Topos Tatort: Fiktionen des Realen [1. Aufl.] 9783839415108

»Aber die Polizisten sind nicht nur die besseren Photographen, sondern auch die besseren Schriftsteller.« (Uwe Nettelbec

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German Pages 216 Year 2014

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Topos Tatort: Fiktionen des Realen [1. Aufl.]
 9783839415108

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Anna Häusler, Jan Henschen (Hg.) Topos Tatort

für Alf Lüdtke

Anna Häusler, Jan Henschen (Hg.)

Topos Tatort Fiktionen des Realen

Diese Publikation wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Graduiertenkollegs »Mediale Historiographien« (Erfurt, Weimar, Jena) gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Thomas Bachler, »Parkbank Dresden 03« Lektorat: Anna Häusler, Jan Henschen Satz: Katharina Lang, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1510-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Fiktionen des Realen Zur Konstruktion des Tatorts Anna Häusler/Jan Henschen | 7

Haufen Im Büro Alf Lüdtke | 11

Tatorte: eigensinnig Bettine Menke | 15

Staub Uwe Nettelbeck | 31

Tatort Polizeirevier Anna Häusler | 35

Erkenntnis und Verbrechen Schillers Pariser Ermittlungen Stephan Gregory | 45

Der große Straßenraub Dokumente eines Verbrechens in Paris Joke de Wolf | 75

Tatorte Thomas Bachler | 89

B LOOD S IMPLE Reste der Photographie und Spuren des Films Helga Lutz/Dietmar Schmidt | 99

Der Schuss im Tonfilmatelier Jan Philip Müller | 115

Toter Briefkastenonkel Rembert Hüser | 135

Tatort-Dinge Dominik Grafs Daniel Eschkötter | 157

Vom Aufheben alter Bilder Wenn die Geschichte dem Fernsehen zum Tatort wird Wolfgang Struck | 169

Der Polizeistaatsbesuch Roman Brodmanns Tatortaufnahmen des 2. Juni 1967 Jan Henschen | 185

Tat-Ort und Schau-Platz Straßenmediale Konstellationen der Race Riots in Chicago 1919 David Sittler | 197

Die Autoren | 211

Fiktionen des Realen Zur Konstruktion des Tatorts * 1

Anna Häusler/Jan Henschen Eine Tat ist an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte. § 9 StGB Ort der Tat

Der Tatort ist die räumliche Eingrenzung eines Verdachts, des Verdachts einer verbrecherischen Tat. Ausgangspunkt für einen Tatort ist zunächst nicht der Ort, ist zunächst nicht die Tat, sondern eben diese Vermutung: Etwas könnte geschehen sein; etwas, das sich verbirgt und nachträglich gesetzt werden muss; etwas, das Rest eines Ereignisses, einer Handlung gewesen sein könnte, dem nachzugehen geboten ist. Einmal ausgesprochen, werden Personen, Aussagen, Fundstücke zu Zeugen, Verdächtigen, Hinweisen, Indizien: »Wer hat was wann womit getan?« Mit einer Mutmaßung kommt der Tatort in die Welt. Seine Grenzen definieren dann eine Fläche, für die eine Geschichte mit zeitlichem Ablauf konstruiert werden muss. Alles in diesem Raum kann dabei Bedeutung gewinnen, zur Spur werden.

*

Der Band geht auf den Workshop »Tatorte« zurück, der im Oktober 2008 am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien zum 65. Geburtstag des Historikers Alf Lüdtke in Weimar stattfand.

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Ein Tatort ist sui generis eine Projektionsfläche für Spekulationen und Imaginationen. Der Erzählung einer Tat wird alles untergeordnet. Ein Tatort ist nicht nur topographische Vermessung einer gegen ein Gesetz verstoßenden Tat, er ist Idealort für Geschichten und ihre Aufzeichnungsmedien. Zugleich machen solche medialen Konstruktionen den Tatort spätestens mit Einsatz der modernen Kriminologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum wesentlichen Schauplatz sowohl der an der Ermittlung und Strafverfolgung beteiligten Instanzen und Personen als auch zu einem kulturellen Topos. Nicht selten schreiben Tatorte Geschichte, werden zu Fixpunkten von Verbrechensphantasien. Die Beiträge geben Einblick in die vielfältige Bandbreite der Wechselwirkungen zwischen topographischem Schauplatz, kriminologischem Verfahren, Raumsemantik und geradezu phantasmagorischem Ort. Anhand von und mit filmischen, literarischen, photographischen und historiographischen Beispielen werden die Spielräume zwischen Personen, Institutionen, Dingen und damit verbundenen Praktiken zu spezifischen Orten verhandelt, die den »Tatort« konstituieren. Dabei gehen solche Verhandlungen über die Reflexion eines vermeintlich objektiv zu denkenden Gegenstandes hinaus, wenn der Anteil von Erzählweisen und Medialisierungen an der Modellierung und Überlieferung von »Tatorten« zugleich in den Blick genommen wird. So bieten die Autoren je eigene Definitionen, Konstruktionen und Möglichkeiten eines Tatortbegriffs an, ob als nachträgliche Tatortlektüre oder vordergründige Ereigniskulisse, als semiotisches Gefüge, als Topographie, Kamerablick, Inszenierungsweise, Abbild, Dokument, Fiktion oder Historie. Dabei sind es die Implikationen des Realen, denen sich die fiktionalen Konstrukte des Tatorts verdanken, sowie es die Fiktionen und Medialisierungen sind, die dem Tatort wiederum Realität verleihen. Ein Tatort muss daher noch lange nicht als solcher erscheinen, anders gesagt kann er wie ein Tatort ›behandelt‹ werden, ohne de jure oder de facto als einer zu fungieren. Er kann jeder Tatsächlichkeit entbehren und dennoch einen Raum des Möglichen öffnen, der sich lediglich in der Gewissheit der Ungewissheit manifestiert und sich einzig in den Verlaufsspuren eines Verdachts niederschlägt (Anna Häusler). Er kann sich jeder Lokalisierbarkeit entziehen und dadurch Dimensionen annehmen, die ihn zu einem unüberschaubaren Tableau des Verbrechens und seiner Erkenntnisapparaturen ausweiten (Stephan Gregory). Ein Tatort zieht dann unzählige weitere Tatorte nach sich,

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wird zum Motiv einer Serie, an der sich wiederum eine Spurensuche anstellen lässt, im Zuge derer die ›Orte‹ des Tatorts ihre Bedeutung wechseln, alte Geschichten fortschreiben und neue einrücken (Rembert Hüser). Spurenlese kann aber auch anhand von Indizien stattfinden, die den Tatort nicht nur im medialen Sinne rekonstruierbar, nacherzählbar machen, sondern materialiter, das heißt unmittelbar und quasi enzyklopädisch enthalten. Im Gegensatz zu solch einer musterhaften Spur, wie sie etwa der Staub hinterlässt (Uwe Nettelbeck), sind photographische Bilder wiederum in der Lage, ›Orte‹ anhand einer Spurlosigkeit auferstehen zu lassen, die sie nicht als Tatorte zeigen und dennoch als solche evozieren: sei es aufgrund einer Leere, einer »Menschenleere« im Bild, die Argwohn schürt und Phantasien weckt (Joke de Wolf); sei es aufgrund eines Loches, einer Markierung im Photo selbst, das den Ort im Bild mit einer ›realen‹ Tat assoziiert (Thomas Bachler). Oder es ist der Rest eines Mediums in einem anderen, hier der Photographie im Film, an der sich die Unmöglichkeit versinnbildlicht, sämtliche Spuren zu beseitigen (Helga Lutz/Dietmar Schmidt). Auf ähnliche Weise verschränkt sich schließlich der Eigensinn einer Spur mit der Spur dieses Eigensinns, die in einer obstinaten Störung auftritt (Bettine Menke). Durch die zwingende Nachzeitigkeit der Ermittlungen am Tatort geraten akustische Momente meist ins Hintertreffen bei der Geschehensrekonstruktion. Mit der Etablierung neuer Aufzeichnungs- und Wiedergabetechniken wie dem Tonfilm – und in enger Verkettung der damit einsetzenden Veränderung der Tatorterzählung – können sie jedoch zum entscheidenden, überführenden Indiz, zum ›akustischen Ding‹ werden (Jan Philip Müller). So ist es gerade die alltägliche Dingwelt, die für den Tatort entscheidend gemacht wird. Insbesondere der Film betrachtet den Tatort nicht einfach, sondern konstituiert ihn im Blick der Kamera, lässt ihn über die Inszenierung von Dingen des Alltäglichen überhaupt sichtbar werden (Daniel Eschkötter). Das gilt nicht weniger für die historische Dimension. Der gegenwärtige Tatort wird über »Dinge aus der Geschichte« aktualisiert, vergangene Tatorte aus der Geschichte gewinnen (wieder) Aktualität und werden so Gegenwart und erneut zum Tatort (Wolfgang Struck). Dieser Topos Tatort generiert sich schließlich als Arbeit an der Vergangenheit. Eine solche Tätigkeit hat zudem oftmals einen spezifischen Ort: den Schreibtisch. Die dortigen Materialansammlungen des Historikers bilden den Kern für den wissenschaftlichen Verwertungskreislauf von Suchen, Finden, Stapeln (Alf Lüdtke). Doch nicht allein solche

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nachzeitigen Arrangements machen den Tatort aus. Die Medien und Erzählweisen der nachträglichen Verfertigung von vorträglichen Mustern lassen sich am konkreten historischen Beispiel als Prozess der »Vertatortung« aufzeigen (David Sittler). Dabei spielt auch immer der Moment des Zufalls eine Rolle sowie die Anwesenheit von Aufzeichnungstechniken, die sowohl die Emergenz eines historischen Tatorts leiten als auch die Art der Überführung ins Archiv bestimmen – und damit letztlich in ›die Geschichte‹ (Jan Henschen).

Haufen Im Büro Alf Lüdtke

I. Ort der Handlung: mein Büro im ehemaligen Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen. Es klopft; ob ich »Herein!« sagte oder auch nur murmelte oder ganz schwieg – dies erinnere ich nicht. Dann öffnet sich die Tür, ich aber bin bei handschriftlichen Korrekturen in redaktioneller Arbeit an einem Text und schaue nicht auf. Nun eine Frauenstimme: »Oh, er ist wohl nicht da!«, und die Tür schließt sich. Erst jetzt schaue ich hoch und sehe, dass ich die Tür meines Büros gar nicht sehen kann! Vielmehr trifft mein Blick auf eine Wand hochgestapelter Papierhaufen – sie fungieren offenbar als Sichtschutz und begrenzen auch den Blick von der anderen Seite. Ich erinnere mich, dass ich schmunzelte und mich freute: Wie herrlich, so kann man wirklich im Geheimen anwesend sein, so lässt sich höchst diskret manches tun. Nicht zuletzt auch: arbeiten. Ich will nicht verschweigen, dass ich den Reiz dieses Versteckspiels fortan durchaus gerne genutzt und genossen habe. Die Haufenbildung in meinem Büro, die nicht in wenigen Wochen, sondern in Jahren allmählich den verfügbaren Platz eingeengt, ihn schließlich auf wenige schmale Gänge reduziert hatte – diese Haufenbildung erwies sich nicht nur als letzter (und dabei vornehmlich mit Missmut quittierter) Ausweg aus einer Endlos-Schleife: Wohin bloß mit den Massen der Archivalien- und sonstigen Textkopien, diesen so unerlässlichen Arbeitsmaterialien? Natürlich kannte und benutzte ich Leitz-Ordner. Ermahnungen der Verwaltung wie der Institutsdirektoren hatten freilich immer

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wieder die Knappheit der Ressourcen generell und nicht zuletzt die gebotene Sparsamkeit bei der Verwendung solcher Ordner eingeschärft. Ich hatte deshalb mit jedem neuen Jahresbeginn zunächst einen, dann zwei, schließlich drei solcher Ordner erbeten und auch bekommen. Sie waren aber reserviert für eingehende Briefe beziehungsweise die Durchschläge und später Ausdrucke ausgehender Korrespondenz, zunehmend von E-Mails. Die weiteren Stellplätze in Bücherregalen und Wandschränken, die fast die gesamte verfügbare Wandfläche bedeckten, waren schon sehr bald mit privaten oder aus der Instituts- oder auch der Universitätsbibliothek ausgeliehenen Büchern bestückt. Oder anders: Als die letzten verfügbaren Regalmeter, die durchaus dem Aufbewahren oder Aufstapeln kurzfristig verfügbarer oder zu benutzender Arbeitsmaterialien dienen sollten, belegt waren, blieben nur die Restflächen der Schreibtischplatte und eines (immerhin großen) Beistelltisches.

II. Meine Themen betrafen und betreffen das 19. und zunehmend das 20. Jahrhundert. Die Klage, wenn nicht das Jammern über die unermesslichen Materialmengen, ist bei Kolleginnen und bei Kollegen ein ›basso continuo‹ – in dieser Klage kann man nur übereinstimmen! Um die Reisekosten in Archive und Bibliotheken möglichst knapp zu halten, gehör(t)en zur externen Finanzierung von Projekten insbesondere Kopierkosten. Natürlich macht es Sinn, im Archiv bei der Durchsicht der Aktenfaszikel einer kommunalen, einer provinzialen oder auch anderer staatlicher wie privater Verwaltungen, etwa von Industriebetrieben oder auch Gewerkschaften, die Texte oder die Teile der Texte, die für die eigene Fragestellung wichtig waren oder schienen, in möglichst voller Länge oder doch wichtigen Teilen zur Hand zu haben. Das Vorbereiten und Ausfertigen der Kopieraufträge, gelegentlich auch der Verfilmungsaufträge, war also ein wesentlicher, mitunter der einzige Arbeitsschritt bei eilfertigen Archivaufenthalten. Und gewiss: Je großzügiger der Posten für diese Kosten bemessen war, desto mehr konnte man auch diese oder jene Seite oder gar jenen Text in Gänze kopieren: sicherheitshalber! Und dann trafen die Pakete im Institut ein – wohin damit? In meinem wie in (fast) allen anderen Büros gab es neben den vorgesehenen Ablageflächen natürlich auch Freiflächen, die dem Hin-und-her-Ge-

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hen als dem ›Verkehr‹ zu dienen hatten. Aber mussten sie so breit sein, konnte man nicht hier auch einiges von diesen notwendigen, aber doch auch platzraubenden Zugängen – ja: aufhäufeln? Räume sind bekanntlich dreidimensional. Wenn die Verkehrsflächen enger wurden, dann belegten die Stapel von Papier – diese Kopien-Haufen, die auf einem Teil dieser Flächen emporwuchsen – eben diese dritte Dimension. Und bei den Haufen auf dem erwähnten Beistelltisch wurde damit der eingangs erwähnte Sichtschutzeffekt erreicht, als unwillentliches Nebenprodukt.

III. Aktenordner lassen sich bekanntlich beschriften. Die Übersicht und Zugänglichkeit sind insofern zumindest sicherzustellen, wenn man hier nicht zu nachlässig ist oder zu lange wartet. Dasselbe gilt freilich auch für die Haufen. Und bei den Archivzusendungen lagen die jeweiligen Kopien nach den Ordnern, aus denen sie gezogen waren. Aus den beigelegten Auftragskopien ließ sich die jeweilige Ordnung rasch rekonstruieren. Insofern machte es Sinn, diese Häufelung nach Eingang vorzunehmen. Dann lag gewissermaßen oben der neueste und unten der ältere Teil. Aber in sich waren und blieben die Haufen geordnet. Dennoch: Wenn längere Zeit meine Arbeit an der »Arbeit in der DDR« liegen geblieben war, sich dafür die Konzentration ganz auf »Gewalt in den Kriegen des 20. Jahrhunderts« gerichtet hatte (oder ein anderes Thema kurzfristig, aber sehr nachdrücklich gleichsam ›dazwischengeschlagen‹ war), dann half nur genaues Erinnern. Denn erst allmählich merkte ich, dass die Haufen womöglich intern geordnet waren, mir aber dennoch jede Übersicht fehlte. Abhilfe schien aber nicht schwer: Aus DIN-A4-Blättern schnitt ich mir ›Fahnen‹, die sich rasch und ohne Mühe in die Haufen einfügen ließen, mit großgeschriebenen Kurztiteln oder Abkürzungen oder auch einzelnen Archivsignaturen. Diese Fahnen fügte ich allmählich in die Haufen ein, so dass diese (zum Teil mit einem farbigen Permanentmarker beschriftet) im Wortsinn ›bewimpelt‹ wurden. Freilich haftete diesen Anstrengungen, den Überblick zu behalten oder wiederherzustellen, immer auch etwas Nachträglich-Provisorisches an. Der Charme des Handschriftlichen war mit der Konzession an mitunter krakelige Buchstaben oder Zahlen ›erkauft‹. Gewiss ließen sich die Beschriftungen auch per Ausdruck herstellen. Und ab

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und an legte ich in der Tat einen halben Tag ein, um neue Fahnen mit den entsprechenden Beschriftungen auszudrucken, natürlich in einer Schriftgröße, die irgendwo in den Zwanzigern rangierte, also auch aus einiger Entfernung sofort lesbar war. Zudem erleichterte die Graphik größerer und kleinerer Buchstaben ebenso wie die Verwendung von Kursiven oder Geraden den Überblick.

IV. Aber natürlich war und ist es ein chronisches Problem, dass zumal kleine Stücke, kurze Texte in diesem oder jenem Haufen (oder war es doch der da drüben, oder, nein, der hier links?) verschwanden, und dass sie verschwunden blieben… Das Abheben und meistens sehr rasche Durchgehen dieses oder jenes Haufens, nicht selten unter Zeitdruck, gehörte zunehmend zu meinem Büroalltag. Wenn das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm die »Schichtung der Gegenstände« als zentrales Kennzeichen von »Haufen« ermittelt, so war eben diese Schichtung höchst unterschiedlich. Mitunter waren es jene wohlgeordneten Haufenbildungen, die nach den Grimms (mit Bezug auf Luther) von Gott gefügt und also auch nicht vom Menschen zu lösen waren. Nicht selten aber glichen meine Haufen eher jenen, für die die Grimms »verächtlicher Nebensinn« (sie erläutern: der von Pöbelhaufen) notieren. Zugleich aber kann und will ich den Reiz der Haufenbildung damit bestenfalls relativieren. Denn es gab auch immer wieder und nicht selten unverhoffte Freuden des Findens, vor allem: des Wiederfindens. In mancher Hinsicht war die Lust, die beim Erst-Finden, zum Beispiel im Archiv, immer wieder auch zu erinnern war, auf diesem Weg sogar zu intensivieren. Sie wurde auf eine Weise ›wirklich‹, wie sie sich in der bloßen Erinnerung nicht wiederherstellte. Die Gesamtbilanz bleibt freilich prekär, denn diese Lust des Findens oder des Wieder-Findens ist in keiner Weise vorhersehbar, sie lässt sich nicht gezielt produzieren. Sie mag sich ereignen – freilich nicht selten nach einer Durststrecke von Ärger und mitunter auch verzweifelter Wut: Wo, verflixt noch mal, ist denn dieser Text? Ich habe, ich hatte ihn doch – und brauche ihn jetzt, sofort?!

Tatorte: eigensinnig Bettine Menke

Die paradigmatische Erzählung überhaupt zum sogenannten ›Eigensinn‹, an dem Alf Lüdtke so eigen-sinnig gelegen ist,1 ist das Märchen vom eigensinnigen Kind, das sich unter den grimmschen Märchen findet, das aber wohl die wenigsten Kinder noch zu hören bekommen. Kennen kann man dieses Märchen, weil Oskar Negt und Alexander Kluge es in Geschichte und Eigensinn aufnahmen und ihm ein Kapitel widmeten in jenem Buch,2 das 1981 von vielen gekauft wurde, 1 | Für viele andere Beiträge Alf Lüdtkes vgl.: »Die große Masse ist teilnahmslos, nimmt alles hin…«. Herrschaftserfahrungen, Arbeiter-»EigenSinn« und Individualität vor und nach 1933. In: Busch, Hans-Joachim/Krovoza, Alfred (Hg.): Subjektivität und Geschichte. Perspektiven politischer Psychologie. Frankfurt a.M., 1989. S. 105-128. S. 115-124; ders.: Die Ordnung der Fabrik. »Sozialdisziplinierung« und Eigen-Sinn bei Fabrikarbeitern im späten 19. Jahrhundert. In: Vierhaus, Rudolf et al. (Hg.): Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen. Göttingen, 1992. S. 206-231. S. 217-227; ders.: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg, 1993. Darin u.a.: Lohn, Pausen, Neckereien: »Eigensinn« und Politik bei Fabrikarbeitern in Deutschland um 1900. S. 120-160. S. 140149; Arbeit, Arbeitserfahrung und Arbeiterpolitik. Zum Perspektivenwandel in der historischen Forschung. S. 351-441. S. 375-382; ders.: Kein Entkommen? Bilder-Codes und eigen-sinniges Fotografieren; eine Nachlese. In: Ders./Hartewig, Karin (Hg.): Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat. Göttingen, 2004. S. 227-236. S. 232ff. 2 | Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a.M., (3. Aufl.) 1981. Das Vorwort bestimmt die Fragestellung mit: »Uns in-

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die Marx wirklich (noch) studiert hatten und sich Ende der 70er vom Proletariat als dem historischen Subjekt auch politisch verabschiedeten.3 Von einem eigensinnigen Kinde, das Märchen Nr. 31 des zweiten Bandes der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in der Erstauflage von 1814, lautet wie folgt: »Es war einmal ein Kind eigensinnig und that nicht, was seine Mutter haben wollte. Da hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und es ward krank, und kein Arzt konnt’ ihm helfen und bald lag es auf dem Todtenbettchen. Als es ins Grab versenkt war, und Erde darüber gedeckt, kam auf einmal sein Aermchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber legten, so half das nicht, es kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selber zum Grabe gehen und mit der Ruthe auf das Aermchen schlagen, und wie sie das gethan hatte, zog es sich hinein und hatte nun erst Ruh unter der Erde.« 4 teressiert, was, in einer Welt, in der es offenkundig ist, daß Katastrophen eintreten, die stoffverändernde Arbeit leistet. Das sind die geschichtlichen Arbeitsvermögen: Entstanden aus Trennungsprozessen und bewaffnet mit Eigensinn, der sich gegen die Trennungen wehrt.« Den Titel teilen Negt/Kluge mit Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster, 1994. S. 139-153. Alexander Kluge zitierte in Die Patriotin (den unverfilmbaren 480 Seiten zum Film) das Märchen Das eigensinnige Kind schon einmal (Frankfurt a.M., 1979) im 1. Teil Deutschland im Herbst (S. 37; hier ist es mit einer Abbildung versehen). Der Film eröffnet: Die Geschichtslehrerin Gabi Teichert hat »festgestellt, daß das Ausgangsmaterial für den Geschichtsunterricht an den höheren Schulen Mängel aufweist« (S. 59). 3 | »[D]ie aus der Gesellschaft abgezogenen Motive verschwinden nicht einfach aus der Gesamtökonomie der Eigenschaften, sondern arbeiten dort weiter, wo sie am geschütztesten sind, im Subjekt. Der Eigensinn der Rebellion tritt, gleichsam verpuppt, in Gestalt des Privaten auf.« – So rahmen Negt/Kluge das Märchen (Geschichte und Eigensinn. S. 765); das ist durchaus symptomatisch für die politisch in Aussicht genommenen Alternativen. 4 | Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in ihrer Urgestalt (Erster Bd. 1812, Zweiter Bd. 1814). Hg. und mit einem psychologischen Nachwort versehen von Peter Dettmering. Repr. Lindau, 1985. 2 Bde. in einem Bd. Bd. 2. S. 120.

T ATORTE : EIGENSINNIG

Obwohl oder auch weil dieses Märchen vom Nicht-Aufhören-Können handelt und damit, durchs Unaufhörliche, den Eigensinn kennzeichnet, passt es hier doch (zunächst) nicht zum Anlass. Dem Historiker Alf Lüdtke, dessen 65. Geburtstag Anlass des »Tatorte«-Workshops war, und bei dem dieses Datum, zu unser aller Erleichterung, einmal nicht mit Rücknahme und Aufhören einhergeht, – ihm verdanken wir Hinweise darauf, den Eigensinn mit dem Einlegen von Arbeitspausen in Beziehung zu bringen, nicht aber mit dem Heldentum der Arbeit.5 So haben wir es tatsächlich mit einem datum in dem genauen wörtlichen Sinne: einer Gabe desjenigen, dem der Band gewidmet ist, zu tun. Die Beiträge nehmen Stichworte der veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten Alf Lüdtkes ebenso wie seine eher privaten Vorlieben auf: Tat-Orte wie der Tatort, der in Fernseh-Serie ging, um immer noch nicht aufzuhören, nicht aufzuhören. Korrespondierte das Ereignis des Workshops einem Datum, dem es nachlief, so adressiert der nun thematisch ergänzte Band Tatorte, die der Geschichte – und solche des Historikers,6 die Polizei (und deren Historiographie),7 5 | Vgl. Lüdtke: Lohn, Pausen, Neckereien. S. 140f.; ders.: Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende – Skizzen zu Bedürfnisbefriedigung und Industriearbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Huck, G. (Hg.): Sozialgeschichte der Freizeit. Wuppertal, 1980. S. 95-122; ders.: »Nichtstun«, »Gemächlichkeit«, »Hetze«. Zeiterfahrung und Zeitaneignung bei Arbeitern, Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen in der »großen Industrie« 1860-1940. In: Wissenschaftsbereich Kultur der Humboldt-Universität (Hg.): Freizeit als Lebensraum. Berlin/DDR, 1987. S. 31-44; »Helden der Arbeit« – Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR. In: Kaelble, H./Kocka, J./Zwahr, H. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart, 1994. S. 188-213.; »Helden der Arbeit«. Überlegungen zu Metaphern und sozialer Praxis im Deutschland des 20. Jahrhunderts. In: Strzelczyk, Jerzy (Hg.): Die Helden in der Geschichte und der Historiographie. Poznan, 1997. S. 241-254. 6 | Vgl. Lüdtke, Alf: Von geküssten Madonnen und Papiergeruch, Schreibtischsachsen und Karteileichen. Ein Gespräch mit Ludolf Kuchenbuch und Alf Lüdtke über den »Eigensinn des Gewesenen«, geführt von Philipp Müller. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG), 2 (2008). S. 159-176. 7 | Vgl. Lüdtke, Alf: Ein Polizeistaat und seine Polizisten. Skizzen zur Entwicklung der preußischen Polizei im Vormärz. In: Journal für Geschichte, 3 (1981). S. 22-27; ders.: »Gemeinwohl«, Polizei und »Festungspraxis«. Innere

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den Polizeiruf als oder auch statt Alltagsgeschichte – und damit auch Polizeireviere, Spuren, Akten,8 die Observation und das Beobachten ihrer (das heißt auch der Polizei) Beobachtbarkeit, die doch stets eine mediale ist. Hier ruht das eigensinnige Kind nicht. Vielleicht aber liegt es doch eher nahe anzunehmen, wenn denn eine Applikation der Geschichte Von einem eigensinnigen Kinde gesucht wird, dass nicht der Angesprochene, sondern niemand anders als das Graduiertenkolleg Mediale Historiographien, das unser gemeinsamer Ort des Forschens wie auch der dieser Tagung ist, im »eigensinnigen Kinde« eine Allegorie fände. Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm geben in jenem Anhang, mit dem sie bereits seit ihrer ersten Ausgabe versehen sind, an, es handle sich um eine »(Hessisch.) Einfach kindliche Lehre, wie im Märchen vom alten Großvater I.78. und vom gestohlenen Heller I.7.«,9 eine solche wäre aber entweder viel zu einfach, etwa: sei nicht eigensinnig; aber ist das eine »Lehre«? aber ist das »kindlich«? – oder doch gar nicht so einfach zu finden: Ist der eindrücklich sich mitteilende Schrecken dieses Märchens nicht die Mutter, die »da« »selber zum Grab gehen und mit der Ruthe auf das Aermchen schlagen« musste?10 Es ist der Schrecken des UnmoVerwaltung und staatliche Gewaltsamkeit in Preußen, 1815-50. Göttingen, 1982; ders.: Polizeiverständnis preußischer Polizeihandbücher im 19. Jahrhundert. Zur Folgenlosigkeit akademischer Diskurse. In: Heyen, E. V. (Hg.): Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime. Frankfurt a.M., 1984. S. 307-346; ders.: »Sicherheit« und »Wohlfahrt«. Aspekte der Polizeigeschichte. In: Ders. (Hg.): »Sicherheit« und »Wohlfahrt«. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M., 1992. S. 7-33; ders.: »Willkürgewalt des Staates«? Polizeipraxis und administrative Definitionsmacht im vormärzlichen Preußen. In: Reinke, H. (Hg.): »…nur für die Sicherheit da…«? Zur Geschichte der Polizei im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York, 1993. S. 35-55. 8 | Vgl. Lüdtke, Alf: Akten, Eingaben, Schaufenster: Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag. Berlin, 1997 (Mitherausgeber und Beiträger). 9 | Gebr. Grimm: Die Kinder- und Hausmärchen in ihrer Urgestalt. S. 230. 10 | Daher handeln Negt/Kluge hier zur guten und bösen Mutter (S. 766f.); zur Mutter in diesem Märchen vgl. vor allem Weber, Elisabeth: Eigensinn. In: Heinz, Rudolf/Kamper, Dietmar/Sonnemann Ulrich (Hg.): Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose als Spiegel der Zeit. Berlin, 1993. S. 105113. S. 107ff. In den folgenden Auflagen wurden, so Negt/Kluge, »einige

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tiviert-sich-von-selbst-oder-gar-nicht-Verstehenden, den das Agieren der Mutter oder vielmehr den der letzte Satz des Textes mitteilt. Dass die Herausgeber der Märchen dies offenbar als Mangel, jedenfalls bezüglich des göttlichen Eingriffs, empfanden, markieren ihre ›Ausbesserungen‹ in der zweiten Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen: »Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden«, wird es dann heißen.11 Weil der Eigensinn gewiss (zumindest auch) aufs Kolleg zu applizieren ist, kommt, unser aller Anknüpfung an das Märchen zufolge, das eigensinnige Ärmchen – auch hier, im und als das Graduiertenkolleg – noch und für immer aus der Erde »hervor«. Trotz des zuschreibenden Titels drängt der Text ja die Auffassung auf, dass wie (oder auch als) das Kind vor allem das Ärmchen sich eigensinnig, obstinat ›da‹ zeigt. Dagegen sahen die Grimms in der zweiten Ausgabe sich offenbar veranlasst, die grammatischen Märchen, beispielsweise Wie Kinder Schlachtens spielten, [nicht aber dieses Märchen] unterdrückt, die sie wohl für den Hausgebrauch als zu grausam empfanden« (Geschichte und Eigensinn. S. 756). Anders als eine Reihe von anderen Märchen, deren etwa antisemitische Züge die Ausgabe im Aufbau-Verlag 1959 bezüglich der »historischen« Bedingtheit der Situation des Handels aufzufassen anweist, oder deren eventuell unschönen Zug, dass ein Abenteurer »mit Hilfe eines Wunschtüchleins drei arme Köhler betrügt […] und sich zum Herrscher über das Land macht«, dazu führt, dass eine andere »Variante« angeführt wird, oder die tatsächlich beunruhigende »antidemokratische Tendenz« eines anderen, das als aus der Vorlage »gemildert« übernommen erklärt wird, ist das Märchen Vom eigensinnigen Kinde keine Anmerkung wert (S. 792f., S. 800; S. 793f., S. 802). 11 | Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. 2. vermehrte u. verbesserte Aufl. 1819. In: Dies.: Werke. Forschungsausgabe. Hg. von Ludwig Erich Schmitt. III. Abt.: Gemeinsame Werke. Bd. 44: Kinder- und Hausmärchen 1819/22. Zweiter Bd. neu hg. von Hans-Jörg Uther, Hildesheim/Zürich/New York, 2004. Nr. 117. S. 152. Negt/Kluge, die die geänderte Fassung (nach der 2. Auflage) zitieren, verkennen die Tragweite der Eingriffe, wenn sie konstatieren, dass die Brüder »hieran«, an »Wortwahl und Stil«, »nichts verändert« haben (Geschichte und Eigensinn. S. 756). Die »Vorrede« der Grimms zur 2. Ausgabe kommentiert die Eingriffe (»für das Kindesalter nicht passenden Ausdruck sorgfältig gelöscht«) und deren Unterlassung (Berlin, 1819-1822. Bd. 1, S. VII-IX; sowie Ausgabe 1857, zitiert in der Ausgabe Berlin (Aufbau-Verlag), 1959. S. 778f.).

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Unentscheidbarkeiten von Ärmchen und Kind aufzulösen: »so half das nicht und das Aermchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehn und mit der Ruthe aufs Aermchen schlagen, und wie sie das gethan hatte, zog es sich hinein und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.«12 – und kennzeichnen derart diese Unentscheidbarkeit rückwirkend. Mir scheint, für einmal Alf Lüdtke nicht folgend, der dem Eigensinn unterscheidend eine affirmierende Variante abgewinnen will, mit dessen Schreibweise nichts auszurichten:13 Den Eigensinn bestimmt das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm als »animus dificilis, obstinatus, früher schrieb man beide wörter getrennt«.14 Demnach ist offenbar der Fügung von »eigen« mit Sinn (auch in dieser Schreibweise) als »eigener Sinn« (so etwa Hegel, und zwar für die Leistung der Arbeit als Formieren und Bilden, die diese vom Unterworfensein unter »fremden Sinn« (aber nur) partiell befreit)15 nicht 12 | Gebr. Grimm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2 (2. Aufl.). S. 152; mit kleinen Änderungen so auch in der Großen Ausgabe von 1857. Hg. von Hans-Jörg Uther, München, 1996. Bd. 2. Nr. 117. S. 247. 13 | Als »Eigen-Sinn« oder eigener Sinn, vgl. Lüdtke: Eigen-Sinn. S. 19f., S. 375-381; ders.: Die Ordnung der Fabrik. S. 217. S. 219-227. Insb. S. 220 (Fn. 34); ders.: »Die große Masse ist teilnahmslos, nimmt alles hin…«. S. 116ff., 120f.; ders.: Kein Entkommen? Bilder-Codes und eigen-sinniges Fotografieren. S. 232; vgl. Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn. S. 766. 14 | Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 3. Leipzig, 1862 (repr. München, 1984). Sp. 100. Dem entsprechen die Bedeutungen: »2) difficultas, pertinencia, auf zustände angewandt« und »3) persönlich für dificilis homo« (Sp. 100). 15 | Hegel im Abschluss zu Herrschaft und Knechtschaft, wo dem Knecht mit der Arbeit (das ist der Modus der Subjekt-Objekt-Auseinandersetzung und dessen Inklusion, vor allem auch bei Marx) das »Formieren« zugestanden ist: Es hat »nicht nur diese positive Bedeutung, daß das dienende Bewußtsein sich darin als reines Fürsichsein zum Seienden wird, sondern auch die negative gegen sein erstes Moment, die Furcht. Denn in dem Bilden des Dinges wird ihm die eigene Negativität, sein Fürsichsein, nur dadurch zum Gegenstande, daß es die entgegengesetzte seiende Form aufhebt. Aber dies gegenständliche Negative ist gerade das fremde Wesen, vor welchem es gezittert hat. Nun aber zerstört es dies fremde Negative, setzt sich als ein solches in das Element des Bleibens und wird hierdurch für sich selbst ein Fürsichseiendes. Im Herrn ist ihm das Fürsichsein ein anderes oder nur

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zugestanden, was unter »eigen« in Bezug auf »5) geist, seele, person« unproblematisch im Sinne der verstärkenden Possessiv-Zuschreibung zu sein scheint.16 Aber auch in Bezug auf diese Bedeutung (5.) wird (dann allerdings ausdrücklich) eine Irritation, bedenkliche Näherung, Ununterscheidbarkeit vermerkt: Ist für »eigen« (in seiner 10. Bedeutung) anzugeben, dass es »wie das private, privum […] nun aber […] zugleich das innere, geheime, der natur und sinnesart eines jeden angemessene, angelegene, aus ihr entspringende aus[drückt]«, wozu sich mehrfach »Göthe« anführen lässt,17 so »hält« es aber »schwer diese bedeutung überall von der folgenden zu unterscheiden, da beide ineinander flieszen«: »11) eigen ist auch das besondere, absonderliche, eigenthümlich beschaffene und geartete, seltsame«, wozu sich gleichfalls »Göthe« findet, und diese »bedeutung von peculiaris, singularis kann sich der von dificilis mit üblem nebensinn nähern und das besondere ein wunder-

für es; in der Furcht ist das Fürsichsein an ihm selbst; in dem Bilden wird das Fürsichsein als sein eigenes für es, und es kommt zum Bewußtsein, daß es selbst an und für sich ist. Die Form wird dadurch, daß sie hinausgesetzt wird, ihm nicht ein Anderes als es; denn eben sie ist sein reines Fürsichsein, das ihm darin zur Wahrheit wird. Es wird also durch dieses Wiederfinden seiner durch sich selbst eigener Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien. – Es sind zu dieser Reflexion die beiden Momente der Furcht und des Dienstes überhaupt sowie des Bildens notwendig«. »Indem [aber] nicht alle Erfüllungen seines natürlichen Bewußtseins wankend geworden, gehört es [doch] an sich noch bestimmtem Sein an; der eigene Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt. Sowenig ihm die reine Form zum Wesen werden kann, sowenig ist sie, als Ausbreitung über das Einzelne betrachtet, allgemeines Bilden, absoluter Begriff, sondern eine Geschicklichkeit, welche nur über einiges, nicht aber die allgemeine Macht und das ganze gegenständliche Wesen mächtig ist.« (Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes. In: Werke in 20 Bde. Hg. von K. M. Michel/E. Moldenhauer. Bd. 3. Frankfurt a.M., 1970. S. 154f. [Einf. B.M.]; vgl. S. 157). 16 | Gebr. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3. Sp. 93. Gesetzt wird dabei auf die erste Bedeutung von »eigen«: es »drückt aus was die possessiva und tritt ihnen, so wie selbst verstärkend und nachdrucksam zu. […] Luther läszt neben den possessiven das eigen gern unflectiert, woraus sich viele zusammensetzungen erklären.« (Ebd., Sp. 92). 17 | Ebd., Sp. 95.

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liches seltsames, bedenkliches werden«.18 Dificilis, das kennzeichnete den Sinn oder animus also auch dort schon, wo er überhaupt als ›eigener‹ »eigen« ist, wie den »Eigensinn«,19 der als solcher sich der -/gegen die Auffassung der unterstellten ›Totalität‹ sperrt.20 Würden wir dem den Eintrag abschließenden Hinweis des grimmschen Wörterbuches: »man vergleiche abschaum, einfalt, hoffart, unart, unflat, unverstand, ungeduld, unschuld« nachgehen,21 so würde »eigensinn« durch diese Be18 | Ebd. 19 | Ebd., Sp. 100. 20 | Es gibt eine Teilgeschichte von »Eigensinn«, der diesen mit »Eigenwille« engführte: Luther übersetzte die voluntas propria, die der Totalität des göttlichen Willen als solche entgegenstehende Verfehlung, im Sinne der Selbstbefangenheit des consilium proprium mit »Eigensinn« (Fuchs, H.-J.: Eigenwille, Eigensinn. In: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Basel/Stuttgart, 1972. Sp. 342-345. Sp. 344); in diese Tradition trägt die hegelsche Argumentation zum »eigenen Sinn«, der durch Arbeit nicht von allen besonderen Bestimmungen sich befreit und insofern »Eigensinn« ist (Phänomenologie des Geistes. S. 155), sich ein. Zu »Eigenwille« führt Grimms Wörterbuch an: »arbitrarius, contumacia, an eigensinn und eigendünkel grenzend: so es mehr ein faulheit und freier eigenwille ist (Luther)« (Bd. 3. Sp. 103), »zu eigenwillig«: »arbitrarius, contumax: wenn jemand einen eigenwilligen und ungehorsamen son hat, der seiner Vater und mutter stim nicht gehorcht und wenn sie in züchtigen, inen nicht gehorchen will. 5 Mos. 21,18 […] wann diese eigenwillige ketzer, so auf dem evangelio eigenwillig beharren, […] (Fischart)« (Ebd.); »daß von Luther bis Hegel ein gewisser Eigensinn der Juden – […] die Auslegung der Schrift und ihres Sinns – zu Verstocktheit, Hochmut, Kälte, Lüge, Verkehrtheit, Haß, Verrücktheit umgemünzt wurde«, vermerkt Elisabeth Weber (Eigensinn. S. 113). 21 | Gebr. Grimm: Wörterbuch, Bd. 3. Sp. 100. »unart« wie »unflat« sind beide Fälle des Gegensinns der Worte: »flat« [etwa] »ist nicht nur gegensatz zum unflat, sondern auch gegebenenfalls mit ihm ein und dasselbe« (Bd. 24, Sp. 544); ebenso »unart« (Bd. 24. Sp. 181), dieses wird um 1800 besonders für die der Kinder und Jugendlichen zuständig (Sp. 185f.). Ohne Frage werden wir mit »hoffart« ganz anderes dem »eigensinn« Angehörendes adressiert sehen, als einerseits mit »abschaum«, dem der »unflat« nahe sein kann, und andererseits mit »einfalt«, »unschuld«, »unverstand«, was in die Nähe der genannten Verwendung von »unart« gehörte; »ungeduld« (1) a. feindseligkeit, feindselige beeinträchtigung teilt Züge mit »eigensinn«: »der juden ungeduld« (Bd. 24. Sp. 642); »b. heftigkeit, unruhe, erbitterung,

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züge sozial-historisch mit Gender- und familialen Aspekten vielfach und zwar historisch spezifisch verwoben und entschieden auseinandertreten. Folgen wir aber nun der zitierten Anweisung der Anmerkungen der Grimms zwar nicht zur »Lehre«, doch darin, in den ersten Band der Kinder und Hausmärchen (1812) zurückzublicken, so finden wir dort als Nr. 31 ausgerechnet das »Mädchen ohne Hände«,22 das alles mit seinen armen Stümpfchen verrichten muss. Das könnte zum einen die Vermutung von Elisabeth Weber stützen, dass es sich bei dem Kind um ein Mädchen handle,23 vor allem wird damit im zweiten Band das allein hinüberwinkende Ärmchen unterstrichen.24 Ärmchen, das ist auch ein Name; zufällig erzählt Alexander Kluge in einer seiner Neuen Geschichten von »Ärmchen N. aus Herne/Westfalen«, die mit einem Heinz Künneke in einem See-Badeort unterwegs ist.25 Wie das »war… eigensinnig«, das das Kind bestimmt, ausgeführt ist durch »that nicht, was seine Mutter haben wollte« – nichts sonst, so agiert ein Körperteil eigensinnig, der sich vor allem als solches zeigt – nichts sonst.26 widerwille, unmuth, miszmuth« (ebd.) könnte ebenso den im Märchen das Eigensinnige strafenden Instanzen zugerechnet werden; es ist c. auch »unrecht, vergehen, unbill,…, d. sünde, schlechtigkeit« (Bd. 24. Sp. 643; usw.). 22 | Lévi-Strauss’ Mythenanalyse hat gezeigt, dass es Mythen nur in der Vielzahl ihrer Varianten gibt, die durch Beziehungen und Unterscheidungen Struktur und allein dadurch Bedeutungen erzeugen (Lévi-Strauss führen auch Negt und Kluge an, S. 751f.). 23 | Weber: Eigensinn. S. 109. 24 | Muss beim Diminutiv Ärmchen nicht auch die Homophonie von Arm/ arm mitgehört werden, die wie das Pronomen »es« beide, das Kind und das Ärmchen, zusammenführt? Arm sei, so Grimms Wörterbuch, im Sinne von pauper: »solche vorstellungen drücken wechselweise abscheu oder mitleid aus, ja dieses überwiegt in den benennungen ein armer schelm […] du armer wicht […] junges armes blut« (Bd. 1. Leipzig, 1854 (repr. München, 1984). Sp. 554); von »vilis, miser […]… das arme thier; […] der arme wurm […]; das arme mäuschen; so »bedeutetet attributives arm immer nur was gering, schlecht, elend, bemitleidenswerth ist« (Ebd., Sp. 555). 25 | Kluge, Alexander: Neue Geschichten. Hefte 20, 21. In: Ders.: Die Patriotin. S. 204-206. 26 | Elisabeth Weber akzentuiert dies: den »Widerstreit zwischen einem »›inneren Sinn namens Mutterstimme‹, der die Wörter mit verstehbarem Sinn und die Subjekte mit einer Seele belehnt, und einem verglichen mit

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Daher, scheint mir, reicht die Auffassung von Negt/Kluge an das Spezifische des Märchentextes, das Unmotivierte dessen, was vor allem eigensinnig sich zeigt, nicht heran: »Eigen-Sinn, eigener Sinn, Eigentum an den fünf Sinnen, dadurch auch Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber allem, was in der Umwelt passiert – das ist es ja, was in der individualgeschichtlichen Entwicklung überhaupt erst aufgebaut werden muß, um die Menschen lebensfähig zu machen. Damit es Eigensinn geben kann, muß schon eine starke Autonomie des Verhaltens erobert sein. Ich kann es auch anders ausdrücken: die Strafe, die das eigensinnige Kind bis unter die Grabdecke hinein erfährt, ist die moralische Antwort auf eine vorausgegangene Enteignung der Sinne, die nicht geglückt ist. Wäre sie gelungen, bedürfte es nicht der Verfolgung bis ins letzte Glied; der traumatische Schrecken sitzt für Jahrhunderte in den Gliedern der Gesellschaft.« 27

Es handelt sich im »Märchen« aber nicht um den Eigensinn eines Subjekts, das als dessen Ursprung zu unterstellen wäre und das dessen umschließende Gestalt abgäbe. Zwar verstehen auch Negt und Kluge Eigensinn doch nicht im Sinne des ›inneren Sinns‹, sondern in Bezug auf die nach außen gerichteten Sinne, aber als »Eigentum«28 an diesen; sie setzen auf die »schon« gegebene oder »eroberte« eigene »starke Autonomie«.29 Dem Essentialismus unhintergehbasolch vermeintlicher Innerlichkeit notwendig äußerlichen Eigen-sinn, der sich der Hermeneutik entzieht und der zu verstehenden Mutter oder Natur, denen beiden Gehorsam zu leisten wäre« (Eigensinn. S. 108; Hervhg. B.M.). Die Patriotin, das auch Das eigensinnige Kind schon enthielt, eröffnet mit (der Geschichtslehrerin) »Gabi Teichert und die Geschichte der Toten. Das Knie«. Das Knie ist ein abgeschossenes, beziehungsweise von einem Zerschossenen allein übriggebliebenes Körperglied: »Es ist ein Knie, sonst nichts.« (S. 52; das zitierte Gedicht ist von Christian Morgenstern, vgl. ebd., S. 480). 27 | Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn. S. 766. 28 | »Eigenthum« gehört nicht nur in den alphabetischen Umkreis von »eigen«, sondern ist das Wort, das »eigen« erst spät in diesem, im Sinne von Eigentum, ersetzen wird (Gebr. Grimm: Wörterbuch. Bd. 3, Sp. 96 u. Sp. 102). 29 | Eine entsprechende Hypostasierung bestimmt meist die zurzeit häufige Rede vom Eigensinn des Bildes/der Bilder/der Kunst; vgl. dagegen Leutner, Petra/Niebuhr, Hans-Peter: »wenn Eigensinn sich selbst als Wert

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rer Authentizität entgegen soll aber doch auch Negt/Kluge zufolge Eigensinn »keine ›natürliche‹ Eigenschaft« sein; er ist vielmehr Spur oder Symptom zum einen der »vorausgegangene[n] Enteignung der Sinne«,30 wie zum anderen dafür, dass diese »vorausgegangene Enteignung« nicht vollständig ›gelang‹ oder auch nicht ›gelingen‹ kann; Gewissheit, dass es sich, bei diesem ihrem »Resultat«, um »Protest gegen Enteignung« handle, ist hier nicht zu haben.31 ›Eigensinnigkeit‹ (obstinacy) ist von diesen Prozessen, dem der ›Enteignung‹, deren Gewaltsamkeit und deren Misslingen, nicht hypostasierend abzulösen. Die Eigensinnig-keit ist im Märchentext Fremdzuschreibung. »Es war einmal ein Kind eigensinnig« – das ist mehrfach zu lesen, kaum zu verstehen: »Es war einmal«, »es war einmal ein Kind«, ›es war ein Kind, eigensinnig‹, ›einmal war ein Kind eigensinnig‹; ›ein Kind war einmal eigensinnig‹; ›es war einmal ein Kind, das war eigensinnig‹. Das Märchen gibt im und mit dem Widerstreit (als solchem) das Gesetz (an), das eines anderen Willens, dem überhaupt Totalität zuausruft, verfällt er der Borniertheit.« (Einleitung zu dies. (Hg.): Bild und Eigensinn. Über Modalitäten der Anverwandlung von Bildern. Bielefeld, 2006. S. 10-20. S. 20); vgl. H. U. Reck, dem zufolge nicht die Autonomie des abgeschlossenen Bildes als Ort des Eigensinns vorausgesetzt, sondern der Eigensinn der Bilder erst im Bezug auf die Kontexte gegeben wäre (Reck, H. U.: Eigensinn der Bilder. Bildtheorie oder Kunstphilosophie? München, 2007. S. 11f.). »Eigensinn der Bilder […] ist aber keine ontologisch feststehende Qualität von etwas, hier von Bildlichem […], sondern unterliegt der stetigen prozessualen Bearbeitung, den Poietiken, Praktiken und Experimenten der Künste. Die kritisch angelegten Anforderungen an eine erneuerte Bildqualität trifft also nicht Bilder, die per se ›eigensinnig‹ wären.« (Ebd., S. 12) »Nicht schon die Tatsache eines beliebigen Nicht-Verstehens der Bilder ist entscheidend, sondern die Dynamik einer durch erfahrene Resistenz am Bildlichen angestoßenen Reflexion, welche eines gegen Reduktion gerichteten Widerstandes bedarf, den sie in eigensinnigen, also besonders qualifizierten Bildern finden kann.« (Ebd., S. 14). »Der Eigensinn der Bilder überschreitet das visuell Gegebene in Richtung einer Kritik von AussageAnsprüchen« (ebd., S. 12); er leistet Evidenzkritik, richtet sich gegen »Bilderfetische« (ebd., S. 11f.; vgl. S. 16f.). 30 | Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn. S. 766. Er »entsteht aus bitterer Not«, ist »Resultat der Enteignung der eigenen Sinne«. 31 | Ebd.

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kommt (daher bedarf es keiner Motivationen). Dazu Elisabeth Weber: »Nun weiß jedes Kind um die Unmöglichkeit seiner Unschuld; jedes Kind weiß, dass der Name des eigensinnigen Kindes der seine ist.«32 Über das »Grab« hinaus, das durchs Erde-darüber-Decken ein »bettchen« scheint, das im Märchentext nur als »Todtenbettchen«, nicht jedoch als das des Kindes, nicht einmal als das des kranken, vorkommt, selbst aber gar nicht als Platz des Toten, sondern des Hinein-›Versenkens‹, Hinein- und Darüber-Legens, Darüber-Deckens bestimmt ist, zeigt das Ärmchen sich eigensinnig. Es ist, was »einfach in nicht zu belehrender Tautologie sich selbst entgegensetzt«; es bezeugt den »Widerstreit zwischen einem ›inneren Sinn namens Mutterstimme‹, der die Wörter mit verstehbarem Sinn und die Subjekte mit einer Seele belehnt, und einem« dieser »vermeintliche[n] Innerlichkeit notwendig äußerlichen Eigen-sinn, der sich der Hermeneutik entzieht und der zu verstehenden Mutter oder Natur […] mit keinem erlernten oder erfüllten Sinn und keinem Verstehen entspricht«.33 Die Brüder Grimm mochten gerade dies nicht stehen lassen. Der Anhang zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm will ergänzend zu verstehen geben: »das Herauswachsen der Hand aus dem Grabe ist ein weit verbreiteter Aberglaube und gilt nicht blos von Dieben, sondern von Frevlern an gebannten Bäumen (Schillers Tell Act. 3. Sc. 3.), von Vatermördern (Wunderhorn I.226). In Schimpf und Ernst ist noch eine andere Erzählung von einem Arm, der aus dem Grab hervorreckt (dän. Ausg. p. 218). Es ist auch nur eine/blose Veränderung der nämlichen Idee, wenn aus dem Hügel und Mund Begrabener, Blumen oder beschriebene Zettel, ihre Schuld oder Unschuld anzuzeigen, wachsen./Es ist auch die Sage und der Glaube, dass dem, welcher seine Eltern schlägt, die Hand aus der Erde wächst.« 34 32 | Weber: Eigensinn. S. 111. 33 | Ebd., S. 108. 34 | S. 230f.; vgl. auch »Anmerkungen zu den einzelnen Märchen« zur ersten Gesamtausgabe 1818/1822. S. 205f. »Schon in einem Meisterlied von Hans Sachs aus dem Jahre 1552 ›reckt der tote Jüngling in Ingolstadt, der einst seine Mutter mißhandelt hatte, die Hand aus dem Grabe, bis jene auf den Rat der Doktoren und Geistlichen die Hand mit einer Rute blutig schlägt‹« (Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen, neu bearbeitet von Johannes Bolte und Georg Polivka, Hildesheim, 1963. Bd. 2. S. 550, zitiert nach Weber: Eigensinn. S. 107).

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Diese Supplementierung trägt dem Märchen-Geschehen eine unerklärte Inversion ein; der Eigensinn wird rückwirkend durch die »Ruthen«-Schläge, die das Kind/Ärmchen zur Ruhe gebracht haben sollen, zu anderem denn der Tautologie des Sich-Entgegensetzens, die er ist, in der sich der Eigensinn, das Kind eigensinnig, dem ›inneren Sinn‹ entgegensetzt: zeigt. Er wird durch die Bestrafung, die nach der alten Strafordnung die zu ahnende Untat kennzeichnend dem Körper einschrieb, als »ein Verbrechen« markiert, auf das der Tod steht, oder: mehr als der Tod, vielmehr »die Unmöglichkeit zu sterben«.35 Dieser Konstruktion zufolge spräche die durch die »Ruthen«-Schläge, die, wie die paratextuelle Erläuterung will, die Tat in ihrer Umkehrung wi(e)dergeben (sühnen) würden, vielleicht als Ritual aufzufassen sind (Negt/Kluge),36 hergestellte »Ruh unter der Erde« von einer »Belohnung«,37 wie Elisabeth Weber dem abliest: »Brave Kinder werden folglich als letzte Belohnung einen einfachen Tod erhalten, der nicht durch Züchtigung kompliziert und verdoppelt werden muß.«38 35 | Weber: Eigensinn. S. 108; vgl. Negt/Kluge: Geschichte und Eigensinn. S. 766, und in der Fn.: »Der Eigensinn ist das, was über das Grab hinaus hartnäckig fortwirkt. Er kann nicht getötet werden oder selber sterben. Er zieht sich lediglich hinein.« (Ebd.). 36 | Negt/Kluge zufolge: »Wenn Eigensinn in den enteigneten Sinnen begründet ist, dann lebt er auch unter der Erde fort, als kollektive Erinnerung«, so sei dies »nur durch ein gesondertes Ritual der Versöhnung zu brechen« (Geschichte und Eigensinn. S. 767; Hervhg. B.M.); kaum glaublich, dass sich dies auf das Agieren der Mutter beziehen soll: »Nur die, denen selber Gewalt angetan wurde, haben noch die Sinnlichkeit der Leiderfahrung; nur sie können die Verletzungen versöhnen – und wär’s auch wiederum nur mit Gewalt und erst im Tode; die eigene Mutter muß zum Grabe gehen […]« (Ebd., S. 767; Hervhg. B.M.). Weber charakterisiert den Einsatz der Mutter durch den Ausfall des Vaters im Märchentext (Eigensinn. S. 109ff.) (während zunächst der symbolische Vater, der »liebe Gott« noch auftritt). 37 | Weber: Eigensinn. S. 108. Weber macht auf eine, von den Brüdern Grimm »selbst« erwähnten »– hier unmögliche – Alternative« aufmerksam: »In einer serbokroatischen Version des Glaubens, dass dem, welcher seine Eltern schlägt, ›die Hand aus dem Grabe wachse‹, zufolge, wird die ›Hand aus dem Grabe […] zurückgezogen, als die Mutter ihren Fluch zurücknimmt und die Hand küsst […]‹« (Ebd., S. 107). 38 | Ebd., S. 108.

