecken und damit zeitlich doch recht weit von der paradigmatisehen nahen Gegenwart entfernt sind. Derartige Texte sind praktisch immer in den Weiten des Weltraums angesiedelt und oft als eine Art CyberpunkVersion der klassischen Space Opera zu verstehen. Im Gegensatz zur Space Opera der klassischen ScienceFiction und deren far future Weltraumabenteuem, die gerne Zehntausende von Jahren in der Zukunft spielen, können diese Weltentwürfe der Cyberpunk-Literaten demnach trotzdem als verhältnismäßig nah bezeichnet werden. Dennoch zeigt sich hier, dass Cyberpunk-
24 Als Beispiele seien genannt: BUTLER: "Cyberpunk"; a.a.O.; S. 9; SCHRÖDER: "Science-fiction als Social Fiction ... "; a.a.O.; S. 89; MA YER, Ruth: "Cyberpunk. Eine Begriff.i·bestimmung"; a.a.O: S. 167. 25 LATHAM: "Cyberpunk = Gibsan = Neuromancer"; a.a.O. 26 Vgl. CURL, Ruth: "The Metaphors ofCyberpunk: Ontology, Epistomology. and ScienceFiction" In: SLUSSER, George; SHIPPEY, Tom (Hrsg.): "Fiction 2000. Cyberpunk and the Future of Narrative"; The University of Georgia Press, Athens 1992, S. 234.
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Erzählungen nicht zwangsläufig in einer unmittelbaren Zukunft angesiedelt sein müssen. Die verschiedenen Cyberpunk-Romane beschreiben überdies sehr vielfältige Handlungsorte. Viele Geschichten sind auf der Erde angesiedelt, wobei US-amerikanische Großstädte wie Los Angeles, New York und Boston ebenso vertreten sind wie die orientalische und asiatische Welt. So werden gerne auch exotische Metropolen wie Rangun, Tokio, Istanbul, aber auch fiktive arabische Städte der Zukunft als Schauplätze genutzt. Europäische Städte spielen interessanterweise erst in späteren Cyberpunk-Werken, wie etwa in Sterlings "Holy Fire" (1996) und Ken MacLeads "Cosmonaut Keep" (200 1) eine größere Rolle. Dabei werden in Cyberpunk-Erzählungen verschiedenste Stadtszenarien entworfen. Einige der beschriebenen Städte zeichnen sich durch auffallende Verwahrlosung, sozialen Verfall, omnipräsente Medien- und Werbelandschaften und gelegentlich auch eine weitgehend zerstörte Natur aus. Allerdings spielen bei weitem nicht alle Cyberpunk-Erzählungen vor einem derartig postapokalyptisch anmutenden Hintergrund. Häufig hat es den Anschein, dass sich die Handlungsorte nicht besonders stark von ihren V orbildern der Gegenwart unterscheiden und in einigen Fällen werden auch geradezu utopisch erscheinende Zukunftswelten geschildert. Eine Gemeinsamkeit der Cyberpunk-Erzählungen, die auf der Erde spielen, ist folglich nicht die Art der Stadtszenarien, sondern vielmehr, dass sie praktisch immer im urbanen Raum angesiedelt sind. Darüber hinaus gibt es jedoch auch erstaunlich viele Cyberpunk-Werke, in denen außerirdische Orte beschrieben werden - eine Begebenheit, die in den meisten Auseinandersetzung mit den Weltentwürfen der CyberpunkAutoren unerwähnt bleibt. Die Darstellungen der von Menschen besiedelten Lebensräume im Weltall sind dabei ebenso verschiedenartig wie die Beschreibungen der Erde selbst. So werden Raumstationen und Weltraumkolonien teilweise als geradezu paradiesische Orte dargestellt. Die Planeten, Asteroiden und Raumstationen in anderen Werken wiederum sind vornehmlich von Abnutzung, organischem Verfall und versagenden Technologien geprägt. Den meisten Darstellungen von extraterrestrischen Welten der Cyberpunk-Autoren ist dabei jedoch gemein, dass sie auch hier ihren