Utopie im Exil: Literarische Figurationen des Imaginären 9783839437490

In what way is the utopian bound to the experience of dislocation in the crisis of exile? The contributions in this volu

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German Pages 246 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Utopie als Theorie im Exil
Ungleichzeitigkeit und Utopie
›unabgegoltene Vergangenheit‹ – umkämpfte Zukunft
Phänomene des undeutlichen Lebens
Paria/Migrant
Utopie und Ästhetik im Exil
Utopie als Ironie bei Heine
Das Schweigen Gottes
Max Aub, Herta Müller: Literatur und Autofiktion als utopische Projektionsräume
Utopie, Zeit und Nicht-Orte im Exil
»Die Flüchtlinge trugen eine Vergangenheit in sich, die keinen Ort mehr fand.«
Dystopische Visionen
Dialoge mit Toten
Gleichzeitigkeit
Epiphanische Dystopie und utopische Epiphanie
Verspätete Vergangenheit
Autorinnen und Autoren
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Utopie im Exil: Literarische Figurationen des Imaginären
 9783839437490

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Linda Maeding, Marisa Siguan (Hg.) Utopie im Exil

Lettre

Linda Maeding, Marisa Siguan (Hg.)

Utopie im Exil Literarische Figurationen des Imaginären

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3749-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3749-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

U topie als T heorie im E xil Ungleichzeitigkeit und Utopie. Ernst Blochs ästhetisches Denken im Exil | 17 Jörg Zimmer

›unabgegoltene Vergangenheit‹ – umkämpfte Zukunft. Ernst Blochs Profilierung des Utopischen im Schweizer Exil | 31 Robert Leucht

Phänomene des undeutlichen Lebens. Utopische Entwürfe in Siegfried Kracauers exterritorialem Denken | 45 Heidi Grünewald

Paria/Migrant. Zwei Figuren und ihre Wendung zum Utopischen bei Hannah Arendt und Vilém Flusser | 65 Linda Maeding

U topie und Ä sthetik im E xil Utopie als Ironie bei Heine | 83 Jordi Jané Carbó

Das Schweigen Gottes. Die Metapher der Vorhölle in Peter Weiss’ Ästhetik des Exils | 93 Germán Garrido Miñambres

Max Aub, Herta Müller: Literatur und Autofiktion als utopische Projektionsräume | 105 Marisa Siguan

U topie , Z eit und N icht -O rte im E xil »Die Flüchtlinge trugen eine Vergangenheit in sich, die keinen Ort mehr fand.« Figurationen der Nicht-Verortung im Werk von I. Keun und U. Krechel | 123 Rosa Pérez Zancas

Dystopische Visionen. Pedro Salinas in den Amerikas | 139 Enric Bou Dialoge mit Toten. Zum Motiv des leeren Wartens bei Anna Seghers und Teresa Pàmies | 157 Loreto Vilar

Gleichzeitigkeit. Utopie und Exil in Franz Werfels Stern der Ungeborenen | 173 Caspar Battegay

Epiphanische Dystopie und utopische Epiphanie. Figuren der Zeit(losigkeit) in Vladimir Nabokovs Prosa | 195 Wolfgang Stephan Kissel

Verspätete Vergangenheit. Spuren des Utopischen in W.G. Sebalds Austerlitz | 221 Anna Montané

Autorinnen und Autoren | 241

Einleitung Utopie im Exil

Es fällt auf den ersten Blick schwer, der intellektuellen Bewältigung und literarischen Verarbeitung von Vertreibung, Flucht und Exil utopisches Potenzial abzugewinnen. In der Tat wird Exilliteratur in der Forschung vornehmlich zur Vergangenheit und eher selten zu jener Zeitdimension in Bezug gesetzt, die dem Utopischen am nächsten zu liegen scheint: der Zukunft. Der vorliegende Band möchte dagegen zeigen, dass und wie Diskurse des Zukünftigen und in potenzierter Form des Utopischen einen bedeutenden Teil der Exilliteratur begleiten, obwohl sie bisher nur vereinzelt in den Blick der Forschung geraten sind und noch nicht systematisch aufgearbeitet wurden. Die Krise, als die das Exil zunächst einmal erfahren wird, birgt sowohl utopisches als auch dystopisches Potenzial. Tatsächlich überschneiden sich beide im Exil: In der Konfrontation mit einer Zeitgeschichte im Katastrophenmodus entstehen nicht nur dystopische Bilder von Gesellschaft, sondern auch Utopien, die ihren Ursprung in der Katastrophe nicht verleugnen. An diesem Punkt bleibt das Utopische – die Etymologie deutet bereits darauf hin – an die Erfahrung der Entortung gebunden, die das Exil immer auch beinhaltet. Dessen Literatur liefert bekanntlich zahlreiche Beispiele für Nicht-Orte. Zu erkunden ist, welche Räume und auch Zeiten sich das Utopische im Exil aneignet. Fraglos ist die literarische Utopie als »epischer Entwurf einer alternativen Gesellschaftsordnung, der sich von der herrschenden radikal unterscheidet« (Berghahn 161), im Exil wie überhaupt im 20. Jahrhundert selten geworden. Und gerade das Exil kann mit totalisierenden Entwürfen vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung wenig anfangen. In vielen der im Exilkontext einschlägigen Texte tritt daher das Utopische1 an Stelle der Utopie: fragmentarisch, in Form eines Verweises, als Denkfigur – und als Negation des 1 | Leucht definiert das Utopische im vorliegenden Band (S. 31) im Rückgriff auf Voßkamp als »Sammelbegriff für jede mögliche Erweiterung der historisch-politischen Realität«.

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Utopie im E xil

Bestehenden. Es geht dabei um ein Möglichkeitsdenken, das den kritischen Vergleich zwischen dem Bestehenden und dem Erwünschten in Gang setzen soll, um die Erschaffung von narrativen und bildhaften Freiräumen. Utopien sind gleichzeitig Indikatoren für Krisen und Reaktionen darauf, insofern ist die Präsenz des Utopischen in Exiltexten durchaus nachvollziehbar. Nicht umsonst ist es zudem mit Ernst Bloch ein Exilierter, der einen der einflussreichsten Beiträge zur Utopie im 20. Jahrhundert liefert und diese weniger gattungstypologisch einhegt als vielmehr die Notwendigkeit einer permanenten Begriffsarbeit vor dem Hintergrund des Faschismus verdeutlicht. Auch in diesem zeitlichen Kontext transzendiert die Utopie Wirklichkeit und schärft innerhalb dieser zugleich den Sinn für das Wirkliche (Seel 747): gerade nach 1933 lässt sich – so zumindest könnte auf Basis der im Folgenden vorgestellten Texte hypothetisch formuliert werden – von einer radikalen Immanenz der Utopie sprechen. Zum Teil ist diese in der Gattung selbst verankert, verblasst die Utopie doch, wie Berghahn (162) erkannt hat, »[o]hne historischen Kontext, Kritik und Kontrast […] zu einem geschichtslosen Abstraktum.« Nun verorten sich die utopischen Entwürfe des Exils für gewöhnlich gerade nicht in der Geschichtslosigkeit: ein hartnäckiger (wenn auch vielmals entkräfteter) Vorwurf an Exilliteratur lautet, aufgrund ihres ›Engagements‹ vernachlässige sie das ästhetische Moment der Gestaltung. Denn die Spannung zwischen historischer Jetzt-Zeit und utopischem Entwurf, konstitutiv für eine Gattung, die sich darüber definiert, »im Modell eines Zweiweltenschemas einer kritisierten Ausgangswelt ein ihr überlegenes, ideales Gemeinwesen gegenüberzustellen« (Leucht 4), bleibt im Exil nicht einfach bestehen. Sie wird noch schärfer konturiert und in fiktionalen wie nicht-fiktionalen Texten Ausgangspunkt für Experimente des Denkens, die uns heute vor die Aufgabe stellen, an ihnen das Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auszuloten – einem Horizont, der zum großen Teil auch noch der unsere ist, wie manche Lektüren in diesem Band belegen. Imagination ist dabei eine Art, die historische und biographische Erfahrung neu zu entdecken, wodurch der literarische Text die Möglichkeit gewinnt, auf die Realität einzuwirken Dennoch wurde in der Utopie-Forschung bis vor kurzem kaum spezifisch auf die Exilperiode eingegangen, wie Thurner (5) festgehalten hat – und dies, obwohl für diese Literatur mit Adornos negativem Utopiebegriff – für Kunst und Kultur nach 1945 möglicherweise wirkmächtiger als Blochs philosophisch avancierte Inkursionen ins Utopische – eine wichtige Referenz vorliege. Tatsächlich ist die »Gegenbildfunktion« (Berghahn 162) der Utopie in historischen Krisenzeiten wie dem Exil besonders gefragt. Wenn diese Funktion auch viele Verwendungen des Utopischen in den Exiltexten kennzeichnet – Battegay (7) spricht präzisierend von einem »Alternativbewusstsein«, das »eine modellhafte Gegengeschichte zu ideologischen Festlegungen bildet« und das im vorliegenden Band von Siguan analysiert wird – so gilt es doch gleichzeitig kritisch

Einleitung

zu fragen, wie belastbar die im Titel dieses Bandes angekündigte Verknüpfung »Utopien des Exils« im Einzelnen ist. Mit anderen Worten ist zu bedenken, inwiefern Begriff und Phänomen von »Utopie« und »Exil« eine Verbindung eingehen, in der das Utopische exiltypisch ausgestaltet wird. Eine Reflexion darüber, worin der Anteil von »Exil« in Exilutopien eigentlich besteht, ist hier auch deshalb gefragt, weil – wie Haefs (2009) für das deutschsprachige Exil eindrücklich zeigen konnte – Exilliteratur keine ästhetische Zäsur mit dem Denken und Schreiben der Zeit voraussetzt: Ohne ideologische und ethische Antipoden zu ignorieren, ist, so die These, keine ästhetische Exklusivität der Exilliteratur auszumachen. Utopien des Exils sind folglich eingebettet in eine Literatur, die politische Brüche nicht unbedingt formal nachbildet. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die grundsätzliche Einsicht an Bedeutung, die Leucht (2016) in seiner Studie zur Utopie in deutschsprachigen Texten formuliert: Auf das Utopische und seine Denkfiguren greifen durchaus gegensätzliche ideologische und politische Lager konkurrierend zu. Dass es ausgehend von dieser Beobachtung dennoch berechtigt ist, von »Utopien des Exils« zu sprechen, hat unterschiedliche Gründe. Die akute Krisenerfahrung als Prämisse für die verstärkte Inanspruchnahme des Utopischen und seiner Kehrseite, des Dystopischen, im Exil wurde ebenso wie der sie verbindende Vorgang der Entortung bereits erwähnt. Der Zusammenbruch der gewohnten Lebenswelt und ihrer vermeintlichen Gewissheiten führte nicht nur zur Infragestellung von Gemeinschaft und Identität, sondern hinterließ zugleich ein Vakuum, das mit Entwürfen alternativer imaginärer Gemeinschaften gefüllt werden konnte. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weshalb viele der Exiltexte, die Utopisches behandeln, nach 1945 entstanden sind bzw. sich fiktional auf dieses zeitliche Umfeld beziehen. Das Ende des Nationalsozialismus evozierte Vorstellungen eines Neuanfangs, von tabula rasa und Stunde Null, die utopische Dynamiken entfacht und befeuert haben – und oft herb ins Dystopische umschlugen, wenn ihr »Verwirklichungsimpuls«, der laut Battegay (5) »in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik hineinwirkt«, auf eine Gegenwart stieß, die den offenen Charakter von Geschichte negierte und damit implizit auch den Erwartungshorizont als Kategorie von Zeit- und Geschichtserfahrung für ungültig erklärte. Die Analysen von Pérez Zancas und Vilar im vorliegenden Band verdeutlichen diese Entwicklung. Die Verbindung von »Utopie« und »Exil« erschließt sich aber auch konkret über das jüdische Exil. Zuletzt hat Battegay mit Verweis unter anderem auf den Messianismus den »Konnex [des utopischen Diskurses] zur jüdischen Geschichte und zur jüdischen Tradition« (4) herausgestellt. Nachvollziehbar wird er im Folgenden unter anderem an den Texten von Hannah Arendt und Vilém Flusser, der ihn allerdings selten expliziert. Jenseits der jüdischen Komponente belegen die komparatistischen Beiträge des Bandes zudem, dass die titel-

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gebende Verschränkung auch auf andere europäische Exile bezogen werden kann, allen voran auf das langwährende spanische Exil. Eröffnet wird der Band mit Theoretisierungen des Utopischen durch das Exil: Jörg Zimmer widmet sich einem Klassiker des philosophischen Utopiebegriffs und untersucht »Ernst Blochs ästhetisches Denken im Exil«. Dreh- und Angelpunkt der Analyse ist die Ungleichzeitigkeit, die Bloch zu einer dialektischen Theorie entwickelt, die das Nebeneinander geschichtlicher Gehalte in der Gegenwart fokussiert und dabei auch ein genuines Verständnis von Realismus ermöglicht. Zimmer zeigt unter anderem an dem von Bloch benutzten Begriff des Vor-Scheins, wie dessen utopisches Denken »die Wirklichkeit grundsätzlich von ihren Möglichkeitshorizonten her wahrnimmt« – und dies insbesondere im und durch das Medium der Kunst. Robert Leucht widmet sich Blochs vielschichtiger Begriffsarbeit mit Blick auf dessen »Profilierung des Utopischen im Schweizer Exil«, das mit den zwei Emigrationsphasen im Leben Blochs – während des Ersten Weltkrieges sowie unter der nationalsozialistischen Herrschaft – ein politisch und ideologisch besonders bewegtes Feld zwischen »unabgegoltener Vergangenheit« und »umkämpfter Zukunft« absteckt. An den Werken Geist der Utopie und Erbschaft dieser Zeit vermag Leucht einerseits eine Aufwertung des Utopiebegriffs zu einer realen Möglichkeit aufzuzeigen und andererseits an der von unterschiedlichen politischen Lagern beanspruchten Denkfigur des Unabgegoltenen zu belegen, dass das Utopische hier nicht nur zukunftsgerichtet, sondern auch untrennbar an Vergangenes gebunden ist. Im Feld der Kulturkritik ist das Utopische in Siegfried Kracauers Werk virulent. Ihm widmet sich Heidi Grünewald, die anhand von Texten unterschiedlicher Gattungen des Autors aufweist, wie dessen utopische Entwürfe speziell an sein »exterritoriales Denken« geknüpft sind oder aus ihm erst erwachsen. Die Erfahrung des amerikanischen Exils in Kombination mit Kracauers ausgeprägtem Interesse an den Medien Fotografie und Film vermengen sich in einem Werk, das ein »Utopia des Dazwischen« formuliert: das Exil wird zu einem der Zeit enthobenen Freiraum der Imagination, »einerseits geprägt durch ein Gefühl der Heimatlosigkeit und Marginalität, andererseits im Zeichen einer bewusst intendierten Fremdfokussierung«. Beides ist auch in den Texten von Hannah Arendt und Vilém Flusser präsent. Linda Maeding untersucht anhand des jüdischen Paria und des post-exilischen Migranten zwei Figuren, die der Mehrheitsgesellschaft zunächst dystopisch eine düstere Zukunft prophezeien, die aber in den Werken der beiden Autoren einen Umschlag ins Utopische erfahren. Sowohl Arendt als auch Flusser, deren Argumentation erstaunliche Parallelen aufweist, sezieren die Wirkung, die diese Figuren in ihrer Fremdheit auf die Umgebung ausüben: als Unheimliche. Darin liegt aber auch ihr utopisches Potenzial, das sie zu Vorreitern einer supra-

Einleitung

nationalen Welt werden lässt, in der Menschenrechte nicht an Staatsangehörigkeiten gebunden sind. Der zweite Teil des Bandes widmet sich dem Verhältnis von Utopie und Ästhetik im Exil: Jordi Jané Carbó stellt mit Heinrich Heine den Patron des deutschsprachigen Exils nach 1933 in den Mittelpunkt und untersucht die »Utopie als Ironie« im Werk des nach Frankreich emigrierten Autors. Zwar habe der streitbare Schriftsteller kein utopisch-gesellschaftliches Modell formuliert, doch zeigt die oft lyrische Vagheit der »warmen Sonnentage« (so Heine im Wintermärchen) nach der gescheiterten Revolution auf subtile Weise deren nicht verwirklichte Möglichkeiten auf und erweist sich damit im Feld der Ästhetik auch als Erbe der Aufklärung, die mit Blick auf ihre teilweise historische Negierung im utopischen Licht erscheint. Ein zeitlicher Sprung führt zu Peter Weiss, einen von der Exilforschung eher selten behandelten Autor. Seiner »Ästhetik des Exils« widmet sich Germán Garrido Miñambres anhand der Metapher der Vorhölle. Er geht aus von einer Spannung zwischen Exil und Utopie, die sich in Weiss’ Werk – Garrido konzentriert sich auf das Hauptwerk, den Großroman Die Ästhetik des Widerstands – im Rahmen des antifaschistischen Kampfes, den Autor und Protagonist teilen, an der Frage der politischen Beteiligung entzündet. Unter den zahlreichen intertextuellen und metaliterarischen Anspielungen des Romans wird die Dantesche Metapher der Vorhölle ausgewählt, um zu verdeutlichen, inwiefern sich das utopische Imaginäre nicht etwa in der politischen Partizipation verflüssigt, sondern in der »Sprache der Kunst«, für die der Roman unter anderem anhand von Bildbeschreibungen umfangreiches Anschauungsmaterial liefert. Marisa Siguan nimmt sich in ihrem Beitrag zwei Autoren vor, die zunächst einmal bis auf den Umstand der Exilerfahrung wenig zu verbinden scheint: den spanischen Republikaner Max Aub und die aus dem rumänischen Banat stammende Herta Müller. Im Weiteren zeigt sie anhand genauer Textanalysen, dass gerade die literarische Wahl der Autofiktion beiden erlaubt, in völlig unterschiedlichen Exilen »utopische Projektionsräume« zu gestalten. Im Falle Aubs geschieht dies mittels der nah an der Wirklichkeit verlaufenden und doch in entscheidenden Punkten von ihr abweichenden Imagination einer Alternativgeschichte, eines »Was hätte sein können«. Es sind Texte, die sich wiederum dem Anspruch Blochs annähern, das Unabgegoltene der Vergangenheit zu bergen. In Herta Müllers mit Autofiktion arbeitenden Romanen und Essays rücken dagegen Gegenstände in den Mittelpunkt, scheinbar unbedeutende Dinge, die mit Sedimenten historischer und autobiographischer Zeit aufgeladen werden und dadurch utopisch über sich selbst hinausweisen. Im dritten Teil gruppieren sich Beiträge, die besonders eng an die Utopie gebundene Phänomene fokussieren: Zeit und Zeitlichkeiten sowie Nicht-Orte. Rosa Pérez Zancas untersucht »Figurationen der Nicht-Verortung im Werk von Irmgard Keun und Ursula Krechel«. Als Textbasis dienen ihr Ferdinand, der

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Mann mit dem freundlichen Herzen der Exilautorin Keun sowie Krechels in den letzten Jahren erschienene Romane Shanghai fern von wo und Landgericht, die sich dem historischen Exil widmen. Im Zentrum steht damit die für die Exilforschung so wichtige, aber auch heftig debattierte Figur des Heimkehrers, der sich nach einer ersehnten Rückkehr im Nachkriegsdeutschland mit zerstörten Erwartungen und Hoffnungen auseinandersetzen muss. Pérez Zancas nutzt auf theoretischer Ebene den von Marc Augé geprägten Begriff der Nicht-Orte sowie Michel Foucaults Konzept der Heterotopien und macht es für die fragile Lage der Heimkehrer in eine dystopisch erscheinende Heimat fruchtbar. Ins hispanische Exil, aber ebenfalls auf den Boden des Dystopischen, führt uns Enric Bou, der sich einen der bedeutendsten Lyriker der ersten Exilgeneration vornimmt: Pedro Salinas. Er zieht unterschiedliche Texte und von Salinas genutzte Textgattungen heran, um die schockhafte Exilerfahrung des Autors in Nordamerika zu erfassen. Besondere Aufmerksamkeit erfährt neben Gedichten und Briefen aus der umfangreichen Korrespondenz des Exilierten sein einziger Roman, La bomba increíble, der den Abwurf der ersten Atombombe verarbeitet und dabei eine äußerst kritische – dystopische – Perspektive auf die technizistischen Parameter der Aufnahmegesellschaft entwickelt, wobei auch Topoi des Nord-Süd-Gegensatzes eingesetzt werden. Loreto Vilar konzentriert sich in ihrem komparatistischen Beitrag zu Anna Seghers und der katalanischen Autorin Teresa Pàmies auf ein klassisches Motiv des Exils: das Warten. Konkret macht sie anhand paralleler Strukturen in Texten der beiden kommunistischen Exilantinnen – Transit, Post ins Gelobte Land und Wiederbegegnung von Seghers sowie Amor clandestí, Memòria dels morts und Massa tard per a Cèlia von Pàmies – Situationen eines leeren Wartens aus, in dessen Vakuum sich »Dialoge mit Toten« vollziehen; imaginäre Gespräche der Protagonistinnen mit geliebten Menschen, Gespräche zwischen Exil, Heimat und Untergrund. Vilar wendet die augustinische Unterscheidung von drei Zeitdimensionen an, die die verschiedenen (utopischen oder dystopischen) Konnotationen von Zeit in den literarischen Texten zu differenzieren helfen: die Gegenwart des Zukünftigen als Erwartung, die Gegenwart des Vergangenen als Erinnerung und die Gegenwart des Gegenwärtigen als Anschauung. Caspar Battegay liest Franz Werfels außergewöhnlichen Reiseroman Stern der Ungeborenen als Zeit- und nicht als Zukunftsroman, in dem die »Welt als ein Universum verschiedener, sich widersprechender Möglichkeiten« erscheint und auch die Zukunft nur die mögliche Verzweigung einer synchronen Zeit darstellt. Seine Analyse belegt den kreativen Umgang mit Zeitkonzepten im Rahmen einer Poetologie der literarischen Moderne, die theologische Bezüge aufweist. Im Zentrum dieser Poetologie sieht Battegay die Gleichzeitigkeit, aufgefasst als ein alternatives ästhetisches Zeitmodell, dessen Verständnis durch das Aufdecken von Verbindungslinien zur jüdischen Diaspora, aber auch durch Hinweise auf die Relativitätstheorie erweitert wird. Werfels

Einleitung

Roman thematisiere »die utopische Verschiebung hin in eine vermöglichte Welt«. Wolfgang Stephan Kissel dagegen widmet sich einem Autor, dessen utopische Entwürfe nicht auf der Relativierung von Zeit, sondern auf absolut gesetzten Momenten gründen, herausgehoben aus dem zeitlichen Kontinuum: der »utopischen Epiphanie« oder »epiphanischen Utopie« in den Exilromanen Vladimir Nabokovs. »Emphase und Intensität der herausgehobenen Daseinsmomente überspielen alle Erfahrungen von Bruch, Zäsur, Diskontinuität.« In seinem Beitrag, der einen Einblick in ein weiteres großes Exil des 20. Jahrhunderts erlaubt, zeigt Kissel nicht nur auf, wie die komplexen Zeitstrukturen in Nabokovs frühen Texten ästhetisch umgesetzt werden und sich utopisch entfalten, sondern stellt auch deren vielfältige Bezüge zur russischen Moderne, zu Symbolismus und Ästhetizismus dar. Anna Montané Forasté schließt den Band mit einem Gegenwartsautor, der sein Werk zuvorderst der Suche nach einer adäquaten Erinnerung von Geschichte, von Holocaust und Exil gewidmet hat. Dieses bestimmende Thema im Werk W.G. Sebalds, dem sich die Texte häufig im Modus einer diffusen Trauer nähern, lässt wenig Raum für Utopisches. Es sind daher eher »Randutopien«, die Montané ausmacht, und die auf eine verlustig gegangene Vergangenheit abzielen. Im Mittelpunkt ihres Beitrags steht denn auch eine »verspätete Vergangenheit« in Sebalds Roman Austerlitz. Ihre Ausführungen nehmen Walter Benjamins Gedanken auf, die klärendes Licht auf das Paradox einer noch ungeschehenen Vergangenheit in Austerlitz werfen. In der Erinnerung, die nicht zuletzt die Unabschließbarkeit der vergangenen Zeit belegt, erkennt Montané einen verhaltenen utopischen Gestus, der möglicherweise auch der historischen Distanz zu eigen ist, die uns von der Vergangenheit trennt und zugleich einen offenen Blick auf sie erlaubt. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen zurück auf eine Tagung, die im April 2016 an der Universität Bremen in Kooperation mit dem Institut für Deutschlandstudien (IfkuD), der vom Ministerio de Economía y Competitividad finanzierten Forschungsgruppe Ex Patria: Exilios, destierros y destiempos en las literaturas alemana e hispánica (FFI2013-44387-P) und der Universität Barcelona stattgefunden hat und aus Mitteln der Exzellenzinitiative kofinanziert wurde. Den Autorinnen und Autoren danken wir für die Denkanstöße im Rahmen der Tagung und die engagierte Erarbeitung der finalen Textbeiträge. Die Herausgeberinnen

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Utopie im E xil

B ibliogr aphie Battegay, Caspar. »Einleitung: Europäisch-jüdische Utopien«. Yearbook for European-Jewish Literature Studies 3/Jahrbuch für europäisch-jüdische Literaturstudien 3: European-Jewish Utopias/Europäisch-jüdische Utopien. Hg. Caspar Battegay. Berlin/Boston: De Gruyter, 2016. 1-15. Berghahn, Karl. »Nachwort. Zur Begriffsgeschichte der Utopie«. Zukunft in der Vergangenheit. Auf Ernst Blochs Spuren. Bielefeld: Aisthesis, 2008. 161-171. Haefs, Wilhelm. »Einleitung«. Nationalsozialismus und Exilliteratur 1933-1945. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 9. Hg. Wilhelm Haefs. München: Hanser, 2009. 7-52. Leucht, Robert. Dynamiken politischer Imagination. Die deutschsprachige Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten 1848-1930. Berlin: De Gruyter, 2016. Seel, Martin. »Drei Regeln für Utopisten«. Merkur-Sonderheft 5. Zukunft denken: Nach den Utopien (2001): 747-755. Thurner, Christina. Der andere Ort des Erzählens. Exil und Utopie in der Literatur deutscher Emigrantinnen und Emigranten 1933-1945. Köln: Böhlau, 2003.

Utopie als Theorie im Exil

Ungleichzeitigkeit und Utopie Ernst Blochs ästhetisches Denken im Exil Jörg Zimmer

Die Entwicklung des Denkens von Ernst Bloch ist eng verbunden mit der Erfahrung des Exils: Das erste Hauptwerk Geist der Utopie, erschienen 1918, ist im ersten Schweizer Exil beendet worden, und gerade die Hinwendung zum Marxismus, die sich in den Jahren danach entwickelte und in den Veränderungen, die der Text des Geist der Utopie in der zweiten Auflage von 1923 erfährt, sichtbar wird, ist das Ergebnis der Erfahrung der umwälzenden und verheerenden Wirkungen des ersten Weltkrieges, die für viele Generationsgenossen Blochs ganz ähnliche politische Radikalisierungen nach sich zog. Und schließlich ist auch das zweite, das reife Hauptwerk, Das Prinzip Hoffnung, obwohl erst in den fünfziger Jahren nach der Rückkehr nach Deutschland zunächst in der DDR und dann 1959 bei Suhrkamp auch in der Bundesrepublik erschienen, in großen Teilen im amerikanischen Exil der späten dreißiger und frühen vierziger Jahre geschrieben worden. Jedes der beiden Hauptwerke hat einen Weltkrieg und eine Exilerfahrung zum Hintergrund, und das Ganze der Philosophie Ernst Blochs ist nur vor dem Hintergrund der katastrophischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Diesen Entstehungshintergrund zwischen der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und dem Faschismus, der eine ganze Generation von Wissenschaftlern und Intellektuellen ins Exil zwang, teilt Bloch mit Walter Benjamin und Georg Lukács, um nur zwei Denker zu nennen, die ihm auch persönlich nahestanden. Und das nicht zuletzt, um zu meinem eigentlichen Thema zu kommen, in der Frage nach den ästhetischen Konsequenzen, die aus dem Epochenbruch zu ziehen sind. Die frühe Ästhetik des Geist der Utopie aus dem ersten Exil ist noch sehr stark an musikästhetischen Fragestellungen orientiert und durch eschatologische Hoffnungen auf »Selbstbegegnung« motiviert. Kurios genug, dass Bloch in dieser Zeit das Exil mit Benjamin teilt und mit ihm über Literatur und jüdische Theologie diskutiert, während er über Musik und christliche Mystik schreibt. Nicht ohne Grund mag deshalb Benjamin sein Urteil über den Geist der Utopie unterdrückt bzw. im Hoffnungsbegriff des Wahlverwandtschaften-

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Jörg Zimmer

Essays versteckt haben (vgl. Zimmer, Nur um der Hoffnungslosen willen). Das ästhetische Denken des zweiten Exils, das wir hier näher betrachten wollen, steht dagegen von der Expressionismusdebatte über die Auseinandersetzung um den Realismusbegriff bis hin zur Aufnahme der spekulativen deutschen Tradition von Schelling zu Hegel, wie sie im Prinzip Hoffnung entwickelt ist, im Zeichen einer ständigen Reibung am Jugendfreund Georg Lukács.

D as U ngleichzeitigkeitstheorem Bevor ich jedoch in die Rekonstruktion von Grundgedanken dieser Ästhetik des zweiten Exils eintrete, möchte ich eine geschichtsphilosophische Grundeinsicht Blochs skizzieren, die sein Verhältnis zur Gebrochenheit und, wie man wohl hinzufügen muss, zur Zerbrochenheit eben jener Epoche zum Ausdruck bringt, die sich aus den Trümmern des Großen Krieges erhob: Ich meine sein Konzept der Ungleichzeitigkeit geschichtlicher Entwicklung, das ich für ein äußerst aktuelles Theorem für das Verständnis der heutigen globalen Welt halte, das Bloch selbst aber einführt, um den Faschismus seiner Gegenwart besser zu verstehen. Diese Einsicht in die simultane Anwesenheit verschiedener Geschichtszeiten in derselben Gegenwart muss dem in der neuen Industriestadt Ludwigshafen aufgewachsenen Bloch in die Kindheit geschienen haben. Nur der Rhein trennt sie von der alten barocken Residenzstadt Mannheim. In Erbschaft dieser Zeit gibt es einen Text, der mit »Ludwigshafen-Mannheim« überschrieben ist und den theoretischen Kern des Buches, eben das Ungleichzeitigkeitstheorem, sinnfällig in ein Beispiel fasst: Schlecht aber erging es dabei neuen Städten, denen nichts die Schritte lenkte. Besonders wenn sie neben einer alten Kulturstadt liegen, wie Ludwigshafen neben Mannheim, auf beiden Seiten des Rheins. Der Fluss trennte schon genügend, die bayrisch-badische Landesgrenze hinderte erst recht jeden Ausgleich. Ludwigshafen war derart verpflichtet, eine eigene Stadt zu werden, nicht etwa nur eine Vorstadt, worin die Abwässer der Industrie fließen. […] Hier ist darum eine Stelle, bezeichnend fürs kapitalistische Jetzt durchaus, wo die Hobler in der Stadt selber wohnen, wo keine schönen Häuser weit weg, erst recht keine früheren Stadtkulturen das Jetzt überschwindeln. Die Badische Anilin- und Sodafabrik, der Kern von IG-Farben (hierher verlegt, damit Rauch und Proletariat nicht nach Mannheim bliesen), wurde das buchstäbliche Wahrzeichen der Stadt. Drüben lag das Schachbrett der alten Residenz, heiter und freundlich gebaut wie zu Hermann und Dorotheas Zeiten; hatte statt der größten Fabrik das größte Schloss Deutschlands. […] Selten hatte man die Wirklichkeiten und die Ideale des Industriezeitalters so nahe beisammen, den Schmutz und das residenzhaft eingebaute Geld. (Bloch, Erbschaft, 208 und 210)

Ungleichzeitigkeit und Utopie

Was Bloch hier als Landschaft seiner Kindheit beschreibt – er lebt im Ludwigshafen des in Deutschland spät heraufkommenden Industriezeitalters und entkommt ihm in die Mannheimer Schlossbibliothek zu Schopenhauer, Leibniz und Hegel – ist ihm im Grunde frühe Erfahrung und Vorlage einer Landschaft der Zeitgeschichte: er erzählt es, weil darin »hervorkommt, wohin die Zeit marschiert.« (Ebd. 210) Nämlich eine Mischwirklichkeit verschiedener historischer Entwicklungen, ein Zusammenlaufen verschiedener Tempi historischer Entwicklung in einer Gegenwart, in der sie nebeneinander koexistieren, aber eben auch aufeinander wirken. Bloch nimmt historische Wirklichkeit von Anfang an nicht in ihrer einheitlichen Epochenhomogenität wahr, sondern als Zusammenhang einer Vielfalt auch disparater und heterogener gesellschaftlicher und kultureller Wirklichkeiten. Genau dies ist der Grundgedanke des theoretischen Kerns von Erbschaft dieser Zeit: Bloch will die zu rettenden kulturellen Gehalte der Vergangenheit, die noch in der Gegenwart fortwirken, gegen ihre faschistische Vereinnahmung wirksam machen. In einem Benjamin nicht unähnlichen Montageverfahren erstellt Erbschaft dieser Zeit eine Art Collage der kulturellen Erscheinungen der Vorgeschichte des Faschismus, nämlich der »auffallenden Mischzeit von Abend und Morgen in den zwanziger Jahren« (ebd. 17). Aber Bloch fasst das Problem geschichtsphilosophisch noch viel grundsätzlicher: Das Ungleichzeitigkeitstheorem versucht, die Dialektik von Kontinuität und Bruch im geschichtlichen Prozess zu erfassen. Die Theorie der Ungleichzeitigkeit artikuliert den Umstand, dass sich im geschichtlichen Fortschritt Rudimente vergangener Daseinsweisen durch diesen Bruch mit der Vergangenheit in diskontinuierlicher Kontinuität erhalten und in einer ihnen fremd gewordenen Gegenwart fortwirken. Verschiedene historische Bewusstseinsformen koexistieren in derselben Gegenwart, leben aber nicht in derselben Zeit, wie Bloch lakonisch feststellt: »Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit leben sie aber noch nicht mit den anderen zugleich.« (Ebd. 104) Blochs Einsicht in die Ungleichzeitigkeit ist bis in die offizielle und sogar die prominente Historik der Gegenwart eingegangen: Der konservative Historiker Reinhard Koselleck spricht von der »Mehrschichtigkeit historischer Zeiten« (Koselleck, Zeitschichten, 15) und schreibt: Was ereignet sich nicht alles zu gleicher Zeit, was sowohl diachron wie synchron aus völlig heterogenen Lebenszusammenhängen hervorgeht. Alle Konflikte, Kompromisse und Konsensbildungen lassen sich zeittheoretisch auf Spannungen und Bruchlinien […] zurückführen, die in verschiedenen Zeitschichten enthalten sind und von ihnen ausgelöst werden können. (Ebd. 10)

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Auch die für Blochs Ungleichzeitigkeitstheorie charakteristische Verräumlichung des Geschichtsbegriffs – simultane Anwesenheit verschiedener Geschichtszeiten in dem einen Gegenwartsraum – wird in Kosellecks Historik aufgenommen (ebd. 78ff.) Dieses objektiv in die Gegenwart hineinwirkende Vergangene muss in seiner Vermittlung mit der historischen Situation bewusst gemacht werden. Diese Erweiterung des Begriffs Gegenwart um ihre fortwirkenden historischen Momente versucht Bloch als mehrschichtige Dialektik zu denken. Gegenwart erscheint darin als ein komplexer Reaktionsraum gleichzeitiger und ungleichzeitiger Widersprüche. Einem linearen Fortschrittsbegriff, der Vergangenheit als etwas im Fortgang des geschichtlichen Prozesses Überwundenes denkt, entgeht die Nachwirkung dieser Vergangenheiten und auch ihr gesellschaftlicher Sprengstoff. Ein solcher linearer Fortschrittsbegriff – hier ist Bloch schon vor der Veröffentlichung des Passagenwerkes und der Thesen über den Begriff der Geschichte sehr nah an Benjamins Fortschrittskritik – wird gegen die Nachwirkung der Geschichte blind und verengt die Gegenwart auf ihre gleichzeitigen Erscheinungsformen. Überhaupt sah Bloch sich selbst in Erbschaft dieser Zeit Benjamin viel näher als dieser ihm: »In Erbschaft dieser Zeit hat Bloch deutlich gemacht, was die von Benjamin gewählte Form mit einem bestimmten Montagestil, dem zeitgenössischen ›Revuestil‹, gemein hat.« (Palmier, Walter Benjamin, 43). Diese »Revueform in der Philosophie« charakterisiert durchaus auch das Verfahren von Bloch selbst in Erbschaft dieser Zeit. Mehrschichtige Dialektik, damit bezeichnet Bloch eine mehrzeitige und eine mehrräumige Dialektik, die nicht allein an der linearen Bewegung in der Geschichte, sondern vor allem an der Vermittlung heterogener geschichtlicher Prozesse in der Gegenwart, in der sie zusammenlaufen, interessiert ist. Es geht ihm mehr um das Nebeneinander als um das Nacheinander geschichtlicher Gehalte. Ähnlich wie Benjamin kritisiert Bloch den chronometrisch-linearen Zeitbegriff, weil damit die Auffassung der Geschichte als einer Kette von Begebenheiten verbunden ist. Im Ungleichzeitigkeitstheorem erscheint Zeit an ihren Inhalten, und sie erfüllt den Raum der Gegenwart mit heterogenen Inhalten verschiedener Zeiten. Aufgabe der Dialektik ist es, die Vermittlung dieser kaleidoskopartig koexistierenden Zeit-Räume zu denken. Es geht nicht um den geschlossenen Zusammenhang der Geschichte, sondern um den »unvollständigen Reichtum der Vergangenheit« (Erbschaft, 126). Blochs Methode einer mehrschichtigen Dialektik ist daher philosophische Montage als offener Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit. Es geht, wie Bloch das in einer späteren Abhandlung einmal formuliert hat, um ein Multiversum geschichtlicher Zeiten in der Gegenwart, um »eine Art Raumzuschuss in der historischen Zeitlinie« (Differenzierungen, 128), der ein Neben- und Ineinander verschiedener historischer Zeiten im Gegenwartsraum zu denken ermöglicht.

Ungleichzeitigkeit und Utopie

B lochs Ä sthe tik im z weiten E xil Die Ungleichzeitigkeitstheorie zerfällt in ihrem Montageverfahren die Organizität der historischen Wirklichkeit. Sie ist also im methodisch präzisen Sinn philosophische Avantgarde. Insofern bildet sie auch den unausdrücklichen Hintergrund der ästhetischen Position Blochs im zweiten Exil der dreißiger Jahre. Hier ist selbstverständlich zuallererst die Expressionismusdebatte zu nennen. Auf den Ursprung der Philosophie Ernst Blochs im deutschen Expressionismus hat Hans Heinz Holz in seiner Monographie über Bloch hingewiesen (Logos spermaticos, 59ff.). Die formale Verbindung zum Expressionismus zeigt sich zunächst ganz unmittelbar im unakademischen Stil, in dem diese Philosophie vorgetragen wird. Ihr Sprachgestus ist dynamisch, rhythmisch komponiert, Ausdruck eines allegorisierenden, metaphernbeladenen Denkens, das schon in der Form quersteht zur akademischen Begriffssprache der etablierten Philosophie und daher ebenso als Provokation wahrgenommen werden musste wie die suggestive, auf den Ausdruck subjektiver Innenwelt zielende Formensprache expressionistischer Kunst und Dichtung. Eben ganz im Sinne der Ungleichzeitigkeitstheorie: Im Expressionismus rebelliert Altes gegen die technische Kälte der Moderne. Und genau diesen Gedanken wird Bloch in der Expressionismusdebatte gegen Lukács geltend machen: Der Umstand, dass in der expressionistischen Kunst Wirklichkeit nicht mehr als einheitlicher Sinnzusammenhang bzw. als Totalität, sondern als zerbrochene und ins Gefühl der Krise aufgelöste Wirklichkeit erscheint, wird nicht als ein vom Gehalt der Werke isoliertes Formproblem, sondern als Ausdruck einer objektiv zerfallenen und im Epochenumbruch befindlichen Welt gedeutet. Mit anderen Worten: Bloch konzediert dem Expressionismus gegen Lukács’ bloß formale Kritik einen realistischen Gehalt. Die theoretische Position, die Bloch in der Expressionismusdebatte der dreißiger Jahre zur Frage des Realismusverständnisses eingenommen hat, ist damit vorgezeichnet. Zunächst kurz zusammengefasst: Die Expressionismusdebatte, ausgetragen in der Moskauer Exilzeitschrift »Das Wort«, begann mit Klaus Manns Aufsatz über Gottfried Benn, in dem der Autor mit seinem ehemaligen Freund wegen dessen Zuwendung zum Faschismus leidenschaftlich abrechnete. Alfred Kurella ging dann in seinem Beitrag so weit zu behaupten, dass der Expressionismus schlechthin in den Faschismus führe. Daraufhin trat Bloch zur Verteidigung des Expressionismus in die Debatte ein, worauf wiederum Lukács reagierte, indem er die Debatte auf eine Diskussion des Realismusbegriffs hin zuspitzte. Ein sehr interessantes, aber nicht öffentliches Nach-Kolloquium stellt der Briefwechsel zwischen Lukács und Anna Seghers dar sowie die ebenfalls erst wesentlich später veröffentlichte Polemik Brechts gegen Lukács, die unausgesprochen Bloch in vielerlei Hinsicht Recht gibt. Brecht nennt den Realismusbegriff von Lukács formalistisch, eben an den

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bürgerlichen literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts gebunden, und hält ein materiales, vom Inhalt her gedachtes Realismusverständnis dagegen. Der jeweilige Inhalt sucht die Form, sodass Realismus grundsätzlich in der Pluralität ästhetischer Formenvielfalt zu verwirklichen ist (alle Texte bei Schmitt, Expressionismusdebatte). Diese Einschätzung, dass Lukács’ theoretische Position aus einer bestimmten Vorentscheidung über ästhetische Formen hervorgeht, teilt Bloch: Wer Ohren gehabt hätte zu hören, hätte in diesen Ausbrüchen ein revolutionär Produktives wahrnehmen können, auch wenn es ungeregelt und ohne Obhut war. […] Dauernder Neuklassizismus oder der Glaube, dass alles, was nach Homeros und Goethe hervorgebracht wurde, unrespektabel sei, […] ist allerdings keine Warte, um die Kunst der vorletzten Avantgarde zu beurteilen und in ihr nach dem Rechten zu sehen. (Erbschaft, 268)

Jenseits aller Polemik und der politischen Dimension der Debatte im Kontext der Exilsituation ist jedoch gerade der grundsätzliche theoretische und ästhetische Gehalt interessant, den Bloch gegen Lukács’ zentralen Begriff einer geschlossenen Totalität bzw. den »unzerfallenen objektiven Realismus« geltend macht: Hier nur soviel: Lukács setzt überall eine geschlossen zusammenhängende Wirklichkeit voraus, dazu eine, in der zwar der subjektive Faktor des Idealismus keinen Platz hat, dafür aber die ununterbrochene ›Totalität‹, die in idealistischen Systemen, und so auch denen der klassischen deutschen Philosophie, am besten gediehen ist. […] Aber vielleicht ist Lukács’ Realität, die des unendlich vermittelten Totalitätszusammenhangs, gar nicht so – objektiv; vielleicht enthält Lukács’ Realitätsbegriff selber noch klassisch-systemhafte Züge; […] Darum sieht er in einer Kunst, die reale Zersetzungen des Oberflächenzusammenhangs auswertet und Neues in den Hohlräumen zu entdecken versucht, selbst nur subjektivistische Zersetzung; darum setzt er das Experiment des Zerfällens mit dem Zustand des Verfalls gleich. (Ebd. 270f.)

Und wieder zeigt sich, dass Blochs Einschätzung des Expressionismus von seinen geschichtsphilosophischen Einsichten in die Ungleichzeitigkeit geprägt ist: Der Expressionismus war als Erscheinung bisher unerhört, aber er fühlte sich durchaus nicht traditionslos; im Gegenteil, er suchte, wie der ›Blaue Reiter‹ beweist, durchaus seine Zeugen in der Vergangenheit, er glaubte Korrespondenzen bei Grünewald, in der Primitive, sogar im Barock zu treffen, er betonte eher zuviel Korrespondenzen als zu wenig. […] Der Expressionismus hatte auch gar keinen volksfremden Hochmut, wieder im Gegenteil: der ›Blaue Reiter‹ bildete Murnauer Glasbilder ab, er öffnete zuerst den

Ungleichzeitigkeit und Utopie Blick auf diese rührende und unheimliche Bauernkunst, auf Kinder- und Gefangenenzeichnungen, auf die erschütternden Dokumente der Geisteskranken, auf die Kunst der Primitive. (Ebd. 272)

Man denke bei diesen Worten nur an das erste Prosastück aus dem Geist der Utopie, in dem es um einen alten Bauernkrug geht, aus dessen geheimnisvollen Innenraum der Sprachzauberer Bloch das Ganze einer expressionistischen Ästhetik evoziert. Zurück zum ästhetischen Kern der Auseinandersetzung, dem Realismusbegriff. Bloch hat ihn in seinem Vortrag »Marxismus und Dichtung« entwickelt. Gehalten wurde dieser Vortrag 1935 auf dem Kongress des Exils, dem »Congrès pour la défense de la culture« in Paris. An ihm nahmen unter anderem auch Bertolt Brecht, Robert Musil, Heinrich und Klaus Mann und Lion Feuchtwanger teil. Eingeladen hatten André Gide und Romain Rolland, um vor dem Hintergrund der faschistischen Bedrohung in Europa über Humanismus, die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft, den Zusammenhang von Nation und Kultur oder die Würde des Geistes zu diskutieren. Bloch jedoch versucht in seinem Vortragsbeitrag, seinen Realismusbegriff zu verdeutlichen. Diese Akzentuierung des Kongressthemas auf die Frage des Realismus muss aus dem historischen Kontext verstanden werden: Große Teile der deutschen Intellektuellen befanden sich 1935 im Exil. Der marxistisch orientierte Teil dieses Exils befand sich im Zusammenhang der schon erörterten Expressionismusdebatte in einer Diskussion um Grundfragen der Ästhetik. Das erklärt Blochs strategische Zuspitzung auf den Realismusbegriff. Lukács entwickelt seine Konzeption des Realismus vom Begriff der Typisierung her, zielt also auf die Aktualisierung des aristotelischen Gedankens eines sich im Kunstschaffen verwirklichenden sinnlichen Allgemeinen. Bloch dagegen akzentuiert darüber hinaus den ebenfalls aristotelischen Gedanken, dass eine wesentliche Funktion der Kunst darin besteht, Wirklichkeit als Möglichkeit erfahrbar zu machen. Diesen Gedanken aktualisiert Bloch dahingehend, dass Dichtung auf die im geschichtlichen Prozess angelegten Möglichkeiten reflektiert. Der Vortrag »Marxismus und Dichtung« versucht, diese Einheit der sinnlichen Verallgemeinerung des Möglichen im Begriff der poetischen Verwesentlichung zu fassen. Die »verdichtende, verwesentlichende Verarbeitung« (Bloch, Marxismus, 140) der Wirklichkeit, die in der dichterischen Tätigkeit stattfindet, besteht einerseits in der von Lukács ausgezeichneten typisierenden Abbildung der Wirklichkeit, darüber hinaus jedoch muss sie zugleich als Fortbildung, als das gestaltete Überschreiten der gewordenen Wirklichkeit verstanden werden. Der poetischen Verwesentlichung geht es um das »dem Gegenstand forttreibend Hinzugefügte«, um das nur in der Kunst anschaulich darstellbare »ungelebt Mögliche« (ebd. 141). Bloch unterscheidet sehr genau einen formalen Aspekt ästhetischer Modalität – Kunst ist Schein

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und daher nie empirische Wirklichkeit – und einen inhaltlichen Möglichkeitscharakter der Kunst: sie kann experimentierend in Modellbildungen die in der Wirklichkeit angelegten realen Möglichkeiten antizipieren und gestalten. Den Begriff poetischer Verwesentlichung und die Kategorie ästhetischer Möglichkeit – beides zentrale Begriffe für die entwickelte ästhetische Theorie im Prinzip Hoffnung – gewinnt Bloch aus einem Aristoteles-Zitat, das wir nicht nach seinem Text, sondern der kritischen Ausgabe der Poetik des Aristoteles wiedergeben (denn auch das macht Bloch zu einem Schriftsteller des Exils: die Notwendigkeit, nicht aus guten, sondern aus gerade vorhandenen Ausgaben oder gar aus dem Kopf zu zitieren, zeigt sich in seinen Schriften immer wieder). Also der Wortlaut bei Aristoteles: Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit einfach wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondern etwas so darzustellen, wie es gemäß innerer Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d.h. was als eine Handlung eines bestimmten Charakters möglich ist./Denn ein Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben (man könnte die Bücher Herodots in Verse bringen, und sie blieben um nichts weniger eine Form der Geschichtsschreibung, in Versen wie ohne Verse), der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was geschehen ist, der andere dagegen, was geschehen müsste. Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar. (Aristoteles 13)

Aristoteles macht deutlich, dass die Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung nicht in formalen Unterschieden zu suchen ist, sondern grundsätzlich darin, dass die Geschichtsschreibung singuläre Ereignisse schildert, während die Dichtung Wirklichkeiten im Modus einer Möglichkeit darstellt, die gerade deshalb, weil sie Möglichkeiten sind, keine empirische Wirklichkeit wiedergeben können. Diese Möglichkeiten müssen dichterisch so verarbeitet werden, dass sie ein nichtbegriffliches, ein anschauliches Allgemeines bilden, um wahrscheinlich, also glaubhaft mögliche Wirklichkeit sein zu können. Das scheint sich gerade mit Lukács’ Begriff der typisierenden Verallgemeinerung zu decken, und Lukács hat Aristoteles ja in seiner Ästhetik auch ausdrücklich für seine Theorie in Anspruch genommen (Zimmer, Arbeit am Begriff, 34ff. und 211ff.). Das ist richtig, was die nichtbegriffliche Verallgemeinerung als spezifische Leistung der Dichtung und der Kunst im allgemeinen angeht. Bloch akzentuiert jedoch gerade den Aspekt, der Lukács entgeht, nämlich den Umstand, dass diese Verallgemeinerungsfunktion der Dichtung bei Aristoteles an den Begriff der Möglichkeit gebunden ist, wie das Zitat ja eindeutig zeigt. Bloch kommentiert das folgendermaßen:

Ungleichzeitigkeit und Utopie Das poetische Verwesentlichen geht demnach auf ein im empirischen Stoff durchaus noch nicht so deutlich erschienenes Wesentliches oder gar noch gar nicht hervorgetretenes; der subjektive Faktor des Dichterischen ist dem künstlerischen Vor-Schein dann der Geburtshelfer. (Marxismus, 140)

Deshalb liegt der Fall Realismus auch hier nicht so einfach, wie das der natürlichen, gar der schematischen Weltansicht vorkommt. Oder: nicht alles dem Gegenstand forttreibend Hinzugefügte ist und bleibt idealistisch, im Sinn des Irrealen; vielmehr kann ihm gerade das wichtigste Element des Wirklichen entsprechen: das ungelebt Mögliche. (Ebd. 140f.)

Der für Blochs reife ästhetische Theorie grundlegende Begriff ist ausgesprochen: Vor-Schein. In ihm vereinigen sich die Momente von ästhetischer Verallgemeinerung und Darstellung von Möglichkeiten. Diesen Grundgedanken wird das Prinzip Hoffnung entwickeln, dessen wesentliche Teile im amerikanischen Exil entstanden sind, das für Bloch im Unterschied zu den bewegten Jahren des europäischen Exils in der Schweiz, Österreich, Frankreich und der Tschechoslowakei einsame Jahre des Gelehrtendaseins bedeutete. Das Prinzip Hoffnung wird die Realismuskonzeption weiter auf den Möglichkeitsbegriff hin zuspitzen. Wirklichkeit ist kein in sich abgeschlossenes Ensemble faktischer Gegebenheiten, sondern in ihren Latenzen und im Bewusstsein der Menschen über sich selbst hinaus: ein dauernder Übergang in die Zukunft. Der Grundlegungsteil von Prinzip Hoffnung entwickelt entsprechend eine Ontologie der Möglichkeit, von der her sich das geschichtliche Werden als offener Zusammenhang objektiver Bedingungen und subjektiver Verwirklichungsintentionen der in diesen Bedingungen wirkenden Subjekte darstellen lässt (Prinzip Hoffnung, 224ff. und 224 ff; und Zimmer, Kritik, 70ff.). Alles Wirkliche enthält in sich objektive Möglichkeiten der Weiterentwicklung. Wirklichkeit wird also als ein unabschließbarer Prozess offener Vermittlungen begreif bar. Die realistische Funktion der Kunst liegt für Bloch darin, das in der Wirklichkeit angelegte Noch-Nicht-Wirkliche, Noch-Nicht-Erschienene erfahrbar zu machen, anschaulich als wirklich erscheinen und zum Vor-Schein kommen zu lassen. Blochs utopisches Verständnis der Philosophie lässt vermuten, dass seine Konzeption von Realismus auf die utopische Funktion der Kunst rekurriert und damit eher an der inhaltlichen Seite des ästhetischen Möglichkeitsbegriffs interessiert ist. Die Kategorie Vor-Schein zeigt jedoch, dass er dem klassischen Begriff des Scheins, wie er etwa bei Hegel entwickelt ist, zwar ein inhaltlich antizipierendes Moment hinzufügt, jedoch ebenso den klassischen Gehalt des Scheins (Abgrenzung der Kunstwirklichkeit gegen empirische Realität) nutzt, um den oben an Aristoteles festgestellten formalen Möglichkeitscharakter aller Kunst zu unterstreichen. Wenn Schein schon bei Hegel darauf zielt, das

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Verhältnis von Selbstbewusstsein und Wirklichkeit, also von Mensch und Welt anschaulich in die Erfahrung zu bringen, so deutet Bloch genau diesen Gedanken dahin weiter, dass in der Kunst mögliche menschliche Weltverhältnisse erfahrbar werden. Das jedoch setzt die grundsätzliche formale Unterscheidung voraus, die Bloch von Aristoteles wiederaufgreift. Genau diese Modifikation gegenüber dem klassischen Scheinbegriff bei Hegel akzentuiert der Begriff des Vor-Scheins: Kunst ist ein Laboratorium und ebenso ein Fest ausgeführter Möglichkeiten, mitsamt den durcherfahrenen Alternativen darin, wobei die Ausführung wie das Resultat in der Weise des fundierten Scheins geschehen, nämlich des welthaft vollendeten VorScheins. (Prinzip Hoffnung, 249)

Und weiter heißt es: Eben dadurch wird dieser Vor-Schein erlangbar, daß Kunst ihre Stoffe in Gestalten, Situationen, Handlungen, Landschaften zuendetreibt, sie in Leid, Glück wie Bedeutung zum ausgesagten Austrag bringt. Vor-Schein ist dies Erlangbare dadurch, daß das Metier des Ans-Ende-Treibens in dem dialektisch-offenen Raum geschieht, worin jeder Gegenstand ästhetisch dargestellt werden kann. Ästhetisch dargestellt, das bedeutet: immanent-gelungener, ausgestalteter, wesenhafter als im unmittelbar-sinnlichen oder unmittelbar-historischen Vorkommen dieses Gegenstandes. (Ebd. 247)

Diese Aussagen zeigen jedoch auch einen immanenten Widerspruch der Kunst, der im Begriff des Vor-Scheins reflektierbar wird: als Darstellung einer veritas heterocosmica, mit Baumgarten zu sprechen also als Wahrheit einer anderen möglichen Welt muss Kunst einerseits offen für Anderes und Neues sein, wird also einen fragmentarischen Charakter haben. Damit steht Bloch durchaus dem experimentellen Charakter der Kunst und Literatur jener Exiljahre nahe. Andererseits meint Vor-Schein immer auch Antizipation eines Seins wie Utopie; diese Vorwegnahme möglicher Vollkommenheit sieht Bloch in der künstlerischen Intention auf Formvollendung. Das Kunstwerk existiert folglich in dem immanenten Widerspruch der »Ausfabelung« von Möglichkeiten einerseits und »Kunst-Fertigkeit«, dem »Schein des Rundens« (ebd. 249) andererseits. Dieses Spannungsverhältnis realisiert sich in der dialektischen Einheit von Inhalt und Form. Nicht nur den Inhalten nach, sondern vor allem auch in der Form also transzendieren die Gebilde Wirklichkeit, denn KunstFertigkeit ist Vor-Schein möglichen Gelungenseins. Diese utopische Funktion verwirklicht sich im Formwillen des Künstlers und seiner Intention auf das vollkommene Werk. In der Form also scheint ein kontrafaktischer Widerstand gegen den Zustand der Wirklichkeit auf. Dieser Gedanke scheint auch gegenüber Lukács differenzierend wirken zu wollen: Denn es ist nicht die bestimmte

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Form des bürgerlichen Realismus, sondern die ganze Vielfalt experimenteller Formen, in der Kunst sich gegen bestehende Wirklichkeit auf ein Anderes richtet. Das Spezifische ästhetischer Modellbildungen besteht darin, Ausdruck sinnlich erfahrbarer Konstruktionen möglicher menschlicher Weltverhältnisse zu sein. In der Wirkung der Werke bricht die utopische Formvollendung wieder auf, und das Werk wird (und hier ist Bloch der allegorischen Kunstauffassung Benjamins wieder sehr nah) zum Gegenstand der Anreicherung durch neue historische Bedeutungsanlagerungen – und damit wird es Fragment. Das Werk ist »oft gerundet«, aber doch »nie geschlossen« (ebd. 250 und 252): denn das in der Form vollendete Werk zerfällt in der Wirkung. Bloch prägt hierfür den Begriff der ›nachträglichen Fragmentierung‹ des Werks. Er antizipiert an dieser Stelle Gedanken der Rezeptionsästhetik, indem er das Werk als offene Entwicklung seiner Bedeutungslatenzen auffasst. Der Begriff nachträglicher Fragmentierung des Werks deutet einen Einfluss des Trauerspielbuches von Benjamin an, eine Annäherung Blochs an ein allegorisches Kunstverständnis. Ich will in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass ein solches allegorisches Kunstverständnis, für das Benjamin im Trauerspielbuch auf die ars emblematica im Barock hinweist, die in der Flugschriftenliteratur während des dreißigjährigen Krieges verbreitet war, auch bei einem klassischen Zeugnis der Exilliteratur strukturell wiederzufinden ist: in Brechts Kriegsfibel. Brecht zitiert die Jetztzeit der ars emblematica in der Struktur der Stücke in der Kriegsfibel: Lemma, Bild und Vierzeiler, die Grundstruktur des Emblems, tauchen als Überschrift, Fotoausschnitt aus der Zeitung und Gedichtkommentar exakt wieder auf.