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»Ruh« kann im Märchen (aber entgegen der ausdrücklichen Feststellung) nur über der Erde gegeben sein, wo sich zuletzt nichts mehr zeige. »Der Tod verschließt ein Nicht-sterben-können, das als Strafe auf den Eigensinn steht«, so Elisabeth Weber.39 Was aus dem unterirdisch Eingeschlossenen wird, das ist mit ›im Innern‹ »geschützt« (so aber Negt/Kluge) kaum zureichend beschrieben. Was im Innern eingeschlossen ist, das ist vielmehr abgetrennt, auch dem »Subjekt«, von dem Negt/Kluge sprechen,40 selbst unzugänglich, durch den zweiten Tod verschlossen. Das ›Töten des Toten‹ errichtet im Innern, im Ich eine Krypta,41 in der der Tote »als Fremder« »in einem getrennten Bereich des Ichs« behalten, das Eingeschlossene ausgeschlossen ist, der »lebendig Tote wie ›Fremdkörper‹« ›abgeschottet‹ bleibt;42 das derart abgeschottet im Innern (nicht-›selbst‹-zugängliche) eingeschlossen/ ausgeschlossen ›Bewahrte‹ entfaltet beunruhigende Macht.43 »Nun weiß jedes Kind um die Unmöglichkeit seiner Unschuld; jedes Kind weiß, daß der Name des eigensinnigen Kindes der seine ist. [Daher] wird 39 | Ebd., S. 110. 40 | Vgl. Negt/Kluge (wie in Fn. 3 zitiert): Geschichte und Eigensinn. S. 765. 41 | Zur Topographie der Krypta vgl. Abraham, Nicolas/Torok, Maria: L’Écorce et le Noyau. Paris, 1987. Chap. IV. S. 266f.; vgl. dies.: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns, Berlin/Frankfurt/Wien, 1976, darin einleitend Jacques Derrida: FORS. S. 5-58. S. 13ff., 19-21, 26, 39, 44f. 42 | Derrida: FORS. S. 33. Das verlorene Objekt »wird nicht nur isoliert und verborgen, sondern in einem getrennten Bereich des Ichs abgeschottet«. »Der Leichnam verbleibt wirklich im trauernden Körper, allerdings als Fremder, als lebender Toter in der Krypta an einem besonderen Ort im Ich«; das ist die Struktur der Melancholie als Inkorporation (Rickels, Laurence A.: Der unbetrauerbare Tod. Wien, 1989. S. 25). Die Inkorporation »verhindert die liebende und aneignende Assimilation des andren, sie bewahrt also scheinbar den andren als andren (Fremden), aber sie tut ebensowohl das Gegenteil. Es ist nicht der andere, den sie bewahrt, sondern eine Topik, die sie gesichert und von diesem Bezug zum andren unberührt erhält« (Derrida: FORS. S. 23). 43 | Ebd., S. 33; vgl. S. 39, 44f. Julia Kristeva spricht von: durch diese Struktur »ins Hypertrophe gesteigerte[r], hyberbolische[r] Vergangenheit«, Last einer Vergangenheit, die nie vergeht (Schwarze Sonne. Depression und Melancholie. Frankfurt a.M., 2007. S. 68, S. 61).

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es versuchen die Szene, das Bild der Strafe zu vergessen, die Todesdrohung ebenso wie die Bestrafung noch im Tod nicht zu verdrängen, sondern angesichts des massiven Charakters der Drohung das tote eigensinnige Kind, dessen Name der seine ist, in einer geheimen Grabkammer, in einer Krypta einzuschließen. Und die mit ihm ›lebendig begrabnen Worte‹, die das unsagbare Verbot bezeichnen.« 44

Der Märchen-Text, den es nicht gibt ohne seine von ihm nicht inkludierbaren Bezüge auf seine Kontexte (und Varianten), gibt in seinen Unentscheidbarkeiten und noch deren Supplementierungen, in seinen Ausgaben, mit seinen Reinigungen und seinen Paratexten das Exsistieren des Eigensinns zu lesen. Der ›Eigensinn‹ hat nur ein Medium (weder Ziel noch Mittel, noch inneren Sinn): das Kind, das Ärmchen, »es«.45 – Umgekehrt zeigen alle Spuren sich eigensinnig,46 ist jedes Medium potenziell obstinat, so jedenfalls, in der Störung, tritt es auf. Für den ›Eigensinn des Mediums‹ (von dem zuletzt gern gesprochen 44 | Weber: Eigensinn. S. 111. »Von dieser Krypta her werden jedoch die Worte, das eigensinnige Kind, der Eigensinn des Kindes ihre subversive Tätigkeit fortsetzen. Gegen diese subversive Tätigkeit aber werden die psychischen Instanzen, deren Gleichgewicht jene bedroht, eine Abwehr aufbauen; eine Abwehr, deren effektivste sich aus paranoischen Projektionen zusammensetzt. Diese aber werden für den begrabenen Dritten Stellvertreter suchen (und zwangsläufig aufspüren) und sie als vermeintliche Verfolger unerbittlicher Verfolgung ausliefern.« (Ebd., S. 113). 45 | Kluges Die Patriotin, das Das eigensinnige Kind enthält (S. 37), manifestiert die »Geschichte der Toten«, durch »Das Knie«, das von einem Zerschossenen allein übriggebliebene Körperglied: »Es ist ein Knie, sonst nichts./Es ist kein Baum, es ist kein Zelt, es ist ein Knie, sonst nichts.« (Ebd., S. 52; mit dem Gedicht von Christian Morgenstern, vgl. ebd., S. 480), ein Knie, das ›selbst‹ ›Stellung nimmt‹ (ebd., S. 54f.): »Man sagt, ich wäre geschichtsorientiert. Das stimmt natürlich. Mir will die Geschichte nicht aus dem Sinn, daß ich noch Teil eines Ganzen wäre, wenn Obergefreiter Wieland, mein früherer Herr, noch Teil eines Ganzen wäre, Teil unseres schönen Deutschlands. […] Ich muß nämlich mal mit einem grundsätzlichen Mißverständnis aufräumen, daß wir Toten nämlich (hier Stalingradbilder) irgendwie tot wären.« (Ebd., S. 58; wiederholt S. 479; vgl. auch S. 246ff. und S. 254f.). 46 | Vgl. den Beitrag von Helga Lutz und Dietmar Schmidt in diesem Band: Blood Simple (insb. Absatz 4).

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wird)47 wäre das eigensinnige Sichzeigen vor und nach jedem Sinn das (minimale, aber auch das geeignete) Modell. – Vielleicht spielt das »immer wieder heraus«-kommende Ärmchen vor allem ein Spiel.

47 | Vgl. u.a. die Ringvorlesung Vom Eigensinn der Medien. Vermitteln oder erzeugen Medien Sinn? (2002), deren Titel sich am »Sinn« orientiert zeigt; vgl. Leschke, Rainer: Einführung in die Medientheorie. München, 2003. S. 185; Schiesser, Giaco: Arbeit am und mit Eigensinn. Medien. Kunst. Ausbildung oder: Über den Eigensinn als künstlerische Produktivkraft. In: Tholen, Georg Christoph et al. (Hg.): Schnittstellen. Basel, 2004. S. 262f.

Staub Uwe Nettelbeck

Staub ist eine Ansammlung beziehungsweise Ablagerung oder Anhaftung von Kleinstpartikeln, die schon von Natur aus als Staub vorkommen, oder von erst durch Zerfall, Abrieb oder Ablösung von Gegenständen oder Körpern zu Staub gewordenen Überresten eines nicht staubförmigen Materials; Straßen- und sonstiger Schlamm ein mit Flüssigkeit vermischter, Schmutz ein in der Regel mit ausgetrockneten Fetteilchen durchsetzter mehr oder weniger stark gebundener Staub, und der Begriff Staub bezeichnet zunächst auch nichts als die gemeinsame Beschaffenheit seiner Substanzen, ihren pulverartigen oder pulverisierten Zustand. Nach einem Wort des Chemikers Justus Liebig enthält der Staub »im kleinen alle Dinge, die uns im Großen umgeben«; wollte man lückenlos die Bestandteile aufzählen, aus denen Staub sich zusammensetzen kann, müßte man sämtliche auf der Erde vorkommenden organischen und anorganischen, synthetischen und natürlichen Stoffe nennen. Staub ist also, indem er in seinen Substanzen die Umgebung, der er entstammt, nicht nur geradezu enzyklopädisch, sondern auch in einer weder in den Naturwissenschaften noch im Alltag sonst bekannten Gleichwertigkeit und Beziehungslosigkeit seiner Bestandteile wiedergibt, ein für die dokumentarische Erschließung materieller Zusammenhänge unersetzliches Phänomen. Darüber hinaus aber, und insofern ist er ein allen anderen auch überlegenes dokumentarisches Medium, bildet er seine Umgebung nicht nur in den originalen Substanzen, also auf direkte und unwiderleglich konkrete Weise, sondern gleichzeitig abstrakt, in charakteristischen und nach gesicherter Erfahrungen nicht doppelt existierenden Zusammensetzungen und Mengenprofilen ab; er übertrifft jede andere Darstellung sachbezogener Natur sowohl an Indirektheit des Bedeutens, also auch

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im Ausmaß und in den Formen der Differenzierung, als auch an Vollständigkeit der materiellen Beschreibung. Während zum Beispiel der Fingerabdruck personengebunden und in seinem dokumentarischen Wirkungsbereich auf den Nachweis der bloßen Identität oder Nichtidentität beschränkt ist, als erkennungsdienstliches System also lediglich auf einer weltweit geführten umfassenden Registratur beruhen kann, die ihm überhaupt erst zu seiner Einzigartigkeit verhilft, liefert der Staub in jeder beliebigen Probe eine große und hinsichtlich ihrer Verschiedenartigkeit unbeschränkte Anzahl zusätzlicher Hinweise. Er verknüpft durch materielle Spuren sowohl innerhalb eines Staubgemischs als auch in eventuellen Übereinstimmungen zwischen an verschiedenen Orten, Personen oder Gegenständen gefundenen Stäuben und Staubbestandteilen Personen, Materialien, Gegenstände, Innenräume, im Freien gelegene Örtlichkeiten und bedeutsame wie belanglose Ereignisse, wobei etwa Metallstäube, Lacksplitter, Glassplitter, Textilfasern, Lebensmittelrückstände, Haushaltschemikalien, Dampf- und Rauchkondensate, Erden, Pflanzenzellen, Pollen, Sporen, Hautschuppen, Haare, Finger- und Fußnägelreste, eingetrocknete Sekrete und so weiter auf Milieus, Berufe, Tätigkeiten, Vorgänge, räumliche Verbindungen, Tatabläufe und Täter schließen lassen, und zwar vollkommen unabhängig davon, ob ein Versuch unternommen wurde, Spuren zu verwischen oder zu manipulieren. Anders als die anthropometrische Datenkarte, deren relative Unschärfe allerdings vor allem in den Unwägbarkeiten bei ihrer Erstellung begründet lag, die sich auch durch die größte Vermessungs- und Übertragungssorgfalt niemals entscheidend hatten beseitigen lassen, und wiederum auch im Unterschied zum Fingerabdruck, wirft die Staubprobe weder analytische noch Auswertungsprobleme auf; sie gibt, sowohl bei Vorliegen als auch bei Nichtvorliegen einer Vergleichseinheit und ohne die Notwendigkeit der Übersetzung ihrer besonderen Kennzeichen in registraturspezifische Signifikanten – eine gerade in der Geschichte der Daktyloskopie zunächst unterschätzte Problematik, die einer Auswertung des Fingerabdrucks noch Jahre nach der endgültigen Entdeckung seiner Singularität entgegenstand –, ihren Sinn aus sich heraus preis und erfordert zu ihrer Lektüre keine über die ohnehin zur Verfügung stehenden, von den Naturwissenschaften für ihre Zwecke entwickelten Erkennungs- und Klassifikationssysteme hinausgehenden Dechiffriertechniken. Der Experte besitzt mit einer Staubprobe eine Klarschriftformel, die ihm den Weg zur Rekonstruktion selbst eines unbekannten Schauplatzes weist und oft sogar der

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Schlüssel zur Enträtselung eines tief verschwiegenen Geheimnisses ist. Er folgt dabei Leitelementen, die er aus einer Vielzahl sich bietender Substanzen wählt, nach einem 1932 von August Brüning in die Kriminalistik eingeführten, analog zum Begriff des »Leitfossils« gebildeten und aus der Geologie übernommenen Terminus. Der Staub wird aus weichen Untersuchungsobjekten mit Spezialklopfern unter Verwendung eines Staubfangsacks, zur differenzierten Sicherung von Proben mit Spezialstaubsaugern gewonnen, zur Trennung des Oberflächenstaubs von Gewebestäuben schließlich wie grundsätzlich von allen nicht gewebeartigen Objekten mit Hilfe eines chemisch neutralen Klebebandes abgehoben, wobei die gelegentlich bedeutsame originale Lage der Staubteilchen zueinander erhalten bleibt und bei Verwendung von Transparentband sichtbar wird; die im Labor leicht festzustellende Anordnung und Schichtung von Stäuben erlaubt untrügliche Rückschlüsse auf spezifische Umstände der Entstehung und die chronologische Abfolge der Ablagerung oder Anhaftung der einzelnen Staubspuren. Innerhalb der Bestandteilsanalyse können ebenso auch im Staub noch erhaltene winzigste Körperchen wie, nach Prozessen der chemischen Auflösung von Reststrukturen, Elemente und Verbindungen festgestellt und exakt bestimmt werden, schließlich sogar besondere Merkmale der Konsistenz des Staubs, die auf substanzunabhängige ortstypische Bedingungen, etwa außergewöhnliche dauernde Dunkelheit, Trockenheit oder Feuchtigkeit, Hitze oder Kälte, hinweisen. Bestimmung und Auswertung eines Staubs erfolgen sowohl auf dem Wege einer mechanischen Trennung seiner Bestandteile, wobei Lupe, Pinzette und Magnet Verwendung finden, und anschließenden materialkundlichen mikroskopischen Untersuchungen, als auch durch homogenisierende Verfahren, die den Staub einer Vielzahl elementbezogener Analysetechniken erschließen, und durch Anwendung von Erkennungsmöglichkeiten der Nuklearphysik. In Probemengen, deren bloße Existenz nur noch durch hochkomplizierte Verfahren überhaupt entdeckt werden kann, können Spuren nichtsdestoweniger exakt ermittelt und beschrieben werden, die im Nanogrammbereich und darunter liegen.

Aus: Uwe Nettelbeck: Fantômas. Eine Sittengeschichte des Erkennungsdienstes. Salzhausen, 1979. S. 9-12. Wir danken Petra Nettelbeck ausdrücklich für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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Gewöhnlich fungiert der Tatort als Ausgangspunkt einer Erzählung. Mit der Benennung eines Ortes steht auch die Tat als ein Ereignis fest, das einen Ort allererst zum Tatort macht, und wenn nicht unmittelbar, so doch zumindest andeutungsweise, das heißt im Angesicht von Spuren und Hinterlassenschaften eines Tathergangs, die es zu besichtigen gilt. In dem Bericht Das Polizeirevier (1982) von Rainald Goetz werden diese Verhältnisse hingegen außer Acht gelassen. Hier ist es gerade das Fehlen einer Tat und die damit einhergehende Unmöglichkeit ihrer topographischen Eingrenzung, welche eine Spurensuche in Gang setzt und Ermittlungen zu erfordern scheint. Das erzählende ›Ich‹ glaubt sich darin polizeilichen Ermittlungen seitens der seiner Wohnung gegenüberliegenden Polizeiwache ausgesetzt. Aus dem Verdacht heraus, unter Beobachtung zu stehen, reagiert es nun seinerseits mit Gegenbeobachtungen, mit Gegenermittlungen: »Die Beobachtungen müssen geordnet werden. Auf dem Hintergrund dieser Ordnung erhalten Spekulationen ihr Maß an Wahrscheinlichkeit. Die Ermittlungen haben begonnen.«1 Unter der Prämisse eines solchen Verdachts werden nun im Umkreis des Reviers Beobachtungen gesammelt, eine Ermittlungsakte geführt und entsprechende Schlüsse gezogen, jedoch nicht aufgrund einer faktischen Tat im Sinne einer kriminellen Handlung. Stattdessen gründen die Beobachtungen oder vielmehr Gegenbeobachtungen, die Gegenermittlungen des erzählenden ›Ich‹ auf Verdachtsmomenten, die es selbst zum Gegenstand einer vermeintlichen polizeilichen 1 | Goetz, Rainald: Das Polizeirevier. In: Ders.: Kronos. Berichte. Frankfurt a.M., 2003. S. 11-70. S. 12 [Im Folgenden: (Pr, Seite)].

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Observierung und damit zu einem potenziellen Täter machen. Im Gegenzug gerät dabei auch das Polizeirevier auf der anderen Straßenseite zu einem Ort mit Tatpotenzial, das in diesem Sinne betrachtet und verzeichnet wird. Der Verdacht, von der Polizei observiert, und das heißt verdächtigt zu werden, betrifft in seiner Konsequenz schließlich beide Seiten, als Verdächtige und Verdächtigende. In dieser zirkulären Konstellation eines mehr oder weniger begründeten Verdachts richten sich Beobachtungen wie Gegenbeobachtungen nicht nach der Tatsächlichkeit einer aktuellen (Straf-)Tat, sondern nach der Potenzialität ihrer rein virtuellen Möglichkeit. In ihrer Disposition als Beobachtende wie auch Beobachtete bewegen diese sich ausschließlich im Raum der Vermutungen, ohne diese je in einer faktischen Wirklichkeit verorten zu können. Es gibt demnach keine Tat, keinen Tatort und keinen Täter, aber lauter Ermittler, die durch ihre kriminalistische Arbeit selbst zu Tatverdächtigen geraten. Der Tatort dient hier nicht als eine Projektionsfläche für nachträgliche Rekonstruktionen. An seine Stelle treten lediglich ein Verdacht und mit ihm unzählige »Evidenzmomente, […] die nie vernünftig widerlegt wurden« (Pr, 11). Die fehlende Tatsächlichkeit weicht, so könnte man sagen, einer Gewissheit der Ungewissheit: der Gewissheit um jene Potenzialität bei gleichzeitiger Ungewissheit über deren Wahrscheinlichkeit, jemals Gestalt anzunehmen. Der Verdacht gründet demnach weniger auf einer graduellen Wahrscheinlichkeit von tatsächlichen Beobachtungen als auf der Gewissheit, dass etwas geschehen wird, bei gleichzeitiger Ungewissheit, worin es sich realisieren wird, und gipfelt in der Vorahnung einer Verhaftung für eine unbestimmte Tat an einem unbestimmten Ort: »Manchmal werfe ich mich zu Boden und bleibe liegen wie tot. Ich trainiere. Ich will vorbereitet sein, falls ein Sturmtrupp von drüben meine Wohnung stürmt.« (Pr, 47) Durch solch antizipatorisches Verhalten wird genau das vorausgesetzt, was nicht als Tatort zu Beginn einer Ermittlung stünde, ihm hingegen vorträglich ist und Taten mit Orten verbindet, die überhaupt keine Tatorte sind und sich auch nicht als solche generieren oder in einen Zusammenhang stellen lassen. Nicht das, was geschehen ist, und auch nicht das, was geschehen wird, gerät zum Gegenstand der Ermittlungen, sondern vielmehr das, was – in seiner ›vorzeitigen Nachträglichkeit‹ – geschehen sein wird. Die Erfassung des ›Tatorts‹ bleibt darin eine nachträgliche Tätigkeit, die jedoch in die Zukunft verlegt wird. So wird ein vermeintliches Ende an einen Anfang gestellt, dem darum keine ›Tat‹ mehr folgen kann, der aber einen spekulativen Tat-

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ort absteckt, der keine Grenzen kennt und an dem alles zur Spur gerät. Erst einmal müssen Fakten über das Revier und seine Beamten gesammelt werden, mit denen sich ein Bild der Lage, ein Überblick verschaffen lässt. Ungereimtheiten und unerklärliche Begebenheiten müssen notiert und reflektiert werden, die dann, im Rückbezug auf das Subjekt-Objekt der Observation ausgewertet und auf das eigene Verhalten angewandt, den erhofften Aufschluss geben sollen. Zwangsläufig impliziert der Verdacht, beobachtet – und das heißt: verdächtigt – zu werden, ein Täter zu sein, dessen eigene Tat wiederum darin besteht, sich durch die eigene Ermittlungsarbeit umso verdächtiger zu machen und auf diese Weise den Tatort Polizeirevier zurückzuspiegeln auf den eigenen Aussichtspunkt der »gezielten Beobachtung« (Pr, 14). Sämtliche Observationen betreffen darum ebenso die Vorgänge im beziehungsweise vor dem Polizeirevier wie das eigene Verhalten als Beobachter desselben. »Also, erstmal heute: Vor knapp zwei Stunden, so kurz nach zehn, sitze ich an meinem Tisch, über der Maschine liegt ausgebreitet die Zeitung, und ich tue so, als läse ich in der Zeitung. Plötzlich sehe ich, daß direkt gegenüber von meinem Fenster auf dem gegenüberliegenden Gehweg ein Unbekannter Posten bezogen hat. Er ist mir bekannt vorgekommen, obwohl ich ihn nicht sicher als Revierbeamten identifizieren konnte. Alter: etwa Mitte fünfzig. Kleidung: dunkle Stoffbundhose, helle Jacke. Er hat hochgeschaut zu mir, ich habe die Zeitung weggelegt und Schreibmaschinengeräusche gemacht. Eineinhalb Stunden (!!) ist er da stehen geblieben, manchmal ist er auf und ab gegangen, meist stand er mit dem Rücken zu der Toreinfahrt (hinter der der Baum ist, siehe Skizze) und hat herüber geschaut auf mein Haus, sehr oft auf mein offenes Fenster. Ich habe ihn fotografiert, voll Angst, von ihm gesehen zu werden. Die Pointe: Schließlich ist ein Streifenwagen vorgefahren, da ist er eingestiegen. Natürlich frage ich mich, was das zu bedeuten hat. Will man mir Angst machen? Mich einschüchtern? Wozu wird ein Polizist eineinhalb Stunden vor meinem Fenster postiert? Ich muß noch vorsichtiger observieren.« (Pr, 21f.)

Die Schwierigkeit beginnt bereits damit, Beobachteten und Beobachtenden, Täter und Ermittler voneinander zu unterscheiden. Sie bleiben beständig dergestalt aufeinander bezogen, dass sich außerhalb ihrer Observationskonstellation nichts ereignen kann, ohne auf selbige hinzudeuten, beziehungsweise dergestalt, dass alles, was in-

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nerhalb dieser Reziprozität geschieht, keiner von außen beobachtbaren Faktizität entspricht. Derjenige, der gegen die Polizei ermittelt, ist dann zugleich derjenige, den die Polizei bei seinen Ermittlungen ihrerseits ertappen könnte. Das Verhalten diesseits der Straße schürt also immer gerade so viel Verdacht wie jenseits. Von seinem Fenster aus ein Polizeirevier ins Visier zu nehmen, erfordert daher eine entsprechende Unschuldsgeste in Form von Zeitunglesen und Schreibmaschineschreiben, um den eigenen Verdacht nicht auf sich selbst umzulenken, darin aber eben jene Haltung eines heimlichen Beobachters einzunehmen. Wobei der so getarnte Beobachter jedoch weniger Rückschlüsse aus der Beobachtung des Polizisten selbst zu ziehen vermag, als er vielmehr aus der Gegenbeobachtungslage heraus die eigene Beobachterposition vorführt. Das hier wirksame Tatortprinzip besteht in der Hoffnung, den anderen auf frischer Tat zu ertappen und damit eine Tat und ihren Ort vorherzusehen, das heißt in eine Zukunft zu projizieren, der noch keine Spuren anhaften, die sich deuten ließen. Die Methode dieser Ermittlung kann demnach keine Spurensuche im klassischen Sinne sein. Doch die Deutung von Anzeichen und Vorboten, ihre Identifizierung, Selektion, Einordnung und Bestimmung unterliegt ähnlichen Bedingungen wie eine nachträgliche Spurenlese, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Denn hier geht es weniger darum, einer Vieldeutigkeit von Spuren zu begegnen und ihnen eine narrative Logik abzutrotzen. Vielmehr ist der Spurensinn unter dem Verdacht der Observation bereits festgeschrieben und verlangt nun einen Spürsinn, der einmal gefundene Spuren in die Logik des bestehenden, eindeutigen Verdachts einordnet. Solche Spuren sind dann keine Spuren mehr. Sie fungieren als Anzeichen für eine bestimmte Deutung, die widerlegt oder bewiesen werden muss.2 Das Ergebnis wird darin vorweggenommen und die Hinweise werden nachgeliefert. Auf diese Weise kann alles zu solchen Anzeichen werden, wenn es nur ins richtige Licht gerückt, sprich der vorausgesetzten Erzählung auf semantischer Ebene angeglichen wird. So schlägt sich beispielsweise das Wetter direkt auf die Sichtweise des Beobachters nieder: 2 | Vgl. zum polysemischen Aspekt der Spur beziehungsweise der Monosemie des Anzeichens: Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme. In: Dies./ Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik. Frankfurt a.M., 2007. S. 11-33. S. 17.

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»Die Ruhe – in mir und drüben – kann natürlich auch die Ruhe vor dem Sturm sein. Denke ich so etwas, wie jetzt, bemühe ich mich augenblicklich wegzudenken. Schuld ist möglicherweise das Wetter. Komme eben von draußen […] Ein Polizist in hellgrüner, lederner Motorradmontur hat aus dem mittleren Parterrefenster gelehnt und mir direkt ins Gesicht gesehen. Der Rolladen war halb heruntergelassen, obwohl die abendliche Sonne richtig strahlt. Kalt ist es, das schon; aber das Wetter ist nicht, wie es sich für einen 4. November gehört; es ist eigentlich septemberlich. (Automatisch denke ich: Das kann nicht gut gehen.) Der Polizist hat, nachdem er mich gesehen hat, auf die Uhr geschaut. Er hat gesehen, daß ich das gesehen habe. Daraufhin hat er, wie wartend, nach rechts und links Ausschau gehalten. Eilig (zu eilig? verdächtig eilig?) bin ich auf meine Haustüre zugegangen und habe mich verdrückt.« (Pr, 41)

Der (beobachtete) Beobachter nimmt die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm im meteorologischen Sinne wörtlich und setzt sie dergestalt in Beziehung zum Polizeirevier, als stünde ihm von dort aus irgendetwas bevor, von dem er jedoch nicht zu sagen vermag, worin ›es‹ bestehen könnte. Jeder Spur eignet eine gewisse Virtualität in ihren unzähligen Lektüremöglichkeiten dessen, was geschehen sein könnte. Das Anzeichen dagegen weist nicht auf eine Vergangenheit in der Gegenwart, ihm fehlt somit der faktische Anteil dessen, was materialiter eine Spur hinterlassen hat. Als Anzeichen verharrt es in einer undurchschaubaren Gegenwart, als Vorzeichen deutet es in eine unsichtbare Zukunft. Da es also nie anders als nur der Möglichkeit nach besteht, kann es immer für alles so gut wie für nichts stehen. Der Tatort Polizeirevier wird auf diese Weise zwar beobachtbar und beschreibbar, jedoch zu dem Preis, ihn dadurch nicht einzugrenzen, sondern ihn im Gegenteil erst zu eröffnen, in unendliche Perspektiven zu teilen, seiner schließlich nicht ansichtig zu werden, ohne seine Grenzen zu sprengen und ihn damit in einen paranoischen Kreislauf der zu deutenden Zeichen einzuschreiben. Selbst ein gewisser »Erfahrungsschatz« (Pr, 12) erweist sich letztendlich als untauglich, das Polizeirevier und seine Vorgänge in den Blick zu bekommen, einen Blick, der vor allem weitere Ungereimtheiten produziert: »Zwei Dinge habe ich berechtigterweise als merkwürdig registriert. Erstens: Die Schirmmütze wird auf dem Revier normaler Weise nicht getragen. Und zweitens: Das offene Fenster ist bei der Winterkälte widersinnig.« (Pr, 12) Auch der Versuch, die Zahl der Beamten durch Strichlisten und Photos in den Griff zu bekom-

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men, wird als aussichtsloses Unterfangen aufgegeben. Später erfährt der Beobachter zufällig, warum er diesen Überblick nie erreichen konnte. »Denn Streifenbeamte aller Münchner Reviere parken vor meinem Haus, wenn sie im Zuge von Amtshilfe im Gebiet meines Reviers tätig werden.« (Pr, 40) Und der virtuelle Tatort auf der anderen Straßenseite ufert noch weiter aus, obwohl oder gerade weil bisherige Ermittlungsmethoden versagt haben: »Ich muß mir eingestehen: Die Ermittlungen direkt am Objekt (Polizeirevier) führen zu keinen faßbaren Ergebnissen oder gar Tatbeständen. […] Umgekehrt ereignen sich, scheinbar unabhängig von den Ermittlungen, Dinge, die – ich kann mich nicht naiver stellen, als ich bin – einfach auf die Ermittlungen beziehen muß. Wie im einzelnen diese Beziehung aussieht, ist oft rätselhaft; jenseits von Zweifel ist jedoch, daß sie überhaupt besteht. Es handelt sich um Ereignisse in meiner näheren und ferneren Umgebung. Ich sehe die Gefahr, daß die Ermittlungsakte ausufert.« (Pr, 24)

Der Mangel an »Tatbeständen« führt nun vom unfassbaren Tatort Polizeirevier hin zu tatsächlichen Tatorten, in der ungebrochenen Erwartungshaltung auf eine Tat, die sich irgendwo, irgendwann vollziehen soll und den bisherigen Beobachtungen endlich den alles erklärenden Sinn verleiht. Es handelt sich um Ereignisse an Orten, die per Zeitung, Radio und Fernsehen aus der Ferne in eine trügerische Nähe gerückt werden und ihren Beobachter glauben machen, er könne dafür belangt werden: »Kaum habe ich den Falklandwahnsinn durchgestanden, ist mir diese Libanongeschichte derart aus der Hand geglitten. Ich soll die gegen mich erhobenen Vorwürfe öffentlich dementieren. […] Derzeit zeigt mir der Fernseher täglich die rauchende Silhouette der Hafenstadt Beirut, zerbombte Häuser, fliehende Zivilisten, Panzer, Krankenwagen; […] Um Entlastungsbeweise zu sammeln, fotografiere ich meinen Fernsehschirm. […] Es gibt inzwischen auch keinen Zweifel mehr, daß ich von drüben observiert werde, natürlich im Auftrag des weltumspannenden Rechtskartells, als dessen Marionetten derzeit Begin, Reagan und (das hat mich nicht erstaunt) Lech Walesa fungieren. Möglicherweise soll ich schon bald eine Bombe im Kellerfenster des Reviers deponieren und auch hier alles hochgehen lassen. Vorerst, heißt es, solle ich noch warten.« (Pr, 33f.)

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Der Glaube, Opfer einer Observierung und sogar eines verbrecherischen Komplotts zu sein, macht aus dem Opfer wiederum einen möglichen Täter, der nun keine Ermittlungsakte mehr führt, die schon längst zu einer Beweisakte geworden ist (Pr, 34) – zu seiner eigenen Entlastung ebenso wie zur Belastung der anderen. Die Gegenobservation dient jetzt auch nicht mehr dazu, sich Gewissheit über eventuelle Observierungsmaßnahmen der Polizei zu verschaffen. Sie ist bereits zu dem Phantasma geworden, das Polizeirevier tatsächlich anzugreifen, das heißt den ›Tatort‹ endgültig auf die gegenüberliegende Straßenseite zu verlegen. »Man ließe das Spielzeugauto unter ein echtes Polizistenauto fahren und könnte zünden, während alle Beamten im Revier sind, oder umgekehrt, wenn zwei Beamte gerade eingestiegen sind. […] Man müßte die Sprengstoffdosis natürlich so wählen, daß der Dreck nicht bis an mein Fenster fliegt und mir die Scheiben schmutzig macht. Aber wahrscheinlich gehen die ohnehin zu Bruch (dolus eventualis). Möglicherweise wäre dies sogar gut zur Zerstreuung des Verdachts. Konkrete Vorbereitungen habe ich noch nicht getroffen (Planungsphase).« (Pr, 43f.)

Doch über die Planungsphase kommt auch diese Tat nicht hinaus. Der Topos Polizeirevier bleibt ein Utopos, der sich nicht fixieren lässt und nur mehr in Beziehung zu anderen ›Tatorten‹ beobachtbar wird, die er im Gefolge hat. Das Polizeirevier entpuppt sich als ein diffuser Ort, an dem ein X schnell zu einem U wird, an dem sich keine konsistenten Beobachtungen anstellen lassen und sämtliche Ermittlungen ins Leere laufen. Der Tatort Polizeirevier erweist sich als ein phantasmatischer Ort, an dem darum gesehen und gehört werden kann, was keine Tatsächlichkeit besitzt, voller Hinweise, die immer alles und nichts zugleich bedeuten: »Ich glaube eigentlich nicht mehr, daß ich beobachtet werde. Das Schlimme aber: Durch meine Gegenobservation bin ich in ein Denken geraten, in dem zu vieles zueinander in Beziehung steht, und vor allem auch zu mir. Ich weiß das und kann es dennoch nicht einfach abstellen. Die Zeitungen bringen Falschmeldungen, glaube ich. Ich frage mich: Was sind Phantasien, was ist die Wahrheit? Ich lese Bestattungslisten. Nichts gibt Aufschluß.« (Pr, 45f.)

Welche Aufschlüsse soll ein Ermittlungsverfahren zeitigen, das mit einem Blick aus dem Fenster und einem anderen in Zeitung und

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Fernsehen ›Tatorte‹ unter die Lupe nimmt, die innerhalb der Beobachtungskonstellation keine Bedeutung annehmen? Tatorte lassen sich nicht generieren, nicht provozieren. Sie sind mit einer Tat verknüpft, die nicht vorweggenommen, die nicht ›ermittelt‹ werden kann, bevor sie tatsächlich wird. Einen wenn auch nur momentanen Erfolg kann das beobachtende ›Ich‹ jedoch verbuchen, allerdings erst, als es seine Ermittlungen für einen Augenblick einstellt, das heißt seine Voraussicht aufgibt und geschehen lässt, was eben geschieht. »Und als ich schon fast vergessen hatte, wozu ich hier saß, da geschah es: Zwei Zivilpolizisten sind, vom Revier kommend auf den ziemlich genau unter mir geparkten weißen Golf mit Halogenscheinwerfern zugegangen. Sie haben zu mir heraufgeschaut, dann heraufgelacht. Sie haben die freundlichsten Bemerkungen gemacht: Ich hätte schon Feierabend und sie müßten jetzt erst in den Dienst. Sie haben mir noch einen schönen Abend gewünscht. Ich habe ihnen einen ruhigen Dienst gewünscht und auch gelacht und ihnen zugewinkt. Ja! Der Fahrer war schon eingestiegen. Der andere hat aus dem Handschuhfach ein Fernglas genommen und auf dem Gehweg stehend seine Funktionen geprüft. Er hat die Rücksitztüre aufgemacht, am Boden, unter dem Vordersitz etwas gesucht; eine Taschenlampe ist an und aus gegangen. Im Einsteigen hat er noch einmal zu mir hochgenickt und beiläufig nach der Waffe an seiner rechten Hüfte getastet. Er hat keine Jacke getragen. Vielleicht gibt es Achselhalfter nur in TV-Krimis. Während all dies geschah, ist im Hintergrund ein Mann in dunkelgrünem, nur knapp knielangem Morgenmantel und Pantoffeln auf den Gehweg getreten, stand da kurz, und ist dann wieder in der Hofeinfahrt (mit Baum) verschwunden. Der weiße Golf ist scharf beschleunigend an- und fortgefahren. Augenblicklich flammte über mir kalt die Straßenlampe auf. Die Schlußfolgerungen sind klar. Selbst jetzt noch, zwei Tage danach; anhaltende Euphorie. Jetzt gilt es, Schritt um Schritt vorwärts zu gehen. Zunächst: Zusammenstellung des Juni-Dossiers.« (Pr, 31f.)

Keineswegs ergeben sich daraus klare Schlussfolgerungen. Doch endlich wurde der Stillstand der Erwartung abgelöst von der Augenblicklichkeit des Unerwarteten und hat darin für einen kurzen Moment die Möglichkeit eröffnet, einem Geschehen beizuwohnen, das – gerade weil es dafür keine An- und Vorzeichen, das heißt keine Vorwegnahme gab – einer faktischen Wirklichkeit zugeschlagen und als solche beobachtet und notiert werden kann. Dabei ist völlig unerheblich, was sich de facto zugetragen hat. Es wird automatisch als

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Ermittlungserfolg gewertet. Das Fernglas aus dem Handschuhfach, das Blinken der Taschenlampe, die Waffe an der Hüfte, der kurze Auftritt des Mannes im Morgenmantel, der scharf anfahrende Golf, die augenblicklich aufflammende Straßenlampe suggerieren dabei ein Geschehen, erschaffen Kohärenzen und Zugehörigkeiten, deren Bezüge schließlich im Rahmen des »Dossiers«, der ›Ermittlungsakte‹ sichergestellt werden. Alle Beobachtungen, die sich dem Vorgang der Gegenbeobachtung zuordnen lassen, fügen sich dennoch nicht zu einer positiven Gesamtaussage. Weiterhin gerät alles auf eine Weise zueinander in Beziehung, die sich als arbiträr erweist und darin kein Ergebnis zeitigt: »Die Beobachtung meines Polizeireviers hat nichts Konkretes ergeben (Resümee).« (Pr, 47) Die einzigen Konkretisierungen, die sich im Zuge der Ermittlungen, der Observationen niederschlagen, sind die gesammelten Eintragungen und Bebilderungen des Dossiers sowie das zur Tarnung getippte Kauderwelsch der Schreibmaschine (»wEs3+5ix7:ö2ß wóA do dkw+1+,wW«; Pr, 21): die schriftlichen Ergebnisse derjenigen Instrumentarien, mit denen der vermeintliche Tatort vermessen, seismographisch erfasst und so antizipiert werden sollte. An diesen Aufzeichnungen werden schließlich jene Tatsächlichkeiten erkennbar, die jegliche ›Tat‹ jedoch erübrigen. Ermittlungen anzustrengen, die nicht von Tatbeständen ausgehen, sondern von einer quasi voraussetzungslosen Voraussetzung, der es jeder Tatsächlichkeit und folglich jeder Verortbarkeit ermangelt, machen den Ermittler zu einem Täter, wie er nur in den Akten steht. Und was auf dem Papier geschieht, ist bekanntlich nicht strafbar: »Im Prinzip bin ich ja unbescholten. Es gibt keinen Paragraphen, der meine Arbeit verbieten würde. Vielleicht sollte ich rübergehen und mich stellen.« (Pr, 43)

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Erkenntnis und Verbrechen Schillers Pariser Ermittlungen Stephan Gregory

»So wird ganz Paris durchwühlt« Ein von Schiller geplantes Drama mit dem lapidaren Titel Die Polizey ist über Entwürfe nicht hinausgekommen. Insofern es niemals fertig wurde, stellt es zweifellos weniger dar als ein Kriminalstück, in anderer Hinsicht, und um die soll es hier gehen, jedoch mehr. Offensichtlich hat es verschiedene Arbeitsphasen gegeben, in denen das Stück jedes Mal neu angelegt wurde. Aus dem Sommer 1795 finden sich Aufzeichnungen zu einem »Trauerspiel«, im März 1799 hat Schiller mit Goethe ein »Gespräch über Tragödie und Comödie mit einem Policeysujet«, im Jahr 1803 schließlich taucht das Stück unter der Bezeichnung »ein Schauspiel« wieder auf.1 Kennzeichnend für die frühe Entwurfsphase sind Erwägungen zur dramatischen Form. Da Schiller eine Zeitlang offenbar vorhatte, den Stoff sowohl für eine Komödie als auch für eine Tragödie zu verwenden, handelt es sich gar nicht so sehr um ein Schwanken zwischen den beiden Varianten als um die Abschätzung der Gewinne, die jeweils aus den Spannungsmomenten des Kriminalfalls zu ziehen wären. So sollte der komische Effekt des Lustspiels darin bestehen, »daß man die Spuren eines Kapitalverbrechens aufsucht und auf lustige Verwicklungen stößt«; umgekehrt hätte sich der tragische Reiz des Trauerspiels daraus ergeben, »daß man etwas Verlorenes aufsucht, was keine kriminelle Bedeutung hat, und auf diesem Weg zur Ent1 | Vgl. Stettenheim, Ludwig: Schillers Fragment: »Die Polizey« mit Berücksichtigung anderer Entwürfe des Nachlasses. Berlin, 1893. S. 12-13.

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deckung einer Reihe von Verbrechen geführt wird«.2 Das Ungeheuerliche zu suchen und das Alltägliche zu finden, oder umgekehrt vom Alltäglichen auszugehen und auf das Ungeheuerliche zu stoßen: Systematisch entwickelt Schiller die Möglichkeiten des Kriminaldramas aus den alternativen Schicksalen der Spurensuche. Die Aufzeichnungen aus der späteren Entwurfsphase, um 1803, sprechen von neuen Problemen. Das Stück, das jetzt als »Schauspiel« geführt wird, hat sich zu einem Kolossalgemälde geweitet. Schiller bemerkt, dass »eine ungeheure Masse von Handlung zu verarbeiten« sei; er fürchtet, »die Mannigfaltigkeit der Begebenheiten und die Menge der Figuren« könnten verwirrend wirken.3 Gegenüber der Handlung, die kaum angedeutet ist, tritt der Schauplatz hervor: die Stadt Paris sowie der Apparat, der sie zur Sichtbarkeit bringen soll: die Pariser Polizei. Die Darstellung kreist zwar noch um ein Verbrechen, aber dieses Verbrechen lässt sich nicht mehr in einer einzelnen Tat, in einer rekonstruierbaren Handlung dingfest machen; es bildet vielmehr buchstäblich eine ›Intrige‹, eine Verwicklung, die alle Ebenen der sozialen Beziehungen erfasst und mit dem gesamten städtischen Gefüge koextensiv ist. So wird das Verbrechen zum Anstoß einer schier unendlichen Recherche, einer Erkenntnistätigkeit, die sich immer mehr verselbstständigt, um schließlich eine ganze Welt, die große Stadt Paris, zur Darstellung zu bringen. »Ein ungeheures, höchst verwickeltes, durch viele Familien verschlungenes Verbrechen, welches bei fortgehender Nachforschung immer zusammengesetzter wird, immer andre Entdeckungen mit sich bringt, ist der Hauptgegenstand. Es gleicht einem ungeheuren Baum, der seine Äste weitherum mit andren verschlungen hat, und welchen auszugraben man eine ganze Gegend durchwühlen muß. So wird ganz Paris durchwühlt, und alle Arten von Existenz, von Verderbnis etc. werden bei dieser Gelegenheit nach und nach an das Licht gezogen.« 4

Es scheint, als wäre das Verbrechen in dieser zweiten Entwurfsphase vor allem dazu gut, einen Vorwand zu liefern: eine ungreifbare und (wie sich in der Komödienvariante angedeutet hat) möglicherwei2 | Schiller, Friedrich: Die Polizei. In: Ders.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Düsseldorf, (6. Aufl.) 1994, S. 512-525. S. 519. 3 | Ebd., S. 512. 4 | Ebd., S. 516.

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se abwesende Ursache, die den Prozess der Suche anstößt und ihn durch immer neue Entdeckungen und Enthüllungen in Gang hält. Schiller kennt den »Hang der Menschen zu leidenschaftlichen und verwickelten Situationen«, und er weiß auch, dass es an solchen »oft den schlechtesten Produkten am wenigsten fehlt«;5 doch handelt es sich hier offensichtlich weniger darum, diesen Hang zu befriedigen, als ihn auszunutzen. Noch bevor es also so etwas wie ein KriminalGenre gibt (und Schiller gehört zweifellos zu seinen Erfindern), werden dessen suspense-Effekte (die Vermutung des Ungeheuerlichen, die Verweisung von Spur zu Spur, die aufgeschobene Enthüllung…) in den Dienst eines anderen Unternehmens gestellt, das mindestens ebenso neu und ungewöhnlich ist. Es handelt sich darum, ein Schauspiel zu entwerfen, dass nicht das Drama einiger weniger Personen ist, sondern das einer ganzen Stadt: ein, so könnte man sagen, ›ortsspezifisches‹ Theater. »Paris«, schreibt Schiller, »muß in seiner Allheit erscheinen, und das Thema erschöpft werden. […] Dies mit den einfachsten Mitteln zu bewerkstelligen, ist die Aufgabe.«6 Merkwürdigerweise findet Schiller diese »einfachsten Mittel« ausgerechnet in den komplizierten Verwicklungen des Kriminalstücks. Aus der Verschlingung der Handlungen soll sich ein Bild der Welt ergeben, in der sie stattfinden. So können die Nachforschungen der Polizei für die Aufdeckung des Verbrechens ganz vergeblich sein, für die Darstellung sind sie dennoch ergiebig. Denn durch sie kommen »allerlei Existenzen und Haushaltungen an den Tag«,7 von denen man auf andere Weise nie erfahren hätte. Woher kommt diese Wendung zum panoramatischen »Schauspiel«, das ganz Paris zur Erscheinung bringen sollte? Eines ist sicher: Schiller hatte Louis-Sébastien Mercier gelesen. Ganze Strecken des neuen Entwurfs stellen nichts anderes dar als Exzerpte aus dessen Tableau de Paris, einer literarischen Stadtbeschreibung, die zwischen 1781 und 1788 in zwölf Bänden erschienen war, und die nach der Französischen Revolution, als alle Welt über den Schauplatz der neuesten Geschehnisse Bescheid wissen wollte, eine außerordentli5 | Schiller, Friedrich: Vorrede. In: Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem französischen Werk des Pitaval […] herausgegeben von Schiller. Erster Theil. Jena, 1792. Zitiert nach Stettenheim: Schillers Fragment. S. 16. 6 | Schiller: Die Polizei. S. 513. 7 | Ebd., S. 522f.

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che Verbreitung erfuhr.8 Schillers Beobachtungen zum Straßenleben der Stadt Paris, seine Angaben zu Sterblichkeitsziffern und topographischen Details, die Darstellung der Arbeitsmethoden der Polizei, ihrer Wissensformen und Erkenntnisraster, all das hat er von Mercier übernommen; einzelne Momente, wie die Idee einer »Poetische[n] Schilderung der Nacht zu Paris«, gehen wohl auf Les Nuits de Paris (1786) von Restif de la Bretonne zurück. Offenbar hat Schiller vorgehabt, auf seine Art, mit dramatischen Mitteln, ein »Tableau« von Paris zu erstellen. Christian Gottfried Körner, Schillers Freund und Herausgeber der ersten Werkausgabe, spricht anlässlich des Polizey-Fragments von der »Idee eines dramatischen Gemähldes«, die »Schillern einige Zeit beschäftigt« habe,9 – ein durchaus heikles Projekt, insofern dadurch die kanonisierte Unterscheidung zwischen bildender Kunst (zuständig für das, was gleichzeitig in einem Raum sein kann) und Poesie (zuständig für die Entfaltung von Handlungen in der Zeit) unterlaufen wird. Ein Tableau ist im 18. Jahrhundert zunächst buchstäblich ein Gemälde, ein Tafelbild, eine Repräsentation von ›Welt‹ auf einer Fläche, in einem Viereck. Aufgrund seiner Eignung, die Dinge gleichzeitig und in einer gewissen Ordnung festzuhalten, funktioniert das Tableau aber auch als ein epistemologisches Modell. Als »zeitloses Rechteck, in dem die Wesen […] sich nebeneinander mit ihren sichtbaren Oberflächen darstellen«,10 entspricht es der Forderung nach einer Anordnung der Zeichen, die in systematischer Weise die »Ordnung der Dinge« abbilden soll. Insofern stellt bereits Merciers Gebrauch des Wortes »Tableau« eine kreative Entwendung des Begriffs dar. Zunächst scheint er »das Programm der sammelnd-inventarisierenden und gliedernden Wissensdarstellung«11 zu übernehmen; doch erweist sich der Gegenstand Paris als zu unübersichtlich (und zu sehr in Veränderung begriffen), um in »distinkte Ordnungsreihen«12 zerlegt 8 | Vgl. Graczyk, Annette: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. München, 2004. S. 128. 9 | Körner, Christian Gottfried: Vorerinnerung. In: Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Bd. XIII: Kleine Theater-Stücke. Carlsruhe, 1822. S. 344-347. S. 344. 10 | Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M., 1974. S. 172. 11 | Graczyk: Tableau. S. 117. 12 | Ebd., S. 121.

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werden zu können. Merciers ›Bild von Paris‹ ergibt sich daher nicht aus der Abarbeitung eines vorgefassten Katalogs oder Inventars,13 sondern aus der assoziativen Zusammenstellung einzelner Szenen: reportageartige Darstellungen ›typischer‹ Situationen und Charaktere, die wiederum mit statistischem und historischem Wissen angereichert sind. Als Modell der Stadtbeschreibung dient, um es mit einer heute viel gebrauchten kulturwissenschaftlichen Formel zu sagen, nicht der statische, die Dinge in ihrer Gleichzeitigkeit erfassende Blick »von oben«, sondern vielmehr eine Rhetorik des »Gehens in der Stadt«,14 eine Verknüpfung der Dinge und Eindrücke nach Maßgabe ihres fußläufigen Daherkommens. Mercier selbst bestätigt diese spaziergängerische Auffassung, wenn er sagt, er habe sein Tableau de Paris »mit den Füßen geschrieben«.15 Nicht nur die Motive der mercierschen Stadtbeschreibung, auch ihre methodischen Prämissen haben in Schillers Polizey-Projekt Eingang gefunden. »Ganz Paris« zu »durchwühlen«, heißt hier nicht, wie es die Archäologen tun, durch systematische Grabungen die Fundamente der städtischen Organisation freizulegen; es bedeutet vielmehr, sich an die Fersen der Akteure zu heften und den verschlungenen Pfaden ihrer Geschäftigkeiten zu folgen. Um ein soziales Ganzes in seinen Verwicklungen zu erfassen, muss man nur den sich darin vollziehenden Bewegungen folgen – wobei es sich um die Bewegungen von Menschen handeln kann, aber auch um solche von nicht menschlichen Akteuren, wie zum Beispiel jenes »Kistchen[s] mit Pretiosen«,16 dem in der Komödien-Variante des Polizey-Projekts eine Hauptrolle zugedacht war. »Ganz Paris« zu »durchwühlen«, heißt in diesem Sinn, allen »Wegen« zu folgen, »auf denen Tatsachen zirkulieren«.17 Die Erklärung des städtischen Netzwerks fällt mit seiner vollständigen Beschreibung zusammen; und deren Qualität hängt von der 13 | Vgl. Mercier, Louis-Sébastien: Tableau de Paris. Tome premier. Nouvelle édition, corrigée & augmentée. Amsterdam, 1782 [Im Folgenden: Mercier: Tableau I]. S. VI: »Je n’ai fait ni inventaire, ni catalogue.« 14 | Vgl. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns [1980]. Berlin, 1988. S. 179-208. 15 | Zitiert nach Graczyk: Tableau. S. 152. 16 | Schiller: Die Polizei. S. 521. 17 | Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft [1999]. Frankfurt a.M., 2002. S. 96.

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Dichte und Zahl der Beobachtungen ab. Schon bei Mercier erscheint daher die Polizei als ein privilegiertes Mittel der Stadtrecherche. Wie das Wissen des umherschweifenden Korrespondenten beruht das der Polizei auf empirischen, auf der Straße gewonnenen Beobachtungen; doch statt eines einzelnen hat die Polizei Hunderte von Augenpaaren zur Verfügung, deren Erkenntnisse ständig abgeglichen und systematisch zusammengeführt werden. So formuliert Mercier schon 1773 die Idee eines Paris-Buchs: »Ein Polizeileutnant müsste das Material beisteuern, und ein Mann von Genie müsste den Rest besorgen.«18

Ein Polizeigemälde In Schillers Entwürfen stellt die »Polizei« zunächst vor allem einen dramaturgischen Kunstgriff dar. Sie erscheint als ein »leitender Faden«, als »eigentliche Einheit«,19 die die Mannigfaltigkeit der Personen, Handlungen und Schauplätze zusammenfassen soll. Sie bildet also eine Art synthetische Vernunft, die die zahllosen in der Stadt gesammelten Erkenntnisse zusammenführt und auf diese Weise schließlich Paris »in seiner Allheit erscheinen« lässt. In dieser Funktion bildet die Polizei offensichtlich, wie Hans-Christian von Herrmann bemerkt hat, einen »Doppelgänger des Dramatikers, der ebensolche Macht über sein Personal besitzt und dessen Konstruktion die Einheit der Handlung herstellt«.20 Zugleich jedoch wird dieses polizeiliche Erkenntnis- und Vereinheitlichungsprinzip selbst zum Gegenstand des analytischen Interesses. Nicht nur Paris soll – durch die Augen der Polizei – in seiner Totalität erfasst werden, »[e]benso muß auch die Polizei sich ganz darstellen und alle Hauptfälle vorkommen«.21 Das vollkommenste Bild einer Stadt hat demnach, wer nicht nur über das polizeiliche Wissen von der Stadt verfügt, sondern auch noch weiß, wie die Polizei selber funktioniert: »Der Zuschauer wird sonach schnell mitten ins Getriebe der ungeheuren Stadt versetzt

18 | Mercier, Louis-Sébastien: Du Théâtre, ou Nouvel Essai sur l’art dramatique. Amsterdam, 1773. Zitiert nach Graczyk: Tableau. S. 136. 19 | Schiller: Die Polizei. S. 512. 20 | Herrmann, Hans-Christian von: Hitchcocks Wahrheit oder Warum Der falsche Mann kein Suspensefilm ist. www.momo-berlin.de/Herrmann_ Hitchcock.html [27.07.2010]. o.P. 21 | Schiller: Die Polizei. S. 513.

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und sieht zugleich die Räder der großen Maschine in Bewegung.«22 Schillers kurzes Fragment enthält also ein überaus anspruchsvolles Programm: Es handelt sich darum, nicht nur das Bild eines Verbrechens zu geben, sondern das einer ganzen Stadt; nicht nur ein »Tableau« von Paris, sondern zugleich eines der Polizei von Paris. Doch was heißt ›Polizei‹ – zu der Zeit, als Schiller seine Überlegungen anstellt? Die Polysemie des Polizeibegriffs ist berüchtigt.23 Selbstverständlich hat das Wort »in einem Text des 16. Jahrhunderts […] nicht die gleiche Bedeutung wie in einem Text des 19. Jahrhunderts«;24 aber auch zu ein und derselben Zeit, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, »deckt der Begriff ›Polizei‹ nicht die gleiche Realität ab, je nachdem, ob er im Tableau de Paris von L.S. Mercier vorkommt, in einem Gesetzestext oder aber in einem politischen Traktat, der die gleiche Frage angeht«.25 Traditionell wurde der Begriff »verwandt für die Kennzeichnung obrigkeitlicher Regelung all der Bereiche des öffentlichen Lebens, die unter den Begriffen ›Frieden‹ oder ›Recht‹ nur unzulänglich zu fassen waren«,26 wobei er »zugleich den Zustand der guten Ordnung eines Gemeinwesens bezeichnete und die normative Praxis, die diese Ordnung instituierte«.27 Diese »umfassende Bestimmung des Polizeiwesens«28 hält sich bis ins späte 18. Jahrhundert; was genau genommen die Polizei eigentlich ist oder tun soll, bleibt dabei chronisch umstritten.

22 | Ebd., S. 512. 23 | Napoli, Paolo: Naissance de la police moderne. Pouvoir, normes, société. Paris, 2003. S. 8. [Diese und alle weiteren Übersetzungen aus französischen und englischen Texten: S.G.]. 24 | Milliot, Vincent: Mais que font les historiens de la police. In: Berlière, Jean-Marc (Hg.): Métiers de police. Être policier en Europe, XVIIIe-XXe siècle. Rennes, 2008. S. 9-36. S. 14. 25 | Napoli: Naissance. S. 13. 26 | Knemeyer, Franz Ludwig: Polizei. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart, (4. Aufl.) 1994. S. 875-898. S. 875. 27 | Napoli: Naissance. S. 25. 28 | Schnyder, Peter: Schillers »Pastoraltechnologie«. Individualisierung und Totalisierung im Konzept der ästhetischen Erziehung. In: Barner, Wilfried et al. (Hg.): Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Bd. 1. Göttingen, 2006. S. 234-262. S. 250.

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Soweit Schillers »Polizey« bisher überhaupt theoretisiert wurde,29 wurde sie im Kontext der deutschen »Policey-Wissenschaft« verortet und als eine neue, flexible Form der Regierungstechnologie begriffen, als ein »Steuerungsorgan, das unterhalb rechtlicher Sanktionen operiert«30 und daher einen direkten Zugriff auf die kleinsten Dinge des »Lebens« ermöglicht: »Die Policey bezieht sich – kurz gesagt – auf die Förderung der individuellen und allgemeinen Wohlfahrt zur Stärkung des Staats überhaupt und nimmt dabei eine minutiöse Bearbeitung von Körpern, Fähigkeiten und Verkehrsweisen vor. Sie ist, wie in Justis Policey-Wissenschaft konzipiert, eine filigrane Verwaltungstechnologie, die alles, was im Staat vorgeht, beobachtet und damit das Gemeinwesen selbst erst zu einem Objekt eigener Art, zu einem regier- und kontrollierbaren Gegenstand macht.« 31

Der spezifische historische Hintergrund des schillerschen Entwurfs wäre dann in jenem Moment zu sehen, in dem die polizeiliche Regierungstechnik, deren Wirken zunehmend als eine obrigkeitliche Überbetreuung, als »Regulirsucht« wahrgenommen wurde, sich die liberale Kritik zu Herzen nimmt und sich unsichtbar macht: »[H]atte man zunächst darauf gesetzt, den neuen, physischen Staatskörper durch ein weitverzweigtes und möglichst engmaschiges Netz von Verordnungen und Maßregeln zu kontrollieren und zu fördern, so zeichnet sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein neues, man könnte sagen im wei29 | Zu Schillers Fragment ist etwa 100 Jahre lang nicht viel gesagt worden. Ende des 19. Jahrhunderts hat Ludwig Stettenheim (Stettenheim: Schillers Fragment, vgl. Fn. 1) die Arbeitsphasen rekonstruiert und Schillers ›Quellen‹ (Mercier, Restif de la Bretonne, Pitaval etc.) freigelegt. Noch einmal 100 Jahre später gab eine kleine Welle von Arbeiten, die sich besonders für den Zusammenhang von Ästhetik und Polizeifunktion interessiert haben. Dazu gehören u.a. Vogl, Joseph: Staatsbegehren. Zur Epoche der Policey. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 4 (2000). S. 600-626; ders./Schäffner, Wolfgang: Policey-Sachen. In: Hinderer, Walter (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg, 2006. S. 47-65; Schnyder: Schillers »Pastoraltechnologie«; Hermann: Hitchcocks Wahrheit. 30 | Vogl: Staatsbegehren. S. 608. 31 | Schäffner/Vogl: Policey-Sachen. S. 49.