nicht-idealisierenden Blick auf die Technik fortsetzen und einen offensichtlichen Bruch mit den tradierten Weltraum-Hochglanzphantasien klassischer Science-Fiction-Geschichten vollziehen. Dem zentralen Anspruch, in ihren Werken Welten zu schildern, in denen Hochtechnologien die Straße erreicht haben, und sich zudem in ihren Darstellungsformen von der klassischen Science Fiction abzugrenzen, sind die Cyberpunk-Literaten nur bedingt nachgekommen. Bei einigen Autoren spielen die Geschichten nach wie vor in bekannten Science-Fiction-Settings:
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Wissenschaftliche Umgehungen, exklusive Weltraummissionen und bürgerliche Existenzen sind auch in Cyberpunk-Erzählungen noch erstaunlich oft zu finden. Nicht selten wird das ,normale' Leben und die Auswirkungen von Hochtechnologien auf den Alltag nicht so stark oder exklusiv thematisiert, wie Sterling und andere Vordenker es propagierten. Auch lässt sich bei manchen Autoren eine Affinität zum Stil der hard SF nicht ganz von der Hand weisen und die Erläuterung der wissenschaftlichen Hintergründe technischer Geräte mündet gelegentlich in klassischen info dumps. Neben derartigen an der hard SF orientierten Cyberpunk-Texten, finden sich jedoch auch Werke, bei denen sich die Autoren mit ihrer Konzentration auf die Innenweit ihrer Protagonisten deutlich der Mystik der NewWave verpflichtet zeigen. Auch wenn es daneben Romane gibt, die den hohen literarischen und inhaltlichen Ansprüchen der Movement Bewegung gerecht werden, zeigt sich deutlich, dass die Cyberpunk-Literatur insgesamt fest in den Traditionen der Science Fiction verwurzelt ist. In dieser Vielfalt der Referenzen auf verschiedene Subströmungen (hard SF, New Wave, Space Opera) manifestiert sich teilweise jedoch auch der subversive Anspruch der Cyberpunk-Literaten, die Grenzen innerhalb der Science Fiction zu verwischen und sich je nach Bedarf der Motive, Ästhetiken und Schreibweisen bisher voneinander getrennter Genres zu bedienen und diese miteinander zu vermischen. Die Autoren beschränken sich dabei jedoch nicht nur auf den literarischen Fundus der Science Fiction, sondern nutzen vielfach auch Literarästhetiken, Topoi und Motive verschiedener Mainstream- und Avantgarde-Strömungen (hier sind insbesondere die hardboiled detective fiction und die Arbeiten William S. Burroughs' und Thomas Phynchons hervorzuheben), um so eine Art "cultural Petri dish where writing gene lines splice"27 zu erschaffen, wie Sterling sich ausdrückt. In akademischen Analysen zur Literatur der Movement-Gruppe wird wiederholt darauf hingewiesen, dass Cyberpunk-Begrifflichkeit mit darauf zurückzuführen sei, dass es sich bei den Protagonisten dieses literarischen Genres um eine Art Zukunftsversion des klassischen Punkers handele, der dadurch gekennzeichnet sei, dass er mit Cybertechnologien agiere. Die vorhergehende Bestandsaufnahme hat jedoch gezeigt, dass diese beiden Annahmen nur gelegentlich zutreffen. Bei weitem nicht alle Cyberpunk-Protagonisten sind Außenseiterfiguren aus marginalisierten Unterschichten, die am Rande der Gesellschaft leben und von einer nihilistisch-anarchistischen Grundhaltung gekennzeichnet sind. Tatsächlich trifft diese Beschreibung nur für einen Teil der dargestellten Charaktere zu. Mindestens ebenso häufig handelt es sich bei den Protagonisten um Figuren mit mittelständisch-bürgerlich bis gehobenem Hintergrund.