P hilosophien des P orösen Im Hintergrund der ästhetischen Gesamtkonzeption im Prinzip Hoffnung steht also, dies lässt sich zusammenfassend wohl sagen, eine utopische Weltanschauung, die Wirklichkeit grundsätzlich von ihren Möglichkeitshorizonten her wahrnimmt. Ich möchte, um die diesbezügliche Singularität Blochs an einem Beispiel zu zeigen, zum Abschluss auf ein Kuriosum hinweisen. Mitten in der bewegten Weimarer Zeit der zwanziger Jahre, zwischen den Exilen, machen verschiedene Philosophen und Intellektuelle eine Reise, und wie es für gebildete Deutsche nicht anders sein kann, nach Italien. Walter Benjamin schreibt 1924 zusammen mit seiner Freundin Asja Lacis das Denk-Bild über Neapel. An dieser Reise nehmen auch Siegfried Kracauer, Theodor W. Adorno und Alfred Sohn-Rethel teil. Benjamin entdeckt in Neapel den Begriff der Porosität des Wirklichen, will sagen: Die Dinge der Wirklichkeit, insofern sie porös geworden sind bzw. im Denken porös gemacht werden, werden dadurch

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fähig, neue Konstellationen einzugehen. Die sozusagen lockere Struktur des Porösen wird insofern zur Voraussetzung einer konstellativen Form des Denkens, wie es für Benjamin charakteristisch und etwa für Adorno dann zum Vorbild geworden ist. Die neapolitanische »Anordnungskunst Benjamins« (Mittelmeier 60) steht zeitlich am Übergang zum Spätwerk, das Anschluss an den historischen Materialismus sucht. Benjamin entdeckt in dem porösen Lavagestein Neapels ein Bild für die Porosität alles Wirklichen: »Nichts ist festgefügt, alles darf sich in improvisierten und überraschenden Wendungen vermischen…« (Ebd. 38f.) Benjamin schreibt gemeinsam mit Lacis: Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über. In allem wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden. Man meidet das Definitive, Geprägte. […] Porosität begegnet sich nicht allein mit der Indolenz des südlichen Handwerkers, sondern vor allem mit der Leidenschaft für Improvisieren. […] Porosität ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens. (Benjamin/Lacis 309, 310 und 311)

Der Text erscheint am 19. August 1925 in der Frankfurter Zeitung. Benjamin fasst hier eine Grundeinsicht seines Denkens in ein eindringliches Bild, aber zugleich drückt er auch das Lebensgefühl einer aus dem Großen Krieg gekommenen Generation aus, die alsbald geschlossen ins Exil gehen wird. Am 20. Oktober 1925 erscheint das Prosastück »Felsenwahn in Positano« von Siegfried Kracauer ebenfalls in der Frankfurter Zeitung. Das Wort Porosität fällt nicht, aber der Diskurs um sie geht weiter, wenn Kracauer die città morta, die Totenstadt beobachtet, »deren Hausgerippe in der stehenden Luft langsam zerbröckeln.« (Kracauer 61) Die »feine Zersetzungsarbeit« des Meerwassers dringt »feucht-zerstörerisch nach innen, künstliche Hohlräume allein hemmen seine salzigen Attacken.« (Ebd. 63) Porosität also auch in Kracauers Positano, als Bild einer ins Wanken geratenen, sich auflösenden Wirklichkeit. Auch Ernst Bloch war 1924 in Neapel. Auch er hat seinen Text zu »Italien und die Porosität« geschrieben, den die Gesamtausgabe auf 1925 datiert, die uns aber leider keine genaue Auskunft über die Publikation gibt. Immerhin gibt es im Text einen Hinweis auf das Denk-Bild Benjamins: »Walter Benjamin hat Italien gleichfalls ›porös‹ genannt; wirklich, damit ist ein gerade nicht antikes, sondern barockes Ineinander gesehen, ein rand- und doch nicht bandloses, um das man sich nicht weiter betrügen mag.« (Bloch, Italien, 508) Bloch erkennt also in durchaus übereinstimmender Art den allegorisierenden, polysemischen, den die klassische Einheit auf brechenden Sinn des Porösen bei Benjamin, und geht doch in seiner eigenen Bestimmung über Benjamin hinaus: Zunächst mit der nicht nur Benjamin betreffenden, ebenso allgemeinen wie lakonischen Eingangsfeststellung, die sich wohl an alle Italienreisende seit

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Goethe richtet: »Man reist aber in dies Land meist falsch ein.« (Ebd.) Will sagen: vom Norden, von Mitteleuropa her und mit der entsprechenden Brille auf der Nase. Bloch kam 1924 auf dem Rückweg von seiner Maghrebreise nach Sizilien, also von Tunis her kommend diese Mischwirklichkeit wahrnehmend. Bloch tritt nun – und ich meine in einer für seinen Wirklichkeitsbegriff und seine ästhetische Grundposition sehr erhellenden Weise – auf seine Art in die Erörterung der heiteren Porosität Italiens ein; anhand alltäglicher Dinge wie Schlafen oder Essen zeigt er, dass Porosität die Offenheit des Wirklichen als Möglichkeitsraum bedeutet: Die Menschen schlafen und wachen nicht am Stück, das eine nachts, das andere des Tags, sondern die Tage sind von Schlaf durchzogen wie die Nächte vom Wachen. […] Eine Gesellschaft Neapolitaner ein Lokal betreten, sich über die Tische, auch schon die halbbesetzten, verbreiten zu sehen, die Anknüpfung und Mischung der Gespräche zu beobachten, ist eine wahre Lehrstunde in Porosität, da ist nichts etwa aggressiv, wie das deutsche Mitbeschlagbelegen, sondern alles eben freundlich-offen, ein diffuses, ein kollektives Gleiten. (Ebd. 508 und 509)

Und wieder kann man in Blochs Beobachtungen die Wahrnehmung von Ungleichzeitigkeit durchhören, wenn er vom »Durcheinander oder Ineinander der Lebensalter und Zeiten, Klassen und Mythen« (ebd. 511) spricht. Porosität ist ganz positiv bestimmt: Auflockerung festgefügter Wirklichkeit, das Durchlässigmachen des Wirklichen. Genau das jedoch ist Blochs ästhetische Grundeinsicht, die er in der Zeit des Exils formuliert: Kunst bricht Wirklichkeit auf, um sie als offenen Reaktionsraum nicht gesehener Möglichkeiten sehen zu lernen.

B ibliogr aphie Aristoteles. Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5. Berlin: Akademie Verlag, 2011. Benjamin, Walter/Asja Lacis. »Neapel«. Gesammelte Schriften IV. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1972. 307-316. Bloch, Ernst. Das Prinzip Hoffnung. Gesamtausgabe Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1959. — »Differenzierungen im Begriff Fortschritt«. Tübinger Einleitung in die Philosophie. Gesamtausgabe Bd. 13. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1961. 118-143. — Erbschaft dieser Zeit. Gesamtausgabe Bd.4. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1962. — »Marxismus und Dichtung«. Literarische Aufsätze. Gesamtausgabe Bd. 9. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1965. 135-143

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— »Italien und die Porosität«. Literarische Aufsätze. Gesamtausgabe Bd. 9. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1965. 508-515. Holz, Hans Heinz. Logos spermaticos. Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1975. Koselleck, Reinhard. Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003. Krakauer, Siegfried. »Felsenwahn in Positano«. Strassen in Berlin und anderswo. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009. Mittelmeier, Martin. Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt. München: Siedler, 2013. Palmier, Jean-Michel. Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin. Berlin: Suhrkamp, 2009. Schmitt, Hans-Jürgen (Hg.). Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973. Zimmer, Jörg. Die Kritik der Erinnerung. Metaphysikkritik, Ontologie und geschichtliche Erkenntnis in der Philosophie Ernst Blochs. Köln: Dinter, 1993. — Arbeit am Begriff. Grundprobleme der ästhetischen Terminologie. Bielefeld: Aisthesis, 2014. — »›Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben‹. Erläuterungen zu Benjamin und Bloch«. Benjamins Wahlverwandtschaften. Zur Kritik einer programmatischen Interpretation. Hg. Helmut Hühn et al. Berlin: Suhrkamp, 2016. 259-271.

›unabgegoltene Vergangenheit‹ – umkämpfte Zukunft Ernst Blochs Profilierung des Utopischen im Schweizer Exil* Robert Leucht

1. E inleitung ›Schweizer Exil‹ – diese bewusst offen gehaltene Formulierung im Untertitel des vorliegenden Beitrags deutet sowohl auf Ernst Blochs Schweizer Exil von 1917 bis 1918 als auch jenes von 1933 bis 1934 hin. Der 1885 in Ludwigshafen geborene Philosoph, der im Gegensatz zu anderen Intellektuellen seiner Generation, beispielsweise seinem akademischen Lehrer Georg Simmel, ein entschiedener Gegner des Ersten Weltkriegs war, hatte sein Geburtsland bereits 1917 in Richtung Bern verlassen, um sich von dort aus gemeinsam mit anderen Kaiserkritischen Intellektuellen und Pazifisten für ein anderes Deutschland stark zu machen. Weniger als zwei Jahrzehnte später war der aus einer jüdischen Beamtenfamilie stammende Bloch nach der Durchsuchung seines Berliner Hauses durch die Nazis erneut in die Schweiz geflüchtet, diesmal nach Zürich. Beide Phasen, Blochs Schweizer Exil während des Ersten Weltkriegs sowie jenes nach der Machtergreifung durch die Nazis, zählen zu den wichtigsten Perioden in seiner lebenslangen Reflexion über das Utopische, das hier als ein Sammelbegriff für jede mögliche Erweiterung der historisch-politischen Realität verstanden wird (Voßkamp, Utopie, 740), während der Begriff der Utopie im nun Folgenden jeweils eine bestimmte politische Alternative bezeichnen soll. In diese beiden Lebensphasen fallen die Publikationen zweier Hauptwerke Blochs: 1918 von Geist der Utopie, dessen zweite Fassung 1923 erscheinen wird, und 1935 von Erbschaft dieser Zeit, im Zürcher Verlag Oprecht und Helbling veröffentlicht, in dem auch andere namhafte Emigranten aus Nazi-Deutschland publizierten, wie beispielsweise Heinrich und Thomas Mann sowie Else Lasker-Schüler. Der vorliegende Aufsatz stellt die konzentrierte Version eines Ausschnitts meiner Habilitationsschrift Dynamiken politischer Imagination dar: Leucht, Dynamiken, 346–364. *

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Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, mit Blick auf diese beiden Werke Stationen in Blochs Reflexionen über das Utopische nachzuzeichnen. Blochs kontinuierliche Arbeit an dessen Profilierung, so die hier zu entfaltende These, ist dem Bemühen geschuldet, in Zeiten intensiver Utopieproduktion in verschiedenen politischen Lagern die Konturen einer Utopie deutlich werden zu lassen, die von den gemäß Bloch Trugbildern der stärker werdenden Rechten unterschieden ist. Es wird anders gesagt darum gehen, Differenzierungen in Blochs Ausbildung des Utopischen nachzuzeichnen, die, so die hier vertretene Position, erst vor dem Hintergrund der politischen Kontexte und zeitgenössischen Utopiediskurse erklärbar werden.

2. E rstes S chweizer E xil (1917-1918), G eist der U topie und V orstellungen des U topischen als einer noch › unabgegoltenen V ergangenheit‹ In einem Interview aus dem Jahr 1970 bemerkt der zu dieser Zeit bereits an der Universität Tübingen lehrende Bloch: »Die Utopie ist nicht ein Mythos, sie bezeichnet vielmehr, wenn es sich um diese konkrete Utopie, von der ich gesprochen habe, handelt, eine objektive und reale Möglichkeit.« (Die Utopie ist eine philosophische Kategorie, 123) Auffällig ist hier die Aufwertung des Utopiebegriffs zu einer realen Möglichkeit, eine Umprägung, die nicht zuletzt gegen die auch in Alltagsrede verfestigte, pejorative Verwendung des Wortes Utopie als eine realitätsferne Idee gerichtet ist und zweifellos als eine Kontinuität in Blochs Œuvre bezeichnet werden kann. Blickt man von dieser Aufwertung des Utopiebegriffs auf das Werk Geist der Utopie, das Bloch wenige Monate vor seinem Weg in die Schweiz fertiggestellt hatte (Münster, Ernst Bloch, 69) und mit dem seine systematische Erkundung des Utopischen beginnt, dann wird man sehen, dass schon dort ein Utopiebegriff konturiert wird, der darauf abzielt, Utopie als eine Form von Wirklichkeit zu fassen. An einer frühen Stelle von Geist der Utopie lesen wir, »daß es über der vorliegenden Tatsachenlogik noch eine verschollene und verschüttete Logik geben muß, in der erst die Wahrheit wohnt« (64) und dass diese, so heißt es weiter, ebenso existent sei wie das, »was es gibt« (ebd.). Mit dieser zuletzt zitierten Formulierung ist wie auch mit jener aus dem Jahr 1970 angezeigt, dass neben dem, was tatsächlich ist, noch etwas anderes koexistiere.1 Trotz dieser argumentativen Kontinuität muss die spezifische Sprache, die Bilderlogik auffallen, mit der jenes Andere jeweils gefasst ist. 1 | An einer anderen Stelle ist in diesem Sinne die Rede von einer »utopische[n] Wirklichkeit oder eine[r] noch nicht erreichte[n]« (Bloch, Geist der Utopie, 276). Vgl. auch die folgende Passage: »dasjenige, was nicht hinter uns, herabgesunken, unterbewußt, sondern vor uns ist« (ebd. 215).

›unabgegoltene Vergangenheit‹ – umkämpf te Zukunf t

Die Beschreibung dieser anderen Realität als eine ›verschollene und verschüttete Logik‹ verbindet sich im Fortgang von Geist der Utopie, wie die folgende Passage illustrieren möge, mit dem Aufruf, dieses Verschüttete freizulegen: Dieses weiter zu treiben, das Pochende, Unterdrückte, Zukünftige, das nicht werden konnte in all dem zähen Teig des Gewordenen, es reumütig zu lockern, in immer noch lebendiger, besserwissender Mitverantwortlichkeit, es vor allem auch wertgemäß zu beziehen, zu erleichtern und einzuschließen, ist die denkerische, geschichtsphilosophische Arbeit. (Ebd. 335)2

Zumindest drei Aspekte gilt es an dieser an Metaphern reichen Passage hervorheben: Erstens fällt auf, dass hier nicht mehr von einer ›verschütteten Logik‹ die Rede ist, sondern zugespitzt von einem ›Unterdrückten‹, womit hervorgehoben ist, dass das Verschüttet-Halten jener anderen Logik mit einem Interesse verbunden ist. Die Formulierung des ›Pochenden‹ markiert zweitens, dass jenes Verschüttete in einer ihm feindlichen Realität seine Spürbarkeit – und vielleicht auch beunruhigende Dimension – bewahrt hat. Die Passage weist drittens auf das Zusammenspiel zweier Zeitebenen hin: Vergangenheit und Zukunft. Das ›Unterdrückte‹, das nicht werden konnte, soll, so eine Forderung von Geist der Utopie, in Zukunft gelockert und miteinbezogen werden. Tritt man nun einen Schritt aus den Analysen dieser Einzelpassagen zurück und versucht die aus ihnen gewonnenen Einsichten zu bündeln, wird man sagen können, dass Geist der Utopie durch die skizzierten Bilder die Vorstellung einer Vergangenheit evoziert, die nicht werden konnte, die aber innerhalb der gegenwärtigen Konstellation spürbar geblieben ist und mit Blick auf die Zukunft ihrer Befreiung harrt. In der Forschung ist dieses lebendige Gestern zuletzt als »im Vergangenen schlummernde[] Potenzialität[]« (Marchesoni 29) bezeichnet worden oder in einer älteren Deutung treffend als »unaufgearbeitete[] Vergangenheit [], worin das Utopische des Menschentums als Ausdruck seines subversiv-umkehrenden Wesens lebendiger geblieben« (Riedel 87) ist. Man könnte diese Vorstellung vom Utopischen aber auch als eine unabgegoltene Vergangenheit beschreiben, die es in Zukunft zu entfalten gelte. Um nun die Differenzierungen zu verstehen, die Bloch in den folgenden Jahren in der Formulierung des Utopischen vornehmen wird, ist es notwendig, die Perspektive über sein Werk hinaus zu erweitern und den Fokus auf die teilweise auch in der utopischen Belletristik dieser Jahre formulierten Verheißungen der politischen Rechten zu lenken. Besonders mit Blick auf die anschließende Analyse von Originalgeschichte des Dritten Reichs, die Bloch 1937 2 | Zuletzt hat Stefano Marchesoni in einer um den Begriff des Eingedenkens kreisenden Lektüre von Geist der Utopie auf diese Passage Bezug genommen, siehe Marchesoni 20.

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publizierte und die erst in der Neuausgabe von Erbschaft dieser Zeit mitaufgenommen wurde, gilt es nun, einen Seitenblick auf Arthur Moeller van den Brucks Studie Das dritte Reich zu werfen. 1923 publiziert, also fünf Jahre nach der ersten Fassung von Geist der Utopie und im selben Jahr wie die zweite,3 ist das Werk dieses rechtskonservativen Publizisten für die Einsicht repräsentativ, dass auch die nach dem Ersten Weltkrieg sich formierende Rechte in ihren politischen Programmen eine Zukunft beschwört, in der ähnlich wie im Werk des späteren Emigranten aus Hitlerdeutschland eine noch nicht abgegoltene Vergangenheit zum Zuge kommen soll. Anhand dieser strukturellen Analogie wird evident, dass es sich nach 1918 bei der Vorstellung einer unabgegoltenen Vergangenheit als Zukunftsversprechen um ein diskursiv umkämpftes Terrain handelt. In van den Brucks Studie, die den Begriff des Dritten Reichs, wie ihn die NS-Bewegung verwendete, zwar nicht prägte,4 jedoch popularisierte, findet sich die folgende Passage: Er [der Gedanke vom dritten Reich; RL] ist ein alter und großer deutscher Gedanke. Er kam auf mit dem Verfalle unseres ersten Reiches. Er wurde früh mit der Erwartung eines tausendjährigen Reiches verquickt. Aber immer lebt in ihm noch ein politischer Gedanke, der sich wohl auf die Zukunft, doch nicht so sehr auf das Ende der Zeiten, als auf den Anbruch eines deutschen Zeitalters bezog, in dem das deutsche Volk erst seine Bestimmung auf der Erde erfüllen werde. (6)

Betrachtet man diese Passage aus van den Brucks Vorwort vor der Folie von Blochs Rede von einem ›Pochenden, Unterdrückten, Zukünftigen, das nicht werden konnte in all dem zähen Teig des Gewordenen‹, muss auffallen, dass auch hier auf etwas zwar Vergangenes, aber dennoch Lebendiges hingewiesen wird, ein ›drittes Reich‹, dessen ›Anbruch‹ van den Bruck für die Zukunft verheißt. Die hier geschlagene Verbindung zu van den Bruck zielt nun nicht darauf ab, einen Einfluss zwischen Bloch und ihm zu suggerieren, sondern darauf, den aus einer diskursgeschichtlichen Analyse von Quellen der Zwischenkriegszeit gewonnenen Befund zu verdeutlichen, dass jene Denkfigur, die Bloch in Geist der Utopie profiliert, in synchroner Perspektive alles andere als singulär ist. Man könnte diese Denkfigur als Teil eines kollektiven Imaginären fassen, als Teil also von zu jener Zeit gesellschaftlich zirkulierenden Vor-

3 | Einige vergleichende Beobachtungen zu den beiden Fassungen äußert Korol 133-147. 4 | Zu Dietrich Eckart, der den Begriff bereits vier Jahre vor van den Bruck, im Juli 1919, in der Zeitschrift Auf gut deutsch verwendete, siehe Bärsch 55.

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stellungen, die in unterschiedlichen Diskursen, Politik und Literatur, evoziert werden und auf die einander entgegengesetzte Ideologien zugreifen.5 Dass diese Vorstellung weiter auch im Bereich der zu dieser Zeit überaus beliebten utopischen Belletristik (Brandt 56-67), also in der Gattung der Utopie wiederkehrt, zeigen exemplarisch die folgenden beiden Werke: Walter Müllers Wenn wir 1918 … Eine realpolitische Utopie (1930) und Ernst Otto Montanus’ Die Rettung des Abendlandes. Eine Nibelungengeschichte aus der Gegenwart (1921). Beide Texte entfalten Erzählungen, in denen sich etwas in der Vergangenheit Begonnenes in Zukunft vollenden werde. Müllers Utopie erzählt dem Genre der Alternate History vergleichbar, wie zwischen 1918 und 1930 der Sozialismus die Herrschaft über die Welt erlangt habe. Dass dabei von den »versäumten Möglichkeiten des Jahres 1918« (Müller, Wenn wir 1918, 456) die Rede ist, zeigt an, wie sehr diese Entwicklung als eine nicht zu Ende gebrachte Vergangenheit erachtet wird. In ähnlicher Weise soll in Montanus’ Text Die Rettung des Abendlandes, der auf der anderen Seite des politischen Spektrums angesiedelt ist, einer im Vergangenen schlummernden Zukunft zu ihrem Recht verholfen werden. Diese Entwicklung wird jedoch nicht einfach erwartet, sondern durch den ehemaligen Frontsoldaten Werner Hillmann herbeigeführt. Dieser Kämpfer im ersten Weltkrieg – eine Epochenfigur der Zwischenkriegszeit – soll die in Deutschland zur Macht gelangte sozialistische Bewegung, aus Norwegen zurückgekehrt, stürzen und ein deutsches Weltreich errichten.6 Dass Hillmann als noch »ungekrönte[r], germanische[r] Kaiser« (Montanus 247) bezeichnet wird, lässt diese literarische Figur zu einem Bindeglied zwischen einer vergangenen, jedoch nur unterbrochenen Genealogie deutscher Kaiser und der Handlungszeit dieses Textes werden, während der diese Abfolge nun fortgesetzt werden soll. Mehr noch konkretisiert die Bezeichnung Hillmanns als eines Kaisers das Naheverhältnis, das diese völkisch-nationale Utopie zur Vorstellung des dritten Reichs unterhält, wie van den Bruck sie entwickelt – nämlich als Kontinuität eines bei Friedrich II. begonnenen, bei Bismarck fortgesetzten, nunmehr seiner Vollendung harrenden historischen Projekts. Vorläufig zusammengefasst heißt das: Die aus der Lektüre von Geist der Utopie gewonnene Vorstellung einer unabgegoltenen, noch einzulösenden Vergangenheit strukturiert auch die utopischen Entwürfe dieser beiden Texte. Dabei begegnet sie uns hier nicht nur in sprachlichen Bildern, sondern vielmehr auf der Ebene der Handlungsführung und jener literarischer Figuren.

5 | Einen vergleichbaren methodischen Zugriff auf die Utopiediskurse der Zwischenkriegszeit wähle ich in Leucht, Neuterritorialismus. 6 | Montanus’ Werk ist jener Form der utopischen Literatur zuzuordnen, die Jost Hermand als »Deutschnationale Erlöser- und Retterutopien« bezeichnet (Hermand 117-130).

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Um schließlich die Häufigkeit zu verdeutlichen, mit der die Vorstellung einer für die Zukunft zu befreienden Vergangenheit in der Zwischenkriegszeit in Erscheinung tritt, sei in einem Seitenblick noch auf eine Studie des Historikers Omer Bartov verweisen, Mirrors of Destruction (2000). Bartov interpretiert dort die Verheißung, die von dem während der Zwischenkriegszeit zur Macht gelangenden Adolf Hitler ausging, als das Versprechen, etwas zur Geltung bringen zu können, das noch nicht werden konnte. Der amerikanische Historiker interpretiert Hitler weiter als eine Verkörperung des unbekannten Soldaten, von dem das Versprechen ausging, seine bis dato noch nicht erfüllte Mission ins Werk setzen zu wollen: For millions of Germans, Hitler came to symbolize the unknown soldier of World War I. It is no coincidence that during World War II he donned a simple uniform rather than fabricating an elaborate generalissimo’s costume, thereby underlining his affinity with the Frontschweine (›grunts‹) on the line. Hitler was the soldier who had come back from the dead, from anonymity and oblivion, from neglect and abandonment. What Hindenburg failed to understand was that this contemptible corporal represented for innumerable forgotten soldiers the kind of leader who knew what they had been through […], shared their phobias and prejudices, and yet proved that it was possible to survive, rise to prominence, and ultimately wreak vengeance on all those foreign and domestic enemies at the root of the inexplicable catastrophe that had deprived their sacrifice and devotion of all sense and meaning. It was the Führer who resurrected Germany’s fields of glory by personifying the forgotten soldier and acting out his rage and frustration. (Bartov 16)

Möchte man diese Beobachtung in der Sprache des vorliegenden Beitrags reformulieren, wird man sagen können, dass das von Hitler ausgehende Versprechen, einer unabgegoltenen Vergangenheit ihr Recht zu verschaffen, hier nicht nur als eine sprachliche Wendung oder in Form eines literarischen Charakters in Erscheinung tritt, sondern als öffentliche Figur und in der Gestalt eines realen Politikers, der es verstand sich als Rächer einer ganzen Generation zu inszenieren. Zugespitzt zu einer Figur der Vergeltung versprach Hitler, dem durch die Niederlage nicht zustande Gekommenen Geltung zu verschaffen. Vor dem Hintergrund der hier in gebotener Kürze vorgebrachten Belege aus unterschiedlichen diskursiven Bereichen ist der Befund zu gewinnen, dass das Versprechen von der Entfaltung eines vergangenen Potenzials während der Zwischenkriegszeit ein diskursives Muster bildet, einen Teil des kollektiven Imaginären, an dem auch Blochs Geist der Utopie teilhat.

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3. Z weites S chweizer E xil (1933-1934), E rbschaft dieser Z eit und B lochs A nt wort auf die prek äre N ähe rechter und linker U topien »[J]ämmerlich gewohnt, oft gehungert […] für Zeitungen täglich geschrieben, Else so oft krank und hilflos in ihrem unbeheizbaren Dachzimmer in Thun« (Korol 152). So wird Bloch Jahrzehnte später in Tendenz, Latenz, Utopie (1978) auf sein erstes Schweizer Exil zurückblicken. Wenn er schon zu dieser Zeit gemeinsam mit seiner damaligen Frau Else mit großen Entbehrungen konfrontiert war, dann wird er während seines zweiten Schweizer Exils in einem noch viel existentielleren Maße bedroht sein: Denn als Erbschaft dieser Zeit im Oktober 1935 in Zürich erscheint, war Bloch, der dieses Werk in der Schweiz zu Ende geschrieben hatte, bereits des Landes verwiesen worden, zumal seine provisorische Aufenthaltsgenehmigung im September 1934 abgelaufen war (Mittenzwei 90f.). Über sein alltägliches Leben zwischen März 1933 und September 1934 ist relativ wenig bekannt (Wende, Ernst Bloch, 54). Lediglich den autobiografischen Schriften Karola Piotrkowskas, mit der zusammen Bloch in die Schweiz emigrierte und die er 1934 in Wien heiratete, lassen sich einige Eindrücke von dieser Zeit entnehmen (ebd. 54-61). Aufgrund der allgemeinen Kenntnisse aber, die uns über die Lebensbedingungen jüdischer Emigranten aus Hitlerdeutschland in der Schweiz vorliegen, ist zu vermuten, dass Bloch während seiner zweiten Schweizer Zeit in existentieller Not lebte.7 Hierfür spricht vor allem die von der Schweiz verfolgte Politik der Ausweisung unbemittelter Emigranten bei gleichzeitigem Erwerbstätigkeitsverbot ihnen gegenüber (Wende, Einleitung, 12f.), eine Situation, in der sich besonders die Schweizer Hilfswerke Verdienste erworben haben (Boillat, Die Schweiz, 61-67; Wende, Deutschsprachige Exilschriftsteller, 14f.). Auf diese überaus prekären Bedingungen hat auch der 1949 aus den USA nach Deutschland zurückgekehrte Bloch während seines zweiten Schweizer Exils reagiert, indem er, wie zu vermuten ist, pseudonym publizierte.8 Vor dem Hintergrund der zuvor skizzierten Einsicht, dass sich die Vorstellung einer unabgegoltenen Vergangenheit nach 1918 diskursiv weit verästelt, soll nun also der Blick auf Erbschaft dieser Zeit gerichtet werden, das 7 | Insgesamt ist die Schweiz als Exil für NS-Flüchtlinge in der Literaturwissenschaft noch vergleichsweise wenig erforscht. Drei wichtige Meilensteine in diesem Forschungsgebiet sind: Mittenzwei, Wende, Deutschsprachige Exilschriftsteller, und für den Bereich des Theaters Amrein. Grundsätzliches zur Schweiz und ihrer Haltung gegenüber den NS-Flüchtlingen findet sich in Boillat. 8 | Neue Aufschlüsse u.a. über Blochs Arbeit im Schweizer Exil verspricht das von Bettina Braun an der Universität Zürich angesiedelte Projekt des Schweizerischen Nationalfonds: Das literarische Feuilleton des Exils in der Schweiz. Die Basler ›National-Zeitung‹.

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der Schweizer Verleger Emil Oprecht in sein Programm aufnahm und das als Teil eines Schwerpunkts dieses Verlages erachtet werden kann, »Wesen und Eigenart des Faschismus bloßzulegen« (Mittenzwei, Exil, 146).9 Zu den Auffälligkeiten von Erbschaft dieser Zeit zählt zweifellos eine Perspektivenvielfalt, die sich vermutlich daraus erklärt, dass Blochs Studie eine Reihe von Texten über den Aufstieg der Nazis umfasst, die seit 1932 zunächst einzeln in der zeitgenössischen Presse erschienen waren (Garcia 131). Vor der Folie dieser spezifischen Werkgenese ist auch Werner Mittenzweis Befund zu verstehen, dass Blochs Werk keine »systematische[] theoretische[] Abhandlung« darstelle, sondern »knappe[s] Feuilleton« (Mittenzwei, Exil, 156). Möchte man dennoch einen gemeinsamen Nenner dieses Werkes hervorheben, wird man es zweifellos als eine marxistisch-orientierte Gegenwartskritik und Faschismusanalyse bezeichnen können. Zu lesen ist dieser Text aber auch als eine Reaktion auf die überaus prekäre Nähe, die zwischen Blochs Vorstellung des Utopischen als einer noch abzugeltenden Vergangenheit und den Hoffnungsbildern der Rechten besteht, wie sie zuvor aufgewiesen wurde. Wenn im Folgenden Blochs diskursive Immunisierung gegenüber der Rechten sowie seine damit verbundene Differenzierung rechter und linker Utopien im Vordergrund stehen wird, soll dadurch die einleitend formulierte Annahme erhärtet werden, dass seine Profilierung des Utopischen nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Utopiediskurse zu verstehen ist. Für die Anlage von Erbschaft dieser Zeit bezeichnend ist, dass diese Differenzierung von verschiedenen Gesichtspunkten aus geleistet wird: Zunächst ist Bloch darum bemüht, die von der Rechten verheißene Vergangenheit von jener Vergangenheit zu unterscheiden, auf die er selbst in Geist der Utopie verwiesen hatte. Das geschieht, indem er die Versprechen der Rechten als Märchen, Trugbilder – man könnte salopp sagen – als schlechtere Utopien charakterisiert. Nirgends wird das deutlicher als in dem Abschnitt Originalgeschichte des Dritten Reichs, in dem sich die in diesem Werk vielleicht schärfste Kritik am Nationalsozialismus artikuliert findet.10 Erstmals 1937 in der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur erschienen und 1962 in überarbeiteter Form in die Neuausgabe von Erbschaft dieser Zeit mitaufgenommen, rekonstruiert Bloch hier mit dem Ziel, den Missbrauch aufzudecken, den die Nazis mit der Vorstellung vom Dritten Reich getrieben haben, deren Vorgeschichte: Nichts befreit daher vom Untersuchen der Begriffe, die der Nazi zum Zweck des Betrugs, aber als eines zu endenden, so verwendet wie entwendet hat. Führer, vor allem Reich 9 | Mittenzwei argumentiert in Exil in der Schweiz, dass die bei Oprecht publizierten Faschismusanalysen aus unterschiedlichen ideologischen Lagern stammten (147-151). 10 | Eine aktuellere Analyse dieses Abschnittes bietet Garcia.

›unabgegoltene Vergangenheit‹ – umkämpf te Zukunf t tauchen derart auf, und wird ihrem ursprünglich zu endenden Sinn nachgegangen, so tauchen sie in anderer, in nachdenklicherer Weise auf, als das zuletzt gewohnt war. (Erbschaft, 126f.)

Weiter verfolgt Bloch den Trinitätsgedanken über Joachim von Fiore, Lessing, Schelling und Ibsen bis zu Hitlers Mein Kampf und rekurriert dabei auf den zuvor zitierten van den Bruck: So kam das ›Dritte Reich‹ von neuem zurecht, doch welch ein anderes als das des Joachim und Lessing; glühende Finsternis fiel aufs Land, eine Nacht voll Blut und lauter Satan. Das also ist die ›Wirklichkeit‹ der alten Liebes- und Geistträume geworden; Lessings ›rationales Evangelium‹ hier, Hitlers ›Mein Kampf‹ dort. Einzigartig hat der Nazismus sowohl die ökonomische Unwissenheit wie das immer noch wirksame Hoffnungsbild, Chiliasmusbild früherer Revolutionen für sich mobilisiert. (Ebd. 139f.)

Diese Passage verdeutlicht, dass für Bloch das Aufgreifen des Trinitätsgedankens bei den Nazis und ihr Versprechen einer Befreiung durch ein kommendes Drittes Reich einen Bruch mit der Tradition dieser Vorstellung darstellt. In der Bilderlogik des Titels, Erbschaft dieser Zeit, gesprochen, bedeutet dies, dass die Nazis das Erbe dieses per se keineswegs falschen Gedankens unrechtmäßig angetreten hätten. Das von ihnen Verheißene stelle vielmehr die Verwässerung einer ursprünglich revolutionären Sache dar. Der Philosoph Gunter Scholtz hat in seiner Analyse dieses Kapitels gleichzeitig darauf hingewiesen, dass auch Bloch eine einseitige, weil von Interessen geleitete Geschichte des Dritten Reichs geschrieben habe: »Die Rekonstruktion eines originalen Begriffssinnes und seine marxistische Adaption gelingen methodisch durch Verengung der historischen Perspektive und gewagten Zugriff auf den zugrunde liegenden ›Geist‹.« (Scholtz 22) Scholtz behauptet weiter, dass »[w]ährend also der Nationalsozialismus Deutschland zum Erben des alten Kaiserreichs bestimmt […] Bloch Rußland zum ersten Erben der Reichsidee der Chiliasten« (ebd. 24) bestimme. Diese Beobachtung verdeutlicht, wie zur Profilierung ideologisch gegensätzlicher utopischer Entwürfe dieselben Denkfiguren aufgegriffen und für die eigene Sache geltend gemacht werden. Dass die Nazis das Versprechen eines Dritten Reichs, in dem sich eine begonnene Geschichte vollenden werde, derart erfolgreich vermitteln konnten, erklärt Bloch zunächst aus der Existenz eines in seiner Zeit wirkenden Widerspruchs, wobei er eine Differenzierung trifft, nach der gegenwärtig zwei verschiedene Widersprüche koexistierten, nämlich ein ungleichzeitiger und ein gleichzeitiger (Erbschaft, 104-26). Während der erste sich darin manifestiere, dass die gegenwärtige Gesellschaft von Resten älteren ökonomischen Seins und älteren Bewusstseins durchsetzt sei (beispielsweise von der Vorstellung vom Juden als Wucherer), bestünde der zweite in dem Missverhältnis »zwi-

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schen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften« und »den kapitalistischen Produktionsverhältnissen« (ebd. 119). Der ungleichzeitige Widerspruch bilde so das Ergebnis einer Koexistenz zweier Zeitschichten, der gleichzeitige hingegen sei einzig Resultat der Gegenwart. Jeder dieser gesellschaftlichen Widersprüche, so Bloch weiter, evoziere nun Visionen seiner Auflösung, allerdings in einer je unterschiedlichen Weise: Während der ungleichzeitige dazu führe, dass nicht aufgearbeitete Vergangenheit aktualisiert werden könne – Bloch bezeichnet gewisse Ergebnisse dieser Aktualisierung einmal abwertend als »das unerfüllte Märchen der guten alten Zeit« (ebd. 122) –, löse der gleichzeitige Vorstellungen einer Zukunftsgesellschaft aus, die er aufwertend als das »Subversiv-Utopische[]« (ebd. 121) charakterisiert und als eine qualitativ bessere Utopie erachtet. Mit der Leitkategorie der Ungleichzeitigkeit stellt Bloch somit den Fokus auf jenen Sachverhalt ein, der für den Erfolg der rechten Hoffnungsbilder verantwortlich zeichnet. Sie sei der »Keim und Grund der nationalsozialistischen […] Überraschung« (ebd. 111), es ließe sich ergänzen: die Grundlage, auf der die »Betrugbilder […] einer nicht ganz aufgearbeiteten Vergangenheit« (ebd. 121) florierten. Aus Blochs Ausführungen lässt sich das Eingeständnis ableiten, dass sein Profil des Utopischen der rechten Utopie zwar ähnlich sähe, jedoch auch, dass deren Voraussetzungen grundverschieden seien und nur der Marxismus angemessen auf die gegenwärtige Problematik antworten könne. In seiner Differenzierung rechter und linker Utopien und in dem Bemühen den Erfolg der rechten Utopien zu erklären, schlägt Bloch jedoch auch selbstkritische Töne an. Als einen weiteren Grund dafür, dass die Forderung einer Wiederkehr des noch nicht Abgegoltenen auf der politisch falschen Seite so wirkmächtig wurde, führt er an, dass die Gegner der Nazis es verabsäumt hätten, selbst stärker auf diese Reste älteren Bewusstseins innerhalb der Gegenwart zuzugreifen bzw. diese Reste für ihre eigene Sache zu nutzen. In zwei kritischen Wendungen formuliert er das so: »Deutschland hört noch, wie sich gezeigt hat, auf die alten Retter- und Reichsträume, selbst wenn sie von Betrügern vorgebracht werden, und es hörte desto verführbarer drauf, als die sozialistische Propaganda vielfach kalt, schulmeisterlich, nur ökonomisch war.« (Ebd. 128) Und etwas später: Die älteren Wege und Formen werden nicht ungestraft vernachlässigt, wie sich gezeigt hat. Besonders Träume, auch die allerwachsten, haben eine Vorgeschichte, und sie tragen sie mit sich. Bei zurückgebliebenen Schichten sind diese Reste besonders stark und oft vermufft, doch auch die revolutionäre Klasse ehrt ihre Vorläufer und hört sie noch. Die alten Formen helfen zum Teil, wenn richtig eingesetzt, am Neuen mit. (Ebd. 146)

Aus diesen Passagen lassen sich zwei Befunde ableiten: zum einen bemerkt Bloch, dass die sozialistische Utopie, um Wirkungsmacht zu entfalten, zu wissenschaftlich (›kalt‹, ›ökonomisch‹) in Erscheinung getreten sei, zum anderen,

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dass die Vernachlässigung der alten Formen dem politischen Gegner genutzt habe.11 Er fordert weiter, dass die, wie er selber sagt, »echte Utopie« (ebd. 151) das Vergangene nicht dem Gegner überlassen und das bedeutet weiter stärker und in einer anderen Qualität für das utopische Versprechen nutzen solle. Man kann an dieser Stelle festhalten, dass Blochs Argumentation von 1935 ein beredtes Zeugnis davon gibt, dass er um die Berührungspunkte zwischen seiner Vorstellung des Utopischen und den Profilen rechter Utopien, wie sie zuvor für die Zeit von Geist der Utopie angedeutet wurden, weiß. In der Entlarvung jener rechten Versprechen, die das ungleichzeitige Bewusstsein bestimmter Gesellschaftsschichten nutzen, liegt zweifellos eine Differenzierung qualitativ verschiedener Utopien. Gleichzeitig aber plädiert Bloch noch fast 20 Jahre nach Geist der Utopie dafür, Vergangenheit in die Profilierung des Utopischen mitaufzunehmen; mehr noch kritisiert er die politische Linke dafür, dieses Versprechen nicht offensiver verfolgt zu haben und fordert sie selbstkritisch dazu auf, von den Methoden, die der nationalsozialistischen Verheißung eine breite Wirkung verschafft haben, zu lernen.12 Den Kampf um die Zukunft, so ließe sich Blochs Position ausbuchstabieren, könne nur derjenige gewinnen, der das Risiko einer diskursiven Nähe zum politischen Gegner auch in Kauf nimmt.

4. G eist der U topie , E rbschaft dieser Z eit und V ermutungen zu den U topien des E xils Mit Blick auf eine der Leitfragen des vorliegenden Sammelbandes, jener nach der Relation von Vergangenheit und Zukunft in den Utopien des Exils13, erweist sich die hier vorgestellte Fallstudie als in zweifacher Hinsicht aufschlussreich. Entgegen der vermeintlichen Fixierung des Exils auf Vergangenes liegt mit Blochs in jenen Jahren formulierter Vorstellung vom Utopischen eine 11 | Arno Münster schreibt hierzu in seiner Bloch-Biografie: »Indem diese Linke die geheime Verbindung zwischen spätmittelalterlicher Mystik, Chiliasmus, radikalen Ketzerbewegungen, dem Wiederaufleben christlicher Ideen und den frühen revolutionären Ideen des Bürgertums unerkannt beiseite schob […] begab sie sich der Möglichkeit, dieses im ungleichzeitigen Bewußtsein weiterhin vorhandene und bebaubare Feld der Utopien dialektisch-produktiv zu besetzen.« (Münster 189) 12 | Münster hat die Emphase, mit der Bloch 1935 dazu aufruft, die Sehnsüchte und Ängste der Menschen – Stichwort: ungleichzeitiger Widerspruch – in die Profilierung des Utopischen mitaufzunehmen, als eine Verbindung zu den Anliegen der 1968er genannt (191), deren Utopien ebenfalls Sehnsüchte zum Ausdruck brächten. 13 | Vgl. zu diesem Punkt die Einleitung der Herausgeberinnen zu diesem Band, besonders S. 8.

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temporale Konstruktion vor, die zwei Zeitebenen miteinander verbindet. Seine Profilierung des Utopischen, die wohl gemerkt vor seiner Vertreibung durch die Nazis beginnt, entwirft ein Zukunftsversprechen, das nur eingelöst werden kann, indem einer Vergangenheit, die noch nicht zu ihrem Recht gekommen ist, Geltung verschafft wird. Aufschlussreich ist dieses Fallbeispiel aber noch aus einem anderen Grund: Blochs Profilierung des Utopischen bildet einen jahrzehntelangen Prozess der Präzisierungen, Differenzierungen, aber auch selbstkritischen Wendungen. Somit lenkt der vorliegende Aufsatz seinen Fokus nicht auf eine fertige Utopie, sondern die anhaltenden Prozesse ihrer Erzeugung. Die dabei rekonstruierten Umstellungen wiederum sind aufs Engste mit den politischen Debatten der Zeit und den zeitgenössischen Utopiediskursen verbunden. Das vorliegende Fallbeispiel könnte so Anlass zu der These oder zumindest der Vermutung geben, dass auch andere Utopien des Exils ihr spezifisches Profil aus einer Absetzung von jenen der politischen Widersacher beziehen und dass Blochs Differenzierung verschiedener Qualitäten von Utopien Exil-typisch ist. Ein wichtiger Schritt, um die Utopien des Exils genauer zu fassen, könnte darauf aufbauend darin bestehen, ihre Strategien zu untersuchen, um sich von jenen der politischen Gegner abzusetzen, zumal Utopien auch dort sowohl als eine Gattung als auch im Sinne einer Rekurrenz auf utopische Traditionen florieren. Die Utopien des Exils ließen sich dann als eine Zone beschreiben, in der konkurrierende Vorstellungen einer besseren Welt miteinander in einen Widerstreit treten und in der sich diskursive Kämpfe um die Aktualisierung utopischer Traditionen beobachten lassen.

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Phänomene des undeutlichen Lebens Utopische Entwürfe in Siegfried Kracauers exterritorialem Denken Heidi Grünewald

U topie , F ak tum , I magination . S iegfried K r acauer und E rnst B loch Als Siegfried Kracauer den achtzigsten Geburtstag von Ernst Bloch zum Anlass nahm, sich auf »Verbindendes und Trennendes«1 (W 5.4, 631) im Denken beider zu besinnen, reflektierte er damit nicht nur den unabwendbaren Riss einer instabilen Freundschaft, sondern auch die Spannung ihrer scheinbar unversöhnlichen Denkrichtungen. In seinem Gratulationsschreiben2, das 1965 in der vom Suhrkamp Verlag herausgegebenen Festschrift erschien, möchte Kracauer jedoch einen Ausgleich schaffen, bei dem selbst die bekannten Differenzen in ein anderes Licht gerückt werden. Für die nachfolgenden Betrachtungen zu Kracauers Utopie-Kritik gewinnt dieser Brief insofern an Bedeutung, als der Gratulant im Rahmen seines persönlichen Bloch-Bildes auch seine eigenen Betrachtungen über den Wert des Utopischen offen legt. Im Gratulationsschreiben heißt es: Des Trennenden ist viel, und es ist Dir von altersher bekannt. Du kennst mein ängstliches Misstrauen gegen große Träume, die nicht an den Rand geschrieben sind, sondern 1 | Zitate aus Siegfried Kracauer Werke in neun Bänden werden im Text mit (W, Band, Seitenzahl) angegeben. 2 | Der Gratulationsbrief wurde zusammen mit dem in englischer Sprache verfassten Aufsatz Erasmus, den Kracauer seinem Brief als Geschenk beilegte, zuerst in der Festschrift Ernst Bloch zu Ehren. Beiträge zu seinem Werk veröffentlicht, die Siegfried Unseld 1965 im Suhrkamp Verlag herausgegeben hatte. Später erschienen beide Texte als zweiteiliger Essay in deutscher Sprache unter dem Titel Zwei Deutungen in zwei Sprachen (vgl. dazu: W 5.4, Fußnote 1, 641).

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Heidi Grünewald sich überall einmischen und dabei das Nächste, mit dem wir es zu tun haben, so überaus transparent machen, dass wir kaum noch sehen, was und wie es ist. (Ebd.)

Diese Worte spiegeln in der Tat eine Kontroverse, die beide Gesellschaftskritiker schon 1922 trennte, als Kracauer in der Frankfurter Zeitung eine ausgesprochen polemische Rezension zu Blochs Thomas Münzer veröffentlichte.3 Schon damals hatte er betont, »dem in der Welt lebenden Umgestalter der Gesellschaft« (W 5.1, 466) sei es – im Gegensatz zum Chiliasten – eine Pflicht, die »Eigenbeschaffenheit« (ebd.) der Dinge und Verhältnisse unserer unmittelbaren Lebenswelt »verantwortungsbewusst mit in Rechnung zu stellen« (ebd.). Bloch aber kümmere sich nicht um die Wirklichkeit, sondern gehe »mit weitausholender Gebärde über sie hinweg« (ebd.). Diese scharfe Kritik sowie die latenten Auseinandersetzungen der späteren Jahre führten schließlich zum Bruch, auch wenn es zeitweise durch Kracauers marxistische Studien Mitte der 1920er Jahre zu einer Wiederannäherung gekommen war. Erst um 1960 wird die Verbindung wieder aufgenommen.4 Der Ton, den Kracauer nun in seinem Gratulationsbrief anschlägt, ist ein anderer, ein von »Sympathie und Vertrautheit« (Mülder 262) geprägter Ton, der jedoch über die alten Konfliktpunkte nicht hinwegzutäuschen vermag. Darum behauptet sich Kracauer auch hier in seiner »Nüchternheit«, die ihn nach eigenem Empfinden immer wieder dazu bewegt, sich im Umgang »mit den umliegenden Dingen und Verhältnissen zu verzögern und sie nicht gleich alle auf ein letztes Ende hin zu interpretieren« (W 5.4, 632); denn »dazwischen liegt so viel; und die Dinge selbst sind so zäh und vielgestaltig« (ebd.). Dieses Verharren in den Dingen und das Loslösen von bindenden Bedeutungen macht Kracauer in seinem Brief nun zum Moment der Begegnung: Über die Jahre habe er in Bloch eine »relative, gar nicht utopische Verstricktheit ins Hier« (ebd. 633) wahrgenommen, was seinem Denken einen »unverwechselbaren Charakter« (ebd.) gebe. So habe Bloch seine »nicht-utopische Ansässigkeit im Hier« (ebd. 632) zum Beispiel mit der »Lust am Erzählen« bewiesen, denn »wer erzählt, der verweilt« (ebd.), insistiert Kracauer. Das in früheren Jahren gemeinsam Erlebte dient ihm nun als lebendige Quelle, die Blochs Verbundenheit mit »den Phänomenen des undeutlichen Lebens« (ebd.) belegen soll. Er bewahre immer »etwas vom Zauber der Dinge«, die er »entzaubert« (ebd. 633), meint Kracauer und beschreibt Blochs Utopie schließlich im Spannungsfeld von einem Hier und einem Dort wie folgt:

3 | Die Besprechung erschien am 27. August 1922 unter dem Titel Prophetentum in der Frankfurter Zeitung. 4 | Vgl. dazu die Ausführungen von Inka Mülder im Vorwort des Bandes Briefwechsel Siegfried Kracauer – Ernst Bloch 1921-1966.

Phänomene des undeutlichen Lebens Du gibst die Welt nicht preis, wenn Du ihr den Prozeß machst. Im Gegenteil, es liegt Dir sehr am Herzen, alles in ihr Gewollte, Gedachte und Geschaffene einzusammeln wie in einer Arche Noah und es durch Interpretation sozusagen reisefertig zu machen fürs große Abenteuer. Du willst die Dinge heimholen von den Plätzen, wo sie ihre provisorische Heimat haben, und sie neu einpflanzen im Dort […]. Daß Du sie mitnehmen willst, ist mir ein Zeichen für die Legitimität Deiner utopischen An- und Absichten. (Ebd.)

Kracauer fokussiert mit diesen Worten eine Dimension des Utopischen, die seinen eigenen Überzeugungen standhält, denn es geht ihm vor aller Theorie um den Kampf gegen das Vergessen des auch unbedeutendsten Realitätsfetzens, der unsere materielle Lebenswelt bestimmt. Er suggeriert mit dem Bild der Arche Noah eine Utopie, die nicht als Gegenentwurf, sondern als rettende, bewahrende Instanz der physischen Realität in Erscheinung tritt. Es ist kaum zu übersehen, dass sich im Brief das Verbindende zwischen beiden Kritikern, welches herauszustellen ja das Anliegen des Gratulanten ist, stellenweise zu einer Bindung von Blochs Utopie der Hoffnung an Kracauers kritischen Materialismus wandelt. Es ist auch nicht allein die versöhnende Geste, die Kracauers Diskurs abzulesen ist, vielmehr entsteht der Eindruck, als habe sich der Gratulant während seiner Überlegungen selbst einen gedanklichen Zwischenraum verschafft, in dem die Spannung zwischen Hier und Dort nicht nur gedacht, sondern auch als Ort der Imagination wahrgenommen werden kann: »Hiersein und Dortsein«, schreibt Kracauer, »finden sich in Dir auf eine Art zusammen, an der sich die Fantasie entzündet« (ebd. 635). Kracauer schätzt diesen aus der Gleichzeitigkeit von utopischem Bewusstsein und Verwurzelung im Konkreten gewonnenen Freiraum des Imaginären, in dem sich der Geist sozusagen in »flüssigem Zustand« (ebd. 637) halten beziehungsweise sich von jedem »endgültig Fixierten« (ebd.), wie es sich in abstrakten Theorien und anderen abgeschlossenen Denkgebilden (auch von Utopien) artikuliert, distanzieren kann. In dem der Gratulation beigefügten Essay über Erasmus von Rotterdam liefert er das entsprechende Beispiel: Der Gelehrte habe seine Ideen aus »Furcht vor dem Fixierten« (ebd.) der herrschenden Dogmen in den »Zwischenräumen« (ebd.) von katholischer Lehre und Reformation angesiedelt und den Mittelweg des Humanen eingeschlagen. ­­– Auch wenn in diesem Zusammenhang zu hinterfragen wäre, ob Mittelweg5 und imaginärer Freiraum in irgendeiner Weise vergleichbar sind, verdeutlicht der Essay doch Kracauers Anliegen, einem von Vollkommenheitsanspruch und Undurchdringlichkeit geprägten Denken entgegenzuwirken und andere, laterale Denkräume zu öffnen, die eher einen »Zustand der Unvollkommen5 | Die Utopisten, meint Kracauer im Zusammenhang seiner Überlegungen zu Erasmus, würden jeden Mittelweg verdammen, weil man dadurch »einen Zustand der Unvollkommenheit zu perpetuieren« versuche (W 5.4, 640).

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heit« (ebd. 640) ausloten und nicht zuletzt auch versuchen, dem Anspruch des Humanen gerecht zu werden. Diese menschliche Dimension geht in jenen Utopien verloren, die die Tendenz haben, den einzelnen Menschen dahingehend einzuschränken, dass er mit seinem unwillkürlichen Handeln die Herstellung des in die Zukunft projizierten utopischen Entwurfs nicht gefährdet. Die Gefahr einer solchen Normierung des Menschen sieht Kracauer in Blochs Utopie nicht gegeben; allerdings nicht, weil Kracauer dessen Utopie eine »dezidiert ›nicht-utopische Seite‹« zuschreibt, wie Georg Steinmeyer (128) in seiner Untersuchung Siegfried Kracauer als Denker des Pluralismus (2008) zu verstehen gibt, sondern weil diese utopischen Entwürfe von einem Denker stammen, der sich den Sinn dafür bewahrt hat, auf die Buntheit der Phänomene, ihr »wunderliches Wesen oder auch Unwesen zärtlich einzugehen« (W 5.4, 632). Mit diesen Worten beschreibt Kracauer kein utopisches Konzept, sondern eine menschliche Qualität, der auch er sich verbunden fühlt. Sie bildet die Grundlage dafür, »was ich [d.i. Kracauer] die nicht-utopische Seite Deiner [d.i. Bloch] Existenz zu nennen versucht bin« (ebd.). Der Gratulationsbrief macht deutlich, dass Kracauer Blochs utopische Vision nur annehmen kann, indem er sie aufs Engste mit der Figur Blochs verknüpft und diese »zum denkwürdigen Bürgen« des »Gemeinten« erhebt (ebd. 635). Zum anderen schätzt Kracauer den Aspekt des utopischen Noch-Nicht als Weg und große geistige Reise; nur das vermeintliche Ziel, die Vorstellung einer allumfassenden Heimat dürfte ihm fremd geblieben sein, denn seine Aufmerksamkeit richtet er vorzugsweise auf die »provisorische Heimat« (ebd. 633) der Dinge, in der es gilt, die »flüchtigen Phänomene der Außenwelt in uns aufzunehmen« (W 4, 210), wie er in Geschichte. Vor den letzten Dingen 6, seinem letzten posthum erschienenen Werk, zusammenfassend darlegt. Im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen anerkennt Kracauer nunmehr, dass Bloch das konkret Bestehende nicht ignoriere, sondern aufgreife und in seine utopischen Vision hineintrage: »Ich möchte Deine Utopie«, unterstreicht er darum, »eine bewahrende nennen« (W 5.4, 633). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kracauer die Utopie als fertig gedachte Gegenrealität abweist und nur die Fokussierung des Utopischen als konstruktiven geistigen Auf bruch annehmen kann. Genauso wie in der Undeutlichkeit der realen Dinge sichtet er auch in der Undeutlichkeit des Utopisch-Imaginären einen Denk- und Erfahrungsraum, der zu neuen Erkenntnishorizonten führt. Utopie, so Kracauer, ist deshalb »das Land Nirgendwo und Überall, in dem die Menschen noch die letzte mythologische Hülle ab-

6 | Titel der englischen Originalausgabe: History—The Last Things before the Last. New York: Oxford University Press, 1969. – Die deutsche Erstausgabe erschien 1971 in der Übersetzung von Karsten Witte im Suhrkamp Verlag.

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geworfen haben und nun endlich sich selber antreffen wie sonst nur in den Märchen« (W 5.3, 527).

I nkongruenz als utopische S einsperspek tive Im April 1929 schreibt Siegfried Kracauer – damals noch Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Zeitung – eine Rezension7 zu Karl Mannheims Buch Ideologie und Utopie, das im selben Jahr erschienen war. Mit Blick auf die gesellschaftliche und intellektuelle Krise seiner Zeit wendet sich der Wissenssoziologe darin von einem totalen Ideologiebegriff ab und verweist auf die Herausbildung eines entmythologisierten Bewusstseins, das die Grundlage für eine pluralistische Weltsicht darstelle. Dieses neue menschliche Bewusstsein, kommentiert Kracauer, habe nach Auffassung Mannheims in der Gegenwart der 1920er Jahre »einen Zustand der Reife erreicht, der es ihm ermöglicht, die Relation zwischen den verschiedenen […] Denkgebilden und der jeweiligen Seinswirklichkeit ihrer Träger […] zu durchschauen« (W 5.3, 133). Man habe sich nunmehr von »absoluten Denkgebilden« (ebd.) gelöst und eine relativierende Erkenntnishaltung eingenommen, denn durch den ständigen Widerstreit der Ideologien sei deutlich geworden, dass »es andere als standpunktbezogene ›Sichten‹ überhaupt nicht gibt« (ebd). Diese perspektivisch ausgerichtete Argumentation wird auch in Mannheims Utopie-Kritik relevant. In seinen Untersuchungen8 distanziert er sich von den klassischen Utopie-Vorstellungen wie sie Thomas Morus prägte, weil sie, ungeachtet der inneren Struktur und Dynamik der Geschichte, nur in sich abgeschlossene Gebilde umfassten. Mannheim gelange zu dem Schluss, »dass das reife Bewusstsein der Gegenwart« (ebd. 134) die Tendenz habe, sich »der blinden Untertänigkeit« (ebd.) unter die Ideologien und die Utopien zu entziehen, schreibt Kracauer und betont in diesem Zusammenhang nochmals Mannheims Überzeugung, man könne nun durchaus »das Nebeneinander von Ideologien und von Utopien« (ebd.) überblicken, was allerdings auch bedeute, dass sie dadurch entkräftet würden. – In Anbetracht der massiven Nazipropaganda zwischen 1930 und 1933­assoziiert diese Feststellung einerseits bewusste Wachsamkeit gegenüber der aufsteigenden Nazi-Ideologie, andererseits suggeriert Kracauers Kommentar auch eine Klage über den Verlust am Utopisch-Imaginären und dessen Transformationspotenzial hinsichtlich der Wirklichkeit von morgen. Ernüchternd resümiert er darum: »In der Tat lautet 7 | Erschienen unter dem gleichnamigen Titel Ideologie und Utopie, Frankfurter Zeitung, 28.4.1929. 8 | Mannheim untersucht in dieser Abhandlung Formen der Utopie vom Chiliasmus der Wiedertäufer bis zum Kommunismus und Faschismus.

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Mannheims Diagnose dahin, dass das Utopische fühlbar schwinde« (ebd.), ein Befund, der ihn beunruhigt, denn »will man ihm [d.i. Mannheim] glauben, so dringt eine Bewusstseinshaltung herauf, vor der sich alle Ideen blamieren. Eine Welt scheint fertig zu werden« (ebd. 135). In diesem ernüchternden Prozess zunehmender Spannungslosigkeit, erklärt Kracauer, erteile Mannheim vor allem den »freischwebenden Intellektuellen« (ebd.) die Aufgabe, »die Spannung zur Utopie hin wach[zu]halten« (ebd.). Er wolle diese »relativ klassenlose Gruppe« (ebd.) davor bewahren, sich vorschnell einzuordnen, und vertraue ihr eine »eigene Mission an: die, ›Wächter zu sein in einer sonst allzu finsteren Nacht‹« (ebd.). Insgesamt begrüßt Kracauer Mannheims Zeitkritik und unterstreicht dessen konstruktiven Utopie-Begriff; denn im Utopischen, so wie es Mannheim definiert9, nämlich als seinstranszendente oder wirklichkeitstranszendente Orientierung des Bewusstseins, d.h. als ein Bewusstsein, das »sich mit dem es umgebenden ›Sein‹ nicht in Deckung befindet« (Mannheim 169), zeichnet sich zweifelsohne eine transformative Kraft ab, die auch Kracauers Kulturkritik wichtige Impulse gibt. Deutlich hebt er in seiner Rezension hervor, dass Mannheim den Utopien im Unterschied zu den Ideologien die Fähigkeit zuspricht, »unsere Wirklichkeit zu wandeln, zu sprengen« (W 5.3, 134). Beide, sowohl Mannheim als auch Kracauer, sind daran interessiert, das utopische Denken zu stärken, um aus einer entgegenwirkenden Position die Aufmerksamkeit auf das andere Mögliche zu richten. Dagegen kommt Steinmeyer in seiner bereits erwähnten Untersuchung zu dem Schluss, Kracauers Denken sei von einem ausgeprägten Utopieskeptizismus geprägt. Er halte »eine allmähliche Wandlung, bei der das endgültige Resultat noch nicht genau absehbar ist, für den geeigneten Weg von Veränderung« (Steinmeyer 126). Zum Beispiel sei seine Studie über die Angestellten nur eine Diagnose und verzichte »als solche bewusst darauf, Vorschläge für Verbesserungen zu machen« (ebd.). Sie beinhalte also keine utopischen Entwürfe. Steinmeyers Argumentation, die vom klassischen Utopie-Begriff ausgeht, macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass die utopischen Dimensionen in Kracauers Denken so nicht fassbar werden; denn dass Kracauer mit seinem exterritorialen Denken einem modernen utopischen Bewusstsein, wie es Karl Mannheim und auch Ernst Bloch darlegen, näher steht, ist nicht von 9 | Mit Blick auf die konkreten Formen des gesellschaftlichen Seins unterscheidet der Wissenssoziologe zwei grundlegende Orientierungen des Bewusstseins, und zwar eine seinskongruente und eine seinstranszendente Ausrichtung. Utopien und Ideologien definiert er als seinstranszendente oder wirklichkeitstranszendente Bewusstseinsformen. Nach Mannheim unterscheidet sich Utopie von Ideologie dahingehend, dass sie fähig sei, die Wirklichkeit zu transformieren, denn Utopien von heute könnten zur Wirklichkeit von morgen werden. (Vgl. Mannheim 169)

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der Hand zu weisen und soll im Folgenden ausführlicher erörtert werden. Insbesondere durch seine Entfremdungstheorie und sein Denkbild der Errettung der äußeren Wirklichkeit10, mit dem er einen Zugang zur wahren (besseren) Wirklichkeit fokussiert, entstehen auch utopische Dimensionen. Selbst Ideen sind nach Auffassung Kracauers an sich Utopien, die auf Verwirklichung drängen, wie er in seinem Essay Die Gruppe als Ideenträger 11 (1922) expliziert: »Gemeinsam ist den Ideen, dass sie das Seiende zu durchdringen, dass sie selber Realität zu werden suchen« (W 5.1, 469).

E xil als K afk aeske Das Exil bedeutete für Kracauer zunächst den beruflichen Abstieg vom renommierten Kulturkritiker der Weimarer Republik zum freien Mitarbeiter bei einzelnen Zeitungen. Mit verschiedenen Stipendien, Gelegenheitsarbeiten12 und seiner Tätigkeit als freier Film- und Literaturkritiker lebte er stets am Existenzminimum. Durch seine Ernennung zum Forschungsleiter des Bureau of Applied Social Research der Columbia University im Jahr 1952 verbesserte sich zwar seine finanzielle Situation ein wenig, doch war es ihm erst ab 1956 möglich, alle zwei Jahre nach Europa zu reisen. Nach einem ermüdenden Kampf, den er seit 1939 um Einwanderungsvisen, Bürgschaften und Arbeitsmöglichkeiten geführt hatte, meldete er Adorno am 28. März 1941 seine baldige Ankunft in New York. Der Brief zeigt wenig Erleichterung, vielmehr zeugt er von der existenziellen Not und Angst während der Pariser Jahre: »[…] ich komme arm an, ärmer als ich je war« (Adorno/ Kracauer 427), schreibt er. »Es ist schlimm so anzukommen wie wir – nach acht Jahren einer Existenz, die nicht diesen Namen verdient« (ebd). Die Zeit des französischen Exils – er hatte Berlin in der Nacht des Reichstagsbrandes verlassen – erinnert Kracauer als Katastrophe: Seine Entlassung aus der Redaktion der Frankfurter Zeitung, deren Redakteur er seit 1921 gewesen war und die sich nun von ihrem renommierten jüdischen Kultur- und 10 | Die Formulierung entspricht dem Untertitel von Kracauers Theory of Film. The Redemption of Physical Reality (1960). Deutscher Titel: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wrklichkeit. Das Wort »Redemption« übersetzte Kracauer auf Anraten von Adorno mit »Errettung«. 11 | Zuerst erschienen in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, August 1922. 12 | Kracauer war freier Mitarbeiter beim Rundfunk (Voice of America), schrieb Berichte für Organisationen (UNESCO), fungierte als Berater verschiedener Stiftungen (Bollington Foundation) und übernahm Arbeiten als freier Film- und Literaturkritiker (New Republic, Commentary, New York Times Book Review und Saturday Review of Literature u.a.)