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testen Sinne liberales Lenkungsparadigma ab, in dessen Rahmen verstärkt auf indirekte und verborgene Steuerungs- und Regulierungstechniken gesetzt wird.« 32

Die Polizei würde also in diesem Zusammenhang das Paradigma einer vollkommenen, weil unspürbaren Regierung abgeben; und Schiller wäre sozusagen der Prophet, oder besser gesagt, der Ästhet dieser neuen, ziemlich perfiden Steuerungstechnik, die die Tatsache der Kontrolle mit der Illusion der Freiheit verbindet. So kann im Hinblick auf Schillers Polizey-Projekt nicht nur von einer Ästhetisierung der Polizeifunktion,33 sondern umgekehrt auch von einer »Verpolizeilichung der Ästhetik«34 gesprochen werden. Dass ein solches »Staatsbegehren«35 in der schillerschen Ästhetik wirksam ist, soll hier keineswegs bestritten werden; Joseph Vogl und andere haben überzeugend dargelegt, wie Schiller seine »Theaterpoetik aus Policey-Gedanken heraus entwickelt«36 und die »Kooperation von Polizei und Theater«37 ins Werk gesetzt hat. Trotzdem soll das schillersche Polizey-Fragment hier von einer anderen Seite betrachtet werden; diese Facette kommt mit dem Schauplatz Paris ins Spiel. Zweifellos hat sich Schiller für die »Policey« als unsichtbare Regierungstechnologie interessiert, so wie sie in der deutschen »Policey-Wissenschaft« diskutiert wurde. Doch dass Schiller sich nach Paris orientierte, hat wohl auch damit zu tun, dass es ihm nicht nur um die Theorie, sondern um die Praxis der Polizei ging – und die ließ sich zu seiner Zeit nur in Frankreich studieren. Stark vereinfachend lässt sich der Unterschied so darstellen: In den deutschen Ländern gibt es eine Polizeiwissenschaft, aber keine Polizei; Frankreich hat zwar keine Polizeiwissenschaft, dafür existiert hier seit über hundert Jahren eine Behörde dieses Namens. Wie Paolo Napoli in seinem Buch La naissance de la police moderne gezeigt hat, bildet die »Erhebung der Polizei in den Rang einer Wissenschaft« eine Besonderheit der deutschen Situation, die in der »französischen Erfahrung der gleichen Epoche« keine Entsprechung 32 | Schnyder: Schillers »Pastoraltechnologie«. S. 251. 33 | Vgl. Vogl: Staatsbegehren. S. 623f. 34 | Ebd., S. 615. 35 | Vgl. ebd., S. 613. 36 | Ebd., S. 620. 37 | Schäffner/Vogl: Policey-Sachen. S. 58.

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hat.38 So ist in Deutschland die Befassung mit der Polizei vor allem eine akademische Angelegenheit; sie verfährt deduktiv, entwickelt ihre Vorschläge ausgehend vom vorausgesetzten Zweck der Staatsverbesserung. Im Unterschied dazu ist die Polizei in Frankreich aus der Verarbeitung konkreter Sicherungs- und Ordnungsprobleme entstanden. Dieser Geburt der Polizei aus der Polizeipraxis entspricht auch die induktiv-empirische Ausrichtung der französischen Polizeitraktate, »episodische[n] Reflexionen, die innerhalb des juridischen und politischen Diskurses formuliert werden«39 . Entsprechend unzufrieden sind die deutschen Autoren mit den unsystematischen Produkten der Franzosen; umgekehrt kritisieren die Franzosen den deutschen Polizeibegriff, der ihnen als »bien vague et terriblement étendue«40 erscheint. Der wesentliche Unterschied zwischen französischer und deutscher Situation aber besteht darin, dass es in Paris seit Ende des 17. Jahrhunderts eine institutionalisierte Polizei mit einer zwar umfassenden, aber auch abgrenzbaren Zuständigkeit gibt, während sich die Vorstellung von Polizei als einer eigenen Behörde in den deutschen Ländern erst ganz allmählich von der allgemeinen Idee der »Policey« als (Innen-)Verwaltung abzuheben beginnt. Der Beginn der Pariser (und damit der modernen) Polizei wird gewöhnlich auf das Jahr 1667 datiert, in dem »unter dem Namen lieutenance de police ein neues Richteramt am königlichen Gericht in Paris geschaffen [wird]«.41 Mit dieser »Strukturreform« ist offenbar zunächst weder »eine inhaltliche Änderung der Herrschaftspraxis noch […] ein neues Konzept von Ordnung«42 verbunden. Vielmehr werden lediglich bereits bestehende, munizipale Polizeipraktiken 38 | Napoli: Naissance. S. 14. 39 | Ebd., S. 57. 40 | Aus einem 1769 erschienenen »compte rendu« zur französischen Übersetzung von Justis Grundsätzen der Policeywissenschaft. Zitiert nach ebd., S. 275. 41 | Sälter, Gerhard: Urbanisierung, Migration und Kriminalität als Begründungskontext für die Entstehung von Polizei. Zur Entstehung einer eigenständigen Polizei im Paris des Ancien Régime. In: Policey Working Papers, 5 (2002). www.univie.ac.at/policey-ak/pwp/pwp_05.pdf [24.11.2003]. S. 1. 42 | Sälter, Gerhard: Polizei und soziale Ordnung in Paris. Zur Entstehung und Durchsetzung von Normen im städtischen Alltag des Ancien Régime (1697-1715). Frankfurt a.M., 2004. S. 141.

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zentralisiert und der Aufsicht des königlichen Polizeileutnants unterworfen. So hat die Entstehung der Polizei in Paris, wie Gerhard Sälter gezeigt hat, vor allem machtpolitische Gründe. Im Vordergrund steht das »Bestreben der Krone«, in einer Art Staatsstreich die traditionellen Formen oligarchischer Stadtherrschaft auszuschalten und »politische Kontrolle über Paris zu gewinnen«.43 »[D]urch die veränderten politischen Ziele« beginnt sich aber schon unter dem ersten Polizeileutnant Gabriel Nicolas de La Reynie »die Technik von Herrschaft zu verändern«. Ende des 17. Jahrhunderts verfügt die Polizei zwar nur über »erste Ansätze für einen eigenen Apparat«, »[d]ie neuen Aufgaben führten aber zu Experimenten mit neuen Formen der Repression und zur Entwicklung polizeilicher Techniken der Kontrolle, die später auch in anderen Zusammenhängen eingesetzt werden konnten.«44 Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bleibt die Polizei eine Behörde mit äußerst ausgedehnter Zuständigkeit. Der Anspruch auf Regelung auch noch der geringfügigsten Belange des städtischen Lebens dokumentiert sich in den allgegenwärtigen »affiches de police«, die die Mauern von Paris bedecken und die polizeiliche Durchdringung des städtischen Raums sinnfällig werden lassen. Erst seit der Jahrhundertmitte wird diese »klassische« Polizei infrage gestellt.45 Im Namen der freien Konkurrenz und des »laissez-faire«46 beginnt man, zwischen Wohlfahrts- und Sicherheitsaufgaben zu unterscheiden – um die Funktion der Polizei auf diese letzteren zu beschränken. Zögerlich setzt sich die Trennung von »Politik« und »Polizei« auch in den deutschen Ländern durch. Bemerkenswert deutlich ist der Paragraph 10 des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten, in dem das »Amt der Polizei« auf die »nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr«47 eingeschränkt wird. Allerdings ist die Sache um 1800, als Schiller seine Polizey-Notizen aufsetzt, noch nicht entschieden. Bis weit ins 19. Jahrhundert mischt sich die »Förderung des allgemeinen Wohls« immer wieder unter die Polizeiaufgaben, wo-

43 | Sälter: Urbanisierung. S. 12. 44 | Sälter: Polizei und soziale Ordnung. S. 141. 45 | Vgl. Napoli: Naissance. S. 67. 46 | Ebd. 47 | Zitiert nach Knemeyer: Polizei. S. 891.

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ran sich zeigt, »wie schwierig es ist, eine so ausgedehnte und detaillierte Sicht der Polizei aus der Praxis der Bürokratien zu tilgen«.48 In der öffentlichen Wahrnehmung jedoch, und die ist für die Rekonstruktion des schillerschen Polizeibegriffs wichtiger als die innerbürokratischen Streitigkeiten, stellt die Polizei gegen Ende des 18. Jahrhunderts in erster Linie das dar, als was sie heute noch erscheint: eine staatliche Institution zur Verbrechensbekämpfung und Gefahrenabwehr. In verschiedenen europäischen Ländern werden um 1800 Debatten über die Einführung einer Polizei nach Pariser Vorbild geführt, und dabei geht es um kaum eine andere Frage als die Verteidigung gegen die Schrecken der Kriminalität. Beispielhaft sind die Traktate des schottischen Kaufmanns Patrick Colquhoun, der 1798 in London die Thames Riverside Police, eine private Hafenpolizei, aufgestellt hatte, und sich danach mit Vorschlägen für eine Police of the Metropolis hervortat, die nicht nur ins Deutsche übersetzt, sondern auch in populären Zeitschriften, wie dem Weimarer Magazin London und Paris diskutiert wurden.49 Gegenstand der Aufmerksamkeit bilden hier allein die Störungen der öffentlichen Sicherheit – »the various crimes and misdemeanors by which public and private property and security are […] injured and endangered«50 –, und die Funktion der Polizei wird als die einer »prevention and detection of crimes«51 beschrieben. Dabei richtet sich der Blick ganz selbstverständlich auf das (vorrevolutionäre) Pariser Polizeisystem, dem »the greatest degree of perfection«52 zugestanden wird. Dieser Vorrang des französischen Beispiels hat wohl auch damit zu tun, dass die Polizei hier als etwas begriffen wird, das nicht so sehr (wie in der deutschen »Policey-Wissenschaft«) theoretisch konstruiert, sondern vielmehr empirisch erprobt werden muss. Wie Colquhoun betont, seien die polizeilichen Mittel »hauptsächlich solche, die sich mehr auf dem Wege der Erfahrung als des spekulativen Nachdenkens«53 48 | Napoli: Naissance. S. 284. 49 | Vgl. o.A.: Colqouhn’s neue Polizeyvorschläge. In: London und Paris, Erstes Stück (1799). S. 3f. 50 | Colquhoun, Patrick: A treatise on the police of the Metropolis. The sixth edition. London, 1800. Titelseite. 51 | Ebd., S. 1. 52 | Ebd., S. 529. 53 | Colquhoun, Patrick: Ueber Londons Polizey besonders in Bezug auf Verbesserungen und Verhütungsmittel der Verbrechen. Leipzig, 1800. S. XXXIV.

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gewinnen lassen. Damit tritt etwas ins Gesichtsfeld, was man den »fundamentalen Empirismus der Polizei«54 nennen kann. Die Polizei, geschaffen, um wechselnden Herausforderungen flexibel begegnen zu können, ist »vor allem ein pragmatisches Konzept«;55 sie »ist immer im Begriff, sich neu zu erfinden«,56 und »ihre Effektivität besteht genau darin, sich kontinuierlich an eine Gesellschaft in Bewegung anzupassen«.57 Als eine »ungreifbare Figur«,58 die allen Definitionen entkommt, fordert die Polizei eine eher empirische als theoretische Annäherungsweise heraus: einen »praktischen, historischen und soziologischen, zeitlich und räumlich begrenzten Zugang«.59

Der Apparat Genau darin liegt meiner Ansicht nach das Bemerkenswerte an Schillers Polizey-Entwurf. Hier geht es weniger darum, eine Theorie der Polizei zu erstellen, als vielmehr ihre »Akteure und Methoden […] vor Ort zu beobachten«.60 Wenn Schiller dafür den Schauplatz Paris wählt, so deshalb, weil dies zu dieser Zeit der einzige Ort ist, an dem ein entwickelter Polizeiapparat in seinem Funktionieren beobachtet werden kann. Möglicherweise ist Schiller also weniger PolizeiIdealist oder -Ästhet, als man denken könnte, vielleicht geht es ihm zunächst einfach darum, die Realität der Polizei, das Funktionieren dieser »großen Maschine«61 zu verstehen.62 Für diesen Realismus 54 | Milliot: Mais que font les historiens de la police. S. 16. 55 | Napoli: Naissance. S. 58. 56 | Milliot: Mais que font les historiens de la police. S. 15. 57 | Ebd., S. 16. 58 | Vgl. ebd., S. 15. 59 | Ebd., S. 16. 60 | Ebd., S. 27. 61 | Schiller: Die Polizei. S. 512. 62 | Man muss hinzufügen, dass Schillers »Polizey« ein Mischwesen aus verschiedenen Vorstellungen von Polizei bildet, nicht nur aus deutscher Policey und französischer police, sondern auch aus Polizeien verschiedener Epochen. So ist die Figur des »Polizeiministers« nach dem Polizeileutnant d’Argenson zur Zeit Ludwigs XIV. modelliert, die Schilderung der Polizeipraktiken orientiert sich aber an Mercier, der die Polizei unter den Leutnants Sartine (1759-1774) und Le Noir (1774-1785) im Auge hatte. Der im Figurenverzeichnis auftauchende »Illuminat und geheime Gesellschafter«

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der Polizeibetrachtung wird jedenfalls in Schillers Fragment selbst geworben, und zwar durch den Polizeileutnant, die Hauptfigur des Stücks. Eine »Szene Argensons mit einem Philosophen und Schriftsteller«, sollte »eine Gegeneinanderstellung des Idealen mit dem Realen« enthalten und auf die »Überlegenheit des Realisten über den Theoretiker«63 hinauslaufen. Wahrscheinlich wäre es nicht abwegig zu behaupten, dass Schiller das Kriminaldrama erfunden hat. Bemerkenswerter aber ist, dass dieses Kriminaldrama hier bereits in seiner höchsten Reflexionsform auftritt. Denn in Schillers Polizey-Fragment geht es nicht um die Geschichte eines Verbrechens und seiner Aufklärung; vielmehr handelt es sich vor allem darum, die Erkenntnismaschinerie in den Blick zu nehmen, die für die Sichtbarmachung und Verfolgung des Verbrechens zuständig ist. So hat Schillers Polizey kaum etwas mit dem deutschen Kriminalfilm zu tun, der stets die Perspektive der ermittelnden Beamten einnimmt und zur moralischen Identifizierung mit der Ordnung einlädt. Wenn es eine Verwandtschaft gibt, dann eher mit dem französischen (manchmal auch dem amerikanischen)64 Polizeifilm, der von einem in erster Linie epistemologischen Interesse getragen wird.65 verweist wiederum auf den noch späteren Kontext der Geheimbunddebatten nach der Aufdeckung des Illuminatenordens. Emblematisch für die historischen Verdichtungen in Schillers »Polizey« ist die Schreibung mit z: Sie steht zwischen der alten Schreibung Policey (mit ›christlichem‹ c) und der sich um 1800 durchsetzenden Schreibweise Polizei. 63 | Schiller: Die Polizei. S. 514. 64 | Hans Christian von Herrmann hat den polizei-epistemologischen Zug des schillerschen Fragments hervorgehoben und dabei auf Alfred Hitchcocks Film The Wrong Man (1956) verwiesen, der »in weiten Teilen eine detaillierte Schilderung des Polizeiapparates ist« und »ein analytisches Interesse für die Praktiken und Räume der Registrierung, Internierung und Zurschaustellung von Delinquenz« beweist (Hermann: Hitchcocks Wahrheit. o.P.). 65 | Mehr als um die Aufdeckung des Verbrechens geht es hier um die Aufdeckung des polizeilichen Apriori, das heißt um die Analyse des Apparats, der die polizeilichen ›Erkenntnisse‹ (und damit die Evidenz des Verbrechens) produziert. Gegenstände des Interesses sind die Techniken und Analyseraster, die die Polizeiarbeit dirigieren (Le Samourai, Frankreich 1967, R: Jean-Pierre Melville); die Methoden der Wahrheitsfindung (Garde

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Eine Perspektive, die vor allem am Funktionieren der Polizei interessiert ist, kann »funktionalistisch« genannt werden. Unvermeidlich schließt sie die Idee einer Maschine mit ein. So spricht Schiller nicht nur vom »Getriebe der ungeheuren Stadt«, sondern auch von der »großen Maschine«66 der Polizei. Die Beschreibung der Polizei als Maschine ist zu seiner Zeit geläufig. Bei Mercier erscheint sie als eine »machine […] bien montée«;67 beim Kommissar Le Maire als eine »grande machine toute montée«.68 Das zugrunde liegende Maschinenmodell ist das eines perfekt eingestellten mechanischen Automaten, wie ihn das Uhrwerk repräsentiert oder der newtonsche Kosmos. Fontenelle, in seiner Eloge des Polizeileutnants d’Argenson, vergleicht die Ordnung einer »wohlpolicierten Stadt« mit der »Regelmäßigkeit der himmlischen Bewegungen«: »Je mehr die Ordnung einer Polizei, durch ihrer Gleichförmigkeit, jener der Himmelskörper gleicht, desto weniger spürbar ist sie. Daher wird sie umso leichter ignoriert, je perfekter sie ist«.69 Die Vollkommenheit der Maschine erscheint noch erstaunlicher, wenn man ihre Kompliziertheit in Rechnung zieht. Wie der PolizeiProjektemacher Colquhoun vermutet, macht sich wohl kaum ein gewöhnlicher Stadtbewohner eine richtige Vorstellung von den »principles of organization, which move so complicated a machine«.70 Weil die Polizei es sich zur Aufgabe gemacht hat, »bis zu den geringsten Dingen hinabzusteigen«,71 »beschäftigt sie sich ständig

à vue, Frankreich 1981, R: Claude Miller); die fließenden Grenzen zwischen Ordnung und Verbrechen (Max et les ferrailleurs, Frankreich 1971, R: Claude Sautet). 66 | Schiller: Die Polizei. S. 512. 67 | Mercier: Tableau I. S. 123. 68 | Le Maire, [o.A.]: La Police de Paris en 1770. Mémoire inédit. Composé par ordre de G. de Sartine sur la demande de Marie-Thérèse. Hg. von A. Gazier. Paris, 1879. S. 8. 69 | Fontenelle, Bernard le Bovier de: Éloge d’Argenson. In: Ders.: Oeuvres de Fontenelle. Nouvelle Édition […] Tome septième. Paris, 1792. S. 114127. S. 118. 70 | Colquhoun: A Treatise. S. 503. 71 | »Nous voulons bien descendre jusqu’aux moindres choses, lorsqu’il s’agit de la commodité publique«, heißt es schon in einer Polizeiverordnung vom Dezember 1666. Zitiert nach Napoli: Naissance. S. 47.

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mit Kleinigkeiten«;72 ihre Tätigkeit setzt sich aus einer »immensité de petites opérations«73 zusammen. Wer im 18. Jahrhundert einen Eindruck von der großen Polizeimaschine zu geben versucht, wird daher stets die Fülle der zu berücksichtigenden Details, die kaum überschaubare Vielfalt ihrer Funktionen und ihre ungeheure Betriebsamkeit hervorheben: »[D]ie Thätigkeit war so groß, daß man […] bloß in der einzigen Arreststube des Centralbureaus innerhalb sieben Monaten, sowohl an Räubern, als Verschwörern, Emigranten und Lustmädchen, 2047 Personen sah, ohne die Haussuchungen darunter zu begreifen, welche zweytausend Individuen dahin nöthigten […]«74

Mit dem Hinweis auf die Komplexität des Polizeigetriebes verbindet sich gewöhnlich aber auch das Eingeständnis, dass diese Maschine keineswegs sich selbst überlassen werden kann. Anders als der newtonsche Kosmos, der – einmal geschaffen – unveränderlich dahinrollt, erhält sich die Polizeimaschine nur durch die stetige Anpassung an veränderte äußere Bedingungen, durch beständige Kurskorrekturen. So schreibt Mercier: »Man sagt, dass diese Maschine heute von selbst läuft. Keineswegs. Ihr Spiel erlaubt die verschiedensten Veränderungen.«75 Dieses »Spiel«, diese Abweichung im Funktionieren, rührt daher, dass die Polizeimaschine nicht feststehenden Gesetzen, sondern flexiblen, sich ändernden Regeln folgt. Die Polizei, bemerkt schon Montesquieu, »hat eher Verordnungen [règlements] als Gesetze […]: diese Dinge sind von verschiedener Ordnung«.76 Besonders Mercier entwickelt ein feines Gespür für diese neuartige Form des flexiblen, situativ verschiedenen Eingreifens, die es erfordert,

72 | Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de: De l’ésprit des lois. In: Ders.: Oeuvres complètes de Montesquieu. Tome troisième. Basel, 1799. S. 97: »Elle s’occupe perpétuellement de détails.« 73 | Le Maire: La Police de Paris en 1770. S. 7f. 74 | Limodin, C.L.: Ueber die Pariser Policey. In: Minerva, 1 (1797). S. 371379. S. 372. 75 | Mercier, Louis-Sébastien: Tableau de Paris. Tome sixième. Nouvelle édition, corrigée & augmentée. Amsterdam, 1783. [Im Folgenden: Mercier: Tableau VI]. S. 278. 76 | Montesquieu: Ésprit des lois. S. 97.

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»Maße und Gewichte zu ändern, ganz nach den Zeiten, den Orten, den Personen und den Umständen. Es gibt keine festen Regeln, man muss sie vor Ort [sur le champs] schaffen, und die sprunghaftesten Handlungen haben ihre eigene Weisheit und Vernunft. Eben dies ist es, was die Gesetzgeber im Großen und Ganzen nicht wahrnehmen: Der Praxis ist es vorbehalten, diese Nuancen zu bemerken; es bedarf einer ortsüblichen und sozusagen tagesaktuellen Politik, um […] zu entscheiden, was in Versailles ein grober Fehler wäre, ein simpler Leichtsinn in Paris, eine gleichgültige Angelegenheit in Lyon, und umgekehrt.«77

So ist das Wissen der Polizei ein in hohem Maße ortsspezifisches (und daher kaum übertragbares) Erfahrungswissen, dem schon »vier Meilen Entfernung« eine ganz andere »Färbung« geben können.78 Auch wenn es Polizei-Handbücher und -Traktate gibt, die »auf europäischer Ebene zirkulieren«,79 bleiben die polizeilichen Kenntnisse einem Lokalismus des Wissens verpflichtet, der durchaus den Eindruck erzeugen kann, dass »die Polizei sich nicht theoretisiert«.80 Am eindringlichsten aber wird die Vorstellung einer vollkommenen, einheitlich funktionierenden Maschine durch die »inneren Widersprüche« der Institution widerlegt. Mercier berichtet von Momenten, »in denen die Polizei unglaublich nachlässig wird«; es müssen sich erst »einige aufsehenerregende Vorfälle« ereignen, bis sie »ihre Kraft wiedergewinnt«.81 Dieses immer wieder zu bemerkende »Hinund Herschwanken der Pariser Polizey«82 wird verständlich, wenn man zugesteht, dass es sich bei der Polizei um keine »monolithische […] Institution«83 handelt, sondern dass darin vielmehr »verschiedene Polizei-Stile [styles de police] koexistieren«84 können. Jede polizeiliche Aktion stellt dann nur das Ergebnis einer vorübergehenden Machtkonstellation innerhalb des Apparats dar. 77 | Mercier: Tableau VI. S. 71f. 78 | Ebd., S. 72f. 79 | Milliot: Mais que font les historiens de la police. S. 14. 80 | Ebd., S. 32. 81 | Mercier: Tableau I. S. 128. 82 | Vgl. o.A.: Schneller Ministerwechsel. Hin- und Herschwanken der Pariser Polizey […]. In: London und Paris. S. 159f. 83 | Milliot: Mais que font les historiens de la police. S. 26. 84 | Ebd., S. 25.

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Die Polizei sieht alles Wenn Schiller die Polizei in den Mittelpunkt seines Paris-Gemäldes rückt, dann nicht nur aufgrund ihrer dramaturgischen Funktion (der Vereinheitlichung des Geschehens), sondern auch aufgrund ihres Erkenntnisprivilegs. Wie keine andere Institution kann sie in das »Getriebe der ungeheuren Stadt« eindringen und »alles mit Leichtigkeit übersehen«.85 »Ueber dem bunten Gewühl der mannigfaltigen Gestalten einer Pariser Welt«, sollte die Polizei, wie Körner bezeugt, »gleich einem Wesen höherer Art emporschweben, dessen Blick ein unermeßliches Feld überschaut und in die geheimsten Tiefen dringt, so wie für dessen Arm nichts unerreichbar ist«.86 Die Fiktion göttlicher Allsicht überträgt sich so auf die weltliche Instanz des Polizeiapparats, ebenso wie die damit verbundene mythische Angst: »Die Polizei«, so Schiller, »erscheint hier in ihrer Furchtbarkeit, selbst der Ring des Gyges scheint nicht vor ihrem alles durchdringenden Auge zu schützen. Ein Mörder wird so von ihr durch alle seine Schlupfwinkel aufgejagt, und fällt endlich in ihre Schlingen.« 87

Das natürliche Zentrum dieses panoptischen Mythos bildet die Figur des Polizeileutnants. Er ist der Ort, »an dem sich alles vereinigt, was die öffentliche Sicherheit angeht«;88 er ist der »point central«, von dem alle »Strahlen«, alle »Äste«, alle »Verzweigungen« des Polizeiwesens ihren Ausgang nehmen.89 So kann ein Pariser Polizeichef ohne Übertreibung von sich behaupten, er »kenne Paris so gut, wie man es nur kennen kann«.90 Mercier möchte zwar »nicht Polizeileutnant sein«: »Aber wenn ich nur die Hälfte von dem wissen könnte, was er weiß, die Hälfte von dem mitverfolgen könnte, was er sieht, mehre-

85 | Schiller: Die Polizei. S. 51. 86 | Körner: Vorerinnerung. S. 344. 87 | Schiller: Die Polizei. S. 515. 88 | Mercier: Tableau I. S. 123. 89 | Vgl. Mercier: Tableau VI. S. 69. 90 | Die Äußerung wird dem Polizeileutnant Berryer zugeschrieben. Zitiert nach Darnton, Robert: Poesie und Polizei. Öffentliche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M., 2002. S. 41.

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ren seiner Aktionen beiwohnen könnte: Wie viel weiter wäre ich doch fortgeschritten in der Kenntnis des menschlichen Herzens […]!«91 Schillers Zeichnung der Figur des Polizeileutnants orientiert sich an der Person des Marc-René d’Argenson, der das Amt 1697 von La Reynie übernahm und bis 1720 an der Spitze der Pariser Polizei stand. Dabei war Schiller die sehr freundliche Darstellung Fontenelles (Éloge de Monsieur d’Argenson, 1729) bekannt, aber auch der einschränkende Kommentar Merciers, der »die Strenge des M. d’Argenson« hervorhebt, sowie »seinen Hang zum Strafen, der eher ein Indiz der Schwäche als der Stärke darstellt«.92 Ebenfalls zur Verfügung stand ihm die Schilderung Argensons aus den Mémoires des Herzogs von Saint-Simon; diesen Text hat Schiller selbst herausgegeben. Hier ist nicht nur von der »furchtbaren Physiognomie« Argensons die Rede, »welche an die drey Richter des Todtenreichs erinnerte«,93 sondern auch von der »genauen Aufsicht«, unter der er die »ungeheure Menge der Einwohner von Paris« zu halten verstand. Angeblich gab es »keine Person von einiger Bedeutung […], von der er nicht täglich, wenn er wollte, Nachricht von ihrem Betragen und ihren Beschäftigungen erhielt«.94 In diesen panoptischen Mythos fügt sich die Anekdote, Argenson habe den (ihn protegierenden) Herzog von Orléans »mit einer solchen Aufmerksamkeit beobachtet, daß er ihm einmal zu Ende des Jahres das Journal seiner nächtlichen Ausschweifungen vorlegte, die der Herzog selbst wieder vergessen hatte«.95 Ein Polizeileutnant verfügt also, wie Mercier bemerkt, über einen außergewöhnlichen »geheimen Einfluss«: »Er weiß so viele Dinge, dass er viel Schlechtes oder viel Gutes bewirken kann; denn er hat in seinen Händen eine Vielzahl von Fäden, die er nach seinem Belieben 91 | Mercier, Louis-Sébastien: Tableau de Paris. Tome septième. Nouvelle édition, corrigée & augmentée. Amsterdam, 1783. [Im Folgenden: Mercier: Tableau VII]. S. 36-37. 92 | Mercier: Tableau VI. S. 287. 93 | Saint Simon, Louis de: Des Herzogs Ludwigs von St. Simon eigene Schilderungen merkwürdiger Personen seiner Zeit. Von Argenson. In: Schiller, Friedrich (Hg.): Allgemeine Sammlung Historischer Memoires […]. II. Abt. Bd. 26. Jena, 1803. S. 19-22. S. 19. 94 | Ebd., S. 19f. 95 | o.A.: Zusatz [zu der vorher abgedruckten Darstellung d’Argensons durch Louis de Saint Simon]. In: Schiller, Friedrich (Hg.): Allgemeine Sammlung Historischer Memoires. S. 22-25. S. 23.

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verwickeln oder entwirren kann […]; seine Machtausübung ist ebenso dezent wie weitreichend.«96 Insbesondere in Argenson hat sich diese schattenhafte Macht der Polizei emblematisch verdichtet.97 Schon sein Vorgänger La Reynie hatte damit begonnen, »auf systematische Weise von Spionen Gebrauch zu machen« und damit das »Prinzip der Information«98 in die Polizeiarbeit einzuführen. Die Kontrolle diente dabei vor allem der »Unterdrückung religiösen Dissenses«, das heißt der »Repression gegen Protestanten«.99 Eine kapillare Kontrolle des städtischen Raums wird jedoch erst unter Argenson verwirklicht. Einen wesentlichen Schritt zur »allgegenwärtigen und dauernden Überwachung«100 bildet das Edikt vom Februar 1708, durch das 40 Inspektoren eingesetzt werden, die den übergeordneten Kommissaren ständig Bericht über alle Vorkommnisse ihres Stadtviertels zu erstatten haben. Diese Beamten bilden jedoch nur die »offizielle Spitze des polizeilichen Eisbergs im Paris des 18. Jahrhunderts«.101 Sie zogen ein »kolossales Netz von Spitzeln [indicateurs]« mit sich, deren Zahl »für ganz Frankreich auf 10.000, und allein für Paris auf 3.000« geschätzt wird.102 Der Mythos vom allsichtigen Polizeileutnant findet hier seine technische Grundlage: Vermittelt durch ein Netz von tausend Augen konnte Argenson tatsächlich, wie Fontenelle in seiner Eloge schreibt, »être présent par-tout sans être vu«.103 Wenn man Argenson als »Architekten

96 | Mercier: Tableau I. S. 124. 97 | Obwohl er stets seinem Ministerium rechenschaftspflichtig blieb und wohl auch keinen direkten Zugang zum König hatte (vgl. Sälter: Polizei und soziale Ordnung. S. 132), wurde Argenson von seinen Zeitgenossen als »eine Art Minister« (o.A.: Zusatz. S. 24) wahrgenommen. Mercier bezeichnet den Polizeileutnant als einen »wichtigen Minister, auch wenn er nicht diesen Namen trägt« (Mercier: Tableau I. S. 124), und auch Schiller spricht vom »Polizeiminister« Argenson. 98 | Fijnaut, Cyrille: Les origines de l’appareil policier moderne en Europe de l’Ouest continentale. In: Déviance et société, 4/1 (1980), S. 19-41. S. 25. 99 | Sälter: Polizei und soziale Ordnung. S. 110. 100 | Napoli: Naissance. S. 56. 101 | Fijnaut: Les origines. S. 28. 102 | Ebd. 103 | Fontenelle: Éloge. S. 119.

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der Geheimpolizei«104 bezeichnen kann, so muss man hinzufügen, dass die von ihm eingerichteten »Formen der Informationssammlung und Überwachung«105 noch nicht auf eine »allgemeine Überwachung der Bevölkerung« zielten; sie richteten sich vorrangig »gegen die Familien der Oberschicht«,106 die der Verschwörung gegen die königliche Macht verdächtigt wurden. Für ein tatsächlich omnipräsentes Polizeisystem, das von den Zeitgenossen je nach Standpunkt als »perfekt« oder »despotisch« beschrieben wird, steht dagegen der Name Gabriel de Sartines (Amtszeit 1759-1774). »Berühmt unter allen Polizeileutnants« für »seine außerordentliche Geschicklichkeit im Aufspüren der Übeltäter«,107 besteht seine vorrangige Leistung im Ausbau des polizeilichen Spionagenetzes und der Verfeinerung der Registrierungstechniken. Zu den polizeilichen Aufgaben gehört nun auch die beständige Erforschung der Volksstimmung. Wie aus einem auf Sartines Weisung für die österreichische Kaiserin verfassten Memorandum hervorgeht, sollen die Polizeiinspektoren dem Magistrat »Bericht geben über die wahren oder falschen Gerüchte, über die Neuigkeiten, die sich verbreiten, und generell über alle Umstände, die Aufsehen erregen können; über die Reden und Absichten, die aufrührerisch und gefährlich sind oder es an dem Respekt gegenüber der Autorität der Regierung und den von ihr eingesetzten Personen fehlen lassen«;

zu diesem Zweck sollen sie »alle nötigen Nachforschungen anstellen, um deren Urheber zu erfahren, und sich bemühen zu entdecken, was bei den Privatpersonen vor sich geht, die – durch ihre Lebens- oder Verhaltensweise auffällig geworden – die Aufmerksamkeit des Magistrats auf sich ziehen könnten.«108

Es ist offensichtlich dieses sartinesche System, das Mercier im Auge hat, wenn er die »Zeit unter Louis XV.« erwähnt, in der »die Spione 104 | Fijnaut: Les origines. S. 25f. 105 | Sälter: Polizei und soziale Ordnung. S. 120. 106 | Ebd. 107 | Gazier, A.: Introduction. In: Le Maire: La Police de Paris en 1770. S. 1-6. S. 3. 108 | Le Maire: La Police de Paris en 1770. S. 61.

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sich so sehr vervielfältigt« hätten, dass kein Freund mehr dem anderen sein Herz ausschütten konnte.109 So lässt sich für das vorrevolutionäre Paris eine ganze Typologie des Spitzelwesens erstellen, deren Aufteilung zunächst der Topologie des gesellschaftlichen Raums gehorcht: »Es gibt Hofspione, Stadtspione, Bettspione, Spione der Straße, Spione der Freudenmädchen, Spione der Schöngeister: man nennt sie alle mouchards, nach dem Familiennamen des ersten Hofspions von Frankreich.«110

Doch gibt es auch funktionelle Differenzierungen. Für ihre »Entdeckungen und Aufschlüsse« bedienen sich die Inspektoren, wie das Memorandum des Kommissars Le Maire verrät, »verschiedener Sorten von Personen«: So gibt es diejenigen, die »Beobachter« heißen, und die dafür bezahlt werden, von den Unterhaltungen zu berichten, »die an den verschiedenen öffentlichen Orten stattfinden können, wo sich besonders die Literaten [nouvellistes] versammeln und wo sich die erhitzten Gemüter finden, die zu gewissen Zeiten die Führung der Regierung bekritteln«.111 Eine »andere Klasse von Beobachtern« wird basses-mouches genannt; für 3 Livres am Tag nehmen sie die Verfolgung von Personen auf, »deren Wege und Umgang zu kennen notwendig« ist; sie »dienen auch zu ihrer Festnahme«. Und schließlich gibt es noch »jene anderen«, die als Spione dienen, ohne es zu wissen, und die daher auch nicht bezahlt werden müssen. Es handelt sich dabei um »beschäftigungslose und wenig bemittelte Leute, Großsprecher von natürlicher Neugier, die es lieben, sich in alles hineinzumischen, die leicht Bekanntschaft mit aller Welt schließen, die Gelegenheit suchen und wahrnehmen, sich in die Häuser einzuführen, wo es einen guten Tisch und große Gesellschaft gibt.«112 Die Inspektoren laden sie zum Essen ein oder binden sie durch freundschaftliche Geschenke, ohne sie Verdacht über ihre Absicht schöpfen zu lassen: »Auf diese Weise gelingt es ihnen, eine Menge Dinge zu entdecken, von denen sie anders nur schwer erfahren würden.«113

109 | Mercier: Tableau I. S. 117f. 110 | Ebd., S. 117. 111 | Le Maire: La Police de Paris en 1770. S. 65. 112 | Ebd., S. 65f. 113 | Ebd., S. 66.

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Auf der Seite derer, die auf diese Weise ausgeforscht werden, stellt sich der polizeiliche Wissensdrang als eine permanente, kaum entrinnbare Gewalt dar. »Wenn der Pariser nicht die Lässigkeit besäße, die man ihm nachsagt«, schreibt Mercier, »würde er sie sich vernünftigerweise zulegen. Er bewegt sich umgeben von Spionen. Sobald zwei Bürger sich etwas ins Ohr sagen, taucht ein dritter auf, der sie umschleicht, um zu hören, was sie sagen.«114 Die Kritik der polizeilichen Vernunft, die Mercier noch mit der gebotenen Vorsicht vorbringt, verschärft sich während der Revolution, doch hindert die Verurteilung des alten Systems die Revolutionäre nicht daran, umgehend ihre eigenen Polizeiapparate und Sicherheitsdienste aufzubauen. »Die Zerstörung der Bastille«, schreibt Paolo Napoli, »befreit die Gefangenen und trifft das mit der Ausübung der Macht verbundene Imaginäre, aber man stellt nicht notwendig und radikal die technisch-instrumentelle Rationalität infrage, die die Polizei kennzeichnet.«115 So bleibt es den Libertins (de Sade: selbstverständlich ein Polizistenhasser) und den Gegenrevolutionären vorbehalten, sich zur hohen antipolizeilichen Rhetorik aufzuschwingen. »Ueberall, wohin die Freyheit, diese Tochter des Himmels, ihren Fuß setzte, um einen Augenblick zu wohnen, sehe ich ihr keine Polizey an die Seite stellen«,116 erklärt zur Zeit des Direktoriums ein gewisser Richer de Sérizy, der zunächst als Republikaner aufgetreten, im Gefängnis jedoch zum Royalisten konvertiert war.117 »Jeder Kurzsichtige, jeder Maulwurf muß in der Errichtung der Polizey die Gefahren der Tyranney sehen.«118

Schmutzige Erkenntnisse Wenn Schiller sich für die Polizei von Paris interessiert, so interessiert er sich für eine bestimmte Form der Erkenntnis. Seine Auszüge aus Merciers Tableau de Paris konzentrieren sich auf die epistemologischen Aspekte der Polizeiarbeit, also auf das, was Paolo Napoli die »Ra114 | Mercier: Tableau I. S. 109f. 115 | Napoli: Naissance. S. 17. 116 | Richer de Sérizy, J.T.E.: Ueber die französische Polizey. In: Minerva, 2 (1796). S. 155. 117 | Er wurde als Freund Dantons und Desmoulins’ von den Jakobinern inhaftiert. 118 | Sérizy: Französische Polizey. S. 159.

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tionalität der Nachforschung« genannt hat.119 So ist die Rede von den am Pont Neuf lauernden »Mouchards«, von den »unaufhörlich[en] Verkleidungen der Polizeispione«, von »taciturn[en] Gäste[n] in den Kaffeehäusern«, von den »Polizeispionen«, die »wieder durch andre beobachtet« werden, von dem »Signalement« eines Gesuchten, das »bis zum Unverkennbaren treffend«120 sei. Auch dem Gang der polizeilichen Spurensuche versucht Schiller zu folgen: »Die Polizei sucht die Spur eines Diebstahls oder andern Verbrechens. […] Zeit und Ort sind bestimmt, wo es geschehen. Werkzeuge. Man hält Nachsuchung an den Orten, wo das Gestohlne verkauft werden konnte. Man erkundigt sich da, wo das Gefundene gemacht worden sein konnte. Man untersucht, wer zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Ort erblickt wurde.«121

Tatsächlich scheint genau darin der Beginn des Kriminaldramas zu liegen: dass es nicht mehr um das Verbrechen geht, sondern um die Logik seiner Aufklärung. Insofern ist es erstaunlich, dass es erst so spät erfunden wurde. Denn offensichtlich hat das Verbrechen schon länger das Denken in besonderer Weise in Bewegung gesetzt, hat sich die Logik schon länger am Kriminalfall geschult. Wie John Graunt, Begründer der Politischen Arithmetik, 1662 bemerkt, muss nur irgendwo in England eine Leiche gefunden werden: »Kein Algebraiker oder Entzifferer von Briefen kann subtilere Hypothesen und Variationen von Vermutungen benutzen […] als jede gewöhnliche und gleichgültige Person es tut, um die Mörder ausfindig zu machen, und dies so lange, bis es geschehen ist.«122 Doch spielen, wie zugegeben werden muss, um 1800 die eigentlichen Investigationsverfahren in der Polizeiarbeit allenfalls eine untergeordnete Rolle. Colquhouns Traktakt über die Londoner Polizei enthält ein ganzes Kapitel Ueber die Mittel der Entdeckung, aber dort ist 119 | Napoli: Naissance. S. 12. Leider hat Napoli beschlossen, gerade diesen Aspekt der Polizeiarbeit in seiner Arbeit »ein wenig beiseite zu lassen« – zugunsten der Frage nach der Polizei als einer »Regierung der Menschen und Dinge« (ebd., S. 11f). 120 | Schiller: Die Polizei. S. 517. 121 | Ebd., S. 519. 122 | Graunt, John: Natural and Political Observations […] made upon the Bills of Mortality. London, (2. Aufl.) 1662. S. 20.

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weniger von kriminalistischen Methoden oder Schlussverfahren die Rede, als von den Belohnungen und Drohungen, durch die die Polizei Hinweise auf flüchtige Verbrecher erhalten kann.123 So verdankt sich die Wirksamkeit der Polizei (jedenfalls zur Zeit Schillers) nicht der Investigation, sondern der Denunziation. Colquhoun plädiert dafür, als wichtiges Mittel der Polizei einen beträchtlichen Fonds für Gegenleistungen anzulegen: Man dürfe nicht erwarten, »dass Männer, die in der Lage sind, nützliche Informationen zu geben, ein zweites Mal kommen, wenn ihnen keine angemessene Entlohnung für ihre Mühen, ihr Risiko und ihren Ärger gewährt wird«.124 Schon früh in der Geschichte der Polizei also stellt sich heraus, dass ihre Tätigkeit »nichts mit einer metaphysischen oder wissenschaftlichen Suche nach der Wahrheit zu tun hat«;125 dass die polizeilichen »Erkenntnisse« von nichts weiter entfernt sind als von der »reinen Erkenntnis« der Philosophen. Wenn sie eine Theorie der Erkenntnis enthalten, so ist es eher die ihrer prinzipiellen Unreinheit, der Kontamination des Erkennens durch das, was erkannt werden soll. Im Verhältnis von Polizist und Verbrecher ist, wie Deleuze schreibt, »die Durchdringung […] real, das Einverständnis tief und kompensatorisch. Wie du mir, so ich dir, Austausch von Gefälligkeiten, nicht minder häufiger Verrat auf beiden Seiten. Immer führt uns alles zur großen Dreieinigkeit der Macht des Falschen zurück: Denunziation-Korruption-Folter.«126 In den Verwicklungen des Pariser Spitzelwesens ist diese Durchdringung von Polizei und Verbrechen systematisch angelegt. Nach der Einschätzung des Kommissars Le Maire sind es »gewöhnlich die schlechten Subjekte, die dazu dienen, jene zu entdecken, die es in noch größerem Maße sind. Die Inspektoren binden jene an sich, die ihnen dienen wollen und von denen sich herausstellt, dass sie die meisten Beziehungen mit ihresgleichen haben.«127 Anstatt also ein reines Prinzip der Ordnung abzugeben, bildet die Polizei vielmehr eine Zone der Durchlässigkeit zwischen Ordnung und Verbrechen. 123 | Colquhoun: Ueber Londons Polizey. S. 218-248. 124 | Colquhoun: A Treatise. S. 510. 125 | Deleuze, Gilles: Philosophie der »Serie noire«. In: Ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974. Hg. von David Lapoujade. Frankfurt a.M., 2003. S. 120-126. S. 122. 126 | Ebd., S. 123. 127 | Le Maire: La Police de Paris en 1770. S. 66f.

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Und dies in beide Richtungen. Einerseits duldet die Polizei, wie Schiller sich notiert, »kleine Filoux und läßt unbedeutendere Diebstähle geschehen, um den größern auf die Spur zu kommen«128 – und beweist damit, dass sie nicht aus der »klassischen Tradition des Rechts«129 stammt, sondern einem Pragmatismus der Ordnung verpflichtet ist, der sich »vom Gesichtspunkt der juridischen Rationalität« als eine »gewisse Anomalie« darstellt.130 Andererseits ist die Polizei selbst vom Verbrechen infiltriert. Die »Bestechlichkeit der untern Bedienten«131 ist notorisch; aber auch die Polizei-Inspektoren handeln, wie Mercier andeutet, »nach ihren Launen und Eingebungen«,132 »ihre Berichte können fehlerhaft, übertrieben, von Leidenschaften bestimmt sein«,133 und »wer weiß, ob die Begehrlichkeit bei ihrem Vorgehen nicht ebenfalls eine Rolle spielt«.134 Selbst der Polizeichef befindet sich in beständigem Austausch mit dem Anderen der Ordnung. Argenson galt als »Feind […] der legalen Formen« und war dafür bekannt, sich über »Gesetz und Gewohnheit« hinwegzusetzen.135 Von ihm wird auch gesagt, er sei »an Sitten denen sehr ähnlich« gewesen, »welche ohne Unterlaß vor ihm erscheinen mußten;136 er habe es verstanden, sich »an die tiefsten und derbsten Denkweisen« anzupassen, und »jeden mit seiner Sprache« anzureden, »so fremd sie ihm auch war«.137 Tatsächlich verträgt es sich, wie Mercier bemerkt, kaum mit dem Beruf eines Polizeileutnants, »über irgendein Verbrechen verwundert« zu sein;138 zwangsläufig wird er »auch ein wenig Mühe haben, an die Rechtschaffenheit und Tugend 128 | Schiller: Die Polizei. S. 517. 129 | Napoli: Naissance. S. 10. 130 | Ebd., S. 9. 131 | Limodin: Pariser Polizey. Bd. 1. S. 372. 132 | Mercier, Louis-Sébastien: Tableau de Paris. Tome quatrième. Nouvelle édition, corrigée & augmentée. Amsterdam, 1783. [Im Folgenden: Mercier: Tableau IV]. S. 253. 133 | Mercier, Louis-Sébastien: Tableau de Paris. Tome deuxième. Nouvelle édition, corrigée & augmentée. Amsterdam, 1782. [Im Folgenden: Mercier: Tableau II]. S. 218. 134 | Mercier: Tableau IV. S. 253. 135 | O.A.: Zusatz. S. 23. 136 | Saint Simon: Argenson. S. 20. 137 | Fontenelle: Éloge. S. 120f. 138 | Mercier: Tableau I. S. 130.

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der ehrbaren Leute zu glauben«.139 So befindet er sich »in einem Zustand ständigen Misstrauens, und dieser Charakterzug ist ihm durchaus angemessen. Nach all den außergewöhnlichen Lektionen, die er von den Menschen und Ereignissen empfangen hat, darf er nichts für unmöglich halten, und seine Amt zwingt ihn zu einem tiefen, grundsätzlichen Zweifel.«140 »Der Mensch«, so fasst Schiller diese Anthropologie des Argwohns zusammen, »wird von dem Polizeichef immer als eine wilde Tiergattung angesehen und ebenso behandelt«.141 So scheint im Einflussbereich der Polizei alles von einer strukturellen Zweideutigkeit geschlagen zu sein. Gut und Böse verteilen sich hier nicht auf verschiedene Lager, sie sind vielmehr in jeder Polizeiaktion in kaum aufzulösender Vermengung enthalten. Denn die Polizei muss nicht nur »oft geheimnisvolle Wege nehmen und kann auch nicht immer die Formen beobachten«; sie muss auch »oft das Üble zulassen, ja begünstigen und zuweilen ausüben, um das Gute zu tun, oder das größre Übel zu entfernen«.142 Es ist offensichtlich diese Ambivalenz der Polizei, ihre prekäre Stellung an der Schwelle zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Gesetz und Verbrechen, zwischen der Stadt und ihrem Untergrund, die Schiller besonders fasziniert hat. Gerade die »Nachteile der Polizeiverfassung«,143 die Verstrickungen des ›Guten‹ mit dem ›Bösen‹, erweisen sich als eine neue, unvermutet ergiebige Quelle des Tragischen in der Moderne. Was heißt es nach all dem, die Stadt Paris ›mit den Augen der Polizei‹ zu betrachten? Zunächst präsentiert sich die Polizei als ein »Wesen höherer Art«,144 eine Instanz des quasi-göttlichen Überblicks, der die kleinsten Dinge des Lebens erfasst, ohne in irgendeiner Weise von diesen affiziert zu werden. Diese, wie man sagen könnte, transzendentalphilosophische Auffassung des polizeilichen Erkenntnisapparats gerät jedoch in Schwierigkeiten, wenn man sich – wie Schiller es tut – mit den tatsächlichen Ermittlungsmethoden der Polizei beschäftigt. Statt eine dem Empirischen enthobene, höhere Erkenntnisposition zu bieten, verweist die Polizei vielmehr auf 139 | Ebd., S. 131. 140 | Ebd., S. 130f. 141 | Schiller: Die Polizei. S. 514. 142 | Ebd., S. 513. 143 | Ebd., S. 516. 144 | Körner: Vorerinnerung. S. 344.

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die grundsätzliche Involviertheit des Beobachters in den Beobachtungsprozess. An nichts tritt dies so deutlich zutage wie an der Kaskade der Blicke, in der sich die polizeiliche Erkenntnis organisiert. Die Polizei sieht mit den Augen ihrer Spione. Diesem »ruchlosen und schändlichen Haufen«145 kann jedoch nicht vertraut werden, und so muss der Polizeileutnant die Spitzel selbst unter Beobachtung stellen, um diejenigen herauszufinden, die »falsche Berichte abgeliefert haben«.146 »Die Spione haben wieder andere Spione im Gepäck, die sie überwachen und nachsehen, ob sie ihre Pflicht tun. Alle beschuldigen sich wechselseitig und zerfleischen sich untereinander für den schäbigsten Lohn.«147 Man könnte denken, dass dieses misstrauische Flackern der Blicke, dieses nervöse Springen der Perspektiven in einer Beobachtung zweiter (beziehungsweise dritter) Ordnung wieder zur Ruhe kommen müsse. Doch auch der Polizeileutnant, der am ehesten infrage käme, eine solche überlegene Zusammenschau zu leisten, taugt nicht als letzte Instanz, die die Relativität der polizeilichen Wahrnehmungen aufheben könnte. Sein Blick ist nur ein Blick unter anderen, der wieder von einem anderen Ort ins Visier genommen werden kann – und tatsächlich trösten sich die Pariser mit der Vorstellung, dass auch der Polizeileutnant, der »nach seinem Belieben die anderen Bürger ausspionieren lässt«, selbst wiederum der Beobachtung unterliegt.148 Was Schillers Polizey-Fragment angeht, so zeigt es sich bis zuletzt in zweideutiger Gestalt – wie die Polizei selbst. Einerseits scheint es (darin dem deutschen »policey-wissenschaftlichen« Denken nahestehend) eine Ästhetik des schönen Staates zu propagieren; andererseits zeugt der interessierte und misstrauische Blick auf die französische Polizei-Realität von einem anderen, kritischen Interesse, das, wie gezeigt werden sollte, vor allem ein erkenntniskritisches Interesse ist. Wozu und zu welchem Ende sollte man die Polizei studieren? Vielleicht um daraus die Einsicht zu gewinnen, dass jede Erkenntnis, auch und gerade wenn sie sich als die eines »höheren Wesens« präsentiert, immer schon korrumpiert, intrigiert, von einem Anderen besetzt ist. Es scheint, als habe Schiller diese 145 | Mercier: Tableau I. S. 127. 146 | Ebd., S. 127. 147 | Ebd., S. 116. 148 | Mercier: Tableau VI. S. 280.

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grundsätzliche Involviertheit des Erkennens im Auge gehabt, als er erklärte: »Die Offizianten und selbst der Chef der Polizei müssen zum Teil auch als Privatpersonen und als Menschen in die Handlung verwickelt sein.«149

149 | Schiller: Die Polizei. S. 512.

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Der große Straßenraub Dokumente eines Verbrechens in Paris Joke de Wolf

Aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese Die Aufnahme irritiert: Der Boulevard du Temple scheint menschenleer, doch wir wissen, dass diese breiten Straßen die belebtesten Orte im Paris des 19. Jahrhunderts waren. 1839 sandte Daguerre seine Photographie dem bayrischen König Ludwig I. Zusammen mit zwei weiteren Exemplaren war die Platte »mit allen Abzügen« der Beweis für den Erfolg der Erfindung, die der französische Staat im gleichen Jahr erworben hatte.1 Dass der Boulevard ausgestorben zu sein scheint, ist der langen Belichtungszeit geschuldet: In den 15 Minuten, die vergehen mussten, um die Aufnahme zu belichten, hatten nur der Schuhputzer und sein Kunde mehr oder weniger an der gleichen Stelle verharrt. Die lichtempfindliche Emulsion auf der Metallplatte konnte keine bewegten Objekte fixieren. Wer nicht innehielt, verschwand. Irritierend wirkt auch Daguerres Motivwahl: Die Aufnahme zeigt weder ein bedeutendes Gebäude oder ein besonderes Ereignis noch einen prominenten Zeitgenossen auf dem Boulevard. Der Grund liegt auf der Hand: Es war der Blick aus dem Atelier des Photogra1 | Pinson, Stephen: Daguerre, expérimentateur du visuel. In: Études photographiques (13.7.2003). Online publiziert am 11.9.2008: http:// etudesphotographiques.revues.org/-index345.html [5.5.2010]; vgl. Rice, Shelley: Parisian views. Cambridge, 1997. S. 3. Weitere Abzüge, meist mit klassischen Skulpturen als Motiv, wurden zum gleichen Zweck nach Russland und Preußen geschickt.

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J OKE DE W OLF

phen, wo er in Reichweite seines Materials und ungestört von neugierigen Passanten arbeiten konnte. Aus heutiger Sicht erscheint die Photographie ebenso vage wie geheimnisvoll. Der Betrachter hat den Eindruck, dass er auf etwas hingewiesen wird, das er nicht sehen kann, dass das Bild einen Zweck verfolgt, der ihm verborgen bleibt. Bevor Haussmann sie abreißen und im wohlhabenden Westen der Stadt neu aufbauen ließ, befanden sich am Boulevard du Temple zahlreiche Bühnen. Aufgrund der vielen Kriminalstücke, die der Flaneur dort sehen konnte, nannten die Pariser ihn Boulevard du Crime.