27 STERLING, Bruce: "Prelace"; a.a.O.; S. xiii.
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Das Facettenreichtum der Cyberpunk-Literatur zeigt sich auch in der Vielfalt der von den Autoren beschriebenen Gesellschaftsentwürfe. Neben radikalkapitalistischen "Konzernokratien"28 werden anarchistische Aussteigerkommunen, Entwicklungen zu I(]einst- und Mikrostaaten und gelegentlich auch gewöhnliche Demokratien dargestellt (teilweise auch in ein und demselben Werk). Anders als häufig unterstellt, schildern die Autoren dabei nicht nur dystopische Entwicklungen, sondern sie bleiben in ihren Beschreibungen häufig neutral und stellen bisweilen sogar utopistische Gesellschaftsentwürfe vor. Auch sind die in der Cyberpunk-Literatur beschriebenen Technologien sehr heterogen. Anders als von vielen Autoren angenommen, beschäftigen sich die wenigsten Cyberpunk-Erzählungen ausdrücklich mit Computertechnologie. Tatsächlich kommen in rund einem Drittel der untersuchten Werke Computer praktisch nicht vor. Zwar ist in Cyberpunk-Romanen oft eine Thematisierung von absehbaren, zukünftigen Technologien (Fortschritte in Computer-, AI-, Medien- und Biotechnologie) zu finden, aber sie spielt nicht immer eine so herausragende Rolle. Gemeinsam ist den Werken jedoch eine unvoreingenommene Sicht auf wissenschaftliche Entwicklungen, deren bizarrste Resultate nicht kategorisch abgelehnt werden. Dass die Technik mit all ihren guten und schlechten Seiten eine nicht wegzudenkende Komponente des menschlichen Lebens ist, ist in den Darstellungen der Cyberpunk-Autoren immer wieder zu finden. Erstaunlich ist dagegen die Entdeckung, dass ein großer Teil der Cyberpunk-Autoren in ihren Romanen eine Entwicklung des Menschen in eine wie auch immer geartete Transzendenz zumindest andeutet. Manchmal mehr, manchmal weniger stark thematisiert, findet sich auf den letzten Seiten oft ein Hinweis darauf, dass die endgültige Grenze des menschlichen Todes zu überwinden ist und ein darüber hinausgehendes Weiterleben der Seele oder des Geistes möglich ist. Oft spielt dabei eine technische Basis in Form einer Digitalisierung des Bewusstseins eine Rolle, aber auch andere Szenarien werden vorgestellt, bei denen die Transzendenz als ein nächster Schritt der menschlichen Geistesevolution beschrieben wird. Eine Analyse dieses bisher weitgehend ignorierten Cyberpunk-Phänomens wird auf Grundlage zeitgenössischer Medientheorie im folgenden Kapitel geliefert.
28 SHINER, Lewis: "Frontera; a.a.O.; S. I 02.
IV. Cyberpunk und TheorieEine medientheoretische Analyse
4.1 MCLUHAN Einleitung In den vorhergehenden Kapiteln wurde das Spannungsfeld der V orbedingungen, der Entstehungsgeschichte und der Ansprüche der Cyberpunk-Bewegung abgesteckt sowie der Bezugsrahmen zur klassischen ScienceFiction und weiteren literarischen Genres hergestellt. Darüber hinaus hat die Analyse ausgewählter Romane einen ersten Eindruck der Thematiken, Inhalte und Ästhetiken der Cyberpunk-Literatur verschafft. Dabei konnte herausgearbeitet werden, dass die Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Technologiezeitalters des ausgehenden 21. Jahrhunderts tatsächlich ein zentrales Thema ist. Dass die Autoren hierfür die von ihnen wahrgenommenen Phänomene des gesellschaftlichen, populärkulturellen und technologischen Wandels aufgriffen und diese Tendenzen in ihren Werken weiterdachten, wurde an anderer Stelle bereits ausführlich besprochen (vgl. Kapitel 2.3 der vorliegenden Arbeit). In diesem Teil der Arbeit soll nun der These nachgegangen werden, dass nicht nur derart offensichtliche Beobachtungen ihren Niederschlag in den Geschichten der Cyberpunk-Literaten fanden. Tatsächlich zeigt eine medientheoretisch orientierte Lektüre der Werke, dass die Weltentwürfe der Cyberpunk-Autoren einen Bezugsrahmen aufweisen, der weit über die Sphäre von reinen Zeitgeistphänomenen hinausreicht. So lassen sich viele Cyberpunk-Texte nicht nur als eine literarische Reflexion über das sich im Umbruch befindende Verhältnis von Mensch, Maschine, Körper, Realität und Simulation verstehen, sondern sie können darüber hinaus auch als eine künstlerische Verarbeitung von Medien- und Gesellschaftstheorien gelesen werden, die sich auf geisteswissenschaftlicher Ebene akademisch mit ehendiesem Paradigmenwechsel beschäftigten. So kann man schließlich die Cyberpunk-Literatur als eine Fiktionalisierung derartiger Theorien einer von modernen Medien und Technologien geprägten Welt geprägten Welt verstehen. Unter Nutzung ihrer künstlerischen Freiheiten gehen die Cyberpunk-Autoren dabei jedoch immer wieder über die in der
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Theorie verhafteten Vorstellungen hinaus, wobei es ihnen bisweilen gelingt, solche Theorien nicht nur zu ergänzen, sondern auch weiterzudenken und -zuentwickeln. Im Folgenden sollen die Überlegungen und Theoriekonstrukte einiger jener Denker vorgestellt werden, deren Einfluss auf die Cyberpunk-Literatur am deutlichsten hervortritt, anschließend werden die literarischen Werke auf ihre Verwendung und das Verständnis der verarbeiteten philosophischen Konzepte hin untersucht. Für diese Gegenüberstellung bieten sich insbesondere die Überlegungen des Kanadiers Marshall McLuhan sowie die Vorstellungen postmoderner Theoretiker wie Jean Baudrillard an, da sowohl in der Theorie als auch im Cyberpunk mit den gleichen Motiven und Topoi gearbeitet wird.