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Filmkritiker distanzierte, sowie die Beschränkung seiner journalistischen Tätigkeit auf einzelne Rezensionen und Filmkritiken in der Neuen Zürcher Zeitung oder der National-Zeitung Basel, machten ihn mittellos. Auch seine Monographie Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937), eine indirekte Auseinandersetzung mit der faschistischen Gegenwart im Spiegel des Second Empire, von der gleich nach Erscheinen der deutschen Erstausgabe in einem niederländischen Verlag13 auch eine französische und englische Ausgabe herauskam14, brachte nicht die erhoffte finanzielle Erleichterung. Dazu kam, dass ihm der Wiener Paul Zsolnay Verlag schon im Februar 1935 mitgeteilt hatte, sein zweiter Roman Georg könne nicht erscheinen. Kracauer ist deshalb während seines französischen Exils vor allem auch auf Unterstützung aus den USA angewiesen, ob vom exilierten Institut für Sozialforschung, der American Guild for German Cultural Freedom oder durch Privatinitiative, wie Thomas Mann, der Kracauer einmal mit 50 Dollar aus einem kleinen Fonds für emigrierte deutsche Schriftsteller zu Hilfe kam. Das wirkliche Ausmaß der Verzweiflung zeigt sich nach Kracauers Internierung15 im September 1939 und der zwei Jahre späteren Flucht über die Pyrenäen: »auch der Gedanke an Selbstmord lag in einer gewissen Epoche nicht fern«, erinnert er 1941 in einem Brief an Max Horkheimer (zit.n. Adorno/Kracauer 428).16 In Marseille seien er und seine Frau »viel mit Benjamin zusammen gewesen« (ebd.) und »nur wenige Tage nach ihm über das Gebirge nach Port Bou« (ebd.) gewandert, wo sie »gleich ihm refouliert wurden« (ebd.). Dies, so Kracauer, »war die dunkelste Zeit dunkler acht Jahre« (ebd.). Die Angst vor einem Neuanfang im amerikanischen Exil sitzt tief und die Zukunft erscheint Kracauer kafkaesk eng: »Jetzt kommt die letzte Station«, schreibt er im bereits erwähnten Brief vom März 1941 an Adorno, »die letzte 13 | Das Buch erschien im April 1937 im Verlag Allert de Lange in Amsterdam. 14 | Im Mai 1937 erscheinen Jacques Offenbach ou le secret du Second Empire. Trad. de Lucienne Astruc. Paris: Grasset; Orpheus in Paris: Offenbach and the Paris of his Time. Trans. Gwenda David and Eric Mosbacher. London: Constabler; im März 1938 erscheint die englische Fassung unter dem Titel Orpheus in Paris. New York: Alfred A. Knopf; im selben Jahr wird auch eine schwedische Ausgabe veröffentlicht. 15 | Kracauer wird zunächst im »Camp Maison Laffitte, Centre de Rassemblement des Etrangers Seine-et-Oise«, interniert und im Oktober in das »Centre de Rassemblement des Etrangers Athis sur Orne« verlegt. Mitte November wird er entlassen. 16 | Dieser Brief vom 11. Juni 1941 befindet sich im Nachlass Max Horkheimer, Archivzentrum der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt a.M. Er wird im Rahmen des Briefes Kracauers an Adorno vom 28. März 1941 als »Anmerkung« abgedruckt. Wir zitieren den Brief nach dieser Anmerkung. – Kracauer bedankt sich in diesem Brief dafür, dass das Institut für Sozialforschung ihm und seiner Frau bei der schwierigen Ausreise aus Frankreich und der Überfahrt nach Amerika geholfen hatte.

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Chance, die ich nicht verspielen darf, sonst ist alles vorbei« (Adorno/Kracauer 427). Diese existenzielle Panik vermittelt er auch in einem kurz vor der Überfahrt in Lissabon verfassten Brief an Leo Löwenthal, der die Bitte an Friedrich Pollock17 weitergeben soll, Kracauer »eine erste Chance zu geben oder schon vorzubereiten« (Kracauer/Löwenthal 121). Dem Freund schreibt er: »Du wirst die Angst begreifen, mit der ich an den ersten Anfang denke (nur an den Anfang). Ich bin auch älter geworden, und soviel ich jetzt, gerade jetzt leisten könnte, so entblößt von allen Voraussetzungen für den ersten Start komme ich an« (ebd.). Dieser panischen Angst vor dem Exil hatte Kracauer schon in dem in Frankreich entstandenen Denkbild Pariser Hotel (1936) Ausdruck verliehen.18 Er beschreibt darin die Wahrnehmungen eines auf Wohnungssuche Verirrten, der in eine Hotelhalle gelangt, die sich als Ort des Grauens offenbart. Der Raum scheint wie von einer »Leichenstarre befallen« (W 5.4, 529) und der einzige Bedienstete schlürft »wie ein feistes Haustier […] durch seinen Bau« (ebd. 530), während das dargebotene Zimmer den Eindruck vermittelt, als wäre es ein Ausschnitt aus einem »Wachsfigurenkabinett« (ebd.). Überdies fällt sein hilfesuchender Blick aus dem Fenster auf ein Spital, das draußen schon im Dunkeln liegt, sodass er nur noch in eine Gegend »voller Licht« (ebd. 532) fliehen kann, um sich zu retten. Die Bestimmung des Anderswo führt hier den Exilierten in den unheimlichen Raum der Verirrung und Verdinglichung. Das Exildasein wird zum Albtraum und Nicht-Raum. Karsten Witte unterstreicht in diesem Zusammenhang die thematische Nähe dieses Essays zu Kafkas Nachlasserzählung Der Bau, die Kracauer »in seinem Kafka-Essay (1931) so beeindruckt hatte« (144). Ein ähnliches wie das von Kafka verhandelte Gefühl der Bedrohung und Isolation scheint auch Kracauer während der letzten Jahre seines französischen Exils überkommen zu haben. Jedenfalls hatte er die Absicht, die Erlebnisse der letzten zwei Jahre vor seiner Ausreise in die USA unter dem Titel Reise nach Amerika niederzuschreiben und die kafkaesken Züge dieser Exilerfahrung aufzuzeigen: »Entweder es gelingt mir, Kafka in den Schatten zu stellen«, schreibt er in dem bereits zitierten Brief an Horkheimer, »oder ich bin unfähig dazu gewesen, die Ereignisse richtig darzustellen« (Adorno/Kracauer 428).

17 | Friedrich Pollock war damals geschäftsführender Direktor des Institute of Social Research in New York. 18 | Mülder-Bach weist darauf hin, dass der Essay für die Wiener Neue Freie Presse vorgesehen war, bei der Kracauer gerne als Feuilletonist gearbeitet hätte. Diese aber lehnte den Text wegen seines melancholisch düsteren Inhaltes ab. (Vgl. Mülder-Bach 70)

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P erspek tivenwechsel Kracauers Panikvision schwindet mit der Ankunft in New York, wo er schließlich die erhoffte erste Chance findet: Im Filmarchiv des Museum of Modern Art kann er dank eines Stipendiums der Rockefeller Foundation seine Untersuchungen zum deutschen Film der Weimarer Republik weiterführen und erhält einen Forschungsauftrag zur nationalsozialistischen Filmpropaganda.19 Nach sechs Monaten schreibt er fast ausschließlich in englischer Sprache und 1946 werden er und seine Frau amerikanische Staatsbürger. ­ In einem seiner ersten auf Englisch verfassten Texte mit dem Titel Why France liked our Films20 von 1942 beleuchtet Kracauer rückblickend den Moment seiner Ankunft am 25. April 1941 im Hafen von New York und schildert sie als »wunderbare erste Begegnung mit dem Leben in Amerika« (W 6.3, 353). Nichts sei ihm fremd gewesen, denn die amerikanischen Filme hätten ihn schon im Voraus mit Orten, Menschen und Dingen vertraut gemacht. Es sei ein »Akt des Wiedererkennens« (ebd.) gewesen. »Für den leidenschaftlichen Kinogänger war es wie ein Traum: Entweder war er selbst plötzlich auf die Leinwand verpflanzt worden oder die Leinwand hatte sich in eine dreidimensionale Wirklichkeit verwandelt« (ebd.), bemerkt Kracauer. Seine Ankunft war ihm »ein überzeugender Beweis der realistischen Macht, mit der Hollywoodfilme den Menschen im Ausland das amerikanische Alltagsleben vermittelten« (ebd.). Doch dieses als Neuankömmling wahrgenommene gültige Bild vom amerikanischen Leben, wird der Filmkritiker gewahr, ist nur ein erster Ausschnitt, dann folgt »der langwierige Prozeß der persönlichen Anpassung und mit ihm der […] Perspektivenwechsel« (ebd.). Der Exilierte ist nicht länger Zuschauer, sondern selbst ein Teil dieser Realität, sodass er immer weniger über die Gültigkeit der aus Europa mitgebrachten Vorstellungen urteilen kann. Andererseits stößt er in seiner neuen Lebenswelt »auf Dinge, die in diesen Filmen übersehen wurden« (ebd. 354), und seien es nur visuelle Eindrücke, die ihm das New Yorker Stadtbild vermittelt, wie zum Beispiel die vielen Querstraßen, die »im leeren Himmel enden« (ebd.) oder die Wolkenkratzer, die »die Eintönigkeit der langen Avenuen auf brechen« (ebd.).21 Dasselbe gelte auch für 19 | Vermittelt durch den Kunsthistoriker Meyer-Schapiro und finanziert durch die Rockefeller Foundation erhielt Kracauer eine Assistentenstelle bei der Kuratorin der Film Library des Museums, Iris Barry. Die Arbeit wurde 1942 unter dem Titel Propaganda and the Nazi War Film veröffentlicht. (Vgl. Witte 145). 20 | Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift New Movies, Mai 1942. Unter dem deutschen Titel Warum die Franzosen unsere Filme mochten aufgenommen in W 6.3, 344-355. 21 | Das Beispiel der New Yorker Straßen, die Wirkung des geometrischen Stadtplans, greift Kracauer später noch einmal in seiner Theorie des Films auf, um den Übergang

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den amerikanischen Lebensstil, meint Kracauer. Das bei der Ankunft erlebte heimische Gefühl des Wiedererkennens der im Film vermittelten amerikanischen Realität wendet sich nun zu einem vom fremden Blick des Exilanten geprägten Wahrnehmungsszenarium: Die aus der Fremdperspektive aufgenommenen Bilder und Realitätsfetzen bilden ein Wirklichkeitsmosaik, das neue Bedeutungszusammenhänge und ein die gegebene amerikanische Realität überschreitendes Bewusstsein schafft. Nach einem Jahr im New Yorker Exil stellt Kracauer deshalb überzeugt fest: »es ist kein europäischer Beobachter mehr, der diese Betrachtungen anstellt« (ebd.). Dennoch ist es auch kein amerikanischer Betrachter und auch keiner, der aus dem Blickwinkel einer konfliktreichen Existenz zwischen Heimatverlust und Anpassung urteilt. Vielmehr manifestiert Kracauer – über die Exilproblematik hinaus – ein existenzielles Bewusstsein, welches eine Art dritten Raum konstituiert: Er verortet seine Existenz außerhalb der markierten Identitätsräume, aber nicht unbedingt im Spannungsfeld des Dazwischen. An Kracauers grundlegender exterritorialer Perspektive ändert auch die Tatsache nichts, dass er die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hat, New York nun als sein Zuhause bezeichnet und ihm das Herkunftsland derart fremd geworden ist, dass es ihm gar nicht mehr wie ein Land vorkommt, sondern nur noch wie ein »Platz, irgendwo im Vakuum gelegen« (Kracauer/Löwenthal 13).22 Diesen Eindruck hatte er jedenfalls 1960 bei einem Besuch in Deutschland gewonnen. Die Verortung des Exils im Exterritorialen, so wie sie Kracauer vornimmt, muss nicht a priori von Unglück und Verbannungsschmerz bestimmt sein. Vielmehr scheint diese Positionierung bei Kracauer von einer Art amor fati untermauert und impliziert einen bewussten Zugriff auf die Fremdperspektive im Dienste des Erkenntnisgewinns; denn seine Vorstellung von Exterritorialität reflektiert auch eine Daseinsform, die er in einem Brief an Adorno vom 8. November 1963 rückblickend als ein »alteingewurzeltes Bedürfnis, exterritorial zu leben« (Adorno/Kracauer 621), bezeichnet. Im Hinblick auf das intellektuelle Umfeld im New Yorker Exil versichert er Adorno: »Darum liegt mir New York, weil es diese Exterritorialität ermöglicht« (ebd.). Inka MülderBach sieht in dieser nachdrücklichen Bejahung des Exterritorialen vor allem ein »Bekenntnis zum Exil« (61), das abgesehen vom geographischen Exil vor von einer wenig sagenden allgemeinen Betrachtung zur bewusstmachenden konkreten Wahrnehmung zu verdeutlichen, nämlich »dass alle Querstraßen im Nichts des blanken Himmels enden« (W 3, 456). 22 | Nach seiner ersten Rückkehr nach Europa (16. Juli bis 10. Oktober 1956) zeigt sich Kracauer in einem auf Englisch verfassten Brief an Leo Löwenthal (28. Oktober 1956) zwar durch die vielen positiven Begegnungen bewegt, äußert sich über Europa aber auch sehr kritisch: »it is as if people in Europe had lost the power of assimilating the new. Somehow it is suffocating over there […]«. (Zit. nach Belke/Renz 113).

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allem einen Zustand des »Außenseitertums und des Fremdseins« (ebd.) meine, welchen Kracauer aber »nicht nur erlitten, sondern produktiv gewendet« habe (ebd.). Auch Martin Jay, Historiker und Kritiker der Frankfurter Schule, stellt Kracauers existenzielle und intellektuelle Haltung in den Rahmen eines permanenten Exils, das selbst in den eigenen jüdischen Kreisen spürbar wurde, als sich Kracauer Mitte der 1920er Jahre vom Freien Jüdischen Lehrhaus23, dem intellektuellen Zentrum der Frankfurter jüdischen Gemeinde, distanzierte und die Buber-Rosenzweig Bibelübersetzung in einer Rezension24 aufs Schärfste kritisierte. Das Gefühl, nicht dazu zu gehören, begleitete auch seine Mitarbeit am Institut für Sozialforschung und schmerzte umso mehr, als damit unausweichlich die jahrelange enge Freundschaft mit Theodor W. Adorno hinterfragt wurde, insbesondere als dieser Kracauers umfassende Arbeit über Masse und Propaganda25, die er 1938 im Auftrag des exilierten Instituts26 über die faschistische Propaganda verfasst hatte, radikal kürzte und dermaßen veränderte, dass der ursprüngliche Text in der Bearbeitung nicht wieder zu erkennen war.27 Kracauer weigerte sich daraufhin, den bearbeiteten Text zu veröffentlichen. Gravierender als die inhaltliche Auseinandersetzung war jedoch die Tatsache, dass Adorno in dem von ihm verfassten Gutachten gegen Kracauer persönlich polemisierte: Man müsse davon ausgehen, »dass Kracauer weder seiner theoretischen Haltung nach verbindlich zu uns gehört, noch seiner Arbeitsmethode nach als wissenschaftlicher Schriftsteller überhaupt rangiert, und hat zu fragen, ob seine Arbeit […] uns etwas zu bieten hat […]« (zit.n. Witte 142). Damit macht Adorno den langjährigen Freund zur Randfigur der Frankfurter Schule. Witte unterstreicht allerdings, Kracauers Antwortschreiben mache trotz allem deutlich, dass er »gegen Adornos Eingriffe sein eigenes 23 | Das Freie Jüdische Lehrhaus wurde 1920 in Frankfurt von Franz Rosenzweig im Sinne einer jüdischen Reformbewegung begründet. Kracauer, der zunächst dem Kreis um den Rabbiner Nehemias Anton Nobel nahe stand, war Anfang der 1920er Jahre Mitarbeiter des Lehrhauses. 24 | Erschienen in der Frankfurter Zeitung unter dem Titel Die Bibel auf Deutsch (27. und 28. April 1926). 25 | Vgl. dazu Karsten Witte (141f): Im Nachlass seien von dieser extensiven Arbeit (ca. 150 Seiten) nur neun Seiten Typoskript sowie die Bearbeitung Adornos (31 TyposkriptSeiten) erhalten. 26 | Horkheimer, bis 1940 Institutsleiter in New York, hatte Kracauer im Januar 1937 mitgeteilt, dass das Institut die geplante Untersuchung mit 6000 FRF honorieren werde. Falls die Arbeit, die man für sehr wichtig halte, aber nicht für eine Publikation in Frage käme, werde sie dem Institutsarchiv beigefügt. 27 | Vgl. dazu die ausführlichen Erklärungen von Karsten Witte (141-143). Beispielsweise wurde in der Bearbeitung das von Kracauer verwendete Adjektiv ›totalitär‹ stellenweise durch ›autoritär‹ ersetzt.

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Verfahren behauptet« (Witte 143) und sich damit bewusst unverbindlich zeigt; denn im Grunde genommen widerstrebt Kracauer die Hermetik der Theorie und »Kategorien sind ihm Ornament« (ebd.), allein »das Material diktiert ihm die Methode« (ebd.). Mit Blick auf Kracauers Exterritorialitätsmetapher umfasst der Exilbegriff nunmehr auch einen imaginierten Ort, einerseits geprägt durch ein Gefühl der Heimatlosigkeit und Marginalität, andererseits im Zeichen einer bewusst intendierten Fremdfokussierung. Der Begriff des Exterritorialen reflektiert Kracauers persönliche Identität und intellektuelle Befindlichkeit genauso wie seine theoretischen Entwürfe. Mülder-Bach spricht deshalb bei Kracauer von einer umfassenden »Theorie der Exterritorialität« (70), die schon in frühen Essays wie Die Wartenden (1922) ihre Wurzeln geschlagen hatte. Kracauer befasst sich hier mit der positiven Haltung des Wartens, die »Geöffnetsein« (W 5.1, 393) meint, um der negativen Erfahrung des »metaphysischen Exils der Moderne« (Wachter 184) zu begegnen.28 Dieses aktive Ausharren bedeutet in Bezug auf das Zeitkontinuum eine bewusste Positionierung im Exterritorialen.

U topie der chronologischen E x territorialität Während im Essay Die Wartenden Kracauers Diskurs über die Moderne noch eine regelrechte »religiöse Krisenethik« (ebd. 186) artikuliert, bei der »die Neuerung religiöser Sinnbezüge« nicht »erzwungen, sondern nur bewusst erwartet werden kann« (ebd.), und das Bild des Ausharrens die Metaphorik des jüdischen Messianismus assoziiert, so wendet sich das Denkbild des Wartenden in Kracauers letztem Werk Geschichte zum Paradigma einer »chronologischen Exterritorialität« (W 4, 79), in der auch der Historiker beheimatet sei. Im vierten Kapitel »Die Reise des Historikers« (W 4, 92) fokussiert Kracauer die Geschichtsschreibung als eine Reise ins Ausland, auf der der Historiker das geschichtliche Material aus der Perspektive des fremden Besuchers sichtet. Doch sollte er nicht wie »gewöhnliche Touristen« (ebd.) vorgehen, die – einmal die Sehenswürdigkeiten besichtigt und fotografiert – selbst unverändert zurückkehren. Vielmehr muss der Historiker einen Habitus finden, der ihm erlaubt, »mit dem Material, das ihm am Herzen liegt vertraulich verkehren« (ebd. 96) zu können. Diese Vertrautheit erreicht er aber nicht, »indem er sich von der Gegenwart aus in die Vergangenheit begibt. Voraussetzung ist vielmehr, dass er sich seiner ›Freiheit‹ bedient und in Kauf nimmt, dass sich sein Geist durch die Begegnung mit der Vergangenheit verändert, geht es doch immer um die Erkenntnis ›fremder Dinge‹« (Baumann 93). Die Schlüssel28 | David Wachter gibt eine umfassende Darstellung des Krisenbewusstseins im Frühwerk Siegfried Kracauers und den daraus hervorgegangenen utopischen Denkfiguren.

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position des Historikers als Fremder, seine Art der Wahrnehmung und sein Grad der Fremdheit bezüglich des Vergangenen, definiert Kracauer in seinem letzten Werk analog zur Situation und zum Fremdempfinden eines Exilierten. Diesmal verhandelt Kracauer die »Denkfigur der Exilierung« (Mülder-Bach 61) allerdings mit einem melancholischen Unterton und beschreibt die zerrissene Lebensgeschichte des entwurzelten Exilierten, dessen »natürliches‹ Ich [er] in den Hintergrund seines Geistes verwiesen« sieht (W 4, 95), folgendermaßen: Da jedoch sein früheres Ich unter seinem jetzigen weiterschwelt, muss seine Identität sich im Fluss befinden; und es ist sehr wahrscheinlich, dass er niemals ganz der Gemeinschaft angehören wird, der er nun in gewisser Weise angehört. […] Tatsächlich hat er aufgehört »anzugehören« […]. Wo lebt er dann? Im fast vollkommenen Vakuum der Exterritorialität […] Die wahre Existenzweise des Exilierten ist die eines Fremden. (Ebd. 95f)

Kracauer benennt hier den Standort der Exterritorialität als »Niemandsland« (ebd.), das die Dimensionen eines Hohlraums und der Nicht-Identität annimmt. Insgesamt ist der Exilierte frei, »aus der Kultur, die seine eigene war, auszutreten« (ebd. 96). Andererseits reicht seine Bindung nicht aus, »um in den Geist jenes fremden Volkes einzutauchen, in dessen Mitte er lebt« (ebd.). Daher seine zwar schwer zu ertragende, ambivalente, gleichzeitig aber auch privilegierte Position des distanzierten Blicks, die – zu Ende gedacht – eine utopische Ontologie fokussiert, nicht im Sinne von Blochs Noch-nicht-Sein, sondern vielmehr als Versuch, das Ich zu tilgen. Kracauer operiert darum in Anlehnung an Leopold Ranke (1795-1886) mit dem Begriff der »Selbstauslöschung«29 (ebd. 96), damit »nur die Dinge selbst zur Sprache kämen« (ebd. 93). Kracauer ist sich zwar der Problematik einer solchen Forderung nach neutraler Objektivität bewusst, möchte aber dennoch ein »geistiges System entwerfen« (ebd.), in dem sich der Historiker als »teilnehmender Beobachter« (ebd.) verhält und sich in »einer Art aktiver Passivität«30 (ebd. 97) auf die Erkundungswege begibt, »die ihm der Umgang mit dem Belegmaterial vorgezeichnet hat« (ebd.). In diesem gleichsam mystisch verklärten Zustand muss er sich »treiben lassen und die verschiedenen Botschaften, die zu ihm dringen, mit allen angespannten Sinnen aufnehmen« (ebd.). Gleich dem Exilierten, dessen Identität aufgrund der Dynamik von Eigenem und Fremden sich ständig im Fluss befindet, fordert Kracauer auch vom Geschichtsschreiber ein »bewegliches Ich« 29 | Gemeint ist die Notwendigkeit, bei der Annäherung an das historische Material persönliche Neigungen und Urteile zu reduzieren beziehungsweise auszublenden. 30 | Diese Bezeichnung assoziiert ähnlich wie im Aufsatz Die Wartenden (1922) eine intellektuelle Haltung des Abwartens, jedoch mit dem Unterschied, dass der Begriff »aktive Passivität« trotz allem handlungsorientierter ausgerichtet ist.

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(ebd. 93), das sich von seiner dominanten Eigenperspektive gelöst hat. Ähnlich wie in seinem Erasmus-Aufsatz, den er Blochs Gratulationsschreiben hinzugefügt hatte, plädiert Kracauer auch hier für ein geistiges Nicht-fixiert-Sein. Dieses flexible, ungebundene, quasi freischwebende Ich sowie der Habitus der aktiven Passivität bilden die Grundlage für die Besichtigung des Fremden, bei der es gilt, »die Oberflächenerscheinungen zu durchdringen, um jene Welt von innen her verstehen zu lernen« (ebd. 96) und den spezifischen Formen und Eigenschaften von Menschen und Dingen Respekt zu zollen. Im Gegensatz zum Erhebungspathos des Idealismus impliziert dieses Verfahren eine herablassende Haltung, eine Hinwendung auch zu den »unscheinbaren Oberflächenäußerungen« (W 5.2, 612). Den Bereich, den der Historiker erforschen soll, definiert Kracauer als Vorraum, der sich von den Reflexionsräumen der letzten Dinge insbesondere durch seinen Charakter des Unbestimmten, Zufälligen und Konkreten unterscheidet. Wodurch zeichnet sich nun das Utopische dieses Geschichtsbildes aus? – Sowohl die Vorstellung der Selbsttilgung als auch die der Figur des Fremden eingeschriebene Dimension des Exterritorialen sind Figurationen eines utopischen Bewusstseins, das sich in den »Hohlräumen zwischen den Gebieten, die wir kennen« (W 4, 238) konstituiert. Auch der Historiker muss sich nach Kracauer in diese Hohlräume begeben, um möglichst unbefangen das historische Material aufnehmen und verarbeiten zu können. Seine Geisteshaltung korreliert darum mit der von Heimatlosigkeit und Identitätsverlust geprägten Existenz des Exilierten. Wachter bemerkt in diesem Zusammenhang, dass insbesondere »der Entzug eindeutiger Identität« (257) auf jenen Ort verweise, den Kracauer in Geschichte wörtlich mit »Utopia des Dazwischen« (W 4, 238) belegt und »auf dessen offene Spielräume sich der exterritoriale Bewohner einlässt« (Wachter 257). Der Erfahrungsbereich des Experimentellen, der in der Überlegung Wachters angedeutet ist, erweist sich unseres Erachtens als bisher wenig beachteter Aspekt des exterritorialen Standpunktes, nämlich – wie Kracauer in seinem Gratulationsbrief an Bloch zu verstehen gab – als Freiraum der Imagination, in dem die Dinge der physischen Realität sich aus ihrem Bedeutungskorsett lösen und der »exterritoriale Bewohner« (ebd.) seine zeitliche Bedingtheit vorübergehend ablegen kann. Gleich einer Kamera, die im fotografischen Ausschnitt die Zeit für einen kurzen Moment hintergeht, spielt auch das Ausblenden der Zeit in Kracauers exterritorialem Selbstverständnis eine entscheidende Rolle, nicht nur im Sinne einer »epochalen Extemporalität« (Mülder-Bach 72), sondern auch bezogen auf seine Biographie; denn bekannt ist, dass er seine persönlichen Daten nie preisgeben wollte.31 Adorno 31 | Im genannten Brief an Adorno vom 25. Oktober 1963 erklärt Kracauer – ganz im Stil seines Protagonisten Ginster aus dem gleichnamigen Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben (1928) – warum Adorno sich in seinem Radio-Essay Der wunderliche

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gegenüber spricht er von seiner »Scheu davor, durch die Fixierung des Datums und die unvermeidlichen connotations einer solchen Fixierung der chronologischen Anonymität entrissen zu werden«32 (Adorno/Kracauer 621). Was hier anekdotisch anmutet oder, wie Adorno meinte, als Idiosynkrasie zu bewerten sei, ist letztendlich nur der Schlusspunkt eines bewussten Lebensentwurfs genauso wie einer auferlegten Exilexistenz. In Geschichte – Vor den letzten Dingen versucht Kracauer mit Blick auf die einerseits gelebte, andererseits ersehnte Heimatlosigkeit einen Ausgleich zu schaffen und eröffnet durch die Bezugnahme auf die Medien des Films und der Fotografie eine weitere Perspektive des Exterritorialen.

S tillstand und Ö ffnung . D as endlose B ild Neben dem Gedankenbild des Exilierten zieht Kracauer in seinen geschichtsphilosophischen Betrachtungen also ein weiteres grundlegendes Vergleichsmoment heran, das den Kernpunkt seiner Medientheorie darstellt: das Fotografische. Geschichtsschreibung und fotografische Medien ähneln sich seines Erachtens insofern, als sie keine letzten Wahrheiten verfolgen und mit ihren Ausschnitten der dispersen Realität das zeitliche Kontinuum durchbrechen. Auch wenn Kracauer in Geschichte – Vor den letzten Dingen der Leistung des fotografischen Mediums skeptischer gegenübersteht als in seiner Theorie des Films, bleibt der Aufsatz Die Photographie von 1927 doch ein Schlüsseltext in Kracauers Medienästhetik. Es sei hier nur insoweit auf diesen Text Bezug genommen, als er die utopischen Entwürfe Kracauers erhellen kann. Der Aufsatz kontrastiert zunächst das Illustrierten-Foto einer Filmdiva, dessen Bedeutung sich nie ändern wird, mit der Szene aus Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, in der der Erzähler nach längerer Abwesenheit beim Eintritt in den Salon seine Großmutter »mit allen entfremdenden Merkmalen eines Fotoporträts wahrnimmt« (Despoix 222). Im Begegnungsmoment kollidiert das im Gedächtnis verankerte Erinnerungsbild des Erzählers mit seiner unmittelbaren Wahrnehmung der Großmutter. Es ist ein Augenblick, in dem Zeichen und Bezeichnetes nicht mehr übereinstimmen. Diese Erfahrung erzeugt Schrecken und Melancholie, denn das erinnerte »letzte Bild eines Menschen« (W 5.2, 686), das die Geschichte des Menschen ausmacht, wird von der fotoRealist nicht auf Kracauers Lebensdaten (vor allem Geburtsdatum) beziehen soll, denn »[m]eine Art der Existenz würde buchstäblich aufs Spiel gesetzt, wenn die Daten aufgeschreckt würden und mich von außen her überfielen« (Adorno/Kracauer 612). 32 | Nachdem Kracauer im amerikanischen Exil begonnen hatte, auf Englisch zu schreiben, findet man auch in seinen auf Deutsch verfassten Briefen immer häufiger englische Wörter und Ausdrücke.

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grafischen Oberfläche verdrängt: »Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben« (ebd.), schreibt Kracauer. Mit den Jahren würde der Wahrheitsgehalt des Originals verblassen und »während im Gedächtnisbild gleichsam das ganze Leben eines Menschen dargestellt wird, begnügt sich der Betrachter des photographischen Bildes mit der Anschauung seiner Oberfläche« (Beiküfner 196). Andererseits kann die Fotografie gerade aufgrund dieser Eigenschaft zwar nicht den Gehalt eines Lebens verewigen, aber doch den Kontingenzcharakter der Dinge offenlegen. Fotografie bewegt sich im Bereich des Vergänglichen, der Brüche und der Risse, sie durchbricht das Zeitkontinuum und projiziert das Aufgenommene in eine Zukunft, die immer schon Auflösung, also Vergangenheit bedeutet. Fotografie bewegt sich an der Schwelle des gerade Vergangenen. Literarisch skizziert Kracauer jenen Nullpunkt des historischen Kontinuums am Ende seines Romans Ginster (1928) mit dem kurzen Satz: »Es handelt sich immer nur um den Augenblick, in dem sich ein winziges Loch öffnet« (W 7, 247). Es ist dies der utopische Moment eines freigesetzten Bewusstseins, das einen extemporalen und exterritorialen Standort einnimmt; gleichzeitig offenbart sich darin der alles still legende tote Blick der Kamera. Eine Ausformulierung der bereits in Die Photographie angedeuteten materialen Ästhetik der fotografischen Medien nimmt Kracauer schließlich in seiner Theorie des Films vor. Ausgehend davon, dass die Fotografie im Film existiert, untersucht er die fotografischen Einstellungen, die seines Erachtens vom Material selbst bestimmt werden, insbesondere vom Zufälligen und Unbestimmbaren. Insgesamt zeige der Film eine ausgesprochene Affinität zur sichtbaren Welt, d.h. er korrespondiert mit der physischen Realität und besitzt insofern eine enthüllende Funktion, als er das materielle Leben sowie die flüchtigen Eindrücke festhalten und beispielsweise durch Großaufnahmen oder Detailaufnahmen (close-up Einstellung) so visualisieren kann, dass Einzelheiten in Erscheinung treten, die sonst übersehen würden. »Die Ästhetik des Films ist einer Epoche zugeordnet«, erklärt Kracauer schon 1949 in einem Brief an Adorno, »in der die alte ›long-shot‹ Perspektive, die in irgendeiner Weise das Absolute zu treffen meint, durch die ›close-up‹ Perspektive ersetzt wird, die das mit dem Vereinzelten, dem Fragment, vielleicht Gemeinte anstrahlt« (Adorno/Kracauer 445). Dabei geht es dem Filmtheoretiker nicht um eine formale Ästhetik, vielmehr möchte er aufzeigen, »welche ästhetischen Gesetze […] ein medium entwickelt, das zu einer Zeit gehört, in der wissenschaftliches Interesse an den Zusammenhängen der kleinsten Elemente die Eigenkraft der großen den ganzen Menschen umgreifenden Ideen […] immer mehr aufhebt« (ebd. 444). In diesen Worten werden noch einmal Kracauers Diskurs der Moderne und seine Sehnsucht nach einem verlorenen ganzheitlichen Sein hörbar. Umso deutlicher konstituiert sich der Film zum utopischen Raum der Erfüllung, in dem das Übersehene, Unsichtbare und Vergessene

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der physischen Wirklichkeit errettet oder bewahrt werden kann – im selben Sinne wie Kracauer auch Ernst Blochs Utopie eine bewahrende nannte. Die großen Weltanschauungen und abstrakten Theorien können das Wesen und den Fluss des Lebens nicht wiedergeben, allein der Film sieht sich im Stande, zur konkreten Wirklichkeit und zum wahren Sein vorzudringen. Außerdem »tendiert […] er dazu, alle materiellen Phänomene festzuhalten, die virtuell in Reichweite der Kamera liegen« (W 3, 118), d.h. eine der Affinitäten des Films ist die »Endlosigkeit« (ebd.), womit das Medium Film, zwar nicht unbedingt einer Utopie des vollendeten Seins (Bloch), so doch einer Utopie der unbegrenzten Wahrnehmung nachträumt. Andererseits interessiert Kracauer in seinen Betrachtungen zu Film und Fotografie vor allem der ästhetische Gewinn, für den sich das Visuelle verbürgt. Nicht das Bild in seiner medialen Funktion steht dabei im Vordergrund, sondern das Bild als ästhetische Erfahrung, als Ort des Imaginären, an dem neue Bedeutungszusammenhänge entstehen und an dem sich das menschliche Bewusstsein erweitern kann. Kracauers filmisches Urerlebnis, das er im Vorwort zur Theorie des Films schildert, wird in dieser Hinsicht zum Paradigma: Nach seinem ersten Kinobesuch in jungen Jahren beabsichtigte Kracauer sein Erlebnis aufzuschreiben, denn der Eindruck, den der Film in ihm hinterlassen hatte, »muss berauschend gewesen sein« (W 3, 21). Ob er es je getan habe, sei ihm entfallen, aber er habe »nicht seinen umständlichen Titel vergessen« (ebd.), den er nach dem Kinobesuch »unverzüglich einem Fetzen Papier anvertraute« (ebd.). Der Titel war: »Film als der Entdecker der Schönheiten des alltäglichen Lebens. Und ich erinnere mich«, fährt er fort, »als wäre es heute. Der Schönheiten selber. Was mich so tief bewegte, war eine gewöhnliche Vorstadtstraße, gefüllt mit Lichtern und Schatten, die sich transfigurierten. Einige Bäume standen umher, und im Vordergrund war eine Pfütze, in der sich unsichtbare Hausfassaden und ein Stück Himmel spiegelten. Dann störte eine Brise die Schatten auf, und die Fassaden mit dem Himmel darunter begannen zu schwanken. Die zitternde Oberwelt in der schmutzigen Pfütze – dieses Bild hat mich niemals verlassen. (Ebd.)

B ibliogr aphie Adorno, Theodor W./Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1923-1966. Hg. Wolfgang Schopf. Bd. 7 von Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008. Baumann, Stephanie. Im Vorraum der Geschichte: Siegfried Kracauers »History. The last Things before the Last«. Paderborn: Konstanz University Press, 2014.

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Beiküfner, Uta. Blick, Figuration, Gestalt. Elemente einer aisthesis materialis im Werk von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2003. Belke, Ingrid/Irina Renz (Hg.). Siegfried Kracauer:1889-1966. Begleitband zur Ausstellung vom Januar bis März 1989 im Schiller-Nationalmuseum. 3. Aufl. Marbach am Neckar: Deutsche Schiller-Gesellschaft, 1994 [Marbacher Magazin 47]. Despoix, Philippe. »Feuilleton und Film. Siegfried Kracauers Ästhetik des Mediums«. Ethiken der Entzauberung: zum Verhältnis von ästhetischer, ethischer und politischer Sphäre am Anfang des 20. Jahrhunderts. Übers. aus dem Franz. von Annette Weber. Bodenheim: Philo, 1998. 187-236. Kracauer, Siegfried. Werke in neun Bänden. Hg. Inka Mülder-Bach/Ingrid Belke. Berlin: Suhrkamp, 2004ff. [Zitiert: W, Band, Seitenzahl]. Kracauer, Siegfried/Leo Löwenthal. In steter Freundschaft: Leo Löwenthal-Siegfried Kracauer, Briefwechsel 1921-1966. Hg. Peter-Erwin Jansen/Christian Schmidt. Mit einer Einleitung von Martin Jay. Springe: zu Klampen Verlag, 2003. Mannheim, Karl. Ideologie und Utopie. 6. unveränd. Aufl. Frankfurt a.M.: Schulte-Bulmke, 1978 [1929]. Mülder, Inka. »Vorbemerkung zum Briefwechsel Siegfried Kracauer – Ernst Bloch 1921-1966«. Hg. u. mit Anmerkungen versehen von Inka Mülder. Ernst Bloch. Briefe 1903-1975, Bd. 1. Hg. Karola Bloch et.al. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. 257-263. — »Mancherlei Fremde. Paris, Berlin und die Exterritorialität Siegfried Kracauers«. Juni 3 (1989): 61-72. Steinmeyer, Georg. Siegfried Kracauer als Denker des Pluralismus. Berlin: Lukas Verlag, 2008. Wachter, David. Konstruktionen im Übergang. Krise und Utopie bei Musil, Kracauer und Benn. Freiburg: Rombach, 2013. Witte, Karsten. »Siegfried Kracauer im Exil«. Exilforschung 5 (1987): 135-149.

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Paria/Migrant Zwei Figuren und ihre Wendung zum Utopischen bei Hannah Arendt und Vilém Flusser Linda Maeding

D as unbe wohnbare E xil »Wir stehen in einer Periode der Vertreibung«, schreibt der heute in erster Linie als Medientheoretiker bekannte Autor Vilém Flusser (1920-1991), der Flucht und Migration zeitlebens immer wieder reflektierte und zum Ausgangspunkt weitreichender Überlegungen machte, in einem späten Aufsatz von 1984 (Von der Freiheit, 104). »Wenn man dies positiv wertet, wird einem die Zukunft weniger dunkel erscheinen.« (Ebd.) In einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Vertriebene als störende Faktoren angesehen würden und es oberste Aufgabe sei, diese möglichst schnell in die »Ordinarität« zurückzuholen, plädiert der in Prag geborene, später nach England und dann nach Brasilien ausgewanderte Kulturphilosoph für eine Aufwertung des Vertriebenseins. Jahrzehnte vor ihm und unter dem Eindruck des Holocaust und seiner Folgen – darunter den Millionen von durch Europa irrenden displaced persons – hatte Hannah Arendt (1906-1975) den Staatenlosen zu einem neuen Typus Mensch erklärt, der einerseits die Zukunft der Weltgesellschaft antizipierte, ihr andererseits aber auch Anstoß für eine Rückbesinnung auf die Tragweite der Menschenrechte und überhaupt auf die der Aufklärung abgerungenen Rechte war. Die zum Teil erstaunlich ähnlichen Argumentationsmuster Flussers und Arendts konzentrieren sich im jeweiligen Werk in einer Figur: dem Migranten und dem Paria. Das Denken dieser beiden Autoren, selbst exiliert und nach 1933 heimatlos geworden, wird in ihnen bildlich gefasst: Einer Monade ähnlich, offenbaren diese Figuren die für das Exil typische Engführung politischer, ideologischer, biographischer und ästhetischer Fragen. Alle diese Aspekte lassen sich an ihnen aufschlüsseln. So zeigen Arendts Paria ebenso wie Flussers Migrant eine produktive Verarbeitung der eigenen Exilerfahrungen

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an, weisen aber zugleich weit über diese hinaus. In einem veränderten historischen Kontext haben sie heute kaum etwas von ihrer Brisanz eingebüßt. Utopische Konnotationen rufen diese Figuren zunächst einmal ganz und gar nicht auf, im Gegenteil. Doch sprengen sie »eine bestehende Ordnung«, wie es Karl Mannheims klassischer Definition zufolge das utopische Bewusstsein tut, »das sich mit dem es umgebenden Sein nicht in Deckung befindet« (Mannheim 169).1 Der Paria und der Migrant bezeichnen Menschen, die außerhalb stehen – außerhalb der normativen Ordnung und Gemeinschaft. Verschieben wir jedoch die Perspektive und verstehen dieses Außerhalb als Anderswo – so wie Waldenfels es über das Fremde konstatiert: es markiert ein »Anderswo« und »Außer-ordentliches, das keinen angestammten Platz hat« (12) – dann nähern wir uns dem Konzept des Utopischen über die Figuren des Paria und Migranten bereits schrittweise an. Ohne dass die beiden Denker den Begriff direkt auf ihre Figuren anwenden würden, soll diese Annäherung, die eigentlich eher ein Umschlag ist – der Konflikt, über den sich Paria/Migrant erst bestimmen, wird zur Voraussetzung ihrer Verwandlung in eine gesellschaftliche Avantgarde – im vorliegenden Beitrag nachgezeichnet werden. Anhand der Spanne vom Paria, den Arendt Ende der 30er Jahre im Pariser Exil entwirft und den sie später als Prototyp des Flüchtlings wieder aufgreifen wird, bis hin zum Migranten, den Flusser in Aufsätzen und in seiner philosophischen Autobiographie Bodenlos bis kurz vor seinem Tod wiederholt zu einer Schlüsselfigur erhebt, sollen nicht nur Parallelen und Differenzen, sondern auch die kulturelle Sprengkraft dieser in Teilen deckungsgleichen Figuren herausgearbeitet werden. An sich negativ konnotiert, schlagen sie erst aufgrund der in ihnen verarbeiteten Exilerfahrung ins Utopische um – anders lässt sich diese Wende wohl kaum nachvollziehen. Weil das Exil selbst »unbewohnbar« (Von der Freiheit, 103) ist, wie Flusser einmal schreibt – und Arendt hätte ihm wohl zugestimmt –, kann es zum Ausgangspunkt werden für eine Befragung von Heimat und Gemeinschaft überhaupt. Es ist Flusser zufolge insofern transzendent, als es alles um sich herum provisorisch erscheinen lässt. Wenn Exil grundsätzlich auch »auf alternative Kultur- und Gemeinschaftsmodelle verweist«, wie Bischoff und Komfort-Hein (3) in ihrer kulturwissenschaftlichen Re-Interpretation dieses Phänomens hervorheben, so realisieren sowohl der Paria als auch der Migrant diesen Verweis aus der Negativität heraus, aus der Infragestellung der bestehenden Gesellschaft: Es handelt sich um Figuren einer immanenten Kritik, die gesellschaftliche Normativität als transitorisches historisches Konstrukt begreif bar macht. Was an Stelle des Bestehenden treten könnte, eruieren und imaginieren die Autoren ausgehend 1 | Vgl. auch Berghahn 165: Im 20. Jahrhundert entwerfe die Utopie keine bessere Zukunft mehr, sondern werde zur »radikalen Negation der herrschenden Ordnung«.

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vom historischen Phänomen der Vertreibung nach 1933 und soll im Folgenden dargelegt werden. Die im Zentrum eines kulturwissenschaftlich erweiterten Exilbegriffs stehende Frage, »ob […] Konstellationen des historischen Exils als Vorgeschichte für Erfahrungen der kulturellen Entortung im Zeitalter von Globalisierung und (Massen-)Migration begriffen werden können« (Bischoff/Komfort-Hein 8), ist mit Arendt und Flusser nicht nur nachdrücklich zu bejahen – sie erfordert auch eine Reflexion über die Neuordnung menschlicher Beziehungen, die aus der Entortung heraus entstehen kann. Zu zeigen ist, dass Entortung ebenso eine Erfahrung des Verlusts impliziert wie sie umgekehrt einen utopischen Impuls bedient, dass sie in jedem Fall aber in einer Spannung steht zwischen der Negativität der Weltlosigkeit (Arendt) und der Ermöglichung von Freiheit.

A rendts Paria oder die U nmöglichkeit, ein M ensch unter M enschen zu sein »[N]ur die Galeerensklaven kennen sich«. (Rahel Varnhagen)

Arendts lang andauernde Beschäftigung mit der Paria-Figur nimmt ihren Ausgang von einem »Bankrott«. Auf diese Weise umschreibt sie im Mai 1939, exiliert in Paris, die »Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik« – so der Untertitel ihres Buches über Rahel Varnhagen – in einem Brief an den Freund Gershom Scholem. Sie selbst war 1933 aus Deutschland geflohen, zunächst nach Frankreich und 1941 in die USA, wo sie bis zu ihrem Tod 1975 blieb. Arendt hatte in dem bereits vor dem Gang ins Exil begonnenen Buch die Art und Weise zeigen wollen, »in der das Sich-Assimilieren an das geistige und gesellschaftliche Leben der Umwelt sich konkret in einer Lebensgeschichte auswirkte« (Rahel, 14). Dass das jüdische Volk nicht nur ein unterdrücktes, sondern auch ein Paria-Volk war, liege am »Missverständnis« der von Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft nie ernst genommenen Emanzipation (Verborgene Tradition, 51). Ist man beheimatet in der Welt, so Arendt, könne man sein Leben als eine natürliche Entwicklung ansehen, als »die kontinuierliche Folge dessen, was man immer schon war.« (Rahel, 18) Rahel Varnhagen konnte das nicht. Im Brief an einen Freund beschreibt diese sich als »außerirdisches Wesen«, dem aufgetragen wurde, eine Jüdin zu sein, »und nun ist mein ganzes Leben eine Verblutung; mich ruhig halten, kann es fristen« (zit.n. Rahel, 21). Rahel ist also, wie es Arendt formuliert, an »ihre infame Geburt« (ebd. 22) fixiert. Sie selbst bringt ihr ewiges Verstellen und Nachgeben (vgl. ebd. 27) zur

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Verzweiflung: Es ist der Kampf des Parias »gegen die Fakten«, der zu einem »Kampf gegen sich selbst« (ebd. 26) wird. So ist der Paria in seinem »Schlemihlsein« (und bei Varnhagen bedeutet dies: nicht reich, nicht schön und jüdisch sein) bodenlos: »Keine Tradition hat ihr etwas übermittelt, und in keiner Geschichte war ihre Existenz vorhergesehen.« (Ebd. 48)2 Ist dies in der herkömmlichen Umgebung eine Last, so rettet die Fremde den Paria, weil das Bodenlose zu einem Vorzug und seine Beziehungslosigkeit nichtig wird, wo es »überhaupt keine gekannte Identität mehr gibt« (ebd. 229): »Nie sonst ist man so Herr seiner selbst, als wenn keiner einen kennt und das Leben allein und ausschließlich uns in die Hand gegeben ist.« (Ebd. 85) Diese Zeilen sind vor dem Exil geschrieben und lassen tatsächlich auch noch nichts von der geschichtlichen Ohnmacht der Exilierten spüren. Und dennoch klingt hier schon Flussers Ode auf die Heimatlosigkeit an, die sehr wohl durch die Erfahrung von Vertreibung und Ausschluss gegangen ist. In der Heimat, so zitiert Arendt Rahel weiter, bestehe immer die Notwendigkeit sich zu legitimieren; »darum ist es ja nur so widerwärtig, Jüdin zu sein!« (Ebd. 98). Die unter enormem Assimilationsdruck stehende Rahel, die in einer wichtigen Phase ihres Lebens nichts anderes will als aufgenommen zu werden, offenbart jedoch wider Erwarten einen utopischen Impuls, weil sie sich aufgrund ihres Jüdin-Seins nicht ergeben kann in die Welt, wie sie ist – eine Welt, die sie nur »durch Ritzen zuschauen« (ebd. 149) lässt. Es gelingt ihr hier nicht, »ein Mensch unter Menschen zu werden.« (Ebd. 144) Sie bleibt anders und sieht die (ferne) Erfüllung darin, nicht anders zu sein. So lebte Rahel ihrer Interpretin zufolge in einer Welt, »zu deren Vergangenheit sie nicht gehörte und aus deren Zukunft sie jeden Tag gestrichen werden kann.« (Ebd. 179) Welt und Wirklichkeit seien für sie dennoch gleichbedeutend mit der Gesellschaft gewesen, sodass sie nie berücksichtigt habe, sich auf die Seite der Entrechteten schlagen zu können, wie Arendt bemerkt (vgl. ebd. 187). Genau dort geht ihr der utopische Impuls ab: weil sie ihr Schicksal nur als strikt persönliches begreifen konnte und nicht in allgemeine gesellschaftliche Zusammenhänge stellte.3 An dieser Stelle wird der Paria zum Emporkömm-

2 | Vgl. auch ebd. 125: Rahels Leben habe keine »Geschichte«. Daher werden Fichtes Reden an die deutsche Nation so zentral für Varnhagen: Fichte entwirft eine zukünftige neue Gemeinschaft, die Herkunft und sinnliche Existenz verwirft. Rahel schreibt enthusiastisch an ihren Bruder: »Der Jude muss aus uns ausgerottet werden; das ist heilig wahr, und sollte das Leben mitgehen.« (Ebd. 142) 3 | Vgl. Arendts Bilanz im Rahel-Buch (228): »Man wird das Judentum nicht los, wenn man sich von den anderen Juden trennt; es verändert sich nur aus einem historischen Schicksal, einer gesellschaftlichen Zugehörigkeit, […] in eine Charaktereigenschaft, einen Charakterfehler eines Individuums.«

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ling, und daher ist der Sprung vom Paria zum Parvenu4 auch so folgerichtig: Er beruht auf einem Schwindel, mit dem der Paria als Einzelner seine Karriere als Parvenu in der Gesellschaft vorbereitet (vgl. ebd. 209).5 Die letzten beiden Kapitel des Rahel-Buchs, »Zwischen Paria und Parvenu« und »Aus dem Judentum kommt man nicht heraus«, sind bezeichnenderweise die einzigen im Exil geschriebenen (der Rest des noch unpublizierten Materials war zum Zeitpunkt der Flucht bereits fertig) – es sind jene Seiten, auf denen die Paria-Figur im Rahmen eines regelrechten Psychogramms intensiv ausgeleuchtet wird, und in denen die Philosophin auch zu einer neuen, geschichtlich genährten Empathie findet für Rahel als nun bewusstem Paria. Die historische Person der Rahel Varnhagen, deren ausufernde Korrespondenz mit zahlreichen Briefpartnern Arendt konsultiert hatte, ist der Exilantin deshalb so wichtig, weil Rahel aufgrund des Scheiterns ihrer assimilatorischen Bemühungen sich selbst und die Umgebung in Frage stellt (ebd. 214) – und dabei nun als bewusster Paria erkennt, ihre Erfahrungen sind zu teuer erkauft. 1810 schreibt Rahel in diesem Sinne an ihre Freundin Pauline Wiesel, als frühere Geliebte des Prinzen Louis Ferdinand ebenfalls eine gesellschaftliche Randstellung einnehmend: »Wir sind geschaffen, die Wahrheit in dieser Welt zu leben … Wir sind neben der menschlichen Gesellschaft. Für uns ist kein Platz, kein Amt, kein Titel da« (ebd. 215). Weil sich der Paria aber in »leerer Allgemeinheit« wünscht, »alles zu erreichen, weil er von allem ausgeschlossen ist« (ebd. 218), muss er – zum Parvenu geworden – auch immer entdecken, dass er eigentlich nicht gewünscht hat, was er erreicht hat. Ein ehrlicher Parvenu, der sich dies eingesteht, sei ein Paradox (vgl. ebd. 219), und dieses Paradox erkennt Arendt in Rahel, die ihren Berliner Aufstieg als Schein entlarvt.6 Erst auf dieser Bewusstseinsstufe des sich selbst entlarvenden Parvenus, für den plötzlich opake gesellschaftliche Strukturen transparent werden, ist schwach leuchtend ein Raum für Utopie 4 | Paria und Parvenu beschreiben die Situation der Juden nach der Emanzipation im Modus zweier Verhaltensmuster (vgl. Heuer et al. 304), wobei diese allerdings auch auf andere historische Kontexte zutreffen, »solange es diffamierte Völker oder Klassen gibt« (Elemente und Ursprünge, 128). 5 | »Wie alle Parvenus träumt sie«, so schreibt Arendt über Rahel, »nie von einer Änderung schlechter Zustände, sondern von einem Personalwechsel zu ihren Gunsten, der dann alles wie mit einem Zauberschlag verbessern würde.« (Ebd. 211) 6 | Sie zitiert Rahel: »Kann man ganz abkommen von dem, was man eigentlich ist; ab, weit ab: wie ein schwaches kleines Schiff getrieben auf großem Meer weit hin von Wind und Sturm. Das einzige, was mich wahrhaft noch persönlich angeht, was mir tief ins Herz gesunken ist, unten granitschwer und dunkel liegt: da seh’ ich nicht hin, das lasse ich liegen« (ebd. 221). Wichtig bleibt jedoch festzuhalten, dass dem Paria bei Arendt nicht per se ein kritischer oder rebellischer Gestus eigen ist.

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erkennbar. Nicht in der viel gerühmten Freiheit des Ausgestoßenen, das weiß Arendt im Exil nur zu gut: Sie sei selten mehr als »das völlig freie Recht auf Verzweiflung« (ebd. 222). Ganz im Gegenteil sei das Beste, was der Paria in seiner Welt lernen könne, das Erkennen des Anderen – Arendt spricht hier auch vom »spezifisch Menschlichen«, das nur dem gesellschaftlichen Paria zugänglich sei: […] das wortwörtliche Mit-leiden, das wiederum distanzlos ist, ist nur der krankhaft gesteigerte Ausdruck für das instinktive Begreifen der Würde, die jedem innewohnt, der ein menschlich Antlitz trägt, ein Instinkt, den die Privilegierten nie kennen, der die Humanität des Paria ausmacht […]. Immer repräsentieren darum die Paria in einer Gesellschaft, welche auf Privilegien, Geburtsstolz, [Standeshochmut] basiert, das eigentlich Humane, spezifisch Menschliche, in Allgemeinheit Auszeichnende. Die […] Achtung vor dem menschlichen Angesicht, die der Paria instinktartig entdeckt, ist die einzig natürliche Vorstufe für das gesamte moralische Weltgebäude der Vernunft. (Ebd. 225)

Das Buch über die Lebensgeschichte der Rahel Varnhagen endet folglich im Exil mit einer theoretischen Aufwertung des Paria, der nun nicht mehr auf einer Vorstufe zum Parvenu gesehen wird, sondern in seinem eigenen Recht: als eine Figur, die anders als der Parvenu nicht wie im Maskeradenspiel von der Welt Besitz ergreift. Vielmehr ergreift der Paria überhaupt nicht von der Welt Besitz, sondern nähert sich ihr im Modus einer entsagenden Erkenntnis. Er lässt uns als Beobachter zudem erkennen, dass das Schicksal der Juden »gar nicht so zufällig und so absonderlich war, dass es im Gegenteil den Zustand der Gesellschaft genau widerspiegelte […] Dass es infolgedessen gar keine Flucht geben kann – es sei denn auf den Mond.« (Ebd. 235) Dies gilt auch für die Stoßrichtung des Utopischen: Es ist der gegebenen Welt immanent und in ihr latent präsent.

D er neue Paria : S ta atenlos und suspek t Arendts auch in dem 1943 zunächst in englischer Sprache veröffentlichten Aufsatz »We Refugees« geäußerte Kritik an der Assimilation7 richtet sich in letzter Instanz darauf, dass durch letztere eine fundamentale Figur der Moderne – »eine neue Gattung von Menschen« – verdeckt werde. Es ist der Rechts- und Staatenlose, für den keine Nation eintritt und der somit ungeschützt der poli-

7 | Zwar bezieht sich Arendt in dem zitierten Aufsatz auf jüdische Flüchtlinge, der generische Titel und ihre Argumentation zielen aber darauf ab, diese wiederum als Stellvertreter eines Allgemein-Menschlichen (vgl. Zur Zeit, 19) zu sehen.

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tischen Gewalt ausgeliefert ist (vgl. Zur Zeit, 9).8 Der Staatenlose ist in einer nationalstaatlich organisierten Welt der Suspekte und damit das »wirkliche Symbol des Pariatums« (Verborgene Tradition, 65). Losgelöst von nationalen Zugehörigkeiten, stellt er für Arendt jedoch zugleich eine Avantgarde dar.9 Bevor sie in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951/55 auf Deutsch erschienen) den Flüchtling des 20. Jahrhunderts näher charakterisierte, hatte die Philosophin den Paria in dem langen Essay Die verborgene Tradition als jüdische Volksfigur herausgearbeitet, die aber auch bereits »eine neue Idee vom Menschen« (ebd. 51) enthalte.10 Bei Heine sieht die Autorin diese Idee im Schlemihl und Traumweltherrscher umgesetzt, Anti-Helden, die außerhalb der Hierarchien stehen und gar kein Bestreben haben, hineinzukommen. Der utopische Impuls des Paria besteht darin, das, »was die Gesellschaft als Wirklichkeit aufgebaut hat, nicht an[zu]erkennen« (ebd. 56). Dadurch sei ihm die Heinesche Freiheit zu eigen, die »aus einem Jenseits von Herrschaft und Knechtschaft« (ebd. 57) erwächst. Knecht und Unterdrücker sind für ihn gleichermaßen komische Figuren, sein Blick auf beide ist frei von Bitternis – weil, das scheint hier der entscheidende Punkt zu sein, der Paria eben nicht in die Wirklichkeit verstrickt ist. Arendt konzediert, dass diesem Jenseits bei Heine kein »wirkliches oder auch nur mögliches Leben« (ebd.) entsprach. Die jüdische Affinität zum Utopismus zeuge vielmehr »von der sozialen Bodenlosigkeit, in der die Besten des assimilierten Judentums zu leben gezwungen waren.« (Ebd.) Nur die dichterische Produktivität, die das traumhaft irreale Pariadasein zu einem »real wirkenden Prinzip einer künstlerischen Welt« (ebd.) machte, habe Heine vor diesem Utopismus bewahrt.11 Im Heine-Teil ihres Essays wird deutlich, dass Zugehörigkeit – wenn auch nicht in nationalen Kategorien gedacht – bei Arendt unverzichtbar ist für die Arbeit an der Utopie. Sie geht eine sicher nicht widerspruchsfreie Beziehung ein zu Freiheit, die für die politische Denkerin höchste Relevanz hat, aber nicht wie bei Flusser gleichbedeutend mit »Bodenlosigkeit« ist – diese auch von ihr verwendete Metapher ist vielmehr, wie das obige Zitat belegt, eindeutig negativ konnotiert, während sie bei Flusser zum Synonym für Freiheit überhaupt aufrückt. Für Arendt dagegen ist Heine gerade deshalb zu den Freiheitskämpfern

8 | Arendt war selbst nach ihrer Ausbürgerung 1937 staatenlos, bis sie 1951 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. 9 | Flüchtlinge werden zu »Vorkämpfern einer neuen politischen Realität, die mit dem Zerbrechen der demokratischen Nationalstaaten zutage getreten ist.« (Grunenberg 288). 10 | An ihren Anfang stellt Arendt Salomon Maimon, an ihr Ende Franz Kafka. 11 | Vgl. Dornhof 196: In der Welt der Dichtung habe der Paria damit Anerkennung gefunden, »als Figur des Imaginären, die die sozialen Rangordnungen spielerisch verkehrt«.