L. J. M. Daguerre: Le Boulevard du Temple, à huit heures du matin, Daguerrotypie, 13 x 16 cm, 1839 In zwei seiner berühmtesten Texte konstruiert Walter Benjamin einen Zusammenhang zwischen den Straßenbildern des Pariser Photographen Eugène Atget und dem Verbrechen. Der 1927 verstorbene Atget hinterließ den Archiven der Stadt und anderen Photographen Tausende sogenannter documents pour artistes, die er seit der Jahrhundertwende aufgenommen hatte. Während sein Werk Gegenstand zahlreicher Analysen und Kommentare ist, blieben die scheinbar leeren, vor seiner Zeit entstandenen Straßenbilder – häufig im Auftrag von Institutionen und Ämtern für Kataster, Atlanten und wissenschaft-

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liche Zwecke gefertigte Aufnahmen – weitgehend unerforscht.2 Die Wertschätzung und Bewunderung, die man heute ihrer außergewöhnlichen Ästhetik entgegenbringt, reflektieren die exorbitanten Preise, die bei Auktionen für diese Art Bilder gezahlt werden ebenso wie die große Zahl von Ausstellungen ›schöner‹ Photographie aus dem 19. Jahrhundert. Diese Photographien sind nicht so unschuldig, wie sie scheinen. Ausgehend von Benjamins Bemerkungen zum Verbrechen in den Straßenbildern stellt sich die Frage, wessen sich die Photographie des 19. Jahrhunderts eigentlich ›schuldig‹ gemacht hat. Dabei geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit Benjamins Reflexionen zu Atgets Werk an sich oder gar um eine Neuinterpretation seiner Medienphilosophie, sondern um den Versuch, die menschenleeren Straßenbilder des 19. Jahrhunderts besser zu verstehen. Auf welches Verbrechen referiert Benjamin in seinen Texten? Was implizieren die Aufnahmen? Was bedeutet sein Blick auf den Tatort für unser Verständnis von früher Straßenphotographie? Schließlich soll ein Musterfall vorgeführt werden. Betrachten wir zunächst Benjamins ausführlichen Verweis auf Atget in seiner 1931 veröffentlichten Kleinen Geschichte der Photographie, um uns dann einer Erklärung für die Erörterung seiner photographischen Arbeit im Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu nähern. Wie der Titel bereits andeutet, gibt sich die Kleine Geschichte mitnichten als vollständiger historischer Abriss. Erstmals 1931 in Die literarische Welt publiziert, kann der Text trotz längerer analytischer Folgerungen als umfängliche Rezension der aktuellen Literatur zur Photographie in Deutschland gelesen werden. 1930 war eine deutsche Ausgabe mit Reproduktionen von Atgets Bildern erschienen, deren Vorwort der Schriftsteller und Kritiker Camille Recht verfasst hatte. In seiner Einleitung beschreibt Recht die Photographien als Tatortaufnahmen und übernimmt damit die Formulierung seines französischen Kollegen Pierre Mac Orlan in der im gleichen Jahr publizierten amerikanischen Ausgabe des Buches.3 2 | Ausnahmen sind der Artikel von Steven Jacobs (Visualising the city – Amor Vacui. In: History of photography: an international quarterly, 2 (2006). S. 107-118), in dem sich eine kurze Zusammenfassung einer Serie ›leerer Straßenaufnahmen‹ findet, sowie Rice: Parisian views. 3 | Für eine genaue Erläuterung zum Ursprung der Idee des Verbrechens und Atgets Photographie sowie zur Verbindung zwischen Atget und den Sur-

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Atget photographierte nicht nur die Straßen aus der Zeit vor Haussmann, sondern produzierte auch eine Serie mehr oder weniger fiktiver Pariser Interieurs. Recht und andere Autoren vor ihm assoziierten diese scheinbar verlassenen Zimmer, Betten und Tische mit der Idee des Tatorts.4 Seit den frühen 1870er Jahren arbeitete die Polizei mit photographischen Dokumentationen von Tatorten, Opfern und Tätern. Es war also nicht Benjamin, der den Begriff des Verbrechens ins Spiel brachte oder gar suggerierte.5 Gleichzeitig war sein Verweis auf den ›Tatort‹ mehr als die bloße Wiederholung der Worte anderer Kritiker. Mit dem Rückgriff auf den Tatort rückt Benjamin die Leere ins Zentrum seiner These zur technischen Reproduzierbarkeit. Nach einer Analyse der Porträtphotographie des 19. Jahrhunderts führt er im ersten Teil des Textes Atgets Bilder als Vorläufer der surrealistischen Photographie ein. Atget ist der erste Photograph, der »die stickige Atmosphäre, die die konventionelle Porträtphotographie der Verfallsepoche verbreitet hat«,6 bereinigt. Im Gegensatz zu den wenig überraschenden, bewusst vom Photographen oder seinem Subjekt mit ausgewählten künstlichen Accessoires überladenen Porträts der Bourgeoisie steht Atget, so Benjamin, für die Befreiung des Objekts von seiner Aura. Seine Straßenansichten sind menschenleer und öde, die Stadt ist verlassen. Atget macht »das Verschollene und

realisten vgl. Le Gall, Guillaume: L’Invention d’un photographe. Visions surréalistes. In: Ders./Aubenas, Sylvie: Atget, une rétrospective. Paris, 2007. S. 95-103; ders.: Visions surréalistes: spectrus et lieux du crime. http://expositions.bnf.fr/atget/arret/33.htm [8.11.2010]; MacFarlane, Dana: Photography at the Threshold: Atget, Benjamin and Surrealism. In: History of Photography, 34/1 (2010). S. 17-28. 4 | Vgl. Le Gall: L’Invention d’un photographe. S. 99; MacFarlane: Photography at the Threshold. S. 18f. 5 | Im Kunstwerk verweist Benjamin sogar recht deutlich auf den Autor der Einführung: »Sehr mit Recht hat man von ihm gesagt, daß er sie [die Pariser Straßen, J.W.] aufnahm wie einen Tatort. Auch der Tatort ist menschenleer.« Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Frankfurt a.M., 1991. S. 445. 6 | Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Photographie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1. Frankfurt a.M., 1991. S. 378.

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Verschlagene«7 sichtbar. Dank der neuen Reproduktionstechnik kann die moderne Gesellschaft die Objekte ihrer Begierde tatsächlich in Besitz nehmen, doch geht durch die vereinfachte Reproduzierbarkeit deren Singularität, das Einzigartige in ihnen, verloren. Genau das vermitteln die Photographien Atgets laut Benjamin. Anders als der Porträtphotograph bestimmt nicht Atget, was im Bild erscheint, nicht er wählt die Accessoires. Vielmehr überlässt er das Bild dem Zufall: Er bewegt sich durchaus entlang bekannter Monumente und spektakulärer Ansichten,8 doch er ignoriert das Offensichtliche. An späterer Stelle thematisiert Benjamin wiederum den technologischen Fortschritt: »Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, flüchtige und geheime Bilder festzuhalten, deren Chock im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt.«9 Diese assoziativen Mechanismen bilden die Essenz der benjaminschen Argumentation, die Baudelaires Ausführungen zu Photographie, Kunst und Fantasie fortschreibt und die Verwendung der Photographien Atgets durch die Surrealisten in jener Zeit kommentiert. Benjamin wendet sich zugleich gegen die Ästhetik des damals populären Renger-PatzschTitels Die Welt ist schön mit seinen – so der Anspruch – Aufnahmen von universeller Schönheit.10 Die Schockwirkung zeitgenössischer Pressephotographie wiederum stumpft den Betrachter ab, lässt ihn die Suche nach dem Unerwarteten im Bild vergessen, hindert ihn, offen für neue Ideen zu bleiben. Benjamin warnt vor dem Tunnelblick. »An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift, und ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleibt.«11

7 | Ebd. 8 | »Atget ist ›an den großen Sichten und an den sogenannten Wahrzeichen‹ fast immer vorübergegangen; […]« Ebd., S. 379. 9 | Ebd., S. 385. 10 | »Das Schöpferische am Photographieren ist dessen Überantwortung an die Mode. ›Die Welt ist schön‹ – genau das ist ihre Devise.« (Ebd., S. 383) Dies ist der Verweis auf das 1928 erschienene Buch Die Welt ist schön von einem der wichtigsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Albert Renger-Patzsch. Es handelt sich um eine Sammlung von 100 Photographien, die das Lob des gewöhnlichen Lebens singen. 11 | Ebd., S. 385.

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Eugène Atget: Coin rue de Seine, Silbergelatineabzug, 17,8 x 22,6 cm, 1924 Dagegen kann die Photographie, mehr als jede andere Visualisierungstechnik, das Unerwartete und damit das Kreative erfassen – zumindest, wenn das Auge des Betrachters ›politisch geschult‹ ist. Benjamins Hauptargument in seinem Plädoyer für den Tatort lautet entsprechend: »Nicht umsonst hat man Aufnahmen von Atget mit denen eines Tatorts verglichen. Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort? nicht jeder ihrer Passanten ein Täter? Hat nicht der Photograph – Nachfahr der Augurn und der Haruspexe – die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen?«12

Allerdings wählt er eine andere Perspektive: Der Photograph offenbart den Tatort, doch es sind die Plätze und Ecken der Stadt, die verbergen, was wirklich geschieht. Jeder Ort, jeder Raum ist mit Argwohn zu betrachten. Der Photograph verweist in seinen Bildern auf 12 | Ebd.

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diese Dimensionen des urbanen Alltags, macht den Betrachter auf sein alltägliches Umfeld aufmerksam und lässt ihn die politischen und vielleicht auch kriminellen Mechanismen wahrnehmen, die hier wirken. In den zahlreichen Analysen der Kleinen Geschichte blieb ein Aspekt jedoch unbeachtet, der für unser Verständnis des benjaminschen Konzepts des Verbrechens im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit elementar ist. Benjamin verfasste seinen komplexen Text vier Jahre nach Siegfried Kracauers Aufsatz über die Photographie, als allgemeine Abhandlung für das Monatsmagazin Die literarische Welt. Er bespricht in diesem Zusammenhang vier zwischen 1928 und 1931 in Deutschland erschienene Werke zur Photographie, die durch die neuen Methoden der Wiedergabe und Vervielfältigung in jener Zeit einen drastischen Wandel durchmacht. Zwar hatten Kritiker und Freunde der Bildkunst bereits seit den 1830er Jahren über unterschiedliche Aspekte des Mediums geschrieben, doch wurde der Abdruck von Photographien in großer Auflage erst durch die innovative Reprotechnik möglich. Dank der technischen Realisierung von Abbildungen in ausreichender Qualität und zu akzeptablen Kosten konnten Bücher wie Die Welt ist schön in großer Stückzahl produziert werden. So ist, wenn Frankreich behauptet, die Photographie sei 1839 erfunden worden, Benjamins 1930 formulierte Warnung vor blindem Vertrauen in das photographische Bild und die Erinnerung an ihre Geschichte eine unmittelbare Konsequenz ihrer finalen Transformation zum wirkmächtigen Massenmedium. In seinem wesentlich politischeren Kunstwerk-Essay bezieht sich Benjamin auf Atget als zentrale Figur im Moment des Übergangs zur Moderne. Er sieht ihn als den Photographen der Tatorte: »Seine Aufnahme geschieht der Indizien wegen.«13 Dabei geht es nicht um Indizien, die den Mörder überführen sollen, sondern um Evidenz in einem weit über das Verbrechen hinausgehenden dialektischen Prozess. »Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus. Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muß er einen bestimmten Weg 13 | Benjamin: Das Kunstwerk. S. 445.

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suchen. Wegweiser beginnen ihm gleichzeitig die illustrierten Zeitungen aufzustellen. Richtige oder falsche – gleichviel. In ihnen ist die Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden.«14

Die Bildunterschriften der Photographien verorten sich jedoch auf einem anderen Niveau als erläuternde Tafeln unter einem Gemälde. Denn Photographien lassen sich in großen Mengen reproduzieren, und weisen daher ein wesentlich stärkeres Potenzial auf als das gemalte Bild. Photographien dürfen weder in »freischwebender Kontemplation« betrachtet noch schlicht aufgrund ihrer Ästhetik bewundert werden. Die Beschriftung muss ihre Bedeutung hinterfragen, zur Reflexion anregen oder die Abbildung kontrastieren, damit dem Betrachter das Einzigartige in der Welt der photographischen Bilder bewusst bleibt und er zugleich die implizierte Möglichkeit des Verbrechens wahrnimmt. Benjamin betont weiterhin, dass das Verbrechen nicht nur in der Photographie präsent ist, sondern dass es eine ›Verschwörung‹ von Bild und Beschriftung gibt. Im 19. Jahrhundert enthält diese zunächst die Angaben über die Institution, die das Bild in Auftrag gab und in deren Besitz es sich befindet. Rosalind Krauss erinnert daran, dass die Bildunterschriften, oder, um es im Sinne Foucaults zu formulieren, die herrschenden Mächte, für das Verständnis der Bilder unerlässlich sind.15 Die Institution, die topographische Bilder bestellt und archiviert, eignet sich die auf den Photographien gezeigten Räume an, vergleichbar dem Verleger, der die Bilder mehrere Jahrzehnte später in Illustrierten publiziert. Benjamin erwähnt im Passagen-Werk mehrfach, dass die Straßenbilder aus dem Paris Haussmanns weit mehr dokumentieren als ein urbanes Wegenetz: Sie zeigen die totale politische Kontrolle über die Stadt, den öffentlichen Raum und ihre Bewohner. Der Blick auf die Vergangenheit, wie sie wirklich aussah, ist uns verwehrt. Doch in Über den Begriff der Geschichte erläutert Benjamin, wo und wie wir nach den Verbrechen ausschauen müssen, die Atget sichtbar werden lässt. »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner

14 | Ebd. 15 | Krauss, Rosalind: Photography’s Discursive Spaces: Landscape/View. In: Art Journal, 42/4 (1982). S. 311-319.

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Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.«16 Der Historiker als Detektiv und Lumpensammler muss das Bild infrage stellen, es mit seinem zufälligen Inhalt konfrontieren und erkennen, was aus ihm hervorblitzt. Und da es laut Benjamin kein Dokument der Zivilisation gibt, das nicht zugleich Dokument der Barbarei ist, entdecken wir Zeugnisse für diese Verbrechen überall in einer Geschichte, die immer wieder neu geschrieben werden kann.

Die Ansicht des Boulevards – ein Musterfall Das erste Buch zur Photographie war zugleich eine der ersten photographisch illustrierten Publikationen: 1844 erschien The pencil of nature von William Henry Fox Talbot. Der Engländer war der Erfinder der Kalotypie, einer von Daguerres Monoprint auf Metallplatte abweichenden Phototechnik. Nach einer Einführung in die Entwicklung seiner neuen Methode und der Aufnahme einer englischen Kirche enthält es, als zweites Bild in einer Serie von 25 Photoplatten, die Ansicht einer leeren Straße, beschriftet mit dem Titel View of the Boulevards at Paris. Talbot, der Verlierer im franko-britischen Wettlauf um die Erfindung der Photographie, stellt sich durch die Wahl einer an Daguerres Perspektive erinnernden Straßenansicht dem unmittelbaren Vergleich mit dem französischen Rivalen.17 Der größte Unterschied ergibt sich dabei durch die Arbeitsweise der beiden Photographen: Talbot kann seine Photographie im Medium Buch reproduzieren und sie so öffentlich kommentieren, während Daguerres Platten quasi unsichtbar bleiben. Mit der exakten Erläuterung seiner Aufnahme bietet uns Talbot überdies eine der wenigen veröffentlichten Beschreibungen einer photographischen Straßenansicht im 19. Jahrhundert. Bernd Stiegler bezeichnet sie in ihrer Detailgenauigkeit als »bei der ersten Lektüre in seiner Ausführlichkeit irritierende[n] Text«.18 Talbot gibt wie16 | Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Frankfurt a.M., 1991. S. 695. 17 | Vgl. auch Schaaf, Larry: H. Fox Talbot’s The Pencil of Nature. Anniversary Facsimile. Introductory Volume. New York, 1989. S. 46f. 18 | Stiegler, Bernd: William Henry Fox Talbot. Der Zeichenschrift der Natur. Bestimmungen eines neuen Mediums. In: Grivel, Charles et al. (Hg.): Die Eroberung der Bilder. Photographie in Buch und Presse (1816-1914). München, 2003. S. 26-39. S. 35.

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der, was die Photographie selbst zeigt, und erklärt einige besondere Eigenschaften der Kamera. Die sich überlagernden Perspektiven konfrontieren den Photographen dabei mit einem neuen Problem: Während die Kritiker des Salons oder anderer Ausstellungen traditionell selbst da, wo es Gravuren gab, umfänglich und detailliert beschreiben mussten, was sie gesehen hatten, bot sich von nun an auch dem Leser freie Sicht auf die Exponate.19 Bei der Betrachtung des Bildes heute fällt vor allem auf, dass es so wenig außergewöhnlich ist; die Häuser und Kamine auf der rechten Bildseite sind jedem, der die Silhouette von Paris kennt, vertraut. Spannend ist dagegen die Tatsache, dass wir wissen, dass die Aufnahme vor 170 Jahren entstand. Wir sehen, um mit Barthes zu sprechen, die Straße so, wie Balzac und Baudelaire sie einst sahen. Es sind die Bildunterschrift, das Datum und der Kontext, die unseren Blick auf die Details lenken und uns insgeheim fragen lassen, wie der Leser des 19. Jahrhunderts wohl auf diese Ansicht reagiert haben mag. Wir verlieren uns nicht in »freischwebender Kontemplation«, sondern suchen nach »Beweisstücken« und sind uns der Möglichkeit des Verbrechens bewusst. 19 | »This view was taken from one of the upper windows of the Hotel de Douvres, situated at the corner of the Rue de la Paix. The spectator is looking to the North-east. The time is the afternoon. The sun is just quitting the range of buildings adorned with columns: its façade is already in the shade, but a single shutter standing open projects enough forwards to catch a gleam of sunshine. The weather is hot and dusty, and they have just been watering the road, which has produced two broad bands of shade upon it, which unite in the foreground, because, the road being partially under repair (as is seen from the two wheelbarrows &c.&c.), the watering machines have been compelled to cross to the other side. By the roadside a row of cittadines and cabriolets are waiting, and a single carriage stands in the distance a long way to the right. A whole forest of chimneys borders the horizon: for, the instrument chronicles whatever it sees, and certainly would delineate a chimney-pot or a chimney-sweeper with the same impartiality as it would the Apollo of Belvedere. The view is taken from a considerable height, as appears easily by observing the house on the right hand; the eye being necessarily on a level with that part of the building on which the horizontal lines or courses of stone appear parallel to the margin of the picture.« Talbot, William Fox Henry: The Pencil of nature. London, ca. 1844. o.P. (Plate II).

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Talbot bemerkt zu Beginn seiner Beschreibung, dass die Photographie den Ausblick aus dem Hotel de Douvres darstellt. Wie wir aus seinem im Mai 1843 anlässlich eines Aufenthalts in Paris geschriebenen Brief an die Mutter erfahren, hatte er diese Unterkunft nicht nur wegen des englisch klingenden Namens gewählt: »It is the corner house with the Boulevards – I chose it on account of the view.«20 Auch ein Reiseführer aus dem Jahr 1831 lobt die schöne Aussicht auf die Boulevards.21 Talbot verzichtet allerdings darauf, Straßennamen zu nennen. Detailangaben macht er nur zur eigenen Perspektive: Der Blick richtet sich gen Nordosten auf eine Ecke, an der tatsächlich »jeder Fleck unserer Städte ein Tatort«22 ist. Genau an dieser Stelle entsteht zwischen 1860 und 1874 Charles Garniers neue Pariser Oper, die Haussmann als Zentrum seiner neuen bourgeoisen Stadt sah. Die Avenue, die das Opernhaus mit der Comédie Française verbinden würde, sollte den bedeutendsten Namen tragen, auf den man im Second Empire verfallen konnte: Avenue de l’Empereur. Ihrem Bau müssen die mittelalterlichen Wohnhäuser vor Ort weichen; die überwiegend arme Bevölkerung wird an den Stadtrand vertrieben, und damit in die Unsichtbarkeit gedrängt. Die Avenue de l’Empereur wird jedoch nie eingeweiht. Bereits 1870 folgt Napoleon III. seinem treusten Diener und tritt von der Bühne ab. 1873 ist ein verheerender Brand der alten Oper dann Anlass, den Palast zu vollenden, dessen Rohbau während des Französisch-Preußischen Krieges als Munitionsdepot gedient hatte. Erst 1877, am Vorabend der für 1878 geplanten Weltausstellung in Paris, ist auch die Avenue de l’Opéra fertiggestellt. Der Blick auf die Boulevards ist also tatsächlich ein Blick auf den Tatort, wenngleich die meisten uns bekannten Verbrechen dort begangen wurden, nachdem der Photograph bereits gegangen war.

20 | Brief vom 22. Mai 1843 von William Henry Fox Talbot an Elisabeth Theresa Fielding. British Library. Fox Talbot Collection. Dokument Nr. 4825. www.foxtalbot.dmu.ac.uk/letters [4.5.2010]. 21 | In der 1831 erschienenen Ausgabe des englischen Reiseführers A new picture of Paris. The stranger’s guide to the French metropolis, nennt Edward Planta den Ort in seiner Liste von »hotels where the traveller will find good accomodation«: »Hotel de Douvres, Rue de la Paix. This house commands a good view of the boulevards.« (Planta, Edward: A new picture of Paris. The stranger’s guide to the French metropolis. London, 1831. S. 88). 22 | Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. S. 385.

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Irritierend, um noch einmal auf die eingangs geschilderte Anmutung zurückzukommen, ist schließlich auch das Leben an den Boulevards, welche die Photographie zeigt. Der Plural ist hier kein Zufall, denn wir sehen den Boulevard des Capucines und den Boulevard des Italiens. Ann Mac-Cauley weist nach, dass wir es ab den späten 1850er Jahren, als die langsame Kalotypie und die teure Daguerreotypie durch die wesentlich einfachere und billigere Kollodiumtechnik abgelöst werden, mit einer ausgewachsenen Photobranche zu tun haben, deren Zentrum sich am Boulevard des Capucines befand.23 An diesem Ende der Straße ließen sich Großunternehmer wie Nadar und Disdéri, Mayer & Pierson und Petit mit ihren Ateliers nieder. Mit Blick auf das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und Benjamins Verweis auf die Notwendigkeit der Beschriftung, sollten wir daher eine Hinweistafel am Boulevard des Capucines Nummer 14 beachten, auf der zu lesen ist, dass die Brüder Lumière an dieser Stelle am 28. Dezember 1895 das erste Kino eröffneten.24 Wenngleich die Kinematographie bereits im März des gleichen Jahres der Welt in Lyon erstmals vorgestellt wurde, bleibt dies doch der Ort der ersten kommerziellen Nutzung des Films – des Mediums, das Geschichten in Zwischentiteln und damit in Bildunterschriften erzählt. Dass Talbot dies, natürlich, nicht bekannt war, spielt für unser Verständnis von den Photographien keine Rolle, denn die ›Anklage‹ steht unwiderlegbar im Raum. Wenden wir uns daher abschließend auf der Suche nach weiteren Indizien noch einmal dem Photographen zu. Talbot reiste nicht nur nach Paris, um einen guten Blick auf die Boulevards zu haben. Im Frühjahr 1843 hält er sich drei Wochen lang in der französischen Hauptstadt auf, um Geld für seine Erfindung aufzubringen. Er hofft, die Politiker in Frankreich davon überzeugen zu können, dass seine »photogene Zeichnung«, eine Kopiertechnik, mittels derer unbegrenzte Mengen von Negativen auf Papier produziert werden kön23 | McCauley, Anne Elisabeth: Industrial madness. Commercial photography in Paris. 1848-1871. New Haven/London, 1994. 24 | »Ici, le 28 décembre 1895, eurent lieu les premières projections publiques de photographies animées à l’aide du cinématographe – invention des Frères Lumière«. 1926 angebrachte Tafel an der Wand des Gebäudes am Boulevard des Capucines, 14. Gauthier, Cristophe: La passion du cinéma: cinéphiles, cinéclubs et salles spécialisées à Paris, de 1920 à 1929. Paris, 1999. S. 214.

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nen, wesentlich effizienter ist als die nur als Unikate existierenden daguerreotypischen Positive. Doch der Engländer stößt auf taube Ohren. Zurück in der Heimat publiziert er The pencil of nature: Neben Bildern von Büchern, Skulpturen und Gartenszenen übernimmt er für das Werk ausdrücklich zwei in Frankreich entstandene Aufnahmen: die Brücke von Orléans und die Boulevards. Mit den Illustrationstexten zu diesen Photographien will Talbot der Welt den Beweis für die Überlegenheit seiner Erfindung liefern. Der Blick auf die Photographie allein erschließt nicht notwendigerweise die Geschichte, die oft im Nebel der Vergangenheit verborgen bleibt. Gleichzeitig gilt es, auch die Beschreibung in der Bildunterschrift mit Vorsicht zu betrachten. Denn Gefahr droht aus jeder Richtung – insbesondere, wenn man eine leere Straße überquert.

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Tatorte Thomas Bachler

In den Tatorte-Photographien von Thomas Bachler zeichnet sich die Spur der Tat selbst in das Medium seiner Dokumentation ein. Die Tat macht das Bild eines Ortes zum Tatort und das Bild zum Dokument der Tat. Pistolenschüsse auf eine geschlossene Schachtel haben die Photographien ausgelöst. Sie hinterließen ein Einschussloch, das sich in die Lochblende einer Camera Obscura verwandelte. Auf 18 x 24 cm großem Photopapier hat sich bei einer Belichtungszeit von einer halben bis vier Minuten ein Bild eingeschrieben, das von eben jener Kugel durchschossen ist, die es verursacht hat. Das Bild ist zum Tatort geworden, der Tatort zum Bild.

Sportplatz

Schulhof

Treppe

Bahngleise

Parkplatz

Fußgängerbrücke

Wartehäuschen

Toilettenhaus

B LOOD S IMPLE Reste der Photographie und Spuren des Films Helga Lutz/Dietmar Schmidt

Was geschieht mit jemandem, der einen Mord begangen hat? Er verliert den Überblick, gerät außer sich. In zahllosen Filmen ist dies zu sehen: wie der Rhythmus des Geschehens sich plötzlich verändert und die Handlung in ein anderes Verhältnis zur Narration gerät. Für eine Zeit scheint sich die Handlung vom Erzählen zu entfernen, weil sie im Zeichen der Panik zur Raserei gesteigert wird, die die weiteren Geschehnisse aufschiebt. Man sieht den Täter – nach seiner Tat – eilig handeln; aber die Ereignisse überstürzen sich nicht, sie stehen still. Der Täter will sich davonmachen und am Tatort nichts hinterlassen, was ihn verraten könnte: keine Spuren, und nicht einmal die Leiche; doch während er sich unsichtbar zu machen versucht, können wir ihn dabei die ganze Zeit sehen. Sein Wunsch nach restlosem Verschwinden steht im Spannungsverhältnis zu seiner fortwährenden Sichtbarkeit, sodass sich ein traumartiges Ineinander von Bewegungsdrang und Verharren, von Verschwinden und Sichtbarkeit ergibt. »I’ve […] got the fever«, »I’m going blood-simple«:1 Dies sind die Worte des Ich-Erzählers und Protagonisten aus Dashiell Hammetts Roman Red Harvest (1929), mit denen sich für einen Moment sowohl ein Rückzug aus den Ereignissen als auch ein Abbruch des Erzählens ankündigt. Der Detektiv verliert das Bewusstsein und verfällt wirren Träumen. Bei Hammett vergeht dieser Moment, der Roman geht darüber hinweg; der hard-boiled detective wacht wieder auf und verfolgt unbeirrt seinen Plan, und der Erzähler fährt fort. Was bleibt, ist der

1 | Hammett, Dashiell: Red Harvest. London, 1975. S. 137, S. 140.

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Eindruck einer seltsamen Infektion,2 die von der Gewalt ausgeht und sich mit ihr verbreitet, und die sich offenbar von dem vergossenen Blut der Toten auf das Blut der Lebenden sowie von der handelnden Figur auf die Instanz des Erzählens und deren Adressaten überträgt. Der Film Blood Simple (USA 1984, R: Joel und Ethan Coen) führt diesen seltsamen und kontagiösen Zustand vor. Als Wiedergänger eines Film noir,3 den Joel und Ethan Coen nicht etwa im städtischen Dschungel, sondern irgendwo in der texanischen Einöde angesiedelt haben, beobachtet er in einer streng begrenzten Versuchsanordnung, was going blood-simple bedeuten kann: jenes Fieber nach der Tat, das sich verbreitet und dessen Hitze einer eigenartigen Spannung von Stillstand und Raserei zu entstammen scheint. Der Film zeigt, wie sich nach einem Mord alles Weitere dem Erzählen entzieht, wie sich ein enger Kreis von Beteiligten mit einer seltsamen Besinnungslosigkeit infiziert. Dieses Verhältnis materialisiert sich zwischen zwei verschiedenen Medien, zwischen Photographie und Film, auf eigenartige Weise: Die Photographie ist das geronnene Sichtbare, die Feststellung eines Todes, der sich nicht abweisen lässt. Der Film hingegen konstituiert die bewegten Formen, die Farben, Kontraste und Helligkeiten, in denen das Blut unsichtbar zirkuliert. Beide begegnen einander, indem sich das eine Medium in dem anderen in Form von Rückständen niederschlägt. Es geht um Reste, die die Photographie im Film hinterlässt, und um die Spuren der Bewegung, in der der Film die Photographien erfasst. Der Film – das sind nicht zuletzt die Phantasmen, die dem Sichtbaren entspringen, und die in Blood Simple paradoxerweise nicht zu sehen gegeben werden. Denn jeder der Protagonisten befindet sich in einem besonderen Film, in dem er je eigene Folgerungen aus den vorhandenen Blutspuren zieht, und so zu je anderen Wirklichkeitsannahmen bezüglich der Lebenden und der Toten, der Mörder und ihrer Opfer gelangt. Es handelt sich um eine Multiplikation des Films anhand von Resten der Photographie im filmischen Medium – eine

2 | Vgl. Heise, Thomas: »Going Blood-Simple Like the Native«: Contagious Urban Spaces and Modern Power in Dashiell Hammett’s Red Harvest. In: Modern Fiction Studies, 51/3 (2005). S. 485-512. 3 | Zu literarischen und filmischen Vorbildern vgl. Bergan, Ronald: The Coen Brothers. London, 2001. S. 73-77.

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Vervielfältigung, die der Zuschauer nicht zu sehen bekommt, sondern die ihm zu denken gegeben ist.

Bewegung und Stillstand Der Prolog öffnet den Blick auf einen schnurgeraden Highway. Das Bild ist vertraut, eine Inkunabel amerikanischer Lebenskultur. Und doch wird der Eindruck von Erhabenheit, den solche Bilder sonst erzeugen, durchkreuzt, weil die extreme Untersicht jedes Gefühl von Freiheit und Weite verhöhnt. Und auch die klassische Funktion des Establishing Shot, der Übersicht über den Ort des Geschehens und über die Lage verspricht, wird durch den auf dem Asphalt liegenden, tierhaft anmutenden, halb verkohlten Rest eines Reifens konterkariert, dessen Vorhandensein die Aufmerksamkeit auf ein vergangenes, vermutlich unangenehmes Ereignis lenkt. Das Bild bleibt stehen, verharrt; es eröffnet den Film im Anblick eines Restes und als photographisches Bild.

Auch die Aufnahmen, die dieser ersten Einstellung folgen, sind lange Einstellungen von fast photographischer Qualität, beliebige, unspezifische Aufnahmen von amerikanischer Ödnis und Weite, gespenstische Industrieanlagen, Steppenlandschaften, die sich nur fahrend durchqueren und aneignen lassen. Aber dann springt der Film sozusagen an, wird filmisch, gewinnen die Bilder an Geschwindigkeit, verwandelt sich der Tag in finsterste Nacht, ertönen plötzlich Autogeräusche und Musik. Zwei kleine Punkte kommen der Fahrt der Kamera aus dem tiefen Schwarz entgegen, verwandeln sich in unheimliche Scheinwerfer, die sich bis

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zu einem blendenden, zeitlosen Nebeneinander im Raum der Geschwindigkeit vergrößern. Das Geschehen des Films beginnt nicht nur auf der Straße. Es findet durchgängig auf oder an der Straße statt. Die Straßen stellen das zentrale Zirkulationssystem dar, sie regeln den Verkehr der Menschen und Informationen, den Blutstrom, den Transport der Dinge, das Begehren. Ausnahmslos sehen wir die Protagonisten fahrend, im Auto sitzend oder an Orten, die von der Straße auf die eine oder andere Weise bestimmt sind, von ihrer Wegführung, ihren Geräuschen oder ihren Schatten. Das Geschehen spielt in Apartments, die kurzfristig angemietet und wieder verlassen werden, in Motels oder in an der Straße gelegenen Bars. Fahrt, Bewegung, Geschwindigkeit und Ablauf des Films selbst werden auf vielfältige Weise miteinander korreliert und in Bezug gesetzt. Dagegen kann der Film vor allem dort ausführlich werden, kann an den Stellen sich entwickeln und wuchern, wo die Autos anhalten und die Geschwindigkeit gedrosselt wird. Im Stillstehen beginnen sich die Szenen zu konstituieren, nehmen Zusammenhänge, Ursachen, Spuren und Dinge plötzlich Form an und werden sichtbar. Dann treten Bilder von photographischer Genauigkeit in Erscheinung, deren Details auf beharrliche und undurchsichtige Weise bedeutsam sind.

Insistierende Dinge, Reste des Sinns Der Film präsentiert sich als Mischung aus Western, Road Movie, Krimi, Horrorfilm und Verwechslungskomödie. Und nicht zuletzt ist er eine Art filmisches Kammerspiel, dessen Personenregister aus nicht mehr als vier Akteuren und sechs wichtigen Schauplätzen besteht: Eine Frau (Abby) flüchtet vor ihrem Mann (Marty), der ihr zunehmend unheimlich geworden ist. Der von Eifersucht getriebene Ehemann lässt sie durch einen Privatdetektiv beschatten und erfährt auf diese Weise, dass sie ihn mit seinem Angestellten (Ray) betrügt. Von Rachegelüsten besessen, will er beide umbringen lassen. Der Privatdetektiv (Visser) gibt fälschlicherweise vor, seinen Auftrag ausgeführt zu haben und bringt, nachdem er das Geld eingesteckt hat, stattdessen den eifersüchtigen Ehemann (Marty) um. An diesem Punkt wird der Film jedoch plötzlich kompliziert, verheddern sich die Handlungsstränge, gibt eine Fehlinterpretation Anlass zur nächsten: Ray, der wegen seiner noch ausstehenden Löhne zu Marty kommt, findet die Leiche. Der Umstand, dass der Mord mit der Pistole von

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Abby begangen wurde, verleitet ihn zu der Annahme, sie habe die Tat begangen. Um das Verbrechen zu vertuschen, beseitigt er die Leiche und kehrt zurück zu seiner Geliebten. Abby hingegen erscheint sein verstörtes Verhalten unerklärlich und infolgedessen zunehmend Furcht einflößend. Der Privatdetektiv wiederum, der am Tatort sein Feuerzeug liegen gelassen hat, befürchtet, diese Spur könne ihn verraten, vermutet das Beweisstück in den Händen der Frau oder ihres Liebhabers und ist bereit, beide dafür umzubringen. Die Beschränkung des Films auf wenige Figuren wie auch der Umstand, dass die Kamera mit diesen Figuren zu den immer gleichen Schauplätzen zurückkehrt, verleiht den einzelnen Szenen Eindrücklichkeit und Prägnanz, den Schlüsselszenen eines Traums vergleichbar. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, indem das Prinzip der Wiederholung und Verdichtung sich auch auf die Dinge selbst erstreckt. Die Kamera lässt die Objekte nicht aus dem Blick, sondern zeichnet ihr Verschwinden, ihr Wiederkehren und ihre Spuren auf. Die Objekte scheinen die Protagonisten und deren Handlungen maßgeblich zu konstituieren. Der Hebelpunkt des dramatischen Geschehens liegt nicht im Menschen, sondern in den Dingen; das Geschehen verläuft vom Dekor zum Menschen.4 Die Objekte sind symbolisch bedeutsame, überdeterminierte, integrale Bestandteile des Subjekts, und ihr Verlust bedeutet, wie der Film veranschaulicht, eine massive Gefährdung. Die Figur des Privatdetektivs beispielsweise ist durchweg nicht nur verlässlich in den gleichen beigen Anzug gekleidet und in einem klapprigen VW Käfer unterwegs, auch die Art und Weise, wie, wo und wann der das eigene Bild von Männlichkeit sichernde Western-Strohhut auf- und abgesetzt wird, vermag dies zu veranschaulichen. Im Film haben all diese Gegenstände den Status von Signifikanten, die für den Bestand des Subjekts konstitutiv sind. Die Dinge sind dem Wissen und dem Bewusstsein der involvierten Subjekte uneinholbar voraus und erschließen sich ihnen nur nachträglich. Auch der Blick des Zuschauers ist dieser Nachträglichkeit unterworfen. Was soll man etwa von Abbys metallener Puderdose halten, die wiederholt auffällig in Szene gesetzt wird, oder was von jenem mehrfach gezeigten, schlammfarbenen, tönernen Gefäß, das wie ein Fisch aussieht und sich erst gegen Ende des Films (und auch dann nur bei genau4 | Bazin, André: Theater und Film. In: Ders.: Was ist Film? Hg. von Robert Fischer. Berlin, 2004. S. 162-216. S. 189.

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em Hinsehen) als eine Spardose erweist? Nur in ihrem wiederholten Erscheinen und nur in den Beziehungen, die sie untereinander eingehen, lässt sich das Spiel beobachten, das diese Dinge treiben und das, wenn man es erahnt, ohne es gänzlich durchschauen zu können, längst schon entschieden ist. Das silberne Feuerzeug des Privatdetektivs stellt in dieser Hinsicht das auffälligste und zugleich rätselhafteste Objekt dar. Durch den ersten Teil des Films hindurch (bis zur Ermordung Martys) taucht es zunächst immer dort auf, wo auch Visser auftaucht. Es wird ausgepackt und demonstrativ auf den Tisch gelegt, wo er sich niederlässt; es erscheint als sein ständiger Begleiter, als geheimnisvoll bleibendes Statement. Bei jeder Gelegenheit macht die Kamera auf das Feuerzeug aufmerksam, erinnert an sein Vorhandensein, inszeniert es als einen aus sich selbst heraus leuchtenden kleinen Silberbarren. Und spätestens in dem Moment, in dem deutlich wird, dass sein Verschwinden beziehungsweise sein Verlust die Ordnung der Figur und des Films gleichermaßen stört, kann an der fundamentalen Bedeutung dieses Signifikanten kein Zweifel mehr bestehen.

Die Art und Weise, wie das Gewebe jeder einzelnen Figur maßgeblich über diese fast wahnhaft anmutenden und je spezifischen Extrapolationen, Wiederholungen und Verknüpfungen bestimmter visueller Elemente konstituiert ist, lässt darüber hinaus auch das Koordinatensystem der Projektionen und Verfehlungen, in das sie eingebunden sind, augenfällig werden. Die Figuren sind eingeschlossen und bewegen sich in ihrem jeweils ganz eigenen Film, in der Undurchdringlichkeit ihrer Monologe, im je eigenen Kosmos ihrer Projektionen. Ihr Sprechen rauscht aneinander vorbei. »Abby… you all right?« fragt

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Ray am Telefon, nachdem er Marty, das Mordopfer, vergraben hat, irrtümlich davon ausgehend, dass Abby ihn getötet hat. Sie aber geht darauf nicht ein, erwidert nur ratlos: »Ray?… What time is it?« – eine Gegenfrage, die ihn irritiert. Und wenn sie seinen Satz schließlich aufnimmt und ihn zurückfragt »You all right?«,5 so ist diese Frage Ausdruck ihrer Sorge, dass auch er langsam nicht mehr ganz richtig im Kopf ist, und es verdeutlicht, dass man sich auch im selben Satz verfehlen kann. Immer wieder spielt der Film eine Beziehungsordnung durch, in der die Figuren sich benötigen, um sich der eigenen imaginären Vollständigkeit zu vergewissern. Alle Figuren des Films gehen davon aus, dass das eigene Wissen vom anderen geteilt wird. Der Film führt das Scheitern dieser imaginären Konstruktionen vor, indem er die Verfehlungen des Sprechens anhand ihrer Komplikationen demonstriert. Die Worte und Kommentare des anderen weisen zunehmend nicht auflösbare Reste auf, etwas, das in dem unterstellten Wissen nicht aufgeht, das folglich irritiert, verunsichert und zu dem Verdacht führt, dass der andere mehr und anderes weiß; sie sind Anlass zu Unterstellungen und begründen den Glauben an eine Verschwörung. Und so beginnen die Figuren, obwohl jede sich in ihrer eigenen filmischen Realität bewegt, auf der Basis maximaler Verkennung zu interagieren, indem sich die Worte des jeweils anderen in der je eigenen Sicht in Form von befremdlichen Fragmenten, von Sinn-Resten niederschlagen. Die einzige Figur des Films, die nicht davon ausgeht, dass die anderen das eigene Wissen teilen, und die daraus geradezu ihren Beruf gemacht hat, ist der Privatdetektiv. Er ist der einzige Profi, der alleinige wirkliche Spurenleser, und ihn kennzeichnet große Gemächlichkeit. Der Detektiv ist die Metafigur des Films, die sich der Beobachterperspektive des Zuschauers annähert. Die Langsamkeit und Bedächtigkeit seiner Handlungen und Reaktionen kontrastiert mit der Eile, in der die anderen Figuren einander begegnen und sich voneinander entfernen. Erneut macht sich hier eine wesentliche Differenz von Bewegung und Stillstand bemerkbar – eine Differenz, die mit dem Verhältnis von Film und Photographie in Beziehung gebracht werden kann.

5 | Coen, Ethan/Coen, Joel: Collected Screenplays. Vol. 1. London, 2002, S. 65f.

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Kamera-Realität und Kamera-Reflexion In seiner Theorie des Films geht Siegfried Kracauer von der Annahme aus, dass Photographie und Film im Wesentlichen identisch beschaffen sind. Man muss den Film, so sagt er, auf elementare photographische Eigenschaften zurückführen, um seine Wahrheit zu begreifen; denn mit der Photographie wird eine Einstellung möglich gemacht, die bestimmte Erscheinungsformen der Realität zu besonderer Geltung bringt. Sie konstituiert eine »Kamera-Realität«, stellt Ansichten von Wirklichkeit her, die ohne sie nicht zu sehen sind. Die bewegten Bilder des Films sind darin von den unbewegten Bildern der Photographie nicht verschieden. Die photographische Einstellung ist in Kracauers theoretischer Perspektive das mediale Erbe, welches der Film übernimmt. Um eine ›Theorie des Films‹ geht es auch in Blood Simple. Aber die Theorie ist hier etwas, das der Film selbst entwirft und projiziert. Wenn Kracauer den Film über die Photographie hat erläutern wollen, so erläutert in Blood Simple der Film sich selbst, indem er die Photographie reflektiert und so – durch diese Reflexion – zu ihr auf Abstand geht. Blood Simple kontrastiert die Kamera-Realität der Photographie mit der Kamera-Reflexion des Films. In Blood Simple sind immer wieder Photographien zu sehen. In einer langsamen Kamerafahrt wandert der Blick über die Photos, die in Martys Haus an den Wänden hängen: Man erkennt zunächst ein ovales Porträt von Martys Schäferhund; dann ein Photo von Abby in einem roten hochgeschlossenen Kleid mit Puffärmeln; ein professionell aufgenommenes Bild von Marty und Abby als Paar vor dunklem Hintergrund; schließlich ein Urlaubsbild von beiden, ein Schnappschuss, Abby im Badeanzug und Marty in Badehose, lachend, er nach einem Ball greifend. All diese Photographien, die die Vergangenheit dokumentieren und die über Abbys und Martys Ehe zugleich alles und nichts zu sagen scheinen, wirken in ihrer Indifferenz verstörend. Auffallend ist dabei stets die Rahmung. Durch sie unterscheiden diese Photos sich von anderen Photographien, die nicht gerahmt sind und keinen festen Ort an der Wand haben, sondern zirkulieren: jenen Aufnahmen, die der Detektiv gemacht und die er retuschiert hat und die das komplizierte Geschehen des Films bestimmen. Dieser Unterschied von Rahmung und Zirkulation macht deutlich, dass in Blood Simple nicht nur eine Differenz, sondern auch eine Übergängigkeit zwischen Photographie und Film erprobt wird, eine Wahrnehmungsschwelle zwischen den Medien.

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Diese Schwelle findet in einem bestimmten, regelmäßig wiederkehrenden Effekt seine visuelle Entsprechung. Der Film ist skandiert von Blendungseffekten, die die Leinwand oder den Bildschirm für einen Augenblick fast völlig weiß erscheinen lassen – so als würde für einen Moment ein Scheinwerfer den Zuschauer blenden oder ein Blitzlicht die Szene erhellen. Dort, wo sie eingesetzt werden, saugen sie Farben und Formen, die Tiefe des Raumes und jegliche Bewegung in sich auf, und selbst der Ton verdichtet sich in diesen Momenten zum Lärm, zum Dröhnen oder zum Rauschen. Diese Blendungen markieren exemplarische Schwellen, an denen der Film Kamera-Realität und Kamera-Reflexion aneinandergrenzen und ineinander übergehen lässt. Das ›Wirkliche‹ bleicht aus und verschwindet in einer Darstellung von Helligkeit, und damit in einer Vorführung des leeren Schirms, des bloßen Geräuschs: mediale Bedingungen, filmisch reflektiert. Zugleich ist dies ein Stillstellen von Bewegung, eine Auskristallisierung des Augenblicks: der Moment des photographischen Bildes, das gleichsam als eine Art zeitlich vorgezogenes Nachbild festhält, was ist. Einen solchen Effekt bewirken etwa die Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge, die langsam größer werden, bis ihre Helligkeit, begleitet vom Rauschen des Aneinander-Vorbei-Fahrens, die Leinwand für einen Moment ganz überstrahlt.

Welcher Art ist diese Helligkeit? Man hat es hier mit unterschiedlichen Organisationsformen des Lichts zu tun. Einerseits handelt es sich um das Gegenlicht, das zum Plot gehört. Sodann wird der Eindruck eines Blitzlichts erzeugt: Dies ist eher dem Set zuzuordnen (dem Schauplatz des Photographierens und Filmens). Und schließlich taucht die Weißblende auf, die erst im Rahmen der Postproduktion (der Bearbeitung

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des filmischen Materials) eingesetzt wird. All diese verschiedenen Lichtformen und Hervorbringungsebenen werden hier und an späteren Stellen des Films miteinander in Beziehung gesetzt. Ein weiterer Einsatz solcher Blendeffekte macht dies deutlich. Durch den Privatdetektiv weiß Marty, dass Abby ihn mit Ray betrügt: Dieser hat ihm Photos vorgelegt, die die Nacht, die Abby und Ray in einem Motel miteinander verbracht haben, dokumentieren. Daraufhin erhält der Detektiv den Auftrag, die beiden zu töten. In der Nacht schleicht er um das Haus von Ray; die Kamera zeigt einen Blick durchs Fenster, und man sieht Abby und Ray im Bett schlafend nebeneinander. Schlagartig erhellt sich das Bild, ertrinkt in Licht, bis nicht einmal mehr die Umrisse zu erkennen sind, all dies von einer Geräuschkulisse begleitet, die in der nachfolgenden Einstellung in Verkehrslärm übergeht. Zunächst ist der Zuschauer mit seinen Vermutungen allein. Es könnten hier – der ansteigende Lärmpegel würde dafür sprechen – jene Schüsse abgegeben worden sein, für die der Detektiv beauftragt worden ist. Wenig später sieht man jedoch, wie er seinem Auftraggeber Marty Photos aus genau der hier gezeigten Perspektive übergibt, auf denen die nun blutbefleckten Körper von Abby und Ray zu sehen sind. Als Ray dann erneut die Szene betritt, weiß man jedoch, dass auf ihn nicht geschossen worden sein kann, und man ahnt, dass jene Weißblende, die den Fortgang des Geschehens verbarg, zugleich das Blitzlicht der Kamera gewesen ist, mit der der Detektiv die Schlafenden photographierte. Dass die als Beweismaterial eingesetzten Blutflecken auf den Photos von dem Detektiv hinzuretuschiert worden sind, erfährt man erst sehr viel später. Dieses Ineinander von Weißblende und Blitzlicht verweist auf einen allgemeineren Sachverhalt von Blood Simple: In den Momenten, wo die Leinwand sich für kurze Zeit erhellt, um die ›Wirklichkeit‹ auf paradoxe Weise zugleich auszubleichen und festzuhalten, findet nicht nur ein Übergang zwischen filmischem und photographischem Medium statt, sondern die beiden Medien trennen sich auch, um im Zeichen dieser Differenz in den Plot wiedereinzutreten. Photographien beginnen als vorgefundene Reste anderer, vergangener Wirklichkeiten zu zirkulieren, in ihnen »ereignet sich eine unlogische Verquickung zwischen dem Hier und dem Früher«,6 während die Re6 | Barthes, Roland: Rhetorik des Bildes. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M., 1990. S. 28-46. S. 39.

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flexion, die das filmische Medium leistet, sich zu einer Beobachtung zweiten Grades potenziert: Denn sie gilt nun den Reflexionen, die den verschiedenen Kamera-Realitäten und ihrer ›Unlogik‹ gewidmet sind.

Der doppelte Schirm In der Nacht betritt Ray das Büro von Marty, sieht ihn an seinem Schreibtisch sitzen, geht auf ihn zu. Man hört einen Knall, und im selben Moment wird es so hell, dass Ray geblendet die Augen schließt; Marty rührt sich nicht. Die Geschwindigkeit des Films, das Zusammenfallen von Lärm und Licht überfordern die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Zuschauers. Es mutet an wie ein Insert, ein sekundenlanger Flashback, der noch einmal wahrnehmen lässt, was vor Kurzem in diesem Raum geschehen ist: Es lässt den Schuss nachhallen, mit dem der Detektiv Marty getötet hat. Ray ist über die Tatwaffe gestolpert, und dabei hat sich ein Schuss gelöst. Die Schlussfolgerungen, die Ray zieht, gewinnen ihre Evidenz aus dem, was er sieht: Die Waffe gehört Abby. Und Marty ist tot. In Gestalt des reglosen Körpers findet Ray eine stillgestellte Wirklichkeit vor, die Reste einer Realität, die sich an dieser Stelle erstmals greifbar von der des Zuschauers unterscheidet. Er hält Abby für die Mörderin. Ray taucht in seine Kamera-Realität ein, in seinen eigenen Film. Der Betrachter bekommt diesen nicht vorgeführt; er wird nur angehalten, ihn zu reflektieren. Ray beginnt, das Bild, das er – und nur er – vorgefunden hat, zu retuschieren. Für eine quälend lange Zeit sieht man Ray, wie er alle Spuren zu beseitigen sucht, ungeschickt, und dabei immer neue Spuren erzeugt. Denn die Spuren, um die es geht, lassen sich nicht einfach verwischen, da es sich um materielle Reste handelt. Sie zu verwischen, das muss bedeuten: sie zu verteilen und ihre Sichtbarkeit zu erhöhen, anstatt sie unsichtbar zu machen. In einer solchen panisch motivierten Distribution von Resten, welche die Versuche einer Beseitigung aller Spuren bewirken, werden die Realitäten und die Reflexionen vervielfältigt, und genau dies gibt Blood Simple zu sehen. Wenn Ray die Leiche zu beseitigen sucht, und wenn man Ray später in der Nacht mitten auf dem Highway anhalten, aus dem Wagen springen und davonlaufen sieht, weil sich die Leiche bewegt hat, weil noch ein Restleben in Marty insistiert, er allem Anschein nach also doch noch nicht ganz tot ist, und Ray sich folglich wieder in einem anderen Film befindet, als er geglaubt hat; wenn Marty mit der letzten Kraft des Gerade-noch-Lebenden auf allen

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Vieren auf dem Highway davonzukriechen versucht (um sein Leben kriecht – der quälende Versuch, aus den stillgestellten Ansichten der Photographie in das Reich des bewegten und geräuschvollen Films zurückzukehren); wenn Ray ihn zum Wagen zurückschleift und hineinzwingt – dann ereignet sich ein Helligkeitseffekt, der von den vorangegangen deutlich abweicht. Aus der Ferne nähert sich ein großer Truck, dessen Scheinwerfer in der Dunkelheit immer größer werden. Dies greift das Motiv vom Anfang des Filmes auf, als das Gegenlicht des sich nähernden Verkehrs die Leinwand erhellt. Hier aber kommt es anders: Der entgegenkommende Truck, grell leuchtend, hupend, weil die Straße nicht frei ist, fährt in dem Moment vorbei, als Ray gerade den kraftlosen Körper des Sterbenden in den Wagen zurückgedrängt hat; man sieht Ray sich erschöpft mit beiden Armen auf das Wagendach stützen und dicht hinter ihm für einige Momente die helle Seitenansicht des vorbeirasenden Trucks.

Dadurch wird dem Bild jede räumliche Tiefe genommen, und auf merkwürdige Weise scheint sich zugleich die Leinwand in zwei Ebenen zu differenzieren. Für kurze Zeit erscheinen zwei Screens zugleich, die sich die Sichtbarkeit teilen: Einerseits entsteht eine Fläche aus Helligkeit, in der alles Wirkliche ausgebleicht und in Lärm und Geschwindigkeit verflüchtigt wird; andererseits hebt sich von diesem reißenden Strom aus Licht und Geräusch das Ufer eines Vordergrundes ab, in dem die sich duckende Gestalt von Ray und die Umrisse seines Wagens verharren. Durch die Kontrastierung von Hell und Dunkel erzeugt das Bild den Eindruck eines photographischen Negativs; doch wäre dessen Besonderheit, dass es durch den Gegensatz von Bewegung und Fixierung und somit durch die Differenz von

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Film und Photographie zustande käme. Tatsächlich aber geht es hier nicht mehr allein um den Unterschied der beiden Medien, sondern um das, was aus diesem Unterschied resultiert: eine Vervielfältigung der Photographien und Filme, ihrer Realitäten und ihrer Reflexionen. Genau dafür steht der doppelte Schirm. Ray ist nicht Teil jener Projektion, die hinter ihm abläuft, und auch kein Element der photographischen Belichtung, die in seinem Rücken geschieht. Er befindet sich vor dem Schirm – aber dennoch bleibt er eine Leinwandfigur, weil es nämlich eine zweite Leinwand gibt. Diese mehrfach gegebenen Kamera-Umwelten erhalten hier die besondere Pointe, dass Ray, der doch eigentlich verdunkeln und mitsamt der Leiche verschwinden will, angesichts dieser Differenz zweiter Ordnung das Opfer einer Hervorhebung wird, weil der Schirm, auf dem er lebt, sich zwischen der ›hinteren‹ Leinwand und dem Blick des Zuschauers positioniert. Auf diese Weise wird Ray selbst zu einem Rest, der ungeachtet all seiner Aufräumarbeiten nicht verschwindet.

Die ›Sehstrahlen‹ des Kinos Für die Vervielfältigung der photographischen und filmischen ›Perspektiven‹ findet der Showdown des Films eine faszinierende Allegorie. Sie macht deutlich, dass es hier nicht mehr um Sichtweisen im Sinne eines Blickwinkels geht, den die Kamera einnimmt, auch nicht um die Existenz eines homogenen und kontinuierlichen Raumes, in dem die Kamera sich hier oder dort positionieren und einen engeren oder weiteren Blickwinkel definieren könnte. In Blood Simple wird der Raum in das filmische Bild introjiziert, indem den Subjekten beim Erdenken und Entwerfen von Räumen zugeschaut wird. Es gibt in diesem Film nicht nur einen Raum, sondern viele. Am Ende des Films, wenn, nach einer komplizierten Reihe von Verkennungen, der Privatdetektiv zunächst Ray erschießt und dann auch Abby töten will, um alle vermeintlichen Zeugen des an Marty begangenen Mordes zu beseitigen, wird genau diese Verschiedenheit der Räume vorgeführt. Der Detektiv ist in Abbys Wohnung eingedrungen und stellt fest, dass sie durch das Fenster geflüchtet und in den angrenzenden Raum geklettert ist. Die Kamera befindet sich nun auf der anderen Seite, dort, wo sich Abby versteckt hat. Der Detektiv schießt durch die Wand – blind, weil er sein Ziel nicht sieht. Jeder der Schüsse, die durch die Wand dringen und die durch die Löcher, die sie erzeugen, helle Strahlen von

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Licht wie Scheinwerfer in den dunklen Raum einfallen lassen, ist ein Surrogat des Blicks, der durch die trennende Wand behindert wird. Doch in den anderen, dunklen Raum hinübersehen kann der Detektiv dabei nicht; der Blick auf die andere Seite bleibt ihm verwehrt. Die verschiedenen scheinwerferähnlichen Lichter, die von den Durchschusslöchern in den anderen, dunklen Raum hineinstrahlen, setzen genau diese Aporie der Sichtbarkeit ins Bild, indem sie eine Allegorie sowohl des Kinos als auch jener Kamera-Reflexion entwerfen, die der Film Blood Simple praktiziert. Visser hat sein ganzes Magazin leer geschossen, aber keiner der sechs Schüsse hat getroffen. Geblieben sind nur Projektionen von Helligkeit in die Finsternis hinein, die alle in eine andere Richtung weisen, ohne sich aufeinander zu beziehen.

So konstituiert sich kein identischer Blick, sondern eine Vielzahl von ›Sehstrahlen‹, von Filmen, die weder miteinander noch mit irgendeiner außer ihnen befindlichen Realität kommunizieren. Eine Vervielfachung des Filmes wird deutlich, wie Blood Simple sie unaufhörlich zeigt: die Verschiedenheit der Projektionen, innerhalb derer die Protagonisten agieren und die nirgendwo miteinander zusammenhängen – außer hier, in diesem Film, und für dessen Zuschauer.

Der Zusammenhang der Reste Die filmischen Bilder entstehen im Rahmen einer Poetik des Restes, die auf den verschiedensten Ebenen Geltung gewinnt. Ihre mediale Verfasstheit zeigt sich in der Relation von Photographie und Film; aber sie schlägt sich auch in den Handlungen der Filmfiguren nieder.

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In einem fort sind die Protagonisten in einer ans Groteske grenzenden Geschäftigkeit darum bemüht, verräterische Spuren zu beseitigen, Dinge wieder an ihren Ort zu rücken. Der Film zeigt, wie sie dabei fortwährend an ihrer Reinlichkeit scheitern, wie sie Unordnung anrichten, wo eigentlich Wert und Sauberkeit hergestellt werden sollen. Und ist nicht das schaurige Schicksal von Marty, des lebendig Begrabenen, die eindrucksvollste Schilderung jenes Insistierens, mit dem das eigentlich Vergangene ins Reich der filmischen Bilder wiederkehrt und mit dem diese Reste gerade in den Akten ihrer Beseitigung den Film durchdringen? Der Film selber wird hier »bloodsimple«, gerät in einen Blutrausch, erhält eine fiebrig-albtraumhafte Konstitution. In einem späteren Film der Coen-Brüder, Fargo (USA 1996), findet sich dieser Sachverhalt ebenfalls – und dort mit schwärzestem Humor – ins Bild gesetzt, wenn der psychopathische Kriminelle die Leiche inmitten der Schneelandschaft Minnesotas mit dem Holzschredder zu beseitigen sucht und dabei – während oben noch die Füße aus der Maschine herausschauen – im Weiß des Schnees der ausgeworfene zerkleinerte Körper sich in einer riesigen roten Spur niederschlägt. Es ist eine Einschreibung des photographischen Restes in die Bewegtheit des filmischen Bildes, und zugleich eine medienspezifisch getreue Umsetzung der freudschen Einsicht, dass das Verdrängte im Verdrängenden wiederkehrt. In solchen Einstellungen entsteht eine kinematographische Theorie des Films, welche die ›Photogenese‹ des filmischen Bildes, sein Entstehen aus fremdmedialen Resten, zu denken gibt.