Herbert Marshall Mcluhan Der kanadische Medientheoretiker Herbert Marshall McLuhan ( 1911-1980) gilt bis in die Gegenwart als einer der prominentesten Pioniere der Medienund Kommunikationstheorie. Ab den 1960er Jahren beschrieb McLuhan in Schriften wie "The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographie Man" (1962, dt. Titel "Die Gutenberg-Galaxis") 1 und "Understanding Media. The Extensions of Man" ( 1964, dt. Titel ,,Die magischen Kanäle. Understanding Media") seine grundlegenden Gedanken über die Beziehung und die Interaktion zwischen Individuum, Gesellschaft, Kultur und Medium bzw. Technologie. Seine Theorien werden heute gerne als Gründungsdokumente der Medientheorie 2 bzw. als eine Neubegründung der Medienwissenschaft als
Dieses Werk bezeichnete McLuhan als Fußnote zu den Arbeiten des Wirtschaftswissenschaftlers und Medientheoretikers Harold A. Innis, der sich in den 1950er Jahren in seinen Arbeiten "Empire and Communications" (1950) und "The Bias of Communication" (1951) ausführlich der Geschichte der Medien und ihrem Einfluss auf die politische und kulturelle Entwicklung der Gesellschaft widmete. Mit der Betonung der Bedeutung der Medien- und Technikgeschichte für die Gesellschaft setzte er der traditionellen subjektzentrierten Geschiehtsauffassung recht fiüh eine strukturalistische entgegen. Diesen strukturellen Zugriff auf die Medien übernahm McLuhan und schrieb in seiner Arbeit den Ansatz Innis' fort (vgl. McLUHAN, Marshall: "Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters"; Addison-Wesley, Bonn 1995 (zuerst 1962), S. 63; MARCHAND, Philip: "Marshall McLuhan. Botschajier der Medien. Biographie."; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999 (zuerst 1998), S. 165169; WINKLER, Hartmut "Die magischen Kanäle, ihre Magie und ihr Magier. McLuhan zwischen lnnis und Teilhard de Chardin. "; http://wwwcs.unipaderborn.de/-winkler/mcluha_ d.pdf)
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Medientheorie verstanden 3, und Norbert Bolz tituliert sie explizit als "Fröhliche Medienwissenschaft" 4 • Bereits zur Zeit ihrer Entstehung erfuhren die Aussagen und Ideen McLuhans weltweite Resonanz. So wurden seine Thesen, die keiner bestimmten Disziplin zuzuordnen waren, in denen jedoch wahrnehmungs-, technik-, sozial- und kulturtheoretische Fragestellungen miteinander in Bezug gesetzt wurden, weit über akademische Kreise hinaus wahrgenommen und diskutiert. Dabei wurde McLuhan einerseits zum schillernden Pop-Philosophen, Popstar und Dandy 5 sowie als Apostel des elektronischen Zeitalters stilisiert6, der eine undogmatische Phänomenologie moderner Gesellschaften lieferte und damit zum ersten Diagnostiker der Medienkultur wurde. 7 Die Begeisterung gipfelte in dem Urteil, dass McLuhan "der wichtigste Denker seit Newton, Darwin, Freud, Einstein und Pawlow"8 und aus dem zeitgenössischen Diskurs um Kultur und Medien nicht mehr wegzudenken sei. Auf der anderen Seite wurde McLuhan von seinen Kritikern als Wirrkopf, "populistischer Schwätzer"9 und "Marktschreier '