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Europas zu zählen, weil er an seiner Zugehörigkeit zu einem Volk der Parias festhielt – »Dichter ohne Völker« (ebd. 59) gebe es nicht.12 In dem Essay-Kapitel über Kafka heißt es nun, der Konflikt zwischen Paria und Gesellschaft bestehe nicht in dem Unrecht, das ersterer durch sie erfährt, sondern handle davon, »ob dem von ihr Ausgeschlossenen […] überhaupt noch irgendeine Realität zukommt.« (Ebd. 69) Der moderne Paria beginnt an seiner eigenen Wirklichkeit zu zweifeln. Einen Ausweg sieht Arendt für ihn nur in der Realität der Natur oder – ähnlich wie Adorno – in jener der Kunst. In der Gesellschaft hingegen resultiert der Bedarf nach Utopien erschreckenderweise gerade daraus, »dass jenes einfach Menschliche, jene Menschenrechte, jene Normalität, die [K] für so selbstverständlich für andere gehalten hat, gar nicht existierte.« (Ebd. 74) Das scheinbar Alltägliche, ja das Banalste ist in Wahrheit etwas »ganz und gar Außerordentliches« (ebd. 75). Denn der Flüchtling des 20. Jahrhunderts wird nicht mehr für politische Überzeugungen oder Handlungen verfolgt, sondern für das, was er ist (vgl. Heuer et al. 277), so Arendt in ihrer Reflexion über das Verhältnis von Menschen- und Staatsbürgerrechten. Wer seit dem Ersten Weltkrieg »aus der alten Dreieinigkeit von Volk-Territorium-Staat« herausfiel, »blieb heimat- und staatenlos.« (Elemente, 560) Der Flüchtling hatte ein für unveräußerlich gehaltenes Recht verloren: das Recht auf Menschenrechte (ebd. 562). Es war ihm gar nicht möglich, eine neue Heimat zu finden: Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat, wohl aber die Unmöglichkeit, eine neue zu finden. Jählings gab es auf der Erde keinen Platz mehr, wohin Wanderer gehen konnten, […] kein Land, das sie assimilierte, kein Territorium, auf dem sie eine neue Gemeinschaft errichten konnten. (Ebd. 608)

Für Arendt bezeichnet diese »Unbezogenheit zur Welt«, wie sie im neunten Kapitel von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft herausarbeitet, den Zustand von »Weltlosigkeit« (ebd. 624). Der Flüchtling findet sich auf die nackte Existenz reduziert (vgl. Heuer et al. 277) und ist einer vielzitierten These zufolge des Rechts, Rechte zu haben (Elemente, 614) beraubt. Paradox ist sein Zustand deshalb, weil er innerhalb nationaler Staatsgrenzen lebt, jedoch außerhalb der »nationalen Rechtsgemeinde« (Heuer et al. 278) steht. Denn nur dem Staatsbürger werden Menschenrechte konzediert. Die spezifische Modernität dieses Parias besteht jedoch gerade darin, »dass sein Vorhaben nur darauf ging, ein Mensch unter Menschen, ein normales Mitglied einer menschlichen 12 | Vgl. auch Verborgene Tradition, 79: »Nur innerhalb eines Volkes kann ein Mensch als Mensch unter Menschen leben […]. Und nur ein Volk, in Gemeinschaft mit anderen Völkern, kann dazu beitragen, auf der von uns allen bewohnten Erde eine von uns allen gemeinsam geschaffene und kontrollierte Menschenwelt zu konstituieren.«

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Gesellschaft zu sein.« (Verborgene Tradition, 78) Utopisch, so schreibt Arendt explizit, sei dieses kleine Vorhaben, das angesichts seiner Grundsätzlichkeit das allerschwerste ist, nicht (vgl. ebd. 79) – und dennoch offenbart sich in Arendts Beobachtung, der Staatenlose sei nur noch Mensch, utopisches Potenzial. Der moderne Paria ist durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen und einen frustrierten Emanzipationsprozess dahin gekommen, nur noch Mensch zu sein – und genau an diesem Punkt einer absoluten Reduktion öffnet sich auch wieder ein Fächer an Möglichkeiten und imaginärer Szenarien, was die Gestaltung der Zukunft betrifft. Dabei hat die Gesellschaft den Paria in diesem Zustand des Nur-noch-Mensch-Seins noch gar nicht eingeholt: er darf es ihr zufolge nicht sein. Arendt formuliert diesen Umstand folgendermaßen: Der staatenlose Paria ist nur noch Mensch nicht »durch die gegenseitig sich garantierende Gleichheit der Rechte, sondern in seiner absolut einzigartigen, unveränderlichen und stummen Individualität« (Elemente, 624). Die hier sich bereits ankündigende »Antigeschichtsphilosophie« der Denkerin verweist utopisch auf die »allgegenwärtige Möglichkeit des Neuanfangs« (Heuer et al. 281), die uns auch der Staatenlose offenbart: die Möglichkeit, im Nur-Mensch-Sein Anerkennung zu finden.13 Doch ist diese Möglichkeit bei Arendt paradoxerweise an die Prämisse der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (und des Bekenntnisses zu ihr) gebunden. Wer sich als zugehörig postuliert, für den ist Geschichte kein Buch mit sieben Siegeln […]. Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker – wenn sie ihre Identität aufrechterhalten. Zum ersten Mal gibt es keine separate jüdische Geschichte mehr; sie verknüpft sich mit der Geschichte aller anderen Nationen. (Zur Zeit, 287)

Diese Verknüpfung schuldet sich Auschwitz. In Auschwitz hat sich der Boden der Tatsachen als abgründig erwiesen. Die Kenntnis der Tatsachen selbst erweist sich als bodenlos – auch für den, der sie nachträglich zu begreifen versucht, oder wie Arendt es eindrücklich formuliert: für den, der sich nachträglich auf den Boden der Tatsachen zu stellen versucht. Ist der Boden der Tatsachen zu einem Abgrund geworden, so ist der Raum, in den man sich begibt, wenn man sich von ihm entfernt, ein gleichsam leerer Raum, in welchem es 13 | Anders als üblich in der Diskussion über Menschenrechte, rekurriert Arendt zur Argumentation ihrer Gültigkeit nicht auf den Universalismus oder das Naturrecht. Tatsächlich kritisiert sie den »abstrakten Humanismus der Menschenrechtspolitik«; die Anerkennung der Menschenrechte sei nur auf der Grundlage der Anerkennung von Differenz (zu der Mehrheitsgesellschaft) möglich, nicht auf der Basis des Einforderns von Gleichheit (vgl. Grunenberg 291).

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Linda Maeding nicht mehr Nationen und Völker gibt, sondern nur noch einzelne […]. Für die notwendige Verständigung zwischen diesen einzelnen, die es heute in allen Völkern und Nationen der Erde gibt, ist es wichtig, dass sie lernen, sich nicht krampfhaft an ihren eigenen nationalen Vergangenheiten festzuhalten – Vergangenheiten, die doch nichts erklären […]; dass sie nicht vergessen, dass sie nur zufällig Überlebende einer Sintflut sind, die in dieser oder jener Form jeden Tag wieder über uns hereinbrechen kann, und dass sie daher dem Noah in seiner Arche gleichen mögen. (Verborgene Tradition, 11)

Nicht von ungefähr ist die Arche Noah ein Bild, das Arendt in der Exilzeit wiederholt verwendet. Es verdeutlicht den Zusammenhang zwischen der Katastrophe, die die Arche erst möglich (und nötig) gemacht hat, und der Rettung, die sie gleichfalls birgt – die Arche konserviert die alte Welt und steht doch für einen Neubeginn. Dieses utopische Moment ist für die jüdische Exilantin nach 1945 an die Figur des Überlebenden gebunden. Er ist die Brücke zwischen Vergangenem und Künftigem und verweist auf einen Erwartungshorizont, der seinen Ursprung in dem Erfahrungsraum von Holocaust, Krieg und Exil nicht verleugnet – einen Erwartungshorizont, der sich erst ausgehend von dieser Zäsur konfiguriert.

F lusser bodenlos Der Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser versucht den Flüchtling zeitlebens aus der Isolation seiner Arche zu befreien und ihn auf theoretischer Basis zu einem freien Wesen innerhalb einer »dialogischen Stimmung« (Von der Freiheit, 109) werden zu lassen.14 Dies gelingt jedoch nur durch seine Verwandlung zum Migranten, der bei Flusser eine enorme imaginäre Aufladung erfährt. Diese ist nicht anders als utopisch zu verstehen. Sein Plädoyer für transnationale Gemeinschaften weist in die Zukunft, ausgehend von einer Gegenwart, in der durch massive Flucht- und Vertreibungsbewegungen bereits der Keim für diese Gemeinschaften gelegt ist, wenn auch noch im Modus von Katastrophe und Krise. Zu einer potenziell utopischen Figur aber wird der Migrant – anders als bei Arendt – gerade, weil er sich von seiner Vergangenheit lösen kann, weil er sich von den Banden der nicht selbst gewählten Herkunft freizumachen weiß (oder dazu gezwungen ist). Der Flüchtling wird also idealerweise zum Migranten, da ersterer der »verlassenen Bedingung verhaftet« (ebd. 33) und in ihr »eingekapselt« bleibt, während der Migrant sich über dieses Verlas14 | Die Aufwertung des Dialogs im Werk dieses Theoretikers der Kommunikation möchte ich als eine Reaktion auf die Beobachtung verstehen, dass Flüchtlinge Gemeinschaften in Frage stellen, an ihnen aber zugleich auch ihre Rekonfiguration verhandelt wird.

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sene erhoben hat und verändernd auf seine neue Kondition einwirken kann, wie Flusser in der kurzen Skizze »Für eine Philosophie der Emigration« schreibt. 1939 nach London geflüchtet und 1940 nach Brasilien, richtet sich der vielsprachige Intellektuelle dort ein und baut sich eine akademische Karriere auf – bis der gebürtige Prager Jude 30 Jahre später mit Beginn der brasilianischen Militärdiktatur ins zweite Exil zurück nach Europa, diesmal nach Frankreich, geht. Vorher jedoch wird das Leben und Arbeiten im Einwanderungsland Brasilien zum Ausgangspunkt eines Diskurses über Migration, Mehrsprachigkeit und Kommunikation (vgl. Guldin 2005) in sich auflösenden und neu konstituierenden Gemeinschaften.15 Das autobiographisch erfahrene »Schweben über den Standorten« (Bodenlos, 248) hat Flusser auf diese Weise in die Theorieproduktion einbezogen. Ziel seiner Essays und der »philosophischen Autobiographie« Bodenlos (1992 posthum publiziert) ist es, eine Ontologie der Migration zu skizzieren, die sich nur in Bezug zu Gemeinschaft begreifen lässt, zu Bewegungen von Abgrenzung und Öffnung.16 Mit dem Aufsatz »Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit« läutet er den Band Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus ein. Seine akademische Lauf bahn als Medientheoretiker und »Kommunikologe« führt er hier auf das lebensgeschichtliche Interesse für »Lücken zwischen Standorten und für diese Lücken überspannenden Brücken« (Von der Freiheit, 15) zurück, das es ihm erlaube, »das Transzendieren von Heimaten nicht nur konkret zu erleben […], sondern auch theoretisch darüber nachzudenken.« (Ebd.) Wie auch bei Arendt überschneiden sich im Exil autobiographische Erfahrung und philosophisches Interesse. Durchgehend spricht er im zitierten Band in der ersten Person Plural von Vertriebenen und Migranten, was einerseits die autobiographische Identifikation unterstreicht, andererseits auch den programmatischen Charakter der Essays noch verstärkt: »Wir […] erkennen uns […] nicht als Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft« (ebd. 16); nicht als »bemitleidenswerte Opfer, […] sondern als Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut, folgen sollte.« (Ebd. 17) An kaum einer Stelle in Flussers Essayistik wird der Umschlag von der negativ konnotierten Figur des Vertriebenen zu der Zukunft verheißenden Figur des Migranten so explizit wie hier. 15 | In Deutschland bestimmt noch immer sein Bild als Medientheoretiker die Rezeption, obwohl damit nur das Spätwerk gemeint ist. Für Guldin ist Flussers Verdienst dagegen weniger in der späten Medientheorie als in einer »umfassenden phänomenologisch ausgerichteten Anthropologie kulturphilosophischer Prägung« (11) zu suchen. 16 | Auch der Nomade taucht als Figur mehrfach auf. Die Erbsünde, so Flusser, bestand vielleicht darin, »dass wir uns hingesetzt haben. Aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen.« (Von der Freiheit, 64)

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D er M igr ant als der H eimat

U nheimlicher oder D as G eheimnis

Natürlich erkennt auch Flusser, dass Migration nicht nur eine »schöpferische Tätigkeit« ist, wie er im Aufsatz »Exil und Kreativität« ausführt, sondern ebenso ein Leiden (ebd. 17). Dies ändert jedoch nichts an der utopischen Besetzung des Flüchtlings, der – wie Flusser in dezidiert existenzialistischer Manier formuliert – vom Schwindel des Freiseins ergriffen wird, wenn die Frage »frei wovon?« umschlägt in »frei wozu?« (Ebd. 17) Vermag er sich diese Frage zu stellen, ist er zum Heimatlosen geworden, der am Ende eines schmerzhaften, aber befreienden Prozesses steht. Der Heimatlose ist nach Flusser zur nüchternen Analyse des viel besungenen Heimatgefühls verpflichtet und muss erkennen, dass die »geheimnisvolle Verwurzelung in der Heimat« den wachen Blick auf die Welt verstellt hat: »dass erst nach Überwindung dieser Verstrickung ein Migrant auch an seine Mitmenschen nicht mehr geheimnisvoll gekettet« ist, sondern »in frei gewählter Verbindung« (ebd. 20) steht. Arendts Vorwurf, die assimilationswilligen Flüchtlinge verleugneten sich selbst, indem sie alte Gemeinschaften durch neue auszutauschen suchen – geäußert in dem Aufsatz »We Refugees« –, trifft ihn nicht: »Der Migrant wird frei, nicht wenn er die verlorene Heimat verleugnet, sondern wenn er sie aufhebt.« (Ebd. 20) Diese Aufhebung vollzieht er, wenn er das Geheimnis der Heimat lüftet: die selbst für den Beheimateten undurchsichtigen Codes der Heimat sind geheimnisvoll nur, solange sie unbewusst wirken – werden sie bewusst, offenbart sich das scheinbar Heilige als banal. Gerade der vom Flüchtling zum Heimatlosen Gewordene muss es angesichts der durch Leid erlangten Freiheit ablehnen, an der »Mystifikation von Gewohnheiten« (ebd. 26) zu partizipieren. Das Bedrohliche dieser Haltung entfaltet sich jedoch in vollem Ausmaß nicht im Heimatlosen per se – also etwa nicht in der von der Postmoderne vielzitierten Figur des Nomaden oder Wanderers. Vielmehr ist es der Verzicht auf Heimat des Migranten, des Ein-Wanderers in bestehende Gemeinschaften, und nicht des Vorbeiziehenden, der als Angriff aufgefasst wird: Der Einwanderer ist für den Beheimateten noch befremdender, unheimlicher als der Wanderer dort draußen, weil er das dem Beheimateten Heilige als Banales bloßlegt. Er ist hassenswert, hässlich, weil er die Schönheit der Heimat als verkitschte Hübschheit ausweist. (Ebd. 21)

Ohnehin beruht die Überhöhung von Heimat für Flusser auf einem Missverständnis, nämlich auf der Verwechslung von Heimat und Wohnung – wir sind geneigt, Heimat als relativ permanentes Phänomen anzusehen, Wohnung dagegen als Einheit, die jederzeit wechselbar ist. Flusser kehrt das gängige Verständnis dieses Verhältnisses nun auf den Kopf: »Man kann die Heimat aus-

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wechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen.« (Vgl. ebd. 27) So wird die Wohnung zur Grundlage jeden Bewusstseins und erlaubt es, die Welt wahrzunehmen, sie fungiert zugleich aber als eine Betäubung, »weil sie selbst nicht wahrnehmbar ist, sondern nur dumpf empfunden wird.« (Ebd. 29) Der Migrant dagegen, »dieser Mensch der heranrückenden heimatlosen Zukunft«, schleppe zwar Brocken der Geheimnisse aller durchlaufenen Heimaten mit sich herum, sei aber in keinem Geheimnis verankert (ebd. 29f).17 In einer Schlüsselstelle seines programmatischen Essays »Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit« heißt es dazu: Er ist durchsichtig für seine anderen. Nicht im Geheimen, sondern in der Evidenz lebt er. Er ist zugleich Fenster, durch welches hindurch die Zurückgebliebenen die Welt erschauen können, und Spiegel, in dem sie sich, wenn auch verzerrt, selbst sehen können. (Ebd. 30)

Deshalb ist der Migrant den »Beheimateten« so unheimlich. Er entweiht »die Schönheit der Heimat« allein durch seine Präsenz, indem er sie in Frage stellt – und damit selbst für die Beheimateten zu einer invasiven Figur wird, die »von überall kommend in alle Heimaten eindringt« (ebd. 30). Hässlich ist der Fremde für die Beheimateten aber auch, insofern er – reduziert auf das Menschliche, könnte man mit Arendt sagen – nichts verbirgt, sondern selbst transparent ist. Er ist ein Niemand.18 Daher fällt seine Hässlichkeit auch auf die ihn aufnehmende Gesellschaft zurück, die sich in ihm nackt erkennen muss. Der Migrant bietet ausgehend von dem destruktiven Moment der Entblößung von Heimat jedoch nicht nur die Chance der Selbsterkenntnis. Wie im obigen Zitat benannt, ist er für die Beheimateten zugleich ein Fenster zur Welt, eine Brücke. Und hinzufügen dürfte man: ein Fenster auch zu einer anderen Welt, verheißt er doch als Vorbote der Zukunft andere Möglichkeiten, Gemeinschaft zu konfigurieren – heimatlose Gemeinschaften, die jedoch von den gegenwärtigen Gesellschaften noch als dystopisches Szenario wahrgenommen werden. Das Unheimliche am Heimatlosen ist nicht etwa ein interkulturelles Phänomen, also »dass es zahlreiche Heimaten und Geheimnisse gibt, sondern dass es in naher Zukunft überhaupt keine Geheimnisse dieser Art mehr geben könnte.« (Ebd. 30) Genau diese unheimliche Wirkung des Migranten, der die Heimat durch seine Existenz entweiht, hat Flusser zufolge jedoch auch eine utopische Dimension – eine Assoziation, die sich wohl nur 17 | In diesem nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Sinne definiert sich Flusser in der Autobiographie als heimatlos, »weil zu zahlreiche Heimaten in mir lagern.« (Bodenlos, 247) 18 | Vgl. auch Grunenberg (287), die den Arendt’schen Flüchtling als Niemand beschreibt.

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vor dem Hintergrund seiner Exilerfahrung angemessen einordnen lässt. Denn wo der Migrant die unhinterfragten und vermeintlich fixen Normen der »sesshaften« Gesellschaft erschüttert, liegt zugleich der Kern für einen emanzipatorischen Begriff von Gemeinschaft als das gemeinsame Gestalten von Welt. Einmal vorausgesetzt, dass der Migrant bei Flusser in erster Linie als Denkfigur konzipiert ist, die nicht mit soziologischen Kategorien zu fassen wäre, ermöglicht es diese imaginär-utopische Figur, andere Ordnungen in den Bereich der Vorstellungskraft zu rücken.19

E ine Z eit neuer O rdnungen ? Sowohl bei Arendt als auch bei Flusser sprengt der Flüchtling nach 1933 – visualisiert im Paria und im Migranten – bestehende gesellschaftliche und politische Ordnungen. Trotz des Leidens, das sich an ihm manifestiert, konstituiert er dadurch auch eine Quelle, ausgehend von einer schweren Krise Mögliches zu denken. Darin liegt sein Umschlag in eine potenziell utopische Figur. Nur bleibt diese bei der politischen Denkerin Arendt vor dem Eindruck des Holocaust an die Negativität eines grundsätzlichen Verzichts gebunden, die Weltlosigkeit. Für Arendt muss im politischen Handeln die Sintflut »Maßstab bleiben«, weil alles, »was unsere Welt ist, in einem Monat weggewischt sein« kann, wie sie nach Kriegsende an Jaspers schreibt (Briefwechsel, 542). Dagegen unternimmt Flusser mit seinem Lobgesang auf den Migranten eigentlich ein – auch heute wieder provokant anmutendes – Denkexperiment, um auf intellektuell durchaus gewagte Weise durchzuspielen, ob und wie aus der Erfahrung der Bodenlosigkeit neue Ordnungen gestaltet werden können. Bei Flusser verunmöglicht die Auflösung des Geheimnisses der Heimat nationale Utopien. Der »Freiheitstaumel«, der aber nun das Vakuum der Heimat ausfüllt, ermöglicht ein fluides gemeinschaftliches Gebilde, in dem menschliche Beziehungen nicht in kategorialen Verstrickungen (Nation, Rasse, Geschlecht) aufgefasst werden, sondern – so der utopische Anspruch – frei gewählt und geknüpft werden. Heimat, wenn man diesen Begriff nicht beiseitelassen will, ist nun etwas, das gewonnen und konstruiert werden kann. Doch selbst in dieser Formulierung würde der Kulturphilosoph wohl nicht von Heimat sprechen. Denn in der Wurzellosigkeit des Menschen liegt seine Würde (vgl. Von der Freiheit, 109). Oder in Worten Flussers: Der Verlust von Heimat öffnet den Migranten, der das »wache Bewusstsein der Beheimateten« verkörpert und ein »Vorbote der Zukunft« ist, für »das Geheimnis des Mitseins mit anderen.« (Ebd. 31) 19 | Mit Leucht lässt sich hier von einer »politischen Imagination« sprechen, die sich an der Figur des Migranten entzündet – als »Vermögen, andere politische Ordnungen zu imaginieren« (6).

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Und dieses Geheimnis treibt, wie wir wissen, auch die politische Philosophie Arendts um – als den Versuch, die Weltlosigkeit zu überwinden.

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Utopie und Ästhetik im Exil

Utopie als Ironie bei Heine Jordi Jané Carbó

I. Um das Thema einzugrenzen, möchte ich zuerst den Standort Heinrich Heines festlegen oder zumindest erklären, in welchem Kontext ich sein Werk verstehe, insbesondere um den utopischen Aspekt desselben zu fokussieren (hier muss von seiner postromantischen Ästhetik abgesehen werden, und dass Heine ohne Ironie und Satire undenkbar wäre, brauche ich hier gar nicht auszulegen). Ich sehe Heines Werk genau in der Linie, die in Deutschland mit Leibniz beginnt und die Moderne prägt – je nachdem wie dieser Begriff verstanden wird1. Heine selbst setzt den Anfang der »neuern Philosophie« mit »Descartes und seinem großen Schüler Leibniz«.2 Eine Linie, die die fruchtbare deutsche Aufklärung – allen späteren Unzulänglichkeiten zum Trotz – bis zur Französischen Revolution bzw. bis zum Ersten Weltkrieg durchzieht. Die Französische Revolution hat zuerst zu einer Polarisierung der öffentlichen Meinung 1 | Jörg Schönert z.B. fasst seinen Vorschlag so zusammen: »Denkgeschichtlich beginnt die Moderne zwischen 1450 und 1600 (Neuzeit), mit den Wirkungen von Montaigne, Descartes und Pascal lassen sich wichtige Konturen dieses Prozesses entwickeln; sozialgeschichtlich wird die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts für die ›okzidentalen‹ Gesellschaften als Ausgangspunkt der Moderne angesehen; kunst- und literaturgeschichtlich ist dagegen die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts anzuvisieren; mit der kunstprogrammatischen Fixierung von Modernität in Frankreich 1859 durch Baudelaire, in Deutschland 1886 mit Eugen Wolffs Versuch einer ›Durch‹-Setzung des Literaturprogramms des Naturalismus sowie in den unterschiedlichen nationalen und internationalen Bewegungen von der Avantgarde bis zum modernismo.« (Zit. nach Faenders 1f.) 2 | »Deutschland hat von jeher eine Abneigung gegen den Materialismus bekundet und wurde deßhalb während anderthalb Jahrhunderte der eigentliche Schauplatz des Idealismus. Auch die Deutschen begaben sich in die Schule des Descartes und der große Schüler desselben hieß Gottfried Wilhelm Leibnitz.« (Heine, Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 8/1, 51.)

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geführt, und dann, nach der Einführung des Code Napoléon in den deutschen Gebieten unter französischer Herrschaft im Jahr 1807, einen Bruch mit dem traditionellen Glauben an die Ordnung von Gottes Gnaden verursacht. Auf dem Wiener Kongress wurde die Emanzipation der Juden wieder verworfen, was deren erzwungene Rückkehr ins Getto zur Folge hatte. Kaum acht Jahre lang hatten sie ihre Zivilrechte genossen. Da sie aber nun diese Möglichkeit kennen und schätzen gelernt hatten, bedeutete für sie der Weg zurück in die alte Ordnung – entweder in Paris, wie so viele Deutsche, oder aber auch in der eigenen Heimat – der Anfang des Exils. Im Wiener Kongress wurden Gesetze und Normen verabschiedet, aber im Bewusstsein der ehemaligen Untertanen, die einige Zeit als Bürger agieren konnten, war die Restauration nicht mehr denkbar. Heine behauptete, an der Schwelle zu einer neuen Epoche geboren worden zu sein und fühlte sich »prädestiniert«, mit seinem angeborenen Optimismus und seiner vielleicht damit verwandten Ironie genau gegen diese restaurierte alte Ordnung zu wirken. Seine literarische Schaffensperiode umfasst ungefähr die Epoche zwischen dem Wiener Kongress (1815) und der März-Revolution (1848); in dieser Zeit standen Junges Deutschland und Vormärz den Spätromantikern und dem Biedermeier gegenüber, d.h. die fortschrittlich, demokratisch gesinnten deutschen Dichter dem »alten Deutschland«, den Restaurationsdienern, Spätromantikern, National-Liberalen und Chauvinisten. Heine entwarf bekanntlich kein utopisch gesellschaftliches Modell. Dieser für ihn unmenschlichen Wirklichkeit gegenüber schaffte er ein Idealbild – gewiss nur in groben Umrissen –, denn er war ein Dichter, kein Theoretiker, und vermied deswegen jede Systematik. Aber zerstreut in seinem Werk prangerte er die sozialen Missstände so direkt an, wie es die Zensur erlaubte. Dazu bediente er sich seiner außerordentlichen Ironie;3 in dieser Hinsicht sieht er sich selbst in der Folge von Cervantes und Molière: »Auf Cervantes und Molière könnte ich mich schon viel besser berufen.« (Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 4, 300) In der Romantischen Schule zieht er einen Vergleich zwischen seiner eigenen Lage und der von Cervantes zur Zeit der Inquisition.4 3 | Schon im Kommentar zu seinem Abitur hat der Prüfer aufgeschrieben: »Seine deutsche Arbeit […] hat eine beachtenswerte Anlage zur Satire.« (Zit. nach Raddatz 37) 4 | »Cervantes [musste], zur Zeit der Inquisition, zu einer humoristischen Ironie seine Zuflucht nehmen, um seine Gedanken anzudeuten, ohne den Familiaren des heiligen Offiz eine fassbare Blöße zu geben. […] Die Schriftsteller, die unter Zensur und Geisteszwang aller Art schmachten und doch nimmermehr ihre Herzensmeinung verleugnen können, sind ganz besonders auf die ironische und humoristische Form angewiesen. Es ist der einzige Ausweg, welcher der Ehrlichkeit noch übriggeblieben, und in der humoristisch ironischen Verstellung offenbart sich diese Ehrlichkeit noch am rührendsten.« (Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 8/1, 183f.)

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Die neue ihn umgebende Wirklichkeit untersuchte er gründlich und kam zu dem Schluss, dass es kein solides Modell mehr gab und auch keins geben konnte, wie der Satz Ludwig Börnes vorgab, den er als Motto seiner Harzreise im ersten Band der Reisebilder (1824) übernommen hatte: »Nichts ist dauernd als der Wechsel; nichts beständig als der Tod« (Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 6, 82). Nach den Veränderungen zwischen 1789 und 1815 kann man diesen Satz als eine Aktualisierung des kartesianischen »Je pense, donc je suis« lesen. Eine Art von neuem Anfang. Die mehr oder weniger soliden Modelle der Aufklärung waren auf einmal obsolet geworden, oder zumindest scheinbar obsolet, und es war nicht leicht, sie durch andere zu ersetzen; die »aufklärerische Linie« und die Hoffnung auf eine bessere soziale Zukunft sind aber neben anderen neueren Strömungen mutatis mutandis geblieben. Theodor W. Adorno behauptet diesbezüglich sogar: »Heine hat […] einen unverwässerten Begriff von Aufklärung bewahrt.« (Ebd. 147) (»Unverwässert« kann in diesem Fall als Alternative verstanden werden zum Leibniz’schen Gebrauch der Ideen Spinozas, wie der Autor im selben Text auslegt.) Anstatt nach neuen fixen Modellen zu suchen, stellte sich Heine eine allgemeine Aufgabe, die glaubhaft und realisierbar sein sollte. Im dritten Teil seiner Reisebilder (1829, sozusagen noch im »inneren Exil«) beschreibt er sie zum ersten Mal als Antwort auf seine selbst formulierte Frage, »Was ist aber diese große Aufgabe unserer Zeit?«: Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie. Mögen immerhin einige philosophische Renegaten der Freiheit die feinsten Kettenschlüsse schmieden, um uns zu beweisen, daß Millionen Menschen geschaffen sind als Lasttiere einiger tausend privilegierter Ritter; sie werden uns dennoch nicht davon überzeugen können, solange sie uns, wie Voltaire sagt, nicht nachweisen, daß jene mit Sätteln auf dem Rücken und diese mit Sporen an den Füßen zur Welt gekommen sind. (Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 7/1, 70)

In einem einzigen Satz finden wir auf der einen Seite die Emanzipation als Programm, die Erkenntnis, dass »Europa mündig geworden ist« – eine Idee, die wörtlich an Kant erinnert – und ein Zitat Voltaires; außerdem die Erklärung, gegen wen er sich richtet: gegen »Aristokratie und einige philosophische Renegaten der Freiheit«. Auf der anderen Seite steht der aufgeklärte, ernsthafte Ton im Widerspruch zum Zitat Voltaires und zur unüblichen Zusammenstellung der Gruppe »des […] gedrückten Volkes« am Anfang des Absatzes. Heine war sich vollkommen bewusst, dass Europa noch weit entfernt von der Mündig-

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keit war, und wenn er dies trotzdem behauptet, so nicht, weil er die Absicht hätte, die Leser zu betrügen, sondern um diese utopische Idee ins Gespräch zu integrieren, um die öffentliche Meinung zu fördern, in der damals noch hegbaren Hoffnung, dass die Menschheit weiter rücken würde, von der »früheren Ungleichheit, durch das Feudalsystem in Europa gestiftet«, bis zum von den Franzosen gegebenen »Signal für den Befreiungskrieg der Menschheit« (ebd.). Es war unerhört in der politischen Literatur der Epoche, diese Themen in einem solchen ironischen Ton zu behandeln. Bei Heine dagegen finden wir oft verschiedene und sogar widersprüchliche Themen, die er in einen Absatz mit ironisch-dialektisch schockhafter Intention zusammenpfercht. Schon 1828 hatte er in einem Brief an seinen Freund Karl August Varnhagen von Ense sogar gerechtfertigt, »kleine Lumpigkeiten« zu begehen, wenn sie »der großen Idee unseres Lebens« (Brief vom 1. April 1828; HSA XX, 322) dienten. Es handelt sich aber dabei nicht um eine rein dem Denken verpflichtete Idee, sondern um eine, die aus der zeitbedingten Wirklichkeit entspringt, im vollen Einklang mit dem werdenden Kontext, wie er im Artikel Der Schwabenspiegel (1838) erklären wird: Ach! wenn man bedächte, wie die Strategie eines Autors, der für die Sache der europäischen Freiheit kämpft, wunderlich verwickelt ist, wie seine Taktik allen möglichen Veränderungen unterworfen, wie er heute etwas als äußerst wichtig verfechten muß, was ihm morgen ganz gleichgültig sein kann, wie er heute diesen Punkt, morgen einen andern zu beschützen oder anzugreifen hat, je nachdem es die Stellung der Gegenpartei, die wechselnden Allianzen, die Siege oder die Niederlagen des Tages erfordern! (Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 10, 274)

II. Nach diesem allgemeinen Prolegomenon kommen wir zum Thema: Im Vorwort zu seinem Meisterstück Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) fasst Heine eine Reihe von Bedingungen zusammen – im vollen Ernst, auch wenn nicht ohne einzelne ironischen Abschweifungen –, die man für sein utopisches Programm halten könnte. So tue ich es jedenfalls, denn die hier dargestellte Grundidee ist völlig kohärent mit allen anderen Stellen, in denen er sich dazu äußert. Zunächst widmet er so etwas wie eine Ansprache an seine nationalistischen Gegner, die er hier »Pharisäer der Nazionalität« und »heldenmütige Lakaien in schwarzrotgoldner Livree« nennt; verspricht ihnen aber, »ihre Farben [zu] achten und [zu] ehren«, aber erst »wenn sie es verdienen, wenn sie nicht mehr eine müßige oder knechtische Spielerei sind«, »wenn die schwarzrotgoldne Fahne auf der Höhe des deutschen Gedankens steht, wenn sie zur Standarte des

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freien Menschtums« geworden ist. (Das sind vier ernste Bedingungen). Fürs nächste Versprechen ändert er aber den Ton: »Und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben.« Hier merkt der Leser, dass es nicht sein Ernst ist, dass er die angeblichen, selbst ernannten Patrioten parodiert, und dass die Parodie in den folgenden Sätzen noch wächst, aber bezüglich eines anderen Themas: Ich liebe das Vaterland ebensosehr wie ihr. Wegen dieser Liebe habe ich dreizehn Lebensjahre im Exile verlebt, und wegen ebendieser Liebe kehre ich wieder zurück ins Exil, vielleicht für immer, jedenfalls ohne zu flennen oder eine schiefmäulige Duldergrimasse zu schneiden. (Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 4, 301)

Parodiert werden hier der Begriff des Patriotismus (überhaupt) und Gebrauch durch die Exilierten, die sich gerade als Opfer des Vaterlandes sehen und nur insofern Gunst und Verehrung einfordern. Er fühlt natürlich das Schicksal aller anderen Exilierten mit – das prägnanteste Beispiel dafür stellt das Gedicht »Nachtgedanken« (1843) dar –, aber jede diesbezügliche Posse ist ihm widerwärtig.5 Ein einfacher Punkt trennt diese Parodie von seiner aufgeklärten Idee des Weltbürgertums, die aber gleich durch ein neues Beispiel seiner Ironie gebrochen wird. Die nächsten, oft fokussierten Streitobjekte sind »alle Junker und Pfaffen dieses Erdballs«, die er als eine Einheit oder Interessensgemeinschaft darstellt, die von den Streitereien zwischen den Staaten profitiert: Ich bin der Freund der Franzosen, wie ich der Freund aller Menschen bin, wenn sie vernünftig und gut sind, und weil ich selber nicht so dumm oder so schlecht bin, als daß ich wünschen sollte, daß meine Deutschen und die Franzosen, die beiden auserwählten Völker der Humanität, sich die Hälse brächen zum Besten von England und Rußland und zur Schadenfreude aller Junker und Pfaffen dieses Erdballs. (Ebd. 432)

Behauptet jemand »Freund aller Menschen« zu sein, mit der einzigen Bedingung, dass sie »vernünftig und gut« sind, und spricht gleich danach von »auserwählten Völkern der Humanität«, kann nichts anderes gemeint sein, als dass er auf etwas anderes hindeuten möchte. Es war damals nicht nötig, die Rheinkrise zu nennen, die 1840 zwischen Frankreich und dem Deutschen Bund ausgebrochen war; die nationalistischen Vertreter beiderseits des Rheins fingen einen regelrechten Dichterkrieg an, von 5 | Auch im Gespräch mit Hammonia wird davon gesprochen, aber in einem distanzierten Ton (zumindest in den zwei ersten Zeilen): »Ich glaube Vaterlandsliebe nennt/ Man dieses törichte Sehnen. […] Fatal ist mir das Lumpenpack,/Das, um die Herzen zu rühren,/Den Patriotismus trägt zur Schau/Mit allen seinen Geschwüren.« (Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 4, 147)

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dem heute eigentlich nur »Das Lied der Deutschen« von Heinrich Hoffmann von Fallersleben in Erinnerung bleibt, der aber 1844, als Heine sein Werk schrieb, ein brisantes Thema war. Diskutiert wurde in der Tagespresse über eine lange Geschichte. Heine erwähnt aber die umstrittenen Regionen nicht aus dem historischen Blickwinkel und auch nicht aus patriotischen Gründen, sondern mit dem ganz neuen, erst seit dem Code Napoléon bekannten Argument des Völkerrechts, das gewissermaßen auch eine Utopie war. Die Ansprache an seine nationalistischen Gegner setzt er so fort: Elsaß und Lothringen kann ich freilich dem deutschen Reiche nicht so leicht einverleiben, wie ihr es tut, denn die Leute in jenen Landen hängen fest an Frankreich wegen der Rechte, die sie durch die französische Staatsumwälzung gewonnen, wegen jener Gleichheitsgesetze und freien Institutionen, die dem bürgerlichen Gemüte sehr angenehm sind, aber (Herv. JJC) dem Magen der großen Menge dennoch vieles zu wünschen übriglassen. (Ebd. 432f.)

Die Argumentation wird, wie üblich bei Heine, mit einer Pointe durchbrochen. Mit einem einfachen »aber« werden die idyllische Beschreibung der Staatsumwälzung und das positive politische Argument der Gleichheitsgesetze durch die praktische Feststellung der negativen Wirklichkeit nuanciert. Gleich danach zählt er – neben der selbstverständlichen Beseitigung des Hungers – die Voraussetzungen für den physischen und geistigen Wohlstand der Bevölkerung auf: Indessen, die Elsasser und Lothringer werden sich wieder an Deutschland anschließen, wenn wir das vollenden, was die Franzosen begonnen haben, wenn wir diese überflügeln in der Tat, wie wir es schon getan im Gedanken, wenn wir uns bis zu den letzten Folgerungen desselben emporschwingen, wenn wir die Dienstbarkeit bis in ihrem letzten Schlupfwinkel, dem Himmel, zerstören, wenn wir den Gott, der auf Erden im Menschen wohnt, aus seiner Erniedrigung retten, wenn wir die Erlöser Gottes werden, wenn (alle Herv. JCC) wir das arme, glückenterbte Volk und den verhöhnten Genius und die geschändete Schönheit wieder in ihre Würde einsetzen, wie unsere großen Meister gesagt und gesungen und wie wir es wollen, wir, die Jünger […] (Ebd. 432f.)

Das Zitat enthält den absoluten Kern der Heineschen Utopie. Die letzten Zeilen dieses Absatzes darf ich noch hinzufügen, um seinen Gedanken abzurunden. Diese vier Zeilen zeigen außerdem noch einen Gegensatz zur eben erwähnten völkerrechtlichen Argumentation, und damit wird sein Inhalt als eindeutige Parodie bloßgestellt: – ja, nicht bloß Elsaß und Lothringen, sondern ganz Frankreich wird uns alsdann zufallen, ganz Europa, die ganze Welt – die ganze Welt wird deutsch werden! Von dieser

Utopie als Ironie bei Heine Sendung und Universalherrschaft Deutschlands träume ich oft, wenn ich unter Eichen wandle. Das ist mein Patriotismus. (Ebd. 432)

Die komprimierten Ideen, die Heine im Vorwort zum Wintermärchen bietet, entwickelt er in den folgenden 27 Kapiteln; hier können nur diejenigen erwähnt werden, die sich mit Utopie und Exil befassen, obwohl er nur sehr selten einzelne Aspekte behandelt, ohne direkte oder indirekte Anspielungen beziehungsweise Ideenassoziationen beizumischen. Gleich im ersten Kapitel berichtet er von seinem Gefühl, nach langem Exil wieder die deutsche Sprache zu vernehmen. Das kleine »Harfenmädchen«, das er an der Grenze zur Heimat hörte, sang »mit wahrem Gefühle« aber »mit falscher Stimme«, sie sang »[d]as alte Entsagungslied/Das Eieiapopeia vom Himmel«. Der Dichter will demgegenüber »ein neues Lied, ein besseres Lied« dichten, das die utopische Antwort auf alle Bedingungssätze des Vorworts auf einmal umfasst: »Wir wollen hier auf Erden schon/Das Himmelreich errichten«. Zuerst muss der Magen der großen Menge, nicht nur von den Elsassern und Lothringern, gefüllt werden, und nicht nur mit Brot, sondern auch mit »Zuckererbsen für jedermann/Sobald die Schoten platzen!« Das neue Lied wird dann zu einem Hochzeitskarmen, denn »die Jungfer Europa ist verlobt/ Mit dem schönen Geniusse/Der Freyheit […] Sie schwelgen im ersten Kusse./ Und fehlt der Pfaffensegen dabey,/Die Ehe wird gültig nicht minder.« (Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 4, 93) Der Dichter bringt neue Ideen aus seinem Exilland mit, aus dem Land der Freiheit, die in seiner Heimat noch utopisch sind. Das Gedicht beschreibt die Fahrt von der Grenze bis nach Hamburg, wo er seine Mutter und seinen Verleger besuchen will. Die Reise bringt ihn durch Städte und Orte, deren Beschreibungen den zweiten Teil des Titels rechtfertigen: Deutschland in einem winterlichen Zustand, physisch und geistig eingefroren, ohne jede Veränderung seitdem er im Exil war. Daher lautet der erste Vers der ersten Strophe, wie bekannt, »im traurigen Monat November« – obwohl er schon im Oktober unterwegs war, aber vielleicht war es ihm mit dem November leichter, eine traurige Atmosphäre zu evozieren; vielleicht wollte er das Gedicht vom Stil einer Reisebeschreibung abgrenzen. Dies kann auch der Grund sein, weswegen er nicht die Orte der Hinreise beschreibt, sondern die der Rückreise. Das ist aber hier ziemlich unwichtig. Nach den schönen Gefühlen und Gedanken im ersten Kapitel sieht sich der Dichter mit der grauen Wirklichkeit konfrontiert. Mit dem preußischen Militär, dem »hölzern pedantischen Volk«, das immer noch mit dem »gehassten Vogel im Posthausschild« seine Präsenz beweist; mit den preußischen Douaniers, die nach verbotenen Büchern suchen und an die Zensur erinnern. Der unvollendete Dom zu Köln bringt ihm auch keine guten Erinnerungen, eher denkt er daran, dass er »die Bastille des Geistes« und ein »Riesenker-

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ker« für »die deutsche Vernunft« sein sollte; sogar der Vater Rhein kann nur »mit seltsam grämlichen Tönen« auf seine Fragen antworten; und nicht besser sieht es auf dem Kyff häuser aus, wo sich der Dichter mit dem Kayser Rotbart »zankt« etc. Erst in Hamburg wird er von den »Sternen am Himmel gegrüßt« und »die Luft war lind und labend«. Er besuchte die Mutter, die »glücklich und munter war«, und dann den Verleger, der ihn zu Austern und Rheinwein einlud. Danach schlenderte er durch die Straßen, und der Leser staunt, nicht so sehr darüber, dass der Dichter auf die anrüchige Drehbahn kommt, als vielmehr, dass er dort gerade Hammonia trifft, »Hamburgs beschützende Göttinn!« (ebd. 145), die ihm hilft, seine letzte Utopie zu entdecken: Sie zeigt ihm die Zukunft Deutschlands, aber auch unter einer Bedingung, und zwar, dass er nicht sagen darf, was er »geschaut« hat. Er darf höchstens sagen, was er »gerochen« hat. Sie zeigt ihm einen alten Sessel, und sagt: »Doch gehe hin und hebe auf/Das Kissen von dem Sessel, […] Und steckst du in die Ründung den Kopf,/So wirst du die Zukunft schauen –« (ebd. 152). Das macht er auch und hält sein Wort, er sagt nicht, was er gesehen hat, sondern: »Entsetzlich waren die Dufte, […]/Es war, als fegte man den Mist/Aus sechs und dreyzig Gruben« (ebd. 153) – die damalige Zahl der »souveränen Fürsten und freien Städte« des Deutschen Bundes. Heine bedauert, dass sich Deutschland in einem so kläglichen Zustand befindet, wie er es beschreiben musste, und er kann nicht umhin, als eine utopische Zukunftsvision »in warmen Sommertagen« anzubieten. Aber dafür muss er auch, wie im Vorwort, etwas noch nicht Existierendes als wirklich darstellen: Was sich in jener Wundernacht Des Weitern zugetragen, Erzähl’ ich Euch einandermahl, In warmen Sommertagen. Das alte Geschlecht der Heucheley Verschwindet Gott sey Dank heut, Es sinkt allmählig in’s Grab, es stirbt An seiner Lügenkrankheit. Es wächst heran ein neues Geschlecht, Ganz ohne Schminke und Sünden, Mit freyen Gedanken, mit freyer Lust – Dem werde ich Alles verkünden. (Ebd. 155)

Mit diesen Strophen schließt er die Klammer, die der anfängliche »Winter« im Untertitel eröffnet hatte. Er erlaubt sich noch das sarkastische Wortspiel

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mit dem Grund des Todes jener Heuchler: *Lügenkrankheit anstatt Lungenkrankheit. Im Vorwort hatte Heine auch versprochen, »in einem nächsten Buche auf dieses Thema zurückzukommen«; aus welchen Gründen auch immer hat er es nicht getan. Aber er war im Glauben, dass »warme Sommertage« mit der neuen Generation kommen würden; und er beschrieb sie so ungenau wie die Lösung der angeprangerten Probleme. Als hypothetische Erklärung für seine Ungenauigkeit könnte sein Bewusstsein erwägt werden, das er in einem Artikel von 1832 so formulierte: »Der Schriftsteller, welcher eine soziale Revolution befördern will, darf immerhin seiner Zeit um ein Jahrhundert vorauseilen.« (Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 12/1, 181) In derselben Richtung interpretiere ich die Aussage von Jan-Christoph Hauschild (236): »Heine war ein Partisan der Menschenrechte. Er bezog sich dabei auf die ›Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen‹ von 1789, die für ihn die ›zehn Gebote des neuen Weltglaubens‹ enthielt.«6 Noch weniger genau als die Lösung der Probleme sah Heine die gesellschaftlichen Veränderungen der künftigen Jahrzehnte voraus; einige – zu seinem Glück – hat er nicht voraussehen können, insbesondere solche nicht, die weniger als ein Jahrhundert nach seinem Tod die größte Schande Deutschlands verursachen würden, mit einer noch größeren Umwälzung und einem noch unerhörteren Exil.

B ibliogr aphie Adorno, Theodor W. »Die Wunde Heine«. Noten zur Literatur, Bd. I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1958. Faenders, Walter. Avantgarde und Moderne. 1890-1933. Stuttgart: Metzler, 2010. Raddatz, Fritz J. Taubenherz und Geierschnabel. Heinrich Heine. Eine Biographie. Weinheim/Berlin: Beltz Quadriga, 1997. Hauschild, Jan-Christoph. »Lieber Harry, gut, daß du tot bist«. Ein Mann wie Heine täte uns Not, Hg. Marisa Siguan/Jordi Jané/Macià Riutort. Tarragona: Sociedad Goethe en España, 2007. Heine, Heinrich. Werke [nach der Düsseldorfer Ausgabe], hhp.uni-trier.de/Pro jekte/HHP/werke. — Briefe [nach der Weimarer Säkularausgabe HSA], hhp.uni-trier.de/Projekte/ HHP/briefe.

6 | Seine Zitate stammen aus Ludwig Börne. Eine Denkschrift. Zweites Buch. Heine huldigt Lafayette an dieser Stelle, vgl. Düsseldorfer Ausgabe, Bd. XI, 49.

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— »Der Schwabenspiegel«. Jahrbuch für Literatur 1 (1839), www.hein rich-heine-denkmal.de/heine-texte/schwaben.shtml. Letzter Zugriff: Dezember 2016. — Werke und Briefe in zehn Bänden. Hg. Hans Kaufmann. Berlin/Weimar: Auf bau, 1961-64.

Das Schweigen Gottes Die Metapher der Vorhölle in Peter Weiss’ Ästhetik des Exils Germán Garrido Miñambres

Das Werk Peter Weiss’ wird gewöhnlich nicht unter dem Gesichtspunkt der Exilliteratur betrachtet, obwohl es nicht nur ausschließlich im Ausland verfasst wurde, sondern auch zahlreiche Zeugnisse einer persönlichen Exilerfahrung enthält. Tatsächlich lassen viele seiner Texte eine deutliche Spannung zwischen Exil und Utopie erkennen, deren letzte Folgen in der Ästhetik des Widerstands offensichtlich gemacht werden. Dass Weiss in Dantes Vorstellung der Vorhölle ein zutreffendes Bild für das Exil fand, lässt sich nur teilweise aus der engen Beziehung dieser Metapher mit der poetischen Tradition des Exilanten als lebendem Toten erklären. Erst aus der Gewissheit, dass die Lage des Exilanten durch eine feste politische Überzeugung überwunden werden kann, ergibt sich die Gültigkeit der Vorhölle als Metapher einer extremen Lebensentsagung. Während Weiss’ frühere Erzählungen wie Der Schatten des Körpers des Kutschers als Ausdrucksversuche eines solchen Verzichts zu verstehen sind, will die Ästhetik des Widerstands sie mit einer utopischen Sicht konfrontieren und damit als notwendige Durchgangsphase einer umfassenderen Bildungsentwicklung begreifen.

1. W eiss ’ E migr ation Peter Weiss lebte von 1940 bis zu seinem Tod im Jahr 1982 in Schweden. Auch nach dem literarischen Erfolg in den 60er Jahren hat er die Möglichkeit einer Rückkehr nach Deutschland nicht in Betracht gezogen. Bekannt sind sowohl seine problematische Auseinandersetzung mit der Gruppe 47 als auch seine Entscheidung, unparteilich gegenüber der Teilung Deutschlands zu bleiben. In der Ästhetik des Widerstands (erschienen in drei Bänden) schilderte er das Leben einer Alter Ego-Figur aus der Arbeiterklasse vor dem Hintergrund des politischen Kampfes zwischen Faschismus und Sozialismus. Im ersten Band der Ästhetik des Widerstands, während der Beteiligung des Ich-Erzählers als

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Germán Garrido Miñambres Mitglied der Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg, differenziert Hodann, eine Romanfigur, die von der Sekundärliteratur mit Dantes Vergil verglichen worden ist (Birkmeyer 189-198; Wöhl 123), folgendermaßen zwischen Exil und Emigration: Der Unterschied zwischen einem Emigranten und einem politischen Verbannten ist […], dass der eine sich in eine Fremdheit, in ein Vakuum versetzt fühlt, dass ihm das Gewohnte und Heimatliche auf eine schmerzliche Art fehlt, dass er oft nicht verstehen kann oder verstehen will, was ihm widerfahren ist und dass er sich abwechselnd mit seinem persönlichen Leiden und den Schwierigkeiten der Umstellung und der Versuche, sich in ein neues Land anzupassen, herumschlägt, während der andere nie sein Ausgestossensein akzeptiert, stets die Gründe seiner Vertreibung im Auge behält und um die Veränderung kämpft, die ihm die Rückkehr einmal ermöglichen soll. Deshalb […] haben wir im Exil aufkommenden Ermüdungserscheinungen, Ansätzen von Psychosen aus Funktionslosigkeit heraus entgegenzuwirken und uns stets als Aktivisten zu sehen, denen unter den Forderungen geschichtlicher Ereignisse nur verschiedene Standorte gegeben sind. (Ästhetik des Widerstands, 338)

Der hier mit den Begriffen der Fremdheit oder des Vakuums bezeichnete Zustand ist also nicht exklusiv für den Emigrant, er bildet auch eine drohende Gefahr für den politischen Exilanten. Anders als ersterer ist der zweite aber immer in der Lage, einen neuen Ausgangspunkt für seine kämpferische Beteiligung in der Fremde zu suchen. Vor dem ideologischen Hintergrund des Internationalismus findet er die Grundlage für eine ständige Fortsetzung seiner revolutionären Einsicht. Was für den Emigranten die Sackgasse aller vorigen Erwartungen bedeutet, wandelt sich im Fall des politischen Exilanten zu einer Zwischenzeit, zu einem Hindernis, das überstanden werden kann und deswegen überstanden werden muss. Lassen wir die willkürliche Strenge dieser Begriffsbestimmung von Exilant und Emigrant beiseite, wird der Unterschied zwischen beiden Einstellungen erst klar, wenn man Weiss’ eigene Exilerfahrung mit derjenigen seiner Wunschbiographie in der Ästhetik des Widerstands (Haiduk 62) vergleicht. Die Psychosen aus Funktionslosigkeit, von denen im oberen Zitat die Rede war, entsprechen in der Tat Weiss’ selbstdiagnostizierter Schizophrenie der ersten Exiljahre.1 Anders als der politische Exilant verfügt der Emigrant nach Weiss über keine Zukunftsperspektive, er fühlt sich in einem leeren Raum isoliert, der ihn von seiner Umwelt trennt. Damit unterscheidet sich seine Isolierung kaum von der oft erwähnten Spaltung zwischen einer künstlerischen Subjektivität und einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Aus diesem Grund 1 | So in den Notizbüchern: »Ich bin nur ein Fremdling, ein Schatten meiner selbst, der ruhelos umgeht« (624).

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konnte Weiss seine Ankunft in Stockholm nicht als eine wahre Zäsur seines Lebenslaufs, sondern nur als die Bestätigung einer bereits existierenden Lebensentfremdung begreifen: »Die Emigration hatte mich nichts gelehrt. Die Emigration war für mich nur die Bestätigung einer Unzugehörigkeit, die ich von frühster Kindheit an erfahren hatte […]. Diese Zeit war eine Wartezeit für mich, eine Zeit des Schlafwandels« (Abschied von den Eltern, 149). Nicht als Staatsbürger, sondern als Künstler hat Weiss also ursprünglich seine Vertreibung aus einer Gesellschaftsordnung empfunden. Die autobiographischen Erzählungen Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt enthalten zahlreiche Belege des spannenden Verhältnisses zwischen künstlerischer Personalität und öffentlicher Gemeinschaft. Wenn beide Romane von einem gemeinsamen Faden durchkreuzt werden, so ist dieser mit Sicherheit die Entwicklung von einer pathologischen Beschränkung zu einer möglichen Befreiungsform. Anstatt über den Mangel eines sicheren Orientierungspunkts zu klagen, soll dieser letztendlich als Bruch mit den falschen Gewissheiten einer bürgerlichen Existenz gefeiert werden: »Nur für meine Flucht, meine Feigheit, wollte ich eintreten, keinem Volk, keinem Ideal, keiner Stadt, keiner Sprache angehören, und nur in meiner Losgelöstheit eine Stärke sehen« (Fluchtpunkt, 37). Stellt man fest, dass Weiss am Anfang seine eigene Exilerfahrung nicht von einer bereits existierenden Lebensentfremdung unterschied, lässt sich diese folgerichtig mit der Tradition des Exils als einer allgemeingültigen menschlichen Einstellung vereinbaren (Koopmann). Plato und Plutarch fanden bereits den letzten Trost des Exilanten in der Bestätigung, dass seine Lage diejenige jedes Menschen ist. Die Entfernung zur geographischen Heimat hilft jene zur ursprünglichen Heimat des menschlichen Geschlechts in den Sternen deutlich zu machen. Die Rhetorik und Poetik der Neuzeit und des Barocks sahen auch eine Rechtfertigung des Exils in diesem Motiv. Erst dem romantischen Idealismus wird es gelingen, aus diesem Gemeinplatz eine teleologisch orientierte universelle Bezeichnung des Exils als allgemeines menschliches Schicksal zu machen. So verfährt auch Hegel in der Phänomenologie des Geistes, wenn er sich folgendermaßen auf das Exil aus dem göttlichen Ursprung bezieht: »Von allem was ist lag die Bedeutung in dem Lichtfaden, durch den es an den Himmel geknüpft war; an ihm, statt in dieser Gegenwart zu verweilen, glitt der Blick über sie hinaus, zum göttlichen Wesen, zu einer, wenn man sagen kann, jenseitigen Gegenwart hinauf« (16). Im Einklang mit dieser Tradition wird die moderne Literatur ihre Identität in einem sowohl existenziellen als auch sprachlichen Ausschluss finden.2 Eine ähnliche Absicht lässt sich in Weiss’ erstem auf Deutsch verfassten Ro2 | Zur Unterscheidung zwischen der metaphorischen und der historisch-politischen Bedeutung von Exil siehe Englmann 6; Bischoff 109.

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Germán Garrido Miñambres man, Der Schatten des Körpers des Kutschers, erkennen. Das Landhaus, in dem er und seine Frau 1942 einen Monat verbracht hatten (Fluchtpunkt, 42), bildet den Schauplatz, wo sowohl die Handlung als auch die Psychologie der Charaktere oder die Formulierung eines bestimmten Themas vermisst werden. Die räumliche Wahrnehmung des Hauses durch den Ich-Erzähler entspricht den Voraussetzungen des von der Exilliteratur oft erwähnten Nicht-Ortes. Mit Recht hat die Forschung in diesem imaginären Raum eine Vorahnung von Weiss’ späteren politischen Interessen gesehen (Söllner 130-144; Langston). Auch wenn die zahlreichen Anspielungen auf Themen des nachfolgenden Werks nicht zu leugnen sind, bleibt unbestritten, dass Weiss’ Erzählung in erster Hinsicht der Wiedergabe der psychotischen Abbrüche seiner unmittelbaren Exilerfahrung gilt. Exemplarisch dafür ist das Motiv des verlorenen Sohnes. Wie man aus einer detaillierten Beschreibung in Fluchtpunkt (47) schließen kann, hat sich Weiss mit Dürers Holzschnitt kurz vor seinem Aufenthalt im Landhaus beschäftigt. Die Zusammenhänge zwischen dem Kunstwerk und dem persönlichen Erlebnis hilft die künstlerische Bearbeitung des letzteren durchsichtig zu machen. Die problematische und konflikthafte Beziehung des Autors mit seiner Familiensphäre findet damit eine unbestimmte Entsprechung auf der textuellen Sinnebene. Und so wie der Ich-Erzähler ein distanzierter Zuschauer der fiktionalen Welt bleibt, ist er auch nicht in der Lage, einen vollständigen Bericht derselben zu bieten. Die Unmöglichkeit, der wahrgenommenen Umwelt eine einheitliche Ausdrucksform zu geben, steht demzufolge in engem Zusammenhang mit der Unfähigkeit, eine sichere Stellungnahme in derselben Umgebung zu finden, oder, anders gesagt, die vom Text mitgeteilte Entfremdungsform wird parallel zu den Ansprüchen seiner künstlerischen Experimentalität entwickelt.

2. W eiss ’ E xil Erst mit der Wiederaufnahme seiner Biographie als Wunschbiographie in der Ästhetik des Widerstands gelingt es Weiss, die Problematik des Exils in allen ihren Aspekten zu berücksichtigen. So gibt ihm die Lage der weiblichen Romanfigur Bischoff in Stockholm zum ersten Mal Anlass, die gesetzliche Ohnmacht des Flüchtlings im Angriff zu nehmen: Zu Verteidigern hatte der verhaftete Flüchtling keinen Zugang, er befand sich außerhalb des Rechts, oder vielmehr, er wurde einbezogen in eine zwischenstaatliche höhere Legalität, die seine totale Isolierung und persönliche Ausschaltung voraussetzte und allein das Interesse der Nation als maßgebend aufstellte. (Ästhetik des Widerstands, 553)

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Der Ich-Erzähler teilt aber mit Bischoff nicht nur die Ohnmacht ihrer gesetzlichen Lage, sondern auch die Symptome einer Lebensausschaltung. Aus dieser Trägheit ergibt sich die Notwendigkeit der politischen Beteiligung. Was Weiss als bürgerlicher Künstler nicht erkennen konnte, wird ihm in Form der unpersönlichen Symptome einer sachlich beschriebenen Krankheit durchschaubar. Der Weg aus der direkten Beteiligung an politischen Vorgängen und Auseinandersetzungen in den Bereich einer mahlenden Monotonie brachte mich jener Passivität nah, die immer die stärkste Bedrohung unseres Selbstvertrauens ausgemacht hatte. Vergangenes, Verbrauchtes dominierte den Arbeitsplatz. Manchmal war mir, als sei ich in die Situation des Analphabetentums geraten, in der es nichts anderes gab als eine trübe Unveränderlichkeit, einen fortwährenden Stillstand, und in der jener Impuls von einer Gleichgültigkeit umfangen, jeder Ansatz zum Nachdenken zermahlen wurde. (Ebd. 579-581)

Aber nur die Aufnahme von Dantes Kosmologie wird endgültig alle Auswirkungen des politischen Exils offensichtlich machen. Mehrmals hat sich Weiss mit dem Projekt einer Wiederschreibung der Göttlichen Komödie konfrontiert, erstmals in der Form eines Deutschen Theaters, später als Welttheater und letztendlich als Künstlerdrama.3 Bereits in der ersten Phase des Deutschen Theaters plant er ein Werk in drei Teilen, die Dantes drei Bereiche von Himmel, Fegefeuer und Hölle entsprechen sollten. Während aus dem Himmel-Teil das Stück Die Ermittlung wurde, und das Inferno-Drama erst nach dem Tod des Autors bekannt geworden ist, hat Weiss bald auf die Abfassung des Fegefeuers verzichtet. Nicht vom Fegefeuer, sondern von der Vorhölle ist aber in der Ästhetik des Widerstands die Rede, und zwar zu einer Zeit, als Weiss’ Dante-Projekt schon zahlreiche Veränderungen erlebt hatte. Die Stelle befindet sich nicht zufällig im Mittelpunkt des Romans, kurz vor dem Schluss des ersten Teils des zweiten Bandes. Nach seinem Aufenthalt bei den internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg ist der Erzähler nach Stockholm gekommen, wo er auf Befehl der Partei eine unauffällige Arbeiterexistenz verbringt. Der Ausschnitt gilt als musterhaftes Beispiel für die oft gelobte MontageTechnik des Autors. In diesem Fall geht Weiss von zwei künstlerischen Quellen aus, Meryons Holzschnitt La Morgue aus dem Jahr 1854 und den Versen aus dem dritten Gesang von Dantes Göttliche Komödie, um sie sowohl mit der gegenwärtigen Erfahrung des Ich-Erzählers in Stockholm als auch mit seinen letzten Erinnerungen aus der Pariser Zeit in Beziehung zu bringen. Der Hinweis auf Meryons Holzschnitt ist schon deshalb von Bedeutung, weil er – ausnahmsweise für die Ästhetik des Widerstands – ohne Rücksicht auf den 3 | Zur Geschichte des Dante-Projekts siehe Wöhl 87-94. Es bleibt immer noch umstritten inwieweit Die Ästhetik des Widerstands auch als Teil dieses Projekts zu verstehen ist.