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Der Schuss im Tonfilmatelier Jan Philip Müller

Der Schuss im Tonfilmatelier1 von 1930 beginnt mit einer Liebesszene in einem edlen Salon, die durch ein Läuten unterbrochen wird. Der Diener meldet eine »Frau Caspary« an. Die bereits anwesende Dame verschwindet hinter einem Perlenvorhang in ein Nebenzimmer. Frau Caspary stürmt herein und liefert dem im Salon zurückgebliebenen Herrn ein Eifersuchtsdrama. Sie holt einen Revolver hervor, nach einem kurzen Gerangel fällt ein Schuss, ein Schrei ist zu hören und ein »Halt!«. Die Kamera schwenkt herum und eröffnet die Sicht auf ein Filmstudio, in dem ein Film mit dem Titel »Eifersucht« gedreht wird. Da der Schuss in der Szene zu früh gefallen sei, so der Regisseur, soll die Szene wiederholt werden. Soll – denn der Schuss hat gewissermaßen die Erzählebenen perforiert und die Darstellerin der Geliebten, »die Saylor«, liegt tot in der Kulisse. Der Regisseur lässt die Tore des Studios verschließen und zwei herbeigerufene Kriminalkommissare betreten die Szene. Die Suche nach dem Mörder – und mit ihr eine Tour zu den verschiedenen Sehens- und Hörenswürdigkeiten des Tonfilmstudios – kann beginnen. Diese Suche dauert ungefähr eine Stunde, bis dem Mörder seine unbemerkt aufgenommene Stimme vorgespielt wird, die das Mordmotiv offenbart. Er sieht sich überführt und versucht zu fliehen. Da jedoch die Ausgänge verschlossen sind, kommt er nicht weit und stürzt zuletzt zur Musik einer Tanzprobe für einen anderen Film von einer Beleuchterbrücke vor die Füße der tanzenden ›Girls‹. 1 | D ER S CHUSS IM TONFILMATELIER , Deutschland 1930, Produktionsfirma: Universum Film AG (UFA) Berlin, Regie: Alfred Zeisler, Drehbuch: Kurt Siodmak/ Rudolf Katscher/Egon Eis.

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Der Schuss im Tonfilmatelier handelt damit mindestens ebenso sehr von Tonfilm, wie er von der Aufklärung eines Mordes handelt. Das ist zunächst nicht so außergewöhnlich. Gerade für die Zeit der umfassenden Einführung des Tonfilms in Deutschland zwischen 1929 und 1932 wurde gelegentlich sogar eine regelrechte »autothematische Welle«2 diagnostiziert, in deren Zuge »der Tonfilm beständig und zwanghaft über sich selbst«3 rede. Allerdings geht Der Schuss im Tonfilmatelier dabei besonders weit.4 Nicht nur, dass der gesamte Film in einem Tonfilmatelier spielt, in das zwei Kommissare eingesetzt werden, denen das Funktionieren des Studios ausführlich erklärt wird, und dass der Täter dann am Ende durch Tonfilmtechnik identifiziert wird: Was hier an Übergängen zwischen den Erzählebenen ›Film‹ und ›Film im Film‹ veranstaltet wird, wiederholt sich noch einmal im Spiel der Namen zwischen Starpersona, dargestellter Figur und ›echtem Leben‹. Der Schauspieler Frank wird von einem Schauspieler namens Harry Frank gespielt, »die Maurus« von Gerda Maurus, der Regisseur Kalser von Erwin Kalser und so weiter. Eine gute Gelegenheit also, noch einmal genauer nachzuforschen, wovon dieser Tonfilm aus dem Jahr 1930 eigentlich handelt, wenn er von sich selbst handelt. Und wie er das tut. Wie Kay Kirchmann bemerkt hat, impliziert schon der Satz »Der Film selbst thematisiert seinen Status als Film« immer irgendeine Definition von Film.5 Und

2 | Schweinitz, Jörg: »Wie im Kino!« Die autothematische Welle im frühen Tonfilm. Figurationen der Selbstreflexion. In: Koebner, Thomas (Hg.): Diesseits der »Dämonischen Leinwand«. Neue Perspektiven auf das späte Weimarer Kino. München, 2003. S. 373-382. S. 374f. 3 | Prümm, Karl: Der frühe Tonfilm als intermediale Konfiguration. Zur Genese des Audiovisuellen. In: Becker, Sabina (Hg.): Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik. Bd. 1. St. Ingbert, 1995. S. 278-290. S. 280. 4 | Zum »selbstbezüglichen Spiel« im S CHUSS IM TONFILMATELIER vgl. außerdem: Müller, Corinna: Vom Stummfilm zum Tonfilm. München, 2003. S. 367-372; vgl. Tendam, Marion: Tonfilmsignal und Metastrukturen im frühen Tonfilm: Alfred Zeislers Film und Curt Siodmaks Filmroman Der Schuß im Tonfilmatelier (1930). In: Hauthal, Janine et al. (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen. Berlin/New York, 2007. S. 227-243. 5 | Vgl. Kirchmann, Kay: Zwischen Selbstreflexivität und Selbstreferentialität. Zur Ästhetik des Selbstbezüglichen als filmischer Modernität. In: Karpf,

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Zensurkarte: Der Schuß im Tonfilmatelier, S. 1/2 das erweist sich hier auf den zweiten Blick als Problem. Denn 1930 ist noch nicht so ganz klar, was Tonfilm ist. Er steht laufend unter Verdacht, nicht er selbst zu sein, sondern abgefilmtes Theater: »Neulich sprach ich mit einem Filmregisseur. Er setzte mir auseinander, wie er, in einem geplanten Tonfilm, künstlerisch vorgehen wolle. ›Die Kollegen‹, sagte er, ›verwechseln unentwegt den Tonfilm mit dem Theater; sie verzichten auf alle Eigentümlichkeiten der Filmkunst; sie drehen ein Theaterstück, keinen Film.‹ Er hatte völlig recht. Ein Tonfilm wie H OKUSPOKUS ist nichts als ein Theaterstück; die Einheit des Ortes – beim klassischen Drama ein im-

Ernst/Kiesel, Doron/Visarius, Karsten (Hg.): »Im Spiegelkabinett der Illusionen«. Filme über sich selbst. Marburg, 1996. S. 67-86. S. 68.

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manentes Bühnengesetz – ist hier nahezu durchgeführt, obwohl das oberste Filmgesetz lauten müßte: Vielheit des Orts, bildhafte Beweglichkeit.« 6

Erich Kästner, der dies 1930 schreibt, schöpft dann aber doch noch etwas Hoffnung: »Glücklicherweise ist unter den neuen deutschen Tonfilmen einer, der Lob verdient. Er heißt S CHUSS IM TONFILMATELIER . Der Produzent, Zeisler, hat Empfinden für das, was dem Tonfilm zukommt und was ihm nicht ziemt. Und er griff besonders geschickt, als er das Tonfilmatelier nicht nur als Aufnahmeraum, sondern auch als Handlungsort erwählte. So kamen wirklich akustische Dinge ›zur Sprache‹. Schüsse, Mikrophone, Abhörzellen, Tonfilmvorführungen im Tonfilm, Abgehörtes als Kriminalmittel – alle diese Dinge der Werkstatt sind naturgemäß tonfilmgerechte Sujets.«7

Stellt sich also die Frage: Was sind diese »wirklich akustische[n] Dinge«? Was macht sie so »naturgemäß tonfilmgerecht«? Und: Wieso ist, wenn das »oberste Filmgesetz […] Vielheit des Orts« lauten soll, die Wahl nur eines Orts, nämlich des Tonfilmateliers, so besonders geschickt, und wie verhält sich dieser Ort zu seinen Dingen? Die These, der hier auf der Spur des Schusses durch das Tonfilmatelier gefolgt wird, ist: Der Raum des Tonfilmateliers ist selbst schon eine (audiovisuelle) »Vielheit des Orts«.8 Und deswegen kann auch gesagt werden, dass dieser Raum hier zum Handlungsort in einem starken Sinne wird, insofern er zum Beispiel den Schuss im Tonfilmatelier, aber auch andere »akustische Dinge« wie Schreie und Stimmen auf spezifische Weise ins Spiel bringt.9 6 | Kästner, Erich: Die Ästhetik des Tonfilms. In: Neue Leipziger Zeitung (20.8.1930), hier zitiert nach dem Reprint in: Bock, Hans-Michael/Töteberg, Michael (Hg.): Das Ufa-Buch. Kunst und Krisen, Stars und Regisseure, Wirtschaft und Politik. Frankfurt a.M., 1994. S. 270-271. S. 270. 7 | Ebd., S. 271. 8 | Vgl. dazu das ähnliche Argument Karl Prümms: »Jede Telefonsequenz, auf die kein früher Tonfilm verzichtet, entfaltet eine Selbstreferenz auf das Medium, das sich hier gewissermaßen verdoppelt. Die mechanisch reproduzierte Stimme überwindet die räumlichen Distanzen, schafft eine Simultaneität, ein Ineinander der Räume.« Prümm: Der frühe Tonfilm. S. 281. 9 | Oder »enactet«. Vgl. Law, John: Objects, Spaces, and Others. Online veröffentlicht vom Centre for Science Studies, Lancaster University, Lancaster,

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Pressephoto: Der Schuß im Tonfilmatelier (1930) Das ›ideale‹ Tonfilmatelier von 1930, wie es das sogenannte Tonkreuz der Ufa in Neu-Babelsberg darstellt, in dem Der Schuss im Tonfilmatelier spielt, operiert auf der Grundlage einer Segmentierung der Räume der Produktion, die dann in einer Logistik von Signalen und Aufzeichnungen wiederum verschaltet beziehungsweise zusammengeschnitten werden.10 In den Raum, der zunächst homogen zu sein scheint, in dem, was räumlich nebeneinander liegt, einander auch nah ist, werden jeweils andere Isolierungen, Abstände, aber auch Verbindungen und Linien der Transformation gelegt. So entstehen jeweils andere Räume, die den Raum des Tonfilmstudios auf jeweils andere Weise durchwirken und ›diskretisieren‹. Und diese Räume treffen sich, gehen ineinander über, interferieren an anderen Stellen. Zunächst gibt es hier einen Raum der Sicht und des Lichts: eine Kulisse, die den diegetischen optischen Raum produziert, die einerseits bestimmte Durchsichten herstellt – die berühmte fehlende 4. Wand zum Beispiel – und andererseits andere verstellt, beispielsweise jene Sichten auf den rohen Bau des Studios oder in Zimmer hinter Perlenvorhängen. Diese Sichten werden zudem mit großen Lampen

2003 [2000]. www.lancs.ac.uk/fass/sociology/papers/law-objects-spa ces-others.pdf [30.08.2010]. S. 6. 10 | Vgl. Schultz, Rudolf: Das ideale Tonfilmatelier. In: Filmtechnik (9.11.1929). S. 467-470.

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Otto Kohtz: Tonkreuz. Tonfilmatelier der UFA, Potsdam-Babelsberg (1929), Grundriss Erdgeschoss, Handzeichnung ausgeleuchtet, und diese Lampen müssen wiederum mit Energie gespeist werden, die an die entscheidenden Stellen des Studios geleitet wird. Nicht zuletzt müssen Filmkameras an eben jene Positionen gesetzt werden, an denen sich die Durchsichten realisieren und so aufzeichnen lassen. Außerdem gibt es einen ›sonischen Raum‹ der Tonaufnahme. Genauer gesagt operiert dieser wiederum in zwei verschiedenen Raumstrukturen. Es gibt einen akustischen Raum, der Erschütterungen oder Schwingungen der Luft, aber letztlich aller beweglichen Dinge überträgt, und einen Raum der elektrisch-elektronischen Signalübertragung.11 Der akustische Raum ist kein Raum der optischen Sichtlinien und Verdeckungen, sondern einer der Ausbreitung von Schwingungen. Er macht andere Verbindungen und andere Trennungen notwendig. Mikrophone müssen einerseits an den richtigen Stellen möglichst nahe der Klangquellen aufgestellt und andererseits mit den Aufzeichnungsgeräten verkabelt werden. Im Gegensatz zur Kamera ist die Tonaufnahmeapparatur nämlich räumlich auseinandergezogen. Mikrophone transformieren den Schall in elektrische Signale, die dann wiederum verstärkt in einer vom Rest des Studios schallund erschütterungsisolierten Aufnahmekabine die Intensität einer 11 | Umbehr, Heinz: Die Halle in Neubabelsberg. In: Ebd., S. 470-473.

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Lichtquelle modulieren und so als Veränderungen der Schwärzung eines Films aufgezeichnet werden. Dieser ›Raum der Tonaufnahme‹ – und das ist mindestens ebenso wichtig – muss an entscheidenden Stellen von anderen Räumen isoliert werden, vor allem von der ›Außenwelt‹ (vorbeifahrende Straßenbahnen, auf das Dach des Studios prasselnder Regen). Aber auch das ›Rauschen‹ der Filmproduktion selbst, also der Apparate, die sich im Studio befinden, um den Bildraum herzustellen, muss ausgeschlossen werden. Das Summen der Starkstromgeneratoren, der Lampen und der Kamera darf genauso wenig auf die Tonspur geraten wie die Kommunikationen der Bühnenarbeiter, des Regisseurs und anderer Filmschaffender während der Aufnahme.12 Und diese Regeln der Isolierung gelten auch in die andere Richtung, vom Sonischen zum Optischen. Zum Beispiel sollen Mikrophone nicht im Bild zu sehen sein. Die Operationen der sonischen und optischen »Transformationsräume«13 des Tonfilmstudios realisieren also nicht entweder Verbindung oder Trennung, sondern ein jeweils spezifisches Verhältnis von Verbindung und Trennung: ›Verdecken‹ und ›Zeigen‹ (zum Beispiel von Schauspielerinnen, die sich hinter Perlenvorhängen verstecken), ›Abdruck‹ und ›Ablösung‹ (zum Beispiel von Schallwellen eines Schusses, die Mikrophonmembranen schwingen lassen, die Signale produzieren, die in einem anderen Raum wiederum aufgezeichnet werden), Ein- und Ausschließung (zum Beispiel sollen Schreie von Schauspielerinnen zu hören sein, das Surren von Kameramotoren nicht). Optisches und Sonisches werden im Tonfilmstudio jeweils anders produziert, transformiert, herausgelöst. Diese Ablösung ist Voraussetzung für ihre Mobilisierung, damit sie Spuren auf einem Film-

12 | Aus diesem Grund besitzt das Studio in Neu-Babelsberg ein System von Zeigertelegraphen, die diese Kommunikationen in den Raum des Sichtbaren verlegt. Zu Technik und Architektur des Tonkreuzes vgl. insb.: Jacobsen, Wolfgang: Die Tonfilmaschine. In: Ders. (Hg.): Babelsberg. Das Filmstudio. Berlin, 1994. S. 145-164; vgl. Fischer, Fritz/Lichte, Hugo: Beschreibung des Tonfilmateliers in Neu-Babelsberg der Ufa. In: Dies. (Hg.): Tonfilm. Aufnahme und Wiedergabe nach dem Klangfilm-Verfahren (System Klangfilm-Tobis). Leipzig, 1931. S. 436-450; vgl. Umbehr: Die Halle in Neubabelsberg. 13 | Ein Begriff, der hier in Anlehnung an Michel Serres verwendet wird: Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt a.M., 2002. S. 102-113.

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band hinterlassen, das sich schneiden und zusammensetzen lässt.14 Aber in der gleichen Bewegung werden gerade jene Transformationsprozesse aufgetrennt, die gewissermaßen in sich audiovisuell sind, oder genauer, in denen Sichtbares in einer indexikalischen Logik von Ursache und Wirkung zu Hörbarem übergeht wie sichtbare Revolver, die Geräusche machen, oder schreiende Schauspielerinnen und befehlende Regisseure. Diese Verbindungen geraten so in Bewegung und bilden dabei verschiedene spezifische Interferenzen.15 Von hier aus noch einmal alles auf Anfang: Der Schuss im Tonfilmatelier beginnt mit einer Szene, die von drei »akustischen Dingen« unterbrochen wird: einem Schuss, einem Schrei und der Anordnung »Halt!«. Sie stammen aus drei verschiedenen Formen des Offs. Das »Halt!« des Regisseurs dringt zuerst von außen in den Raum der Diegese ein. Sein Befehl eröffnet einen größeren Raum der Erzählung: das Tonfilmstudio, in dem sich der Regisseur und das Drehbuch als die eigentlichen Steuerungsinstanzen des bisher Geschehenen offenbaren. Der Schrei stammt, wie es zunächst scheint, von einer zwar nicht im Bild sichtbaren, weil von einem Perlenvorhang verdeckten Quelle, aber doch aus der Diegese der Szene. Dann gleitet der Schrei in das Register des nur für die Aufnahme Gespielten: Während die am Set anwesende Journalistin den Schrei mit dem einer Katze vergleicht, kommt vom Aufnahmeraum die Nachricht, der Schrei habe »fabelhaft echt geklungen«, Saylor solle ihn »genauso wiederholen«.16 Genau das wird sich jedoch als unmöglich erweisen. Der Schrei entpuppt sich nun als Folge des Schusses, und die schreiende Schauspielerin ist tot. Der Schuss dagegen scheint seine Quelle im Bild zu haben, tatsächlich aber kommt das Geräusch von woanders her. Man könnte diese Operation auch ›Off der Ersetzung‹ oder ›metaphorisches Off‹ nennen. Das Geräusch des Schusses, so wird der Journalistin erklärt, soll nämlich gar nicht von dem später im Bild zu sehenden Revolver stammen, sondern von einem ›Geräuschrevolver‹, der für einen 14 | Zur Mobilisierung und dem Problem der Referenz vgl. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt a.M., 2002. S. 83-95. 15 | Vgl. John Laws Konzeption von Objekten als Interferenz verschiedener Räumlichkeiten oder »Topologien« in Law: Objects, Spaces, and Others. S. 11. 16 | Tendam: Tonfilmsignal und Metastrukturen im frühen Tonfilm. S. 236f.

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›realistischeren‹ Klang vom Hilfsregisseur hinter der Kamera ausgelöst wird.17 Aber auch dieser ›Geräuschrevolver‹ ist nicht Ursache des Schusses. Woher der Schuss kommt, bleibt ein Rätsel. Und diese Spaltung wird im Folgenden die Möglichkeit weiterer Schüsse und Revolver nach sich ziehen. Letztlich sind dadurch alle derartigen audiovisuellen Situationen in ihrer jeweiligen Gegenwärtigkeit tendenziell unabgeschlossen. Immer könnte nachträglich noch ein anderes räumliches Verhältnis zwischen Klang und Klangquelle, eine andere räumliche Struktur, gefunden werden. Der Schuss im Tonfilmatelier handelt von hier aus gesehen davon, wie während der Aufklärung eines Mordes in einem Tonfilmstudio Zuordnungen von ›Klangobjekten‹ (Schüsse, Schreie, Stimmen) zu Ursachen rekonstruiert werden, die quer zu den Aufteilungen des Tonfilmstudios verlaufen. Diese ›Klangobjekte‹ durchlaufen dabei jeweils eine Serie möglicher Zuordnungen, bis diese sich mit den Motiven der Handlungen an einer schlüssigen Stelle treffen: ein Revolver im Bild; ein Revolver, mit dem das Geräusch für die Tonaufnahme produziert wird; ein Revolver, mit dem der Mord tatsächlich begangen wurde. Oder: eine Stimme am Telefon; eine Stimme, die vor der Filmaufnahme unbemerkt aufgezeichnet wurde und dabei ein Motiv verraten hat; eine Stimme, die dem Verdächtigen vom Band vorgespielt wird und ihn so dazu bringt, seine Identität als Mörder preiszugeben. So wird zuletzt die Zirkulation der Klangobjekte beendet, Sichtbares und Hörbares fügen sich zusammen. Insofern wird hier der Raum des Tonfilmateliers mit seinen spezifischen Beweglichkeiten und Unbeweglichkeiten tatsächlich zu einem eigensinnigen Handlungsträger, der die Narration antreibt.18 Und in dieser Hinsicht ist Der Schuss im Tonfilmatelier während der Suche nach dem Täter gleichzeitig auf der Spur des Tonfilms. In der klassischen 17 | Der Schuss ist übrigens auch wegen seiner Lautstärkendynamik ein interessantes Problem der Filmtonspur: »Ein Schmerzenskind sind Schüsse: Sie fallen ihrer Natur nach weit über die technische Höchstgrenze der Aufnahme, müssen also untersteuert werden und wirken dann im Theater läppisch, ausgenommen, wenn sie aus der Ferne aufgenommen werden können, also wenn sie auch im Bilde also von ferner tönend gekennzeichnet sind.« Leistner, Erich: Objekte der Tonaufnahme. In: Filmtechnik (30.5.1931). S. 5-7. S. 7. Der Autor Dr. Erich Leistner war auch der Tontechniker für D ER S CHUSS IM TONFILMATELIER . 18 | Vgl. Schweinitz: »Wie im Kino!«. S. 376.

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Kriminalgeschichte – dem Whodunnit – geht es gerade auch um die Narrativierung epistemologischer Prozesse der ›Identifizierung‹, das heißt der Stabilisierung bestimmter Relationen zu einer selbstidentischen Einheit, einer Identität.19 Und einem entsprechenden Problem der Stabilisierung, der Gefahr, keine Einheit zu bilden, sieht sich auch die Wahrnehmung im Tonfilm ausgesetzt. Um mit Béla Balázs zu sprechen: »Der Ton bleibt nicht hängen.« »Der Ton bekommt eine Richtung. Sagen wir mal: er kommt von jenem Mann in der linken Ecke. Geht nun der Mann quer durch den Bildraum in die rechte Ecke hinüber, so folgt ihm der Ton nicht. Jener Mann kann den Mund aufreißen und gestikulieren, soviel er will. Wir hören den Ton eine Zeitlang weiterhin von dort, wohin wir ihn einmal lokalisiert haben: aus der linken Ecke. – Der Ton bleibt nicht hängen am Bild. Der akustische Eindruck rutscht vom optischen ab. Das kommt daher, daß die Richtung nicht im akustischen Eindruck selbst als unmittelbare Wahrnehmung enthalten ist, sondern durch logische Folgerung in den Eindruck hineingelegt wird. Dieser Bewußtseinsprozeß hinkt natürlich immer etwas nach. Es dauert immer eine Weile, bis wir unser Hören nach unserem Sehen orientieren. In der Zwischenzeit entsteht eine verwirrende und unbehagliche Auflösung des optisch-akustischen Gesamtbildes. Wir hören lauter Bauchredner.« 20

Dieser Vorwurf gegen den Tonfilm, der hier aus einer Zuschauerposition heraus formuliert wird, zieht sich verlässlich durch die Theorie 19 | Anscheinend erlebt auch der Kriminalfilm mit dem Aufkommen des Tonfilms eine Renaissance. Vgl. Kracauer, Siegfried: Kriminalfilme. In: Frankfurter Zeitung (17.8.1930). Zitiert nach: Ders.: Werke. Hg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke. Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film. 19281931. Frankfurt a.M., 2004. S. 397-398. Vielleicht wäre zu ergänzen, dass das Problem der Identifikation insgesamt ein beliebtes Thema des frühen Tonfilms darstellt, über dessen Gründe ebenso zu spekulieren wäre. Zu nennen ist hier beispielsweise H ALLO, H ALLO, HIER SPRICHT B ERLIN (Julien Duvivier, D/F/USA, 1931/1932), in dem sich ein deutscher Telefonist am Telefon in eine französische Telefonistin verliebt. Als er dann aber nach Paris anreist, trifft sie einen anderen Deutschen, der sich als die geliebte Stimme ausgibt, und er trifft eine andere Französin, die sich als die Geliebte ausgibt. Aber am Ende finden natürlich die richtigen zusammen. 20 | Balázs, Béla: Der Geist des Films. Frankfurt a.M., 2001 [1930]. S. 118f. Vgl. auch Prümm: Der frühe Tonfilm. S. 287.

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des Tonfilms und war insbesondere in den 1980er Jahren Ausgangspunkt einer ausführlichen Ideologiekritik des Tonfilms, die das Argument von der Produktion aus führt:21 Rick Altman beschreibt das Bild entsprechend als »Bauchrednerpuppe« der Tonspur.22 Gerade wenn in der Wahrnehmung des Zuschauers die Einheit des Tonfilms gelingt, dann verdeckt der Film damit seine ›Gemachtheit‹, die eben auf der Heterogenität von Bild und Ton beruht und die sich im Kino darin äußert, dass der Ton eben nicht von den sprechenden Personen auf der Leinwand kommt, sondern aus dem Lautsprecher. Altman führt aus, dass durch das innerdiegetische Spiel mit dem Verdecken und Zeigen23 von Tonquellen, das sich in klassischen narrativen Filmen häufig finden lässt, von einem weiteren Aspekt des Tonfilms abgelenkt wird: davon, dass diese Filme gerade nicht aus einer Eigenlogik des Bildes und des Klanges entstehen, sondern aus einer Logik der Sprache, des Drehbuchs, das am Anfang oder hinter dem Tonfilm steht, eine andere Logik also, die eigentlich die Geschehnisse im Film bestimmt. Kurz: von seiner Verwandtschaft mit dem Theater.

Schema: Cinema as Ventriloquism

21 | Vgl. Doane, Mary Ann: The Voice in Cinema. The Articulation of Body and Space. In: Weis, Elizabeth/Belton, John (Hg.): Film Sound: Theory and Practice. New York, 1985. S. 162-176. 22 | Altman, Rick: Moving Lips: Cinema as Ventriloquism. In: Yale French Studies, 60 (1980): Cinema/Sound. S. 67-79. 23 | Oder, in den Worten Michel Chions: »Akusmatisierung« und »Deakusmatisierung«, vgl. Chion, Michel: Audio-Vision. Sound on Screen. New York, 1994. S. 130f.

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Der Schuss im Tonfilmatelier handelt aber nun selbst wiederum an einer bestimmten Stelle dieser ›Verdeckungsoperation‹: im Tonfilmatelier. Dort, wo das Drehbuch in Bilder und Töne transformiert und gespeichert wird, wo sich das »optisch-akustische Gesamtbild« auflöst und Menschen und Dinge zu Bauchrednern werden. Während die Film-im-Film-Eifersuchtsszene gespielt wird, fällt ein Schuss, aber zu früh. Einen absolut zu frühen Schuss gibt es natürlich nur, weil er gleichzeitig mit den Geräuschen und dem Dialog auf der gleichen Tonspur aufgenommen wird und daher nicht mehr herauszutrennen ist. Dadurch erhält er einen fixen Zeitindex auf der Tonspur und gleichzeitig eine feste Adressierung zwischen den Stimmen und Mundbewegungen, befindet sich dort aber an der ›falschen‹ Stelle der Erzählung des ›Films im Film‹. Er tritt hier quasi als ›Anti-Filmklappe‹ auf. Es zeigt sich damit ein dritter Aspekt des Raums des Tonfilmateliers: ein Raum, der zwischen dem optischen und dem sonischen Raum liegt, zwischen ihnen vermittelt beziehungsweise in den sie eingelassen sind. Dieser Raum ist dafür zuständig, dass die Einheit des optisch-akustischen Gesamtbildes am Ende wieder herstellbar wird. Es ist ein Raum der Zeit, der Geschwindigkeiten und Zeitmarkierungen. Er muss in die sonischen und optischen Transformationsräume hineinreichen: Genau aus diesem Grund werden Klappen geschlagen, eben weil sie sich optisch und akustisch aufzeichnen. Gleichzeitig aber geht das Zeitsystem im Tonfilmstudio der Aufnahme voraus. In Neu-Babelsberg gibt es nicht nur Energieströme, die zum Beispiel Lampen und Verstärker speisen, und Signalströme, die Informationen übertragen, sondern noch etwas dazwischen. Bild- und Tonkameras werden mit einem Drehstrom von möglichst schwankungsfreien 48 Hz angetrieben, der garantiert, dass die Kameras und Tonaufnahmegeräte bei der Aufnahme immer in exakt der gleichen Geschwindigkeit laufen.24 Ohne dieses ›Apriori‹ helfen auch die Markierungen wenig, denn sie bleiben zumindest als einzelne immer lokal. Nur höchst aufwändige nachträgliche Prozeduren der jeweiligen Geschwindigkeitsanpassung würden es dann ermöglichen, eine solche Adressierung über das gesamte Material auszubreiten. In diesem umfassen-

24 | Vgl. Fischer/Lichte: Beschreibung des Tonfilmateliers in Neu-Babelsberg. S. 438.

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den Zeitraum setzt sich der Tonfilm zusammen beziehungsweise entfaltet sich in ihm seine Erzählung.25

Prinzipschema für Großfilmanlagen Im weiteren Verlauf des Films ruft der Regisseur nun per Telefon die Polizei und lässt die Türen verschließen – die bis dahin Störungen von außen ausschließen sollten –, sodass niemand die Szene verlassen kann. Die hinzugerufenen Kommissare verfolgen zunächst zwei Verdachtslinien. Eine Linie führt über die physikalische UrsacheWirkung-Kette vom Bild zum Mord. Dabei geht es um genau jenen Revolver, der von der Schauspielerin Maurus vor der Kamera verwendet wurde. Und eine andere Linie ergibt sich aus der Erzählung der 25 | Zum Problem filmischer Zeit- und Raumkonstruktion im Zuge der Tonfilmumstellung vgl. auch Wood, Nancy: Towards a Semiotics of the Transition to Sound: Spatial and Temporal Codes. In: Screen, 25 (1984). S. 1625.

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Motivationen und Handlungsfolgen, wie sie in den Zeugenaussagen erscheinen. Diese scheint zunächst auch den Film im Film namens »Eifersucht« widerzuspiegeln, denn es stellt sich im Laufe der Befragungen heraus, dass Frank tatsächlich eine Affäre mit Saylor hatte, bevor er sich mit Maurus verlobte, und dass er sich am Abend vorher mit Saylor getroffen hatte. Während der Hilfsregisseur Kestin nacheinander alle Anwesenden am Set der Tat beschuldigt – beispielsweise den Oberbeleuchter Bahlke, denn der sehe so finster aus –, lässt sich Kriminalrat Holzknecht das Tonfilmatelier erklären und gelangt dabei in den sogenannten Abhörraum, von dem aus der Tonaufnahmeleiter die Mikrophone abhören und gleichzeitig das gesamte Studio von oben überblicken kann. Der Abhörraum könnte also eine Stelle sein, an der sich die Teile wieder zusammenfügen. Dies jedoch misslingt. Holzknecht lässt das Mikrophon im Set einschalten und hört so, wie sich die beiden Schauspieler Maurus und Frank gegenseitig bedrängen, sich als Mörder zu offenbaren. Dann aber wird Maurus auf das Mikrophon aufmerksam, die ›Authentizität‹ des Gesprächs ist dahin, denn es lässt sich nun nicht mehr unterscheiden, ob die beiden zueinander sprechen oder für das Mikrophon. Kriminalrat Holzknecht bricht die Überwachung daraufhin ab. Die Spur des ›Filmrevolvers‹, der vor der Kamera verwendet wurde, scheint anfangs vielversprechend zu sein, denn irgendjemand hat ihn verschwinden lassen. Im 4. Akt des Films wird dieser Revolver bei der Komparsin Ilse Korseck gefunden, einem jener ›Girls‹, die in dem Film für die Industrialisierung der ›Traumfabrik‹ stehen müssen. Korseck hätte gerne mit einem Mord an einer Filmdiva die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen. Aber dieser Versuch, sich in die Zirkulation einzuklinken, gelingt nicht: Der wiedergefundene Revolver ist eingerostet und kann daher aus einfachen mechanischen Gründen unmöglich Ursache des Schusses und des Todes von »der Saylor« sein. Damit sind auch die beiden Schauspieler Frank und Maurus, die während des Schusses vor der Kamera um diesen Revolver gerungen hatten, entlastet. Um sich ein Bild von den räumlichen Positionen der Beteiligten zum Zeitpunkt der Tat zu machen, lässt die Polizei die Spielszene wiederholen. Und wiederum wird die Szene von einem Schuss unterbrochen. Ein in einem Stromkasten versteckter dritter Revolver hat sich durch die sich dort entwickelnde Wärme selbst ausgelöst. So wird nun endlich die Tatwaffe an ihrem Ort gefunden. Ungefähr an dieser Stelle nimmt die Suche nach dem Täter eine bemerkens-

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werte Wendung: Es bricht eine andere Erzählung ein, die sich von der ›Widerspiegelung‹ des Films im Film ablöst. Diese wird bezeichnenderweise nicht vom Ort der Tat aus entwickelt, sondern dort, wo die Linien des Tonfilmstudios nachträglich zusammengeführt und verarbeitet werden.26 Kriminalrat Holzknecht entdeckt den »Kleberaum«, in dem die »Kleberin« die Tonfilmstreifen vorsortiert. Sie erklärt ihm, dass die Tonaufnahmeapparate schon vor dem Dreh eine Weile mitlaufen, um auf die richtige Geschwindigkeit zu kommen und daher von allen Mikrophonen aufnehmen, was an den verschiedenen Stellen möglicherweise gesprochen wird. Holzknecht lässt sich diese Streifen aus dem Abfall holen, zusammenkleben und vorspielen. Er wird so Zeuge eines Gesprächs der später erschossenen Schauspielerin Saylor mit ihrem Bruder, der Geld von ihr erpresst und sie mit dem Tode bedroht. Derjenige, der dort gesprochen hat, muss der Mörder sein – nur ist auf diesen ›Filmstreifen‹ eben niemand zu sehen. Der Kriminalrat fügt diese Stimme mit anderen ›unsichtbaren‹ Stimmen zusammen, von denen vorher in Zeugenaussagen berichtet worden war: eine Stimme, die der Maurus am Telefon verraten hatte, dass Frank sich mit der Saylor trifft, sowie die Stimme einer Person, die, wie die Garderobiere zu berichten weiß, mehrfach hinter verschlossener Garderobentür mit der Schauspielerin gesprochen hatte. Holzknecht ermittelt, dass diese Stimme wohl zum Komparsen »Seemann-Thoeren« gehört, der in der Anfangsszene den Diener spielt. Die Saylor, der Filmstar, hatte eben eine internationale Version ihres Namens »Seemann« angenommen, während ihr Bruder bei der deutschen Fassung geblieben war. Aber um mit Sicherheit festzustellen, dass die Stimme auf der Tonspur tatsächlich zu Seemann gehört, wird dem Verdächtigen die Aufnahme in einer merkwürdigen Schuss-Gegenschuss-Sequenz von seinem Gesicht und dem Lautsprecher vorgespielt. Seemann erkennt sich selbst auf der Aufnahme wieder, sieht sich überführt und versucht zu fliehen. Damit ist er endgültig identifiziert und die Verbindung von Ton und Bild hergestellt. Im Film. Wenn dieser Film jedoch von Tonfilm han-

26 | Mit Bruno Latour könnte es auch »Berechnungszentrum« genannt werden. Vgl. Latour, Bruno: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. In: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld, 2006. S. 259-307. S. 300ff.

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deln sollte, dann verfehlt er sich damit gleichzeitig gewissermaßen selbst. Aber in einer sehr aufschlussreichen Weise. Erstens: Der Film verschiebt die Lösung des Falls letztlich auf die diskursive Ebene der Aussagen und Handlungszusammenhänge, vom Schuss auf die Zeugenaussagen und die Stimme Seemanns, die das Geschehen rekonstruieren lassen. Tatsächlich kommen die »akustischen Dinge« hier eher nur »zur Sprache« und nicht so sehr zu sich selbst. Siegfried Kracauer hat deswegen den Schuss im Tonfilmatelier anders als der begeisterte Erich Kästner nicht als einen sehr ›tonfilmischen‹ Tonfilm gelten lassen: »Schon bei Gelegenheit des Films H OKUSPOKUS habe ich darauf hingewiesen, daß die Nachahmung des Theaters den Tonfilm in eine Sackgasse lockt. Was damals gesagt wurde, trifft auch auf das jüngste Ufa-Erzeugnis [D ER S CHUSS IM TONFILMATELIER , J.P.M.] zu. Die großen Chancen des tönenden Films werden vertan, wenn man die Leute Dialoge führen läßt wie auf der Bühne und eigentlich nur die Zahl der Szenen vervielfacht. Macht man die zusammenhängende Rede zum Handlungsgerüst, so ist das rein visuelle Geschehen eine bloße Zutat und kann sich nicht mehr ungehindert entfalten. Wie dürfte aber der Tonfilm die Eroberungen des stummen Films preisgeben wollen? Er muß sich vom Theater entfernen, um ganz er selber zu werden. Dazu gehört unter anderem, daß er sich nicht wie in diesem neuen Kriminalfilm vorwiegend aufs Wort stützt, sondern die Dialogform zerbricht und Bild und Ton gleich stark belastet.« 27

Die aufgezeichnete Stimme Seemanns erhält in dieser Geschichte ihre Identität gerade nicht, indem ein sprechendes Gesicht zu sehen und dessen Stimme gleichzeitig zu hören ist. Die Stimme kommt ›nur‹ aus dem Lautsprecher und bedarf, wie Altman es für die Situation des Zuschauers im Tonfilmkino beschrieben hat, einer Beglaubigung durch den Zuhörer/Zuschauer. Zweitens: Corinna Müller hat darauf hingewiesen, dass Der Schuss im Tonfilmatelier insofern inkonsistent sei, als dass die dargestellten Praktiken nicht die gleichen sein können, mit denen dieser Film selbst produziert worden ist.28 Neben der Tatsache, dass die Tonaufnahme27 | Kracauer, Siegfried: Film-Notizen (Der Tonfilm bringt es an den Tag). In: Frankfurter Zeitung (1.8.1930), hier zitiert nach: Ders.: Werke, Bd. 6.2. S. 389. 28 | Vgl. Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm. S. 368-372.

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geräte wegen der Kosten des Filmmaterials niemals so lange vor der Filmaufnahme gelaufen wären,29 weist Müller auf bestimmte Kameraperspektiven hin, die das Studio in der Totale von oben zeigen und offensichtlich von einer Beleuchterbrücke aus aufgenommen wurden.

Filmstill: Der Schuß im Tonfilmatelier Mit der schallisolierten Kamerakabine, mit der »Eifersucht« – der Film im Film – hergestellt wird, hätten aber diese Einstellungen niemals realisiert werden können, da man diesen Kasten unmöglich auf die Beleuchterbrücken hätte bewegen können. Es gab eben 1930 bereits Kameras, die zwar zur Schalldämpfung dick eingepackt wurden, aber durchaus beweglich waren.30

29 | Vgl. ebd., S. 369. Auch hätte dieser Filmstreifen zumindest erst einmal entwickelt werden müssen, bevor er hätte abgehört werden können. Allerdings konnte im Tonkreuz tatsächlich gleichzeitig eine Schallplatte geschnitten werden, die nach der Aufnahme für die sofortige Kontrolle des Tons durch den Regisseur zur Verfügung stand. Vgl. Umbehr: Die Halle in Neubabelsberg. S. 472. 30 | Letztlich ist die Sachlage sogar noch etwas komplizierter. Derartige mobile, schallisolierte Filmkameras sind im Tonfilmatelier in Neu-Babelsberg schon von Anfang an mit eingeplant, sie lassen sich jedoch nicht bei jeder Gelegenheit verwenden: »Die Kameras befinden sich entweder in dicht anschließenden Filzumhüllungen, oder aber für Nahaufnahmen in großen schalldichten Kästen.« Umbehr: Die Halle in Neubabelsberg. S. 471.

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Filmaufnahmen: Der Schuß im Tonfilmatelier Ich habe schließlich den Verdacht, dass dies nicht so sehr als ein augenzwinkernder Hinweis an jene Zuschauer zu verstehen ist, die sich so gut auskennen, dass sie diesen ›Fehler‹ bemerken und dann hier über die Bedienung von Tonfilmmythen schmunzeln können.31 Vielmehr braucht es vielleicht diese Übersicht als eine Art überwachende und einheitliche Gesamtperspektive für das Argument, dass die Aufteilung der Kanäle, die die Bedingung für den Tonfilm darstellt, im Film letztlich überwunden werden kann, und dass die »verwirrende und unbehagliche Auflösung des optisch-akustischen Gesamtbildes« nur so lange ertragen werden muss, bis der Fall gelöst ist.32

31 | Vgl. Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm. S. 371f. 32 | Ich danke Marianne Geist, Marion Herz und Ulrich Pagel für ihre Hilfe in den verschiedenen Bearbeitungsstadien dieses Texts.

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Abbildungsverzeichnis S. 117: Bundesarchiv Filmarchiv, Berlin-Wilmersdorf, Zensurkarte Barch B. 26299. S. 119: Deutsche Kinemathek, Berlin. S. 120: Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin in der Universitätsbibliothek, Inv. Nr. 9472. S. 125: Altman, Rick: Moving Lips: Cinema as Ventriloquism. In: Yale French Studies 60 (1980): Cinema/Sound. S. 67-79. S. 75. S. 127: Fischer, Fritz/Lichte, Hugo: Beschreibung des Tonfilmateliers in Neu-Babelsberg der Ufa. In: Dies. (Hg.): Tonfilm. Aufnahme und Wiedergabe nach dem Klangfilm-Verfahren (System Klangfilm-Tobis), Leipzig 1931. S. 436-450. S. 437. S. 131: Bundesarchiv Filmarchiv, Berlin-Wilmersdorf. Mit freundlicher Genehmigung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden. S. 132: Deutsche Kinemathek, Berlin.

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Toter Briefkastenonkel Rembert Hüser

2007 wird der Tatort von 1973 in den Hintergrund verlegt. Hier ist es passiert.

Noch einmal drei Jahre später (mehr als 35 Jahre sind ins Land gegangen) werden wir aufmerksam. Wo kommt das Photo her? Wo wurde es gemacht? Worauf wird da so lässig hingewiesen? Was ist die Botschaft von Finger und Pfeil? Können wir hier noch fündig werden? Wir sind schon unterwegs. Dabei, uns ein Bild zu machen. Wo wir sind, wohin es gehen wird, wissen wir nicht. Mann und Frau, oben und unten, ein Fluss, eine Aussichtsplattform, ein Punkt hinter einer Insel, ein photographierter und ein gezeichneter Fingerzeig, die eine erste Richtung angeben. Der Wink allein hat offenbar nicht gereicht. Wer ihn alles noch gesehen hat, wissen wir nicht. Wir sehen uns mit einem Wissen konfrontiert, das an eine Lokalität und die Entzifferung von mindestens einem Code gebunden ist. Und das seine Lust aus einem Überschreiben der Codes zu ziehen scheint. Das Lokale glaubt wieder an seine Macht. Und teilt dies aller Welt mit. Wahrscheinlich haben wir schon eine ganze Menge falsch gemacht.

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R EMBERT H ÜSER

Das Photo findet sich im Internet und stammt aus einem Film. »Tatort – Tote Taube in der Beethovenstraße, Movie Made for TV, 1973.« Das Standbild mit unseren beiden Informanten und der Vogelperspektive, das den Fall für uns eröffnet hat, ist Teil einer Autoseite, der IMCDB, der Internet Movie Cars Database (nicht zu verwechseln mit der ImdB, der Internet Movie Database): »You will find here one of the most complete list on the web about cars, bikes, trucks and other vehicles seen in movies, image captures and information about them.«1 Die IMCDB ist in drei Sektionen gegliedert: in a) die Autos, b) Kommentare zum Film und in c) eine Leiste, die die Nutzer auffordert, Kommentare abzugeben. Die Seite ist damit strukturell unabgeschlossen. Die Autos als die Hauptdarsteller der neu erzählten Geschichte werden dabei nach einem ausgeklügelten Punkteschlüssel benotet. In einem Mix aus neu angelegtem Drive of Fame und historischer Inventarliste sind am Fuß der ›Helden‹ neben ihrem Namen und Baujahr ein oder mehrere goldene Sterne eingelassen, die ihre Wichtigkeit herausstreichen. 5 Sterne: »The vehicle is part of the movie«, 4 Sterne: »Vehicle used by a main character for a long time«, 3 Sterne: »Vehicle used by a character or in a car chase«, 2 Sterne: »Minor action vehicle or used in only a short scene«, 1 Stern: »Background vehicle« oder konkreter übersetzt in unseren Fall, den Fall der Toten Taube in der Beethovenstrasse: 1967 Ford 15M, ein Stern; 1965 Ford Taunus 17M, ein Stern; 1968 Mercedes Benz 200D, zwei Sterne; 1965 Opel Admiral, drei Sterne; 1966 Opel Rekord, drei Sterne; 1968 Volkswagen 1200, drei Sterne; 1973 Volkswagen 1300, ein Stern. Die Wagen treten hier in alphabetischer Reihenfolge auf. Die 1 | www.imcdb.org /movie_69349-Tator t-Tote-Taube-in-der-Beethoven strasse.html [26.3.2010].

T OTER B RIEFKASTENONKEL

zeitlich sukzessive Abfolge des Films ist aufgebrochen. Wir wissen ab sofort, dass in Tote Taube in der Beethovenstrasse, einem Film, der in zwei städtischen Räumen spielt, zwei Opel und ein Volkswagen in einer Verfolgungsjagd eingesetzt werden; auch wird kurze Zeit mit einem Mercedes gefahren. Dreimal, und, wie sich herausstellt jeweils genau in den Eingangs- und Schlusssequenzen, ist ein besonderes Auto im Hintergrund zu sehen. Ein amerikanisches (Ford) neben den Amerikanern am Boden, ein deutsches (Volkswagen) hinter der Deutschen mit der Waffe in der Hand. Bildinserts machen in zwei Fällen die Bezüge und die Bewegungen im Film deutlicher, doppeln die angeschossenen Amerikaner und zeigen den Benz in An- und Abfahrt von vorne und hinten. Wir sind schon einen guten Schritt weiter im Verständnis von diesem Film. IMCDB lässt sich als Ausdruck von etwas sehen, das als neue Form von Cinephilie beschrieben worden ist: »The new cinephilia of the download, the file swap, the sampling, re-editing and re-mounting of story line, characters, and genre gives a new twist to that anxious love of loss and plenitude, if we can permit ourselves to consider it for a moment outside the parameters of copyright and fair use.«2 Vielleicht könnte man im Falle von IMCDB sogar so weit gehen zu sagen, dass auf dieser Seite von Filmdilettanten Filmwissenschaft auf einem hohen Niveau betrieben wird. Die Autoliebhaber begreifen den Film, indem sie mit ihm für ihre Zwecke arbeiten. Sie schneiden ihn neu, erarbeiten ein Kondensat: Tote Taube in der Beethovenstrasse in sieben Bildern. Dabei sind es gerade die vergleichsweise kontingenten Suchkriterien, die die Seiten der Liebhaber so präzise machen. Der umfassende Verzicht auf Plotrekonstruktion, auf Star- oder Autorenpersona (was zählt, ist die Auto-Persona), das Hinzuziehen gänzlich anderer, externer Produktionsdaten und der mit all dem einhergehende Zugewinn an Abstraktion ermöglichen einen frischen Blick auf diesen Tatort, der zum Ausgangspunkt unserer Ermittlungen geworden ist. Als besonders produktiv erweist sich dabei, dass im Film fiktivisierend angelegte Sequenzen dokumentarisierend gelesen werden. Spielfilm oder Dokumentarfilm ist keine Frage, die weiterführt. Wichtiger ist zu demonstrieren, dass man gelernt hat, die Codes zu

2 | Elsaesser, Thomas: Cinephilia or the Uses of Disenchantment. In: Hagener, Malte/Valck, Marijke de (Hg.): Cinephilia: Movies, Love and Memory. Amsterdam, 2005. S. 40.

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wechseln, dass man innerhalb eines Films umschalten kann, ein und denselben Film mit anderen Augen zu sehen vermag. Wie und mit welchen Effekten verfährt nun diese Produktion? Und wie verfahren wir mit diesen Effekten? Wie sieht die Tote Taube in der Beethovenstrasse 30 Jahre später aus? 30 Jahre tot, was macht das mit einem Film? Und da fällt natürlich erst einmal auf, dass auf dem Photo mit dem roten Pfeil, das unsere Neugier erregt hat, überhaupt gar keine Autos zu sehen sind. Wir haben das Standbild aus der Kommentarsektion der IMCDB, deren Funktion es auch ist, Bilder aus dem Film, an denen man hängt, nicht verloren gehen zu lassen, nur weil sie nicht durch die vorgegebenen Suchkriterien erfasst werden. Einen anderen Teil des Lebens nachzuliefern. Hier ist Platz, sich weiter gehen zu lassen. Relax! Wir sind in der Chillout-Zone.

Die Beschriftung des Bildes durch »Ralph« aus Deutschland, der die Tote Taube in der Beethovenstrasse-Seite 2007 zur Database beigesteuert hat, bestätigt unseren bisherigen Befund. Der deutsche Film des amerikanischen Regisseurs, der auf der Fanseite namentlich keine Erwähnung findet, erzeugt Interesse, weil man sich in ihm auf einmal zuhause fühlen kann. »Hey, das kenne ich doch.« Und was man da im Einzelnen kennt und für andere identifiziert, werden nie nur Autos sein. Ralph verzeichnet daher in seinem Tatort-Auswertungsangriff einige dieser anderen Ebenen, die er wie seine Westentasche kennt, geradewegs in den von ihm dokumentierten Spuren. Er arbeitet ganz nah am Bild, positioniert Platzhalter für andere Geschichten direkt in den Film. Im Neudreh des Films sucht er sicherzustellen, dass spezifische Informationen nicht verloren gehen, und anderen Mut zu machen, es ihm gleich zu tun. Das Bild, das Ralphs Perspektive auf den Film auf den Punkt bringt, würde, wenn man dem Plot des Films folgen wollte, den Bösewicht neben dem Lockvogel auf einer Aussichtsplattform zeigen, auf

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der der amerikanische Ermittler gerade noch gepicknickt hatte. Das Moment phatischer Kommunikation sieht sich dabei gedoppelt, beobachtet sich im neuen Bild gewissermaßen selbst: Das Ungefähre, die Andeutung des Fingers von dem, der selbst zunächst Gegenstand der Jagd gewesen war, das Objekt der ersten Autoverfolgung mit dem Opel Rekord, wird mit dem roten Pfeil geerdet, präzisiert und pathetisiert. Bitte ganz genau hierauf achten. »He show us my home.« Das Englisch stimmt nicht, was aber auch nicht weiter wichtig ist. Wichtiger ist, dass er von hier aus, auf dem Boden der Plattform auf dieser Seite, mit aller Welt zu kommunizieren sucht und dabei ohne Weiteres verständlich ist. Und es macht Spaß, sich seine Entscheidungen anzuschauen. Ein zusätzlicher Link hilft bei der Spurensuche und verweist auf eine weitere WDR-Ausstrahlung, die zum besseren Ortsverständnis heranzuziehen wäre (»see also this movie Der Stich des Skorpion«). Es scheint noch mehr Indizien in benachbarten Filmen zu geben.

Der Blick auf die filmische Stelle im Hintergrund von Tote Taube in der Beethovenstrasse von einem anderen Film aus wird mit »Behind this island is my home«3 erläutert. Wo Ralph wohnt, scheinen Filme gedreht zu werden. Im Hintergrund vieler Filme wohnt der Fan. Die Seite gibt als Form der Anschlusskommunikation »social networking« an. Mit diesem Bild haben wir eine erste Annäherung, einen anderen Winkel. Die Insel ist zwar noch immer genauso weit vom Betrachter entfernt, und was gezeigt werden soll, bleibt auch weiterhin verborgen, aber mit zwei Bildern ist Bewegung in unsere Suche gekommen. Das erste Bild ist in Bewegung gesetzt, ein eigener Found-Footage-Film wird gedreht. Worauf es hier anzukommen 3 | w w w. i m c d b.o r g /m o v i e _ 4 4179 8 - D e r- S t i c h - d e s - S k o r p i o n . h t m l [26.3.2010].

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scheint, ist, ein Zuhausesein abzugleichen und mit anderen zu teilen. Kommuniziert und inszeniert wird ein Vertrautsein, das über Biographie hinausreicht. Was ist der Grund dieses Photos? Wohin haben wir uns mit dem Photo von zwei Schauspielern von Anfang der 1970er Jahre und dem Pfeil auf eine Insel, hinter der sich irgendetwas verbergen soll, begeben? Worauf haben wir uns eingelassen? Handelt es sich um mehr als das mediale Update des Kugelschreiberkreuzchens auf Ansichtskarten an Mutti und Freunde? »Du wirst es nicht glauben, wo wir sind!« Was ist das für ein Social Networking, das der Film genau anspricht? Doch zurück zu der Stelle, die uns noch immer beschäftigt, einfach nicht loslassen will, und zu ihrem Grund. Samuel Fuller, der Regisseur von Tote Taube in der Beethovenstrasse, hat in seiner pulp novel gleichen Namens, die er ein Jahr nach dem Film veröffentlichte, den Ort, an dem diese Szene spielt und von dem aus man die Insel sehen kann, sehr genau beschrieben und selbst in ein Bild kondensiert. Das Buch hält sich hier an die Zweiteilung, die der Film nacheinander vollführt: erst die Ansicht von außen am Morgen (inklusive des Betretens des Ortes), dann die Auflösung des Bildes in situ am Nachmittag. In deutscher Übersetzung, der Blick von außen: »In wagnerianischem Morgennebel sah die Steinspitze des sagenumwobenen Drachenfelsen durch eine gespenstische Welt unwirklicher Wolken. Als Sandy diese Spitze anstarrte, […] dachte er an eine Postkarte, die er von Johnson erhalten hatte, als die Jagd seinen Partner nach Deutschland führte. Es war die Ansicht eines Felsens – die Lorelei am Rhein. Sie wirkte nicht so hypnotisierend wie die Spitze des Drachenfelsen. Und genauso gebannt hatte er sich gefühlt, als er die Büste von Beethoven anschaute.« 4

Wenn wir dem Ganoven dabei zusehen, wie er über die Brüstung zeigt, stehen wir selbst auf der Aussichtsplattform vom Drachenfels. Wir stehen also auf etwas, das sich wie der Kopf und die Schultern Beethovens ausnimmt. Mit anderen Worten, ganz plastisch: In unserer Beobachtung stehen wir Zwerge auf den Schultern eines Beethovendenkmals. Ganz so wie der Name des Regisseurs im ersten Vorspannbild nach dem Tatort-Logo auch auf einem Beethovendenkmal steht. 4 | Fuller, Samuel: Tote Taube in der Beethovenstraße. Köln, 1973. S. 144.

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Das sieht Fuller ähnlich. Es ist der Vorspann der Einzelfolge, der auf den Tatort-Serienvorspann folgt, der Naoum Aronsons Beethovenbüste im Garten des Beethovenhauses in Bonn mit Fullers Namen überschreibt und erste Lektüren programmiert. Gespielt wird hier, nicht unironisch,5 mit vermeintlichen Selbstevidenzen und Verwandtschaften. Wie man in seiner Autobiographie nachlesen kann, ist Fuller mit Beethoven seit jeher per du. Die alten und die neuen Meister? Sieht man doch! 1973 war Beethoven mit Fuller nach Deutschland zurückgekehrt. Fuller setzt sich selbst ein Denkmal. Beethoven, der im Bereich der Musik ist, was die Loreley im Bereich der Felsen ist, ein Sinnbild deutscher Nation für das 19. Jahrhundert, ein Kanonriese auf dem Gipfel der Macht der Berge, steht in diesem Film selbst auf dem Kopf. Wie sind die Zufahrtswege organisiert? Wo bitte geht es 1973 und 2009 zum Beethovendenkmal? »Haydnstraße, Brahmsstraße, Bachstraße. Later that night, Johnson and I forced open the backdoor on a building situated at 24-28 Beethovenstrasse. What a great name for a street! It was pitch-black in the place, so we crawled around on our hands and knees looking for a spot to lie down. I cracked my head on what felt like a big table. Then I realized it was a grand piano. We stretched out on the floor and fell asleep. In the first light of 5 | Die Beethovenbüste springt im Film für den Karneval ein. »They [the people of Cologne] have a song […] ›Please, please, don’t ask for my name.‹ For the movie’s opening credits, it seemed like a good idea to have the whole cast and crew dress up in wild Carnival costumes so the audience would know we weren’t taking ourselves too seriously.« (Fuller, Samuel: A Third Face. My Tale of Writing, Fighting, and Filmmaking. New York, 2002. S. 453).