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Germán Garrido Miñambres materiellen Zugang der Hauptfigur zum künstlerischen Werk gegeben wird. Während Weiss sonst eine Ausrede sucht, um die unmittelbare Betrachtung des Kunstwerks durch den Ich-Erzähler zu rechtfertigen, stellt er sie in diesem Falle wie aus dem Nichts vor. Meryons Bild wählt als Hintergrund die anfangs des neunzehnten Jahrhunderts noch existierende Morgue am Ufer des SeineFlusses aus, um eine alltägliche Szene des Stadtlebens zu schildern: Die Leiche eines Ertrunkenen wird von einer kleinen Gruppe zur Morgue gebracht und von einer breiteren Reihe zufälliger Zuschauer beobachtet. In seiner Beschreibung der Stadtlandschaft hebt Weiss verschiedene Aspekte hervor, wie die gleichgültige Haltung der Zuschauer, die bedeutende Stelle des langen Bootes im Vordergrund des Bildes, oder das unheimliche Aussehen der Morgue-Fassade und der Gebäude herum. Bestimmt steht Weiss’ Aufmerksamkeit für Meyrons Holzschnitt im engen Zusammenhang mit seinem Interesse für Géricaults Zeitepoche. Hatte seine Deutung von dem Floss der Medusa bereits die Anziehungskraft des Todes für den modernen Künstler offensichtlich gemacht, so will er jetzt Meryons Bild als Zeugnis derselben Neigung zeigen. Die Beschreibungen des von ihm nur vermuteten inneren Raums der Morgue lässt sich nur aus seiner Begeisterung für Géricaults Schilderung der physischen Qualen auf dem Floss der Medusa verstehen. In beiden Fällen erkennt Weiss die Fähigkeit der Kunstsprache, sich an eine extreme Erfahrungssphäre des Schreckens anzupassen, die sich der rationalen Sprache entzieht. So kommt die Erzählung zur metaphorischen Bezeichnung des Bildes als »ein Einblick in die Vorhölle, die der betreten muss, der gewillt ist, den Weg durch die Erkenntnis zu gehn« (ebd. 600). Der Vergleich zwischen Meryons Abbildung und der Vorhölle bringt Weiss letztendlich zu Dantes Versen aus dem dritten Gesang der Göttlichen Komödie. Nicht im dritten, sondern im vierten Gesang beschäftigt sich eigentlich Dante mit der Vorhölle. Wem er aber schon vor der Überquerung des Flusses Acheron begegnet, sind die Stimmen der Gleichgültigen: die Seelen der Lauen, welche sich niemals für eine Partei entschieden haben und deswegen weder im Himmel noch in der Hölle einen Platz finden. Da sie zu unwürdig für die Hölle und zu edel für den Himmel sind, bleiben die Gleichgültigen in einem leeren Raum eingesperrt und von jeglicher Hoffnung auf eine zukünftige Befreiung ihres Leidens abgeschnitten. Weiss nimmt also einerseits das Schicksal der Lauen und andererseits den fiktiven Raum der Vorhölle, um die Gefahren der Exilerfahrung zu charakterisieren. Diese freie Übereinstimmung von unterschiedlichen Elementen der Göttlichen Komödie wird erst verständlich, wenn man die Stelle beachtet, wo der Erzähler seine Bereitschaft formuliert wach zu bleiben. Das erste Buch des Romans enthält eine oft zitierte Auslegung der Göttlichen Komödie, wo unter anderen Aspekten die traumhafte Natur von

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Dantes Reise betont wird, die Möglichkeit also, dass alle Figuren seines Werkes nur Gegenstand eines Traums sind.4 Die Entscheidung des Erzählers in diesem Moment anders als Dante wach zu bleiben, würde also seine Bereitschaft unterstreichen, ein lebensgefährliches Innehalten zu überstehen. Den Weg um diese Entkräftung als eine Durchgangsphase zu betrachten, die überstanden werden muss, findet er in der Zielrichtung der politischen Beteiligung. Das problematische Verhältnis des Marxismus zur Utopie, dargestellt an der Hauptfigur, wird im Roman völlig übersehen. Dafür begnügt sich der Erzähler bis zum Schluss mit einer eher vagen Vorstellung des Utopischen als dem Bestehen einer Widerstandshaltung. Ähnlich zeigt Weiss` Exil, dass die Utopie nicht auf dem festen Boden der Überzeugung gründen muss, um sich in eine künstlerische Lebenserfahrung zu verwandeln. Die Gewissheit gilt hier nicht der Realisierung einer Zukunftsperspektive, sondern nur der möglichen Durchbrechung einer fatalen Lähmung. Aber nur die Gegenüberstellung von beiden künstlerischen Quellen mit den gegenwärtigen Erfahrungen und den Erinnerungen des Erzählers macht sowohl Weiss’ Bruch mit seiner Vergangenheit wie auch seine Entdeckung einer neuen Zukunftsperspektive offensichtlich. Die Vergangenheit bezieht sich, wie schon gesagt wurde, auf die Erinnerungen der Pariser Zeit, als er Gelegenheit hatte, Géricaults Bild im Louvre zu sehen; die Gegenwart auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Fleminggata in Stockholm, wo sowohl der Erzähler als auch Weiss selbst mehrere Jahre ihres Lebens verbracht haben. In den Notizbüchern finden wir eine Zeichnung der Separator-Fabrik (42-43) in der Fleminggata, deren Gemeinsamkeiten mit Meryons Stadtlandschaft nicht zu leugnen sind. Diese öde Landschaft der Trägheit und Niederlage lässt aber der Erzähler mit der Gewissheit einer plötzlichen Entscheidung hinter sich: »Doch sank ich nicht hin, wie vom Schlaf befallen, sondern sprang die Stufen hinab, im Gewinde des Treppenhauses, dessen Perlmuttfarbe von einem Netzwerk dünner Risse durchzogen war, darin einzelne Löcher und tief eingekratzte Streifen« (Ästhetik des Widerstands, 601). Weiss findet also in Dantes Kosmologie ein hilfreiches Darstellungsmittel, um die chronische Pathologie des Emigranten in die Übergangsphase des politischen Exilanten zu verwandeln. Wie Dante gelingt es der Hauptfigur seines Romans, den klagenden Zustand der Gleichmütigen und die Schmerzen der Unentschlossenen zu besiegen, um auf den Weg in die Unterwelt einzudringen. Weiss entfernt sich damit von seiner eigenen Erfahrung, ohne aber auf sie zu verzichten. Vielmehr bietet ihm Dantes allegorische Welt die Möglichkeit, eine von Schuldgefühlen belastete Vergangenheit als Teil eines neugewonne-

4 | Zur Bedeutung von Dantes Göttliche Komödie für die Literatur des deutschen Exils siehe Hölter 197.

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Germán Garrido Miñambres nen Horizonts zu fassen: Wer sich für keine Partei entscheidet, verzichtet auf jede Gesetzesordnung und wird von der Öffentlichkeit vernachlässigt. Während eine künstlerische Subjektivität im Konflikt mit einer bestimmten Gesellschaftsordnung diese Entziehung als Bestätigung eines unvermeidlichen Glücks sehen musste, gelingt es dem politischen Exilanten, sie lediglich als eine Durchgangsperiode zu formulieren. Die Utopie taucht also beim späten Weiss auf, um die Symptome eines individuellen Erlebnisses in eine umfassendere politische Entwicklung einzufügen. Die Entdeckung einer möglichen Zukunftsperspektive als Folge seiner politischen Beteiligung reichte schon, um Weiss’ vorige Lebenserfahrung im Ausland in ein völlig anderes Licht zu stellen. Obwohl die Annahme eines politischen Bewusstseins bereits die Basis bietet, um die krankhafte Erfahrung der Emigration in die Handlungsdynamik des Exilanten zu verwandeln, zeigt Weiss’ Vorhölle, dass diese Entwicklung erst mit Hilfe einer bildlichen Kunstdarstellung vollständig begriffen werden kann.

3. D ie V orhölle als M e tapher des E xils Taucht bereits das Exil in Weiss’ erstem deutschsprachigen Roman als Ort der Entsagung auf, so wird in der Ästhetik des Widerstands zum ersten Mal Bezug auf alle seine Hindernisse und Gefahren genommen, aber damit auch auf die Möglichkeit seiner Überwindung. Eingeordnet in den Lauf einer politischen Erziehung zeigt das Exil eine vorher unbeachtete Bedrohung aber auch seine Überholbarkeit. Im Einklang mit der von Weiss in der Ästhetik des Widerstands verfolgten Zielrichtung des Kunstwerkes ist seine Interpretation sowohl des dritten und vierten Gesangs der Göttlichen Komödie als auch von Meryons Holzschnitt. Wie sonst in der Ästhetik des Widerstands steht die Kunstsprache hier dafür, die Ausdrucksmöglichkeiten der Erfahrung zu erweitern und Zeugnis des Unsagbaren zu geben (Meyer 277). Die Leiden des Exils finden demzufolge im künstlerischen Bild eine passendere Darstellung als in der deskriptiven oder analytischen Rede. Damit werden aber die Gemeinsamkeiten von Weiss’ Ästhetik des Widerstands mit den Voraussetzungen der Metaphorologie offensichtlich. Bekanntlich unterscheiden sich die von Blumenberg bezeichneten absoluten Metaphern aufgrund ihrer Fähigkeit, eine indirekte Darstellung der Vernunftbegriffe (d.h. des Undarstellbaren) zu bieten (Metaphorologie, 9-13): was die instrumentelle oder wissenschaftliche Sprache nicht mitteilen kann, wird von bestimmten Bildern einer kulturellen Tradition ausgedrückt und damit zum Teil dieser Tradition gemacht. Wie Kants Symbole aus dem § 59 der Kritik der Urteilskraft besitzen die absoluten Metaphern die Gabe, diejenigen Fragen zu beantworten, die nicht beantwortet werden können und trotzdem

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von uns immer wieder gestellt werden müssen. Ob es sich im Fall von Weiss´ Vorhölle tatsächlich um eine Metapher, ein Symbol oder eher wie bei Dante um eine Allegorie handelt, mag wichtig für die textkritische Untersuchung des Motivs in seinen verschiedenen Varianten sein, ist aber von geringer Bedeutung für die von Blumenberg gemeinten Erkenntnisreiche mancher Bildern innerhalb einer kulturellen Tradition.5 Auch Weiss geht es nicht um die Beachtung einer bestimmten Poetik, sondern um die Ausdrucksmöglichkeiten der literarischen Sprache in Bezug auf die politische Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts. Welche wäre also unter diesen Voraussetzungen die metaphorische Bedeutung und Funktion der Vorhölle angesichts der Exil-Problematik? Zwei Haupteigenschaften des Exils werden in der Ästhetik des Widerstands herausgehoben: das Gefühl eines ewigen Stillstands oder lebenden Todes und die gesetzliche Ohnmacht des Flüchtlings. Die erste stimmt – wie wir bereits erwähnt haben – mit einer uralten Tradition des Exils wie auch mit den Ängsten und Neurosen des jungen Weiss überein. Um die zweite Eigenschaft drehen sich immer wieder die Überlegungen des Ich-Erzählers im Roman, mit dem Bewusstwerden seiner Lage als Exilant in Stockholm. Beachtenswert ist, dass beide Merkmale denjenigen der seit Thomas von Aquin für den Katholizismus gültigen theologischen Doktrin des limbus patrum (die den Gerechten des alten Bundes bestimmte Vorhölle)6 entsprechen (Lacueva 99-104); die Anwesenheit der Gottesschau und des Zeitverlaufs. In der christlichen Vorhölle fehlt die Stimme Gottes, ihre Schutzgabe, sowie auch die Hoffnung sie irgendwann wieder zu hören (De Eguileta 135-140). Es ist aber gerade diese Unüberwindlichkeit im Schicksal des Verbannten, die in Weiss’ Bearbeitung desselben Stoffes vermisst wird. An ihre Stelle tritt ein »Weg der Erkenntnis«, der nach dem Vorbild von Dantes diritta via die Möglichkeit bietet, alle Hindernisse eines irrtümlichen Lebens zu besiegen. Ähnlich widerspricht Blumenberg einer weit verbreiteten Auslegung seiner Metaphorologie als eingeschränkte Bestätigung des überlieferten Kanons, wenn er in der Weltmetapher des Buches eine Fragestellung der theoretischen Empirie als »die natürlichste Sache der Welt« sieht (Lesbarkeit der Welt, 11). 5 | Blumenberg selbst unterscheidet den Begriff der Metapher nicht immer genau von anderen rhetorischen Figuren, vielmehr wird dieser oft mit demjenigen des poetischen Bildes überhaupt gleichgestellt. 6 | Obwohl beide Merkmale im Prinzip ebenso auf den limbus puerorum oder die Vorhölle der ungetauften Kindern zutreffen könnten, fällt sofort auf, dass der limbus patrum von dieser metaphorischen Mitteilung vorangezogen wird. Es sei hier zum Beispiel an Borges’ Lektüre von Dantes Text erinnert, wo die im Schloss eingesperrten Weisen und Dichter der Antike als Opfer einer schmerzlichen Sehnsucht beschrieben werden (347).

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B ibliogr aphie Birkmeyer, Jens. Bilder des Schreckens, Dantes Spuren und die Mythenrezeption in Peter Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands. Wiesbaden: DUV, 1994. Bischoff, Doerte. »Avantgarde und Exil«. Exil-Forschung. Ein internationales Jahrbuch 16 (1998): 105-126. Blumenberg, Hans. Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998. — Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000. Borges, Jorge Luis. Nueve ensayos dantescos, Obras completas 3. Barcelona: Emecé, 1989. De Eguileta, Joaquín Antonio. Pláticas doctrinales o explicación de toda la doctrinacristiana 1. Oficina de Don Gerónimo Ortega, 1797. Englmann, Bettina. Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Literatur. Tübingen: Niemeyer, 2001. Haiduk, Manfred. »Dokument oder Fiktion. Zur autobiographischen Grundlage in Peter Weiss Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstands«. Die Ästhetik des Widerstands. Hg. Alexander Stephan. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983. 59-79. Hegel, G. W. F. Phänomenologie des Geistes, Theorie Werkausgabe 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970. Hölter, Eva. Der Dichter der Hölle und des Exils. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002. Koopmann, Helmut. »Exil als geistige Lebensform«. Exil. Transhistorische und transnationale Perspektiven. Hg. Helmut Koopmann/Klaus Dieter Pot. Paderborn: Mentis, 2001. 1-20. Lacueva, Francisco. Curso de formación teológica evangélica IX. Clie, 1997. Langston, Richard. »Peter Weiss and the Exilic Body«. Modernism/modernity 14-2 (2007): 273-290. Meyer, Stephan. Zum Verhältnis von Erzählen und ästhetischer Reflexion in Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands. Tübingen: Niemeyer, 1989. Weiss, Peter. Der Schatten des Körpers des Kutschers. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1960. — Fluchtpunkt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969. — Abschied von den Eltern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977. — Notizbücher 1971-1980. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981. — Die Ästhetik des Widerstands. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2016. Söllner, Alfons. Peter Weiss und die Deutschen. Die Entstehung einer politischen Ästhetik wider die Verdrängung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998. Wohl, Jürgen. Intertextualität und Gedächtnisstiftung. Die Divina Comedia Dante Alighieris bei Peter Weiss und Pier Paolo Pasolini. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2016.

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Abbildung 1: Charles Meryon: La morgue (1854)

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Max Aub, Herta Müller: Literatur und Autofiktion als utopische Projektionsräume Marisa Siguan

Die beiden Autoren, die ich hier behandle, bezeugen unterschiedliche Gewalterfahrungen, Versehrtheiten und Fassungslosigkeiten – und zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen des Exils (vgl. auch Siguan). Herta Müller erlebte die Diktatur Ceaușescus, eine sozialistische Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg, sie erlebte Unterdrückung und Gewalt, und wanderte 1987 nach Deutschland aus. Ihr Exil ist sozusagen ein, wenn auch notgedrungener und traumatischer, Weg in die Freiheit. Max Aub erlebte den spanischen Bürgerkrieg und den Untergang der spanischen Republik, ging ins Exil, wurde in französische Lager interniert und konnte schließlich nach Mexiko emigrieren, wo er 1972 starb. Sein Exil wird vom Sieg einer Diktatur bedingt, die ihn verfolgt, und von seiner unbedingten Treue zu den Besiegten. Es geht also um zwei Autoren, die Gewalt und Exil erfahren haben und aus dieser Erfahrung heraus schreiben. Ihre Texte entstehen aus dem eigenen Erleben, das sie dokumentieren möchten und von dem sie Zeugenschaft ablegen wollen, sie entstehen also aus der eigenen Biographie, aber sie schreiben keine autobiographischen Texte, sondern sie benutzen die Fiktion, sie fiktionalisieren ihr Erleben in Form von Autofiktion. Ich möchte jetzt zeigen, wie diese Autofiktion ein Instrument der Wahrheitssuche ist, auch der Distanzierung gegenüber der eigenen traumatischen Vergangenheit, und wie sie damit eine Dialektik zwischen dystopischen und utopischen Elementen auf baut, die utopische Verweise ermöglichen und bestimmend machen. Als Dokumentation der Gewalterfahrung ist es ein Schreiben, das aus der Erinnerung geschieht, insofern ist es rückwärts gerichtet, aber die Erinnerung hat immer auch einen vorwärts gerichteten Aspekt: wir erinnern, um uns im Präsens zurechtzufinden, und wir erinnern auch das, was nicht passiert ist, was aber hätte passieren können, also die vergangenen Möglichkeiten in unserem Leben, in der Geschichte. Auch hier liegt ein utopischer Moment, dem ich nachgehen möchte und der bei Max Aub besonders offenkundig ist.

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Herta Müller benutzt selber den Begriff »autofiktional«. Autofiktion heißt für Herta Müller ganz konkret Fiktion, die aus dem eigenen Erleben hervorgeht, danach Handlung und Figuren in den Romanen entwirft und auch Metaphern dafür schafft. Sie bringt die Wahrheit der Erinnerung mit ihrem Erschreiben, nicht mit der Rekonstruktion der Vergangenheit in Zusammenhang. Erlebtes verschwindet in der Zeit und taucht wieder auf in der Literatur. Aber nie hab ich eins zu eins über Erlebtes geschrieben, sondern nur auf Umwegen. Dabei hab ich immer prüfen müssen, ob das unwirklich Erfundene sich das wirklich Geschehene vorstellen kann (Müller, Immer derselbe Schnee, 84).

Das Hauptgewicht wird auf das unwirklich Erfundene gelegt, das sich die Realität vorstellen muss. Die Literatur muss der Realität gerecht werden; ihr Wahrheitsanspruch liegt jenseits der Mimesis. Sie macht das Erlebte durchsichtiger, zeigt das, was im Erleben undurchschaubar war, ist mit Nachdenken verbunden – und mit Fiktion, denn beim Schreiben wird es konstruiert, wird vermittelt. Eine Geschichte erzählen überträgt die erzählten Fakten in den Bereich der Imagination, denn Wahrnehmung ist aktiv. Das Ergebnis von Imagination und Wahrnehmung sind Metaphern, Bildervergleiche. Die Bildlichkeit ist für Herta Müller ein wesentliches Instrument ihres Schreibens. Man könnte geradezu sagen, dass Herta Müller mit den Augen schreibt. Dabei gehen die Kreativität der Vergleiche, also Metaphorik, und Kognition zusammen. Herta Müller benutzt Metaphern als Bausteine ihres Schreibprozesses, als Knoten im Netz von Bedeutungen, die der Text entfaltet. Ich verwende hier Metapher in einem weiten Sinn, der Bildlichkeit umfasst und auch Metonymie mit einschließt. Es geht mir um das Gemeinsame dieser Tropen, und zwar ganz allgemein darum, dass in ihnen verschiedene Bedeutungsbereiche aufeinander bezogen werden, sowohl durch Ähnlichkeit als auch durch Kontiguität. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sich durch die unvermuteten, neu geschaffenen Vergleiche eine neue Sicht auf die Wirklichkeit eröffnet, die eine implizite Analyse und Bewertung enthält. Metaphern sind vielschichtig; sie öffnen den Bezug zu neuen Bedeutungen, Assoziationen und Konnotationen. Sie entstehen aber im Laufe eines Diskurses, der sie bündelt; insofern schaffen sie einen neuen – natürlich kontextbedingten – Sinn. Im Hintergrund von Herta Müllers Texten steht die eigene Biographie; die Texte selbst bestehen in hohem Maße aus Erinnerungsbildern, die von Objekten der Erinnerung bestimmt sind; deshalb steht ihre Bedeutung in Beziehung mit dem Nach-denken und dem Wieder-erleben. Die Logik der Vergleiche, die Neuartigkeit der Assoziationen, Verbindungen und Ähnlichkeiten bilden die Grundelemente von Herta

Max Aub, Her ta Müller

Müllers Schreiben. »Durch das Erfinden wird die erlebte Wirklichkeit auf eine damals verpasste Wirklichkeit zurückgezwungen«, sagt sie (ebd. 115). Die Metaphern ermöglichen damit ein »Sehen als«, in dem sich sowohl eine Kritik der dystopischen Wirklichkeit darstellt wie auch über Imagination und Sprachfindung ein Verweis auf Freiheit, auf eine mögliche und nichtgegebene Freiheit, die sich (nur) in der Sprache realisiert, damit aber das Bewusstsein fördert. Imagination ist eine Art, die Erfahrung neu zu entdecken, und so gewinnt der literarische Text die Möglichkeit, auf die Realität einzuwirken. Hier, in der Sprachfindung, in der Metaphernwelt als »Sehen als«, die Herta Müller in ihren Werken auf baut, liegt der Raum für das Utopische. Sie erstellt keine Gegenwelt, sondern realisiert mit ihren Bildern eine Kritik der bestehenden Verhältnisse und eröffnet damit einen Raum der Freiheit für das Bewusstsein der Wirklichkeit, für die anderen Möglichkeiten menschlicher Beziehungen, für Freundschaft, Solidarität, Freiheit: alles das, was in der Diktatur unterbunden wird. »Den Prozess des kritischen Vergleichens zwischen der bestehenden und der entworfenen Welt in Gang zu bringen ist der spezifische Kommunikationsmodus literarischer Utopien«, schreibt Voßkamp (23). Das »Sehen als«, das die Metaphern von Herta Müller ermöglichen, würde dem entsprechen. Über ihre Vergleiche, ihre Metaphern eigentlich, schreibt sie: Erst durchs Erfinden entsteht die Überraschung, und es beweist sich immer wieder, dass erst mit der erfundenen Überraschung im Satz die Nähe zur Wirklichkeit beginnt. Erst wenn eine Wahrnehmung die andere ausraubt, ein Gegenstand das Material des anderen an sich reißt und benutzt – erst wenn das, was sich in Wirklichkeit ausschließt, im Satz plausibel geworden ist, kann sich der Satz vor der Realität behaupten als eigene, wie ins Wort geratene, aber wortgültige Realität (Immer derselbe Schnee, 98).

In diesem Raum, wo das, was sich in Wirklichkeit ausschließt, im Satz plausibel geworden ist, gibt es einen Raum für das Utopische. Denn der Raum des Utopischen bezieht sich notwendigerweise kritisch auf die Situation, in der er entstanden ist. Ich möchte jetzt zwei Beispiele aus Herta Müllers Werk dazu geben. Das erste ist die Metaphorisierung, die schließlich zu einer Symbolisierung wird, die das Taschentuch in Herta Müllers Nobelpreisrede entwickelt. Hier geht es um ein konkretes Objekt des Alltagslebens, das erinnert und metaphorisiert wird und im Laufe der Rede utopischen Gehalt gewinnt. Herta Müllers Nobelpreisrede, die in dem Band Immer derselbe Schnee, immer derselbe Onkel abgedruckt ist, beginnt mit der Frage, die ihre Mutter ihr jeden Morgen stellte, bevor sie aus dem Haus in die Schule ging: »Hast du ein Taschentuch?« Die Frage ist das Zeichen einer Komplizenschaft zwischen den beiden, ein Zeichen der mütterlichen Fürsorge als indirekte Zärtlichkeit. Das

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Taschentuch ist der Beweis der Behütung. Zwanzig Jahre später wird Herta Müller in der Fabrik, wo sie als Übersetzerin arbeitet, wegen ihrer Weigerung, als Informantin mit der Securitate zusammenzuarbeiten, aus ihrem Büro hinausgeworfen und sie versucht, sich nicht hinausekeln zu lassen. Das Taschentuch wird hier zur rettenden Instanz: Sie installiert sich mit ihren Wörterbüchern auf der Treppe und setzt sich dabei auf ihr Taschentuch, das damit zu einer Art Behausung wird. So wird das Taschentuch zu einem Artefakt der Erinnerung. Es wird in den vielen nützlichen und konkreten Funktionen erinnert, die es im Leben erfüllt: als Sonntags- und Werktagstaschentuch, zu den Kleidern passend, zum Putzen und zum Tränen-Abwischen, zum Abschied-Winken, beim Tragen einer schweren Tasche, um sich vor der Sonne zu schützen; es wird den Toten um das Kinn gebunden oder es wird ihnen damit das Gesicht zugedeckt; es hängt mit Freude und mit Trauer zusammen, mit Leben. Müller erzählt, wie der Dichter und Freund Oskar Pastior von einer alten Frau einen Teller Suppe und ein feines Batisttaschentuch bekam, in der Hoffnung, dass ihrem eigenen Sohn, der auch Lagerhäftling und weit weg von zu Hause war, von einer anderen Frau das gleiche widerfahre. Im Laufe dieser Aufzählung füllt sich das Taschentuch langsam mit einem eigenen symbolischen Inhalt: Es wird zum Symbol der Hinwendung zum Mitmenschen; die Frage »Hast du ein Taschentuch?« steht letzten Endes für die – überlebensnotwendige – Solidarität unter den Menschen. Die kleinen Gegenstände, die Objekte, die von den Menschen benutzt werden, die ihnen gehören und denen sie etwas von der eigenen Geschichte einverleiben, binden die disparaten Elemente der Wirklichkeit, des Lebens zusammen. Sie schaffen zwar keinen Sinn, aber doch Kohärenz und tragen insofern zu einer eigenen Argumentation bei, mit dem Ergebnis, dass zwischenmenschliche Ethik eine Notwendigkeit ist. Herta Müllers Poetik ist auch eine Poetik der kleinen Dinge, der Lakonie. Sie gründet in der konkret erfahrbaren Realität, die körperlich, von den Sinnen aus, erfahren wird. Und sie spricht über den Schmerz und die Beschädigung in Details. Ich möchte noch hinzufügen, dass es sich bei der Nobelpreisrede um einen Essay handelt, der in einer sehr poetischen Sprache geschrieben ist. Das zweite Beispiel entstammt aber aus ihrem literarischen Werk, also aus einem autofiktionalen Text, nämlich Herztier, dem Roman, der Herta Müller international bekannt machte. Dort wird die Aporie, eine Sprache für das Nichtgesagte, für die Opfer der Diktatur zu finden, durch eine Erzählinstanz gelöst, die den Text als Metaphernkonstellation auf baut, in welcher Visualität eine führende Rolle spielt und die Augen als fundamentales Instrument der Erinnerung eingesetzt werden. Die Bildersprache des Textes erzeugt ein dichtes Metaphernnetz mit symbolischem Charakter, und eine Dialektik von Dystopie und utopischem Raum in der Metaphernkonstruktion.

Max Aub, Her ta Müller

Herztier schildert, mit vielen Rückblenden auf die eigene Kindheit der Erzählerin, das Leben von vier Jugendlichen unter der Ceauşescu-Diktatur. Am Ende des Romans steht für die meisten Protagonisten der Tod. Der Roman ist durch die Aktionsgruppe Banat inspiriert, eine Gruppe junger Dissidenten, mit denen Herta Müller befreundet war; die autobiographischen Verweise auf die Autorin sind offensichtlich.1 Der Roman wird durch einen Dialog eingeleitet, ein Gespräch der Erzählerin mit ihrem Freund Edgar. In diesem Dialog zeigt sich das Thema des Romans in konzentrierter Form, nämlich die nahezu unlösbare Schwierigkeit, über die Opfer einer Diktatur zu schreiben: »Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, sagte Edgar, wenn wir reden werden wir lächerlich.« (Müller, Herztier, 7) Der gleiche Satz beendet den Roman, sodass wir uns fragen müssen, ob der Roman dieses ›Reden‹ erreicht hat und wie er es erreicht hat, ob er die Bedingungen aufgezeigt hat, unter denen diese Aporie sich entwickelt. Beide Handlungsalternativen haben negative Konsequenzen. Die Stille, das Schweigen ist, wenn es unangenehm wirkt, nicht unbedingt passiv, sondern kann durchaus aktiv sein. Und das Sprechen ist ganz offensichtlich aktiv. In beiden Fällen hat aber das Individuum keine Möglichkeit des angemessenen, richtigen Handelns, eines Handelns, das weder unangenehm noch lächerlich in seiner Wirkung ist. Es kann aber schwerlich darauf verzichten zu handeln. Diese Problematik durchdringt die Erzählung. Und es bestimmt auch die Suche nach einer angemessenen Sprache, um das Leben der Protagonisten zu schildern. Zwischen dem Schweigen und dem Reden steht aber das Schreiben. Es hat mit Alleinsein und Nachdenken, mit Erinnerung zu tun. Nicht die Mimesis, sondern die Poiesis wird hervorgehoben. Die Realität deckt sich nicht eins zu eins mit den Sätzen, sondern sie muss neu erfunden werden, damit etwas über sie gesagt werden kann. Wenn der Anfang des Romans das Unangenehme des Schweigens und das Lächerliche des Redens konstatiert und der Schluss des Romans diesen Satz wiederholt, kann man dies als eine geschlossene Struktur ansehen, in der das Schreiben sich dem Problem stellen muss, das eine und das andere zu überwinden, indem es aber beides thematisiert und auch bestehen lässt. Es kann jedoch auch als Hinweis auf einen Prozess interpretiert werden, der nie zu Ende geht, auf einen immerwährenden Versuch, der immer wieder von Neuem anfängt. In dem Dialog, der den Roman einleitet, sagt die Erzählerin:

1 | Hinter den Figuren stehen: Müller, ihr Mann Wagner, Georg: Rolf Bossert, Kurt: Roland Kirsch, Tereza: Müllers Freundin Jenny (ihre Geschichte wird in »Cristina und ihre Attrappe« dokumentiert). Die drei überlebten nicht das Ceauşescu-Regime.

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Marisa Siguan Ich kann mir heute noch kein Grab vorstellen. Nur einen Gürtel, ein Fenster, eine Nuss und einen Strick. Jeder Tod ist für mich wie ein Sack. Wenn das jemand hört, sagte Edgar, hält man dich für verrückt. Und wenn ich mir das denke, dann ist mir, als ob jeder Tote einen Sack mit Wörtern hinter sich läßt. Mir fallen immer der Frisör und die Nagelschere ein, weil Tote sie nicht mehr brauchen. Und, dass Tote nie mehr einen Knopf verlieren. Sie spürten vielleicht anders als wir, dass der Diktator ein Fehler ist, sagte Edgar. Sie hatten den Beweis, weil auch wir für uns selber ein Fehler waren. Weil wir in diesem Land gehen, essen, schlafen und jemanden lieben mußten in Angst, bis wir wieder den Frisör und die Nagelschere brauchten (ebd. 7).

In diesem Anfang zeigt sich schon eine Reihe von Dingen, von Objekten, die für die Entwicklung der Erzählung bestimmend sein werden. Sie erscheinen zunächst als Serie völlig beziehungsloser Bilder, die fast surreal wirkt. Aber im Fluss der Erzählung werden diese Objekte in Beziehung zueinander gesetzt, mit Bedeutung gefüllt, wird mit ihrer Hilfe durch und für die Erzählung Sinn konstruiert. Der Gürtel, das Fenster, die Nuss und die Schnur evozieren letztendlich vier Todesarten, vier Tote. Der Tod von Lola, die sich mit dem Gürtel der Erzählerin im Studentenheim erhängt, der Tod eines ihrer Freunde, Georg, der sich aus dem Fenster auf die Straße wirft, der Tod Theresas, deren Tumor sich gleich einer immer größer werdenden Nuss an der Achselhöhle zeigt, und die wahrscheinliche Ermordung von Kurt, dem anderen Freund der Erzählerin, der sich angeblich mit einer Schnur erhängt hat. Alle Objekte verweisen auf Todesarten, die der Roman anspricht. Jeder Tod ist für die Erzählerin wie ein Sack. Ein Sack ist normalerweise alles andere als ein erhabener Gegenstand, er wird eher für bäuerliche, triviale Zwecke verwendet und für den Transport von allerlei Alltagsutensilien benutzt. Das negative, schäbige Bild verändert sich aber schlagartig mit dem Zusatz, dass jeder Tote einen Sack voller Wörter hinterlässt. Von jedem Toten bleibt ein Nachlass: Dokumente, Texte, Wörter, aber geschriebene Wörter. Vielleicht sind sie genau das, was zwischen dem unangenehmen Schweigen und dem lächerlichen Reden bleibt, von dem im ersten und letzten Satz des Romans die Rede ist. In der Tat hinterlässt jeder Tote Dokumente, die als weitere Texte in den Roman eingewoben sind: das Tagebuch von Lola, die Dokumente der Unterdrückung, die Kurt gesammelt hat und die in einem Leinensack an einem Haken in einem Brunnen versteckt werden, schließlich die Briefe, die die Freunde untereinander wechseln. Darin teilen sie einander in einer vereinbarten Chiffreschrift mit, ob sie überwacht, verfolgt oder verhört wurden; sie verweisen auch auf die erinnerten Gespräche. Alle diese Dokumente werden von der Erzählerin evoziert; sie bilden damit eine polyphone Erzählstruktur und dokumentieren den Versuch, das Leben der Opfer zu beschreiben, ohne dass dieses Reden die Opfer der Lächerlichkeit preisgibt.

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Außerdem erscheinen schon in diesem ersten Dialog die Figuren des Friseurs und der Nagelschere. Obwohl sie zunächst beliebig und fast surreal erscheinen, füllen auch sie sich im Laufe der Erzählung mit kohärentem Inhalt. Sowohl der Friseur wie die Nagelschere fungieren als Bilder der Sozialisierung, der Verortung des Individuums in der Gesellschaft. Die einzigen, die sie nicht brauchen, sind die Toten. Sie sind die einzigen, die nicht mehr das ungeordnete Wachsen, das Wuchern ihres Körpers beschneiden müssen. Die Lebenden müssen dieses Wuchern kontrollieren: Lange Haare und lange Nägel sind in unserer Gesellschaft geradezu paradigmatische Zeichen von Unordnung und Verwahrlosung. Sowohl die Friseure wie auch die Nagelscheren gehören zur Ordnung und Sozialisierung der Lebenden. Sowohl die einen wie die anderen tauchen leitmotivisch im Laufe der Erzählung auf. In der Kindheit der Erzählerin, während der ersten Stufe ihrer Sozialisierung, sagt der Friseur des Großvaters dem kleinen Mädchen: »Wenn man die Haare nicht schneidet, wird der Kopf zum Gestrüpp.« (Ebd. 17) Dass der Kopf zum Gestrüpp wird, kann zweierlei meinen: Zum einen, dass die Haare wirr und unzähmbar, also nicht in Ordnung zu bringen sind; zum anderen kann sich der Satz aber auch auf den Inhalt des Kopfes beziehen, weil das Wort »Kopf« sowohl auf das Äußere wie auf das Innere verweisen kann (Schmidt 65).2 Es geht um eine repressive, gewalttätige Ordnung und Sozialisation. Denn das Mädchen bekommt diesen Satz des Friseurs zu einem Zeitpunkt zu hören, als man es mit einem Gürtel an einen Stuhl festgebunden hat, um ihm die Nägel zu schneiden, die es sich nicht schneiden lassen will. Das Mädchen phantasiert und verwandelt die Szene in einen Alptraum. Es träumt, dass ihm die Mutter nicht die Nägel, sondern die Finger abschneidet, um sie nachher zu essen. Indem die Mutter das tut, fließt das rote Blut auf den grünen Gürtel, der das Mädchen an dem Stuhl festbindet. Und das Mädchen weiß, dass man stirbt, wenn man blutet. Wenn man bedenkt, dass sich später Lola mit dem grünen Gürtel der Erzählerin aufhängt, wird ersichtlich, dass sowohl der Friseur wie die Nagelschere wie der Gürtel Elemente darstellen, die auf die Verortung des Individuums in der bestehenden Gesellschaft, in der etablierten – repressiven – Ordnung verweisen. Dabei wird auch die Gefahr deutlich, dass man die Verweigerung dieser Ordnung mit dem Tod bezahlt. Die grüne Farbe gehört ebenfalls zu diesem Konglomerat symbolischer Verweise, die im Text auf Unterdrückung hinweisen. Der Gürtel ist grün. Nach Lolas Tod verwendet die Polizei giftgrünes Pulver, um Spuren zu suchen und zu sichern. Nägelschneiden, der Gürtel und die Farbe Grün stehen somit für die Fesselung des Individuums in der Gesellschaft. Später, als die Freunde 2 | Die Analyse der Metaphern in Herztier von Ricarda Schmidt ist nach wie vor wegweisend.

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eine Geheimsprache für ihre Briefe ausarbeiten, vereinbaren sie, dass ein Satz, in dem die Nagelschere vorkommt, für ein erlittenes Verhör stehen soll. Mit dem Bild der Nagelschere wird damit ganz offensichtlich die unterdrückende Ordnung konnotiert. Die einzige Figur in der Erzählung, die dieser Nagelscherenordnung zu entfliehen scheint, ist Lola, die ihre Nägel immer in der Straßenbahn und mit einer fremden Nagelschere schneidet; damit demonstriert sie gewissermaßen eine alternative, vagabundierende Ordnung. Aber Lola bezahlt ihre Un-Ordnung mit dem Tod. Die Bilderwelt, die der Roman entfaltet, um Sinn aufzubauen, enthält noch viele weitere Bilder. Ich möchte noch eins hier erwähnen; es ist ein weiteres Beispiel für die Komplexität der vom Text aufgebauten Bedeutungen, für die Konstruktion der Bildersymbolik als Bauprinzip, und enthält auch einen utopischen Verweis: das Bild, das dem Roman den Titel gibt – das Herztier. Es hat in der Kindheit der Erzählerin seinen Ursprung. Wenn ihre Großmutter sie zu Bett brachte, sang sie ihr ein Wiegenlied: »Ruh dein Herztier aus, du hast heute so viel gespielt.« (Herztier, 40) Das klingt zunächst positiv; aber es ist wiederum nicht klar, ob es auch positiv gemeint ist. Die Großmutter selber ist eine ambivalente Figur, ihre Lieder sind es auch. Als der alkoholisierte und gewalttätige Vater stirbt, der, wenn er betrunken war, immer Lieder aus seiner »Friedhöfe machenden« Soldatenzeit sang, geht sein Herztier in die immer singende Großmutter über. Das Herztier scheint eine Metapher für die Lebenskraft der Menschen zu sein, und wie diese ist es auch ambivalent. Im Roman gibt es viele Verweise auf das Herztier der Figuren. Die jungen Freunde und Dissidenten empfinden ihr Herztier als schwach: Aus jedem Mund kroch der Atem in die kalte Luft. Vor unseren Gesichtern zog ein Rudel fliehender Tiere. Ich sagte zu Georg: Schau, dein Herztier zieht aus. Georg hob mein Kinn mit dem Daumen hoch: Du mit deinem schwäbischen Herztier, lachte er. […] Ich sagte, um mir zu helfen: Du bist aus Holz. Unsere Herztiere flohen wie Mäuse. Sie warfen das Fell hinter sich ab und verschwanden wie nichts. Wenn wir kurz nacheinander viel redeten, blieben sie länger in der Luft. (Ebd. 89f.)

Die Freunde sind schon in Gefahr und sind gerade dabei, eine Geheimsprache für ihre Briefe zu erarbeiten, um die Zensur zu umgehen. In dieser Gefahr sind ihre Lebenskräfte gering. Immerhin wird hier aber auch auf die Kommunikation unter den Freunden verwiesen, die das Herztier stärkt: Je mehr sie reden, desto länger bleibt der Atem, das Herztier in der Luft bestehen. Dabei ist nur wichtig, dass sie überhaupt reden und dass sie viel reden; der Inhalt scheint nebensächlich.

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Das Herztier der Erzählerin ist immerhin stark genug, um dem Impuls zum Freitod zu widerstehen: Ein Buch aus dem Sommerhaus hieß: Hand an sich legen. Darin stand, daß nur eine Todesart in einen Kopf passt. Ich aber lief im kalten Kreis zwischen Fenster und Fluss hin und her. Der Tod pfiff mir von weitem, ich musste Anlauf nehmen zu ihm. Ich hatte mich fast in der Hand, nur ein winziges Teil machte nicht mit. Vielleicht war es das Herztier. (Ebd. 111)

Der Verweis auf Jean Amérys Hand an sich legen zeugt von dem Ernst der Absicht, aber auch von der Widerstandskraft der Erzählerin. Das Herztier der Erzählfigur Herta Müllers hat noch Kraft genug, um den Henkersknechten zu widerstehen. Als sie im Verhör mit dem Tod durch Ertränken bedroht wird, reagiert sie mit Lebenswillen: »Der Fluß ist nicht mein Sack. Dich stecken wir ins Wasser gelingt dem Hauptmann Pjele nicht.« (Ebd. 112)3 Mit Hilfe dieser Bildstruktur und der Fokussierung des Alltagslebens der Protagonisten stellt der Roman Kausalbezüge her und zieht Konsequenzen, die im Text nicht direkt ausgedrückt werden und die den von der Diktatur ausgeübten zerstörerischen Druck auf das Individuum bekunden. Im Roman kommt ein Junge vor, der Fahrkartenkontrolleur spielt und der abwechselnd Passagier und Kontrolleur ist. Als ein Nachbar ihm anbietet, als Passagier mitzuspielen, damit er nicht dauernd die Rolle zu wechseln habe, antwortet der Junge: »Ich bin lieber alles zusammen […], dann weiß ich, wer seine Karte nicht findet.« (Ebd. 194) Dieser Junge hat die Kontrollwut der Diktatur perfekt verinnerlicht. Das Verhalten des Jungen ist nicht das einzige Zeichen der Beschädigung der Menschen durch die Diktatur. Schon im Eingangsdialog wird der Diktator selbst von den toten Freunden als ein Fehler angesehen. Selbst »ein Fehler« zu sein wird aber auch auf die noch lebenden Freunde übertragen: »Sie hatten den Beweis, weil auch wir für uns selber ein Fehler waren. Weil wir in diesem Land gehen, essen, schlafen und jemanden lieben mußten in Angst, bis wir wieder den Frisör und die Nagelschere brauchten.« (Ebd. 7) Das reine Überleben wird zu einem Fehler, die Freunde selber halten sich für beschädigt, für kontaminiert. Das führt auch zu autodestruktivem Verhalten: Georg schneidet sich vor seiner Ausreise nach Deutschland so radikal die Haare, dass einige Stellen kahl sind und seine Kopfhaut beschädigt ist. In Deutschland bringt er sich wenig später um. Das Kind, das als »das Kind« im Roman auftaucht und Szenen aus der Dorfkindheit Herta Müllers erlebt, schneidet sich selbst die Haare, bis sie schief sind und die Frisur kaputt ist. Dies bringt die Erwachsenen auf; auf die Frage, warum es das getan habe, 3 | Auch das ist autobiographisch, Herta Müller thematisiert es in dem Essay Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich.

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antwortet es: »Weil ich mich nicht leiden kann«, und weint (ebd. 231). Das Haareschneiden des Friseurs als Verortung des Individuums in der diktatorischen Gesellschaft wird autodestruktiv von den Figuren selbst übernommen. Nach dem Abschied von Theresa, der Freundin, die sich als Spitzel erwiesen hat, sagt die Erzählerin: »Ich wollte, dass die Liebe nachwächst wie das gemähte Gras. Soll sie anders wachsen, wie Zähne bei den Kindern, wie Haare, wie Fingernägel. Soll sie wachsen, wie sie will.« (Ebd. 161) Das ist ein Ausbruchsschrei aus der Ordnung der Friseure und des – ungenannten, aber allgegenwärtigen – Todes. Über die Bildlichkeit, die der Roman aufgebaut hat um eine angemessene Sprache für die Wirklichkeit der Opferexistenz zu schaffen, wird in diesem Ausbruchschrei ein Verweis auf Utopisches transportiert. Die Metaphern bekommen Sinn, indem die wörtliche Denotation verlegt wird, das Sehen von einem Objekt wird in der Sprache, mit der Sprache, auf ein anderes verlegt, und verursacht ein neues Sehen von Seiten des Lesers. Eine Metapher wäre in diesem Sinn »Sehen als«. Und »Sehen als« befreit, gibt Möglichkeit für das Unvorhergesehene – für ein Herztier wie das der kommunizierenden Freunde, oder für die wie ungemähtes Gras wachsende Liebe. Der Raum des Utopischen bei Müller wäre somit das freie Leben der Wörter, die Metaphern ermöglichen wie das Herztier, in der die Möglichkeiten des Menschen liegen, gute wie böse, individuell, nicht wiederholbar oder reproduzierbar. Oder wie das Taschentuch ihrer Nobelpreisrede, das letzten Endes für die Solidarität unter Menschen steht. Imagination ist eine Art, die Erfahrung neu zu entdecken, und so gewinnt der literarische Text die Möglichkeit, auf die Realität einzuwirken. Nun möchte ich Max Aub behandeln, dessen Leiden an der Realität in den Wunsch nach Zeitumkehrung und in den Bereich der Utopie führt, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen. Sein Exil steht unter einem anderen Zeichen als das Exil Herta Müllers, wie schon zu Anfang erwähnt. Für sie ist das Exil ein – wenn auch traumatischer – Weg in eine Freiheit, die ihr das Schreiben ermöglicht und in der sie sich eingerichtet hat. Für Aub ist es das Resultat des Sieges einer Diktatur und des Faschismus, die ihn verfolgt haben. Wenn Claudio Guillén in der europäischen Geschichte zwei gegensätzliche Haltungen gegenüber dem Exil sieht, die eine exemplarisch von Plutarch repräsentiert, der sich in das Exil fügt und Trost in der Allgemeingültigkeit der Natur und ihrer Gesetze findet, und die andere von Ovid, der permanent um die Rückkehr trauert (vgl. dazu Guillén), würde Herta Müller eher der ersten Perspektive und Aub der zweiten, ovidischen zufallen. Dass sein Trauern einer Realität gilt, die es nicht mehr gibt und der er die Treue hält, nämlich der besiegten spanischen Republik, macht seine Rückkehr unmöglich. Das Exil erweist sich gleichzeitig, nach der von Claudio Guillén so prägnanten, von Max Aub selbst inspirierten Terminologie, als ein destierro (aus dem Land) und ein destiempo (aus der Zeit) (siehe Aub, La gallina

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ciega), der Exilant wird gleichzeitig aus dem Raum und aus der Zeit gejagt. Indem er zu einer bestimmten Zeit aus einem geographischen Raum vertrieben wird, wird er auch in diesem gleichen Raum aus der Zukunft ausgeschlossen: Die Zeit geht in diesem Raum ohne den Exilanten weiter. Sie geht weiter und fördert Entwicklungen zutage, aus denen er ausgeschlossen ist, an denen er nicht teilnehmen kann und in denen er vergessen wird – so dass die Rückkehr eigentlich unmöglich ist. Im Falle der spanischen Schriftsteller, die aufgrund der langen Dauer des Franco-Regimes nicht zurück können oder wollen und die der offiziellen systematischen Auslöschung der republikanischen Memoria zu Opfer fallen, ist die Situation besonders dramatisch, auch wenn sie die Sprache der Exilländer sprechen. Max Aubs Fall zeigt es besonders klar. Die fehlende Präsenz, das Vergessen, stellt nämlich letzten Endes die eigene Position, die eigene Identität in Frage. Was für einen Sinn hat die Treue zu einer verlorenen Republik 20 Jahre später? Wem ist man eigentlich treu? Was heißt diese Treue überhaupt für das eigene Leben? 1971 schreibt Aub nach der Spanienreise, die in seinem Tagebuch La gallina ciega als radikales »desencuentro« (Missverständnis) erscheint, eine fiktive Eintrittsrede in die spanische Real Academia. Er betitelt sie folgendermaßen: El teatro español sacado a la luz de las tinieblas de nuestro tiempo. Por Max Aub. Discurso leído por su autor en el acto de su recepción académica el día 12 de diciembre de 1956. (Das spanische Theater, aus den Finsternissen unserer Zeit ans Licht gehoben. Von Max Aub. Von ihrem Autor bei der Aufnahme in die Akademie am 12. Dezember 1956 gehaltene Rede.) Die Rede entsteht aus einer utopischen Projektion, aus der Erinnerung an das, was hätte geschehen können, aus dem Kampf gegen den rückwärtsgewandten Fatalismus in der Interpretation der Geschichte. Es ist, als ob Aub Jean Amérys kämpferisch-verzweifelte und fordernde Aussage aus seinem Essay Ressentiments kennen würde: Recht und Vorrecht des Menschen ist es, dass er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen. Also auch nicht mit dem biologischen Zuwachsen der Zeit. Was geschah, geschah: der Satz ist ebenso wahr, wie er moral- und geistesfeindlich ist. Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist. (146)

Améry verlangte einen Dialog zwischen Opfern und Tätern, der nie stattgefunden hatte, und erhoffte sich von dem Eingeständnis der Schuld der Täter die Bewältigung der gemeinsamen Vergangenheit. »Zwei Menschengruppen, Überwältiger und Überwältigte, würden einander begegnen am Treffpunkt des Wunsches nach Zeitumkehrung und damit nach Moralisierung der Geschichte.« (Ebd. 143) Einen utopischeren Entwurf für die deutsche Nachkriegszeit kann man sich kaum vorstellen.

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Das Bemühen, die Vergangenheit zu analysieren, zu dokumentieren und zu erinnern, geht bei Aub auch zusammen mit dem Versuch, die Wirklichkeit, wie sie hätte sein können, zu beschreiben: Erinnern heißt für ihn auch, den verschütteten Möglichkeiten der Geschichte nachzuspüren. Der Versuch, die intellektuelle Welt zu erzählen, die mit dem Bürgerkrieg zerrissen wurde, impliziert auch die Überlegung, wie sie hätte weitergehen können, weitergehen sollen, die Potenzialitäten wieder aufzunehmen. Aubs Text fungiert in dieser Hinsicht ganz im Sinne von Ricœurs Forderung der zukunftsgewandten Vergangenheit, der Wiederbelebung von in der Vergangenheit entworfenen Vorsätzen, Versprechen und Wünschen (vgl. Ricœur 86ff.). Immerhin hatte Max Aub seine spanische Literaturgeschichte Manual de Literatura Española mit der radikalen Formulierung: »La historia es futuro«, »Die Geschichte ist Zukunft«, eröffnet (7). Die fiktive Eintrittsrede entsteht 1971, ist aber1956 datiert. Dass ein 1971 entstandener Text den Eintritt in die Akademie eines Exilschriftstellers im Jahre 1956, also noch in den schlimmsten Zeiten der Franco-Diktatur, darstellt, ist schon an sich bedeutsam genug. Er trägt, wie andere Aubs, Markierungen der außerliterarischen Realität, die die Fiktion entstehen lässt, und auch Markierungen der Fiktion, er gibt Signale von beidem an den Leser (siehe Maeding 232ff). Er ist auf dem gleichen Papier und im gleichen Satz gedruckt wie die Reden der Academia. Die Academia ist die höchste Instanz der spanischen Sprache und ihrer Normierung und Wahrung; für einen spanischen Schriftsteller ist es die höchste Ehre, in sie aufgenommen zu werden. Daher stellt die Annahme, ein renommierter Exilschriftsteller könne im Jahre 1956 aufgenommen werden, eine absolute Unmöglichkeit dar. Aber hier fängt auch schon die Konstruktion des »was hätte sein können, sein sollen« an, die utopische Folie für die Wirklichkeit; denn die Academia, die Max Aub aufnimmt, ist eine republikanische: Das »real« (königliche) der realen Real Academia de la Lengua Española ist verschwunden, und in seiner Antrittsrede richtet sich der neue Akademiker an den Präsidenten der Republik, dessen Anwesenheit aus alter Freundschaft ihn ehrt. Auf der Titelseite der Publikation steht das Wappen der Academia, aber wenn man genauer hinschaut zeigt dieses Wappen nicht die Zacken einer königlichen Krone sondern die Zinnen einer republikanischen. Paratextuell wird sowohl Realität wie Fiktion markiert, Realität simuliert und Fiktion signalisiert. Aub bietet eine Fiktion, die den Leser, der um die Unmöglichkeit des Ganzen weiß, erschüttert. Er, der seinen Romanzyklus Das magische Labyrinth der Chronik des Geschehenen gewidmet hat, wird mit seiner Rede zum Chronisten dessen, was möglich gewesen wäre. In seiner fiktiven Geschichte regiert im Jahre 1956 nicht Franco, sondern Fernando de los Ríos, ein Reformer im Zuge des regeneracionismo, und er ist nach Manuel Azaña Präsident einer demokratischen Republik. Der Rede des neuen Akademikers

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antwortet regelgerecht mit einer weiteren Rede Juan Chabás y Martí, auch ein exilierter, mit Max Aub befreundeter Schriftsteller, der zur Zeit des Discurso schon gestorben war. Er antwortet mit dem Aub gewidmeten Abschnitt aus Chabás’ 1952 publizierter Literatura española contemporánea (1898-1950). Damit wird weiterhin an der Konstruktion einer mit allen Markierungen des Realen versehenen Wirklichkeit gebaut, und intertextuell dazu ein Erinnerungsdiskurs eingefügt: Nur der Leser, der die Wirklichkeit kennt, kann um die Unwirklichkeit wissen. Die radikale Prämisse, die Aubs Rede unterliegt, ist, dass es keinen Bürgerkrieg mit Francos Sieg gegeben habe: Nur so ist es möglich, dass eine Republik herrscht. Und nur so sind ihre Akademiemitglieder möglich. Wie es in einer Publikation der Akademie üblich ist, beinhaltet auch Aubs Rede eine Liste der zurzeit ernannten Akademiker, inklusive des Datums ihres Akademieeintritts. Listen und genaue Daten gehören zu den Elementen, die besonders relevant für die Erzeugung referentieller Glaubwürdigkeit sind. Max Aub benutzt oft Listen um eine höhere Glaubwürdigkeit zu erzielen, um die Illusion der Referenz zu schaffen. Federico García Lorca ist unter Aubs fiktiven Akademikern; er ist also nicht 1936 ermordet worden; Miguel Hernández ist nicht in einem frankistischen Gefängnis zugrunde gegangen, sondern sitzt auf seinem Akademikerstuhl und lauscht Max Aubs Worten; weder Jorge Guillén noch Pedro Salinas, weder Rafael Alberti noch Luis Cernuda haben ins Exil gehen müssen. Und da es keinen Krieg gegeben hat und weder Sieger noch Besiegte sitzen sie z.B. neben José María Pemán. Die Liste der angeblichen Akademiker verzeichnet wie erwähnt auch das Datum ihrer Aufnahme in die Akademie. Auch das zeigt dem in der spanischen Literaturgeschichte kundigen Leser die Unmöglichkeit der Rede. In Aubs Akademie sitzen neben den Exilierten oder Toten auch Repräsentanten des ›inneren‹ Exils wie Blas de Otero und auch wirkliche Mitglieder der Akademie wie Camilo José Cela oder Dámaso Alonso. Aub hat mit großem Gespür die wichtigsten Autoren der spanischen Literatur im 20. Jahrhundert in seiner Akademie versammelt. Nur rund ein Drittel entspricht den im Jahr 1956 tatsächlich in der Akademie vertretenen Autoren. Das heißt, so muss es der Leser interpretieren, dass nur ein kleiner Teil der wirklich wichtigen Autoren zu der Zeit in Spanien lebte. Exilierte und Tote leben in Aubs Akademie wie in seinem Magischen Labyrinth weiter. Es hat den Bürgerkrieg nicht gegeben: Das ist die Prämisse, die seine Rede möglich und verständlich macht – und sie gleichzeitig als Fiktion ausweist. Indem Aub aber auch die Theaterszene der Gegenwart beschreibt, geht der Text weit über die Erinnerung hinaus und in den Entwurf einer Utopie über. Rafael Alberti, Federico García Lorca und Miguel Hernández schreiben weiter, Aub erfindet Titel für sie. Er setzt sie in ein Panorama, in dem er auch die Werke der vielversprechenden jungen Autoren des Moments erwähnt. Einige seiner Akademiker werden es Jahre später tatsächlich sein. Wenn er dann schlussfolgert, dass der jetzige Zustand des spanischen Theaters hoffnungs-

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voll für die jüngeren Autoren sei, und zwar »dank der Großzügigkeit eines wohlwollenden und mit der Kunst toleranten Staates, […] wissend dass es keine bessere Politik für den Menschen und der Realität für Spanien gibt« (Aub, Destierro y Destiempo, 21), ist das, auf das Jahr 1956 bezogen, wie ein Hammerschlag auf die reale Situation. Eine ideale Akademie, eine ideale Geschichte, in der der Krieg nicht geschehen wäre, lassen die Realität noch viel schmerzlicher spüren, und lassen noch 1971 die fehlenden Werke der verhinderten Autoren vermissen. Autofiktion dient dazu, schmerzliche Realität zu distanzieren, eine angemessene Sprache für das Leiden der Opfer zu finden und für die Gewalt, der sie anheimgefallen sind, an die verpassten Möglichkeiten der Geschichte zu erinnern, indem Utopisches freigesetzt wird. In den »Blauen Seiten« in Bittere Mandeln, die metapoetische Reflexionen im Roman enthalten, wird sowohl das Thema des Schreibens als Erinnerung wie das Thema der Literatur als utopische Folie für die Wirklichkeit aufgegriffen. Dies geschieht durch einen intertextuellen Verweis auf die Coplas a la muerte de su padre von Jorge Manrique. In den Coplas, die der aristokratische spätmittelalterliche Dichter dem Tod seines Vaters widmet, dokumentiert die Literatur sowohl die Vergänglichkeit des Lebens als auch das Weiterleben in der Fama, letzten Endes in der Literatur. Was ist geschehen mit König Don Juan? […] Was wurde aus Largo Caballero? Aus Besteiro? Was wurde aus Sanjurjo? Was aus Azaña? Was wurde aus Mola? Was aus den Siegern, die für einige Zeit ihre Vor- und Nachnamen auf den Schildern an Straßen und Plätzen prangen sahen? Sie waren wichtig, zu ihrer Zeit. Die anderen verschwanden früher, aber nur früher. Fürst Kutusov und Prinz Andrej leben nebeneinander, gleichwertig; Don Quijote und »so viele Weise, wie es überhaupt gegeben hat«, zusammen mit den Philipps, die dank Velázquez körperlich überleben. Bei allen Unterschieden, Asunción ist für mich wirklicher als das Dutzend Politiker und Militärs, die sich mit ihren echten Namen in diesem Labyrinth verloren haben. (Echt wegen der Ausweispapiere, weil sie ihre Namen so ›bekamen‹) (Aub, Bittere Mandeln, 486).

Das Überleben in der Erinnerung wird durch die Kunst geleistet, nicht durch Namen auf Stadtplätzen. Darüber hinaus aber weist Max Aub wie Jean Améry den durch die Kunst geschaffenen Figuren – wie zum Beispiel Asunción im Magischen Labyrinth – mehr Wahrheits- bez. Realitätsgehalt zu als realen Personen. Der Autor bürgt für ihre Wahrheit mit seiner eigenen Wirklichkeit, mit seiner eigenen Biographie. Denn der Grund dafür, dass Aub nicht aus dem Exil zurückkehren kann, ist gerade der, dass er diese Wahrheit niedergeschrieben hat: »Sein Wunsch ist es, eines Tages wieder den Boden der Städte zu betreten,

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die er vor einem halben Jahrhundert gekannt hat. Aber sie lassen ihn nicht, weil er versucht hat, auf seine Weise – wie sonst? – die Wahrheit zu erzählen.« (Ebd. 487) Implizit bleibt dabei, dass es ihm lieber wäre, zurückkehren zu können als – stattdessen – schreiben zu müssen. Schreiben ist an die Erinnerung gebunden und an die ethische Aufgabe, die verschwiegene und verletzte Erinnerung an die Besiegten zu erhalten. Dabei ist es aber auch ein Nachdenken über die Geschichte, über ihre Entwicklungen und verschütteten Möglichkeiten. Wie oben schon erwähnt, dient Autofiktion dazu, sich von einer schmerzlichen Realität zu distanzieren, eine angemessene Sprache für das Leiden der Opfer zu finden und für die Gewalt, der sie anheimgefallen sind, an die verpassten Möglichkeiten der Geschichte zu erinnern, indem Utopisches freigesetzt wird. Ich meine, dass diese verschiedenen Aspekte gerade über die Autofiktion realisiert werden können, über die kreative Imagination und ihre utopischen Verweismöglichkeiten: nicht mittels Autobiographie, nicht mittels Mimesis. Realität erscheint erst im Licht der Fiktion, nicht umgekehrt. Gerade beim Schreiben, das aus der Erinnerung entsteht und das Utopisches freisetzt: als Überlebensnotwendigkeit sozusagen, sowohl bei Aub als auch bei Müller. Dabei zeigt sich auch, dass der Begriff Utopie als Möglichkeitsdenken in der Moderne durchaus an einen Ort gebunden ist – Utopisches wird sozusagen »topifiziert«. Das wäre eine fundamentale Änderung am Begriff: schon die Moderne kann keine Inseln der Utopie mehr ausformulieren.