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dawn, I woke up and saw the bottom of the piano over my head. Johnson was snoring away. In the half-light, I made out a music stand holding a large composition book. I moved closer. I look at the notes scribbled all over the sheet music. Then I rose to my knees to inspect the title of the piece. ›Heroica‹ was majestically written at the top of the page. It was clearly signed: ›Ludwig van Beethoven‹. My mouth was agape. For Chrissakes, the street name made sense! We’d stumbled into Beethoven’s childhood home! I got to my feet and looked carefully at all the framed letters, paintings and busts in the house. The place had been turned into a museum.« 6

Aber das ist 1945. Spulen wir noch einmal vor. Januar 1973. Keine drei Jahre nach Beethovens Zweihundertstem. Es ist noch immer Inventur. Zwischen dem Fadenkreuz der Tatort-Serie und dem Blick von heute ins Blaue, dem Blick auf die Vogelperspektive, die Beethovenbüste aus dem Garten, die wir alle kennen, von oben nach unten unmerklich fast ins Bild gerückt, den Kopf leicht geneigt. Das alternierende Blau und Weiß der Graphik hat eine Auszeit in Schwarzweiß genommen und zu einem Photo übergeleitet, bevor es blauweiß weiter in den Filmhimmel geht. »Beethoven« und »Himmel« passt, die Büste in Schwarzweiß verweist auf frühere Zeiten und macht das Photo zum Dokument. Und führt damit, wie das so ist mit Superhelden, ein zweites Logo ein. Ein Denkmal als Logo. Beethoven wird einer der Tatorte sein, mit denen wir es im Folgenden zu tun haben werden. Beethoven als eigene Einstellung zwischen Tatort und Luft positioniert sich im öffentlich-rechtlichen Fernsehfilm von 1973 anstelle einer Widmung. Auf die Büste der Kanonfigur hat der Regisseur seinen Possessory Credit eingetragen: »Beethoven, gez. Samuel Fuller«. Zwei Kanonfiguren grüßen sich durch die Jahrhunderte. Ein ›Samuel-Fuller-Film‹ im Geiste Beethovens. Titel dieser Art sind unüblich im deutschen Fernsehen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen kennt keine Regiestars. Winke mit der Handschrift. 1973 werden Gewohnheiten dieser Art über den Haufen geworfen. Hollywood ist zu Gast beim WDR, hilft dem Tatort auf die Sprünge, und hat all seinen Glamour und seine Credit-Praxis im Gepäck. Augen und Kamera folgen dem Flug eines Vogels. Eine Wolke kommt in die Quere. Für einen Sekundenbruchteil ist der Vogel weg. BANG! Ein Schuss fällt, der Vogel ist wieder da und bewegt sich nicht 6 | Ebd., S. 208.

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mehr. Ist buchstäblich zum Still geworden, zur Graphik. Als Insert lesen wir weiß auf blau: »Tote«. Beinahe so, als habe der Schuss in die Wolke die Schrift ins Bild geschossen. Der Schuss sistiert das Bild und beschriftet es; wir Zuschauer bekommen eine erste Erklärung geliefert. Für den Polizisten hinter der Straßenecke ist der Schuss, der die Bewegung anhält, der Startschuss. Er rennt los, die SnareDrum setzt ein, haltet ihn!; die Vollzugsorgane sind in Bewegung geraten. Die Verfolgung wäre damit auch offiziell aufgenommen. Das eine Wort reicht da nicht mehr, kann so nicht stehen bleiben. Tote? Wieviele Tote? Geht es nicht etwas genauer? Der Titel wird präzisiert, das Wort war ein Adjektiv. Der Vogel, der noch immer am Himmel ist und sich noch immer nicht bewegt, ist als »Tote Taube« klassifiziert. Der Polizist rennt weiter. »In der«, wie es weiter eingeblendet heißt, ja, der Vogel hängt in der Luft, und dann sehen wir endlich Klartext, die Lokalisierung: das Straßenschild »Beethovenstraße« an der Mauer an der Ecke. Wir sind auf der Erde angekommen. Und da, wir hatten die ganze Zeit über die Taube gesehen, rauscht auch schon ein Körper an uns vorbei und schlägt auf dem Pflaster auf. Die abgeschossene Taube landet als toter Beobachter. Die Möglichkeit des Überblicks ist aufgehoben, die Wahrheit auf dem Platz. Es ist wie ein Witz auf 2001 – A Space Odyssey, den Vorläufer von Clockwork Orange-Beethoven, der zwei Jahre vor dem Tatort in die Kinos gekommen war. Nicht ein hochgeworfener Knochen wird zum Flugobjekt, sondern ein abgeschossener Flieger zum Bündel toter Knochen. Ein Bild wird gemorpht, eine Metapher (»Tote Taube« im Sinne von »geborener Verlierer«)7 buchstäblich gelesen, mortifiziert. Irgendjemand kommt herbeigelaufen und durchsucht die Taschen des Toten, der einmal eine Taube war. In einer Innentasche findet er, wonach er gesucht hatte. Die Taube wird zur Brieftaube. Die Leiche der Taube auf dem Pflaster unter dem Schild »Beethovenstraße« mit dem Brief im Anzug hat sich als ein Behälter für tote Buchstaben herausgestellt, ein ›Toter Briefkasten‹. Auch der Polizist hat mittlerweile diesen Kasten erreicht und ihn auf die Schnelle fachmännisch untersucht. Er zieht die Waffe, verfolgt den Flüchtigen und nimmt ihn fest, nachdem er ihm ins Bein geschossen hat. Vorne an der Beethovenstraße beschnuppert derweil ein Hund den Halb-

7 | Samuel Fuller in: Weigel, Herman: Dead Pigeon on Beethoven Street. Interview mit Samuel Fuller. In: Filmkritik, 193/1 (1973). S. 29.

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Mensch-halb-Taube-Briefkasten, der immer noch auf der Straße liegt, und apportiert etwas aus dem Rahmen der Einstellung heraus. Die ersten möglichen Nutzer des Archivs wären damit vorgestellt: Dieb, Polizist, Philologe (»Fidelitas«). Was fangen wir jetzt mit diesen ersten Informationen an? Wie lesen wir die verschiedenen Botschaften von Straftat, Gesetz und Kommentar, die in einem ominösen Umschlag stecken? Samuel Fullers Tatort Tote Taube in der Beethovenstrasse von 1973 ist offensichtlich ein Film über Botschaften. Und über das Decodieren. Dafür werden gleich zwei Ermittler bereitgestellt. Eine transatlantische Kooperation nimmt ihren Lauf. Der deutsche Zollfahnder und der amerikanische Detektiv verständigen sich über das Problem und die Herangehensweise. Es ist klar, dass wir es fortan fortlaufend mit Übersetzungsproblemen zu tun bekommen werden. Der einzige Tatort, der jemals auf Englisch gedreht worden ist, stellt somit ganz konsequent das Problem der Übersetzung an seinen Beginn. Das Amerikanische ins Deutsche zu übersetzen und vice versa, wird dabei in die Frage, wie sich ein deutsches Fernsehformat zugleich Hollywood-amerikanisch und Autorenfilm-europäisch ausfüllen lässt, überführt. Wie kann man Sprache im Sinne von Filmsprache wieder in eine Industrie einführen, die die Kategorie des fremdsprachigen Films partout einzig und allein auf der Ebene des Tons angesiedelt haben will? Die per Definition festlegt, dass das, was fremdsprachlich ist, nicht die filmischen Codes betrifft und dass Filme ›in‹ bestimmten Sprachen gedreht werden, wobei die englische Sprache als einzige unmarkiert bleibt?8 Gegen Hollywoods Verständnis von Filmsprache als mündliche Rede, das sein vermeintliches Monopol auf eine universelle Zeichensprache zementieren soll, wird vom Hollywood-Tatort das Filmfremdsprachliche des Codes mobilisiert.9 Die vielen Facetten der Konstruktion markierter beziehungsweise unmarkierter, verständlicher beziehungsweise unverständlicher Körper sind in Tote Taube in der Beethovenstrasse durchweg Teil des Spiels. Markiert sind die Körper dabei in einem Film, der sich um den großen deutschen Beethoven-Eigennamen dreht, der in amerikanischen Re-Educationfilmen für Deutschland 1945 als das genaue Gegenteil 8 | Mowitt, John: Foreignness and Language in Western Cinema. In: Ders.: Re-Takes. Postcoloniality and Foreign Film Languages. Minneapolis/London, 2005. S. 47. 9 | Ebd., S. 63f.

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vom Holocaust fungiert, dem Tatort Deutschland, der subkutan natürlich mitläuft, zunächst nicht von ungefähr auf der Ebene der Eigennamen. Der deutsche Bösewicht heißt Charlie Umlaut, verkörpert also das, was es in Amerika nicht gibt. Der Oberbösewicht in seiner Fechtkammer heißt Mensur, überführt also die Ritter des deutschen Mittelalters in den Schmiss der deutschen Burschenschaften; dazu tritt noch Dr. Bogdanovich auf, jener Kritiker also und Interviewpartner großer Regisseure, der selbst Regisseur geworden ist. Fast didaktisch deutlich wird das Zuhausesein im vor allem filmischen Code, der auf den Dialog sehr wohl verzichten kann, in einer Szene aus dem Anfang des Films. Den amerikanischen Privatdetektiv verschlägt es bei der Verfolgung des Lockvogels in die deutsch synchronisierte Kinovorführung von Howard Hawks Rio Bravo im Kölner Kino Die Lupe. In einem Mix aus Irritation (»›Joe, Du bist unter Arrest.‹ ›Schon möglich.‹«) und Amüsement (»›Ich habe nur das alte Humpelbein im Gefängnis und diesen…‹ ›Borachori ist der Name, Mr.Wheeler.‹«) über das Gehörte, der alsbald in Geborgenheit umschlägt, vergisst er den Zweck seines Besuchs.10 Zu Beginn von Tote Taube in der Beethovenstrasse vergewissern sich beide Ermittler aber zunächst noch einmal über den Gegenstand in Frage. Der Deutsche muss allererst die tote Taube erkennen. Eine tote Taube ist offensichtlich jemand, der nichts mehr werden kann. Der Verlauf des Films wird deutlich machen, dass es an uns ist, den Ermittlern beim Dechiffrieren zu helfen. Wir sollten uns daher selbst klar machen, was ein Toter Briefkasten ist. Wie sieht er aus? Wie kommt man an ihn heran? Offensichtlich sind zwei Dinge im Umgang mit Toten Briefkästen zentral. Man muss eine Vorstellung davon haben, wo man so einen Briefkasten findet, vorab Informationen von Informanten erhalten, die auf seine Lage und Funktion verweisen, und man benötigt eine Zugriffstechnik, um die Informationen, die er enthält, zu aktivieren. In Fullers Tatort, der 1973 in zwei Originalen, zwei unterschiedlichen Versionen für zwei Märkte – das amerikanische Kinopublikum und das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehpublikum – gedreht worden ist, hatte uns der Umschlag, den die tote Taube mit sich führte, nur eine verschlüsselte Adresse geliefert. Einen Verweis auf einen 10 | Glenn Corbett im Kino in einem John-Wayne-Film ist auch ein CastingWitz. Corbett ist durch Rollen an der Seite von John Wayne in C HISUM und B IG JAKE bekannt geworden.

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zweiten Ort, den nächsten, der wiederum zu einem anderen, nächsten Ort führen wird, und so weiter. Um das herauszufinden, musste der Umschlag nicht einmal geöffnet werden. Der Tatort Tote Taube in der Beethovenstrasse, der letzlich nur eine Schleife vom Beethoven-Schild an der Ecke zurück zum Beethoven-Schild an der Ecke beschreibt, hat in seiner Mitte das Beethovenhaus in Bonn. Dieses Haus ist der Dreh- und Angelpunkt von Konstruktion und Reihenbildung: der tote Briefkasten, auf den die unterschiedlichen Codes Bezug nehmen. Für sein jeweiliges Publikum hat Fuller das Beethovenhaus im Film in zwei Varianten gebaut. Für das amerikanische Kino ist das unvermittelte Auftauchen des Doubles ein bloßer Anbau, auf den verzichtet werden kann: »Sandy klapperte die untere Etage ab, dann ging er nach oben zum ersten Stock, lief durch fünf Zimmer, vorbei an Porträts von Leuten, die im Leben des Komponisten eine wichtige Rolle gespielt hatten. Im letzten Zimmer wurde er fündig. Eine reizende junge brünette Dame lächelte ihn an. Um sicher zu gehen, drehte er um und schlenderte langsam durch den sehr engen Korridor zurück. Er trat in eine Kammer und tat so, als interessiere er sich für Beethovens Taufschein. […] Verena schlug ihm mit der Kraft einer Feder ins Gesicht, stürzte in den engen Korridor, wirbelte herum – ihr ganzer schmächtiger Körper bebte vor Empörung. ›Wie können Sie es wagen, mich auflesen zu wollen wie eine Hure?‹ Verena ging wütend den Korridor entlang, drehte sich um und rief: ›Und gerade hier!‹, marschierte weiter, wurde kleiner und kleiner, drehte sich wieder um, ihre schwache Stimme brach vor Erstaunen: ›Hier!‹ Sie erreichte das letzte Zimmer, in dem Sandy sie zum ersten Mal gesehen hatte, wirbelte wieder herum, sie war jetzt nur noch ein Punkt. ›Beethoven!‹«

Und hier, nach diesem Umweg, dem Hin und Her durch die Korridore, das durchaus als kürzeste Verbindung von A zu B verstanden werden könnte, werden auch die amerikanischen Filmzuschauer wieder zugeschaltet:

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»Im hinteren Teil des Hauses, im zweiten Stock, war das kleinste Zimmer des Museums. Eine Bodenkammer mit einer sehr niedrigen Decke und einem kleinen Fenster. Auf dem nackten, geworfenen [sic!] [»warped« verzogenen, R.H.] Holzboden stand eine Marmorbüste Beethovens, daneben ein Kranz. Es war so einfach, so eindrucksvoll, daß selbst Sandy, als er in das Zimmer blickte, eine ganze Weile dort stand und gebannt war, ohne zu wissen, warum. Eine dicke Samtkordel, die vor den offenen Türrahmen gespannt war, schloß die Besucher aus. ›In diesem Zimmer wurde er geboren.‹ Christas Stimme gab Sandy ein heimatliches Gefühl. […] ›Sie sollten sich wirklich schämen, […] fremde junge Mädchen in diesem Haus zu belästigen.‹«11

Vom Taufschein zur Neugeburt. Die Rückbewegung an den Anfang, der Eintritt ins Museum, die Zimmer-Flucht der irrtümlich Adressierten sind zuviel für die USA. »Beethoven« in seinem Gehäuse ist ein Case of Mistaken Identity, ein Verwechslungsfall. Seine vermeintliche Selbstevidenz entpuppt sich als großes Missverständnis. Geboren wird er immer wieder anderswo. Die beiden Deutschen und der Amerikaner und die zugeschaltete andere Deutsche gehen im Reich der Hörrohre auf und ab. Der Herr des Hauses, der große Name auf dem toten Briefkasten, der große Tote Taube in der Beethovenstrasse: Er antwortet nicht. Um an der Kommunikation teilnehmen zu können, muss er aus seinem Arrangement herausgelöst werden. Petrifiziert im Klassikermuseum, einer Weihestätte, ist er nur eine tote Brieftaube mehr auf dem großen Klassikerfriedhof. »Jemand der nichts mehr werden kann«. Es muss ihm daher auf seinem eigenen Feld geholfen werden.12 11 | Fuller: Tote Taube. S. 113-117. 12 | »We went to Bonn to shoot a scene in the Beethoven Museum. […] The museum director appeared at the entrance and said that having our film crew inside the building was out of the question. The floors were too frag-

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»SCHMIDT: Der Umgang mit Live-Elektronik kam von Stockhausen, der Umgang mit Ringmodulatoren. Mein Alpha 77, der erste Synthesizer, mit dem man auf der Bühne live, spontan spielen konnte, den erwarb ich unter Stockhausens Einfluß. Von Cage lernten wir, daß die Klänge unserer Umwelt zur Musik gehören, vom Fluxus, wie wichtig spontane Aktionen sind. […] CZUKAY: […] Vor allem Jaki hat gesagt: Wenn man etwas Neues machen will, dann muß man ganz von Anfang anfangen und nicht auf dem Bisherigen aufbauen, nicht auf eine Turmspitze noch eine Turmspitze draufsetzen. Wir müssen von unten anfangen. Das bedeutet, daß man erst einmal wieder bis vier zählen muß. Wir haben es sofort gemerkt: Tatsächlich, wir konnten nicht bis vier zählen. Wir konnten es wirklich nicht. […] In dem Moment, wenn Sie sich in so einer Band kreativ einbringen, vergeht Ihnen erst einmal das Zählen. Sie haben auch noch nicht das große Gefühl für die 4er-, 8er-, 16er- und 32er-Perioden, die man sozusagen ohne zählen in sich hat. […] VON BIEL: Morton [Feldman] hat zu mir gesagt, das Einzige, was du vergessen mußt, sind Kontrapunkt, Harmonielehre, abendländische Musikgeschichte und die Theorien aus Darmstadt.«13

In Tote Taube in der Beethovenstrasse wird das Thema der Kölner Loopspezialisten CAN immer wieder aufs Neue zerlegt, variiert und in lange Schleifen gesteckt. Dem Soundtrack kommt die Funktion zu, die Ablösung und den Ortswechsel deutlich zu machen, das heißt den Film und seine Schnipsel auf eine Art und Weise zusammenzuhalten, die sie zugleich als Abweichung von der Norm auch immer wieder zerfallen lässt. Dass CAN im Tatort 1973 für Beethoven einspringen, ist alles andere als ein Zufall. Aus Vitamin B, dem Hilferuf an den mächtigen Freund, wird der Song Vitamin C, die Unterstützung der Abwehrzellen. Es ist genau diese Vitaminspritze, die für ile. I asked if I could take a walk through the museum with Herr Direktor. Holding the man by his arm I strolled into the place. After a few puffs on my cigar, I asked him how they’d moved the piano on such a fragile floor. The director was caught off guard, curious how I knew about the original position of Beethoven’s piano. I also told him there used to be a portrait of an Indian chief above the piano. The young Beethoven was crazy about American Indians.« (Fuller: A Third Face. S. 454). 13 | Zahn, Robert von et al.: CAN. Hg. von der Kunststiftung NRW. Köln, 2006. S. 45, S. 52-53, S. 55.

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den Bildungsauftrag des deutschen Fernsehens dringend an der Zeit war. Der schnelle Übergang von der Fünften im Vorspann, also da, wo das Copyright sitzt, zur elektronischen Avantgarde dieser Jahre, einer Musik, die nicht die von Beethoven ist, sich aber unmittelbar auf sie bezieht, hält gleichermaßen die Zeit- und Mediendifferenz wach: 1969 hatte der SPIEGEL Adorno zum bevorstehenden Beethovenjahr interviewt: »SPIEGEL: [G]ibt es eine spezifische Form für die Musikdarbietung im Fernsehen? ADORNO: Das ist der springende Punkt. Man begnügt sich nämlich damit, wie das etwa ganz ähnlich auch in der Filmbranche der Fall ist, die bereits vorhandenen Kulturgüter auszuschlachten, zu verhökern, auch wenn das der Beschaffenheit der Medien kraß widerspricht, anstatt aus dem Medium selbst spezifisch neue Möglichkeiten zu entwickeln. Es gibt natürlich unter den avantgardistischen Künstlern eine ganze Reihe, die es anders meint.«14

Fuller zum Beispiel. Wie geht man nun mit den übrigen Codes um, die das Beethovenhaus anbietet und die durch den Film diffundieren? Filmische Codes, geographische Codes, politische Codes und dererlei mehr. Der Plot der Toten Taube handelt 1973 vom Ende des Kalten Krieges – es ist Land in Sicht, die ersten Testtauben können fliegen gelassen werden –, von einer Reihe von Dekolonialisierungsbewegungen von Schwarzen, Chinesen und Russen, inklusive ausgestellt schlechter, unglaubwürdiger Photomontagen von Mao und Breschnew sowie den Beharrungskräften des nicht totzukriegenden Kults des Originals. Es ist die Jagd nach dem Original, das das Leben bedroht und das den ganzen Film über den Hintergrund aller Bewegungen bildet. Gejagt wird das Negativ, ein Photonegativ, mit dem von Deutschland aus der amerikanische demokratische Präsidentschaftskandidat, der gegen Nixon antritt, erpressbar geworden ist und mit dem, auf einer anderen Ebene, zugleich die Bildmedien ihren Anspruch auf Macht anmelden. Die Amerikaner müssen nach Deutschland kommen, um ihren zukünftigen Präsidenten zu retten. Den Deutschen die Kultur. Damit treffen die eigentümlichen Anziehungskräfte beider Kulturen

14 | Adorno, Theodor W.: Musik im Fernsehen ist Brimborium. Spiegel-Gespräch. In: DER SPIEGEL (26.2.1968).

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aufeinander. Beide Parteien kennen sich, bleiben sich aber zugleich elementar fremd. Tote Taube in der Beethovenstrasse antwortet auf solche Fremdheit und auf das problematisch gewordene Original mit der Multiplizierung dieses Originals, mit einem amerikanischen Kinofilm und einem deutschen Fernsehfilm, die stark voneinander abweichen, sowie mit mehreren Vorspannsequenzen, also einer wiederholten Einführung, die die Lektüre des Filmes doppelt programmiert. Beide scheinen für die jeweiligen Filmkulturen wechselseitig unverständlich zu sein. Schaut man genauer hin, führen alle Straßen in der Toten Taube von 1973 tatsächlich nach »Beethoven«, und das nicht nur deshalb, weil das Beethovenhaus ein großer Container in der Mitte eines Films ist, dessen Anfang und Ende eine Schleife bilden. Wo das Ende zum Anfang zurückkehrt und man sich zur »blutigen Vermählung«15 am Schluss wieder ein- und niederträchtig unter dem BeethovenStraßenschild einfindet, mit dem alles begonnen hatte. Alle Wege mit oder ohne Umweg führen zu »Beethoven 70«, das eine Chiffre dafür ist, wie Anfang der 70er Jahre über die Macht des kulturellen Kanons, Erzählweisen (filmische in diesem Fall) und Verfahren der Werkkonstitution nachgedacht wird. »Beethoven 1970« heißt damit abwechselnd »Fuller«, »Can« oder einfach »in the making«.16 Im 15 | Farocki, Harun: Dead Pigeon. In: Filmkritik, 195/3 (1973). S. 104. 16 | »Andererseits war auch bald klar, dass man mit Thriller- und ActionSehnsüchten in diesem kaputten Filmland nicht wirklich weit kommen würde. Einfach deshalb, weil solche schmutzigeren Träume von unserer FilmFunktionärskultur niemals angemessen finanziert werden würden. Also musste man auch bald schmerzhaft lernen, mit Fragmenten zu arbeiten, zu leben. Man musste lernen, mit relativ wenig Geld fürs Fernsehen eben jene Skizzen zu drehen, wie zum Beispiel Fuller sie einem vorgemacht hatte. Kleine Filme, in denen vielleicht einzelne Momente, Sequenzen oder Dialoge ahnen ließen, was möglich wäre in Deutschland – wenn wir denn mal eine andere Umgangsart mit dem Kino hätten […]. Die Vergeblichkeit dieser Vorhaben spürte man ja auch bereits in Fullers Tatort. Er erzählte so schnell, sprunghaft und experimentell – so als versuche der Film selbst, seinen Verfolgern zu entkommen. Es war wie mit dem echten Rheingold: Im Rhein war ja früher, vor seiner brutalen Begradigung im 10. Jahrhundert, noch echtes Gold zu finden. Es wuchs in den flacheren Abschnitten, verborgen, vereinzelt, aber verlässlich. Als der Fluss dann all seiner Biotope, Inseln, Schlei-

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Tatort Tote Taube in der Beethovenstrasse ist der Tatort, um den sich alles letztlich dreht, der eigene Arbeitsplatz und der aller unserer Kollaborateure. An die Stelle eingespielter Kanonfeiern treten der spielerische Aufbau und die Auflösung vermeintlich selbstevidenter Reihen. Die Filmkritik sollte Filme drehen. Zu dem Zweck wird, fast wie in einer Laborsituation, in einer Versuchsanordnung zuerst einmal Fremdheit hergestellt. Es ist die Erfahrung von Fremdheit, die, in ethnologischer Perspektive, allererst Variation in der Beobachtung zu erzeugen vermag. Zwei Logiken, die unterschiedlicher kaum sein könnten, werden zueinander in Bezug gesetzt: das öffentlich-rechtliche deutsche Serienfernsehen trifft auf die amerikanische Hollywoodfilm-Regielegende. Eine Struktur trifft auf ein Bild. Der auch im Tatort nie ganz preisgegebene Erziehungsanspruch, das in ihm manifestierte Vertrauen in die föderale Organisation des Staates, die die Themen, auf die es ankommt, schon ansprechen wird, trifft auf die Populärkultur. Dazu wird die ›Nachricht Beethoven‹, die schon etwas alt geworden war, durch die ›Nachricht Fuller‹ ersetzt: »Über die Tote Taube in der Beethovenstraße zu schreiben, heißt, über die Nachricht ›Fuller in Deutschland‹ und über einen Film zu schreiben. Beide Sachen fallen nicht zusammen. ›Fuller in Deutschland‹ erfuhr man in der Filmkritik von Schober, der sich Kraft für seine Wut auf die Filmleute in Deutschland bei Fuller auslieh, man erfuhr es vom Fernsehansager, von den Programm- und Tageszeitungen (›Hollywood-Regisseur Fuller‹) und ich erfuhr es von Autoren und Regisseuren um den WDR, die […] mit der Naivität, Skrupellosigkeit oder Virilität (= Amerikanizität) der Nachricht ›Fuller‹ kokettierten.«17

Mit den Worten der Autorenstar-Theorie: Auf Anregung des Filmkritikers Hans Blumenberg, der im Film die Rolle des Gehilfen des amefen und Umwege beraubt war, da war auch das Gold verschwunden. So ähnlich ist es auch mit dem deutschen Fernsehen: Je effizienter die Strukturen zurechtgehauen wurden, desto hohler wurden die Ergebnisse. Tote Taube in der Beethovenstraße ist wie verborgenes Gold. Ein vergessenes Geschenk an den deutschen Film.« (Graf, Dominik: Lernt schlechte Filme! Eine Erinnerung an die Siebziger, als die Hollywood-Legende Sam Fuller einen ›Tatort‹ drehte und der deutsche Film noch nicht am Kunstanspruch erstickte. In: DIE ZEIT (08.11.2007). 17 | Farocki: Dead Pigeon. S. 104.

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rikanischen Privatdetektivs spielen wird und im Photolabor arbeitet, fliegt der WDR Samuel Fuller aus Los Angeles ein, engagiert Jerzy Lipman, den Kameramann, der Polanskis Messer im Wasser photographiert hatte, steckt noch Stéphane Audran von Der Diskrete Charme der Bourgeoisie als Dreingabe kurzerhand in eine obskure Kellerszene und holt CAN statt des etatmäßig vorgesehenen Klaus Doldinger aus ihrem neuen Inner Space Studio, das in der Peripherie von Köln in einem alten Kino in Weilerswist untergebracht war. Was dabei herauskommt, ist »[e]iner der unordentlichsten von Fullers nie sehr ordentlichen Filmen«.18 Wie sollen wir nun die beiden »unordentlichen« Seiten der Gleichung verstehen? Beide wollen nicht so recht funktionieren – was gut ist, aber ein schwieriger Beginn für eine Kollaboration. »Fuller hat fast nur Filme an der Peripherie der US-Filmindustrie gemacht. Seine Filme sind europäischer als die Norm, bei der die Person des Autors nur durch die Fugen standardisierter Bausteine dringt. Aber sie profitieren von dieser Standardisierung der handwerklichen Regeln, die es bei Dramaturgen wie Bühnenarbeitern Hollywoods gibt. Sie profitieren von dem Vorhandensein des Rhythmus, den das Handwerk vorgegeben hat und den der Regisseur Fuller produktiv gestört hat.«19

Und was hat die andere Seite der Gleichung in die Waagschale zu werfen? »Das europäische Kino hat den Rhythmus selten gefunden, etwas wie ›das Gespräch, bei dem der Akt des Gehens aus unserem Bewußtsein verschwindet‹. Weil hier nicht alles standardisiert ist, ist es in seiner Improvisation meistens eine arme Stereotypisierung, im Gegensatz zu dem Reichtum, den eine Industrie in ihren Stereotypen aufgebaut hat. Das deutsche Fernsehen insbesonders ist in Features wie Fernsehspielen in einem schlechten Sinne ideelich. (Die Idee ist immer die rettende Idee.) Die Bilder werden zur Aussage vorgeladen wie Zeugen vor Gericht. Bedeutungen werden nicht erzeugt, sondern zugewiesen.« 20

18 | Oplustil, Karlheinz: Tote Taube in der Beethovenstraße (1972). In: Berg, Ulrich von/Groh, Norbert (Hg.): Fuller. Edition Filme I. Berlin, 1984. S. 169. 19 | Farocki: Dead Pigeon. S. 105. 20 | Ebd.

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Um den Deutschen die Ideen und den Amerikanern den Verlass auf das Stereotyp auszutreiben, wird nun den beiden Herangehensweisen 90 Minuten Zeit gegeben, um sich im und um das Beethovenhaus herum zu begegnen. Einer der amerikanischen Soldaten, die 1945 hier einquartiert waren, ist höchstpersönlich zurückgekehrt, um beiden Kulturen den Zugriff auf das versperrte Archiv erneut zu ermöglichen. Um Beethoven freizuschalten. Ein anderer Onkel Sam. »Mit Fuller kommt aus den USA die Attraktivität der einzelkapitalistischen Warenproduktion: der WDR steht in Köln angefüllt mit der Tristesse gesamtkapitalistischer Informationsproduktion. Die Leute vom WDR sind die Filmbeamten, Fuller setzt immer alles auf eine Karte. In manchen Dienstleistungen ist es zur Zeit unklar, in welcher Form eine Aufstauung menschlicher Arbeit stattfinden kann, die die Dienstleistung verbessert und den Anteil lebendiger Arbeit mindert. So ist das beim Fußball, bei der Gastronomie und im Bereich der Information, so beim Film. Da belebt die Konkurrenz das Produkt tatsächlich noch. Wenn man es hinnimmt, daß in jeder so belebten Arbeitskraft zwei tote verkörpert sind, kann man sagen, die Arbeitskräfte der amerikanischen Filmindustrie seien besser als die beim deutschen Fernsehen. Man kann das tun, man kann nur nicht diese Form der Belebtheit für Leben halten […]« 21

Klar ist allerdings auch: »Er [Fuller, R.H.] ist zu amerikanisch, um aus Leuten beim Fernsehen, die zum Teil lustlos einen Job machen, weil sie nicht gefeuert werden können, Leute zu machen, die lustvoll ihren Job machen, obwohl sie nicht gefeuert werden können.«22 Der Kampf von Arbeitsweisen um die Lust, ihr Acting Out, das in Tote Taube in der Beethovenstrasse Thema ist, das 18./19. Jahrhundert im 20., wenn man so will, lässt sich nur im Umweg über die USA verstehen – »I’m gonna write a little letter, gonna mail it to my local DJ.«23 Mit gewöhnlichen Tatort-Folgen hat dieser Film nur wenig zu tun.24 Die 25. Folge spielt zwar auf dem Boden der Bundesrepu21 | Ebd. 22 | Ebd. 23 | Berry, Chuck: Roll over Beethoven, Chess Records, 1956. 24 | »As soon as we’d arrived in Cologne, Joachim von Mengershausen screened a few films for me that were written and directed for Tatort, one of the country’s most popular TV shows. My movie would be the first broad-

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blik, deren föderale Struktur, ihr Stammesgedanke wird aber schnell zugunsten einer anderen Form von Fremdheit verlassen. Es kommt nicht von ungefähr, dass es die Figur des Zollfahnders Kressin ist, der Mann der Grenzüberwachung und Kontrolle von Ein- und Ausfuhr, der Dritte im Bunde der Tatort-Kommissare, dessen genussvoll ausgestellte Promiskuität und permanente Missachtung der Dienstregeln selbst schon für das deutsche Publikum gewöhnungsbedürftig war, dem das Experiment solange formal übereignet wird, bis er wegen einer Schussverletzung im Bein das Bett hüten muss. »Der Sprecher entschuldigte sich im Auftrag des WDR dafür, daß dieser Tatort ›trotz der deutschen Kulisse ein eher amerikanischer Film geworden ist‹ und erklärte: ›Wir zeigen ihn trotzdem…‹.«25 Mit amerikanischen Filmen hat der Film ebenfalls nur wenig zu tun.26 Einmal eingeflogen, wird im Labor des eingeführten Fernsehformats das lokale Wissen zweier Kulturen gegeneinander ausgespielt, die ihre Rolle beide nicht so recht wahrhaben wollen. Die erste Berliner Schule irrt, als sie 1973 Fuller kein Gespür für das Lokale einräumen mag. »Wenn es, wie beim WDR, kein Studio gibt, in dem die Standard-KameraOperationen möglich sind, dann muß man einen Originalschauplatz finden, der mit einigen, schwer definierbaren Eigenschaften, richtig gefilmt, wie ge-

cast on that show. The program’s ›realism‹ was admired in Germany in the late sixties. [The first Tatort is from 1970.] Hell, I wanted Dead Pigeon on Beethoven Street to be funny and self-mocking, bringing a breath of fresh air to their stale realism.« (Fuller: Third Face. S. 450). 25 | Schmidt, Eckhart: Samuel Fullers amerikanischer Tatort. In: Süddeutsche Zeitung (1972). 26 | »Although Dead Pigeon on Beethoven Street won enthusiastic support in Europe and among Fuller’s growing fan base, it continued the trend of limited domestic release for his films. Emerson Film Enterprises booked the picture into the Beverly Theatre in Los Angeles at the end of 1973 and allegedly at a handful of Midwestern drive-ins soon after; reviews in the Los Angeles Times and Boxoffice were favorable and considered the film within the aesthetic context of Fuller’s previous output. The release was so scrawny, however, that Fuller saw no revenue from his ownership of the American distribution rights.« (Dombrowski, Lisa: The Films of Samuel Fuller: If You Die, I’ll Kill You!. Middletown/CT, 2008. S. 183f.).

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baut erscheint. Rivette, Godard oder Straub finden diese Drehorte ständig. Fuller ist zu amerikanisch diese Orte zu finden.« 27

Fuller fährt 1972 nach Deutschland und findet das Beethovenhaus, mit dem er als Mitbringsel bereits vertraut ist. Es ist perfekt. Präziser geht es kaum. »Als wir um Köln herum drehten, waren wir glücklich, daß es hier in Deutschland Schauplätze gibt, die in keinem Film vorher benutzt worden sind. Ich meine jetzt nicht irgendwelche, aber wir haben eine Szene in dem Haus gedreht, in dem Beethoven geboren wurde und niemand hat vorher dort einen Film gedreht. Ich meine keine Dokumentarfilme, ich bin sicher, daß da schon Dokumentarfilme gedreht worden sind. […] Bonn ist ein wunderbarer Schauplatz […]. Die meisten Leute auf der Welt, wenn Sie sie fragen würden, welches die deutsche Hauptstadt sei, würden sagen Berlin.« 28

Das Haus taucht en passant auf und erscheint wie für den Film gebaut. Es fungiert als der tote Briefkasten, nach dem alle gesucht hatten, aus dem sich die verschiedenen Kommunikationen und Programmierungen abholen lassen, haben wir einmal seinen Zugangscode gelernt. Das Einzige, was wir vor Produktionsbeginn wussten, ist, dass die amerikanischen Soldaten 1944 bei ihrem Abzug aus dem Beethovenhaus die Schlüssel abgezogen hatten: »So wäre die freundliche ältere Dame, die eines Tages irgendwo in den Vereinigten Staaten beim Durchsehen der persönlichen Sachen ihres verstorbenen Mannes auf eine seltsame alte Box stieß, wohl selbst nie darauf gekommen, woher der Satz der alten Schlüssel darin tatsächlich stammte. […] Ihr früherer Mann hatte sie im Juni 1944 während seines Einsatzes als amerikanischer Besatzungssoldat kurzerhand für sich ›beschlagnahmt‹ und als sein ganz persönliches Andenken mit nach Hause in die USA genommen. Da allerdings gehörten sie beim besten Willen nicht länger hin, befand seine Witwe. Während der junge Mann die Schlüssel damals aus persönlicher Verehrung für Beethoven an sich genommen hatte, gab sie seinen Schatz aus demselben Grund nun wieder zurück.« 29

27 | Farocki: Dead Pigeon. S. 105. 28 | Weigel: Interview mit Samuel Fuller. S. 33. 29 | Strauch, Ulrike: Schätze aus dem Beethovenhaus. Bonn, 2004. S. 24f.

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2004, lange nach der Toten Taube, werden die zurückgekehrten Schlüssel offiziell in den Rang der »Schätze aus dem Beethovenhaus« erhoben. Im Katalog des Hauses sind die Schlüssel zu Beethoven aus Amerika ein Kapitel für sich: »Andenken, die aus Amerika kamen«. Wahrscheinlich sind es Autoschlüssel.

Tatort-Dinge Dominik Grafs Daniel Eschkötter

»Alltag kennt […] keine Grenzen. Alle Formen menschlichen Verhaltens und Tätigseins sind zu erkunden: Wahrnehmen ebenso wie Erleben und Deuten, zugleich Sich-Ausdrücken und beides – zielgerichtetes wie zielloses ›Machen‹, an Werkund Sonntagen, Tag und Nacht.«1

An Werk- und natürlich Sonntagen wird ermittelt, zielgerichtet, ziellos, wird Ermittlungen zugeschaut, wird Alltag, werden alle Formen menschlichen Verhaltens und Tätigseins erkundet. Mitunter tut sich etwas auf, ist etwas anders. Etwa so: Die Münchner Kommissare Batic und Leitmayr sind albern. Sie laufen über eine Wiese um die Wette. Sie erzählen ihrer Freundin Jenny dasselbe. Sie lassen die Mörderin laufen. Und zu allem stürmt es immer, und man schaut gen Himmel, und am Ende schauen alle gen Himmel, nur eine nicht, Jenny, die vorher nie schlafen konnte, die schläft jetzt, denn etwas ist gerade gerückt; aber nur etwas eben, und wenn in Dominik Grafs Münchner Polizeiruf Der scharlachrote Engel (2005) die Vergewaltigte Flo Engelhard ihren Vergewaltiger am Ende erwürgt und Edgar Selges Kommissar Tauber in der Küche ihrer Wohnung bewusstlos liegt und sie dem Vergewaltiger, der so körperlich, dreckig, röchelnd, tretend, spuckend stirbt, wie man nur selten stirbt zur besten Sendezeit, wenn sie den immer wieder brüllend fragt, ob es jetzt gut sei, und wenn die von Jessica Schwarz gespielte Unternehmertochter Sylvia in Kalter Frühling 1 | Lüdtke, Alf: Alltagsgeschichte – ein Bericht von unterwegs. In: Historische Anthropologie, 11 (2003). S. 278-295. S. 279.

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(2004) nach völligem Abstieg, Verrat und der von ihr erzwungenen Wiederaufnahme in die Familie qua feindlicher Übernahme des Familienunternehmens auf die Frage ihres Vaters »Alles gut?« mit »Ja« antwortet, ja, dann ist damit alles gesagt auch über dieses Ende, das Ende von Dominik Grafs Münchner Tatort Frau Bu lacht (1995) – denn gut ist was anderes. Der Mord in dem Fall, in dem Frau Bu lacht und Batic und Leitmayr manchmal lachen und man mitunter lacht, obgleich es recht eigentlich wenig zu lachen gibt, obgleich es eigentlich zum Heulen wäre, das Tötungsdelikt interessiert nur am Rande, es wird eher beiläufig geklärt denn aufgeklärt. Frau Bu lacht ist ein ausgelassener, überbordender Film, voll von szenisch, filmisch Nicht- und Dysfunktionalem, mit anderen Worten: ein Film Dominik Grafs. Dominik Graf macht, mit wenigen Ausnahmen, Filme zum alltäglichen Versenden, Fernsehfilme, Filmfernsehen, Fernsehen, in dem das zum Film kommt und zum Film wird, was das deutsche Kino ihm, dem Film, fast vollständig ausgetrieben hat, Filme, in denen das Fernsehen sich selbst nicht wiedererkennt (und sich, das heißt: ihn, dafür regelmäßig mit Preisen bedenkt). Darunter zwei Münchner Polizeirufe mit dem einarmigen Tauber und Jo Obermaier, zweimal Sperling, einiges vom Fahnder, Kommissar Süden und der Luftgitarrist im Jahr 2008. 2010 dann die kondensiert milieuhaltige, in den Tonalitäten oszillierende zehnteilige Serie Im Angesicht des Verbrechens über den Vitalismus der russischen Mafia in Berlin. Und zwei Tatorte sind Teil von Grafs Fernsehfilmographie, Schwarzes Wochenende mit Schimanski in den 1980ern, dazu 1995 Frau Bu, die eine Märchentante ist. Aufträge – und doch Einträge in eine deutsche Filmgeschichte. Graf hat das Melodram im Fernsehspiel radikal neu entdeckt; er hat die Begegnung und Schreibbeziehung der stigmatisierten westfälischen Nonne Anna-Katharina Emmerick und Clemens Brentanos erzählt als Historienfilm, der aussehen und klingen konnte wie ein Stück Nunsploitation-Kino (Das Gelübde), auch dies eine unerhörte Begegnung. In Dominik Grafs Filmfernsehen kann ein »Softporno aus den Achtzigern, der mal auf einem Lokalsender lief, […] für genau dreißig Sekunden noch eine andere Wahrheit [sagen]«.2 Mit Filmen und Texten skizziert und entwirft Graf mit Insistenz »die mög2 | Graf, Dominik: München – Die nackte Stadt. In: Wenzel, Eike (Hg.): Ermittlungen in Sachen TATORT. Recherchen und Verhöre, Protokolle und Beweisfotos. Berlin, 2000. S. 255-258. S. 258.

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lichen anderen Wege des deutschen Films«, die man hätte einschlagen können, Genrefilmen folgend, mit Derrick und dem Kommissar, vor allem den von Zygmunt Brynych inszenierten Folgen, »Rabenalts Horrorfilm Alraune in den Fünfzigern mit Hildegard Knef, Hans H. Königs düstere[n] Heimatfilme[n], Klaus Lemkes irre[n] Hamburger Kieztouren in den Siebzigern, Roland Klicks Filme[n]«.3 Seine Filmgeschichte ist eine des Genres: des Melodrams, vor allem aber des Polizeifilms, gewendet zum, gelesen als eine des Alltagsfilms: Der Kommissar macht seine Arbeit im Wissen um alle Zusammenhänge, um alle Drähte der Politik, der Unterwelt, des großen Geschäfts. Er ist ein Feldforscher der soziologischen Katastrophen. Er wird am Gang der Dinge nichts ändern. Er steht einsam im Zentrum des Sturms, der die Gesellschaft durchzieht, und sieht den Müll vorbeifliegen, den dieser Sturm aus den hintersten Ecken aufwirbelt. Im Polizeifilm fließen die Elemente Politthriller, soziologisches Statement, Actionfilm, Existenzialismus, Anthropologie, Kritik am eigenen Ermittlungsapparat, Kritik an der Hierarchie der Staatsbürokratien und vor allem die Melancholie, die Liebessehnsucht des Einzelnen in ein absolut einzigartiges Amalgam ineinander.4 Auch die Amalgamierungen Grafs und seiner Hauptautoren Günter Schütter und Rolf Basedow arbeiten mit diesen Elementen, ziehen sie (bei Schütter) ins mitunter Groteske, erden sie (bei Basedow) detailliert milieuistisch. Ihr Schauplatz ist ein München als naked city; München, in den 1970ern und 80ern, in Zeiten von Derrick, noch »Brynych-Village«,5 ist hier Graf-Stadt. Und wie sie die Stadt entkleiden, mag es Graf, 3 | Graf, Dominik: Von French Connection bis Tatort. In: Süddeutsche Zeitung (22.7.2004). S. 12. 4 | Ebd. – Als Film-Alltagsgeschichte, Alltagsfilmgeschichte könnte man diesen Einsatz vielleicht beschreiben: In ihr käme das zu Sprache und Bild, was nicht aufgeht, sich nicht zähmen lässt im Exemplarischen. Alltagsfilmgeschichten wären nicht einfach eine andere Filmgeschichtsschreibung oder Reservoirs und Repertoires filmischer Alltagsbilder und der Filmförmigkeit des Alltäglichen; man würde nach ihnen nicht so sehr im Dokumentarischen suchen, sondern vielleicht vielmehr das beschreiben, was in einen Film, auch im genremäßig Zugespitzten, im Exzentrischsten und gerade dort, herein-, was aus ihm herausbricht an Materialitäten des ethnisch, sozial, politisch verfassten Lebens. 5 | Graf, Dominik: Brynych Village (Derrick, Folge 30, Yellow He). In: CARGO Film/Medien/Kultur, 6 (2010). S. 6f.

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wenn – wie bei Brynych in manchen seiner Folgen von Derrick, vom Alten, vom Kommissar – seine Serienfiguren, die vorerzählten, vorgeschriebenen, sich von ihren Vorgeschichten freimachen, von den Schematismen, Wiedererkenn- und Wiederverwertbarkeiten, die ihnen von der sonntäglichen Wiederkehr auferlegt werden. Grafs Kommissare haben neue Spleens, Hobbys (Tauber, der, mit einer Zange als Prothese, im Büro Miniaturen bemalt), neue Freunde, neue, alte Chefs: Sonntagabend, das sind die immer selben Geschichten, hier immer anders. »Geschichten handeln nicht von Dingen, sondern von Subjekten.«6 Tatorte, Polizeirufe – Kriminalgeschichten, sie handeln von kriminellen Subjekten und Kriminalersubjekten. Aber Grafs Filmgeschichten sind vor allem getrieben von einem Eigensinn filmischer Dinge. Der in Frau Bu lacht im Wohngebiet des ehemaligen olympischen Dorfes tot aufgefundene Mann – er wurde mit einer »08/15« erschossen (»Aha, daher stammt der Ausdruck«) – war mit einer Thailänderin, Sita, verheiratet; sie wurde ihm samt ihrer kleinen Tochter Soey von einem Eheinstitut vermittelt. Das Eheinstitut ist spezialisiert auf den Import von Frauen mit kleinen Töchtern, das stellt sich im Verlauf des Films heraus. Auch die Absurditäten, die Kapriolen, die Einfallsgewitter des Films werden von dieser Erkenntnis heimgesucht: Sie ist das Zentrum des Sturms, der jene erzeugt. Immer wieder schwenkt die Kamera von Gesprächen der Ermittler unwillkürlich auf die Tochter, nimmt auch mal ihren Point of View ein, weiß mehr als die Kommissare, ist ihnen voraus, buchstäblich. Jenny über die von Soey gemalten Bilder: »Das ist der genaue Blick eines Kindes, der sich an einem Objekt festsaugt, wenn es ein Erwachsener nicht mehr aushalten kann. Es ist der Blick auf einen Fernseher, ein Bücherbord, ein Teppichmuster, eine Stereoanlage.« Es ist das kleine Mädchen, das dem Film seinen Fokus gibt, auch seinen Titel. Sita spricht über ein Märchenbuch, das Buch von Frau Bu. »Was macht Frau Bu?«, fragt Leitmayr. »Frau Bu lacht«, sagt Soey. Denn Leitmayr und Batic verstehen nichts. Das sagen die beiden auch immer, dass sie ihre Verdächtige, Sita, ihre Traditionen, rituellen Handlungen, ihren Aberglauben nicht verstehen. Aber den Film, ein Kabinett der Kuriositäten, in dem es Nacktputzer und -bügler gibt und einen Dorfbürgermeister, der sich in einem Nachtclub vor gemieteten Landwirtschaftsstudenten als Hahn verkleidet den Hintern versohlen 6 | Niehaus, Michael: Das Buch der wandernden Dinge. Vom Ring des Polykrates bis zum entwendeten Brief. München, 2009. S. 32.

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lässt, und in dem unter allem der Abgrund lauert, den interessieren das Gleiche und das Andere, Deutschland und Thailand, Europa und Asien eher wenig. Der Film, der versteht schon. »Es bläst einem die Augen aus von dem strahlenden Glanz«, sagt Leitmayr einmal (»Come on baby, light my fire/Come on baby, Franz Leitmayr«, Tatort Im freien Fall, BR, 04.11.2001, Regie: Jobst Oetzmann). Um Traditionen und Auslegungen, thailändische Familienmythologien und Weihnachten, um den Blick des Kindes durch das Schlüsselloch, die schwarze Pädagogik der warnenden Eltern geht es. Die fantasierten thailändischen Privatmythologien und Weihnachten, das ist gewiss nicht das Gleiche, aber der Film und das Christkind, die haben etwas miteinander zu tun, man schaut durchs Schlüsselloch, auf der anderen Seite wartet das schöne Grauen, und in den von Graf geschätzten Horrorfilmen Dario Argentos würde das beim Wort genommen, da bohrte sich jetzt etwas mitten ins Auge.

Aber man muss auf der Oberfläche suchen. Der Thailand-Experte Herr Dr. Huber kann da auch nicht weiterhelfen. Batic und Leitmayr bringen ihm Polaroids von der Wohnung Sitas, von den Schmetterlingen, die, Teil eines perfiden sexuellen Rituals des toten Ehemannes, in der Wohnung flattern. – »Lassen’s es mich als Experten so ausdrücken: Keine Ahnung.« Der Wind, der durch den Film fährt, lässt die Bilder durch die Luft fliegen. Sie werden in Bewegung gebracht, kommen wieder zum Liegen, und die Kamera bleibt bei einem Bild Soeys, und der Ton ist, und die Kommissare sind schon weiter.

Das ist in nuce bereits Grafs Film-Fernsehen, seine Kinemato-graphie: In ihr geraten die Dinge nicht nur in Bewegung, sie sind Attrak-

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toren, bringen in Bewegung, erzeugen dabei eine Gegenrhythmik zum Erzählfluss, reißen Löcher in ihn, reorganisieren ihn. Seine Entsprechung oder überhaupt seine Möglichkeit findet dieses Verfahren filmtechnisch. Eben in Bild-Ton-Dissoziationen, auch in scheinbar dysfunktionalen Schwenks und Zooms. Reißschwenk und Sogzoom sind Mittel aus einer anderen Zeit, einem anderen Kino, dem 60erund 70er-Jahre-Horror, den Italo-Thrillern und Reißern, den Gialli, an deren Historisierung und Kanonisierung Graf in Filmen wie Texten arbeitet. Sie erzeugen kleine, oftmals delirante Formexplosionen. Was Graf über die Filme eines seiner Hauptgewährsregisseure, Nicholas Roeg, einmal geschrieben hat, kann man da auch für ihn konstatieren: Kaum dekorative, ›schöne‹ Bilder, stattdessen exzessiver Einsatz des Zooms, oftmals Verzicht auf Lichtanschlüsse, sehr flexible Handhabung der Brennweiten innerhalb einer Szene, eigentlich wenige extravagante Perspektiven, dafür aber unendlich viele Kamerapositionen. Wohin man schaut, gibt es bei Roeg gesprengte Ketten: Das Erzählsystem, die Dramaturgie, das Genre, in dem er sich scheinbar gerade bewegt – man muss jederzeit gewärtigen, dass einem ein Film von Roeg um die Ohren fliegt. Es geht dabei um jene Art von Wahrheiten, die nur durch extreme Brüche entstehen. Durch Clashs, durch Montagen, durch ungewollte Zufälle, durch ›schlechte‹ Schauspielerei sogar manchmal, nicht durch schöne Einzelbilder und nicht durch einen einheitlichen Stil.7 Im Gegenwartsfilm zoomt man selten auffällig. Bei Graf und seinen Kameraleuten ist das anders, sind Schwenk und Zoom nicht nur Bewegungen der Kamera, vielmehr sind sie gleichsam autonome Akteure, darin den Dingen verwandt, die sie oftmals unwillkürlich, überdeterminiert und doch bedeutungsentleert aus dem Weltgefüge herausreißen: Kamera-Dinge. Frau Bu lacht enthält eine kurze, komische Szene, die Grafs Verfahren in nuce vorführt, als Filmverfahrenswitz, ein Zwischenspiel, doch durchaus folgenreich für die Dramaturgie, auch für die beiläufige Auflösung des Falls: Dr. Huber, der Experte und Übersetzer, der, so Leitmayr in der Einstellung davor, nun zeigen soll, was er kann, stürzt von einem Gerüst an seinem Haus, zeigt, was er kann, der Film: Es ist einer dieser Windstöße des Sturms, der da aufzieht. 7 | Graf, Dominik: Als das Kino Trauer trug. Das wilde Werk des Regisseurs Nicholas Roeg. In: Ders.: Schläft ein Lied in allen Dingen. Texte zum Film. Hg. von Michael Althen. Berlin, 2009. S. 164-168. S. 166.

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Er bewegt etwas, man weiß, sieht nicht was. Der Übersetzer steht auf seinem Gerüst, dreht sich um, schaut nach rechts ins Off, die Kamera schwenkt aus der Totalen weg von ihm auf dem Gerüst, nach rechts, in die Richtung seines Blicks, verweilt kurz auf einem Haus. Nichts Besonderes ist zu sehen. Man hört ihn schreien, fallen, die Kamera schwenkt langsam zurück: Das Gerüst steht nun ohne Dr. Huber da. Es ist, als hätte sich die Kamera zur Abwendung, zur Ablenkung verführen lassen und dabei den Fall hervorgerufen und gleichzeitig verpasst; eine eigenwillige Variante eines film qui pense; ein Film, der denkt, zaudert, sich bewegt, autonom agiert von seinen Figuren.

Wäre das filmische Ding nur ein gefilmtes, nur da oder zuhanden, dann bliebe es zumeist unsichtbar, aufmerksamkeitsökonomisch indifferent. »Daß sich Kolportage abwechselt mit Geheimnis« – so haben Christoph Hochhäusler und Graf einmal dessen filmische (Ding-)Poetik charakterisiert. Und auch so: »Phillip K. Dick […] hat an Stanisław Lem mal geschrieben: ›Lieber Herr Lem, bei uns in Kalifornien offenbart sich Gott manchmal in Gestalt einer Spraydose.‹«8 Das eichendorffsche Lied, das in allen Dingen schläft, das »Wispern im Berg der Dinge«:9 In Grafs Filmen ist das Geheimnis ein offen daliegendes, »aber doch ein Geheimnis«. Ein technisch-materieller 8 | Mailwechsel Dominik Graf, Christoph Hochhäusler, Christina Petzold, Berliner Schule u.a. (2. Teil). www.revolver-film.de/Inhalte/Rev16/html/ Berliner.htm [27.10.2010]. 9 | So der Titel eines Films, den Graf gemeinsam mit dem FAZ-Filmkritiker Michael Althen realisiert hat, ein Film über den Vater, den Schauspieler Robert Graf (2007).

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Animismus, von dem sich nicht so recht sagen lässt, ob er nun bar jeder Metaphysik zu haben ist.10 Mit und nach seinem Kinofilm Der Felsen aus dem Jahr 2002 hat Graf als wohl einziger deutscher Regisseur neben dem von ihm verehrten Klaus Lemke ein genuines »Verfahren ›Video‹«11 entwickelt. Mit Video radikalisieren Graf und seine Kameramänner, Benedict Neuenfels, Alexander Fischerkoesen, Michael Wiesweg, das, was in Grafs Arbeiten vor Der Felsen schon angelegt war: eine Unabhängigkeit von den Zwängen des Erzählten, die umwegig doch immer wieder zum Erzählen führt. In diesem Verfahren autonomisiert sich die Kamera, wie oben skizziert, scheinbar vollkommen von den Verpflichtungen des Buches, von der Narration, auch vom Ton, wird eigen- oder möglichkeitssinnig, aber ihre Entfesselungen und Animierungen der filmischen Dingwelt sind doch eingelassen in eine komplexe Ökonomie der Gefühlsintensitäten. In Der Felsen wird dies als Dingpoetik in einer so plakativen wie flirrenden Ausbreitung und Parallelmontage dem Film voran- und als Bewusstsein narrativer Kontingenz ausgestellt: Ein senegalesischer Einwanderer auf Korsika, ein Touristenverführer, erzählt, mit Grafs Stimme als deutschem Voiceover, den Touristen von einem Spiel aus der Heimat. Drei Dinge, drei beliebige Dinge legt man, legt er vor sich hin, in den Sand, man beginnt zu erzählen, reihum, verkettet dabei die Dinge narrativ, lässt die Narration aus der Verkettung der Dinge entstehen. Dann wieder drei Dinge, dann wieder drei. Schlussendlich muss das letzte Ding mit dem ersten verknüpft werden, sonst ist das Spiel verloren und Hab und Gut des Erzählers und, vielleicht, sein Leben. Die Kamera schweift dabei ab von dem Händler, seinem Spiel, zu einem Jungen, der am Strand Objekte im Sand aufliest. Eine andere, weibliche OffStimme schaltet sich ein, bringt Objekte ins Spiel und in Bewegung: eine Brieftasche, einen Ring; lässt die Filmerzählung, ihre Verkettung beginnen: »Was, wenn…«. Wenn die Dinge sich bewegen und die Menschen verharren, von ihnen verlassen werden, dann geschieht Erzählung, ereignet sich Kontiguität als ausgestellte Binnenmechanik

10 | Grafs Filme nutzen immer wieder harte Schnitte oder auch Splitscreenkonfrontationen, um einen spekulativen Raum sym- oder telepathischer Gleichzeitigkeit zu eröffnen. 11 | Theweleit, Klaus: Deutschlandfilme. Godard, Hitchcock, Pasolini. Filmdenken & Gewalt. Frankfurt a.M., 2003. S. 23.