B ibliogr aphie Améry, Jean. »Ressentiments«. Jenseits von Schuld und Sühne, Werke 2. Stuttgart: Klett-Cotta, 2002. 118-148. Aub, Max. Manual de Historia de la Literatura Española. Madrid: Akal Editor, 1974. — »El teatro español sacado a la luz de las tinieblas de nuestro tiempo. Por Max Aub. Discurso leído por su autor en el acto de su recepción académica el día 12 de diciembre de 1956«. Destierro y Destiempo. Dos discursos de ingreso en la Academia. Valencia: Pre-Textos, 2004. 7-26. — Bittere Mandeln. Berlin: Eichborn Verlag, 2003. 486-487. — La gallina ciega: diario español, Madrid: Alba Editorial, 1971. Guillén, Claudio. El sol de los desterrados: Literatura y exilio. Barcelona: Quaderns Crema, 1995. Maeding, Linda. Kompositionen der Erinnerungen: Gedächtnis zwischen Geschichtserfahrung und Ästhetisierung in deutschen und spanischen Exilautobiographien. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013. Müller, Herta. Herztier. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 2009.

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— Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. München: Carl Hanser Verlag, 2011. — »Die Anwendung der dünnen Straßen«. Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. München: Carl Hanser Verlag, 2011. 115. — »So ein großer Körper und so ein kleiner Motor«. Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. München: Carl Hanser Verlag, 2011. 84. Ricœur, Paul. Das Rätsel der Vergangenheit: Erinnern – Vergessen – Verzeihen. Göttingen: Wallstein, 1998. Schmidt, Ricarda. »Metapher, Metonymie und Moral. Herta Müllers Herztier«. Herta Müller (Contemporary German Writers). Hg. Brigid Haines. Cardiff: University of Wales Press, 1998. 57-75. Siguan, Marisa. Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kértesz, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub. Berlin/New York: De Gruyter, 2014. Voßkamp, Wilhelm. »Einleitung«. Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Hg. Wilhelm Voßkamp/Günter Blamberger/Martin Roussel, unter Mitarbeit von Christine Thewes. Paderborn: Fink, 2013 [Morphomata 9]. 13-30.

Utopie, Zeit und Nicht-Orte im Exil

»Die Flüchtlinge trugen eine Vergangenheit in sich, die keinen Ort mehr fand.« Figurationen der Nicht-Verortung im Werk von I. Keun und U. Krechel Rosa Pérez Zancas

E inleitung : U topie – »N icht-O rte « – »H e terotopien « Während sich die literarische Utopie als »ein Produkt historischer Umbruchzeiten« (Shafi 36) definieren lässt und das »Möglichkeitsdenken […] die Voraussetzung für die Form der Utopie« (Voßkamp 22) bedingt, so erscheint die Dystopie als ihr ständiger Begleiter. Hoffnungen werden von Enttäuschungen zerstört, diese wiederrum können erneut Hoffnung erzeugen. Im deutschsprachigen Exil konnte die Aussicht auf eine baldige Heimkehr den Flüchtlingen das Warten im Aufnahmeland erleichtern. Provisorische Orte des Transits und des Wartens, die sich, wie sie der französische Anthropologe Marc Augé nennt, in Nicht-Orte verwandeln, denen es an Geschichte fehlt, wie Bahnhofshallen, Hotels, Verkehrsmittel oder Durchgangslager bzw. Städte, sind »das Gegenteil der Utopie; [sie] […] existier[en] und beherberg[en] keinerlei organische Gesellschaft.« (Augé 92-93; 130-131) Wird ein »Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet«, so »definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort« (ebd. 63). Als einen »genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort« und eine »genau bestimmbare Zeit, die sich nach dem alltäglichen Kalender festlegen und messen lässt«, hatte Michel Foucault (Heterotopien, 9) schon in den sechziger Jahren den Begriff der Heterotopien als Gegenüberstellung zur Utopie1 ausgearbeitet und ihm das utopisch Imaginäre entzogen: »Wahr1 | Den ursprünglich in der Medizin verwendeten Begriff der Heterotopien definiert Foucault erstmals 1966 in seinem Vorwort zur Studie Die Ordnung der Dinge und in

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scheinlich schneidet jede menschliche Gruppe aus dem Raum, den sie besetzt hält, in dem sie wirklich lebt und arbeitet, utopische Orte aus und aus der Zeit, in der sie ihre Aktivitäten entwickelt, uchronische Augenblicke« (ebd.). Die Heterotopien unterscheiden sich von den herkömmlichen Orten, da sie »sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.« (Ebd.) Sie haben demzufolge ihre eigenen Normen und Gesetze. Heterotopien prägen sich in jeder Kultur verschiedenartig aus und können sich nach einer bestimmten Zeit wieder auflösen. So leben wir gegenwärtig in der »Epoche des Raumes«, des »Simultanen« und der »Juxtaposition«, des »Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander.« (Foucault, Andere Räume, 34) Demgemäß lässt sich auch das Exil als Heterotopie darlegen: als ein real existierender, jedoch als ein von der Gesellschaft ausgeschlossener und entzeitlichter Raum, in dem die Existenz der sich darin Befindenden zwar fortschreitet, jedoch vom bisherigen Leben herausgebrochen und ein Anknüpfen an das Leben vor der Flucht nach einer eventuellen Rückkehr in die Heimat zum Scheitern verurteilt ist. Die Exilliteratur hat es sich zur Aufgabe gemacht, gerade das Leben in diesen von Raum und Zeit ausgegrenzten Räumen zu beleuchten und ins Bewusstsein unserer Zeit zu rücken. Dieser Beitrag befasst sich mit der Zeit des deutschsprachigen Exils nach 1945, insbesondere mit Figuren der deutschsprachigen Literatur, denn nicht nur der Weg in das Aufnahmeland und der Aufenthalt dort bilden für die Exilanten einen heterotopischen Raum, in dem sie unfreiwillig »mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen« (ebd. 43) müssen.2 In der Exilliteratur wird dieser exterritoriale und –temporale Zustand durch Diskontinuität thematisiert, der noch nach der Rückkehr in das Heimatland durch heterotopische Nicht-Verortungen währt. Dafür wurden drei Romane von zwei sehr unterschiedlichen Autorinnen – Irmgard Keun und Ursula Krechel – herangezogen. Beide Autorinnen thematisieren die Zeit nach 1945, in der die Heimkehrer ein nach außen hin verfälschtes Deutschlandbild antreffen, in das sie nicht hineingehören oder vielmehr nicht hineingelassen werden, trotz ihrer Bemühungen nicht mehr hineinfinden und folglich ein Außenseiterleben führen müssen. Es handelt sich hierbei um Irmgard Keuns Roman Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen (1950) und um die Romane Shanghai fern von wo (2008) seinem Radiovortrag Die Heterotopien. Ein Jahr später überarbeitet er ihn erneut und veröffentlicht ihn jedoch erst 1984 unter dem Titel Von anderen Räumen (vgl. Klass 263; Schäfer-Biermann et al. 49-74; vgl. auch Foucault, Andere Räume, 34-46). 2 | Foucault (Andere Räume, 43) nennt sie Heterochronien: »Die Heterotopien sind häufig an Zeitschnitte gebunden, d.h. an etwas, was man symmetrischerweise Heterochronien nennen könnte. Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.«

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und Landgericht (2012) von Ursula Krechel. Keuns Buch differenziert sich insofern von den beiden anderen, als es bereits 1950 veröffentlicht wurde und somit einen direkten Einblick in einen Teil der erzählten Zeit der Romane von Ursula Krechel gestattet. Werden in Krechels Romanen das Exil und die Rückkehr von jüdisch(stämmig)en Deutschen und Österreichern thematisiert, so fungiert die Perspektive des zurückgekehrten Soldaten im Ferdinand als Sprachrohr für die 1936 emigrierte und bereits 1940 zurückgekehrte Irmgard Keun. Trotz der unterschiedlichen Entstehungszeitpunkte teilen sie thematische Aspekte hinsichtlich der Einblicke Introspektion in das deutsche Nachkriegsland der vierziger und fünfziger Jahre: Eine wirkliche Stunde null erfahren die Protagonisten nicht. Die von den Alliierten nahezu aufgezwungene Demokratisierung bleibt oberflächlich, erscheint als bloße Mutation. Es entwickelt sich äußerst schnell eine »Schlussstrich-Gesinnung«, die besonders aufgrund der von den Alliierten geführten Entnazifizierung und durch die Währungsreform zusammen mit der sozialen Marktwirtschaft im Rahmen und der Gründung eines neuen Staates favorisiert wurde. Die in den Jahren 1945-1949 von den Alliierten durchgeführten Nürnberger Prozesse konfrontieren die Deutschen mit den Kriegsverbrechen ihres Volkes, werden aber nur zu gerne als mediale Inszenierung dämonisierter Täter und als Gerichte der Siegermächte abgetan, indem ihre Rechtmäßigkeit bezweifelt und den Alliierten vorgeworfen wird, eine kollektive Schuld der Deutschen erlangen zu wollen. Das zwischen der BRD und Israel verfasste und 1952 unterschriebene Wiedergutmachungsabkommen verspricht die Sühnung der deutschen Schuld durch finanzielle Entschädigung. Hinter dem »öffentlichen« Deutschlandbild verbirgt sich jedoch für die in diesem Aufsatz behandelten Figuren ein völlig anderes, ein entfremdetes Land. Die Vergangenheit der Opfer wird tabuisiert; der Wiederauf bau, die Wiedergutmachungsintentionen der Bundesrepublik und die Einführung der neuen deutschen Währung verblenden und vertuschen die Tatsache, dass einstige Nazis erneut auf Beamtenplätzen sitzen, viele Besitztümer aufgrund der fehlenden Nachweise nicht mehr zurückgefordert werden können oder die einstigen Deutschen nun als Staatenlose oder Displaced Persons zunächst ihre Staatsbürgerschaft beantragen müssen. Es ist die Absicht dieses Beitrages, das Phänomen der Heterotopien und der Nicht-Orte etwas auszudehnen, um sie auf literaturwissenschaftlicher Ebene anwenden zu können. Hierbei sollen folgende heterotopische Aspekte in der Exilliteratur analysiert werden: 1. Das Exil als Ort des Transits und somit ein Nicht-Ort, der sowohl topographisch existiert als auch gesellschaftlich-politisch als nicht zu durchdringender Raum. 2. Die Nicht-Verortung der Figuren nach ihrer Rückkehr in die deutsche Heimat, die sich nicht automatisch aufhebt und somit einen parallelen Raum

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bildet. Diese Nicht-Verortung findet meist an provisorischen, außerhalb der Gesellschaft liegenden Orten statt, in denen die Heimgekehrten leben und die symbolisch einen Raum der Abgeschnittenheit von der unmittelbaren Umgebung manifestieren. 3. Sprache als räumliches Gebilde, das durch die Anordnung von »Wörter[n] und Sache[n]« sichtbar gemacht wird. Heterotopien können, laut Foucault, »heimlich die Sprache unterminieren« und sie können »verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen«. Sie können die »›Syntax‹ zerstören, und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) ›zusammenhalten‹ läßt.« (Foucault, Vorwort, 20)

I rmgard K euns F erdinand , der M ann mit dem freundlichen H erzen In Irmgard Keuns letztem Romanprojekt Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen finden wir eine satirische Darstellung des nachkriegsdeutschen Kleinbürgertums. Mit dem Protagonisten, der aus der Kriegsgefangenschaft nach Köln heimkehrt3, gelingt es ihr, »die Redensarten und massenmedialen Verlautbarungen ihrer Zeit, um die Strategien der Schuldverschleierung zu entlarven« (Scherer 66). Ferdinand Timpe beschreibt autobiographisch seinen Gang durch die Nachkriegsgesellschaft, wo zwar über eine Kollektivschuld debattiert, Kriegsverbrechen und ihre Opfer jedoch verdrängt werden. Keun öffnet somit eine zweifache Perspektive zwischen kritischer Analyse und moralischer Bewertung von Bitterkeit einer nazivergifteten, politisch entstellten Gesellschaft mit »Schlussstrich-Gesinnung« der ersten fünf Nachkriegsjahre. In satirischer Manier greift der Protagonist die Sprache der Nachkriegsgesellschaft auf, indem er beispielsweise über die geglückte Entnazifizierung des Vaters seiner Verlobten Luise, der mit der Einstufung als »Mitläufer« wieder in den Beamtendienst treten kann, berichtet: Er heißt Leo Klatte und ist vorgestern entnazifiziert worden. Das Ereignis soll heute gefeiert werden. ›Eingestuft als Mitläufer‹, erzählte er mir stolz. Wer mag wohl das Wort

3 | Keuns Bruder Gerd war 1943 an der Ostfront gefallen. An Kesten schrieb sie am 10. Oktober 1946: »Dann fiel mein Bruder in Rußland, seitdem haben die Eltern nur noch mich. Kurz vor seinem Tod hat mein Bruder mir noch geschrieben, er wollte nicht mehr leben.« (Kesten 222).

»Die Flüchtlinge trugen eine Vergangenheit in sich, die keinen Or t mehr fand.« ›eingestuft‹ erfunden haben? Ob es den Ehrgeiz eines stolzen deutschen Mannes befriedigen kann, ein eingestufter Mitläufer zu sein? (Keun, Ferdinand, 101)

Die rhetorische Frage Ferdinands stellt das ganze Entnazifizierungsprogramm in Frage und weist auf die Sprachmanipulation hin, die es den Verantwortlichen gestattet, eine Opferrolle anzunehmen, um sich somit jegliche Schuld abzusprechen. Der Auf bau seiner Fragestellung deckt auf, dass seine Kritik aber nicht nur dem Ex-Nazi gilt, sondern auch den deutschen Behördenstellen und dem politischen System im Nachkriegsdeutschland schlechthin. Die in diesem kurzen Abschnitt entstandene multiple Perspektive auf die Situation eines einzelnen – Kriegsheimkehrer, entnazifizierter Nazi, politische Maßnahmen in den Besatzungszonen – hinterfragt die Einstellung der Deutschen satirisch auf die Spitze getrieben durch den Umstand, dass die Absolution des Vaters »gefeiert« werden soll. Diese Anekdote akzentuiert seinen Vertrauensverlust in die deutsche Sprache und illustriert seine Skepsis gegenüber der Demokratie im Nachkriegsdeutschland: Aus Gründen der Sittlichkeit wird heute vieles beanstandet. Diktaturen sind immer sehr streng in bezug auf das, was sie unter sittlich und Volksmoral verstehen. Die ehemalige deutsche Diktatur hat sich, nach Art niederer Lebewesen, durch Spaltung fortgepflanzt und heißt jetzt Demokratie. (Ebd. 27)

Die von den Alliierten nahezu aufgezwungene Demokratisierung bleibt Ferdinand zufolge oberflächlich und ist in Wirklichkeit eine bloße Mutation des Nationalsozialismus. Ferdinand durchschaut die Situation und setzt sich mit weiteren allgemeingültigen Begriffen aus der Zeit auseinander, die das tatsächliche Problem verbergen: Deutschland soll umerzogen werden zur Demokratie. Wann hätte je Erziehung ein gewünschtes Resultat gehabt? Die Welt klirrt in Waffen, der innerste Erdkern wurde zum glühenden Uniformknopf, Laboratorien werden zu Superarsenalen, doch Antimilitarismus ist Gebot. Warum und wozu? (Ebd. 31)

Die Aussichtslosigkeit nach Selbstverortung und seine völlige Dekonstruktion machen aus ihm einen Weltbeobachter, der nach Anpassung strebt: »Wenn einer singt, singe ich mit. […] Ich bin keine starke Persönlichkeit. Allenfalls bringe ich’s fertig, mich einer Umgebung zu entziehen, wenn sie mich anekelt.« (Ebd. 156) Ferdinand resigniert und degeneriert als Heimkehrer zum »Zuschauer seiner eigenen Wirklichkeit«: Seit undenklichen Zeiten war ich nur noch gewesen, was andere wollten. Kaum wußte ich, ob ich als selbständiges Lebewesen noch vorhanden war. […] Als ich aus der Gefan-

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In chronischer »Menschenmüdigkeit« wird Ferdinand zum Einzelgänger, der »[i]n keiner Familiengemeinschaft, in keiner Notgemeinschaft, in keiner Volksgemeinschaft, in keiner Berufsgemeinschaft, in keiner Ehegemeinschaft – in überhaupt keiner Gemeinschaft« (ebd. 88) leben will. Auch sein Zimmer verkündet den heterotopischen Aspekt der Abgegrenztheit: »ein schlauchartig in die Länge gezogener Sarg, der die Wohnküche der Stabhorns mit ihrem Schlafzimmer verbindet. Es ist ein Durchgangszimmer ohne Türen« (ebd. 18). Die Familie beansprucht diesen Raum zwar als Durchgang in verschiedene Räume, Ferdinand jedoch bleiben die Türen verschlossen. Sein Gitterbett »aus jämmerlichem Metall« (ebd. 23) beschützt ihn zwar vor seiner Außenwelt, verweist jedoch symbolisch auf seine ausweglose und apathische Situation. In diesem Zwischenraum angesiedelt, erlebt er die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die blind auf das deutsche Wirtschaftswunder zusteuert und die Entnazifizierung als eine heilende Wunderkur erfährt. Er ist ein Kriegsheimkehrer ohne Heim, dem die ersehnte Anerkennung von seinem sozialen Umfeld aberkannt wird. Seine Sehnsucht nach einem »Ort oder einen Menschen«, bei dem er »sagen muß: Ja, hier ist es, hier will ich bleiben, hier bin ich zu Hause« (ebd. 122), kann sich letzten Endes nur an einem Nicht-Ort erfüllen. Es ist das Hotel am Bahnhof, in dem seine Mutter Laura ein Zimmer reserviert hat. Bereits beim Eintreten in das Hotel spürt Ferdinand die Vertrautheit: »Ich stieg ins erste Stockwerk und empfand die liebevolle Weichheit des Treppenläufers.« (Ebd. 267) Das Zimmer ist nicht abgeschlossen: »Laura schließt nie Türen ab. Der erste heimatliche Gruß war mir diese unverschlossene Tür.« (Ebd. 267) So bleibt für Ferdinand die alte Heimat verschlossen. Nur noch im Transitären findet er Momente des Glücks und der Geborgenheit, das jedoch die Sehnsucht nach dem Verlorenen, nach der Vergangenheit nicht aufwiegen kann.

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U rsul a K rechels S hanghai fern von wo Der Schwerpunkt von Ursula Krechels Roman Shanghai fern von wo wurde zwar auf das Leben der deutschsprachigen Flüchtlinge im Shanghaier Ghetto Hongkew4 gelegt, doch auf den letzten 100 Seiten thematisiert die Autorin die Schwierigkeiten und Enttäuschungen zweier historischer Figuren: dem Berliner Buchhändler Ludwig Lazarus und dem Kunsthistoriker Lothar Brieger, die nach Deutschland zurückkehren. Dort erfahren sie abermals eine räumliche und soziale Abkapselung, wo ihre Vergangenheit keinen Ort mehr findet (vgl. Krechel, Shanghai, 421). Lazarus, eine Figur, die »den organisatorischen Kern des Romans« bildet (Walter 23) und einer von wenigen, die den Wunsch äußern, in die deutsche Heimat zurückzukehren, spürt nach seiner Ankunft in Deutschland, dass das Exil etwas in ihm verändert hat. Es lässt sich nicht mehr abstreifen und gleichzeitig wird ihm bewusst, dass sein voriges Leben unwiederbringlich ist: Es »war [für ihn] eine Verzögerung, eine Ankunft auf Raten, eine alliierte Maßnahme, kein eigentliches ›Überschreiten‹, das er wahrgenommen hatte.« (Shanghai, 486) Nach einer Zwischenstation in England kommt er »mit nichts« in Deutschland an (ebd.). Dort stößt er auf verschlossene Türen bei den Wiedergutmachungsbehörden und auf taube Ohren, wenn es um Entschädigungen für Verfolgung und Exil geht: Das wollen sie nicht zu[lassen], daß der Emigrant Zeugen benennt, auch keine Gutachter. Opfer sind keine Zeugen füreinander; Opfer sind Partei. Mit anderen Worten: ein Zeugnis hin und her, ein Zeugnis, das über die Zonengrenze hinweg zeugt, zeugt nur von Unzuverlässigkeit, es ist nicht brauchbar. […] Man vergißt besser (ebd. 488)

die Vergangenheit. Lazarus streitet als »[p]olitisch und rassisch« Verfolgter, »so heißt der Terminus der Wiedergutmachungssprache«, »obwohl er in Frieden leben [will].« (Ebd. 489) »Der Krieg ist zu Ende, der Papierkrieg beginnt.« (Ebd. 495) Er versucht in die neue »Beamtensprache einzutauchen, muss sie sich aneignen, das ›Wiedergutmachungsdeutsch […] und wenn man es gelernt [hat], [versteht] der, mit dem man es sprechen wollte, vielleicht gar nicht.‹« (Ebd. 489) Die 5.550 DM, die er als Entschädigung für seine »Freiheitsberaubung in Deutschland« erhält, berücksichtigen nicht einmal die extremen Bedingungen im Shanghaier Ghetto, da es nach Aussagen von dort stationierten Nazis in Shanghai »keine Haftstätte« (ebd. 489-90) war. Der aussichtslose Kampf 4 | Während der Kriegsjahre befanden sich an die 20.000 jüdische Exilanten aus den deutschsprachigen Ländern in Shanghai, die vornehmlich bis Dezember 1941 durch das »American Jewish Joint Distribution Committee (JDC)« mit Hilfe von Hilfsorganisationen unterstützt wurden. (Vgl. von zur Mühlen, »Ostasien«, 339-340)

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um Anerkennung seines Leidens wird zu einer neuen Lebensaufgabe, die ihn erkranken lässt. Er »schläft nicht mehr, er ißt schlecht, Furcht, Argwohn, Zorn und plötzliche Genugtuung wechseln sich ab.« (Ebd. 494) So wie schon zuvor Keuns Ferdinand nicht in das soziale Netz hineintreten kann, findet auch Lazarus keinen Eingang in die deutsche Gesellschaft. In der Nachbarschaft hat er »einen schlechten Ruf« (ebd.), weil er nachts das Licht anlässt, um in den Schlaf zu finden. Sein »Antrag auf Neubewertung seiner Haft in Brandenburg, Buchenwald, Dachau und Hongkew« (ebd. 494) bleibt ohne Erfolg. Lazarus wandelt zwischen den Behörden, die von ihm nicht vorbringbare »Urkunden […], Entlassungsscheine, einzuhaltende Fristen, Atteste, Beweise« verlangen: eine »Bescheinigungspathologie« (ebd.). Die Rechtssprache »blüht: Rückerstattungsregelung, Entschädigungsgesetz, Geldentschädigung für Freiheitsentziehung, Haftentschädigung« (ebd. 500). »Häßliche Schriftsätze, ein Hin und Her voller juristischer Bedenken« (ebd. 496) sowie Falschaussagen sind an der Tagesordnung. So behauptet z.B. ein ehemaliger Nazi, »Juden geholfen zu haben, und weiter, daß die Hilfe der deutschen Kolonie in Shanghai für das Überleben der Juden wesentlich war.« (Ebd. 495) Von den miserablen Zuständen im japanischen Ghetto will in Deutschland niemand etwas hören. Lazarus fühlt sich wie ein »Schnorrer, der den Steuerzahler und den Nachfolgestaat des Dritten Reiches um die Früchte des Wohlstandes prell[t].« (Ebd. 496) »Verfolgungsbedingte, d.h. traumatische Faktoren« (ebd.) werden ignoriert. Lazarus bleibt den deutschen Behörden kraftlos ausgeliefert. Nach seiner Abreise aus Shanghai hat sein Freund Brieger nur ein Ziel vor Augen, »eine einzige Stadt, nach der er hunger[t], und diese Stadt [ist] Berlin.« (Ebd. 421) Die Ermahnungen seines Freundes werden mit einem utopischen »lang gedehnte[n] Blick« auf das idyllische Berlin erwidert, »der Vergangenheit und eine mögliche Zukunft zusammenknüpfte« und »etwas ausließ, das meiste ausließ, die Vertreibung, die Auslöschung […]«. (Ebd. 422) Denn Brieger kann sich eine Auslöschung dieses Blickes – die Straße Unter den Linden in Schutt und Asche – nicht wirklich vorstellen, vielleicht sprach das gegen ihn. […] Er hatte sich ans Fenster gestellt, er stand da und sog das kühle, ins Violettgrau spielende Licht auf, ja, so schön kam ihm Berlin in diesem einzigen Augenblick vor, an den er sich jetzt erinnerte, daß er keinen Zweifel hatte: er mußte dorthin zurück, ins Steinerne. Die Kastanien blühten auch über den Trümmern, und der silbrige Himmel, der das Grau verklärte, glänzte. (Ebd.)

Einem Ruf von der Berliner Hochschule für Bildende Künste für eine Präsentation seiner Bücher folgend, kehrt er 1947 nach Deutschland zurück. Der Glaube, dass »es ihn noch [gibt]«, denn er hatte nicht »wirklich [gewusst], ob es ihn gegeben hatte im Wartestand«, ermuntert ihn und der Stolz bedeckt

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»[s]eine Ängste, seine Unsicherheiten« (ebd. 424). Brieger stellt sich seine Zukunft in einer Welt vor, »die sich zurückentwickeln mu[ß] zu der, die einmal bestanden hatte« und als » Frauengesicht der Gegenwart leuchte[t].« (Ebd. 427) Doch die Rückkehr hat für ihn katastrophale Folgen. Nachdem die Hilfsorganisation IRO Brieger einen Platz auf einem »amerikanischen, ganz aus Stahl gebauten Frachtschiff« nach Italien verschafft, »das zwei Monate lang unter dem Äquator entlanggondel[t] und seine Passagiere mit Gefrierfleisch ernähr[t]« (ebd. 434), reist er nach Erhalt seines Visums mit einem Bahnticket dritter Klasse »unter jämmerlichsten Umständen« (ebd. 439) fünf Wochen lang durch ganz Europa. Ein Linienbus ist im »Wohltätigkeitsprogramm nicht vorgesehen«, da dieser »zu kostbar ist für Menschen, die die letzten zehn starken Jahre ihres Lebens im Elend verbracht« haben (ebd. 438). Auch für seine Geschichte interessiert sich niemand. Denn die Aktualität ist »Deutschland […], der Verfall, das Daniederliegen, das Nichtmehrweiterwissen.« (Ebd. 440) Später dann »das weite Feld des Wiederauf baus« des »Neuen Deutschlands« (ebd.). Die Welt ist wie »verschlossen« (ebd. 441). Das Kampieren an Bahnhöfen, der schlechte Schlaf und kein »reguläres Essen« haben ihn erschöpft (ebd. 440). Die Rückkehr verzögert sich nochmals als er kurz vor Berlin an Asthma erkrankt und in einem Krankenhaus behandelt werden muss. Auch er kommt schließlich »[o]hne Gepäck« in Berlin an (ebd. 442) und muss sich sofort in einem Krankenhaus behandeln lassen. Den Flüchtling, der nun als Patient zurückkehrt und in einem außerhalb der Gesellschaft befindlichen Raum festsitzt, wo ihn niemand erwartet – nicht einmal seine Frau –, erfreut nichts mehr, nicht einmal mehr das Vogelzwitschern, das sich für ihn in ein Vogelschreien verwandelt. Er fühlt sich »sehr unglücklich und würde gerne wieder [s]ein Geschick in die eigene Hand nehmen«. (Ebd. 443) Die Sehnsucht nach Berlin, das Heimweh – »wonach, Weh, das um welches Wehtun kreiste?« (ebd. 441) – und nach der Havel muss er schließlich »teuer bezahlen«, denn Brieger stirbt einige Zeit später, ohne das Krankenhaus zu verlassen, scheinbar an den Folgen der schweren Rückreise und vielleicht auch an der Enttäuschung über seine nicht geglückte Heimkehr nach Berlin.

U rsul a K rechels L andgericht Als Ursula Krechel für ihren im Jahr 2012 erschienenen Roman Landgericht den Deutschen Buchpreis verliehen bekam, erklärte sie in ihrer Rede, das Buch sei »ein Denkmal in Denk- und Sprachräumen« (Hammelehle) für die deutschen Heimkehrer. Denn darum geht es auch in dieser Geschichte, in der sie wie in ihrem Roman Shanghai fern von wo durch das Verweben von Originaldokumenten (Briefen, Zeitungsberichten usw.) und den historischen Figuren mit der Fiktion eine intertextuelle Erzählebene erarbeitet. Die Autorin nimmt

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in ihrem zweiten Roman das Thema der gescheiterten Anerkennung von Leid auf; der Unmöglichkeit einer Eingliederung in die deutsche Gesellschaft; des Versuchs, die Familie wieder zusammenzubringen, letztendlich der utopischen Idee nach Zugehörigkeit, Gerechtigkeit und Beteiligung am Wiederaufbau eines neuen Deutschlands. Diese Feststellung muss der im März 1948 aus dem zehnjährigen kubanischen Exil5 zurückgekehrte jüdische Richter Richard Kornitzer treffen. Seine Geschichte hat drei nicht chronologisch gesetzte Schauplätze: Das Buch beginnt mit seiner Rückkehr nach Deutschland, wo seine Frau Claire ihn erwartet; schwenkt über in das Berlin der dreißiger Jahre, wo das Paar vor seiner Flucht lebte und seine beiden Kinder geboren wurden; und blickt zurück auf die Exilzeit auf Kuba, um die Geschichte in der Gegenwart abzuschließen. Seine Ankunft in Deutschland »mit einem Ausweis der Vereinten Nationen« (Krechel, Landgericht, 34) und das Wiedersehen mit seiner Frau erfolgen bereits an einem sogenannten Nicht-Ort: dem Bahnhof von Lindau. Kornitzer spürt seine »beruhigende Zivilisiertheit, die Zeitlosigkeit« (ebd. 7). Selbst die Stadt scheint sich als Gegenort zum zerbombten Nachkriegsdeutschland zu präsentieren, denn sie »[tut] so, als wäre sie ein Ding außerhalb von Raum und Zeit.« (Ebd. 13) Trotz der vielen Zerstörungen im gesamten Land ist das Gebiet völlig intakt geblieben. Kornitzer scheint es, wie an einem anderen Ort zu leben, der Krieg hat hier keine Spuren hinterlassen, die Gegend im Weiler von Bettnang präsentiert sich als Idylle. Doch Kornitzer kommt nie wirklich an. Als er am nächsten Tag die Hilfsorganisation UNRAA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) aufsucht, um sich dort, wie von ihm verlangt wird, zu melden, äußert er seinen Wunsch, möglichst schnell wieder arbeiten zu wollen und am »demokratischen Wiederauf bau in Deutschland« (ebd. 36) teilzuhaben. Aber er wird daran erinnert, dass er zunächst eine Displaced Person und seit 1941 staatenlos ist. So ist das »Ankommen […] eine Erschütterung wie das Weggehen«, wo »alles schwank[t]«, da es »keinen festen Boden unter den Füßen« gibt (ebd. 37). Durch die Rückkehr löst sich seine heterotopische Exilexistenz nicht auf, sie verschiebt sich lediglich. Wie der Kriegsheimkehrer Ferdinand und die Figuren in Shanghai fern von wo hat auch Kornitzer während seiner Zeit im Exil nichts selbst »erwählt, er war eingeordnet, aufgelistet worden« (ebd. 38). Sein »Leben [kommt] ihm wie ausgedacht vor.« (Ebd. 81) Immer wieder hat er das Gefühl eine »hin- und hergeschobene Figur« (ebd.) zu sein. Das Ehepaar lebt nun im von Claire bei Familie Pfemfle gemieteten Zimmer auf einem Hof, auch dieser Raum spiegelt einen Gegenort wider, ein

5 | Kuba war für die meisten Exilsuchenden ein »Wartesaalland« in die USA. Während des Zweiten Weltkrieges suchten ca. 8000 Flüchtlinge in Kuba Asyl (vgl. von zur Mühlen, »Lateinamerika«, 297).

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von der restlichen Familie und von der Gesellschaft abgegrenzter Raum, so wie auch die folgenden Unterkünfte Kornitzers und seiner Familie. Die Sprachen, mit denen der Richter in Berührung kommt, symbolisieren, wie schon in den soeben analysierten Romanen, seine eigene Fremdheit und gleichzeitig den transitorischen Zustand des Landes: In der UNRAA wird Englisch gesprochen; die Sprache der Besatzungsmacht ist Französisch und die Einheimischen sprechen Alemannisch, das er auch nicht besonders gut versteht. Das aus Kuba mitgebrachte Spanisch »hatte in Versunkenheit zu fallen«, im übertragenen Sinne auch seine Exilerfahrung. Deshalb bevorzugt Kornitzer die schriftliche Kommunikation mit den Ämtern. So erscheint auch hier die deutsche Sprache als ein für die Opfer nicht zugänglicher Raum: Seine Frau spricht von polnischen Knechten anstatt von Zwangsarbeitern; seine Zwangsemigration, die ihm letztendlich das Leben rettete, heißt nun Auswanderung. Mit dem Entnazifizierungsprogramm der Alliierten, an dem er gebeten wird mitzuwirken, entstehen neue Euphemismen wie »Entnazifizierungsgeschädigte« und »Entnazifizierungsopfer«, abgesehen von ihrem Implikationsgrad mit dem Nationalsozialismus (ebd. 52-53). So werden die ehemaligen Nazis nun zu Opfern ihrer eigenen Ideologie, »ihrer Biographie« oder »ihres Karrieregeistes« (ebd. 76). Seine neue Tätigkeit beim Kreisuntersuchungsausschuss, das systematische »lückenlos[e] Durchkämmen, Durchsieben, Durchwaten« (ebd. 54) von »Hauptschuldige[n], Belastete[n], Minderbelastete[n], Mitläufer[n]« oder als »nichtschuldig Einzustufende[n]«6 (ebd. 56), hat seinen Grund: denn die »Deutschen [und dazu zählt er nicht] [sind] doch eine Volksgemeinschaft, eine Schicksalsgemeinschaft, […] da [will] niemand gerne über einen anderen aussagen, denn er brauch[t] selbst Zeugen, die für ihn aussag[en].« (Ebd. 52-53) In den Ausschüssen sitzen ehemalige Nazis, sogenannte »demokratische Kräfte«. Diese Arbeit als Richter, so seine Frau Claire, will niemand »gerne machen.« (Ebd. 52) Kornitzer bleibt, wie die Figuren Lazarus und Brieger in Shanghai fern von wo, ausgegrenzt und verbittert. Er kommt sich vor »wie ein tropischer Papagei, im Voralpenländischen ausgesetzt« (ebd. 56), wie ein »Ausstellungstück« (ebd. 94). Wie ein »Wesen von einem anderen Stern« wird er am Landgericht Mainz von seinem neuen Kollegen Beck, ein ehemaliges »Mitglied der NSDAP, der Hj, des NS-Richterbundes« (ebd. 74) angestarrt. Auch der älteste Kollege, Walter Buch, ist ein ehemaliger Nazi. Sogar im Bundesfinanzministerium sitzen alte Nazis, die nun hohe Ämter belegen, die wiederum »für die Wiedergutmachung an den Nazi-Opfern zuständig« sind (ebd. 466). Niemand fragt ihn, nicht einmal seine Frau (ebd. 11), wie es ihm im Exil ergangen ist, über die »[z]ehn Jahre im Nirgendwo, in der Unsicherheit […], 6 | Vgl. hierzu das Nationalsozialistengesetz, das im Februar 1947 in Kraft trat und das sogenannte Verbotsgesetz ablöste.

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wie lang, warum, woher, wohin, Schwamm drüber. Schwamm über das Mörderische, Schwamm über die Gewalttaten« (ebd. 35). Ihm wird durch selbstschützende Diskretion »der Mund verschlossen. Im Lichte der Vergangenheit verdunkelte sich die Gegenwart.« So glaubt er vor einem »ungeschriebenen Gesetz« (ebd. 169) zu stehen. Als »tadelloser Richter […] fühl[t] [er] sich verurteilt, aber er [kennt] seine Strafe nicht. Sie nicht zu kennen, [ist] eine Potenzierung der Strafe. […] Über ihn [wird] auch gerichtet, getuschelt, er spür[t] das« (ebd.). Als Exilant ist es ihm in den Augen der Deutschen im Ausland besser ergangen als ihnen, die eine »Kellerexistenz« führen mussten (ebd. 114). Nachdem er an das Mainzer Landgericht berufen wird, kommt er zunächst in einem Hotel unter, einem ehemaligen Luftschutzbunker (ebd. 65). Kurze Zeit später bezieht er als Gast bei Familie Dreis ein möbliertes Zimmer. Auch dies symbolisiert nur eine Zwischenstation, einen Ort des Übergangs. Ebenso das neue Holzständerhaus, das er durch einen Anruf von »der Stabsstelle ›Opfer des Faschismus‹« (ebd. 170) angeboten bekommt. Es befindet sich in einer Siedlung, in der keine Deutsche leben, sondern die Familien der französischen Besatzung. Selbst das Haus manifestiert das Transitorische, einen auf Zeit begrenzten Raum. Es ist ein »Opfer-des-Faschismus-Haus, ein fremdes Haus für die wirklichen Mainzer« (ebd. 369). Letztendlich wird es ihm und seiner Frau misslingen ihre Kinder, die sie mit Hilfe eines Quäker-Transports nach England retten konnten, wieder nach Deutschland zu holen. Sie weigern sich zu den fremden Eltern nach Deutschland zu ziehen.7 Alle Versuche den in der Zwischenzeit siebzehnjährigen Sohn und die vierzehnjährige Tochter nach Deutschland zu holen schlagen fehl. Mit dem 1953 in Kraft getretenen »Bundesergänzungsgesetz« glaubt er erneut an die Möglichkeit einer Entschädigung, doch es entpuppt sich als eine »Inflation der Worte« (ebd. 386), das nicht die Opfer schützt, sondern sie vielmehr benachteiligt. Es geht um neue Symptomkomplexe, die auf die Flucht und das Exil zurückzuführen sind: »Entschädigungsneurosen, Entwurzelungsdepression, erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel.« (Ebd.) Hinzu kommt in Deutschland das Gerücht auf, dass viele der Antragsteller »Rentenjäger« und »Betrüger« seien (ebd. 387). Die Opfer müssen um Wiedergutmachungen 7 | Auch in ihrem Roman Shanghai fern von wo thematisiert Krechel die schmerzhafte Erfahrung eines Ehepaares, das das einzige Kind, ihren 17-jährigen Sohn, mit einem Kindertransport von Wien nach England in Sicherheit schickt. Die Mutter, Franziska Tausig, »hat Sehnsüchte, die sie weit wegdriften lassen, sie stellt sich ihren Sohn vor, der nun ein junger Mann sein muß. Wenn sie ihn wiederfindet, wird sie ihn erkennen?« (Shanghai, 375) Nach dem Krieg »tauschte sie Fotos mit ihm aus, auf denen erkannte sie ihr Kind nicht mehr« (ebd. 480). Erst als sie ihn in Wien wiedertrifft, erzählt sie ihm vom Tod seines Vaters, ihm zu schreiben, »wie sein Vater gestorben war vor Gram, Erschöpfung, Nichtmehrweiterwollen in Shanghai, fiel ihr schwer« (ebd.).

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kämpfen, sie müssen Rechtsanwälte beauftragen und bezahlen: »eine Taktik der Zermürbung« (ebd. 389). Die Suche nach Gerechtigkeit und Zugehörigkeit macht ihn herzkrank. Den Bruch mit seiner Arbeitswelt und somit auch mit seinem Umfeld führt er selbst ein, als er erfährt, dass er am Landgericht nicht zum Präsidenten ernannt wird, wie es ihm eigentlich zustehe. Vor Sitzungsbeginn liest er daraufhin die Artikel 3 8 und 979 aus dem Grundgesetz laut vor (ebd. 414). Er ist entrüstet und enttäuscht »über die Zurücksetzung, als dienstältester Richter« (ebd. 430). Die Folge: Protokolle, Vernehmungsnotizen und Aktennotizen werden geschrieben, die Medien schalten sich ein: ein Skandal, denn Kornitzer habe angeblich seine Dienstpflicht vernachlässigt. Letztendlich fühlt er sich »beiseite geschoben, übergangen, gefangen in seiner Vorstellung vom Gesetz, von Grund auf verletzt« (ebd. 435). Schließlich wird er in Den Haag »Vizepräsident der Akademie für Völkerrecht«, doch am Mainzer Landgericht sieht man seiner neuen Tätigkeit »schmallippig« zu, »vermutlich aus Neid, der mit Geringschätzung verbrämt« ist (ebd. 439). Noch immer stellt er Wiedergutmachungsforderungen, noch immer werden sie abgelehnt. 1957 wird er schließlich zwangspensioniert. Sheridan Marshall konstatiert hierzu: Richard Kornitzer’s professional achievements, including his rapid promotion to the role of director of the District Court in Mainz, are overshadowed by the way in which the anti-Semitic prejudice and persecution that he has suffered in the past persists in the present. The far-reaching implications of Nazi persecution of the Jews include the fact that they continue to be denied the opportunity to participate fully in Germany’s legal System even beyond 1945. Krechel’s historically accurate articulation of Richard Kornitzer’s fraught position, in which as a victim of Nazi persecution he is barred from being involved in the judicial process of reparation for other victims, demonstrates the enduring legacy of Nazi anti-Semitism for the lives of Jews in postwar Germany. […] Kornitzer’s family is irrevocably damaged. (Marshall 78-79)

So steht der Titel des Buches Landgericht symbolisch für das ganze Land, das vor Gericht steht, aber auch für das Land, das noch immer über ihn richtet: Verbunkert [scheint] ihm die Wiedergutmachung, das Erbe seiner Mutter […]. Ja, der Anspruch besteht, aber der Anspruch ist nicht einzulösen wie ein Rabattbuch. Er selbst als Kläger, der er geworden ist, nachdem der Antragsteller erfolglos war, ist eine fiktive Gestalt, er spürt es, und das macht ihn verzweifelt. (Landgericht, 472) 8 | »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.« (Landgericht, 414) 9 | »Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.« (Ebd.)

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Eine Einfügung kann nicht stattfinden, da er vor seiner Flucht gerichtet wurde und nach seiner Heimkehr von denen, vor denen er fliehen musste, wieder gerichtet wird. Als Richter steht es ihm nicht an, über die Schuldigen zu urteilen, da er in den Augen des Gesetzes selbst, wie schon die Rückkehrer aus Shanghai, »Partei« ist, »weil er Jude ist, weil er verfolgt worden war, weil ihm Wiedergutmachungsleistungen [zustehen]«; für Kornitzer ein »Verdikt wie ein Keulenschlag« (ebd. 168). In Landgericht muss die utopische Forderung nach Gerechtigkeit fehlschlagen, da eine Kontinuität des Lebens vor dem Exil nicht mehr möglich ist. Sowohl für die verlorene Zeit im Exil als auch für den Versuch einer neuen Verortung in der deutschen Gesellschaft nach 1945 gibt es kein Gesetz, das den Opfern ihren angemessenen Raum gewährt.

F a zit »Und als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder«, schrieb Alfred Döblin (431) schon 1946, als er aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrt war. Diese Feststellung müssen letztendlich auch die Figuren der behandelten Romane machen. Dennoch bewegen sie sich in einem Zwischenraum mit der Hoffnung eines Neuanfangs in der alten Heimat und der frustrierenden Dekonstruktion des offiziellen Deutschlandbildes. Dort warten die Heimkehrer auf die Erfüllung ihrer Perspektiven und befinden sich bis zuletzt, noch immer wartend, im Abseits der Gesellschaft. Figurationen der Nicht-Verortung werden in jeder einzelnen dieser Geschichten entblößt, in denen die Nazizeit fortgesetzt wird und das Bild der neuen BRD verschleiert auftritt. Die Figuren müssen die Erfahrung machen, dass sie an einen Ort heimkehren, an dem sie nicht mehr sind und ihnen somit unmissverständlich klar gemacht wird, was sie nicht mehr sind (vgl. Augé 67). Die Nicht-Orte Krieg (bei Keun) und Exil (bei Krechel) werden durch die Orientierungslosigkeit der Protagonisten in der deutschen Gesellschaft als Orte des Dazwischen, des Da-seins jedoch nicht Eingefügt-seins, des Nicht-Dazugehörens, fortgeführt. Somit wird das Exil nicht aufgehoben, sondern heterotopisch verlagert. Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass sich in einer Heterotopie mehrere Räume »zusammenlegen« lassen, »die an sich unvereinbar sind« (Foucault, Andere Räume, 42), so lässt sich diese Definition auf den Raum der BRD anwenden, den die Zurückgekehrten durch den Akt des Visumantrages und seiner Bewilligung betreten. »Exil ist eine Metapher für die Erfahrung der Entfremdung, die so existenziell und universell ist, dass sie keinen Ort braucht und auch keine Heimat als Gegenort«, schreibt Bernhard Schlink (11) in Heimat als Utopie. Und weiter heißt es: »So sehr Heimat auf Orte bezogen ist, Geburts- und Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freund hat – letztlich hat sie weder einen Ort noch ist sie einer. Heimat ist Nichtort,

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[…] ist Utopie.« (Ebd. 32) Deshalb muss auch die Hoffnung einer geglückten Wiedereinfügung in die deutsche »Heimat« ein Desiderat bei den Zurückgekehrten bleiben, die am Rande der neuen deutschen Fassade, in den Heterotopien leben müssen.

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Dystopische Visionen Pedro Salinas in den Amerikas Enric Bou

1. P edro S alinas : A rten des E xils In einem Brief, den Albert Einstein 1945 an The New York Times schrieb, zitierte er die Worte, die Franklin Roosevelt erst kurz zuvor gesprochen hatte: »Wir stehen der herausragenden Tatsache gegenüber, dass die Zivilisation nur dann überleben kann, wenn sie die Wissenschaft der menschlichen Beziehungen kultiviert – die Fähigkeit des friedlichen Zusammenlebens und -arbeitens von Menschen aller Art in einer Welt.« Einstein fügte hinzu, dass »die Menschheit verloren sei, sofern Recht und Gesetz nicht eingehalten werden und sofern wir uns nicht durch gemeinsame Anstrengung zu neuen Denkweisen fähig erweisen.« (20)1 Der dystopische Diskurs der 40er Jahre ist stark mit der Angst vor einer ›postapokalyptischen‹ Situation verbunden, die das abrupte Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Atombombe hervorgerufen hatte; er kann aber auch allgemein Trostlosigkeit oder eine als düster vorgestellte Zukunft suggerieren. In einer dystopischen Geschichte ist meistens die Gesellschaft selbst der Antagonist; es ist die Gesellschaft, die aktiv gegen die Ziele und Wünsche des Protagonisten agiert. Diese Unterdrückung wird oftmals durch eine autoritäre oder totalitäre Regierung erwirkt, die zum Verlust der zivilen Freiheiten und zu unhaltbaren Lebensbedingungen führt, hervorgerufen durch verschiedenste Umstände, wie z.B. Überbevölkerung, ein Leben unter ständiger Kontrolle und Überwachung oder durch Gesetze, die die persönliche sexuelle oder reproduktive Freiheit einschränken.

1 | Neben Albert Einstein zählten zu den Unterzeichnern des Briefes auch andere öffentliche nationale und internationale Persönlichkeiten wie z.B. der Bischof der Episkopalkirche Henry St. George Tucker, der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann oder die Pulitzerpreisträger und Brüder Mark und Carl Van Doren.

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Als Pedro Salinas 1936 in die USA ging, erschütterte ihn der Verlust seines habitus, den er in Folge seines Exils erlitt. In Spanien war ein brutaler Bürgerkrieg im Gange, dessen Entwicklung er mit Sorge verfolgte. Seine eigene Reaktion auf die ganz andere Welt des Exils, der er sich auf extreme und schmerzvolle Weise entfremdet fühlte, verletzte ihn zutiefst. Man muss außerdem den allgemeinen Kriegszustand bedenken, in dem sich Spanien und die Welt zwischen 1936 und 1945 befanden. Mich interessieren vor allen Dingen die dystopischen Aspekte von Pedro Salinas’ Reaktion auf das Exil in seiner Korrespondenz und seinem narrativen Werk. In den zahlreichen Briefen, die Salinas während seiner Exilzeit (1936-1951) schrieb, lässt sich eine feindselige Reaktion auf die Vereinigten Staaten erkennen. Tatsächlich erlebte Salinas eine Art persönliche Besänftigung während seiner Jahre in Puerto Rico und auf seinen Reisen durch Lateinamerika, auf denen er wie ein umgekehrter Kolumbus eine alte Welt ›entdeckte‹. Seinen Korrespondenzpartnern schrieb er in vielen Briefen, dass er mit seiner Familie sein Lebensglück auf der Insel Puerto Rico gefunden hatte – dank ihres Klimas, ihrer Landschaft und ihrer Schönheit, aber auch dank des fruchtbaren und unzähmbaren Meeres. Laut Salinas’ Biograf »war Puerto Rico nicht nur wie eine Wiedergeburt für Salinas sondern auch eine Ankunft. Er war im Wesentlichen ein Pilger, der immer und unermüdlich das Untrübliche suchte, die Essenz, die das Auge nicht wahrnehmen konnte« (Cross Newman 230). Sein Aufenthalt in Puerto Rico fühlte sich für ihn wie eine kurze Pause vom Zweiten Weltkrieg an. In dem Gedicht »Cero/Zero« drückte er seine absolute Abneigung gegen den Atomkrieg aus; einige Zeit später verfasste er einen Roman, in dem er noch viel stärker die Gefahren der Wissenschaft und des Rüstungswettlaufs verdammte. Das lange Gedicht »Cero« ist ein Teil des Werkes Todo más claro y otros poemas (1949) und enthält eine düstere Reflexion über die wachsenden Probleme der heutigen Zivilisation. Das Gedicht, 194344 geschrieben, handelt von der Zerstörung der Welt durch Bomben. Es ist ein außergewöhnliches Gedicht voll Tragik und Sorge und charakteristisch für die Stimmung der Jahre des Zweiten Weltkrieges. In dem Roman La bomba increíble verleiht er seiner Abneigung gegen das durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufene Wettrüsten mittels dystopischer Fiktion Ausdruck. Studien der Exilliteratur – von Harry Levin bis Claudio Guillén – oder auch Studien der Exilbedingungen – Edward Said, Paul Tabori – haben die Eigenschaften und materiellen Aspekte des Schreibens im Exil analysiert und dabei eine Beziehung zwischen dem Exil und etwas dem Akt des Schreibens Inhärenten erkannt und es mit der Grundlage jeglicher ernsthafter intellektueller Aktivität verglichen. Wir kennen die wiederkehrenden Themen und Formen – die Melancholie, die langen Reisen, das Oszillieren zwischen Elegie und einer Gegen-Exilliteratur [counter exile], oder zwischen einer ovidischen und einer

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eher plutarchischen Form.2 Das spanische Exil unterscheidet sich jedoch wesentlich von anderen Exilen, zum Teil dadurch, dass verschiedenste Arten des Exils (Vertreibungen, Zwangsräumungen, destierros etc.) schon sehr früh in seiner Geschichte auftauchen. Die Worte Ramon Xiraus, als er 1939 Spanien verließ, sind für diesen Umstand repräsentativ: »Los mismos que expulsaron a los judíos en 1492 nos expulsan a nosotros« (»Dieselben, die 1492 die Juden vertrieben, vertreiben uns jetzt auch«). Henry Kamen hat kürzlich in einem Buch betont, dass Spanien ein einzigartiger Fall unter den europäischen Ländern ist: »Spanien ist das einzige europäische Land, das über Jahrhunderte versucht hat, sich selbst durch eine klare Ausschlusspolitik zu konsolidieren, nicht indem es Schutz geboten hat« (XX). Später schreibt er noch pessimistischer: »Eine der beständigsten Hinterlassenschaften Spaniens an die hispanische Welt ist die permanente Erfahrung von Desintegration und Exil, verbunden mit dem sich daraus ergebenden Verlust an Fokus und einer verunsicherten Identität« (ebd. 367). Das erklärt vielleicht, warum die argentinische Kritikerin Silvia Molloy die Autobiografie als das gefährlichste Literaturgenre in der hispanischen Welt bezeichnet. In ihm sind Taktiken der Selbstunterdrückung (alles das eliminierend, was der Autor sich nicht zu sagen traut) und Selbstbestätigung (was von der Gemeinschaft der Autoren akzeptiert werden kann) (Molloy 9) fest verankert. Spanien ist in der Tat eines der wenigen europäischen Länder (das andere wäre Russland), das seine kulturellen Minderheiten, die Schlüsselstellungen im Staat innehatten, oder wichtige Gruppen aus der staatlichen Elite systematisch ausgeschlossen hat. Spanien hat in einem permanenten Zustand des erklärten oder verdeckten Bürgerkrieges gelebt, und das hat unwiderrufliche Folgen für das spanische Selbstverständnis und das Wesen des Landes gehabt. Dieser Zustand des kollektiven Suizids wird hervorragend in den Eröffnungsszenen von Luis Buñuels Film L’Âge d’or (1930) dargestellt. Es ist ein französischer Film, aber mit spanischem Inhalt, der mit furchteinflößenden Bildern von Skorpionen einsetzt, die sich gegenseitig attackieren. Zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges befand sich Pedro Salinas in Santander, wo er als Sekretär an der International University arbeitete, die er selbst 1932 mitgeholfen hatte zu gründen. Da er schon vorher einen Lehrauftrag an 2 | Guillén zufolge entsprechen Ovid und Plutarch zwei Archetypen in der literarischen Behandlung des Exilmotivs. Ersterer zeichnet sich durch Nostalgie und Trauer um das Verlorene aus, wobei die Lyrik kompensatorische Kraft in der Linderung des Leidens entfaltet. Letzterer stellt den antithetischen Fall dar: Das »Gegen-Exil« Plutarchs macht die Vertreibung zum Gegenstand einer moralischen Reflexion, aus der das Exil als Möglichkeit und Probe hervorgeht, die äußeren Widrigkeiten durch innere Stärke zu beherrschen. In diesem Rahmen ist das Subjekt ein Weltbürger, die wahre Heimat des Weisen das Universum (vgl. Guillén 33-40).

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einem nordamerikanischen Frauencollege, dem Wellesley College, angenommen hatte, versuchte er mit allen Mitteln eine Überfahrtsmöglichkeit zu finden. Es war sehr schwierig, Spanien auf dem Seeweg zu verlassen, da kriegsbedingt sämtliche Landesgrenzen geschlossen waren. Am Ende gelang es ihm, einen Platz auf dem US-Marineschiff »Cayuga« zu ergattern: Era un espléndido día de agosto, el 31 para ser exacto. El barco americano, anclado en la hermosa bahía, parecía de juguete: blanco, pequeño y acogedor: nada guerrero. Parecía más bien un yate. Lo miré como si se tratara de un enigma. ¿Qué me esperaba? Mientras, los milicianos examinaban mi equipaje. Y, claro está, surgió el incidente. Yo había escrito un drama y lo llevaba en la maleta. Mi manuscrito atrajo la atención de los milicianos: se trataba de un drama místico, simbólico. ¿Cómo explicarlo al miliciano? Por el momento creí que acabaría en la cárcel, pero por fin el drama pasó la inspección. (Salinas, Obras completas II, 1421-1422)

Der diensthabende Offizier musste erst seinen Kapitän konsultieren, ob Salinas mitreisen dürfe: »Finalmente volvió el bote con el oficial [...] Saltó del bote y dijo: ›¡Fixed up!‘[...] Para mí eran dos palabras mágicas y misteriosas y sin saber lo que querían decir las entendí, por intuición: podíamos embarcar« (ebd. 1422). Mit diesem Schiff kam Salinas nach San Juan de Luz, und am 4. September verließ er Le Havre in Richtung Vereinigte Staaten während seine Familie nach Algerien reiste. Einige Monate später erinnerte er sich an seine letzten Tage in Spanien: ¡Ay, Marg, como me acuerdo de algunas tardes de Santander, ahora! Cuando nos íbamos al prado, y yo me echaba en la hierba, ¡con la cabeza apoyada en tu rodilla! Desde que empezó la revolución esos ratos, de descanso, y en general, todos los momentos, de tarde [en] La Magdalena me sonaban a despedida, a lenta despedida de un mundo. Las tardes, tan serenas y claras, favorecían adioses inevitables, pero casi no hacían sufrir. [...] Y veo la ruina de la única obra colectiva, social, que salió de mi cabeza: la U.I… Se ha hundido todo ese mundo. (Obras completas III, 547).

Die Worte des Autors, er sehe die Ruinen einer Welt, sind von großer Bedeutung für ein Verständnis seines Schreibens. Er fühlte sich unmittelbar entfremdet, aus diesen und anderen Gründen. Als er Nordamerika erreichte, nahm er sich aufgrund des markanten Individualismus der amerikanischen Gesellschaft und der fehlenden Anerkennung als spanischer Intellektueller als Außenseiter wahr. Die persönliche Ausgrenzung wurde durch seine ärmlichen Englischkenntnisse noch verstärkt. Zudem litt er durch die fehlende Vertrautheit mit den USA auch stark an Heimweh. Diese anfänglich negative Einstellung wich mit der Zeit einem stetig wachsenden Interesse an den spa-

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nischsprachigen Ländern Amerikas, in denen sich Salinas anerkannt fühlte und in denen er dank der spanischen Kolonialvergangenheit viele Gemeinsamkeiten mit Spanien erkunden konnte. Dort fühlte sich Salinas Spanien viel näher – nicht nur durch die Möglichkeit, in seiner Sprache kommunizieren zu können, sondern auch dank der vielen kulturellen Ähnlichkeiten. Seine Erfahrungen in der ›Neuen Welt‹ beschränkten sich jedoch hauptsächlich auf die USA, wenn man von einigen kurzen Reisen nach Mexiko, einer Reise nach Kolumbien, Peru und Venezuela und einem vierjährigen Aufenthalt (1943-1946) in Puerto Rico absieht. Diese Reisen bedeuteten für ihn eine Rückkehr zu seiner Sprache und zu den Wurzeln seiner Kultur; sie bewirkten eine brillante literarische Schaffensphase ebenso wie scharfsinnige Reflexionen über die Bedingungen des Exils (vgl. Gascón Vera). Als erklärter »Amerikaenthusiast« begann er seinen Aufenthalt in den USA mit Neugier und Empathie und präsentierte sich selbst als ein starker Charakter, der sich vom Abenteuer angezogen fühlte, ein Land zu »entdecken«, ein »país por el que siento una vivísima curiosidad y simpatía« (Obras completas III, 486). Doch sein anfänglicher Enthusiasmus wich wie erwähnt schnell einem Gefühl der Fremdheit und einer wachsenden Distanz zu einer düsteren und, seiner Meinung nach, oberflächlichen Realität. Zunächst konnte er dieses Erleben noch als eine Art Spiel verarbeiten: »Yo observo todo esto como un salvaje, me divierte a ratos, y a ratos, me aburre, y me encuentro un poco solo« (ebd. 520). Zudem muss man auch bedenken, dass er mit seiner Arbeit an einem Frauencollege an einem sehr speziellen Ort gelandet war: »El hombre aquí es una excepción rarísima, como el vestigio de una especie medio desaparecida« (ebd. 517), so Salinas ironisch. Doch nur wenige Monate nach seiner Ankunft begann er, seinem Befremden Ausdruck zu verleihen. Er schrieb ein Gedicht über die banalen Kommentare über das Wetter, »Oda contra la primavera«, um gegen »este ambiente convencional y rutinario de Wellesley« (ebd. 616) anzukämpfen. Seine Briefe erlauben uns, Salinas’ private Reaktion auf die neuen Gewohnheiten zu beobachten. Er war besorgt über sein Gewicht und die kargen Mahlzeiten, was für ihn zu einer fast schelmischen Obsession wird: »No se comprende cómo pueden trabajar lo mucho que hay que trabajar aquí y nutrirse con escasez tan milagrosa« (ebd. 623). Wir entdecken auch einen Salinas, den die Komplexität des häuslichen Lebens ängstigt: Er weigert sich, das Bett zu machen oder Kaffee zu kochen. Am Ende seines ersten akademischen Jahres sinniert er: »si algo sale nuevo en mí de esta tierra, será por reacción, por contraste, no por adhesión« (ebd. 630). Zehn Jahre später stand für ihn der Maßstab fest, an dem er das Authentische und Schöne bestimmt: alles was anders ist als das, was er in den USA vorgefunden hatte. Als er 1947 nach Kolumbien reist, kommentiert er in einem Brief: »tiene para mí un encanto inmenso el volver a respirar este provincianismo. Popayán es quizá lo más remoto de lo yanqui que he visto, es decir lo más

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auténtico« (ebd. 1186). Zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung mit seinem Schicksal als Exilierter in den USA stellt er den großen Unterschied zwischen Europa und Nordamerika heraus: »Viviremos aquí bien, lo espero, pero siempre en el fondo de mí habrá, creo, una nostalgia por algo indefinible: la densidad, la antigüedad, de lo humano« (ebd. 630). Konfrontiert mit der Dimension des Andersseins schreibt er: »los miro, (¡yo, pobre de mí, el extranjero, el extrañado!) como a extranjeros« (Cartas de viaje, 115). Er empfindet sich in Nordamerika als Ausländer, der sein eigenes Land vermisst. Er war extrem überrascht über die Wunder des technischen Einfallsreichtums, aber auch zutiefst enttäuscht über die seiner Meinung nach oberflächliche Spiritualität, und zu allem Überfluss hatte er ernsthafte Schwierigkeiten mit der englischen Sprache. In einem Brief von 1936 gestand er seiner Frau: no se puede aprender nunca lo profundo y hondo de una lengua lo que permite en ella crear. Y aun suponiendo que se pueda llegar a la expresión de lo intelectual, de las ideas, por ejemplo, para dar conferencias siempre se siente la limitación, la barrera infranqueable. Y cuesta mucho trabajo (Obras completas III, 594). 3

Die barrera infranqueable [unüberwindbare Mauer] ist Motiv für die Frustration, die die Beschränkungen einer Sprache ihm auferlegen, derer er nicht mächtig ist, sowie ein Zeichen für die vielen Integrationsschwierigkeiten der Spanier in den USA. Sie könnte auch zurückverweisen auf die sprachlichen Herausforderungen, denen die spanischen Kolonisatoren im 19. Jahrhundert gegenüberstanden: erstens die Frage der Erhaltung oder Nichterhaltung der einheimischen Sprachen und die anschließende Einführung der spanischen Sprache als Kommunikationssprache, wodurch Jahrhunderte alte indigene Kulturen ausgelöscht wurden; und zweitens die Hispanismus-Doktrin, eine Form von Postimperialismus, der die spanische Sprache als Träger der Essenzen der eigenen »Rasse« gegenüber dem Englischen zu verteidigen suchte. Es handelt sich um eine Theorie, die ab 1898 weit verbreitet war und so bedeutende Verteidiger wie Unamuno und Maeztu hatte. So wie José del Valle und Luis Gabriel-Stheeman nachfolgend argumentieren, fordert diese Version des Hispanismus the existence of a unique Spanish cultural, lifestyle, traditions and values, all of them embodied in its language; the idea that Spanish American culture is nothing but Span-

3 | Einige seiner Bücher wurden ins Englische übersetzt: Lost Angel and Other Poems (Baltimore: The Johns Hopkins Press, 1938); Truth of Two, and Other Poems (Baltimore: The Johns Hopkins Press, 1940); Contemporary Spanish Poetry; Selections from Ten Poets, (Baltimore: The Johns Hopkins Press, 1945); Zero (Baltimore: Contemporary Poetry, 1947).