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des Erzählens.12 – Auch der Polizeiruf Er sollte tot (2006) setzt ein mit einem solchen Spiel, einem anderen Spiel des Erzählens. Tauber und sein alter Chef Kruppke (Jochen Striebeck) spielen Karambolage, ein Sonntagsritual auf dem Land, in der Provinz, Erding (Leitmayr in Frau Bu: »Ich hab keine Lust, bei dem Wetter auf die Käffer rauszumüssen.«). Wie Sonntagabendkrimis eben beginnen: Der Kommissar, ein Fetzen Privates, dann: »Na toll, am Sonntagmorgen ne Leiche. Ja, ich bin gleich da.« (Verhör am Sonntag: auch der Titel einer Fahnder-Folge von Graf.) Doch zuvor erzählt Kruppke; der Film setzt ein mit seiner Stimme, mit einer Geschichte oder Anekdote, wie sie Kleist verfasst beziehungsweise notiert hatte, suburban legend, und mit ihren Bildern. »Zwei Fahrer sitzen bewusstlos mit blutendem Kopf in ihren Autos, und die stehen völlig unbeschädigt 50 Meter voneinander entfernt im Straßengraben, auf ner engen kleinen Landstraße. Es gibt keinen Täter, es gibt keine Fremdeinwirkung, wie ist das möglich, was denkst Du. […] Was denkst Du, Robocop.« Zwei Kugeln, zwei Köpfe kollidieren. Kruppke – später wird er an einem Herzanfall sterben, sich auch als Verstrickter in das Geschick der verdächtigten Prostituierten erweisen – stellt sein Weizenglas auf einen Zaunpfahl: »Du wartest hier, bis ich wiederkomme.« Kurzer Zoom auf das Glas: Wenn die Dinge, wie oft bei Graf, herausvergrößert werden aus dem Weltlauf, dem Erzählzusammenhang, ihn nicht als Leitmotive oder Dingsymbole schürzen, sondern präsymbolisch, asemantisch insistieren, dann halten sie den Erzählfluss an oder auf, dann führen sie einen anderen Schauplatz, einen anderen Tatort ein, an dem ein kinematographisches Objekt, eine Rechtssache, ein Erzählgegenstand, ein Ding nicht mehr zu unterscheiden sind.

Frauen, die töten, und dreimal ist es, mal mehr, mal weniger, Notwehr gegen die Folge der bestehenden (Missbrauchs-)Verhältnisse: Das ist 12 | Michael Niehaus ist diesen Dingen, dem wandernden Ding als Strukturmotiv, nach- und auf den Grund gegangen, in seinem Buch der wandernden Dinge (vgl. Fn. 6).

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die deutlichste kleine motivische Klammer für Grafs Münchner Tatorte und Polizeirufe. Setzt Frau Bu, nur deshalb mag sie lachen, das Rechtshandeln aus und statt seiner vielmehr einen Raum des Fantastisch-Sympathetischen, so stehen im Zentrum beider Münchner Polizeirufe dagegen Szenen der kodifizierten, der theatralen und prozessualen Rechts- und Wahrheitsfindung, eine Gerichtsverhandlung über eine Vergewaltigung in Der scharlachrote Engel, eine Vernehmung oder eine Reihe von Vernehmungen einer des Mordes verdächtigten Prostituierten in Er sollte tot. Sie sind anders, als man es TV-gewohnt ist, präziser arrangiert – räumlich, sprachlich; auch drastischer (»Moment, Herr Gerard, könnten Sie uns bitte davon in Kenntnis setzen, welches Durchmaß Ihr Glied im erregten Zustand etwa hat?«). Ihre Kodifizierung ist nicht die der standardisierten Drehbuchsätze. (Auch in der Gerichtsmedizin: »Spurensicherungsmaßnahmen erfolgen Punkt Alle Fingernägel werden einzeln abgeschnitten und asserviert.« Großaufnahme Fingernägel. »Kieferprothesen werden nicht mitbeerdigt, die werden entfernt. Wie Silikonimplantate.«) Forensische Techniken sind Worttechniken:13 Sie geben den Sachen ihren Ort. Jacques Lacan hat diese Konfiguration prominent erfasst: »Die Sache ist das, dem die juristische Fragestellung gilt.«14 »Sache und Wort sind also fest aneinander gebunden, bilden ein Paar. Das Ding hat seinen Ort anderswo.«15 Ein Tatort-Ding wird meist zur Rechtssache als ein zeichenhaftes: ein Indiz, ein Beweisstück. Graf, seine Autoren und Kameramänner interessieren weniger die Rechtssachlichkeit des Dings denn die filmische Dinglichkeit der (Rechts-) Sache – als Effekt räumlicher Anordnungen (Abbildungen: der Gerichtssaal in Der scharlachrote Engel), als Gegenstand mikrologischer Prozeduren und alltäglicher Verrichtungen (Obermaier: »Ich geh manchmal auch zum Lidl. Da denk ich mir nix.«). Auf die Lösung des Mordes in Frau Bu lacht wird übrigens nicht viel verwandt. Der radebrechende und die Nerven von Batic und Leitmayr strapazierende thailändische Übersetzer und Kulturvermittler 13 | Vgl. Vismann, Cornelia: Rechtsprechungstechniken. In: Nanz, Tobias/ Siegert, Bernhard (Hg.): ex machina. Beiträge zur Geschichte der Kulturtechniken. Weimar, 2006. S. 279-290. S. 286. 14 | Lacan, Jacques: Das Seminar. Buch VII: Die Ethik der Psychoanalyse. Berlin/Weinheim, 1996. S. 57. 15 | Ebd., S. 59. Auch zitiert von Niehaus: Das Buch der wandernden Dinge. S. 18f.

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Cricket, der sich mit der Musik aus David Leans Bridge on the River Kwai vorstellt und damit kurz zurückgrüßt zum Toten Briefkastenonkel und dem Detektiv Sandy aus Sam Fullers Tote Taube in der Beethovenstrasse, der dies auch einmal als Erkennungsmelodie pfiff, löst den Fall, die Tötung des Mannes durch seine Frau, im Nebenbei. Alles auf der Oberfläche: Ein Mord-Tattoo hat Sita, zur Abwehr von Rachegeistern. Er zeigt der Polizei den nackten Arsch. Mit diesem Tatort war kein Staat zu machen.

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Vom Aufheben alter Bilder Wenn die Geschichte dem Fernsehen zum Tatort wird Wolfgang Struck

Vorspiel: Ein Koffer voll Erinnerungen Es ist das Jahr 1981. Ort: eine norddeutsche Kleinstadt. Ein alter Koffer, der seit 1944 unbeachtet auf einem Dachboden gelegen hat, kommt bei Renovierungsarbeiten wieder zum Vorschein und stört die Harmonie im Männergesangverein Germania, wo die Honoratioren der kleinen Stadt bei »alten Liedern« Traditionspflege betreiben. Denn der, der den Koffer einst abgestellt hatte, bevor er in den Krieg zog, aus dem er nicht zurückkam, war nicht nur ein enthusiastischer Nazi, sondern ein ebenso enthusiastischer Sammler. Alles, so erinnert man sich, habe er aufgehoben: Zeitungen, Bilder, Briefe… Noch ist der Koffer zu, aber das, was er enthalten könnte, sorgt für erhebliche Unruhe. Denn viele haben etwas zu verbergen: der Lehrer etwa, der seine führer- und kriegsverherrlichende Jugendlyrik lieber nicht noch einmal an die Öffentlichkeit gezogen sähe – eine »Jugendsünde« zwar, aber für die Beförderung zum Studiendirektor und damit auch für das neue Eigenheim möglicherweise doch nicht gerade dienlich. Oder der Apotheker, dessen Vater die Apotheke »einst« weit unter Wert von ihrem jüdischen Vorbesitzer erworben hatte, bevor dieser deportiert und vermutlich ermordet wurde. Als er nun, aufgeschreckt durch den Kofferfund, seiner kommunalpolitisch ambitionierten Tochter von dieser etwas unfeinen Herkunft des ›Familienerbes‹, das anzutreten sie sich gerade anschickt, erzählt, ist sie betroffen, aber nicht etwa aus moralischen Gründen, sondern nur aus Sorge um ihren guten Ruf und ihre politische Karriere.

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Mit bitterem Sarkasmus konstruiert der Tatort Das Zittern der Tenöre (NDR, 31.5.1981, Regie: Hans Dieter Schwarze, Drehbuch: Hansjörg Martin) das allegorische Modell einer Gesellschaft, die zutiefst in jene Zeit ›verstrickt‹ ist, in der die gepflegte Tradition einige dunkle Flecken bekommen hat – der Besitz einer Apotheke kann sich dem ebenso verdanken wie der Besitz eines Bildungspatents –, die die Erinnerung daran aber gut verschlossen hat und ihre Schuld auf einen höchst willkommenen Sündenbock, den verschollenen SS-Soldaten, abgeladen hat. Dem Koffer kommt in diesem Modell lediglich die Funktion eines Katalysators zu; als er schließlich geöffnet wird, gibt er keinerlei brisante Informationen preis, sondern buchstäblich nur ›alten Plunder‹. Das Wissen um die ›Verstrickungen‹ liegt auf anderer Ebene: in den individuellen Gedächtnissen der Beteiligten, in ihrem schlechten Gewissen und ihren Verdrängungsleistungen. Es ist dort ohne Weiteres abrufbar, aber es wird nicht kommuniziert. So erweist sich die unschuldige Tradition der Germania ebenso wie die Vorstellung einer selbstgenügsamen Gegenwart – für sie steht die Apothekertochter – als eine Lüge. Aber justiziabel ist die nicht, und so hat der Tatort keine geringen Probleme, überhaupt eine Krimi-Handlung in Gang zu bekommen. Zwar gibt es einen Toten, aber der ist, wie sich schnell herausstellt, das Opfer eines Unfalls: Einer der alten Herren war bei dem Versuch, den Koffer verschwinden zu lassen, von einem zweiten, der die gleiche Absicht hatte, erschreckt worden und die Treppe hinabgestürzt. Was hier, das heißt im allegorischen Modell des Tatort, verborgen ist, ist nicht Gegenstand einer polizeilichen Ermittlung. Es wäre Gegenstand einer Kommunikation zwischen den Generationen und vielleicht zwischen Tätern und Opfern – eine Frage nationaler Identität, wenn man das so zuspitzen will. Aber die Jungen bekommen keine Antworten auf ihre Fragen. Die Täter schweigen, und die Opfer scheinen im Mikrokosmos der Kleinstadt vollkommen verschwunden zu sein. So wendet die jüngere Generation, repräsentiert durch eine Schüler-Punk-Band, die für sich »no history« in »no future« übersetzt, der Germania schlicht den Rücken. Diese Wendung zu einer gegenwärtigen Form populärer Kultur muss jedoch nicht mit einem vollständigen Vergessen einhergehen. Sie kann auch verstanden werden als Hinweis darauf, dass der Tatort selbst für sich beansprucht, für das unterdrückte Gedächtnis der Germania einen Darstellungsmodus gefunden zu haben. Dass eines der erfolgreichsten Unterhaltungsformate des deutschen Fernsehens sich

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der in Das Zittern der Tenöre (nicht) erzählten Geschichte annehmen kann, deutet darauf hin, dass 1981 sehr wohl ein Interesse daran bestanden hat. Es trifft sich mit anderen Formen des Nachfragens, beispielsweise in Geschichtswerkstätten, die gerade auch die nationalsozialistische Vergangenheit aus der zunehmenden historischen Ferne in die Nachbarschaft von Stadtteilen holen – in gewisser Analogie zum Tatort, dessen föderales Regionalisierungskonzept ja grundsätzlich die Tendenz hat, das Verbrechen aus dem Asphaltdschungel urbaner Metropolen in die Provinz und in die Nachbarschaft zu rücken. Und wenn in der Geschichtswissenschaft mit der Wendung zur Nähe zugleich neue, in der etablierten Historiographie bis dahin eher randständige Materialien erschlossen werden, wie Oral History oder ein Gedächtnis der Orte, der Architekturen, der Bilder, dann werden Fernsehkrimis, die diese Allianz in den folgenden Jahren weiterverfolgen, nicht zuletzt nach der Funktion technischer Medien des Gedächtnisses und der Erinnerung – und dabei in gewisser Weise nach ihrer eigenen Grundlage – fragen.

Dunkelheit im Auge des Bildersturms – oder: die Transformation von Pixeln in Geschichte(n) Seit zwölf Tagen streiken in Köln die Müllfahrer. Doch das ist, wie die Sprecherin der Lokalnachrichten verkündet, »ein ganz anderes Thema«. Was Hauptkommissar Max Ballauf und uns mit ihm zum Fernseher gezogen hat, sind Bilder, die ihn selbst betreffen. Denn der Fall, den er im Sommer 1998 im Tatort Bildersturm (WDR, 21.6.1998, Regie: Niki Stein, Buch: Robert Schwentke/Jan Hinter) gemeinsam mit seinem Kollegen Freddy Schenk bearbeitet, hat eine erhebliche Medienpräsenz. Zugleich führt er weit in die Vergangenheit. So verschränken sich in der Aufklärung Vergangenheit und Gegenwart, und das nicht nur, weil der Mörder ein Historiker, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Bonn, ist, sondern weil Medien des Gedächtnisses im Prozess der Aufklärung eine zentrale Rolle spielen. Schnittpunkt der verschiedenen Handlungsstränge ist eine Photoausstellung mit dem Titel Verbrannte Erde. Die Verbrechen der deutschen Wehrmacht und ihre Folgen im Kölner Stadtmuseum. Nicht allein vom Gegenstand her erinnert das an die Wanderausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944 des Hamburger Instituts für Sozialforschung, auch wenn der Tatort seine Ausstellung auf den Handlungsort Köln beschränkt und diese Regionalisierung

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auch in deren Objektbereich andeutet – die Ausstellung ist vor allem dem Krieg an der »Westfront« gewidmet. Dafür aber ist in diesem fiktiven Modell all das ›verdichtet‹, was die wirkliche Ausstellung an öffentlichen Reaktionen begleitet hat: erbitterte Auseinandersetzungen ›rechter‹ und ›linker‹ Historiker, Kommunalpolitiker und Laien, öffentliche Debatten um vermeintliche oder tatsächliche Fälschungsabsichten, Aufmärsche alter und neuer Nazis, antifaschistische Gegendemonstrationen, Einsatztruppen der Polizei zwischen den Fronten, Morddrohungen, Anschläge einer rechten Terrorbande zunächst auf die Ausstellung, dann auf deren Leiterin. Und vor allem eine ständige Präsenz der Medien. Der Tatort präsentiert diesen Sturm auf die Bilder als Sturm der Bilder im Stil eines überkochenden RealityTVs. Wie ein Bürgerkriegsszenario wirkt der Weg zur Ausstellung, den sich die Kommissare durch aufgepeitschte, von überforderten Polizisten mühsam auseinander gehaltenen Blöcke gewaltbereiter Demonstranten bahnen müssen, dabei immer im Sucher-Blick der omnipräsenten Fernsehkameras. Den wissenschaftlichen Berater der Ausstellung treffen sie in einem Fernsehstudio, und während sie ihn auf dem Weg zur Bühne verhören, pudert ihm eine Maskenbildnerin noch schnell ein wenig die Nase. Die Ausstellungsleiterin selbst erleben wir zuerst in einer erregten Fernsehdebatte mit dem Kulturreferenten der Stadt, der die Ausstellung schließen möchte; und um mit ihr ein paar Worte »unter vier Augen« sprechen zu können, muss Ballauf erst ein Kamerateam aus ihrem Büro drängen. Wir blicken durch den Sucher von Fernsehkameras, die sich im Getümmel bewegen, durch videotechnisch aufgerüstete Türspione, durch Überwachungsanlagen älterer und neuester Bauart; immer wieder verdoppelt und vervielfacht sich das Geschehen auf Monitoren aller Art, im Vordergrund, im Hintergrund, im Zentrum. Das erste Mordopfer, das es schließlich auch noch gibt, sehen wir natürlich durch den Sucher der Spiegelreflexkamera des Polizeiphotographen, und wenn der den Auslöser betätigt, dann friert das Bild für einen Augenblick ein und nimmt das Aussehen eines Schwarz-Weiß-Negativs an. Zwar scheint der Film zu behaupten, es gäbe eine Welt jenseits dieses Bildersturms – signifikant dafür ist etwa der Ausschluss des Kamerateams als Voraussetzung für eine Unterhaltung »in Ruhe«. Aber er zeigt sie nicht. Die Atmosphäre hysterisch übersteigerter Emotionalität, zu der die dominanten kinematographischen Stilmittel zusammenfließen, lässt eine solche Ruhe ebenso wenig zu wie die hoffnungslos überfrachtete Dramaturgie des Films, der offenbar alles zugleich sein möchte: Ge-

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schichtsfiktion (indem er eine erfundene Geschichte aus der Vergangenheit erzählt), Historiographiegeschichte (als Auseinandersetzung mit der Wehrmachtsausstellung als wichtigem Paradigma historiographischer Arbeit), Metahistory (als abwägender Vergleich verschiedener Möglichkeiten der Repräsentation von Vergangenheit in ihren individuellen wie kollektiven Funktionen und Konsequenzen), obendrein noch Krimihandlung, Liebesgeschichte, psychologische Studie (von Opfern, Tätern und deren Angehörigen), Actionfilm und selbstreferentielle Medienkritik. In diesem Bilderinferno kann die Ausstellung keinen Sonderplatz beanspruchen. Bildersturm zeigt sie nicht nur von einer Welt proliferierender Bilder umstellt, sondern als deren integralen Bestandteil. Im Gegensatz zur realen Wehrmachtsausstellung werden hier, jedenfalls soweit es im Film zu sehen ist, nur großformatige, plakativ aufgemachte Photographien gezeigt, ohne begleitende Texte, ohne Kontexte. Und dass eines der ausgestellten Photos als bewusst verfälschende Ausschnittsvergrößerung entlarvt wird (hier wird das Verhältnis der fiktiven Ausstellung zur realen besonders heikel, denn genau das hat man der ja trotz intensiver Fehlerfahndung nicht nachweisen können), ist für die Ausstellungsleiterin zwar ärgerlich, aber nicht wirklich relevant, denn ihr dienen die Bilder nicht als Quelle der Information, sondern der Emotion. Für die Herkunft der Bilder und die Kontexte des Abgebildeten interessiert sie sich erklärtermaßen nicht, dafür aber für das Arrangement, in das auch die Hakenkreuz-Schmierereien nach der Neonazi-Attacke effektvoll integrierbar sind: »Das ist zwar zynisch, aber es bringt Aufmerksamkeit.« In der visuellen Kultur universeller Gleichzeitigkeit zählen weniger die Spuren der Vergangenheit als ihre rhetorische Inszenierung. Signifikanterweise ist die Ausstellungsleiterin denn auch Kunsthistorikerin, ihr Produkt weniger eine Sache der Historiographie als eine der Ästhetik. In dieser Zuspitzung könnte man eine Reflexion der eigenen Darstellungsmittel sehen; der Film übersteigert und verabsolutiert das Moment, das ihm als fiktionalem Modell primär zukommt. Eine solche ›Reflexivität‹ blendet aber die sehr viel komplexere Funktion der Bilder in der wirklichen Ausstellung aus, deren ›Rhetorik‹, wie die öffentlichen Debatten belegen, keineswegs ohne Weiteres vom Kriterium der Authentizität zu trennen ist. Allerdings ist die Ausstellung für den Film letztlich auch nicht mehr als ein Vehikel, um noch eine andere Geschichte zu erzählen, in der ein weiterer Historiker eine Hauptrolle spielt, die ganz anders

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aussieht, als man das von einem Geschichtswissenschaftler erwarten würde. Tilman Koning, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Bonn und Experte für die Verbrechen der Wehrmacht an der Westfront, ist nicht nur wissenschaftlich in sein Spezialgebiet involviert. Im Alter von sechs Jahren hatte Koning aus einem Versteck heraus mit ansehen müssen, wie seine ganze Familie einem Blutbad zum Opfer fiel, das deutsche Wehrmachtssoldaten in einem belgischen Dorf anrichteten, nachdem der Schuss eines Partisanen einen der ihren getroffen hatte. So dient die spätere wissenschaftliche Spezialisierung des in einem deutschen Waisenhaus aufgewachsenen Überlebenden auch der Rekonstruktion der eigenen Identität. Ein problematischer Therapieversuch, reproduziert doch das wissenschaftliche Beobachtungsdispositiv gerade das Trauma, das diese Identität des Überlebenden bestimmt. Worunter Koning leidet, ist das Gefühl, er, der nichts tun konnte, als dem Grauen zuzuschauen, habe aus Feigheit die Angehörigen im Stich gelassen. So ist das eigentliche Ziel seiner Arbeit das Aufbrechen der Beobachtungssituation: Das ehemalige Opfer wird zum Rächer. Dazu bedarf es jedoch zunächst einer technischen Verdoppelung der ›Urszene‹: Ein Photo, von einem anderen Soldaten aufgenommen, ermöglicht es Koning, die damaligen Täter zu identifizieren – und zwingt ihn zum Handeln. Er spürt die alten Männer auf, die, genau wie die Tenöre der Germania, erfolgreicher als der Sohn der Opfer die Vergangenheit aus ihrem Leben – und vor allem aus dem Leben ihrer Familien – verdrängt haben, konfrontiert sie mit dem Photo, zwingt sie, sich mit ihrer verdrängten Schuld auseinanderzusetzen – und tötet sie schließlich. Koning selbst vermag diese Geschichte jedoch erst am Ende des Films zu erzählen, als die ermittelnden Polizisten sie schon in ihren groben Umrissen rekonstruiert haben. Auch für sie nimmt dabei das alte Photo, das jetzt in der Ausstellung hängt, als deren wissenschaftlicher Berater Koning fungiert, eine Schlüsselstellung ein. Drei Männer sind dort zu sehen, die ihre Maschinenpistolen auf wehrlose Zivilisten abfeuern. Als Kommissar Freddy Schenk versucht, den dritten Mann per Ausschnittsvergrößerung und Bildbearbeitung zu fokussieren, scheint der Monitor unversehens zum Spiegel zu werden: »Is ja irre, der sieht ja aus wie du!« Diese zunächst gleichsam schockartig erfahrene Manifestation von Vergangenheit in der Gegenwart löst sich auf in einer Geschichte. Der Abgebildete ist Schenks Onkel, der gute Geist seiner Kindheit, nun ein älterer Herr, dessen Leben sich scheinbar ›immer schon‹ in der zeitlosen Gegenwart von 14-Stunden-

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Arbeitstagen in einem altmodischen kleinen Tabak- und Zeitschriftenladen erfüllt hat. Die alte Schuld hat er nicht nur vor der Welt, sondern wohl auch vor sich selbst so gut versteckt, dass die Legende, er sei nichts als Koch gewesen im Krieg, zur quasi-authentischen Lebensgeschichte geworden ist, die er gegen alle Evidenz aufrechtzuerhalten sucht. Erst der Umweg über das Bild, das hier als eine Art ausgelagertes Gedächtnis fungiert, trägt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Schenk junior angesichts der Ausstellung noch verweigert hatte, in die Familie. Es ist jedoch nicht nur der Täter von damals, der – ob bewusst oder unbewusst – die Weitergabe seines Wissens verweigert und den Zugang zur Vergangenheit für die Nachgeborenen blockiert. Auch Koning verschweigt, was er individuell über die hinter dem Bild verborgene Geschichte weiß und verweist die Kriminalpolizisten auf die objektiven Speicher, die Archive der Wehrmachtsakten und das ›Gedächtnis des Ortes‹: Ballauf und Schenk müssen erst in einer ›Ortsbegehung‹, bei der sie wie feindliche Besatzer mit dem Hubschrauber in ein friedliches belgisches Dorf einfallen, den Bildhintergrund mit der heutigen Realität abgleichen, um auf dem Grabstein der Opfer von damals den entscheidenden Hinweis auf den Täter von heute zu finden. Zwar hatte Koning selbst sie auf diese Spur gesetzt, aber gerade das verschafft ihm den Freiraum, den er benötigt, um nun seinerseits Schenk senior stellen zu können. Er könnte ihn erschießen, aber stattdessen findet zwischen den beiden Männern eine Art therapeutisches Gespräch statt, in dem nicht nur Schenk – erstmals? – seine damalige Tat schildert, sondern auch Koning, nun in der Position des Täters, sein traumatisches Gefangensein zwischen Opfer- und Zuschauerrolle aufzubrechen vermag. Am Ende lässt sich Koning verhaften, während Familie Schenk, neben Kommissar Freddy Schenk noch dessen Tochter, die zunächst mit einer radikalen Distanzierung auf das ›Vorleben‹ ihres Großonkels reagiert hatte, lernen muss, dass der gute und der böse Onkel eine Person sind. Bildersturm handelt vom Versagen des ›Erzählens‹ und einer Störung oraler Geschichte(n), die durch ein technisches Speichermedium kompensiert werden muss. So kommt dem Bild tatsächlich eine zentrale Funktion zu, die es aber erst erfüllen kann, nachdem es aus dem rhetorischen Kontext der Ausstellung herausgelöst worden ist: Der Kommissar hängt es kurzerhand ab, um es mit ins Kriminallabor zu nehmen, wo dann mihilfe der elektronischen Bildbearbeitung die in die Latenz abgesunkenen Gedächtnisinhalte wieder

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freigesetzt werden können. Das so gewonnene ›Bild‹ bleibt jedoch immer noch abstrakt, solange nicht die menschlichen Zeugen zum Reden gebracht werden. Geschichte entsteht im Erzählen. Das zeigt die Parallelisierung der – mit dem Hubschrauberflug nach Belgien grotesk überzogenen – kriminalistischen Spurensuche mit der Abgleichung von Täter-, Opfer- und Zuschauerperspektive im Gespräch zwischen Schenk senior und Koning. Dieses Beharren auf der Unhintergehbarkeit eines wie auch immer problematisch – oder unverfügbar – gewordenen individuellen Gedächtnisses charakterisiert auch andere Versuche, die Geschichte des »Dritten Reiches« und des Holocaust zur Anschauung zu bringen. Am eindringlichsten demonstriert das vieleicht Claude Lanzmanns Shoah (Frankreich, 1974-1985) in der Unerbittlichkeit, mit der nicht nur Täter, sondern auch Opfer dazu gebracht werden, Zeugnis abzulegen. Während das in Shoah jedoch – einerseits aufgrund der freigesetzten Emotionalität, die nicht das Ventil einer narrativen ›Lösung‹ geboten bekommt, andererseits aufgrund der ebenfalls unaufgelösten Heterogenität der präsentierten ›Materialfülle‹ und schließlich natürlich durch das Wissen um die Authentizität der gezeigten Erinnerungsarbeit – an die Grenze der Rezipierbarkeit führt und damit das über dem Objektbereich schwebende Bilderverbot auf paradoxe Weise im Durchbrechen eingehalten erscheint, tendieren die hier untersuchten Fiktionen dazu, die Distanz und scheinbare Darstellungsfreiheit, die sie durch ihre zunächst auf die Gegenwart und die in ihr vorgefundenen Vermittlungsformen von Vergangenheit gerichteten Narrationen erzeugen, in eine Repräsentation des vermeintlich Undarstellbaren münden zu lassen. So weit geht Bildersturm aber nur bedingt. Er handelt nicht vom Holocaust, er handelt auch nicht vom Vernichtungskrieg. Gerade diese Beschränkung ist jedoch problematisch, denn sie impliziert eine entscheidende Modifikation gegenüber der tatsächlichen Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht. Dort ging es um die Beteiligung der Wehrmacht – als Institution sowie durch ihre Angehörigen – am geplanten, organisierten Völkermord. Demgegenüber handelt die Geschichte, von der das Bild im Tatort-Krimi zeugt, von der individuellen Tat einzelner Soldaten, begangen in einer Mischung aus Wut, Angst und zur Panik gesteigerter Nervosität: Der Krieg schien den vier Männern verloren, sie sahen sich schon wieder in der Heimat, als sie das belgische Dorf passierten, wo der Schuss eines Partisanen einen von ihnen tötet. Sie stürmen das nächstgelegene Haus, treiben

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die Menschen, die sich darin befinden – es ist Familie Koning, die gerade den Geburtstag des jüngsten Sohnes feiert – auf die Straße, ein Unteroffizier verliert plötzlich die Nerven, erschießt jemanden, der ihm keine Auskunft geben will oder kann, und dann schießen alle Deutschen – am Ende nur noch, um keine Zeugen zurückzulassen, die nach Kriegsende Rache fordern könnten. Diese Geschichte soll offenbar das Programm erfüllen, Schuld ›anschaulich‹ und ›nachvollziehbar‹ zu machen. Dieses Programm gibt sich der Film selbst bereits am Beginn vor, wenn Ballauf von einem Auschwitz-Besuch erzählt, bei dem ihn alltägliche Details zu der Erkenntnis gebracht hätten, »dass das damals keine Monster waren, die Abertausende von Menschen umgebracht haben, sondern Menschen, so wie ich und du« – wobei sein Beispiel nicht ganz nachvollziehbar ist: Er schließt aus der normalen Konstruktion der Krematoriumsöfen auf die Normalität der Konstrukteure. Monströs aber ist hier weniger die Art der Konstruktion als die Verwendung. Dabei setzt die schließlich rekonstruierte Geschichte, eine Geschichte, wie sie unzählige Filme über die verschiedensten Kriege erzählt haben, mit dem, was fast als Tötung im Affekt durchgehen kann und das Maß der Schuld auf ›mittlerem Niveau‹ einpendelt, eher eine Art Deckerinnerung an die Stelle des Geschehens, von dem die wirkliche Ausstellung handelt. Koning bleibt am Ende nur die Funktion eines Katalysators, der, nachdem seine Erinnerung aus der Krypta seines Traumas befreit ist, nun selbst in die Krypta des Gefängnisses oder der Psychiatrie abgeschoben werden kann, während sich die Aufmerksamkeit auf den Prozess der ›Vergangenheitsbewältigung‹ innerhalb der Familie des Täters verlagert – ein Prozess, dessen Anfang mit dem wenn auch nicht geläuterten, so doch geständigen Onkel Richard zumindest gemacht ist. Am Ende fährt dann auch wieder die Müllabfuhr.

Vom Aufheben alter Bilder. Erinnerungspolitik zwischen Bildgedächtnis und Erzählung Die Berliner Kommissarin Rosa Roth macht Urlaub in Israel. Aber als passionierte Kriminalistin kann sie der Versuchung nicht widerstehen, sich in die Ermittlungen einzuschalten, als in ihrem Hotel ein deutscher Tourist unter etwas mysteriösen Umständen ums Leben kommt. Das Verbrechen, auf das sie dabei stößt, führt jedoch abermals zurück in das nationalsozialistische Deutschland, und seine Aufklärung folgt wiederum einem Wechselspiel zwischen öffent-

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lichem und privatem Gedächtnis einerseits, zwischen Bildgedächtnis und Erzählung andererseits. Jerusalem oder Die Reise in den Tod aus der Krimireihe Rosa Roth (ZDF, 12.12.1998, Regie: Carlo Rola, Buch: Lothar Schöne/Andrea Levi) entwickelt seine Handlung aus dem Zusammentreffen verschiedener Personen, aber auch verschiedener filmischer Aufnahmeverfahren. Zunächst, gleichsam auf der Oberfläche, führt der Film neben Rosa Roth eine auf den Spuren des biblischen Palästina wandelnde Reisegruppe nach Israel. Mit dabei ist der Journalist und Historiker Wandres, der in obsessiv-aggressiver Weise zwei Mitreisende, beides ältere Männer, mit seiner Video-Kamera verfolgt. Schnell wird dabei klar, dass weder der Filmende noch die Gefilmten aus touristischem Interesse nach Israel gekommen sind. Wandres’ Videos bilden eine zweite Ebene des filmischen ›discours‹. Auf den ›ersten Blick‹ kaum von der ›normalen‹ Präsentation zu unterscheiden, sorgen sie für eine Verwirrung im Raum-Zeit-Gefüge der Filmhandlung, etwa wenn unvermittelt eine eigentlich einige Zeit vorher gestorbene Figur durch die Straßen Jerusalems geht und erst nach mehreren Einstellungen ein Reframing mit leicht vergrößerter Kadrierung das zu Sehende als das Bild eines Fernsehers zeigt. In mehrfacher Brechung und mehreren Ansätzen nähert sich so der Film seiner Schlüsselszene an: der Begegnung zweier alter Männer vor einem Café in Jerusalem. Sie korrespondiert mit einer anderen Begegnung, die visuell nur auf einer weiteren Darstellungsebene präsent ist, kinematographisch deutlich von den beiden anderen abgesetzt. In grobkörnigem Schwarzweiß gehalten, teilweise unscharf und verwackelt, verweisen ihre Bilder auf eine andere Aufnahmeapparatur und auf eine andere Zeit. In der ersten Sequenz dieser Ebene ist expositionslos nur eine Folge von Detailaufnahmen zu sehen: eine Dampflokomotive, Menschen mit Judensternen an der Kleidung, die aus einem Güterwaggon springen, ein Postsack mit Hakenkreuz-Aufdruck, Bahngleise. Ein visuelles Syntagma, das ohne weitere Erklärung auskommt, um eine Verbindung zum Holocaust herzustellen. Dass es ein- und ausgeleitet wird mit dem Blick auf eine alte Schwarzweißphotographie, die einer der von Wandres’ Kamera verfolgten Männer namens Bannert – er ist es, dessen Tod schließlich die Berliner Kommissarin in die Handlung ziehen wird – in den Händen hält, legt nahe, es mit dessen Erinnerungen zu verknüpfen. Das gilt auch für die zweite Schwarzweißsequenz. Bannert betritt das Badezimmer, und

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ein Blick auf den Duschkopf leitet über zu Aufnahmen eines Duschraums, der auch die Gaskammer eines KZs sein könnte. Auch ein Zug ist wiederum zu sehen, diesmal in ganzer Länge. Aber während die Aufnahmen der ersten Schwarzweißsequenz für Jerusalem oder Die Reise in den Tod gedreht und künstlich alten Filmdokumenten angeglichen sind, ist es diesmal ein echter Reichsbahnzug, ein echtes Filmdokument. Es ist bereits zu sehen in Alain Resnais’ Dokumentarfilm Nuit et Brouillard (Nacht und Nebel, Frankreich 1955, Regie: Alain Resnais, Buch: Jean Cayrol, dt. Fassung: Paul Celan), und dort erhält es die Bedeutung, die so dominant im kulturellen Gedächtnis gespeichert ist, dass sie bereits in der ersten Sequenz abrufbar war: der Güterzug als metonymisches Zeichen für den industrialisierten Massenmord, ebenso wie die Duschräume oder die Stapel abgelegter Kleidung. Die dritte Sequenz besteht wiederum aus ›nachgedrehten‹ Aufnahmen, die jetzt die Kohärenz einer individuellen Geschichte erhalten, jedenfalls wenn man sie mit den auf der ersten Präsentationsebene, der Gegenwart in Israel, erhaltenen Informationen verknüpft. Bannert hatte als Lokomotivführer Transportzüge mit deportierten Juden ins Konzentrationslager Flossenbürg oder von dort aus weiter nach Auschwitz gefahren. Diese Auflösung ist aber nun nicht mehr das Ergebnis eines individuellen Erinnerungsakts, denn Bannert ist bereits tot, als die dritte Sequenz zu sehen ist; die Überleitung zur ersten Handlungsebene bildet ein Blick auf die leere Doppelbetthälfte neben der unruhig schlafenden Frau Bannert, die erst jetzt von der Vorgeschichte ihres Mannes erfahren hat. So scheint es weniger das individuelle Gedächtnis, das die Bilder gespeichert hat, die dann zu einem kollektiven Bildgedächtnis zusammenfließen. Eher generiert dieses aus dem Archiv alter Filmaufnahmen gespeiste Gedächtnis die Bilder zur individuellen Geschichte. Das zeigt schon die zweite Sequenz, deren Blick in die Gaskammer ja kaum der individuellen Erfahrung des Lokführers zugeschrieben werden kann, sondern die erst nachträglich dem Wissen um seine Schuld – auch seinem eigenen Wissen – eine visuelle Form verleihen. Das bestätigt auch die vierte Schwarzweißsequenz, die geknüpft ist an den ehemaligen Wehrmachtssoldaten Leun. Auf Rosa Roths Frage, was ihn mit Bannert verbindet, hatte er zugleich ver- und entbergend geantwortet mit einer Rede über das jüdische »Ganzopfer«: Holocaust. Erst sein Selbstmord setzt visuell um, was damit gemeint war: Wir, das heißt die Kamera, folgen dem Blick der Kommissarin auf den in einer Gürtelschlaufe baumelnden Leichnam, aber was wir

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dann sehen, sind wiederum Dokumente: uniformierte Deutsche bei einer Massenhinrichtung von Zivilisten während des Russlandfeldzuges, Aufnahmen, die ebenfalls aus anderen Kontexten bekannt sind, beispielsweise in Joachim Fests Hitler – Eine Karriere (BRD, 1977) zu sehen. Am Ende steht dann die Großaufnahme eines Wehrmachtssoldaten im Profil, ein Gesicht, das stärker an Skulpturen auf Kriegerdenkmälern erinnert als an eine individuelle Physiognomie. So legt der Film Spuren in eine Vergangenheit, in der Leun offenbar zum Kriegsverbrecher geworden ist, lässt aber die Frage seiner konkreten, individuellen Schuld offen. Seine Geschichte löst sich gleichsam in den authentischen Dokumenten auf, während der Leun auf der ersten Handlungsebene verschwimmt im allzu bekannten (Film-) Stereotyp vom dämonisch-zynischen Handlanger des Bösen. Anders bei Bannert. Zwar scheint auch hier in der Überlagerung von fingierten und echten Dokumenten – die nicht speziell ausgewiesen, sondern im Gegenteil in Schwarzweißsequenzen darauf angelegt sind, die Differenz zu verwischen – seine Geschichte in der allgemeinen Geschichte ›aufgehoben‹. Aber dann kehrt die Narration doch zu ihr und zu ihrer Individualität zurück. Den Schlüssel dazu liefert ein anderes Bild, jene Schwarzweißphotographie, die alle drei Darstellungsebenen miteinander verbindet. Bannert trägt sie bei sich, als er auf Wandres’ Video durch die Straßen Jerusalems hastet, und er betrachtet sie, bevor auf die erste Schwarzweißsequenz überblendet wird. Dort schließlich sehen wir, wie Bannert das Photo vom Boden aufhebt, wo es liegengeblieben war, nachdem er eines Tages im Januar 1945 seinen Zug auf freier Strecke gestoppt, die Türen geöffnet und die Eingepferchten freigelassen hatte. Es ist das Photo eines jungen Mannes – im doppelten Sinn: Es gehörte ihm und es zeigt ihn –, das Bannert aufhebt, und das Bild dieses Aufhebens durchzieht wie ein Leitmotiv den Film. Auf der Suche nach dem Abgebildeten reist Bannert nach Israel, in der Hoffnung, derjenige, der dank seiner Tat den Holocaust überlebt hat, könne seine Schuld aufheben. Die vermeintlich gute Tat dessen, der überhaupt nur wider Willen zum Mitläufer geworden war – Bannert hatte sich zur Reichsbahn geflüchtet, um nicht eingezogen zu werden, also der ›Verstrickung‹ des Soldaten Leun zu entgehen –, fungiert jedoch als Beweis der Schuld, denn sie verweist auf den Handlungsspielraum, den Bannert grundsätzlich hatte, den er aber nur ein einziges Mal genutzt hat, während er ansonsten seinen Beitrag zum Funktionieren der Todesfabrik leis-

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tete. So läuft seine Suche ins Leere; zwar erkennt er tatsächlich in einem alten Mann den Abgebildeten, aber der kann in dem Mittäter von damals nicht den vermeintlichen Retter entdecken. Bannert stirbt mit – und wohl auch an – seiner Schuld, als am Abend nach der Begegnung sein Herz versagt. Auch wenn diese Schuld sehr viel unspektakulärer erscheinen mag als die von Schenk senior, bleibt ihm doch der Ausweg ihrer Psychologisierung zum situationsgebunden-einmaligen Affekt verwehrt. Ebenfalls bleibt ihm jene ›Vergangenheitsbewältigung‹ verwehrt, die Bildersturm dem therapeutischen OpferTäter-Gespräch zugemutet hatte. Wandres’ Video, das die Begegnung in Jerusalem dokumentiert, ist ein Dokument der Sprachlosigkeit. Es zeigt Bannert als Irrenden, der durch eine fremde, labyrinthische Stadt taumelt, ohne einen Halt zu finden. Die Reise nach Jerusalem ist kein Weg, der aus der einen Bildwelt in eine andere führen würde, das aufgehobene Photo kein Medium, das diesen Weg weisen würde. Im Gegenteil, es gilt, was der ›dämonische‹ Täter, Leun, einmal feststellt: Es kann gefährlich sein, Photos aufzuheben. Jerusalem oder Die Reise in den Tod inszeniert ein konstruiertes Spiel um Mitläufertum und Schuld, ein zugespitztes Modell, das offenbar zugunsten der Vereindeutigung historische Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten in Kauf nimmt. Ein Lokführer hätte kaum den Bannert zugeschriebenen Handlungsspielraum gehabt, denn natürlich wäre sein Transportzug von SS-Wachpersonal begleitet gewesen, außerdem ist schwer vorstellbar, wie er mit dem leeren Zug am Bestimmungsort hätte ankommen können, ohne in Erklärungsnotstand zu geraten. Darüber hinaus könnte man sich fragen, wie ›frei‹ die freigelassenen Juden denn ohne weitere Hilfsmittel mitten in dem im Januar 1945 noch nicht so kleinen »Altreich« gewesen wären. Und schließlich ›passt‹ es nicht recht, dass sie auf dem Transport zwar noch ihr privates Gepäck bei sich haben, zugleich aber schon eine eintätowierte KZ-Nummer tragen. Auch wenn solche Ungenauigkeiten im Hinblick auf das entworfene fiktionale Modell nicht besonders relevant erscheinen mögen, so haben sie doch Einfluss auf die Wahrnehmung der authentischen Dokumente, die sich der Film, die Grenzen zwischen realer Vergangenheit und fiktionaler Konstruktion bewusst verwischend, einverleibt. Statt das Modell zu ›authentifizieren‹, scheint eine solche Konstellation eher zu bestätigen, was Bildersturm in der Randepisode um das verändert Ausstellungsphoto behauptet hatte, dass sich nämlich Bildern jede Aussage abzwingen lässt. Bildersturm ebenso wie Jerusalem oder Die Reise in den

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Tod unterlaufen die von ihnen aufgegriffene Problematisierung des Gedächtnisses, indem sie ›hinter‹ den präsentierten Vermittlungen – den photographischen Dokumenten der Ausstellung und den in einem kollektiven Bildgedächtnis zirkulierenden Filmdokumenten – Vergangenheit als individuelle Geschichte(n) imaginieren, die nun ohne Bedenken in die mögliche Kohärenz fiktionaler Modelle überführt werden. Dementiert wird hier gerade jenes Moment der Unverfügbarkeit, das neben dem Informationsgehalt die photomechanische Reproduktion als Gedächtnismetapher interessant gemacht hat. Indem sie ihre Objekte zugleich ihrem Kontext entreißt und unveränderlich auf Dauer stellt, scheint sie die Erinnerung von Erfahrungen der Sinnund Erfahrungszerstörung, als die der Holocaust immer wieder beschrieben worden ist, angemessener repräsentieren zu können als eine narrative Sinnbildung. Andeutungsweise ist das aufgehoben im Schweigen jenes alten jüdischen Mannes, den zuerst Bannert und dann auch Roth aufsuchen. Er kenne diesen Mann nicht, so antwortet er auf Hebräisch und bricht das bis dahin deutsch geführte Gespräch ab, als sie ihm ein Photo des jungen Bannert vorlegt. Erst in einem stummen Abschiedsblick scheint sich ein freundliches Einverständnis wieder herzustellen. Er – so könnte dieses Einverständnis lauten – hat nichts gegen ein Gespräch mit Deutschen, aber seine Erinnerung kann nicht das Medium deutscher ›Vergangenheitsbewältigung‹ sein. Der Repräsentation dieser Erinnerung, den Bildern des Holocaust, den er überlebt hat, dessen Markierung er aber noch in Form der eintätowierten Nummer auf dem Arm trägt, wird genau das dann doch abverlangt, ebenso wie der Topographie von Jerusalem bis hin zur Gedenkstätte Yad Vashem, in der der Film seine deutschen Figuren ihre Vergangenheit ›durcharbeiten‹ lässt. Nicht die Repräsentation des Holocaust, die in Jerusalem oder Die Reise in den Tod direkter ist als in den anderen betrachteten Filmen, erweist sich als problematisch, sondern der Modus ihrer Einbindung in eine spezifisch modellierte Medienkonstellation einerseits, in individualisierte Geschichten andererseits. Das zeigt sich auch noch einmal an der Figur Wandres, der, wie Koning, zugleich als Historiker und als eine Art ›Racheengel der Geschichte‹ agiert. In ihm, dem Sohn einer jüdischen Mutter und eines deutschen Vaters, klingt die Problematik einer Opfer- und Zeugenschaft zweiter Ordnung an. Zwar haben seine Eltern Krieg und Holocaust überlebt, aber in einer Identifikation mit den ermordeten Angehörigen seiner Mutter fühlt

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er sich getrieben, die Schuldigen von damals – nicht die ›Großen‹, sondern die ›Mitläufer‹ – zu verfolgen und zu richten; auch wenn er dabei nicht so weit geht wie Koning. Während Drehbuchautor Lothar Schöne in seiner Erzählung Das Jüdische Begräbnis aus derselben Familienkonstellation eine eindringliche Reflexion über jüdische Identität in der Bundesrepublik der 1990er Jahre entwickelt hat, bleibt im Film kaum mehr als ein an der Grenze der Pathologie angesiedelter Fanatiker, dessen dramaturgische Funktion zum größten Teil darin besteht, die Geschichten Bannerts und Leuns aus dem Vergessen hervor- und ihrem Ende entgegenzutreiben. So sind es diese Geschichten, auf die die Konstruktion des Gedächtnisses bezogen bleibt, in die Wandres nicht eingreift – weder als Historiker, der er nicht im professionellen Sinn ist, wohl aber in seiner Benutzung der Archive und auch in seinem Auftreten gegenüber den von ihm Verfolgten, die dem vermeintlichen Wissenschaftler die Offenheit entgegenbringen, die sie dem moralisch argumentierenden Sohn der Opfer verweigern – noch als Betroffener, zu dem er über eine komplex strukturierte Identifikation mit den Angehörigen seiner Mutter wird. Er stelle Fragen, die nur ein Theoretiker stellen könne, der nicht dabei gewesen ist, so wirft ihm Leun vor, und der Film widerspricht dem nur inkonsequent. Zwar bietet er gegen das Nicht-Sprechen-Können der Opfer und das Nicht-Sprechen-Wollen der Täter mit den Filmdokumenten einerseits, mit dem Handlungsort Jerusalem andererseits Instanzen der Erinnerung auf, die dem von Leun erhobenen Alleinvertretungsanspruch widersprechen. Aber er entwertet sie zugleich, indem er sie dem Diktat einer nicht besonders gut konstruierten Geschichte unterwirft. Die eigene Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und zu einem befriedigenden Schluss zu bringen, stellen die betrachteten Filme nicht infrage (was nicht heißen muss, dass ihnen selbst das immer gelingt); auch dann nicht, wenn sie über ihre Historiker-Figuren und über ihre Medienmodelle Mechanismen des Speicherns und Repräsentierens von Vergangenheit in die Narration mit aufnehmen, die dem Prinzip narrativer Sinnbildung skeptisch gegenüberstehen. Nicht einmal zu einer Figur des ›Trotzdem‹, die sich der Einsicht in die Grenzen des Erzählens bewusst widersetzen würde, verdichtet sich der darin angelegte Selbstwiderspruch. Im Gegenteil: Was als Störung des Erzählens erscheinen könnte, trägt noch zu dessen ungestörterem Vollzug bei. In formelhafter Erstarrung zitiert, führen Gesten der Selbstre-

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flexivität nicht notwendig zu einer Erhöhung der Reflexion oder der Sensibilität. Natürlich geben die Filme nicht vor, Dokumente zu sein. Eher wollen sie gesehen werden als konstruierte Modelle, an denen Fragen von Schuld und Sühne diskutiert werden können, von Verantwortung und Mitläufertum – oder Mitfahrertum auf dem Zug der Geschichte. Aber genau das macht den Einsatz historischer Dokumente prekär. Sie dienen kaum dazu, die Fiktion zu authentifizieren; weit eher kontaminiert die Fiktion die Dokumente, fügt sie ein in einen artifiziellen Fluss, eine Bild-Maschinerie, einen nicht enden wollenden Sturm der Bilder. Einen Sturm, der nicht nur die einzelnen Dokumente instrumentalisiert, sondern, im Fall von Jerusalem oder die Reise in den Tod, auch noch die israelische Topographie. Der Film inszeniert – bemerkenswerterweise, denn es war das erste Mal, dass eine deutsche Produktion dort eine Dreherlaubnis erhalten hat – seinen Showdown in Yad Vashem. Aber mir scheint, dass dort genau das geschieht, was der alte Mann in Jerusalem, der Überlebende des Holocaust, zurückweist: eine Instrumentalisierung des Holocaust zugunsten der Suche nach einer deutschen Identität.

Der Polizeistaatsbesuch Roman Brodmanns Tatortaufnahmen des 2. Juni 1967 Jan Henschen

Geschichte und Tatort Wenn ›die Geschichte‹ das ist, was als Vergangenheit in Wort, Bild und Zahl aufgezeichnet wurde und immer wieder aktualisiert wird, so erscheint es wenig verwunderlich, dass gerade aufsehenerregende Tatorte mit politischer Symbolkraft oftmals ganze ›Kapitel der Geschichte‹ beenden und neue einleiten. Im Tatort als beliebtem Topos der Geschichtsschreibung können sich Brüche in einer einzigen Aktion kristallisieren, sodass sich der Umschlagspunkt an genau bestimmbarem Ort, Zeitpunkt und Personenkreis formiert. Als eine Schnittstelle bekommt ein solcher Tatort dann eine enorme Schubkraft für historische Folgen zugesprochen. »Rom in den Iden des Märzes 44 vor Christus«, »Sarajevo, 28. Juni 1914«, »New York, 11. September 2001«: Allein die Ortsnamen und Datumsangaben sind zu Chiffren von welthistorischen Zäsuren geworden. Opfer und Täter sind hier bekannte und unbekannte Personen, einzelne oder viele, berühmt gewordene und in Vergessenheit geratene. Auch »Berlin, 2. Juni 1967« lässt sich – kaum global von Bedeutung, aber zumindest für das Narrativ ›Bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte‹ wichtig – als solch ein wirkmächtiger Tatort erzählen. Die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizeimeister Karl-Heinz Kurras im Innenhof des Hauses Krumme Straße 66/67 erscheint im Rückblick als »der Funke, an dem sich die

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Studentenbewegung entzündet hat«.1 »Sein Tod war ein Signal für die studentische und außerparlamentarische Bewegung, die ihren Protest gegen Ausbeutung und Unterdrückung besonders in den Ländern der Dritten Welt mit dem Kampf um radikale Demokratisierung im eigenen Land verband«, heißt es auf der Schrifttafel von Alfred Hrdlickas Denkmal Der Tod des Demonstranten, das 1990 vor der Deutschen Oper in Berlin aufgestellt wurde. Die Signal- und Initialwirkung ist seit drei Jahrzehnten der Konsens in der Historisierung der 1960er/70er Jahre, sowohl in der nach wie vor umstrittenen Geschichtsschreibung der bundesrepublikanischen Studentenbewegung als auch der APO und der Neuen Linken. Damit nimmt diese Tatortchiffre zugleich eine Funktion in der Selbstwahrnehmung einer westdeutschen Generationskohorte, der ›68er‹, ein: »Wenn die 68er Bewegung ein Datum, einen Gedenk- oder Feiertag hat, dann ist es der 2. Juni 1967.«2 Mit dem Abstand von über einer Generation lässt sich dieser Umschlagspunkt in Bezug auf seinen Stellenwert nicht mehr umarbeiten. »2. Juni 1967« ist und bleibt gesetzt. Dennoch taucht die Frage immer wieder auf, ob nicht auch diese Geschichte umgeschrieben werden müsse. Jüngst war dies der Fall im Sommer des Jahres 2009, als der Tatort in ein anderes Licht gerückt wurde. Zunächst betraf es den Status des Täters Kurras. Als zwei wissenschaftliche Mitarbeiter der Birthler-Behörde entsprechende Akten öffentlich ins Gespräch brachten, wandelte sich der zu diesem Zeitpunkt 81-jährige Polizeimeister vom zuvor obrigkeitsstaatlichen Waffennarr mit Wehrmachtvergangenheit zum Stasi-Informanten mit Scharfschützenqualitäten. Der Pensionär schwieg, und es blieb dem Medium ›Akte‹ vorbehalten, in dieser Wendung der Geschichte die entscheidende Rolle gegen den Protagonisten zu spielen. Mit diesem Wissen war schlagartig aus einem bis dato genuin westdeutschen Stück Vergangenheit ein kompliziertes Beispiel deutsch-deutscher Interdependenzen geworden. Doch stellt diese Vorgangsschilderung das langwierige historische Nachspiel aus der Summe von Rekonstruktionen durch wieder1 | Kraushaar, Wolfgang: Vielleicht war es nicht die NS-Vergangenheit. In: FROnline (23.05.2009). www.fr-online.de/politik/doku---debatte/vielleichtwar-es-nicht-die-ns-vergangenheit/-/1472608/2838062/-/index.html [14.06.2010]. 2 | Soukup, Uwe: Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967. Berlin, 2007. S. 244.

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entdecktes Material dar. Im Folgenden wird die Sicht zunächst auf diesen Tatort gelenkt, der als ein erst zu generierender Ort in die Anfertigung von ursprünglich ganz andersartig angelegtem Dokumentationsmaterial regelrecht hineinplatzt und so den Charakter einer dokumentarischen Erzählung während ihrer Produktion verändert. Der Film Der Polizeistaatsbesuch – Beobachtungen unter deutschen Gastgebern von Roman Brodmann aus dem Jahr 1967 gilt heute als das Dokumentationsstück der historischen Zäsur dieses Tatorts. Die Wege seiner Tatortdokumentation in bewegten Bildern stehen im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung, insbesondere in Wechselwirkung mit anderen Medien des Dokumentierens und der weiterführenden Geschichtsschreibung des Films selbst. Analysiert wird also die Historisierung eines ›Tatortfilms‹ zwischen Kriminalistik und Geschichte.

Der Film und die Orte der polizeilichen Tätigkeiten Die Beobachtungen des Schweizer Regisseurs Roman Brodmann sowie die 16mm-Aufnahmen der beiden Kameramänner Franz Brandeis und Michael Busse sollten in einen ironischen Film mit dem Arbeitstitel »Der Staatsbesuch« münden. Schah Mohammad Reza Pahlewi hatte für die erste Juniwoche des Jahres 1967 einen Deutschlandbesuch angekündigt. Das Filmteam reiste Ende Mai, Anfang Juni an die zu besuchenden Orte, um die Vorbereitungen zu beobachten. Das Sujet des Films hatte sich zuvor durch eher zufällige Umstände ergeben. Nachdem der Leiter der Dokumentarabteilung des Stuttgarter Süddeutschen Rundfunks (SDR), Heinz Huber, beim Regisseur Brodmann angefragt hatte, für die Reihe Zeichen der Zeit einen Staatsakt zu betrachten, erschien das persische Herrscherpaar schlicht als die nächstliegende Prominenz auf der diplomatischen Agenda. Dabei passte der Schah insofern gut in das Konzept, als dass diese »durch die sogenannte Soraya-Presse ungeheurer hochgejubelte Figur«3 bereits im 3 | Brodmann zitiert nach: Sander, Herwig: Basel-Stuttgart und zurück. Ein Gespräch mit dem Schweizer Dokumentarfilmer und Journalisten Roman Brodmann. In: Zimmermann, Peter (Hg.): Fernsehdokumentarismus: Bilanz und Perspektiven. München, 1992. S. 93-107. S. 101. Soraya EsfandiaryBakhtiari war von 1951 bis 1958 als Vorgängerin von Farah Diba die Kaiserin von Persien und wurde ab den 1960er Jahren Teil des europäischen Jet-Sets.