Dystopische Visionen ish culture transplanted to the New World; and the notion that Hispanic culture has a hierarchy in which Spain occupies a hegemonic position. (6)

Die dritte Herausforderung bestand in der Kontamination der spanischen Sprache durch das Englische, das vor allem im kommerziellen und kulturellen Bereich dominierte. Sie wurde mit der sehr naiven Grundidee verbunden, die Juan Valera vor 1898 formulierte, der zufolge die mächtige spanische Sprache und Kultur (Literatur) das Englische noch erobern würden (Kamen 394). Entfernt an diese Einstellung erinnernd, zeigte sich Salinas erbost darüber, wie die spanische Kultur so wie auch andere nicht-englische europäische Sprachen in den nordamerikanischen Anthologien und Klassifikationen der Weltliteratur behandelt wurden. In El defensor und diversen Artikeln, wie z.B. »Las cenicientas latinas o literatura y nacionalismo«, beklagte er mit bitterem Humor die Misshandlung der romanischen Literaturen in der angelsächsischen Welt: Víctimas, peor castigadas son las literaturas de todos los pueblos modernos, fuera de los anglosajones. Por honrarme yo profesando hace años en un ilustre Departamento de Lenguas Románicas de los Estados Unidos, donde conviven en paz, bajo la señoría de la comprensión, las literaturas de todos esos pueblos, me he sentido particularmente dolido por los maltratos que ellas reciben. (Obras completas II, 1355)

Während seiner Exilzeit war Salinas sehr aktiv; er suchte stets nach neuen Ausdrucksformen und versuchte, das Beste aus einer sehr schlechten Situation herauszuholen. Neben seiner energischen Reaktion gegen die USA nahm er eine plutarchische Haltung an (wie sie Guillén in seinem berühmten Essay El sol de los desterrados schildert), und obwohl er sich sowohl sprachlich als auch kulturell extrem vereinsamt fühlte, schuf er ein äußerst originelles Werk im Exil.

2. L iter arische R e ak tionen auf eine N eue W elt. »C ero « Bisher habe ich eher die persönlichen Bemühungen und Aspekte Salinas’ im amerikanischen Exil betrachtet, doch nun möchte ich mich seinem literarischen Werk zuwenden. Als Teil der fortschrittlichen Gesellschaft, in der er im Exil lebte, reagierte Salinas gezwungenermaßen auf und gegen die totale Industrialisierung und den unkontrollierten Fortschritt. In dem Prolog zu seinem Lyrikbuch Todo más claro y otros poemas von 1949 erklärte er: Conozco la gran paradoja: que en los cubículos de los laboratorios, celebrados templos del progreso, se elabora del modo más racional la técnica del más infinito regreso del ser humano: la vuelta del ser al no ser. Sobre mi alma llevo, de todo esto, la parte que me toca; como hombre que soy, como europeo que me siento, como americano

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Enric Bou de vivienda, como español que nacía y me afirmo. Porque las angustias arremeten por muchos lados. (Obras completas I, 568)

Er sprach sich vor allen Dingen gegen die hektische Aktivität, den Lärm des Schwerlastverkehrs und die riesigen bunten Werbeanzeigen in den nordamerikanischen Städtelandschaften aus – kurz gesagt, gegen den Überfluss an Technik gegenüber der ihm zufolge ewig währenden menschlichen Werte. Diese Rebellion ist in Gedichten wie »Hombre de la orilla«, »Nocturno de los avisos« oder »Ángel extraviado« erkennbar. Das Buch schließt mit dem schaurigen, 389 Verse langem Gedicht »Cero«, eine entsetzte Reaktion auf die Bombardements des Zweiten Weltkrieges. Dem Gedicht »Cero« sind Zitate von zwei berühmten spanischen Dichtern voran gestellt: »Y esa Nada ha causado muchos llantos/y Nada fue instrumento de la Muerte,/y Nada vino a ser muerte de tantos« (Quevedo); sowie »Ya maduró un nuevo cero/que tendrá su devoción« (Machado). Beide Epigrafe evozieren die Idee des Nichts, der Leere, des Todes und der Null. In diesem langen Gedicht drückt Salinas seine Abneigung gegen eine Technik aus, die der Zerstörung der Menschheit dient. Mit großem Detailreichtum beschreibt er darin, wie ein Pilot eine Bombe abwirft und welche Folgen seine Handlung hat. Bereits der Anfang ist eindrucksvoll: Cayó ciega. La soltó, la soltaron, a seis mil metros de altura, a las cuatro. ¿Hay ojos que le distingan a la Tierra sus primores desde tan alto? ¿Mundo feliz? ¿Tramas, vidas, que se tejen, se destejen, mariposas, hombres, tigres, amándose y desamándose? No. Geometría. Abstractos colores sin habitantes, embuste liso de atlas. Cientos de dedos del viento una tras otra pasaban las hojas —márgenes de nubes blancas— de las tierras de la Tierra, vuelta cuaderno de mapas. (Obras completas I, 670)

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Die Verwendung von Ausdrücken wie »mundo feliz« (ein Verweis auf den spanischen Titel von Aldous Huxleys Werk?) und auch die Perspektivierung der Welt als ein Kartenwerk oder Atlas (»No. Geometría. Abstractos/colores sin habitantes,/embuste liso de atlas«) bzw. die Metapher der Welt (Erde) als eine abstrakte Karte (»las hojas/—márgenes de nubes blancas/de las tierras de la Tierra,/vuelta cuaderno de mapas«4) sind bemerkenswert. Bei diesen und den folgenden Zeilen könnte man denken, er beziehe sich auf den Moment, in dem die Piloten die Atombombe auf Hiroshima abwerfen – was jedoch unmöglich ist, da das Gedicht schon ein Jahr vorher in einer mexikanischen Zeitschrift (Salinas’ Cero) veröffentlicht wurde. Äußerst detailgetreu beschreibt Salinas die Bombardierung aus der Perspektive des Piloten. Er wagt es nicht einmal das Wort »Bombe« zu benutzen, sondern ersetzt es durch »cero«. Im zweiten Abschnitt des Gedichtes beschreibt er die Auswirkungen und Folgen der Bombardierungen und schließt folgendermaßen: ¡Qué cadáver ingrávido: una mañana que muere al filo de su aurora cierta! Vísperas son capullos. Sí, de dichas; sí, de tiempo, futuros en capullos. ¡Tan hermosas, las vísperas! ¡Y muertas! (Ebd. 673-674)

Im dritten Teil des Gedichtes präsentiert er erneut die Folgen der Bombardierung. Im vierten Abschnitt stellt sich der Dichter vor, wie er selbst nach Überlebenden sucht und der fünfte Abschnitt endet mit einem Schrei der Verzweiflung: Tropa que dio batalla a las milicias mudas, sin rostro, de la nada; ejército que matando a un olvido cada día conquistó lentamente los milenios. Se abre por fin la tumba a que escaparon; les llega aquí la muerte de que huyeron. Ya encontré mi cadáver, el que lloro. Cadáver de los muertos que vivían salvados de sus cuerpos pasajeros. Un gran silencio en el vacío oscuro, 4 | Ähnlich geht er nach einem Besuch des Metropolitan Museum in New York vor: In dem Gedicht »Pasajero en Museo« verwandelt er die nachmittägliche Stadtlandschaft in ein Gemälde, das genau in die Bilderserie passen würde, die er gerade in dem besuchten Museum angeschaut hatte.

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Enric Bou un gran polvo de obras, triste incienso, canto inaudito, funeral sin nadie. Yo sólo le recuerdo, al impalpable, al NO dicho a la muerte, sostenido contra tiempo y marea: ése es el muerto. Soy la sombra que busca en la escombrera. Con sus siete dolores cada una mil soledades vienen a mi encuentro. Hay un crucificado que agoniza en desolado Gólgota de escombros, de su cruz separado, cara al cielo. Como no tiene cruz parece un hombre. Pero aúlla un perro, un infinito perro —inmenso aullar nocturno ¿desde dónde?—, voz clamante entre ruinas por su Dueño. (Ebd. 679)

Salinas war kein religiöser Mensch, aber der letzte Abschnitt des Gedichtes enthält einen klaren Verweis auf die sieben Leiden der Jungfrau Maria oder die Wiederbelebung Jesus Christus in Golgotha.5 In einem Brief an Jorge Guillén kommentiert Salinas eine der Bedeutungsebenen des Gedichtes: En cuanto a la parte segunda, la del tiempo en ciernes, he pensado mucho en tu opinión; acaso, de primeras, me incliné a eliminarla, pero no lo hago, porque aunque como tú dices, el tema central es lo hecho, el tiempo salvado y luego destrozado en las obras, también quiero aludir a esa matanza del tiempo por venir, porque el tema, en general, es la imposibilidad de realizar un destino en lo temporal. (Salinas/Guillén 114)

In einem weiteren Brief an Jorge Guillén vom August 1945 erklärt Salinas, was seiner Meinung nach die Hinterlassenschaft des Krieges sei: El archi-Cero, si me permites que me aluda inmodestamente. No sé si recordarás que en la lista de piezas de teatro en un acto que te mandé hace tiempo había un título: Cain o una gloria científica. Pues es precisamente lo de la bomba atómica. Siento no haberlo publicado, porque se creerá que se me ocurrió por un suceso de actualidad, y no por un pensar del presente. Te aseguro que desde que me enteré de la invención y uso de 5 | Die sieben Leiden der Jungfrau Maria beinhalten: Die Prophezeiung Simeons (St. Lukas 2:34, 35); die Flucht nach Ägypten (Matthäus 2:13, 14); der Verlust des Jesuskindes im Tempel (St. Lukas 2:43-45); die Begegnung von Jesus und Maria auf dem Weg zum Kreuz; die Kreuzigung; die Abnahme des Leibes Jesu vom Kreuz und die Beerdigung Jesu.

Dystopische Visionen la tal bomba, me siento como avergonzado y disminuido en mi calidad de humano. Sí, la guerra ha terminado, pero antes de morir se deja puesto ese huevo monstruoso, del que pueden salir horrores nunca vistos. Por otra parte, el invento es exactamente lo que había que esperar, es el coronamiento de la época más estúpida de la historia humana. [...] Se inaugura la era del terrorismo mundial. Ahora ya vivimos bajo una amenaza vaga, difusa, superior a todos los temores de antes. (Ebd. 127)

Darauf antwortete Jorge Guillén folgendermaßen: »el asunto es estupendo; y siendo tan crujidoramente actual, está colocado a una altura intemporal y como eterno.« (Ebd. 323) Weiter schrieb er: »Tú has logrado ese poema, el que merecían esas ruinas, mucho más terribles que las de aquel ›despedazado anfiteatro‹. (¡Ay! ¿Te acuerdas, Itálica, San Isidoro, aquellos alrededores?)« (ebd. 323).

3. E in dystopischer R oman : L a bomba increíble 1949 veröffentlichte Pedro Salinas einen dystopischen Roman mit dem Titel La bomba increíble. Wie bei den besten Dystopien der Fall, spricht dieser Roman über die tiefere Bedeutung, ein kleiner Teil einer untergehenden Zivilisation zu sein und ist damit auch eine Abhandlung über die menschliche Existenz. Dem Roman stehen drei Zitate voran: This is the way the world ends Not with a bang but a whimper T. S. Eliot, »The Hollow men« No tu madre, nuestra cándida tierra, manadero que no se agota de salud pristina, nuevo pastor Abel, mas tus hermanos te segaron el hilo de la vida; no natural tu muerte, sino humana. Miguel de Unamuno, »El Cristo de Velázquez« Es una cápsula de aire donde nos duele todo el mundo. Federico García Lorca, »Panorama ciego de Nueva York«

Diese drei Mottos beinhalten einige der drastischsten Themen des Romans: Wimmern und Wehklagen, der Tod von Händen dir ähnlicher Menschen und die Bombe als eine Metapher, die den Schmerz der gesamten Welt in sich konzentriert.

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Salinas selbst bezeichnet den Roman La bomba increíble als eine »fabulación« (oder Fabel). Aus seiner rigorosen Sicht handelt es sich nicht exakt um einen Roman, da seine Vorstellung des Romangenres sich vollständig auf das Modell des bürgerlichen Romans des 19. Jahrhunderts beschränkt. Das Werk ist eher dem philosophisch-aufgeklärten Roman verbunden, und in der Tat erscheint in ihm Voltaires Candide als eine der Lektüren der Figur des Regenten. La bomba increíble kann aber auch als Science-Fiction Roman oder dystopischer Roman im Stile der angelsächsischen Literatur eingeordnet werden, wie z.B. Brave New World von Aldous Huxley (1935) oder 1984 von George Orwell (1949). Die Handlung vollzieht sich 15 Jahre nach dem letzten Weltkrieg in einem westlichen Land, das eine kriegerische Anti-Kriegshaltung – frei nach dem lateinischen Motto Si vis pacem para bellum – zu seinem wesentlichen Identitätsmerkmal gemacht hat. Es ist ein Land, in dem paradoxerweise der Krieg vorbereitet wird, mit der Ausrede, dadurch den Frieden zu garantieren. In dem Land herrscht eine Übergangsmonarchie und der Regent hat eine wissenschaftlich-technische Staatsform (»Estado Técnico Científico« oder ETC) etabliert, die die Erfüllung aller Bedürfnisse der Menschen in einem zivilisierten und friedlichen demokratischen System garantieren soll. Diese Regierung hat die ›Akropolis des Friedens‹ gebaut; ein gewaltiges Museum, in dem alle Waffen ausgestellt werden, die jemals vom Menschen und für die Friedensbewegung (»dinámica de la paz«) des ETC zur ›Verteidigung‹ eben dieses Friedens genutzt wurden. Dieses Museum befindet sich im sogenannten ›Friedenskreis‹ und wird im Roman auf extrem sarkastische Weise beschrieben: Iba ya así la niñez y la mocedad visitante del Templo de la Paz debidamente adiestrada para que no tomase aquella incomparable exhibición de armas por lo que no era. Allí porras primitivas, mazas, partesanas, alfanjes y alabardas; allí hondas baleáricas, sambucas, catapultas, basiliscos, culebrinas y pedreros, trabucos, ametralladoras, lanzallamas; […]. Todo. Cada tipo o clase de arma estaba referida a la paz que conquistó: unas espadas de Toledo y unos mosquetes franceses tenían delante cartelas de esta leyenda: »Con armas de esta clase se logró la paz de Westfalia.« […] De tal suerte no se dejaba hueco al mal pensar y la función verdadera de las armas, que es hacer que unos hombres conserven sus vidas, sin más inconveniencia ni rémora que hacérselas perder a otros, quedaba bien patente y manifiesta. (Obras completas I, 1014-1015)

Eines Tages, und ohne jegliche Erklärung, kommt ein seltsames Artefakt im Museum an. Es handelt sich um eine geheimnisvolle Bombe, ähnlich der Atombombe, aber kleiner. Die Versuche herauszufinden, um was es sich genau handelt und wie das Artefakt funktioniert, beginnen verheerenden Schaden in dem friedlichen Land anzurichten. Als die Bombe im Museum auftaucht, benutzt der Autor konkret das Wort »Erscheinung«, das einen übernatürlichen Charakter des Ereignisses suggeriert. Die Bombe wird vom Autor auf klar iro-

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nische Weise beschrieben – sie ist offensichtlich anders: »La forma muy extraña, más bien oval que esférica, color tirando a cárdeno, parece o está dotado de un movimiento asemejable a un inflado globo que empieza a desinflarse y entonces se dilata otra vez a su plenitud y torna a encogerse, con rítmico subir y bajar« (ebd. 1018-1019). Es ist eindeutig, dass Salinas hier – ohne das Wort explizit zu verwenden – Form und Funktionsweise des menschlichen Herzens beschreibt. Am Anfang des Kapitels XI »Science is in trouble« wird das Labor beschrieben, in dem die mysteriöse Bombe gebaut wurde und das den Leser an das Labor in Los Alamos (New Mexico) erinnert, wo die erste Atombombe konstruiert wurde. Einer der bedeutendsten Wissenschaftler des Landes wird plötzlich verrückt und sticht sieben Mal auf die mysteriöse Bombe ein; daraufhin bläht sich die Bombe auf und lässt im ganzen Land so grauenvolle Schreie und Wehklagen verlauten, dass die Menschen wahnsinnig werden und der ETC ihre Evakuierung organisieren muss: Y lo que la bomba dispersó, empezó a dispersar en torno suyo, desde aquel momento, no fueron ni cascos de metralla, ni radiaciones de gases mortales. El dilatarse de su, por fin, revelada potencia se manifestaba en continuos efluvios de pompas emanadas de los labios de cada herida; burbujas de rojiza coloración, sucediéndose, tan densas y frecuentes, que el aire todo era suyo y se adueñaban de los espacios, por vastos que fuesen. (Ebd. 1085)

Die Menschen beginnen, mit Schiffen und Flugzeugen aus dem Land zu fliehen. Der Terror nimmt in der Welt überhand und alle fliehen vor den roten Blasen, die seufzen und stöhnen. Zwei unschuldige Wesen, Cecilia und Victor, sind die einzigen, die sich gegen eine Flucht entscheiden und sich auf die Suche nach dem Ursprung des Terrors machen. Victor Ensenada, ein bibellesender Dissident und Anhänger der Gewaltlosigkeit, sowie die mit einem symbolischen Namen ausgestattete Cecilia Alba6 sind beide vor der obsessiven Situation, die der ETC im Land geschaffen hat, geflüchtet. Cecilia lebt in Ciudadela (Zitadelle), einer prä-modernen Insel mitten im ETC. Als Cecilia die Bombe erreicht und sie umarmt, schließen sich ihre Wunden und die Bombe hört auf, Blasen und Wehklagen auszusenden. Dies ist eine klare Allegorie für die Suche nach Frieden in der Welt. Cecilia und Victor bezwingen die geheimnisvolle Bombe, die auf die gleiche Weise verschwindet, wie sie erschienen war, in einer Art Gründungsmission, als eine neue Version von Adam und Eva. Nur diesem Dissidentenpaar gelingt es, die Auswirkungen der Bombe erfolgreich zu verlangsamen; insbesondere Cecilia, die die Welt rettet, indem sie die Bombe umarmt: »para abrazar lo que no se entendía, lo que a 6 | »Alba« bezeichnet im Spanischen den Tagesanbruch.

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todos puso en pánico y ella fue a buscar, en amor: lo que sólo por abrazo se podía salvar« (ebd. 1128). Die Moral ist klar: Nur Liebe kann die Welt retten, denn sie erlaubt uns, das Leid zu verstehen und uns mit einer leidenden Menschheit zu solidarisieren. Dies alles geschieht nach Seiten voller Satire und Humor, welche die materialistischen (oder geldscheffelnden), geschäftsorientierten, bürokratischen, technischen und wissenschaftlichen Werte einer scheinbar entwickelten Gesellschaft in Frage stellen. Salinas’ schlichte Botschaft ist ganz anders als die von Huxley oder Orwell. Er präsentiert keine autoritäre Gesellschaft, die volle Kontrolle über ihre Bürger hat, obwohl es in seinem Szenario eine Polizeieinheit mit dem Namen Policía Interior de Averiguaciones (PIA) gibt. Er zeichnet stattdessen einen noch furchteinflößenderen Weg, in dem der Staat durch einen gebildeten und freundlichen Regenten repräsentiert wird, der gerne gute klassische Literatur liest, obwohl diese Art Literatur aus der Gesellschaft verbannt wurde und die Kinder angehalten sind, »Alice in technocracy land« zu lesen. Salinas genießt es, diese Absurditäten einer Gesellschaft anzuklagen, die derjenigen, in der er lebt und schreibt, so gefährlich ähnelt und zugleich so sehr von seinem Geburtsland Spanien entfernt ist. Er beschreibt z.B. die manipulative Rolle des Journalismus: Invención como ninguna la de la prensa diaria, tipo sin igual el del periodista, se iba pensando. Doscientos años atrás casi nadie se enteraba de ocurrencias cercanas a todos y en que a todos se les iba tanto. Vivían las gentes aborregadas, en mansueta paz y arrulladora ignorancia: su mundo, poco más que el que alcanzaban con la vista y el oído; sus ambiciones y afectos, confinados en un redil de seres familiares o conocidos, modesto aspirar a sencillas posesiones. El periodista, gran papel, había venido a agitarles, sacándoles de sus casillas; les precipitaba en el torbellino del mundo, conmovía sus corazones moviéndolos a compasión por un asesinato sucedido a tres mil kilómetros de allí; les hacía casi presentes, al leer su relato, a la boda opulenta de dos desconocidos, con quienes nada tenían que ver; calmaba sus impaciencias dando noticia cuidadosa de a cuánto subió la fiebre, aquella noche, del gran jugador de football, enfermo de trancazo. En la velocidad imaginativa que le producía la inminencia de su éxito, se le presentó una apropiada imagen: antes, las gentes, separadas unas de otras, en capas sociales, en reductos geográficos infranqueables, vivían cual varios líquidos de diversa densidad, sin conocerse ni mezclarse; pero el diario, operando como batidor o molinillo eléctrico, apenas se enchufa en la vista y atención del lector, acaba con esas pasividades y diferencias, impulsa tal agitación en la masa de los hombres que allá van, arrevueltos, zarandeados en el mismo meneo, ricos y pobres, senectos y adolescentes, todos unos, en la final confusión, hermosa unidad, donde nadie se distingue y todos se emburujan. Poder tan insigne de arrebañar en emoción nadie lo detenta de oficio: hoy se lo gana uno, por ejercicio de su agudeza, mañana le toca a otro, por designio de azar. (Ebd. 1027-1028)

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Salinas weist auch auf die Absurditäten der Politik hin. Inspiriert durch die amerikanische Prohibitionszeit, präsentiert er sein fiktives Land als ein Land, in dem alkoholische Getränke aufgrund eines neuen im Namen des Fortschritts verabschiedeten Gesetzes verboten sind. La bomba increíble muss allegorisch gelesen werden. Es gibt keine wirklichen Romanfiguren, sondern die Darstellung von Ideen, dem Kampf zwischen Glauben und Vernunft. Der Wissenschaftler ist beinahe ein Teufel; der Gläubige verteidigt seinen instinktiven Willen zu Koexistenz und Brüderlichkeit. Am Ende werden die Wissenschaftler besiegt und die Leser sehen sich der irrationalen Stärke des Gläubigen gegenüber. Inmitten dieser verzweifelten Situation steht die Intuition einer jungen Frau; sie ist die einzige, die in der Lage ist, das Geheimnis der Bombe mit Hilfe der Festigkeit ihres Glaubens zu lösen. Sie erkennt das Übernatürliche und bemerkt das Fehlen des Herzens in einem Bild der Dolorosa, macht sich auf die Suche nach der Bombe, und als sie sie findet, umarmt sie sie und schließt dadurch die Wunden der Bombe, wodurch endlich auch die lauten Wehklagen verstummen. Das Wimmern der Bombe symbolisiert den Schmerz, der durch so viele Kriege verursacht wurde: La verdad que Cecilia presentía, sin saberla, allí le salía a la cara; no, ni misterio inescrutable, ni fenómeno físico, era aquello; sí clamor de humanidad. Sollozos, gemidos, con calor aún de pechos y labios, conservado misteriosamente. Seres humanos, de siempre; los victimados, los ajusticiados sin justicia, los sacrificados por sus prójimos, los muertos de muerte cainita, de muerte por mano fraterna. Todos los tiempos del matar, y los muertos de muchos siglos, se juntaban aquí en pavorosa simultaneidad: los muchos pasados era un poso, tremendo, presente, que venía a embestir la conciencia del hombre, afirmándole que el fratricidio no prescribe, que cada nuevo muerto de mano hermana repite innumerables muertes, iguales, en el pasado que se suma a ellas y por todas debe doler. Se negaba el dolor a ser historia; aquí venía, en enorme masa secular, a que se le sintiera vivo y presente por los hombres que viven recluidos en sus solas vidas y no creen en más dolor que el de su momento. (Ebd. 1126)

Der (Fabel-)Roman hat eine klare Botschaft: Nur die Liebe, verkörpert durch das Dissidentenpaar (der symbolische Name Cecilia Alba suggeriert Musik und Hoffnung), kann die Menschheit retten, wie in den letzten Zeilen des Romans zu lesen ist – »abriendo vía, con el vértice de sus corazones, al sueño de una humanidad donde el morir jamás le viniese al hombre de mano de hombre: sólo de la voluntad de la Muerte. Hacia un mundo sin el ¡ay! de Abel« (ebd. 1126). Die Thematisierung von Schmerz und Leid der Opfer erinnert an Walter Benjamins bekannte geschichtsphilosophische These: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein«. Salinas kämpft für eine humanistische und wissenschaftliche Kultur, die beider Werte berücksichtigt. Deshalb schreibt er ironisch:

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Enric Bou el ministerio de Educación había proscrito, o iba desterrando, poco a poco, las materias dañinas o contaminadas. La Historia y Crítica del Arte, sustituida por la Técnica de las Artes Aplicadas; la enseñanza de la literatura por la Técnica de la comunicación oral y escrita, y así sucesivamente. Como el país era una democracia tecnológica, aún se toleraba la circulación y la lectura libre de obras de imaginación, aunque no se volvían a imprimir. (Ebd. 1063)

Der Roman ist in der Quintessenz als Angriff auf eine materialistische Sichtweise der Welt zu lesen. Salinas findet Gefallen daran, Alternativen zum Rationalismus zu präsentieren. Man kann ähnliche Positionen wie in seinen zahlreichen Attacken in El defensor oder in der für ihn charakteristischen langen Klage gegen eine übermäßig technisierte und ihre Orientierung verlorene Gesellschaft erkennen. Im Roman verarbeitet Salinas seine Reaktion auf die Entmenschlichung der modernen Welt und führt ein castizo-Element mit Anklängen an Spengler ein. In einem Brief an Tomás Blanco vom Februar 1950 definiert er die Gründe für seine moralische Einstellung: »Cada día soy más pasadista. ¡Viva el regreso, que es lo contrario de este progreso! Dicho de otro modo: ›Viva la porra y la navaja, y muera la bomba de hidrógeno‹« (Obras completas III, 1329). Der Roman fand nur ein sehr begrenztes Lesepublikum. Salinas beklagte sich über die Resonanz unter den wenigen amerikanischen Lesern. In einem Brief vom 23. Mai 1953 an Rodríguez Olleros, einem guten Freund aus Puerto Rico, schrieb er: Ha gustado mucho a los amigos, todos opinan que debería traducirse al inglés pero…. ¡Cuántas cosas hay en este pero, amigo Olleros! Una amiga americana me dice que haría sentirse a mucha gente un-comfortable. Claro, la bomba atómica ya ha entrado, por monstruoso que parezca, en lo normal. Y no conviene llamar la atención sobre ciertos puntos. Tres traductores la han leído, y los tres se salen con evasivas. (Ebd. 1471)

Am Ende gibt Salinas seine satirische und dystopische Haltung auf und schlägt ein neues Arkadien vor, eine neue Hoffnung, die durch das Umarmen der Bombe (und folglich auch von Schmerz und Leid) erreicht werden könne: Todo preludiaba. Se sentía una fragancia de orígenes, un aroma de dispuesta virginidad; todo preparado a esquiciar la faena de vivir; por estrenar estaban aires irrespirados, tierras sin hollar, aguas que no conocían de los labios. Les rodeaba una oferta inmensa, una inminencia de brote, pedido por las más profundas raíces, un albor de nidal y niñez. Las cosas querían ser, todas aceptadas por el hombre. Y se proponían a él, inmaculadas, para que viviera en ellas; temblaban, bajo la tierra sin arar, los trigos y los panes; las auroras aguardaban, al borde de las noches, seres en quien amanecerse; piaban los pájaros, por oídos. Y todo podía ser, o no ser. (Obras completas I, 1129)

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Sehr vereinfacht ließe sich sagen, dass Dystopie das Gegenteil von Utopie ist, bezieht man sie auf fiktionale Gesellschaften, die extrem mangelhaft sind und in denen die harmonischen und egalitären Eigenschaften des in Utopien dargestellten Lebens fehlen. Tatsache ist jedoch, dass Dystopien oftmals viele Elemente mit Utopien teilen – wie z.B. Maßnahmen intensiver sozialer Kontrolle –, diese Elemente aber bis zu einem grausigen Extrem getrieben und vor allem ihre negativen Auswirkungen hervorgehoben werden. Salinas’ Originalität und Innovation in den beiden Texten, dem behandelten Gedicht und dem Roman, besteht in der Fähigkeit eine dystopische Utopie darzustellen und Elemente zweier literarischer Formen zu mischen. Es ist außerdem hervorzuheben, dass Salinas in beiden Werken llanto (Wehklagen) und dolor (Schmerz) sowie Elemente der christlichen Tradition miteingearbeitet hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Potenzial der Atomwaffen zur Vernichtung von Menschen und menschlicher Kultur mehr als offensichtlich und Salinas reagierte mit bezwingender Logik auf diese neue Gefahr. In den drei betrachteten Textbeispielen (Briefe, Lyrik, Prosa) zeigen sich verschiedene Haltungen (Enttäuschung, Anklage, dystopische Vision), die drei verschiedene Instanzen der Reaktion auf das Exil und im Exil erkennen lassen. Im Vorwort zu Todo más claro… drückt Salinas deutlich seine Angst vor der Menschheit, den »zivilisierten Bürgern« aus, die die Möglichkeiten, die ihnen der philosophische und technische Fortschritt bietet, vergeuden. Dies illustriert er mit einem typischen Paradox: […] heredero directo del siglo de las luces e inventor de la electricidad, usa aquéllas para entenebrecerse todos los caminos de salvación, y se dispone a emplear ésta para transmitir, facilísimamente, con una leve presión digital, sobre un botón, y como el que no quiere la cosa, el impulso que haga a trizas a todo Cristo y a todos los cristianos; con los infieles, por supuesto de propina. (Obras completas II, 608)

Aussagen dieser Art zeigen uns den Grad an Skeptizismus an, den der Dichter und Schriftsteller Pedro Salinas in der Zeit nach dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg erreicht hatte.

B ibliogr aphie Bou, Enric. »›Descubrimiento‹ o ›encuentro‹: Pedro Salinas en las Américas«. La Torre VIII.32 (1993): 437-56. Cross Newman, Jean. Pedro Salinas and his circumstance. San Juan, Puerto Rico: Inter American University Press, 1983. Einstein, Albert. »Letter to the editor«. The New York Times, 10. Oktober 1945: 20.

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Dialoge mit Toten Zum Motiv des leeren Wartens bei Anna Seghers und Teresa Pàmies Loreto Vilar

Durch das Warten der Exilanten auf das Ende der lebensbedrohenden Gewalt in der Heimat »exponiert und potenziert die Exilsituation nur, was ein generell zeitgenössisches Schicksal ist: das Leben im Transit« (Pikulik 12). Dieses essentielle Merkmal der Moderne nimmt allerdings bei seiner literarischen Realisierung im Motiv des leeren Wartens – der »leere[n] Zeit« (Benz 46) des Wartens, die wohl »mit Unruhe, auch im motorischen Sinne, einhergehen kann« (Pikulik 19) – im Werk von zwei kommunistischen Schriftstellerinnen, Anna Seghers (Mainz, 1900 – Berlin, 1983) und Teresa Pàmies (Balaguer bei Lleida, 1919 – Granada, 2012), Formen an, auf die das augustinische Verständnis der Zeitdimensionen neues Licht werfen kann: die Gegenwart des Zukünftigen oder die Erwartung, die Gegenwart des Vergangenen oder die Erinnerung und die Gegenwart des Gegenwärtigen oder die Anschauung.1 Im Folgenden soll dies anhand von einigen Werken von Seghers und Pàmies illustriert werden, die sich mit dem Komplex Krieg-Exil-Rückkehr befassen. Konkret sollen hier folgende Werke untersucht werden: der Roman Transit (1944) und die Erzählungen Post ins Gelobte Land (1944-45/46) und Wiederbegegnung (1977) von Seghers, die 1933-47 im Exil war, und die Romane Amor clandestí (Liebe in der Il-

1 | Im 20. Kapitel des 11. Buches seiner Confessiones (Bekenntnisse) beschreibt Augustinus seine Überlegungen zum Thema Zeit wie folgt: »Es gibt drei Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, genau würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber nehme ich sie nicht wahr. Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung.«

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legalität, 1976), Memòria dels morts (Das Gedächtnis der Toten, 1981) und Massa tard per a Cèlia (Zu spät für Cèlia, 1984) von Pàmies, 1939-71 im Exil. Ungeachtet der gattungsspezifischen Parameter von historisch bedingter Fiktion – bei Seghers – und literarisch gefärbter Autobiographik – bei Pàmies –,2 möchte ich auf etliche Parallelen bei dem jeweils in der Handlung angelegten Warten-Motiv aufmerksam machen und die verschiedenen »Semantiken des Wartens« (Benz 208) nach der Zeit-Triade des Augustinus als Zukunftserwartung, Erinnerungsbann und Gegenwartswertung ergründen. Anhand von Seghers’ Wiederbegegnung und Pàmies’ Liebe in der Illegalität wird erstens das zukunftsorientierte Warten der Lebensgefährtinnen von illegalen KP-Leitern im Exil und nach der Rückkehr in Spanien im Sinne eines Utopie-Konstrukts untersucht, das Ideologisches und Emotionales verbindet. Die Treffen der Liebenden, die einzigen Unterbrechungen des sonst leeren Wartens, gelten hier als Utopie-Zeichen, lassen sich aber auch als Vorstufen der Dialoge mit Toten in den anderen ausgewählten Werken deuten. In Anlehnung an Seghers’ Transit und Pàmies’ Zu spät für Cèlia wird zweitens das vergangenheitsfixierte Warten der unwissenden Frauenfiguren Marie und Cèlia auf ihren toten Geliebten im Licht des Dystopischen analysiert. Dadurch, dass eine Zusammenkunft der Liebenden nicht in der irdischen Welt stattfinden kann, materialisiert das leere Warten in den zwei Romanen eine dystopisch konnotierte Suspendierung der Zeit, in der Dialoge mit Toten imaginiert werden. Als Aeternitas-Figuration wird drittens das die Gegenwart würdigende Warten in Dialogen erforscht, die den Tod transzendieren. Sowohl durch die Unterhaltung der Ich-Erzählerin in Pàmies’ Das Gedächtnis der Toten mit ihrer längst verschiedenen Mutter, als auch durch die fortlaufende Korrespondenz zwischen Vater und verstorbenem Sohn in Seghers’ Post ins Gelobte Land erweist sich leeres Warten schließlich als ein Modus der Überwindung der Vergänglichkeit. An der komparatistischen Auseinandersetzung mit dem Werk von Anna Seghers und Teresa Pàmies soll mithin die Produktivität von Möglichkeits2 | Seghers’ Werke gehören in den Bereich der Fiktion, während Pàmies sich selbst deutlich als Chronistin sieht und mit ihrem Erzählen auf Zeugenschaft abzielt (La literatura com a crònica, 13f.; Teresa Pàmies, 13). In den hier herangezogenen Texten von Pàmies ist der Erzählduktus dementsprechend und trotz des Wechsels zwischen der Ich- und der Er/Sie-Form autoreferentiell. Ihrerseits bedient sich Seghers einer Erzählinstanz, die sich historisch nur am Anfang von Wiederbegegnung mit ihr selbst identifizieren ließe: eine Ich-Stimme begegnet darin einer Gruppe diskutierender spanischer Emigranten in einem Café in der Stadt México, danach erzählt sie ihre Geschichte. In Transit ist es ein unbenannter deutscher Flüchtling, der in einer Pizzeria am Vieux Port von Marseille seine eigene Geschichte in der Ich-Form erzählt. Nur in Post ins Gelobte Land verzichtet Seghers auf solch eine erzählerische Rahmung: Die Geschichte wird hier aus der Distanz einer allwissenden Autorinstanz in der Er/Sie-Form erzählt.

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denken – als »die Voraussetzung für jede Form philosophischer, anthropologischer, gesellschaftlicher und künstlerischer Utopie oder Dystopie« (Voßkamp 13) definiert – für die deutschsprachige und die katalanische Exil- und Postexiliteratur exemplifiziert werden.

1. U topie . U nterbrochenes W arten und Z ukunf tsperspek tive Sowohl in Wiederbegegnung von Seghers als auch in Liebe in der Illegalität von Pàmies fokussiert das leere Warten des Einzelnen hinsichtlich des augustinischen Begriffs der »Gegenwart des Zukünftigen« eine utopisch konnotierte Zukunft, in der politischer Triumph und privates Glück unzertrennbar verwebt sind. Jeweils reflektiert das Schicksal eines kommunistischen Paares,3 wie Friedrich Albrecht es für Seghers’ Erzählung bemerkt: »das Schicksal einer ganzen historischen Bewegung« (125). Aufgeworfen wird dadurch die Frage nach dem »Preis an Lebensglück des Einzelnen« (Hilzinger 144), wenn die Zeit des Wartens kein Ende nimmt, wie in Wiederbegegnung, oder wenn sie zwar endet, das Leben dann aber schon fast vergangen ist, wie in Liebe in der Illegalität. Dem ideologischen Fundament von Wiederbegegnung – dem Utopie-Gedanken – entsprechend, dürfen die Spanierin Celia, die mit Ende des Bürgerkriegs 1939 zunächst nach Frankreich und dann nach Mexiko ins Exil geht, um erst 1949 zurückzukehren, und ihr Mann Alfonso Varela, der die ganze Zeit im Widerstand gegen Franco im Untergrund tätig ist, nur in einem neuen Spanien nach der franquistischen Diktatur endgültig zusammen sein. Am Ende der erzählten Zeit, in den 1950er Jahren, währt die Trennungszeit entsprechend der historischen Faktizität noch. Im deutlich autobiographischen Buch Liebe in der Illegalität von Pàmies, dessen Inhalt die erzählte Zeit von Seghers’ Wiederbegegnung ausdehnt, lässt die Autorin ihre über zwanzig Jahre lange Lebensgemeinschaft mit dem KP-Leiter in der spanischen Illegalität, Gregorio López Raimundo (1914-2007), unter Auslassung ihrer beiden Namen Revue passieren. Die Erzählzeit beginnt hier mit der Rückkehr der 52 Jahre alten Pàmies mitsamt ihren Söhnen im Jahr 1971 aus dem Exil nach Barcelona4 und läuft 1976 mit der erzählten Zeit zusammen. Die Diktatur ist dann zu Ende und das 3 | Obwohl in Seghers’ Wiederbegegnung die spanische Kommunistische Partei nie beim Namen genannt wird, ist die Bezeichnung »die Roten« (110) und auch die einfache Form »die Partei« (69), deutlich darauf zu beziehen. 4 | Aus einer früheren Lebensgemeinschaft hat Pàmies drei Kinder, von denen bei ihrer Rückkehr nach Spanien 1971 nur Tomàs und Pau am Leben sind. López Raimundo ist der leibliche Vater ihrer jüngeren Söhne Tonet und Sergi.

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Zusammenleben der Protagonisten in der Legalität endlich möglich, nur sind die darauf wartenden Pàmies und López schon um die sechzig. Allerdings fügt sich dem harten Los der Figuren in diesen Geschichten eine metaliterarisch tragisch zu nennende Dimension dadurch hinzu, dass sowohl Wiederbegegnung als auch Liebe in der Illegalität aus der Perspektive der Zeit unmittelbar nach dem Tod des Diktators im November 1975 – am Anfang des demokratischen Wandels, in der so genannten transición5 – geschrieben werden.6 Beide Autorinnen – Seghers in der DDR und Pàmies in Spanien – wissen, dass das Ende der Franco-Diktatur nicht auf die Widerstandstätigkeit der spanischen KP zurückzuführen ist, was ihre Protagonisten in einem im Erlöschen begriffenen Licht der Utopie erscheinen lässt; ungeachtet dessen, ob letztere darum wissen (wie bei Pàmies) oder nicht (wie bei Seghers).7 In beiden Werken wird in dieser Hinsicht die aktive Zeit von Krieg und Flucht von den Frauen, aus deren Sicht in der Regel erzählt wird, viel positiver bewertet als das darauf folgende bloße Warten im Exil und nach der Rückkehr in die Diktatur. Entsprechend lässt Seghers die Protagonistin in Wiederbegegnung, die Penelope-ähnliche Celia (Dubrowska 239), folgendes Fazit ziehen: »Was wir durchfahren, ist echte, durchlebte Zeit, all die Jahre, die nachher kamen, waren Staubzeit« (103). Diese langjährige »Staubzeit« wird lediglich durch die

5 | Bekannterweise basierte die transición in Spanien (1975-82) »auf einem offiziellen Verschweigen der Bürgerkriegs- und Diktaturverbrechen« (Capdepón 34). 6 | Die ersten Notizen von Seghers zu Wiederbegegnung stammen aus dem Jahr 1957 (Zehl Romero 306; Albrecht 133f.; Kaufmann 207f.). Die Autorin beschäftigt sich aber erst ab Mitte 1975 (Zehl Romero 306) oder Ende 1975 (Albrecht 134) mit der Niederschrift der Erzählung, »wobei nicht auszuschließen ist, dass die durch den Tod Francos entstandene neue Lage ein auslösendes Moment gewesen sein könnte« (Albrecht 134). Pàmies schreibt Liebe in der Illegalität im Jahr 1976, am Ende stehen Ort und Datum: »Barcelona, September 1976« (238), Orig.: »Barcelona, setembre de 1976«. 7 | Darauf bezogen scheint die am Anfang von Wiederbegegnung auftretende Metapher des auf den Grund sinkenden beziehungsweise fallenden Steins wichtig. Dazu fragt Albrecht: »Sollte man in diesem Bild nur eine schöne Metapher sehen oder einen geheimen Sinn vermuten? Dreimal in wenigen Zeilen das bedeutungsschwere Wort ,Grund‹ […] Ist das, was hier zu Grunde geht, eine Hoffnung? […] Wurde Wiederbegegnung erst erzählbar, als diese Hoffnung zu Ende ging?« (136). Die Tatsache, dass Seghers die Figuren Celia und Alfonso, »Träger von Idealen, die ihr [Seghers] selber teuer sind« (ebd. 135), gerade »aus dem Abstand eines Vierteljahrhunderts [sieht]« (ebd.), zeigt Albrecht zufolge, dass die Autorin »zweifellos auch das Illusorische ihres [Celias und Alfonsos] Handelns [erkennt]« (ebd.). In diesem Sinn sei Wiederbegegnung für Albrecht »fast wie ein Requiem« (ebd. 134).

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geheimen Begegnungen der Paare, die unter größter Gefahr stattfinden,8 unterbrochen. In Seghers’ Wiederbegegnung sind es nur drei Unterbrechungen.9 Die erste findet im Sommer 1944 in Mexiko statt und dauert drei Tage, in denen eine Tochter gezeugt wird. Die zweite und dritte werden in Spanien arrangiert und dauern nur wenige Minuten, in denen die Liebenden nicht alleine sind und kein Wort wechseln dürfen. Es handelt sich um eine hastige konspirative Zusammenkunft im Februar 1951 in einem Papiergeschäft,10 und eine spätere, 8 | In Liebe in der Illegalität wird diesbezüglich auf die Geschichte vom Kommunisten Julián Grimau García (1911-63) hingewiesen, der wie Gregorio López Raimundo in Spanien versteckt lebte, wo er entdeckt, verhaftet, gequält und schließlich wegen falscher Anklage und trotz weltweiter Proteste zu Tode verurteilt und hingerichtet wurde. In Wiederbegegnung müssen die Begegnungen der Liebenden aufgrund der Gefahr von der Parteileitung bewilligt werden. Das erste Treffen wird beispielsweise nur dank des Drängens eines mitfühlenden Genossen gestattet, der den unnötig harten (Kaufmann 210) verantwortlichen Parteileiter durch solche Argumente gewinnt wie: »Sie [Celia] geht vor meinem Augen langsam, ganz langsam zugrund. Sie lebt von der Hoffnung, ihn [Alfonso] doch einmal wiederzusehen«, und: »Er [Alfonso] braucht einen Funken Freude, nur einen Funken Freude« (Wiederbegegnung, 78f.). 9 | Dies wird in Seghers’ Wiederbegegnung sowohl von Alfonso Varela als auch von seiner Frau Celia geduldet. Zwar denkt er über die lang jährige Trennung von seiner Frau: »Das durfte nicht sein in dem Leben, das er jetzt führen mußte« (ebd. 69), aber in der Erzählung findet sich kein Beweis dafür, dass er die Parteileitung um eine Zusammenkunft mit ihr bittet. Da Celia ihm entgegen die Genossen und Freunde ständig nach ihrem Mann fragt, wird ihre Standfestigkeit angezweifelt, so dass sie vor allem vor und nach einer Begegnung mit ihm von diesen Freunden gewarnt wird, sie solle sich beherrschen, bezwingen (ebd. 75, 87, 133) und »tapfer« (ebd. 135) sein. Das alles billigt sie, die von der Wichtigkeit und der Gefahr des Kampfes gegen Franco überzeugt ist wie ihr Mann Alfonso. Nur einmal erlaubt sich Celia einen schüchternen Ausdruck der Verwunderung, als sie den Vorwurf eines Genossen kurz vor ihrer Rückkehr nach Spanien vernimmt: »Gesteh mir’s ein, Celia, du willst zwar für uns fahren, mit den Aufträgen, die man dir in Paris gibt, aber nicht nur für uns. Du hast die Hoffnung, Alfonso wiederzusehen«. »Wie soll ich die Hoffnung aufgeben?« (ebd. 101), entgegnet sie dann. Kaufmann zitiert die entsprechende Stelle in einer früheren Manuskript-Fassung von Wiederbegegnung, in der »die Unterordnung unter den politischen Auftrag ausdrücklich formuliert war« (211), woraus geschlussfolgert werden könne: »Die Menschlichkeit derer steht infrage, die angetreten waren, Unmenschlichkeit zu bekämpfen« (ebd.). 10 | In dieser Szene klingt gar eine auf die historische Situation bezogene Korrektur des Mythos von Orpheus und Eurydike an: Seghers’ Alfonso handelt vorsichtiger, klüger als Orpheus, weil er sich nicht nach der Geliebten umdreht, was sie beide vor dem vermeintlichen franquistischen Spitzel rettet.

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undatierte Begegnung in einem Spital. Dort muss Alfonso als Insasse des Gefängnisses von Burgos nach einer Operation Station machen; Celia darf der pflegenden Nonne helfen, ihn umzubetten.11 Wohl am Ende seines Lebens fragt sich nun Alfonso, ob ihm die Liebe mehr war als das Leben und auch: »was war sein Leben wert? Wozu wird es noch wert sein? Was war das, was einem Menschen, was ihm selbst wert war?« (ebd. 137). Obwohl die Antwort, die »aus den gleichgebliebenen, unveränderten, hellen Augen« (ebd.) Alfonsos kommt, affirmativ zu sein scheint,12 genügt solch ein unerhörter Verzweiflungsmoment, um die positive Zukunftsperspektive sowohl im Privaten als auch im Bereich des politischen Kampfes in Frage zu stellen. In Pàmies’ Liebe in der Illegalität finden die geheimen Begegnungen der Liebenden viel häufiger statt, im Exil dürfen sie sogar lange Zeit zusammenleben, die Kinder sind in die Konspiration eingeweiht und machen mit, und weder Sexuelles noch Depressionen werden ausgeklammert wie bei Seghers. In Korrespondenz mit ihr zeigt Pàmies aber auch, wie sich das lang erwartete definitive Zusammensein der Partner in der Legalität parallel zur Etablierung der Demokratie in Spanien immer weiter entfernt. Diesbezüglich bemerkt Pàmies’ Ich-Erzählerin 1976 über das langjährige Warten: »Ich habe es satt, satt, übersatt« (Liebe in der Illegalität, 21),13 und sie klagt sogar: »Der Postfranquismus kommt mir länger vor als der Franquismus« (ebd. 226).14 Mit ihrer kalten bis missachtenden Reaktion dem alten Freund und »Renegaten« Fernando Claudín (1915-90)15 gegenüber signalisiert sie zudem die stalinistische Praxis der spanischen KP als wichtige Hürde auf dem Weg zur stets postulierten Verbrüderung und zur demokratischen Wende: »Wir waren verzerrt« (ebd. 144),16 urteilt sie. 11 | Auf die Nähe der Celia-Figur in Wiederbegegnung zur Krankenschwester Celia in den Romanen Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968) macht Albrecht (122, 130f.) aufmerksam. 12 | Das endgültige Urteil über den Preis solch eines Lebensopfers bleibt dem Lesepublikum überlassen. Vgl. Kaufmann (213) zu den oft kritischen schriftlichen Kommentaren und Korrekturvorschlägen des Ehemannes von Anna Seghers, Lazslo Radvanyi, im Sinne einer weltanschaulichen Konkretisierung beim dritten Treffen von Celia und Alfonso. Kaufmann zufolge hat die Autorin bei der Überarbeitung des Manuskripts jene Bemerkungen und Korrekturvorschläge meistens ignoriert. 13 | Orig.: »N’estic tipa, tipa, ben tipa«. 14 | Orig.: »El postfranquisme se’m fa més llarg que el franquisme«. 15 | Claudín wurde 1965 wegen seiner offenen Kritik an der offiziellen Linie aus der spanischen KP ausgeschlossen. Auch wenn die zwei Familien Gregorio López/Teresa Pàmies und Fernando Claudín/Carmen Urondo im Pariser Exil eng befreundet gewesen waren, wird nach dem Ausschluss jeglicher Kontakt abgebrochen. 16 | Orig.: »Estàvem deformats«.

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Sowohl in Liebe in der Illegalität als auch in Wiederbegegnung »füllen« die Treffen der Liebenden folglich die semantische Leere des Wartens – während des Zusammenseins werden Zeit und politischer Auftrag vergessen17 –, wodurch diese Momente als winzige »Utopiesignale« sublimiert werden. Während Seghers dabei aber ihre Figuren stilisiert, bis sie zu Helden18 mit Märtyrer-Merkmalen werden, wirken die Protagonisten von Pàmies gerade durch ihre Fehlbarkeit viel realer. Die allerletzten, verzweifelten Fragen Alfonso Varelas und das selbstkritische Urteil der Ich-Erzählerin von Pàmies scheinen allerdings die Dialoge mit Toten in chronologisch entfernten Werken wie Transit und Zu spät für Cèlia thematisch anzukündigen.

2. D ystopie . S teriles W arten und V ergangenheitsfixierung Das leere Warten der Marie-Figur in Seghers’ Transit stimmt mit der Erfahrung von Cèlia Planes in Pàmies’ Zu spät für Cèlia dadurch überein, dass es sich mit dem augustinischen Konzept der »Gegenwart des Vergangenen« identifizieren lässt – wie Haas (Ideologie und Mythos, 78f., 83-6) es für Marie feststellt. Beiden Frauenfiguren bleibt die Information über das tragische Schicksal ihrer jeweiligen Liebsten versperrt, weshalb sich ihr auf die Vergangenheit fixiertes, vergebliches Warten als höllenartiges Suchen enthüllt,19 das nur in den Tod führen kann.

17 | In dieser Hinsicht kommentiert Seghers’ Erzählstimme in Wiederbegegnung: »In dieser Zeit war vergessen, was hinter ihm [Alfonso] lag, bald vor ihm liegen würde« (85). Vgl. dazu Pàmies’ Ich-Erzählerin in Liebe in der Illegalität: »Nie sprachen wir von deiner [des Lebenspartners] Arbeit [in der Illegalität]. Auch nicht von meinen Sorgen als alleinerziehende Mutter voller Probleme. Wir schwammen, gingen spazieren, spielten mit den Kindern, machten Ausflüge; immer zusammen, wir vermieden es, an die abtropfende Zeit zu denken« (81), Orig.: »De la teva feina no en parlàvem mai. De les meves cuites de mare soltera carregada de problemes tampoc. Nedàvem, passejàvem, jugàvem amb la canalla, sortíem d’excursió; sempre plegats, evitant pensar en el temps que s’escolava«. 18 | In Seghers’ Wiederbegegnung ist Alfonso Varela in diesem Sinn als Alfonso »aus« oder »von Teruel« (69,139) bekannt. 19 | Im Roman Transit von Seghers wird die höllenartige Natur dieses Wartens durch das kafkaeske Märchen vom toten Mann illustriert, das von einem jüdischen Transitär erzählt wird. Ein Toter, dem das Warten auf Gottes Urteil in der Ewigkeit unerträglich wird, erhält von Gott schließlich die Antwort: »Auf was wartest du eigentlich? Du bist doch schon längst in der Hölle« (Transit, 209). Darauf muss der Mann einsehen, dass

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In Transit sucht Marie im Winter 1940/41 in Marseille hartnäckig und rastlos das »Glück« (138) ihres Lebens, ihren ersten, »den richtigen« (226) Freund, den sie aber Monate vorher in Paris verlassen hat. Dass er, der Schriftsteller Weidel,20 inzwischen – im Sommer 1940 – in einem Hotel in der Pariser Rue de Vaugirard Selbstmord begangen hat, weiß sie nicht. Und weder in ihrem neuen Liebhaber, dem Arzt, noch im Ich-Erzähler, der sich in sie verliebt hat und sich mit Weidel durch Namensverwandtschaft identifizieren ließe, vermag Marie einen Ersatz für den Schriftsteller zu erkennen.21 Solch ein Ersatz könnte gewiss ihr gegenwärtiges Leben mit Sinn erfüllen und sie von der Vergangenheitsfixierung erlösen, aber Marie muss den verlorenen Geliebten ewig suchen, unerlösbar auf ihn warten wie unter einem Fluch. In diesem Sinne schlussfolgert der Erzähler im Roman von Seghers: Sie läuft noch immer die Straßen der Stadt ab, die Plätze und Treppen, Hotels und Cafés und Konsulate auf der Suche nach ihrem Liebsten. Sie sucht rastlos nicht nur in dieser Stadt, sondern in allen Städten Europas, die ich kenne, selbst in den phantastischen Städten fremder Erdteile, die mir unbekannt geblieben sind. Ich werde eher des Wartens müde als sie des Suchens nach dem unauffindbaren Toten. (Ebd. 281)

Sibyllinisch klingen kurz davor die Worte der französischen Beamtin in der Präfektur, die Maries Visa de sortie ausfertigt: »Sie werden vielleicht noch auf der Fahrt mit Ihrem Liebsten vereint werden« (ebd. 268), sagt die Frau, Worte, deren versteckten Sinn Marie nicht erkennen kann, nicht erkennen will, auch nicht nachdem sie die Information des Ich-Erzählers gehört hat: »Dein Mann, Marie, ist tot. Er hat sich das Leben genommen in der Rue de Vaugirard beim Einmarsch der Deutschen in Paris« (ebd. 267). In der Vergangenheit verfangen, kann Marie die Gegenwart nur im Zeichen des Dystopischen und des sein Aufenthalt im Winter 1940/41 in Marseille, genau solch »ein blödsinniges Warten auf nichts« (ebd.) ist, das nur mit der Hölle identifiziert werden kann. 20 | Als reale Vorbilder für Weidels tragisches Schicksal in Transit mögen Seghers folgende Schriftsteller gegolten haben: Ernst Weiss (Brünn, 28.8.1882 – Paris, 15.6.1940), Walter Hasenclever (Aachen, 8.7.1890 – Les Milles/Aix-en-Provence, 21.6.1940), Carl Einstein (Neuwied, 26.4.1885 – Pau, 5.7.1940), Walter Benjamin (Berlin, 15.7.1892 – Portbou, 27.9.1940). 21 | Im Ich-Erzähler scheint Marie eine unkonkrete Verwandtschaft mit ihrem ersten Mann zu erkennen: »mir kommt es vor, du seiest nicht der letzte, den ich gekannt habe, sondern der erste« (ebd. 266), sagt sie, ohne diesem Empfinden aber auf den Grund zu gehen. Vgl. Seghers (Briefe, 45): »Was mit dieser Frau und ihren zwei Freunden und ihrem toten Geliebten passiert, das gleicht der Handlung von [Racines] Andromaque: Zwei Männer kämpfen um eine Frau, aber die Frau liebt in Wirklichkeit einen dritten Mann, der schon tot ist.«

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Todes erleben. Schließlich soll ihr Schiff, die Montreal, einem Gerücht zufolge zwischen Dakar und Martinique untergegangen sein. Sehr ähnlich gestalten sich Leben und Tod von Cèlia Planes in Pàmies’ Zu spät für Cèlia. Mit neunzehn – als sie Ende des Spanischen Bürgerkriegs als Krankenschwester eingesetzt wurde – hat Cèlia ein Liebesverhältnis mit dem gleichaltrigen slowenischen Interbrigadisten und Medizinstudenten Vilko Koraly gehabt. Daraus ging im Juli 1939, nachdem Koraly sich schon auf die Flucht nach Frankreich begeben hatte, ein Kind hervor. Da die auf nationalkatholischem Fundament errichtete Franco-Diktatur zu dem Zeitpunkt in Spanien gerade etabliert wurde, musste die in Barcelona verbliebene Cèlia wegen ihrer unehelichen Mutterschaft mit dem Stigma der Unmoral leben. Bis sich zwei Jahre später ein Ehemann fand, Cèlias Vetter, der Mutter und Kind ein konservativ-anständiges Familienimage verlieh. Cèlia Planes führte dann fast vierzig Jahre lang, bis zu ihrem 60. Geburtstag im Jahre 1979, als sie aus dem 5. Stock das Wendeltreppenhaus hinabstürzte, ein doppelgesichtiges Leben. Öffentlich galt sie als musterhafte gutbürgerlich-katholische, wenn auch etwas launisch-verträumte Ehefrau. In ihrem Herzen wartete sie aber beharrlich auf eine Nachricht von Vilko Koraly, zu dem sie auch heimlich Nachforschungen anstellte. Diese Geschichte wird in Zu spät für Cèlia aus der Perspektive des Jahres 1983 geschildert, als eine mit Pàmies identische Ich-Erzählerin, die mit Cèlia Planes befreundet ist, auf einer Reise in Slowenien22 durch Zufall vom Schicksal Vilko Koralys erfährt. Er ist nämlich 1944 als Widerstandskämpfer in seiner Heimat ermordet worden, eine Information, die Cèlias langjähriges leeres Warten und ihr unermüdliches Suchen als Fluch kennzeichnet, der ihre von der Vergangenheit und der Erinnerung dominierte Gegenwart wie bei Seghers’ Marie als sterile Zeit gestaltet. In diesem Sinn ist in Pàmies’ Zu spät für Cèlia Folgendes zu lesen: »Cèlia wollte nicht vergessen, spielte aber riskant mit dem ›ich will mich nicht daran erinnern‹. Man forderte von ihr Erklärungen, die sie immer wieder neu erfand, die Erinnerung verzerrend, bis sie die Koordinaten änderte und sich darin einrichtete« (54f.).23 Ohne dass der lineare Verlauf der Zeit aufgehoben wird, ist die Lebenszeit beider unwissenden Frauenfiguren, Seghers’ Marie und Pàmies’ Cèlia, auf ewig gestundet. Die leere Zeit des Wartens können sie nur mit illusionären Zwiegesprächen mit ihren toten Geliebten »füllen«, die – bei Seghers durch Mythologisierung, bei Pàmies durch kritische Realitätsbezogenheit – in den 22 | Anlässlich der slowenischen Übersetzung ihres Buches Testament a Praga (Testament in Prag, 1971) reiste die Autorin Teresa Pàmies im November 1983 nach Ljubljana und Bled. 23 | Orig.: »La Cèlia no volia oblidar, però jugaba perillosament al ›no vull recordarme’n‹. Els altres li exigien explicacions, ella les inventava i a força d’inventar, o sigui de deformar el record, acabà modificant les coordenades i s’hi va instal·lar«.

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Bereich des Dystopischen einzuordnen sind. Denn weder der Arzt noch der Ich-Erzähler in Transit, noch der kleinbürgerliche Ehemann in Zu spät für Cèlia erweisen sich als plausible Erlösungsfiguren. Bezeichnenderweise bleiben beide auch anonym.