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Vorfeld von kritischen Veröffentlichungen kontrastiert wurde. Durch Bahman Nirumands gerade erschienenes Buch Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt war beispielsweise die Journalistin Ulrike Meinhof angeregt worden, sich für die Juniausgabe der Zeitschrift konkret kritisch mit den Umständen des Staatsbesuchs auseinanderzusetzen. Ihr Offener Brief an Farah Diba4 diente als Flugblatt zum Aufruf des (vor allem studentischen) Protestes am 2. Juni. Die Kenntnisnahme »einer gewissen politischen Spannung, die in diesen ganzen Ablauf eingebettet war«,5 bestimmte aber nicht das planerische Kalkül der Produktion. Denn weder diese Spannung noch der Schah und seine Entourage sollten in den Beobachtungen im Mittelpunkt stehen. Der Redakteur Heinz Huber erklärt in einem Vorabschreiben als Ziel, dass »wir Deutschen selbst […] das Objekt des kritischen Berichtes« sein sollten, wodurch das Verhalten der »privaten und offiziellen Bundesbürger«6 rund um die Visite sichtbar würde. Das Filmteam suchte zu Beginn der geplanten zehn Drehtage Orte auf, an denen Tätigkeiten der arbeitsweltlichen Vorbereitung das kommende Geschehen erst zu einem besonderen, staatstragenden Ereignis machen würden. Im Film sind daraus resultierende Szenen wie folgende montiert: Die jungen weiblichen Hostessen des Hotels Eisenhut in Rothenburg ob der Tauber üben fünf Tage vor dem Besuch den angemessenen Knicks unter den Augen ihrer älteren Chefin, die sich damit auf den »prominentesten Gast, seit sie für den Führer einen Apfel schälen durfte«, einstimmt, wie die Kommentarstimme erklärt. Ein Laienschauspieler studiert eine kleine historisierende Begrüßungsrede ein, anschließend werden die kaiserlichen Hotelzimmer vorgestellt – das Eingeübte wird dann aber schließlich doch »aus Sicherheitsgründen« verboten. Und eben solche Formen von »Sicherheit« bestimmen im Folgenden das Sujet. Das besondere Augenmerk wurde so einerseits auf die Tat-Orte der Polizei gelegt,7 andererseits auf 4 | Meinhof, Ulrike: Offener Brief an Farah Diba. In: konkret, 6 (1967). S. 21f. 5 | Brodmann zitiert nach: Sander: Basel-Stuttgart und zurück. S. 102. 6 | Müller, Jürgen K.: »Zeichen der Zeit« – eine Retrospektive. Renaissance einer Fernseh-Dokumentationsreihe. In: Zimmermann: Fernsehdokumentarismus S. 125. 7 | Der Filmkommentar klärt dazu mit Zahlen auf: »Es ist ein Staatsbesuch der Superlative, wo immer von der Polizei die Rede ist. 4000 Uniformierte und 680 Kriminalbeamte hat man alleine in Nordrhein-Westfalen dem

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potenzielle Tatorte beispielsweise gewaltsamer Störung oder gar eines Attentats. Bereits in dem ersten Rothenburg-Teil werden die immensen Sicherheitsmaßnahmen angesprochen, die den Alltag einschränken oder gar außer Kraft setzen: »Jeder Turm ist besetzt, jedes Fenster um den Marktplatz ist polizeilich erfasst«, so wird erklärt, denn mehrfach heißt es: »Der Schah ist eine besonders gefährdete Person.« Als die Zeichen der Zeit präsentiert und mit entsprechenden, ironischen Kommentaren (»Rothenburg ob der Tauber, das Mekka der deutschen Romantik, erwartet den Kaiser aus dem Morgenland […], der seit fünfzehn Jahren eine Lücke im deutschen Bürgersinn schließen hilft«) unterlegt, sind die Filmszenen interpretierbar als Dokument obrigkeitsstaatlichen Denkens und zutage tretender Autoritätssehnsucht. Das entsprach durchaus dem Paradigma der gesamten Sendereihe. Die kritische Grundhaltung der Zeichen der Zeit-Redaktion des SDR, auch als Stuttgarter Schule des Dokumentarfilms bekannt geworden, erklärte Brodmanns Kollege Wilhelm Bittorf als gemeinsames Anliegen: »Ich glaube, unser Ausgangspunkt war unterschwellig immer, das Gegenteil mit Film zu machen von dem, was die Nazis damit gemacht hatten, die ihn äußerst geschickt dazu benutzt hatten, zu heroisieren, die Wirklichkeit zu überhöhen, um gewaltige patriotische Emotionen auszulösen. […] Wir waren entschlossen, […] den Film kritisch einzusetzen. Diese Mittel der Vergegenwärtigung, der Lebendigkeit zu benutzen, um Wirklichkeit unheroisch und eher entlarvend und kritisch darzustellen.« 8

Es stellt sich die Frage, wie der für diesen Film programmatische Titel der Reihe und das Gesehene in Beziehung stehen, denn die Namensgebung Zeichen der Zeit ist offen für verschiedene Interpretationen: Handelt es sich bei den Filmaufnahmen um das Festhalten von Zeichen, die die Zeit hervorbringt? Stehen diese Zeichen gar allegorisch für die Zeit? Sind die Filmaufnahmen selbst diese Zeichen? Sind sie Zeichen für oder von der Zeit? Was bedeutet überhaupt Zeit – inwieStaatsbesuch zu bieten. Über 4000 sind es in München, 5000 in Berlin, wieder 4000 in Hamburg. In der ganzen Bundesrepublik inklusive Westberlin sind rund 30.000 Menschen aufgeboten zur Sicherheit des Gastes, der eine besonders gefährdete Person ist.« 8 | Steinmetz, Rüdiger/Spitra, Helfried: Dokumentarfilm als »Zeichen der Zeit«. Vom Ansehen der Wirklichkeit im Fernsehen. Konstanz, 1992. S. 27.

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fern beinhaltet das eine Einordnung in die Zeichen aus der Vergangenheit für die Gegenwart oder gar die Zukunft, im Sinne vorausdeutender Zeichen? Nach den sechs Drehtagen in Rothenburg reiste Brodmann nach Berlin, wo er erkannte: »[H]ier wird’s heiß. Und dann ganz schnell der Beschluß gefaßt: das Protokoll interessiert mich nur ganz zweitrangig, jetzt muß der Film auf zwei Ebenen gestellt werden. Die eine Ebene ist der Staatsbesuch, und die andere Ebene ist der Protest dagegen.«9 Sein Assistent Wagner verfolgte weiter den ursprünglichen Plan und reiste für Aufnahmen nach München. Bilder von dort sowie aus Hamburg und Lübeck sollten den Film ausklingen lassen. Der Schweizer Dokumentarfilmer selbst war mit Toningenieur Bosch und Kameramann Busse am 2. Juni 1967 vor Ort. ›Vor Ort‹ bedeutete in diesem Fall nicht mehr wie geplant in der Aufführung der Zauberflöte, sondern vor der Deutschen Oper. Dieser Ortswechsel machte den entscheidenden Perspektivwechsel aus, denn »dann kam genau diese Situation, die etwas wichtiges ist für den Dokumentarfilmer meines Erachtens überhaupt. Daß man nämlich nicht ein Gefäß aufstellt und sagt, das will ich jetzt im Sinne meiner Vorgabenpläne füllen. Durch das Protokoll des Auswärtigen Amtes hätte man sich praktisch das Drehbuch schreiben lassen können. Alles, was sich abspielte innerhalb von diesen 10 Tagen, das stand schwarz auf weiß ausgedruckt, man brauchte nur hingehen und drehen. Aber das Entscheidende war eben, daß man nicht nur das Protokoll verfolgte, sondern auch die zweite Linie suchte und die dritte Linie dahinter und mit der entsprechenden Bereitschaft, so wie die Verhältnisse sich je nach dem ändern, auf die Veränderung einzugehen, und den Film möglicherweise etwas anderes werden zu lassen, als man ursprünglich einmal gedacht hatte. An einem ganz bestimmten Punkt; von einem gewissen Punkte an war nichts mehr an diesem Staatsbesuch Folklore, sondern Politik.«10

Dokumentation und kriminelle Tat Die Gewalt der »Jubelperser« und der Berliner Polizei bilden im Film die Stelle, an der das auf arbeitsweltliche Vorbereitung und polizeili9 | Brodmann zitiert nach: Hoffmann, Kay: Zeichen der Zeit. Zur Geschichte der Stuttgarter Schule. München, 1996. S. 111. 10 | Brodmann zitiert nach: Sander: Basel-Stuttgart und zurück. S. 102.

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che Prävention gerichtete Narrativ umschlägt in die Sichtbarmachung eines kriminalistischen Tatorts. Vor der Deutschen Oper waren es zunächst Körperverletzungen, zum Teil schwere, sowie Amtsmissbrauch der Polizisten und unterlassene Hilfeleistung. Mit Beginn der Dämmerung kommt eine weitere, aus der Nachbetrachtung die entscheidende Straftat hinzu: die Erschießung von Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras. Und so verändern sich auch die bewegten Bilder als Zeichen der Zeit. Der Moment einer Ausnahmesituation und das tödliche Geschehen holen diese Zeichen ein. Das Filmteam war zum Zeitpunkt des Schusses nur ungefähr 20 Meter vom Tatort entfernt.11 Dass so etwas geschehen würde, konnte Brodmann in keiner Weise erahnen. Die Geschehnisse greifen in den Prozess der Filmentstehung ein, und der Filmemacher weigert sich nicht, aus einem Film mit dem Arbeitstitel Der Staatsbesuch den Polizeistaatsbesuch zu machen. Im Gegenteil: Er bekundet, diese Entscheidung regelrecht getroffen haben zu müssen: »Von einem gewissen Augenblick an war das deutlich genug, und von einem nächsten Augenblick an wurde es dann zwingend, da hat man gesehen, es gibt gar keinen anderen Weg mehr, als abzukippen auf diese Ebene des Handlungsverlaufs. In Berlin hat sich ganz klar erwiesen, da wird ein anderer Film draus, oder da wird ein falscher Film draus.«12

Der Film zeigt ab diesem Punkt eine Chronologie der Tagesgeschehnisse, fast ausschließlich mit O-Tönen unterlegt, und wenn kommentiert, dann sachlich und frei von Ironie. Die Erzählung endet dann mit dem Kaiserpaar bei einem Orgelkonzert in der Lübecker Marienkirche, es wird Bach gespielt und anschließend das letzte Defilee aufgefahren. Hier, bei den ›Tagen danach‹, setzt wieder die bissige Ironie des Kommentars ein. Mit der Aufzeichnung des Berliner Tatorts verschiebt der titelgebende Begriff des »Zeichens« seine Semantik. Weg vom Sinnbildlichen einer bestimmten Geisteshaltung, wird das Indexikalische, einhergehend mit der einsetzenden strafrechtlichen Auseinandersetzung, an den Film herangetragen. Was bei den Dreharbeiten optisch und akustisch aufgezeichnet wurde, scheint kausal aus dem Gesche-

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henen hervorgegangen und bekommt so den Status von Indiz und Beweis. Ein Brief der SDR-Pressestelle vom 3. August 1967 erläutert: »Der Toningenieur Rainer Bosch und der Kameramann Michael Busse waren während der Aufnahmen in Berlin unmittelbar hinter dem Polizeikordon und dem Wasserwerfer mit vorgegangen. Das Tonband lief etwa 3 Minuten, bevor der Schuß fiel (der, wie wenige Augenblicke später erkennbar wurde, den Studenten Ohnesorg tödlich verletzt hatte) und lief danach auch noch 2 Minuten weiter. Toningenieur und Kameramann waren zu diesem Zeitpunkt 15 bis 20 Meter von dem Zwischenfall entfernt. Die Aufnahme am Ort des Geschehens und die Wiedergabe in der späteren Sendung enthielten den authentischen Schuß als echtes Tondokument in einer tatsächlichen Einheit von Zeit und Ort. Die Aufnahme diente übrigens inzwischen als Indiz für die Ermittlung der Staatsanwaltschaft in Berlin, und zwar auf deren ausdrücklichen Wunsch.«13

Damit wurde ein zweiter Tatortdiskurs eröffnet. Neben einer wiederholbaren Sicht- und Hörbarmachung des Ereignisses, der medialen Übermittlung für Fernsehzuschauer und damit letztlich auch für das Archiv wurden die Filmaufnahmen Teil eines Ermittlungsverfahrens über Schuld und Unschuld. Der Stellenwert der Ton- und Bildaufnahmen wurde dabei auch jenseits von polizeilichen Ermittlungen herausgestellt, beispielsweise im Kursbuch »Der nicht erklärte Notstand«. Es war der Versuch, nach einem Jahr die Vorgänge rund um den 2. Juni 1967 erneut in Augenschein zu nehmen und in Form einer großen Materialsammlung (Zeugenprotokolle, Polizeiakten, Presseberichte, offizielle Stellungnahmen, Leserbriefe, Flugblätter etc.) zu rekonstruieren. So wurden die bewegten Bilder zum Zeichen im Sinne eines Belegs von Tatsachen für den politisch-moralischen Diskurs: »Filmaufnahmen, Photographien und Zeugenaussagen belegen den Tatbestand, daß die Polizei den Angriff der Schahfreunde auf die Demonstranten zuließ.«14 Die Einheit von Personen, Ort 13 | Zitiert nach Hoffmann: Zeichen der Zeit. S. 111f. 14 | Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Kursbuch 12 »Der nicht erklärte Notstand. Dokumentation und Analyse eines Berliner Sommers«. Frankfurt a.M., 1968. S. 121. Im Anschluss an die Ermordung Ohnesorgs wurden beispielsweise sowohl ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss vom Berliner Abgeordnetenhaus als auch ein studentisches Ermittlungskomitee durch den AStA der Freien Universität Berlin eingesetzt.

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und Zeit war hier ebenfalls der entscheidende Faktor: »Auch Benno Ohnesorg gehört zu denen, die den Hof nicht mehr rechtzeitig verlassen konnten. Er wurde zu einem Zeitpunkt erschossen, als sich bereits Photo- und Filmreporter auf dem Grundstück befanden.«15 Dass einige Journalisten nicht allein Augenzeugen, sondern mit Aufzeichnungstechniken ausgestattet waren, schien den anwesenden Polizisten durchaus als problematisch bewusst, sodass sie eingriffen. Eine Zeugin sagte später über die Filmleute aus: »Die sind rüber gekommen und haben alles ausgeleuchtet. Und das sind die Aufnahmen, die da entstanden sind. Daraufhin kam ein Polizist und hat geschrien: Licht aus! Licht aus!«16 Selbst mit dem Abstand vieler Jahrzehnte wird beispielsweise das Tonband von Rainer Bosch immer noch als der Schlüssel inszeniert, der alle Verteidigungsaussagen für Kurras ad absurdum hätte führen können. In der Recherche von Uwe Soukup heißt es über das Band: »Darauf ist nicht nur zu hören, dass nur ein Schuss fiel, sondern auch die kurz darauf einsetzenden ›Mörder, Mörder‹-Rufe von Demonstranten. Man hätte aber noch etwas anderes hören können, wenn man das Band zugelassen hätte: den Ruf einer männlichen Stimme »Kurras, gleich nach hinten! Los! Schnell weg!« – etwa eine Minute nach dem Schuss. Wer das gerufen hat, konnte nicht ermittelt werden – weil das Tonband vom Gericht unterdrückt wurde. Würde nicht in jedem anderen Verfahren fieberhaft nach demjenigen gesucht werden, der hier (dem Anschein nach wie ein Vorgesetzter von Kurras) Befehle zu geben scheint?«17

Es ist also weniger das, was im Film zu sehen ist, als das, was zu hören sein könnte. Ein akustischer Tatort, ein hörbares Indiz. Aber die Schussgeräusche verbleiben und verhallen im historischen Konjunktiv. Spätestens an dieser Stelle entsteht ein Bruch in der Deckungsungleichheit zwischen kriminalistischem, juristischem und historischem, ›geschichtemachendem‹ Tatort. Mit den Resten und Fragmenten medialen Recordings wird der Tatort freigegeben für Spekulationen aufgrund einer Gemengelage von Verschwörungstheorien 15 | Ebd., S. 78. 16 | Zitiert nach Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg? S. 130. Bei den Lichtverhältnissen in der Dämmerung und in einem Hinterhof musste offenbar Zusatzlicht installiert werden. 17 | Ebd., S. 106f.

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und medialen Splittern, Geisterstimmen und Gespensterbildern des Tatorts, wie sie vergleichsweise vom Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas aus einer ganz ähnlichen Gemengelage heraus ein ausuferndes Nach-Leben proliferieren. Nun ist der Film nicht mehr anders als aus heutiger Sicht anzuschauen. Diesen Film nach über 40 Jahren also als ein Dokument zu betrachten, fällt insofern schwer, als dass er kein glückliches Instrument der Geschichte ist, die auch ohne dieses Dokument als sie selbst existiert hätte, wie es sich in Anlehnung an Michel Foucaults Gedanken zum Dokument definieren ließe. Doch was ist der Film dagegen? Wie verhält er sich zu der Tat und dem Ort zu einem Zeitpunkt, an dem zwar einerseits vor der Deutschen Oper mit Hrdlickas Bronzerelief ein Monument steht, andererseits und zugleich jedoch die berühmt berüchtigten Zeitzeugen, noch zum Teil wortmächtig, zum Teil schweigend, privat und öffentlich erinnern? Eine Neuveröffentlichung des Films auf DVD wurde mit folgenden Worten begründet: »Brodmann ist der einzige, dessen Kamera diesen schicksalhaften Moment einfängt – einen Moment, der als Auftakt der deutschen Studentenrevolte in die Geschichte eingehen wird. So erweist sich sein Film in der Rückschau als ein einzigartiges Zeitdokument: als ein hellsichtiges Portrait der bundesdeutschen Gesellschaft am Vorabend von 1968.«18

So widerfährt dem Film also eine Setzung. Die Setzung, er sei »Zeitdokument«, eingefügt wiederum in den noch größeren historischen Rahmen und zugleich auch noch mit »Filmgeschichte« etikettiert und gebündelt: »Die große ZEIT-DVD-Edition berührt die brennenden Themen der jüngeren deutschen Geschichte. 12 Filme beleuchten Schicksalsstunden der letzten 60 Jahre: Von der Wannseekonferenz, mit der »Das Böse in die Welt gesetzt wurde« bis zur Wiedervereinigung. Themen, die dieses Jahr aus einem veränderten historischen Bewusstsein heraus in den Blickpunkt treten, wie die Erschießung von Benno Ohnesorg oder der Olympiamord. Die 12 vielfach

18 | Beschriftung der DVD-Beilage »Der Polizeistaatsbesuch« des Heftes Zeit Geschichte 2/2007 »Das Jahr der Revolte«.

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preisgekrönten und eigens von der ZEIT ausgewählten Dokumentationen schrieben Filmgeschichte.«19

Auch in der DVD-Veröffentlichung in der ersten Ausgabe der Bibliothek der Widerstands20 wird deutlich geschrieben, dass der 2. Juni 1967 harte politische Auseinandersetzungen, Gewalt und auch den RAF-Terrorismus zur Folge hatte: »Der Startschuss zu diesem mörderischen Konflikt fiel mitten in Westberlin – aus der Pistole des Beamten der Politischen Polizei, Karl-Heinz Kurras. Die destruktive Energie, die niemand mehr unter Kontrolle bekam, wurde am 2. Juni 1967 freigesetzt.«21 Die Zeichen der Zeit sind in beiden Beispielen ausschließlich nachträglich zu deutende – damit haben sie die Veränderung ihres Status an einem und für einen historisch werdenden Tatort mit dem des kriminalistischen Tatorts gemein. Erst in der Nachträglichkeit und dem Ex-post-Wissen ergeben sich ›Sachlagen‹ und ›Fakten‹, die sich allerdings in nur seltenen Fällen auch auf instantane Aufzeichnungstechniken stützen oder durch sie entkräftet werden können. Es bleibt der Verdienst des Filmemachers Roman Brodmann, nicht allein diese Aufzeichnungen möglich gemacht zu haben, sondern vielmehr den Möglichkeiten der Nachträglichkeit behutsam und vorsichtig begegnet zu sein. Die Montage seiner Aufnahmen und das Narrativ des Films reagierten auf den Tatort, ohne zwingend auf ihn zu zulaufen. Damit lässt er den genannten Zufällen und nicht planbaren Koinzidenzen im Film selbst ihren Raum. Brodmanns bewegte Tatortortbilder aus der Krummen Straße 66/67 vom 2. Juni 1967 bieten damit die Geschichte ihrer Zeichenwerdung und geben zugleich die Zeichen einer Geschichtswerdung an.

19 | Produktbeschreibung: »Deutschland: Schicksalsstunden«, 12 DVDs und Begleitbuch. Hamburg, 2008. 20 | Baer, Willi/Bitsch, Carmen/Dellwo, Karl-Heinz (Hg.): Der 2. Juni 1967. Bibliothek des Widerstands. Bd. 1. Hamburg, 2010. 21 | Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg? S. 242.

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Tat-Ort und Schau-Platz Straßenmediale Konstellationen der Race Riots in Chicago 1919 David Sittler

Die folgenden Überlegungen haben nicht das Ziel, eine Tat in ihrem Hergang zu rekonstruieren. Sie beginnen nicht mit dem spurenlesenden Blick auf einen kriminalistischen Tatort und seine Indizien, von dem aus eine Tat (neu) erzählt werden kann. Es wird hier vielmehr umgekehrt vorgegangen, indem vorliegende Tatorte auf den Prozess ihrer medialen Etablierung selbst hin untersucht werden. Bestimmte Straßenterritorien und stadtlandschaftliche Orte sind für (potenziell politische) Verbrechen nicht nur die Zufallskulisse, sondern Bestandteil ihrer überindividuellen ›Aussage‹ oder Bedeutung – als symbolischer Tat-Ort gewaltförmiger (politischer) Kommunikation. Gleichzeitig ist dieser Straßenraum ein Medium solcher Taten als ›Schau-Platz‹, der einen Öffentlichkeitseffekt eben dieser Tat zunächst im Lokalen ermöglicht – doch eben in einigen Fällen weit über das Lokale hinaus. Insbesondere in einer Metropole mit kultureller und politischer Strahlkraft wie Chicago im betrachteten Zeitraum war die Straße als besonders belebter und beobachteter Raum bereits Produktionsplatz von (Medien-)Ereignissen, die ein Verbrechen zur politischen Tat oder Aussage deutbar machten oder als Symptom einer Bedrohung von einer ›crime scene‹ zu einer imaginierten und auch in anderen Medien erzählten ›crime scenography‹ werden ließen. Die Entwicklungen solcher Fälle von einer Straßenbegebenheit zu einem Bestandteil des jeweiligen historischen, kollektiven Bild- und Narrativ-Repertoires waren allerdings keineswegs zwangsläufig. Interessant ist daher weniger die Frage nach dem »Warum« als die nach

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dem »Wie«, mehr die Form der Tat als die Motivationen oder die Täter und Opfer. Welche Faktoren und Dinge auf der Straße und in ihr als Medienensemble mussten zusammenkommen, um einen solchen aufmerksamkeitsgenerierenden Effekt der Straße zu ermöglichen? Im Blickfeld dieser Untersuchung stehen die Race Riots in Chicago Ende Juli, Anfang August 1919. Ausgangspunkt ist die Frage, wie aus und mit Gewalttaten, Gerüchten, aber vor allem verschiedenen Wahrnehmungen wie Projektionen und Interpretationen die Riots als ›Ereignis‹ hervorgebracht werden konnten. Es geht um die spezifisch gerahmten Erscheinungs-, Deutungs- und Übertragungsweisen von Statussignalen bis hin zu politischen Haltungen auf der Straße und ihren Medientechniken. Die urbane Straße erwies sich unter den Bedingungen der modernen Metropole als eigene Sphäre, in der die Massenöffentlichkeit kommunizierte, quasi als ein Massenmedium, wie am Beispiel der Riot-Erzählung gezeigt werden wird. Es soll nachvollziehbar gemacht werden, wie Anordnungen, die wir heute als die sogenannten Race Riots kennen,1 noch oder schon während des Geschehens produziert wurden. Diese Produktion von ›Tatorten‹, die ich als ›Ver-Tatort-ung‹ bezeichnen möchte, gilt es einerseits, im sofortigen situativen Aushandlungsprozess divergierender Wahrnehmungen der Straße während des Rioting zu untersuchen. Andererseits wird in die Analyse auch ihre Weiterverarbeitung in polizeilich-juristischen und anderen Ex-post-Narrationen, die dem öffentlichen Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit des Geschehens nachzukommen versuchte, einbezogen. Selbst die brutalste Gewalthandlung wirkte meiner Auffassung nach insofern bereits straßenmedial vermittelt auf die Menge, als dass sie nur von Einzelnen direkt erfahren werden konnte. Die 1 | Zwischen dem 27. Juli und 6. August 1919 kamen im Rahmen verschiedener spontaner gewaltsamer Auseinandersetzungen vor allem auf den wichtigen Straßenkreuzungen hauptsächlich im Süden und Westen der Stadt, aber auch Downtown, insgesamt 36 Menschen zu Tode, die Mehrheit von ihnen Schwarze. Nach einem Mord an einem schwarzen Jungen kam es zu einer Reihe von Gewalttaten; schwarze Pendler wurden von Menschenmengen aus Straßenbahnen geholt, schwarze Passanten verprügelt oder gejagt, wobei rassistische Parolen geäußert wurden. Einige schwarze Bürger gingen zu Gegenangriffen über. Während der Unruhen wurden zum Teil Häuser schwarzer Bewohner geplündert, aber auch Polizisten und weiße Passanten angegriffen beziehungsweise gegen Ende der Ausschreitungen Häuser, in denen litauische Immigranten lebten, in Brand gesetzt.

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Mehrheit auf der Straße war bereits, ihrer Position und beschränkten Übersicht entsprechend, auf eigene und fremde Interpretation des Geschehens, auf seine Geräusche und sichtbaren Effekte angewiesen. Die Gewalthandlung bekam ihre Bedeutung wie jede andere Aktion auf der Straße erst durch die unterschiedlichen Wahrnehmungen, die wiederum zu einem beträchtlichen Teil von Interpretationsroutinen der in der Regel auf der Straße zu beobachtenden Stereotypen und typischen Verhaltensweisen vorgeformt waren. Hinzu kam, dass das Verhalten der Menge von dem Wissen geprägt war, dass es sich hier um eine öffentliche sowie potenziell politische Arena handelte, in der die sichtbare ›Verkehrsordnung‹ – also ungeschriebene wie geschriebene Gesetze, die das Verhalten auf der Straße betrafen – nicht zuletzt die amerikanische wie die jeweilige lokalgesellschaftliche Identität der community beziehungsweise das Selbstbild als ›selbstbeherrschte friedliche und freie Gemeinschaft‹ repräsentierte. Schließlich ist zu zeigen, dass Gewalttaten einer Vermittlung als Tatorte bedurften, um Bedeutung zu erhalten und Teil der Riots zu werden. Nachdem Befürchtungen eines gewaltsamen Zusammenstoßes schon seit Wochen in Chicago virulent gewesen waren, schienen sie sich scheinbar plötzlich als tatsächliche Beweise dieser Gefahr zu realisieren. Der Interpretationsspielraum, den die Straßen-Schauplätze aufgrund ihrer Unübersichtlichkeit ließen, war beachtlich – und zwar nicht erst im Nachhinein, sondern schon vor Ort. In der folgenden Analyse können nur textuelle Spuren dieser Dynamik ermittelt werden. Als Materialbasis dient der Bericht der Chicago Commission on Race Relations und ihrer soziologisch gefärbten Ermittlungen des Geschehens. Noch während der Riots hatten prominente schwarze und weiße Bürger von Gouverneur Frank Orren Lowden gefordert, die Ursachen und die Abläufe der Ausschreitungen untersuchen zu lassen und damit zu erklären, wie es in Chicago dazu habe kommen können, obwohl dort Schwarze dem Gesetz nach vollkommen gleichberechtigt waren. Außerdem sollten die Untersuchungen weitere Ausschreitungen dieser Art für die Zukunft zu verhindern helfen. Die Kommission wurde im August 1919 berufen und veröffentlichte auf der Basis dreijähriger soziologischer Untersuchungen der University of Chicago einen über 600-seitigen Bericht.2 2 | Chicago Commission on Race Relations (Hg.): The Negro in Chicago. A Study of Race Relations and a Race Riot. Chicago, 1922 [Im Folgenden: CCORR].

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Außerdem stützte sich die Kommission für ihre Darstellung der Tathergänge zum Teil auf den Bericht des Untersuchungsrichters und nahm Befragungen von an der Strafverfolgung beteiligten Bürgern vor. In dem Bericht wurden die Gewalttaten als Resultate aus den spezifischen Lebensumständen in Chicago im Jahr 1919 erklärt und mit Statistiken ›belegt‹. Die Kommission schuf dabei ein Narrativ, das die Riots als extremen Auswuchs eines generellen Problems der Verständigung zwischen Schwarz und Weiß erklärte, insbesondere in der kritischen Wohnsituation nach der ›Great Migration‹ von Südstaatlern in den industriellen Norden während des Ersten Weltkriegs. Trotz der Differenziertheit des Berichts trug er zur Aufrechterhaltung der informellen Segregationsbestrebungen auf dem Chicagoer Wohnungsmarkt bei.3 Dem Narrativ wurde durch den einleitenden Kommentar des Gouverneurs ein Unparteilichkeits- und offizieller Wahrheitsanspruch verliehen, der schon allein durch die Zusammensetzung dieses Gremiums garantiert sein sollte, das zu gleichen Teilen aus gesellschaftlich etablierten schwarzen und weißen Bürgern bestand. Bei den Ausschreitungen wurden insgesamt mindestens 36 Menschen getötet: Die Mehrheit von ihnen waren Schwarze. Nur in vier Fällen konnten Tathergang und Täter juristisch ausreichend eindeutig geklärt werden, sodass es zu Verurteilungen kam. Längst nicht alle Schauplätze fanden als offiziell anerkannte ›Tatorte‹ Eingang in den Bericht der Kommission, obwohl er beanspruchte, alle Morde und Todesfälle während der Riots zu dokumentieren.4 Die Schwierigkeiten, schon allein die Tathergänge zu rekonstruieren, hatten ebenso mit der kollektiven Dimension der Tötung zu tun wie mit der Beschaffenheit der meisten Schauplätze als Bestandteil der Straße. Die Auswahl der Opfer geschah spontan und situativ. Dabei war allein das Kriterium der Hautfarbe des auserkorenen ›Verurteilten‹ relevant und nicht seine individuelle Identität, zumal es sich oftmals um zufällige Passanten handelte. Als Raum und Territorium einer lokalen und zugleich potenziell breiten Öffentlichkeit wurden die Chicagoer Straßen während der Riots deutlich als Mittel der Mas3 | Vgl. Philpott, Thomas Lee: The Slum and the Ghetto: Immigrants, Blacks, and Reformers in Chicago, 1880-1930. Belmont/CA, 1991 [Oxford, 1978]. 4 | Vgl. beispielsweise die Schilderung einer Riotszene bei Thrasher, Frederic M.: The Gang. A Study of 1313 gangs in Chicago. Chicago, 1927. S. 47. Reprint in: Beirne, Piers (Hg.): The Chicago School of Criminology 19141945. Vol. III. New York, 2006. Vgl. Appendix CCORR.

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senkommunikation sowie individueller und kollektiver Selbstdarstellung und -verortung benutzt. Hier ging es um eine massenmediale – im Extremfall körperliche – Stellungnahme im Bezug auf das ausreichend diskursiv stabilisierte, sogenannte »Negro problem«.5 Getötet wurde, wie die Kommission hervorhob, in Straßenbahnwagen, auf der Fahrbahn oder auf dem Bürgersteig, insbesondere an Kreuzungen wichtiger Straßen und in der Nähe zentraler Umsteigepunkte – immer auch in symbolisch-repräsentativer Absicht. Die meisten dieser Schauplätze befanden sich im proletarisch-kleinbürgerlich-migrantisch dominierten Süden und Westen der Stadt, also an Orten, die mit mehrheitlich europäischen und schwarzen Migranten aus den Südstaaten konnotiert waren.6

» A Study of Race Relations and a Race Riot« Der Bericht wird mit dem Photo einer vom Strand kommenden Menschenmenge eröffnet, das als »der Beginn der Race Riots« betitelt ist.7 Zu sehen ist ein Gedränge relativ gut gekleideter, schwarzer wie weißer Erwachsener auf einer Straße, die an Gleisen mit Güterwaggons endet. Im Hintergrund ist der Lake Michigan zu erahnen. In der Menge befinden sich ein paar Autos. Eine Gruppe, die auf ein nicht erkennbares Objekt geklettert ist, versucht, die Lage zu überschauen. Obwohl oder gerade weil diese Szene eher unspektakulär wirkt, scheint die Photographie reproduziert und an den Anfang gestellt worden zu sein. Die Aufnahme zeigt den – nach der Auffassung der Kommission – entscheidenden Akteur der Ereignisse: die Menschenmenge, die über das Geschehene spricht. Nicht erst in den Redaktionen der Zeitungen, sondern in solchen Zusammenkünften sind die Gerüchte und Schlussfolgerungen für die breite Masse entstanden. 5 | Ich verweise auf die erste Seite des eigentlichen Berichts, auf der alle wesentlichen Inhalte dieses Diskurses paradigmatisch aufgeführt werden. CCORR, S. XXIII. 6 | Im Bericht der Kommission sind die Tatorte in einem Stadtplan eingetragen (CCORR, S. 9ff.), und es ist vermerkt, dass die meisten Zusammenstöße im Westen der Stadt stattfanden, also im weiteren Gebiet um die Schlachthöfe. Sogar im Stadtzentrum kam es zu einzelnen Jagden auf Schwarze. 7 | CCORR, S. 0. Dem Titelblatt gegenübergestellt: »Chicago Race Riot – Beginning of the Riot, Whites and Negroes leaving twenty ninth street beach after the drowning of Eugene Williams«.

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Durch das Photo wird unterstrichen, dass es sich schon beim ersten ›Tatort‹ während der Riots um eine vielfache Projektion handelte, die von einer Unzahl Beteiligter vollzogen wurde – ob Schläger, Steinewerfer, Mitläufer oder sogenannte By-stander. Dabei handelt es sich bei diesem initialen Schauplatz im wahrsten Sinne des Wortes um einen ›verschwommenen‹ Tatort. Denn nur eines war evident: Am heißen Sonntagnachmittag des 27. Juli 1919 wurde ein Junge im Lake Michigan an der 29th street beach in Chicago mit Steinen beworfen und ertrank. Diese Tatsache war spätestens eine halbe Stunde später ersichtlich, als die Leiche des Jungen von Tauchern aus dem Wasser geborgen wurde.8 Das bedeutete aber nicht, dass jeder Anwesende die Ursache und die Verantwortlichen für sein Ertrinken mitbekam. Vorherige Bemühungen weißer wie schwarzer Badender, den Jungen zu bergen, waren gescheitert. Diese menschliche Solidarität wurde von den darauffolgenden Abläufen vollkommen überlagert, da sie nicht in die akuten Tatortnarrative passte.9 Der Mord an dem Jungen setzte bei der Menschenmenge, die sich anschließend auf der 29sten Straße bildete, enorme Emotionen frei, von denen auf dem Photo jedoch nichts zu erkennen ist, die sich aber wenig später in gewaltsamen Auseinandersetzungen entladen sollten. Der Kommissionsbericht beginnt, dem zeitgenössischen hegemonialen Diskurs entsprechend, nicht direkt mit der Schilderung dieser Szene, sondern rahmt sie mit einer Erläuterung des sogenannten »Negro problems«, vor dessen Hintergrund sie zu interpretieren sei.10 Dabei ist der Text ganz in wissenschaftlicher Manier um Distanzierung bemüht, nicht zuletzt von bereits existierenden radikalen Lösungsvorschlägen wie etwa einer gewaltsamen Vertreibung oder Deportation. Nach einer genauen Aufzählung der Materialien, auf deren Grundlage der Bericht erarbeitet wurde – unter anderem fast 6000 Seiten Zeugenaussagen –, folgt eine kurze Schilderung des bereits erwähnten Vorfalls in einer stark an die Ausführung des Staatsanwalts angelehnten Version, nach der der Junge durch die Steinwürfe der Menge am Strand lediglich daran gehindert worden sei, an Land zu kommen. Die Schilderungen der Augenzeugen wurden hier nur

8 | Tuttle, William M.: Race Riot. Chicago in the Red Summer of 1919. New York, 1970. S. 7. 9 | CCORR, S. 5. 10 | Ebd., S. XXIII.

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als Gerüchte erwähnt und der richterlichen Version untergeordnet.11 Für meine eigenen Ermittlungen sind diese Varianten und Deutungsmuster, die Teil des Geschehens waren und zur Entfesselung weiterer Gewalttaten führen sollten, jedoch besonders interessant. Der Ort, die 29th street beach im Süden Chicagos, war dabei nicht ohne Bedeutung. Inoffiziell als ›weiß‹ etabliert und durch eine imaginierte color line bis ins Wasser hinein abgegrenzt von dem benachbarten Strandbereich, den fast ausschließlich Schwarze nutzten, bot sie eine symbolische Aufladung, die das Verbrechen für mehr als nur einen kriminellen Akt interpretierbar machte – als Aussage, Symptom oder Signal. Übertretungen eben solcher imaginierter Grenzen waren an ähnlichen Stellen bereits seit Jahren, zumindest unter jugendlichen Gangs, Anlass von Kämpfen um die ›rassische‹ Reinheit oder Homogenität des beanspruchten Territoriums beziehungsweise der Hoheit über dasselbe: »For years, […] there had been clashes over baseball grounds, swimming pools in the parks, the right to walk on certain streets etc.«12 Für die anwesende, sozial und altersmäßig heterogene Menschenmenge war jedoch vermutlich bereits vor Ort und direkt nach der Tat nicht klar, was als offiziell geschehen und damit als Tatsache gelten könne. Und doch gab es eine gegenüber den sich widersprechenden Darstellungen in den Zeitungen auffallende Gewissheit, mit der die zur ›Gegenwehr‹ übergehenden Anwesenden zum Beispiel das Geschehen als Akt des kollektiven Gegners beurteilten. Die Szene entsprach einem beiderseitigen Erwartungsmuster, das sich aus eigenen Erfahrungen und mündlich kultivierten Stereotypen speiste, welche im Einzelnen nur schwer belegbar sind. Den Täter, der vom Strand aus mit Steinen nach dem schwarzen Jungen geworfen hatte, glaubten die anderen Jungen, die mit dem Opfer im Wasser gewesen waren, zwar identifizieren zu können.13 Aber der anwesende weiße Polizist erlaubte es seinem von den Jungen herbeigeholten schwarzen Kollegen nicht, den Beschuldigten festzunehmen, was als eine deutliche Infragestellung der Gleichrangigkeit beider Ordnungskräfte aufgefasst werden konnte. Die Glaubwürdigkeit war asymmetrisch 11 | William Tuttle (Fn. 8) stellte dies durch ein Interview mit einem Überlebenden, der mit dem Jungen im Wasser gewesen war, richtig. 12 | CCORR, S. 11. 13 | Vgl. Tuttle: Race Riot. S. 4. Auch die folgenden Schilderungen basieren auf den dortigen Angaben.

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verteilt: Auf Beschwerde eines Weißen hin nahm derselbe Polizist dann auch noch einen Schwarzen fest, was das Ungleichgewicht der Szene weiter verstärkte. Entscheidend ist zunächst, dass schon hier ein Tatort als solcher polizeilich und damit potenziell allgemein infrage gestellt wurde. Dass ›etwas‹ nicht als Bagatelle Anzusehendes geschehen sein musste, schien schon der Aufregungsgrad der aufgewühlten Menge nahezulegen. Diese brachte nun ihrerseits verschiedene Deutungen hervor, die, unter entgegengesetzten Vorzeichen, das gezeigte Verhalten entsprechend ihrer Vorurteile nicht nur als symptomatisch für die angenommene allgemeine Bedrohung durch die jeweils anderen erklärte, sondern als demonstrativen Beweis für deren Gefährlichkeit behauptete. Dabei beruhte der Wahrheitsanspruch beider Seiten auf den medialen Umständen der Erbringung dieses ›Beweises‹ an diesem Schau-Platz: auf gerade zuvor erneut als ›weiß‹ beziehungsweise allgemeinöffentlich beanspruchtem und kollektiv handgreiflich markiertem Terrain und unter durch die Menge symbolisch repräsentierter, allgemeinöffentlicher und – moralökonomisch betrachtet – quasi (stand)gerichtlicher Beobachtung. Der Polizist war seiner Rolle als Ordnungskraft und der damit verbundenen Unparteilichkeitsverpflichtung und Schutzfunktion nicht gerecht geworden. Außerdem konnte es als Duldung, wenn nicht Bestätigung des illegalen Verhaltens aufgefasst werden, dass er ›angezeigte‹ Gesetzesübertretungen nicht hautfarbenunabhängig mit der von allen Beteiligten situativ erwarteten Überlegenheit vermittelnden Drastik, zum Beispiel weiterer (vorläufiger) Festnahmen, geahndet hatte. Trotz dieser so ›fixierten‹ Rahmenelemente des Geschehens war nicht ausgeschlossen, dass die ›Rollenbesetzung‹ oder andere Versatzstücke der Deutungen über Gerüchte die Gruppenseite wechseln konnten. In der Chicago Daily Tribune hieß es am nächsten Tag auf der ersten Seite beispielsweise, es habe Gerüchte gegeben, dass ein weißer Junge ertrunken sei.14 Die offensichtliche Ungleichbehandlung und die Ignoranz des schwerwiegenden Vorwurfs durch den Polizisten waren dazu angetan, den Eindruck des nun in den Augen der Schwarzen ›erwiesenermaßen‹ geduldeten Rassismus noch zu verstärken und weißen Riotern die ›offizielle‹ Duldung oder sogar Zustimmung zu suggerieren – alles Bestandteile der folgenden Konfrontationen. Abgesehen von der fortgesetzten Schlägerei um den exklusiven An14 | Two killed Fifty hurt in Race Riot. In: Chicago Daily Tribune, (28. Juli 1919). S. 1.

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spruch auf den Strandabschnitt an der 29sten Straße wurde der Gewaltexzess durch einen Schuss, den ein Schwarzer in eine Gruppe angerückter Polizisten abgab, weiter verstärkt. Der Schütze wurde auf der Flucht von einem schwarzen Polizisten erschossen. Dieser Vorgang war nicht für alle Anwesenden ersichtlich, aber die Schüsse waren zu hören, wie eine abweichende Schilderung in der Zeitung verdeutlicht.15 Der durch die Verschonung des Steinewerfers und die folgende chaotische Straßenszene eröffnete Deutungsspielraum ließ den parallelen gewaltsamen Zusammenstoß weiter eskalieren. Die nun aufkommenden Gerüchte wurden in andere Stadtgebiete getragen und zum Teil später sogar in den Zeitungen abgedruckt. Dennoch schätzten sowohl die Polizei vor Ort als auch der Bericht im Nachhinein die Situation für sich genommen als nicht ausreichend ein, um die Entfesselung dieses Riots zu erklären: »There was every possibility that the clash without the further stimulus of reports of the policeman’s conduct, would have quieted down.«16 Allein, ohne eine überzeugende und plausible ›Ver-Tatort-ung‹, also Stabilisierung des Vorfalls als öffentlich bemerktes Verbrechen und als brutale Manifestation der Ungerechtigkeit rassistischer Behandlung, hätte dieser Vorfall keine größeren Unruhen auslösen können. Aus der Perspektive der Schwarzen wirkte der Vorgang als szenisch sichtbar gewordenes Indiz des Rassismus der Polizei, durch dessen Vermittlung geradezu eine Riotszenographie eröffnet wurde.17 Aus Perspektive der Weißen ›inspirierte‹ die ebenso vermittelte ›Gefährlichkeit‹ der Schwarzen zu weiteren Attacken und Konfrontationen. Dass es sich bei dem ersten Toten um ein Kind handelte und damit um ein per se als unschuldig angesehenes Opfer, dessen Verteidigungswürdigkeit außer Zweifel stand, verlieh dem ganzen Geschehen die besondere Spektakularität, 15 | Im bereits zitierten Artikel aus der Chicago Daily Tribune heißt es, der Polizist habe in die Menge geschossen und dabei den Schwarzen verletzt. 16 | CCORR, S. 5. 17 | Ein Passant wird in der Chicago Daily Tribune vom 29. Juli 1919 im Artikel 3500 Troops ready to go into riot zone zitiert: »A Negro was heard to remark: ›They are doing the same thing here they did at East St. Louis, sending white soldiers into the black belt to quell Negroes instead of sending colored troops. You can look for the same scenes here there were at East St. Louis.‹« Hier wird auch die Verknüpfung mit vorausgehenden Ereignissen deutlich. Vgl. o.A.: 3500 Troops ready to go into riot zone. In: Chicago Daily Tribune, (29. Juli 1919).

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und hatte hohen »moral-ökonomischen« Wert,18 der auf dem mündlichen Übertragungsweg der Straße noch gesteigert wurde.

Fortschreibung Was nach der ersten Tat in den folgenden Tagen passierte, kann man als rhythmische, sich hauptsächlich auf die Feierabend- und Nachtzeit konzentrierende, über die Stadt verteilte und unübersichtliche Gewalteskalation von Menschenmengen auf den Straßen Chicagos beschreiben. Die treibenden Kräfte der jeweiligen sich spontan bildenden Ansammlung nahmen diesen ersten tödlichen Zusammenstoß zum Anlass, verschiedene weitere Gewaltverbrechen zu verüben, die sich, wenn auch zumeist nicht direkt darauf, so doch auf die Deutung dieses Mordes als Signal eines offenen race war bezogen.19 Das wahllose Schießen aus fahrenden Autos, das weiße Angreifer in ›schwarzen‹ Straßen praktizierten, machte zusätzlich eine Verortung der Angriffe besonders schwer dokumentier-, geschweige denn ermittelbar. Interessant an dieser, hier erstmalig vorkommenden ›RiotPraktik‹ ist, dass die Fluchtmöglichkeit der Täter im Vordergrund stand, die damit ihr Wissen um die mehrheitliche Ablehnung solcher wahlloser Gewalt und der damit zwangsläufig zu erwartenden 18 | Vgl. Thompson, Edward Palmer: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M., 1980. 19 | Andrew J. Diamond hat den Zusammenhang von Diskurs und Straßenkultur überzeugend beschrieben: »Out on the streets, however, the will among working class youths to play out such [racial, D.S.] divisions in theaters of street combat was irrepressible in the 1910s and 1920s, […] this will was both a cause and an effect of the normalization of the idea of a race war. […] Yet in working-class quarters, the power and meaning of social Darwinism – and ultimately of the idea of race war – came less from such discourses than from popular cultural forms like prizefighting and the local subcultures that formed in their image. Structured to a great extent by the activities of street fighting, boxing and other competitive sports, the Irish athletic club subculture in the stockyards area was permeated with such ideas in the leading up to the 1919 race riot, and in this it was no exception.« Diamond, Andrew J.: Mean Streets. Chicago Youths and the Everyday Struggle for Empowerment in the Multiracial City, 1908-1969. Berkeley, 2009. S. 39.

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Strafverfolgung in ihr Kalkül hatten einfließen lassen. Die möglichen Opfer waren hier noch beliebiger als bei der ›Jagd‹ auf Einzelne auf der Straße, denen zumindest ein symbolhaftes Vergehen zugeschrieben wurde. In jedem Fall war es ein Charakteristikum des Rioting, dass es auf einer Legitimationsvorstellung – hier auf dem »unwritten law of the color line«20 – basierte, das die weißen Gewalttäter mithilfe der beschriebenen Aufmerksamkeitseffekte und den groben, wenig nuancierenden, körperlichen und oft gewaltsamen Medientechniken der Straße zu verteidigen und öffentlich sichtbar durchzusetzen trachteten. Einem Ausnahme- oder Kriegszustand ähnlich, schien die Übertretung dieses ›Gesetzes‹ pauschal das gewaltsame Vorgehen gegen den vorgestellten kollektiven Gegner zu erlauben und damit sogar die Tötung einzelner Angehöriger der Gegenseite. Andererseits waren sich die ›Aufständischen‹ der formellen Illegalität21 ihres Tuns durchaus bewusst, wenn auch die Strafverfolgung durch die Überforderung und Passivität der Polizeikräfte22 nur selten erfahrbar war. Die Rioter versuchten, sowohl eine mögliche Spurensicherung und Strafverfolgung als auch eine juristische ›Ver-Tatort-ung‹ zu verhindern oder zu erschweren.23 Genau danach, also nach einer Verortung, Zuordnung und daraus schließlich abgeleiteten Erklärung und Beherrschung dieser besonders bedrohlich erscheinenden Aufhebung der öffentlichen Ordnung, verlangte aber die Öffentlichkeit. Nur so glaubte die Kommission, die Vertrauenskrise zwischen schwarzen und weißen Bürgern beheben zu können, die im Riot in Form verschiedener Tatorte scheinbar offensichtlich geworden war und im Bericht beschworen wurde. Da die Jagd auf Opfer an einigen viel frequentierten Orten geschah, fand sie symbolisch ›vor aller Augen‹ statt. Diese Schauplätze waren zwar als solche nicht vorhersehbar, da es sich nicht um bereits etablierte Orte des Protests oder erklärt repräsentative Orte wie die

20 | Philpott: The Slum and the Ghetto. S. XII. 21 | Diskriminierung, geschweige denn Gewaltattacken waren gleichermaßen illegal in Illinois: CCORR, S. 232ff. 22 | Schilderung, wie Polizisten Riotern zusahen, als sie Schwarze verprügelten: ebd., S. 15. 23 | »[N]o names were secured, I didn’t pay any attention.« (Ebd., S. 10) Für die Chicago Race Riots ist beispielsweise zum Teil auch die Einschüchterung möglicher Ankläger überliefert: ebd., S. 14.

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City Hall24 handelte. Ihr Potenzial als Arena der Öffentlichkeit konnte allerdings vor allem an solchen Stellen im Straßennetz realisiert werden. Dadurch verlangten nicht nur die Betroffenen in den einzelnen Vierteln, sondern auch die elitären Mitglieder der Kommission, die sich als einzig legitime Repräsentanten der hegemonialen stadtbürgerlichen Ordnung verstanden, nach einer Erklärung, die eine Entschärfung der Ursachen in Aussicht stellte.25 Schon den ersten ›Tatort‹ charakterisierte also nicht zufällig eine materielle Spurenlosigkeit oder zumindest Spurenarmut.26 Spurenlosigkeit sollte sich für das gesamte Ereignis als paradigmatisch erweisen. Sie ermöglichte eine umso intensivere Deutungsproduktion in den zunächst vor allem mündlichen, ›Tatorte‹ generierenden Übertragungsprozessen. Die Chicagoer Zeitungen spielten eine wichtige Rolle als Verstärker, indem sie relativ unkritisch Gerüchte von der Straße als Nachrichten weiter vervielfältigten und zu Fakten erhoben.27 Entscheidend war allerdings die Plausibilität dieser Behauptungen für die Beteiligten in Gestalt des Mobs auf der Straße. Dass die Gerüchte plausibel oder ›wahr‹ sein müssten, schien sich wiederum in den unübersichtlichen, gewaltsamen Zusammenstößen jeweils neu zu ›beweisen‹. Dabei übertrug sich die jugendliche Abenteuerlust der Gangs und ihre bekannte Gewaltbereitschaft spontan auf Passanten, die sich entweder gegen Attacken verteidigten oder vom Mob mitreißen ließen und womöglich ihre aus anderen 24 | »Strike is on; Cars stop! 20 Slain in Race Riots […] The City Hall was surrounded by sixty detectives armed with rifles, the chief saying this was only for precautionary reasons. He [Chief Garrity, D.S.] declared it possible that Negroes might attempt to march on the city hall.« (O.A.: 3500 Troops ready to go into riot zone). 25 | Die Kommission bestand neben Immobilienhändlern, Rechtsanwälten und sozial engagierten Unternehmern aus einigen wichtigen Zeitungsherausgebern wie Robert S. Abbott, dem Herausgeber des Chicago Defender, der größten Zeitung für Schwarze, und Victor F. Lawson, dem Herausgeber der Chicago Daily News. Vgl. hierzu: Philpott: The Slum and the ghetto. S. 218ff. 26 | In CCORR, S. 4 heißt es zum Beispiel: »His body showed no stone bruises.« 27 | Auf diese kann im Einzelnen nicht eingegangen werden. Der Bericht führt die zentralen Gerüchte auf und erweist sie als solche. Ebd., insb. S. 25, S. 568.

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Zusammenhängen – Weltkrieg, Arbeitslosigkeit etc. – stammenden Aggressionen auslebten. Motivation für diese Attacken waren sowohl die moralische Erregung und der damit einhergehende Vergeltungswunsch für zum Teil frei erfundene schreckliche Vergehen, insbesondere an Frauen und Kindern, als auch persönlicher Rassismus.28 Akte der individuellen Selbstverteidigung führten dann offiziell zu »deaths due to circumstances creating no criminal responsibility«29 im Sinne der Notwehr. Doch man muss betonen, dass es viele weitere mehrdeutige Konstellationen gab, die eine strafrechtliche Untersuchung gerechtfertigt hätten, aber als ›Kollateralschäden‹ im ›Rauschen‹ der Straße untergingen. Zu guter Letzt unterstreicht der Bericht seine kriminalistische Aufklärungsfunktion, wenn er im Appendix in einem »Epitome of Facts in Riot Deaths« die ausgemachten Tatorte auflistet, also die genauen Orte des Todes, den Todeszeitpunkt und die Todesursache sowie eine Kurzschilderung der Umstände nennt.30 Allerdings wird ebenso darauf verwiesen, dass die Täter in vielen Fällen nicht ermittelt werden konnten und somit keine effektive Strafverfolgung eingeleitet wurde. Der mit dem Begriff Tatort verbundene Interpretations- und Faktifizierungseffekt beeindruckender Tat-Sachen an öffentlichen Schauplätzen, also die vereinfachende Erklärung, Interpretation und Einordnung der Geschehnisse vor Ort mit objektivem Wahrheitsanspruch, spielte bei dem, was später Riot genannt wurde, eine zentrale Rolle. Für den Prozess der kollektiven Erzeugung des Riots als Ereignis sind Tatorte unverzichtbar und die ›Ver-Tatort-ung‹ seiner Schauplätze charakteristisch. Das Rioting lässt sich dabei als eigenartige, paradoxale »Improvisation einer [ausreichend, D.S.] vertrauten Situation«31 beschreiben. Es setzte sich aus zwei Komponenten zusammen: einerseits der stereotypisierten Wahrnehmung der Vorgänge, die ein bestimmtes Set an Verhaltensmustern vorgab. Daraus ergab sich noch kein eindeutiges ›Skript‹. Somit musste andererseits der konkrete Ablauf einer gewaltsamen Konfrontation aus der jeweiligen 28 | Der Bericht führt einige interessante Zeugenaussagen über ihre Teilnahme am Mob an. Ebd., S. 23. 29 | Ebd., S. 659. 30 | Ebd., S. 655ff. 31 | Farge, Arlette/Revel, Jacques: Die Logik des Aufruhrs. Die Kinderdeportationen in Paris 1750. Frankfurt a.M., 1989. S. 10.

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Situation heraus improvisiert werden. Die fehlende Koordinierung der Aktivitäten sowie deren Unübersichtlichkeit konnten zu unbeabsichtigten Wirkungen führen, die ich als einen Effekt der Straße als Massenmedium bezeichne. Die Unterscheidung von Zuschauern und Darstellern verschwamm dabei im akuten szenographischen Prozess auf der Straße. Für dessen Aufrechterhaltung war wichtig, dass er über seine Tatorte erfahrbar und erzählbar blieb. Daraus folgt, dass Umstände und Gewalttaten der Riots einer sie mitgestaltenden Vermittlung als Tatorte bedurften, die schon mit der primären Wahrnehmung einsetzte.

Die Autoren

Thomas Bachler studierte von 1982 bis 1989 an der Kunstakademie Kassel bei Prof. Floris M. Neusüss. Zahlreiche Ausstellungen, Lehraufträge und Veröffentlichungen speziell zum Thema der Camera-obscura-Photographie. Lebt seit 2004 in Dresden. www.thomasbachler.de Daniel Eschkötter studierte Germanistik, Philosophie, Politikwissenschaft und Anglistik in Münster, Hamburg und Baltimore. Seit 2010 ist er wissenschaftlicher Koordinator des Graduiertenkollegs Mediale Historiographien. Stephan Gregory studierte Medizin in Marburg und Berlin, Philosophie und Literaturwissenschaft in München und Wien. Seit 2010 ist er Juniorprofessor für Mediale Historiographien an der Bauhaus-Universität Weimar. Anna Häusler studierte Theaterwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Philosophie in München und Lyon. Seit 2008 promoviert sie am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien. Jan Henschen studierte Neuere Deutsche Literatur und Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie in Kiel. Seit 2008 promoviert er am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien. Rembert Hüser studierte Germanistik und Geschichte in Bielefeld. Seit 2006 ist er Associate Professor of German an der University of Minnesota.

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T OPOS T ATORT

Alf Lüdtke studierte Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie in Tübingen. Seit 1999 ist er Professor für Historische Anthropologie an der Universität Erfurt. Helga Lutz studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft in London, Heidelberg und Berlin. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Bettine Menke studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Konstanz. Seit 1999 ist sie Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Jan Philip Müller studierte Kulturwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Berlin. Seit 2010 ist er Junior Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar. Uwe Nettelbeck (1940-2007) war Schriftsteller, Journalist, Filmkritiker, Gerichtsreporter, Musikproduzent. Er schrieb u.a. für DIE ZEIT, konkret, Filmkritik und den Rundfunk. Mit seiner Frau Petra Nettelbeck gab er von 1976 bis zu seinem Tod die Zeitschrift Die Republik heraus. Dietmar Schmidt studierte Germanistik und Geschichte in Bochum, Hamburg und München. Seit 2008 ist er Privatdozent für Neuere Deutsche sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. David Sittler studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte und Kunstgeschichte in Bonn und Göttingen. Seit 2008 promoviert er am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien. Wolfgang Struck studierte Physik, Neuere Deutsche Literatur, Ältere Deutsche Literatur und Philosophie in Kiel und Tübingen. Seit 2007 ist er Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Joke de Wolf studierte Kunstgeschichte und Philosophie an der Universiteit van Amsterdam und an der Université Paris IV (Sorbonne). Seit 2009 promoviert sie am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien.

Kultur- und Medientheorie Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader Mai 2011, ca. 450 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge April 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1477-0

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Ästhetisierung des Sozialen Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien Mai 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1591-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture September 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Juli 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst Mai 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

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Kultur- und Medientheorie Gregor Ahn, Nadja Miczek, Katja Rakow (Hg.) Diesseits, Jenseits und Dazwischen? Die Transformation und Konstruktion von Sterben, Tod und Postmortalität

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien

Juni 2011, ca. 302 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1638-5

April 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Christina Antenhofer (Hg.) Fetisch als heuristische Kategorie Geschichte – Rezeption – Interpretation

Wolfgang Funk, Lucia Krämer (Hg.) Fiktionen von Wirklichkeit Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion

Juli 2011, ca. 346 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1584-5

Vittoria Borsò (Hg.) Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften« Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik Mai 2011, ca. 400 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1756-6

Sandra Evans, Schamma Schahadat (Hg.) Nachbarschaft, Räume, Emotionen Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform Juni 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1653-8

April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1664-4

Marie-Hélène Gutberlet, Sissy Helff (Hg.) Die Kunst der Migration Aktuelle Positionen zum europäischafrikanischen Diskurs. Material – Gestaltung – Kritik April 2011, ca. 360 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1594-4

Janina Karolewski, Nadja Miczek, Christof Zotter (Hg.) Ritualdesign Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse »neuer« Rituale September 2011, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1739-9

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