3. A e ternitas . E rfülltes W arten und G egenwartskonstruk tion Dem jüdischen Arzt Jakob Levi in Seghers’ Post ins Gelobte Land und der unbenannten, mit der Autorin identifizierbaren Tochter in Pàmies’ Das Gedächtnis der Toten gelingt es, das leere Warten im Sinne der augustinischen Idee der »Gegenwart des Gegenwärtigen« fruchtbar zu machen. Sowohl der Briefwechsel zwischen Sohn und Vater bei Seghers als auch die Unterhaltung zwischen Tochter und Mutter bei Pàmies sind zudem gelungene Dialoge mit Toten, die jeweils in der als »Trauerarbeit« (Zehl Romero 91) beziehungsweise »Requiem« (Haas, Post, 139, 148f.) apostrophierten Familiengeschichte Post ins Gelobte Land und in der genauso angelegten Rückkehrer-Geschichte Das Gedächtnis der Toten erfolgen.24 In Post ins Gelobte Land wird der briefliche Dialog zwischen dem Augenarzt Jakob Levi in Paris und seinem nach Palästina übergesiedelten Vater Nathan auch nach dem frühen Tod des Sohnes fortgesetzt. Dessen Witwe schickt trotz Krieg und Flucht die von ihm auf Vorrat geschriebenen Briefe an den unwissenden Schwiegervater regelmäßig; der allerletzte Brief vom Toten wird, als die Frau wohl auch nicht mehr am Leben ist, von einer Freundin der Familie gesendet. Später findet sich sogar ein Unbekannter, der noch einen Brief verfasst, »der ungefähr den Briefen entsprechen möchte, an die der alte Mann gewöhnt 24 | In dieser Hinsicht könnten folgende Worte von Seghers’ Biographin Christiane Zehl Romero zu Post ins Gelobte Land auch auf Pàmies’ Das Gedächtnis der Toten zutreffen: »Es liegt nahe anzunehmen, daß die Erinnerung an die eigenen Eltern und vielleicht auch ein Gefühl der Versäumnis ihnen gegenüber in die bewegende Darstellung hineinspielen. Post ins gelobte Land wäre dann Kommunikation der Autorin mit den Eltern über deren Tod hinaus, eine Kommunikation, die während des Lebens nicht mehr gelang« (91). In enger Korrespondenz mit dieser Idee klingt der erste Satz von Pàmies’ Das Gedächtnis der Toten an, der von der toten Mutter ausgesprochen wird: »Die Lebendigen gedenken uns nur voller Reue« (9), Orig.: »Quan els vius ens recorden ho fan condicionats pel remordiment«. Die hier sprechende Ich-Erzählstimme ist nur in den Anfangsseiten des Buches mit der toten Mutter identifizierbar, im restlichen Text erzählt dann die Tochter. Um die Glaubwürdigkeit eines Gesprächs zu untermauern, das nur im Traum oder als Halluzination hat stattfinden können, versichert sie unpräzise, dass sie ihre Mutter »in meiner Besessenheit« (ebd. 57), Orig.: »per la meva obsessió«, wiedergetroffen hat.

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war« (Post, 91). Und auch im »Gelobten Land« in Palästina entsteht eine ähnliche Menschengemeinschaft, die sich am Aufrechterhalten der Korrespondenz beteiligt. Zunächst nimmt Nathan Levis Zimmergefährte im Altersheim am Vater-Sohn-Dialog teil. Er, der selbst keine Briefe erhält, wartet genauso neugierig auf die Briefe aus Paris, muss sie dann dem kurz nach seiner Ankunft blind gewordenen Nathan Levi vorlesen und die von ihm diktierten Antworten an den Sohn in Paris niederschreiben. Bald darauf schließen sich die übrigen Greise im Haus den beiden Freunden an. Sie alle warten auf die Briefe aus Frankreich, lesen sie gemeinsam und trösten einander, wenn sie lange ausbleiben.25 Neben diesen organisatorisch-materiellen Voraussetzungen ist in Seghers’ Post ins Gelobte Land zudem der Inhalt der Briefe von Jakob Levi von besonderer Wichtigkeit.26 Der todeskranke Sohn schreibt nur über jene Dinge, »die nichts auf der Welt verändert[…]« (ebd. 84), nämlich Liebe (in Form von Familienliebe) und Nächstenliebe (mit seinen beruflichen Verpflichtungen als Arzt verbunden). Gerade im Zeichen der Liebe wird im allerletzten Brief nicht nur der eigene Tod angekündigt, sondern auch ein Mittel für dessen Überwindung aufgedeckt. In jenem Brief wird eine Szene nach dem Zeremoniell der jüdischen Orthodoxie herauf beschwört, in der lebendige und tote Familienmitglieder in der Synagoge in Paris versammelt sind. Da sieht der Sohn auf die Flamme der Jahreszeitkerze für die tote Mutter »begierig hinunter« (ebd. 90), woraus die Vorahnung des eigenen Todes deutlich herauszulesen ist. Diese Stelle im letzten Brief des Sohnes richtig interpretierend, imaginiert der alte Vater, der nach der Lektüre in einen Zustand der Ekstase geraten ist, 25 | Wie in Seghers’ Post ins Gelobte Land zu lesen ist, hätten die Greise auch fast zu einer für sie »sündhaft[en]« (89) Fälschung gegriffen, wäre der allerletzte Brief des toten Levi-Sohnes nicht doch angekommen. So sehr identifizieren sie sich mit dem fremden Dialog. 26 | Dem Titel entsprechend, liegt der Fokus in Seghers’ Post ins Gelobte Land auf einer einzigen Richtung der Korrespondenz: vom Sohn an den Vater. Der einzige Brief des alten Nathan Levi, über dessen Inhalt in der Erzählung informiert wird, dient gerade dazu, die Seelenverwandtschaft von Vater und Sohn zu veranschaulichen: Der Alte, der in jenem Brief über seine Augenkrankheit geklagt hat, schämt sich angesichts der tröstenden Antwort seines Sohnes und nimmt sich vor, »von jetzt an seine Leiden und Schwächen zu verschweigen« (Post, 82). Er tut genau das, was sein Sohn später auch zu tun beschließt, nämlich den alten Vater in Palästina mit der Nachricht über seine eigene tödliche Krankheit zu verschonen. Zudem wird in der Erzählung über die beruhigendermutigende Wirkung der Briefe des Sohnes beim alten Nathan Levi präzise informiert, der »aufgeregt« (ebd.), »sehnsüchtig« (ebd. 85) und »ungeduldig[…]« (ebd. 87) auf sie wartet und der schließlich »laut unruhig und sichtbar gequält« (ebd. 89) wirkt, wenn die Briefe des geliebten Sohnes ausbleiben.

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ein paralleles Bild in Palästina, um – auch er – bald danach zu sterben.27 Dem Inhalt der Briefe entsprechend und angesichts der Metaphorik dieser Szenen scheint die Botschaft plausibel, dass nur die Liebe, die lebendige und verstorbene Menschen vereint wie in der erträumten Zeremonie, den Tod überwindbar machen kann. Zwar hat sich der Kreis in Post ins Gelobte Land mit dem Tod des alten Nathan Levi geschlossen, ob der Dialog, der am Ende zwischen absoluten Fremden stattfindet, auch erfolgreich ist, bleibt in Seghers’ Erzählung jedoch unklar. Dass der gefälschte Brief »nicht ganz« (ebd. 91) dieselbe befriedigende, beruhigende, erquickende Wirkung bei den Greisen im Altersheim in Palästina erreicht, mag wohl nur daran liegen, dass der ursprünglich gemeinte Adressat inzwischen schon verstorben ist.28 Das im Rahmen der Vater-SohnKorrespondenz musterhaft entwickelte Weltgemeinschaft-Paradigma belegt allerdings, dass solch ein Modell auf der Basis von Liebe und Nächstenliebe fortgesetzt werden könnte. In dieser Richtung ließe sich darüber hinaus die Analogie zu Lessings Ringparabel deuten: nicht die »Echtheit« der Ringe oder hier der Briefe spielt eine Rolle, sondern ob sie vom Geist der Humanität durchdrungen sind.29 In Pàmies’ Das Gedächtnis der Toten begegnen sich die seit fast vierzig Jahren tote Rosa Bertran und ihre Tochter, die mit der Autorin identische Ich-Erzählerin, an einem kalten nebligen Novemberabend 1978. Die Tote sitzt ruhig auf der Steinbank am Fußweg vom Friedhof in die Kleinstadt Balaguer bei Lleida, als ihre Tochter gerade von deren Grab kommt. Für die Mutter ist die Zeit an ihrem Todestag, dem 5. Juni 1941, stehen geblieben, sie weilt seitdem in der ewigen Gegenwart und ist nun sogar zehn Jahre jünger als die Tochter. Entsprechend ist die Zeit während des Gesprächs für die Tochter auch aufgehoben: Ihre Armbanduhr zeigt den ganzen Abend lang dieselbe Uhrzeit, 17 Uhr, die mit der Uhrzeit kurz vor der Begegnung mit der Mutter korrespondiert. Während die Welt um sie herum ihren Lauf nimmt – inzwischen wird 27 | Siehe Haas (Post, 147f.) zur »Raum und Zeit übergreifende[n] Bedeutung« des letzten Briefes des Jakob Levi und zu ihrer Interpretation im Sinne einer »Entmythologisierung jüdischer Glaubensvorstellungen«. 28 | Vgl. dazu Hoffmann (227): »Der ursprüngliche Kreis von Autor und Empfänger ist vollständig verlassen. […] So läuft das für Jakob Levi zunächst als Trost und Stärkung gedachte Projekt der Post ins Gelobte Land ins Leere und hinterlässt den faden Nachgeschmack des Betrugs.« 29 | In möglicher Anlehnung an Lessings Ringparabel deutet Haas den Vorschlag des ältesten Greises im palästinensischen Asyl, einen Brief von Jakob Levi zu fälschen, da dessen Vater Nathan den echten von einem gefälschten Brief nicht unterscheiden könnte, wie folgt: »Das heißt aber, daß er [der älteste Greis im Asyl] an die ›Realität‹ der Tröstungen und Erbauungen letztlich selbst nicht mehr glaubt« (Post, 148).

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es nämlich dunkle Nacht –, schweben Mutter und Tochter somit momentan in einem zeitlosen Interregnum, das die gesuchte Seelengemeinschaft fördert: »Es war der absolute Frieden, als wäre auch ich tot, oder als wäre sie es nicht« (Gedächtnis, 49), überlegt die Tochter.30 Wie auch in Seghers’ Post ins Gelobte Land liegt der Fokus in Pàmies’ Das Gedächtnis der Toten auf dem Inhalt des hier nur stundenlangen, mündlichen Dialogs zwischen Tochter und Mutter. Anders als bei Seghers geht es aber bei Pàmies erst um historisch-politische Nachrichten, die die lange vorher verstorbene Mutter mit großem Interesse aber unbetroffen vernimmt. Die Tochter informiert sie beispielsweise über Francos Tod und äußert sich kritisch der ersten transición gegenüber: »Mutter wusste nicht, dass General Franco tot war. ›Ist er am Ende doch noch ermordet worden?‹, fragte sie mit einem fröhlichen Unterton in der Stimme. ›Er ist bloß alt geworden und ist krepiert, vor drei Jahren […] es hat sich aber wenig geändert […]‹« (ebd. 36).31 Darüber hinaus erfährt die Tote über die neu errichtete Monarchie und die Legalisierung der KP in Spanien, sowie über das schwierige Leben ihrer alten Nachbarinnen und Bekannten, einige von ihnen Witwen von ermordeten Republikanern, in den langen Jahren der Diktatur.32 Die Kommunikation erfolgt in Das Gedächtnis der Toten mithin auf realpolitischer Basis, die Autorin sucht vor allem die schwierige Versöhnung der 1978 immer noch vorhandenen zwei Fronten in Spanien zu veranschaulichen und die Erinnerung an Krieg und Diktatur wach zu halten.33 Dadurch, dass die Dialoge in Seghers’ Post ins Gelobte Land und in Pàmies’ Das Gedächtnis der Toten in einer Gegenwart verbleiben, die außerhalb des chronologischen Zeitbegriffs steht, diese Gegenwart erst errichten, wird das 30 | Orig.: »Era la pau absoluta, com si també jo fos morta o com si ella no ho fos«. 31 | Orig.: »La mare no sabia que el general Franco era mort. ›Lo van matar, finalment?‹, preguntà amb un dring d’alegria a la veu. ›La va dinyar de vell, ara fa tres anys […] però les coses no han canviat gaire […]‹«. 32 | Als Beispiel dafür mag die Geschichte von Beta dienen. Beta, die die ihr in der transición zustehende Witwenrente für ihren vierzig Jahre vorher von den Franquisten ermordeten Mann ablehnt, nimmt sich am Ende von Pàmies’ Das Gedächtnis der Toten das Leben. 33 | Zudem wird im Gespräch zwischen Mutter und Tochter zur gesellschaftlichen und zur technisch-wissenschaftlichen Entwicklung der letzten vierzig Jahre in Spanien und in der Welt kritisch Stellung genommen. Die Tochter erzählt der toten Mutter z.B., dass man in der Zeit zwischen 1941 und 1978 auf dem Mond gelandet ist und eine Pille erfunden hat, die unerwünschte Schwangerschaften verhindert, dass in Balaguer bei Lleida ein Altersheim eröffnet wurde und Haushalte mit Fernsehern und Grammophonen belebt sind, dass Boiler, Kühlschränke, Dampfbügeleisen sowie Näh-, Wasch- und Spülmaschinen die Arbeit vereinfachen, die immer noch hauptsächlich von Frauen verrichtet wird, und dass es sogar Geräte wie Kaffeemaschinen, Entsafter, Toaster und Föhne gibt.

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leere Warten der Figuren zu einem »gefüllten« beziehungsweise zu einem erfüllten Warten. Der Tod wird zwar dadurch transzendiert – oder wie es in Post ins Gelobte Land zu lesen ist: »überlistet« (85) –, ob das Gedächtnis der Toten aber wie ihre Liebe eine erlösende Funktion ausübt, muss offen bleiben. Denn, wie von der toten Rosa Bertran in Das Gedächtnis der Toten formuliert: »Das Gedächtnis ist ein Speicher für wahre Tatsachen und auch für erfundene Dinge, für Fakten und für Fantasievorstellungen, für Verleumdungen und für Missverständnisse« (69f.).34

4. F a zit Wenn die Zeiterfahrung des Wartens in der Literatur »doch mehr oder weniger auf realen Erfahrungen und bis zu einem gewissen Grad auf zeitgenössischer Allgemeinheit [beruht]« (Pikulik 14), verfügt sie aber auch über eine »referentielle Autonomie« (Benz 206) und kann sich sogar als dem real-linearen Zeitkontinuum qualitativ überlegen zeigen. Die komparatistische Untersuchung der ausgewählten Werke von Seghers und Pàmies soll gezeigt haben, wie das ungewisse, leere Warten der transitären Existenz in Krieg, Exil und Rückkehr imaginativ »gefüllt« werden kann: als perfektibles Utopie-Bild in Wiederbegegnung und Liebe in der Illegalität, als dystopische Rückprojektion in Transit und Zu spät für Cèlia und als zeitfremder Limbus – nicht als Vorhölle sondern als »Vorhimmel« – in Post ins Gelobte Land und Das Gedächtnis der Toten. Während die ersteren sich als Figuren an der Schwelle zum Totenreich erweisen, helfen die gelungenen Dialoge der letzteren mit Toten, als literarische Figurationen des Imaginären diese Schwelle aufzulösen. Sie mögen gerade dadurch eine erlösende Funktion in dem Sinn ausüben, dass die Gegenwart weder von der Zukunftserwartung noch von der Vergangenheit und der Erinnerung dominiert wird, sondern als Gegenwart in ihr Recht gesetzt und somit verewigt wird. Zwar sind die Werke von Seghers durch ihre fiktional-mythisierende Art und die von Pàmies durch ihren faktual-kritischen Ton gekennzeichnet, aber die kreative »Füllung« des Motivs des leeren Wartens darin zieht eine erstaunliche Parallele, die wohl nur mit dem von Mario Benedetti geprägten komplexen Begriff des »desexilio« – mehr als Rückkehr: idealerweise die Rückgängigmachung des Exils – zu erfassen ist.

34 | Orig.: »[l]a memòria és dipòsit de fets verídics i també de coses inventades, de realitats i de fantasies, de calumnies i de malentesos«.

Dialoge mit Toten

B ibliogr aphie Albrecht, Friedrich. »Blick zurück in eine andere Welt. Zu Anna Seghers’ Erzählung Wiederbegegnung«. Argonautenschiff 12 (2003): 121-40. Augustinus, Aurelius. Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus. Übers. Otto F. Lachmann, http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-bekenntnisse-des-heili gen-augustinus-510/12. Letzter Zugriff: März 2016. Benedetti, Mario. »El desexilio«. El País, 18.4.1983, http://elpais.com/dia rio/1983/04/18/opinion/419464807_850215.html. Letzter Zugriff: November 2016. Benz, Nadine. (Erzählte) Zeit des Wartens. Semantiken und Narrative eines temporalen Phänomens. Göttingen: V&R unipress, 2013. Capdepón, Ulrike. »Der öffentliche Umgang mit der Franco-Diktatur«. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 36-37 (2010): 33-8. Dubrowska, Małgorzata. »Und ich brauch doch so schrecklich Freude«. Frauentopoi im Werk von Anna Seghers. Lublin: Wydawnictwo KUL, 2009. Haas, Erika. »Post ins Gelobte Land. Ein Requiem«. Argonautenschiff 4 (1995): 139-50. — Ideologie und Mythos. Studien zur Erzählstruktur und Sprache im Werk von Anna Seghers. Stuttgart: Heinz, 1975. [Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 7. Maschinell. Dissertation, Universität Tübingen] Hilzinger, Sonja. Anna Seghers. Stuttgart: Reclam, 2000. Hoffmann, Daniel. »Post ins Gelobte Land – Eine jüdische Erzählung«. Argonautenschiff 22 (2013): 219-29. Kaufmann, Eva. »Heiße Liebe in kalten Zeiten. Zu Anna Seghers’ Erzählung Wiederbegegnung«. Argonautenschiff 14 (2005): 207-15. Pàmies, Teresa. »La literatura com a crònica. Converses literàries, per Marta Nadal«. Serra d’Or 393. September (1992): 12[596]-15[599]. — Massa tard per a Cèlia [Zu spät für Celia]. Barcelona: Destino, 1984. — »Teresa Pàmies. Entrevista, per Alfred Picó«. Trenc d’Alba 2. April (1982): 12-13. — Memòria dels morts [Das Gedächtnis der Toten]. Barcelona: Planeta, 1981. — Amor clandestí [Liebe in der Illegalität]. Barcelona: Galba, 1976. Pikulik, Lothar. Warten, Erwartung. Eine Lebensform in End- und Übergangszeiten. An Beispielen aus der Geistesgeschichte, Literatur und Kunst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1997. Seghers, Anna. Transit. Roman. Berlin: Auf bau, 1993. — »Wiederbegegnung«. Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand, 1984. 61-140. — »Post ins gelobte Land«. Bauern von Hruschowo und andere Erzählungen. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand, 1982. 71-91. — Briefe an Leser. Berlin, Weimar: Auf bau,1970.

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Zehl Romero, Christiane. Anna Seghers. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1993. Voßkamp, Wilhelm. »Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Einleitung«. Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Hg. Wilhelm Voßkamp/Günter Blamberger/Martin Roussel, unter Mitarbeit von Christine Tewes. Paderborn: Fink, 2013 [Morphomata 9]. 13-30.

Gleichzeitigkeit Utopie und Exil in Franz Werfels Stern der Ungeborenen Caspar Battegay

1. P oe tik des U ngeborenen Franz Werfels letztes Buch Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman ist zwischen 1943 bis 1945 im Exil in Kalifornien entstanden und 1946 postum im Verlag Bermann-Fischer erschienen. Im Kontext von Utopie und Exil ist der Roman ein in der neueren deutschen Literatur zentraler Text. Denn bei Werfel findet sich eine literarische Utopie mit all ihren typischen Motiven sowie die »Utopie des Ästhetischen«, die Karl Heinz Bohrer als Emphase eines Augenblicks der Entzeitlichung in der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts und als »Reduktion utopischer Inhalte und Ziele auf die Innerlichkeit eines utopisch gestimmten Subjekts« (185) bezeichnet hat. Damit zeigt sich angesichts einer grundsätzlichen Krise der Moderne1 eine Re-Theologisierung der Literatur, die jedoch durch den ironischen Erzählgestus Werfels dauernd gebrochen wird. Die ironische Innerlichkeit des Romans soll im Folgenden als moderne Poetik des Exils gedeutet werden, die an bestimmte diasporische Modelle der jüdischen Tradition anknüpft. Ich möchte Stern der Ungeborenen also nicht als ›Zukunftsroman‹ lesen, sondern als metafiktionalen oder poetologischen ›Zeitroman‹, der die absolute, auf linearen und kausalen Narrationszusammenhängen beruhende Lebensund Weltzeit zugunsten einer literarischen Synchronizität 2 dekonstruiert. Die literarische Utopie kann nach Wilhelm Voßkamp immer als »Kommuni1 | Als Vertreter dieser Krisenliteratur können emigrierte Intellektuelle in Kalifornien angesehen werden, also beispielsweise Alfred Döblin, Thomas Mann, Theodor W. Adorno oder Arnold Schönberg (vgl. Bahr 2007). 2 | Frederic Jameson unterscheidet »diachronic thinking (so-called linear history)« vom »synchronic or systematic modelling« (88-89) in der Historiografie, eine Unterscheidung, die das Thema der Zeitlichkeit in der Science Fiction-Literatur und der Utopie grundsätzlich bestimme.

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kationsmodus des Alternativdenkens« (Möglichkeitsdenken, 16) begriffen werden, doch Werfel spitzt diese Struktur selbstreflexiv zu, indem er die Gattung der literarischen Utopie benutzt, um Gleichzeitigkeit als ein Modell für das Funktionieren von Fiktion vorzuführen: In der Gleichzeitigkeit verschiedener Handlungen werden parallele Möglichkeiten vergegenwärtigt. Dieses Modell zeigt sich auch in der ambivalenten Konzeption des Ich-Erzählers als eine Art Gespenst: Mehr als hunderttausend Jahre nach seinem möglichen Tod wird F.W. von seinem wiedergeborenen Jugendfreund B.H. »zitiert«, das heißt, sein Name wird »einfach aus dem Alphabet gestochen« (Werfel, Stern der Ungeborenen, 27). Zunächst unsichtbar, materialisiert er sich auf einem glatten, eisengrauen Rasen einer Welt, die später als »California« des Jahres 101‘943 bezeichnet wird. Zu diesem Unternehmen wird F.W. »als Forschungsreisender ausgesandt, eines Nachts«, und zwar »wider Willen« (ebd. 12). Bis zuletzt bleibt unklar, ob es sich bei der unheimlichen Zeitreise um die Beschreibung eines Traums, eines Todeserlebnisses, eines Todesschlafs oder einer auf diegetischer Ebene realen fantastischen Reise handelt. Der Roman führt die utopische Verschiebung also als einen Moment von Detemporalisierung und Spektralität vor. Das Leben »in zwei Welten« (ebd. 649), das dem Ich-Erzähler zusetzt und ihn am Ende bedroht, meint die Behauptung von sich ausschließenden Möglichkeiten, die als »kosmische Gleichzeitigkeit« (ebd. 634) auf verschiedenen Ebenen des Romans durchgespielt wird. Im vorliegenden Aufsatz werde ich diese verschiedenen Ebenen der Gleichzeitigkeit im literarischen Text erörtern und auf ihre biographischen, politischen und poetologischen Funktionen hin analysieren. Für diese Analyse berufe ich mich zunächst auf das poetologisch ausgerichtete erste Kapitel des Romans, in dem sich der Erzähler gegen den Vorwurf des Eskapismus verwahrt. Denn die »ungeheure Wirklichkeit« (ebd. 13) von Krieg und Massenmord sei ihm auch im amerikanischen Exil immer bewusst. Doch das Ausmaß der Gewalt sei dermaßen gigantisch geworden, dass sie mimetische oder dokumentarische Schreibweisen gar nicht mehr zulasse. Dem direkten Engagement setzt Werfel die komplexe Ironie seines Ich-Erzählers gegenüber. Das unwillkürlich gesammelte »Material« seiner Reise zeuge von einer anderen Wirklichkeit, die nach literarischer Form drängt, gerade weil sie nicht faktisch verbürgt ist: Die Wirklichkeit meiner Reiseerlebnisse hingegen ist aus einem anderen Zeug gesponnen. Sie pflegt meist zu zergehen beim ersten Hahnenschrei oder Hupenruf, und auch das beste Gedächtnis bietet keine Gewähr dafür, daß sie ihm nicht entschlüpfe, plötzlich und auf Nimmerwiedersehn. (Ebd. 14)

Das Motiv der Kontingenz (der plötzlichen Reise »wider Willen«) verweist auf das seit Morus gattungstypische Vorwort zum utopischen Roman (vgl. Voß-

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kamp, Thomas Morus’ Utopia). Daneben ist in der Passage auch eine romantische Idee präsent, die die nächtliche Inspiration des Poeten dem (mit dem »Hahnenschrei« und dem »Hupenruf« beginnenden) pragmatischen Tagesgeschäft gegenüberstellt. Die Unterscheidung von prosaischer und poetischer, objektiv-chronologischer und subjektiv-plötzlicher Wirklichkeit hat eine theoretische Bedeutung für Werfels Roman. Wenn man nämlich das Motto des ersten Teils berücksichtigt, dann zeigt sich eine präzise Definition der Aufgabe von Literatur gegenüber der Politik. Mit einem (allerdings nicht nachzuweisenden) Zitat des griechischen »Reiseschriftstellers« Diodors heißt es: Wenn es Sache der Politiker und Rhetoren ist, die Intriguen des Alltags zu deuten, so besteht die Aufgabe der Dichter und Geschichtenerzähler darin, die Fabelwesen auf den Inseln zu besuchen, die Toten im Hades und die Ungeborenen auf ihrem Stern. (Stern der Ungeborenen, 9)

Das Ungeborene ist das Mögliche, das sich nicht eindeutig verwirklichen lässt, es bezeichnet das literarische Spiel des Erzählens3, für das der ontologische Alltagsunterschied zwischen Faktum und Fiktion bedeutungslos ist.4 Das Erzählen berichtet nicht wie die Geschichtsschreibung von den wirklichen Möglichkeiten, sondern behauptet – frei nach Robert Musil – eine mögliche Wirklichkeit.5

2. U topie und D ystopie Der Ich-Erzähler F.W. hält sich »alles in allem zweieinhalb Tage und drei Nächte in der astromentalen Welt« (ebd. 545) auf und wird dort von seinem wiedergeborenen Freund B.H. (der bis in die Redensarten und Gesprächsthemen 3 | Zum Begriff des Spiels in diesem Zusammenhang vgl. Huber 219: »Franz Werfel spielt in seinem Zukunftsroman Stern der Ungeborenen eine Reihe von Spielen – wie sie Schriftsteller eben spielen. Spiel heißt aber nicht unbedingt, daß es ihm dabei nicht ernst ist, obwohl auch das nicht zu übersehen ist, daß er sich selbst angesichts des Todes keiner todernsten Erzähler-Persona bedient, daß Humor, Ironie, rhetorisches Spiel vielleicht sogar noch mehr als zuvor zum Zug kommen.« 4 | Der Begriff des Erzählens beinhaltet nach Koschorke (16) eine »ontologische Indifferenz«, womit Gegensätze wie wahr/unwahr, faktisch/fiktiv oder existierend/erfunden ausgehebelt werden. 5 | Für eine systematische Aufarbeitung der Kategorie der Möglichkeit im Kontext der utopischen Literatur des 20. Jahrhunderts vgl. meine bislang unveröffentlichte Habilitationsschrift Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und die ›jüdische Frage‹, Universität Basel 2016.

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hinein Werfels Jugendfreund Billy oder Willy Haas entspricht6) herumgeführt, wobei er zunächst als Attraktion für eine anstehende Hochzeit dient. Nach tiefschürfenden Einsichten in das Wesen des Universums, die Natur Gottes und seine eigenen Psyche, einer halb verpassten Romanze mit einer jungen astromentalen Schönheit und wilden Abenteuern im Weltraum sowie im Erdinnern wird F.W. durch eine nicht näher erläuterte mystische Technik im April 1943 wieder an seine Adresse »Nummer 610 North Bedford Drive« (ebd. 655) abgesetzt. Dort erwacht er und entschließt sich zur Niederschrift seines Berichtes. Der Handlungszeitraum nimmt also entweder drei Tage ein, über hunderttausend Jahre oder je nachdem nur wenige Augenblicke oder »ebensoviele Ewigkeiten« (ebd. 545). Denn jede Zeitangabe sei gemäß F.W. »nur eine subjektive Aussage« (ebd.). Die Gesellschaft der Astromentalen hat sich unter dem Einfluss der sogenannten Transparenz entwickelt, einer solaren Explosion, die den Sauerstoffgehalt der irdischen Atmosphäre kurzfristig erhöht habe, wie F.W. aus B.H.s knappen historischen Abrissen erfährt. Diese Naturkatastrophe hat nicht nur die Vögel ausgerottet, sondern auch die menschliche Physis verändert. Die Menschen erreichen nun ein Alter von bis zu 200 Jahren; körperliche Berührungen, Sex und Gewalt, aber auch das Sitzen oder das Essen in Gesellschaft gelten als atavistisch und werden vermieden; sogar die Darmtätigkeit findet nur noch spärlich statt; die (seltenen) Schwangerschaften dauern zwölf Monate. Die Technik ist so avanciert, dass sie für den Beobachter aus der grauen Vorzeit völlig vergeistigt – eben »mental« – erscheint, was im Zeitalter des Internets vielleicht nicht mehr ganz so abwegig klingt: Durch das »Mentelobol« wird das Ziel einer Reise auf einen zubewegt, anstatt dass man sich selbst durch den Raum bewegen muss.7 Nicht nur die Mobilität, auch andere Lebens- und 6 | Der Kritiker und Drehbuchautor Willy Haas emigrierte 1939 aus Prag über Frankreich nach Indien, wo er zunächst in Bombay, dann in einem Provinzort in Nordindien lebte. Deshalb heißt es in Stern der Ungeborenen mit lakonischer Ironie: »Also doch, dachte es in mir, B.H.s Aufenthalt in Tibet hat ihn entscheidend beeinflußt. Er hat sich zweifellos der orthodoxesten Form der Reinkarnationslehre angeschlossen, und mehr als das, der Reinkarnation selbst« (13). Tatsächlich beschäftigte sich Haas intensiv mit indischer Kunst und Geistesgeschichte – auch mit der Reinkarnationslehre – worüber Werfel möglicherweise durch zahlreiche Briefe Haas’ unterrichtet war (vgl. von UngernSternberg 150-245). 7 | Das in der »astromentalen« Reiseart wirksame Prinzip der Umkehrung ist ein typisches Motiv utopischer Literatur und findet sich prominent in Jonathan Swifts Gullivers Reisen von 1726 (Travels into Several Remote Nations of the World. In Four Parts. By Lemuel Gulliver, First a Surgeon, and then a Captain of Several Ships). Das satirische Prinzip von Swifts Text wird von Werfel reproduziert. Für diese Anmerkung danke ich Robert Leucht.

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Wohnformen sind grundsätzlich anders: Eine den ganzen Globus umspannende Stadt befindet sich unterirdisch unter einer eingeebneten Landschaft. Im »Park des Arbeiters« materialisiert der mystische »Arbeiter« alle Produkte des täglichen Bedarfs aus »Sternstrahlen«. Die politische Struktur der Menschheit gleicht »dem erfüllten Traume des Kommunismus«, wobei dieser »ganz und gar auf aristokratischer Grundlage« beruht (ebd. 89), es ist »eine Welt der strengen Distanz, des Edelmaßes, der Gepflegtheit« (ebd.). Doch nicht alles ist so ideal, wie es zunächst den Anschein macht. Obwohl die politische Macht utopisch eingehegt ist – so wird etwa zum »Geoarchonten«, einem Art Weltpräsidenten, nur gewählt, wer das eigentlich unter keinen Umständen möchte (vgl. Zemsauer, Regierung) –,  existieren doch vielfältige politische Spannungen, die schließlich während F.W.s Anwesenheit zur gewaltsamen Auseinandersetzung und zu einem Epochenwandel führen. »Der Stern der Ungeborenen übernimmt zahlreiche typologische Elemente des klassischen utopischen Romans« (Rode 71). Man könnte den Text als Staatsroman lesen, der ein kritisches Gegenbild zum soziopolitischen Status quo des Autors liefert. Auch der Untertitel Ein Reiseroman »ruft ein für die Gattung der Utopie typisches Schema auf: Die utopische Welt wird einem Reisenden und somit dem Leser bzw. der Leserin von einem Reiseführer in einer Besichtigungstour beschreibend vorgeführt und in Dialogform erklärt« (Innerhofer 153). Diese Tour, bei der Politik, Ökonomie und Wissenschaft der ›astromentalen‹ Menschheit vorgeführt werden, ist bei Werfel mit diversen intertextuellen Bezügen aufgeladen, von denen der explizite Verweis auf Dantes Divina Commedia wohl der wichtigste ist, so spricht F.W. zum Beispiel von B.H. als »meinem Vergil« (Stern der Ungeborenen, 89). Gattungstypisch am Narrativ des Romans ist auch die allmähliche Erkenntnis des Erzählers (und des Lesers), dass es sich bei der fiktiven Welt nicht um eine vollständig ideale handelt. Vor allem zwei Elemente der Handlung offenbaren diese dystopische Wende. Erstens ist es die Existenz des »Dschungels«, damit sind bergige Vegetationsinseln gemeint, die in die »Panopolis« eingefügt sind und deren vitalistische Bewohner im astromentalen Mainstream neben Verachtung und Abscheu auch Faszination und sogar sexuelle Anziehung auslösen. Die mit Mauern umgrenzten »Dschungel« zeigen ex negativo die astromentale Biopolitik, nämlich das Leben als biologische Tatsache vollständig kontrollieren zu wollen (vgl. Zemsauer, Regierung). Darauf weist noch eindrücklicher das zweite dystopische Motiv des Romans hin, der sogenannte Wintergarten: eine gigantische Höhlenanlage, die einer »weiten Landschaft« (Stern der Ungeborenen, 521) gleicht, sich jedoch tief im Erdinnern befindet. In diesen »von Menschen geschaffenen Tartarus« (ebd. 564) ziehen sich die Astromentalen zurück, wenn sie sich zum Sterben entscheiden. In einer sanatoriumsartigen Anlage werden sie im »retrogenetischen Humus« (ebd. 545) eingelegt zu Babys und schließlich zu Embryos und kleinsten Zellhaufen rück-

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entwickelt. Während bei erfolgreicher »Retrogenese« bloß Margeritenblumen übrig bleiben, kann der Transformationsprozess auch schiefgehen, wie F.W. durch seine hartnäckigen Nachforschungen und der Weigerung, sich selbst der Retrogenese hinzugeben, erfährt. Wie bei jeder technischen Utopie gibt es auch bei dieser bio-technischen Kontrolle des Todes ein ebenso konstitutives wie unvorhersehbares Risiko. Einige Kandidaten verwandeln sich anstatt zu Blümchen zu ekelerregenden und beständig fluchenden »Rübenmännchen«. Noch grauenhafter erscheinen andere misslungene Rückentwicklungen, die »Kataboliten«: Über den »vielen, vielen Kinder- und Säuglingsleichen mit verzerrten uralten Gesichtern« bewegen sich kriechend »Menschenschweinchen mit Rüsselnasen«, »Menschenfischchen« und »Menschenmolche« (ebd. 579), aber auch Körper mit hypertrophen und quasi selbständigen Organen. Diese fehlentwickelten Monster werden von Zeit zu Zeit ins »Mnemodrom«, dem »See der Entinnerung«, gespült. Die Utopie der rein mentalen Existenz ist zugleich verbunden mit der Dystopie des daraus sich ergebenden menschlich-kreatürlichen Abfalls. Die Verwaltung des »Wintergartens« hält das unvermeidliche Risiko jedoch geheim. Nicht die Ideologie der »Retrogenese«, sondern die daran scheiternden Individuen seien schuld an ihrem fehlerhaften Tod. Der »Wiedererkennungseffekt« (Abels 390) der unterirdischen, auf Effizienz getrimmten Sterbeanlagen ist deutlich,8 und neben vielfachen mythologischen Bezügen gibt es auch explizite Hinweise auf die Aktualität der 1940er Jahre. So vergleicht F.W. den Anblick der »Kataboliten« explizit mit dem, »was so mancher meiner Zeitgenossen in den Greuellagern von Buchenwald oder Maidanek bezeugt hat« (Stern der Ungeborenen, 576). An anderen Stellen der »Wintergarten«-Teile gibt es Bezüge zur Euthanasie (ebd. 554) und in historisch leicht inkorrekter Formulierung zu den »Rasseärzten der Gestapo mit ihren Mordspritzen« (ebd. 595). Zudem vergleicht der Erzähler seine schließlich gelingende Flucht an die Erdoberfläche mit der Flucht aus Frankreich im Jahr 1940. Wie der Nationalsozialismus mit seiner biopolitischen Rassen-Utopie zwangsläufig Massenmord und Terror verbindet, so ist auch die Utopie der technischen Beherrschung des Todes, die sich in der Erinnerungslosigkeit des »Wintergartens« kristallisiert, auf die Erzeugung eines bloßen, nur noch leidenden Lebens ohne jeglichen Möglichkeitshorizont angewiesen. Der Schluss der Romans führt diese literarische Kritik an absoluten Ideologien auf eine von den historischen Umständen abstrahierende Ebene. F.W. entwischt der drohenden »Retrogenese« dadurch, indem er sich den »Brüdern vom kindhaften 8 | »Weißbekittelte Gestalten« trennen die ankommenden Frauen und Männer voneinander; »Alles sollte hier schnell gehen, ehe man recht zur Besinnung kam« (Stern der Ungeborenen, 526); der Badesaal ist »mit allerlei mir unbekannten Dusch- und Sprühsystemen angefüllt« (ebd. 528).

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Leben« anvertraut, einem christlichen Mönchsorden, der sich der Sabotage des »Wintergartens« widmet und Umkehrwillige in Mönchskutten an die Erdoberfläche schmuggelt. Das kindliche Leben ist das des Spiels und der noch offenen Möglichkeiten. Die Bezeichnung des Ordens verweist aber auch auf eine alternative, vorrationale Zeitwahrnehmung. Im Chorgesang der Mönche heißt es: »Wir Brüder vom kindhaften Leben,/Wir kennen kein Vorwärtsstreben/ Wir kennen kein Rückwärtsschauen …« (ebd. 608). Diese präsentische Zeit ist die Zeit einer potenziellen Erlösung, die der Zeit der artifiziellen »Retrogenese« gegenübersteht. Die Rettung durch die Mönche verbindet sich als Motiv mit dem des Opfertodes eines jungen Knaben ganz am Schluss des Romans. Damit kommt eine religiöse Gegenfolie zur biopolitischen Utopie ins Spiel, die ein prophetisches Moment aufweist.

3. B iogr aphie , E schatologie , P oe tologie Grundlegend können für Stern der Ungeborenen drei verschiedene Deutungsmuster ausgemacht werden, die ich nun erläutern möchte, bevor ich mich ausführlich dem Topos der Gleichzeitigkeit zuwenden werde. Erstens wurde der Roman mit seinen Motiven der Fremdheit und des Sterbens als mehr oder minder literarisierter Reflex der Biografie des todkranken Autors, seiner Flucht und seines Exils in den USA gelesen (Binder). Dies wird an verschiedenen chiffrierten Entsprechungen zur Figur F.W. und seines gespenstischen und prekären Besucherstatus in der utopischen Gesellschaft deutlich. Die in der Exilsituation allgemein überwältigende Kontingenzerfahrung kennzeichnet in ähnlicher Weise die Situation F.W.s. Das Exil bildet nicht nur den Rahmen der erzählten Handlungen, sondern auch Werfels Spiel mit den Zeitebenen »lässt sich einfach aus der Verwirrung und Veränderung aller Werte im Exil erklären.« (Bartl 26) Die Reflexion des Exils in der utopischen Erzählung geht jedoch über die indirekte Autobiografie hinaus, indem nämlich im Roman »geistesgeschichtliche und kulturelle Entwicklungen vor einem Weltkrieg« (ebd. 36) festgehalten und modellhaft erzählt werden sollen, ganz ähnlich wie dies der von Werfel bewunderte Thomas Mann in Doktor Faustus oder Der Zauberberg unternimmt, dessen Motive und Struktur als Diskussionsroman in Stern der Ungeborenen aufgenommen werden. Die astromentale Gesellschaft scheint ähnlich blind für die auf brechende Katastrophe ihres Untergangs wie die europäische Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert, die Werfel satirisch schildert. Auch die im Roman enthaltenen religiösen Speku-

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lationen und ideengeschichtlichen Exkurse kann man allgemein vor dem Hintergrund der historischen Exilsituation des Autors deuten.9 Der Exilierte ist ein Untoter. Als materialisierte »Unmöglichkeit« und wenn auch »stattlicher Revenant« (Stern der Ungeborenen, 64) zeigt er die Spektralität des utopischen Erzählens. Dieses versteht Werfel nicht bloß als Erfindung von Nicht-Existierendem. Die erzählte Welt sei nicht irreal, sondern »in der Dämmerung der Ferne vorerschaute Möglichkeiten, welche die Natur und die menschliche Vernunft nützen oder verwerfen wird« (ebd. 546). Liest man den Roman als Reflex der biografischen Erfahrung, so erscheint diese dichterische Schau des Möglichen dadurch motiviert und begünstigt, dass die Individuen in der Situation des Exils in gewisser Weise ihren historischen Aktionsradius verlieren und auf eine völlig subjektive »geistige Zeit« (ebd.) zurückgeworfen werden. Diese kann als passives Erleiden wie als Notwendigkeit zur aktiven Gestaltung von Möglichkeiten aufgefasst werden. Zweitens wurde der Stern der Ungeborenen in Bezug zu Werfels religiöser, mystisch-eschatologischer Essayistik und den darin zum Ausdruck gebrachten Überzeugungen gedeutet, die sich im Roman literarisiert finden lassen. In ebenfalls in den 1940er Jahren unter dem Titel »Theolugomena« entstandenen aphoristischen Notizen knüpft Werfel an eine traditionelle Heilsgeschichte an, nach der die Rolle Israels darin bestehe, Gott »bis ans Ende der Zeit« (Zwischen Oben und Unten, 284) zu verwerfen, um in der Rolle des Bösewichts den Opfertod Christi möglich zu machen. In dieser Perspektive wird jüdische Zeugenschaft durch die Verfolgungen quasi legitimiert und bestätigt. Die Verfolgung selbst wird damit zwar nicht gerechtfertigt –  Antisemitismus ist für Werfel mit einer beliebten Denkfigur nur der Hass von primitiven Naturen auf das aufgezwungene Christentum –, doch das Martyrium sei eine Art negative Bestätigung von Gottes Verheißung. Eine solche Sinngebung erscheint vor allem »nach der Shoah« (Fliedl 132) schockierend. Fliedl weist darauf hin, dass dem Autor das Prekäre seiner eher simplen Theologie zwar »bewusst« gewesen sei, er jedoch daran festgehalten, ja sie literarisch in der Figur Saul Minjonmans, des »Juden dieses Zeitalters« (Stern der Ungeborenen, 269) noch festgeschrieben habe. Wie der »Arbeiter des Zeitalters« als Symbolgestalt an die soziale Frage mahnt, so symbolisiert die Figur Saul Minjonman die ›jüdische Frage‹, also die Frage nach dem Status der Juden im säkularen Nationalstaat. Der ›Jude des Zeitalters‹ ist keine Einzelperson, sondern es sind »immer zehn zugleich«, 9 | Als zentrales Zitat einer auf die Exilsituation bezogenen Lektüre des Romans kann eine Überlegung F.W.s gelten: »Es ist eine große Sache, ein Mensch zu sein, der jenseits der Geschichte lebt, es ist mehr als eine große Sache, es ist eine Unmöglichkeit. Diese Unmöglichkeit war in mir zur Stunde verkörpert. Leider genoß ich sie nicht« (Stern der Ungeborenen, 436). Bartl nimmt diese Sätze als Motto ihrer Ausführungen zum Stern der Ungeborenen.

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die diesen Namen tragen (der Name meint die gottesdienstliche Mindestzahl von zehn Betenden, ein Minjan). Werfels Utopie trägt also prophetische Elemente in sich.10 So wird Saul Minjonman von F.W. als »das unzerbrechliche Gefäß der Hoffnung« auf das Kommen des Messias bewundert. Ebenso nimmt er ihn aber auch »als einen Hochnervösen und Hochungeduldigen« (ebd. 271) wahr, wobei in merkwürdiger Weise soziologische und theologische Stereotype des Jüdischen aufgeboten werden, die eine auch in der utopischen Welt bestehende ›jüdische Frage‹ andeuten. In der »Disputation« mit F.W. äußert sich Minjonman unmissverständlich zu der heilsgeschichtlichen Rolle des Judentums, die darin bestehe »zu zeugen für Abraham, Isaak und Jakob, die den wahren Gott zuerst erkannten« (ebd. 268). Und ganz am Schluss des Romans geht Minjonman dem Sarg des beim Opfertod gestorbenen Jungen voran, wobei er Gebete murmelt: »Denn ewig währt deine Gnade, die mich absondert« (ebd. 642). Diese Akzeptanz der Verfolgung aus eschatologischer Perspektive erscheint für einen exilierten jüdischen Autor in den 1940er Jahren tatsächlich skandalös. Fliedl schlägt darum eine komplexere Lesart der unzweifelhaft im Roman enthaltenen religiösen Dimension vor: »Sinnvoller scheint es [...], auf Chiffren, Bilder und Schrift-Worte zu achten, die im Roman nun tatsächlich Christentum und Judentum bezeichnen« (133). Das Gebot der Erinnerung sei ein wiederkehrendes Motiv des Romans, das mit biblischen Quellen, aber auch mit kunst- und religionsgeschichtlichen Bezügen in der erzählten Welt sowie in der Erzählerrede auftauche. Nicht zufälligerweise in der tiefsten Tiefe des »Mnemodroms«, wohin die im technischen Sterbeverfahren grauenhaft missentwickelten Menschen entsorgt werden, wird F.W. klar: »Vergessen, das war der Inbegriff aller Sünde, die der Mensch begehen konnte« (Stern der Ungeborenen, 590, Hervorhebung im Original). Diese religiösen Bezüge seien jedoch gemäß Fliedl (141) nie einheitlich, sondern würden gegenüber den »Theologumena« ein differenziertes Bild ergeben, so würde die katholische Kirchengeschichte über verschiedene Erwähnungen und Zitate als »Summe historischer Kontroversen« und durchaus mit ihren judenfeindlichen Verfehlungen auf bewahrt. Der Text gleiche einem »Exil der Zukunft« (ebd. 134), in dem auch der jüdischen Verfolgungsgeschichte ohne Relativierungen gedacht werde. Diese hier nur angedeutete theologische Lektüre des Sterns der Ungeborenen weist einerseits darauf hin, dass F.W. seine Fiktion bis zu einer gewissen Weise als Prophetie versteht und die in der Erzählung durchmessene Zeit nicht bloß als »nackte Zeit«, sondern als »fromme Zeit«, die es hoffend abzuwarten gilt, so

10 | Zu der Beziehung zwischen Utopie und Prophetie in der modernen Literatur vgl. Battegay 2016.

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wie Saul Minjonman als auf den Messias Wartenden beschrieben wird.11 Andererseits zeigen diese Hinweise, dass Werfels Text eine durchaus komplexe literarische Gestalt hat, die in früheren Deutungen vielleicht zu vorschnell als widersprüchlich oder misslungen eingeschätzt wurde. In einer dritten grundlegenden Deutungspraxis wurde Stern der Ungeborenen denn auch als »ein Roman über Fiktionen« (Englmann 393), das heißt als metafiktionales, poetologisches Stück Literatur gelesen, das sich nicht unmittelbar auf biografische oder weltanschauliche Interpretationen festlegen lässt. Werfel widersetzt sich der realistischen Gebundenheit des historischen Romans oder des Gegenwartsromans und projiziert betont anti-realistische Texte wie den Traumbericht oder die Prophetie auf die typische Struktur eines ›Zukunftsromans‹, wobei er dessen philosophischen und religiösen Gehalt eher subversiv parodiert als ernsthaft vermittelt. Dies zeigt sich etwa in der von Anfang an unsicheren Identität des Erzählers, dessen Vergesslichkeit und Unzuverlässigkeit immer wieder betont werden, während er gerade die Wichtigkeit der Erinnerung behauptet.12 Im metafiktionalen Rahmen werden die Erzeugungsbedingungen der fiktionalen Welt verhandelt, und zwar durchweg ironisch. Im gesamten Text findet man illusions-brechende und illusions-parodistische Passagen, sodass von einem hochgradig selbstbezüglichen Spiel mit Poetologien, Genremustern, ideologischen Diskursen, biografischen und historischen Daten sowie mit religiösen Überzeugungen gesprochen werden 11 | »Ich aber lehnte mich zurück und dachte nach über dieses Wort ›warten‹. Es schien mir übereinzustimmen mit der Zeiterfahrung, die ich als Knabe am Fenster meines Ferienzimmers gemacht, wie auch mit meiner Existenz im Tode [...]. Warten ist nackte, das heißt völlig entblößte Zeit. Diese aber ist die Verbindung zweier entlegener Raumpunkte, auf deren Linie die vollkommene Ruhe im Vehikel der vollkommenen Bewegung einherfährt. Aber selbst die Ruhe des Todes (ich hatte es erlebt) kann tief innen glauben, sie werde auf den richtigen Punkt hinbewegt. Dann ist das Warten König Sauls mehr als Warten, nämlich Hoffnung, dann ist die nackte Zeit eine fromme Zeit, dann ist die bewegte Ruhe des Todes ein eingeschmiegtes Schlummern in Gott. Ja, sie sind wahrhaftig das Volk der frommen Zeit und daher der Hoffnung, die zehn Minjonmans« (Stern der Ungeborenen, 270-271). 12 | Ein gutes Beispiel für diese Unsicherheit ist die Passage zu Beginn des dritten Teils des Sterns der Ungeborenen, wo der Erzähler behauptet, das innere Gesetz seiner Reiseerzählung sei es, »die epische Illusion zu vermeiden und um der heiklen Wahrheit willen den Leser immer wieder hinter die Kulissen meiner Arbeit zu führen« (467). Diese »Arbeit« bestehe gemäß Ich-Erzähler in der Entzifferung von »Notizen« über Teile der Reise, »in einer Schrift, die ich selbst nur mit Mühe entziffern kann« und aus denen er »wahllos« einige herausgreift, um sie dem Leser mitzuteilen (ebd.). Dieser bekommt nur eine »ganz zufällige Auswahl« von Erinnerungszetteln zu lesen, die der Erzähler »zu Hunderten hingefetzt« (ebd. 468) habe.

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kann (ebd. 407). Stern der Ungeborenen weist eine Relativität der verschiedenen Handlungszeiten auf, die durch das metafiktionale Spiel erzeugt wird. Relativ sind aber auch die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des Romans, die problemlos nebeneinander bestehen können. Das Kernmotiv, auf das jede Deutung zurückgehen muss und das auch die poetologische Perspektive auf Stern der Ungeborenen legitimiert, ist das Thema der Zeit beziehungsweise der Gleichzeitigkeit. Der Roman thematisiert immer wieder verschiedene Arten von Zeit: die »superplanetare Zeit« der Sternenreisenden; die »statische Zeit des Fegefeuers«, das heißt eines Zustandes der Ich-Dissoziation zwischen Tod und Leben; die »autobiologische Zeit« der Rückentwicklung im »Wintergarten«; oder die »geistige Zeit« (ebd. 545) einer a-chronologischen Wahrnehmung. Zudem existiert die Figur des Ich-Erzählers in drei Zeitmodi, nämlich als F.W. des Jahres 1943 vor seinem Tod oder vor seiner astromentalen Zitation; als F.W. während der astromentalen Reise im Jahr 101‘943, der sich andauernd an sein früheres Ich erinnert; sowie als schreibender und sich wiederum an die Zukunft erinnernder F.W. in der Gegenwart des Jahres 1943 nach seiner Rückkehr. Diese drei Zeitebenen sind nicht klar getrennt, sondern verweisen gegenseitig aufeinander. Die Zukunft erscheint als die Gegenwart und gleichzeitig als die Vergangenheit des Ich-Erzählers, die Vergangenheit stellt wiederum seine Zukunft dar etc. Diese paradoxe Verschlingung, die vielleicht bei jeder Zeitreise-Erzählung zum Tragen kommt, hier jedoch in hohem Maße selbstbezüglich wird, hat im Motiv des sogenannten Isochronions eine Art Symbol (vgl. Huber). Als zentrale »Formel« oder auch unbekannte »Essenz« oder »Droge« (Stern der Ungeborenen, 633) der astromentalen Wissenschaft bildet dieses Instrument den Gegenpart zum »Mentelobol«. Wenn dieses den Raum aufhebt, so ermöglicht das »Isochronion« die Entzeitlichung und ein Erleben vollständiger Gleichzeitigkeit aller im Universum je geschehener Ereignisse und somit ein mystisches All-Erleben, das menschliches Leben und Wahrnehmen partiell der Herrschaft der Zeit entzieht.13

4. Z eit und G leichzeitigkeit Das All-Erleben von Gleichzeitigkeit wird im Roman als letztes Ziel der im »Djebel« versammelten Wissenschaft verstanden, einer Art utopischem Forschungsinstitut. Doch auch die Physik des frühen 20. Jahrhunderts spielt eine 13 | Als Hintergrund vgl. die Definition und die sie umgebenden Überlegungen Theunissens: »Zeit ist die ausgezeichnete Weise, wie das Ganze der Welt über uns herrscht, vor dem Raum, der andern Weise dieses Herrschens, dadurch ausgezeichnet, dass sie auch in uns herrscht« (41). Die »geistige Zeit« bezeichnet genau die Aufhebung der Zeitherrschaft »in uns«.

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gewisse Rolle im Stern der Ungeborenen. Nachweislich hat sich Werfel im Exil in den USA mit den umwälzenden Erkenntnissen der modernen Physik auseinandergesetzt und Schriften von Einstein und anderen Physikern studiert, wie Zemsauer (Wortschöpfungen) mit einer Untersuchung von Werfels Exilbibliothek belegen konnte. Dieses Studium nutzt Werfel für eine satirische Fiktionalisierung. Aus science wird fiction: So beruhe die »mathematisch-mentale Reiseart« gemäß B.H. auf einer urtümlich simplen Einsicht von der Relativität aller bewegten Punkte des Kosmos im Verhältnis zu einander. Simpel wie alles Großes ist diese Sache, und man sieht geradezu den braven, namenlosen Handwerksmann mit glattem, schlichtem Weißhaar vor sich, der in mythischer Vorzeit die Relativitätstheorie ausgesonnen hat. (Stern der Ungeborenen, 30)

Einstein ist in der fernen Zukunft also so anonym wie der Erfinder des Rades –  seine »Relativitätstheorie« längst Alltagswissen. Allerdings wird diese recht eigenwillig, wenn nicht völlig falsch verstanden: Werfels simple Formulierung von »der Relativität aller bewegten Punkte des Kosmos im Verhältnis zu einander« hat wenig gemeinsam mit den äußerst komplexen Bestandteilen etwa der Speziellen Relativitätstheorie, also der Zeitdilatation (die besagt, dass die Zeitdauer eines Vorgangs vom Inertial- oder Bezugssystem abhängt, in dem er beobachtet wird), der Lorentz-Kontraktion (die besagt, dass bewegte Maßstäbe sich verkürzen beziehungsweise ein bewegter Beobachter eine kürzere Distanz misst als ein ruhender) oder dem physikalischen Konzept der Gleichzeitigkeit. Gemäß Spezieller Relativitätstheorie – die Einstein 1905 mit seinem Artikel »Zur Elektrodynamik bewegter Körper« begründet hat – können zwei gleichzeitige Ereignisse innerhalb des einen Bezugssystems von einem anderen Bezugssystem aus gesehen zu verschiedenen Zeiten stattfinden. Gleichzeitigkeit innerhalb eines sogenannten Inertialsystems ist gegeben, wenn zwei Lichtsignale von der Hälfte einer Distanz zur gleichen Zeit am jeweiligen Ende ankommen, denn die Lichtgeschwindigkeit wird als immer konstant und von der Bewegung des Ausgangspunktes unabhängig angenommen. Betrachtet man einen solchen Vorgang jedoch von einem relativ zu diesem System bewegten anderen System aus, dann werden die Lichtsignale als nacheinander eintreffend gesehen, das heißt die Gleichzeitigkeit hängt vom Beobachter ab und ist ergo ein relativer Begriff, umgekehrt ist es aber natürlich auch die Ungleichzeitigkeit (vgl. Lucha; Norton). Diese physikalischen Grundlagen haben sehr komplexe und voraussetzungsreiche Herleitungen und Folgen, die hier nicht erörtert werden können. Die Bemerkungen müssen ausreichen um festzustellen, dass Werfels Bezüge keineswegs auf eine narrative Verwertung oder auch nur eine Illustration der Relativität von Zeit und Raum in der modernen Physik zielen, sondern die-

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sen Diskurs poetisch umschreiben. Dieses Umschreiben bedeutet neben dem bewussten Ignorieren von mathematischen und naturwissenschaftlichen Tatsachen,14 dass das physikalische Universum Galileis, Einsteins, Bohrs und anderer in ein literarisches Universum transformiert wird. Dabei wird aus einer Physik der wirklichen Zeit und des wirklichen Raums eine utopische Physik, das heißt eine Physik eines möglichen Universums. In diesem möglichen Universum stellt der fiktionale Text kein in sich geschlossenes, einzelnes System dar, sondern eine Ansammlung von unterschiedlichen, relativ zueinander sich verhaltenden Fiktionalsystemen, die durch die utopische Narration wie durch eine Feldtheorie zusammengehalten werden. Eine Gleichzeitigkeit des fiktional Erzählten gibt es nicht im absoluten, sondern nur im relativen Sinn. Umgekehrt wird auch das Ungleichzeitige von erzählten Handlungen relativ: Die Zukunft kann von einem anderen Punkt aus gesehen auch die Gegenwart oder die Vergangenheit sein, weshalb es auch nicht richtig erscheint, von einem ›Zukunftsroman‹ zu sprechen, denn die Zukunft ist bloß eine Möglichkeit einer synchronen Zeit, die keinen Verlauf und keine absolute Richtung mehr kennt. Diese relative Gleichzeitigkeit nennt F.W. auch die »geistige Zeit«. Sie hat bestimmte Ähnlichkeiten mit C.G. Jungs psychologisch-esoterischem, »akausalem« Konzept der Synchronizität15, kann jedoch hier als spezifisch Werfelsche Form des literarischen Möglichkeitssinns gelten: Diese herrlichste Form der Zeit zeichnet sich dadurch aus, daß sie kein Nacheinander kennt, daß sie in jedem ihrer Teile den ganzen Weltlauf enthält, daß sie dem, der ihr angehört, die Freiheit gibt, regellos von einem ihrer Punkte zum andern zu springen und ihn in demselben Augenblick zum Zeugen des Ersten Schöpfungstages und des Jüngsten Gerichts macht. Auf der geistigen Zeit beruhen die drei Kräfte, die den Menschen erst zum Menschen erheben: Die Erinnerung, die Ahnung und der Glaube an das Unbeweisbare. [...] Nur der Vorzug, daß wir geistige Zeit in uns tragen, gibt dem Leser und mir die Möglichkeit, im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau präsent zu sein, ehe dieses selbst noch Präsens ist. (Stern der Ungeborenen, 546)

14 | F.W. hält einmal fest, er habe es als »Einfältiger meines Zeitalter« »nicht einmal zum Differentialkalkül gebracht« und verstünde ebenso wenig von Radiowellen wie von den »stellaren Strahlen« des astromentalen Zeitalters (Stern der Ungeborenen, 220). 15 | Jung gebraucht »den Begriff der Synchronizität in dem speziellen Sinne von zeitlicher Koinzidenz zweier oder mehrerer nicht kausal aufeinander bezogener Ereignisse, welche von gleichem oder ähnlichem Sinngehalt sind«. Synchronizität bedeutet »die Gleichzeitigkeit eines gewissen psychischen Zustandes mit einem oder mehreren äußeren Ereignissen, welche als sinngemäße Parallelen zu dem momentanen subjektiven Zustand erscheinen und – gegebenenfalls – auch vice-versa« (29).

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Erinnerung, Ahnung und irrationaler Glauben sind die nicht-physikalischen »Kräfte«, auf denen das Prinzip der relativen Gleichzeitigkeit in Stern der Ungeborenen beruht. In dieser Passage ist die »geistige Zeit« deutlich als poetologisches Prinzip der Regellosigkeit und des Springens bezeichnet, das eine Präsenz ohne Präsens erlaubt. Kausalität ist aufgehoben (»kein Nacheinander«) und auch eschatologische Gewissheiten, die auf einer linearen Heilsgeschichte beruhen, werden unsicher, wenn man »in demselben Augenblick zum Zeugen des Ersten Schöpfungstages und des Jüngsten Gerichts« werden kann. Diese ästhetische Struktur eines Zeiterlebnisses außerhalb der Kontinuität des chronologischen Zeiterlebens kann vor dem Hintergrund des von Bohrer beschriebenen Diskurses des Zeitmodus der Plötzlichkeit verstanden werden: Allgemein ist das Plötzliche eine ästhetische Kategorie seit der Romantik, ein epiphanischer Augenblick der Einkehr oder des unmittelbaren Erlebens von Diskontinuität, die ein Restbestand einer theologischen Struktur in der literarischen Moderne, eine Art profane Offenbarung darstellt. Die Denkfigur der »geistigen Zeit« bei Werfel entspricht dem poetologischen Prinzip einer inneren, unwillkürlich und plötzlich erlebten Zeitverdichtung. Berühmte Beispiele dafür sind Musils ›anderer Zustand‹ oder Marcel Prousts mémoire involontaire als Moment eines intensiven und kaum diskursiv einzuholenden Wiedererkennens, sowie Benjamins Theoretisierung solcher Zustände als Epistemologie des Blitzhaften. Bei den von Bohrer untersuchten Autoren findet eine »Reduktion der Utopie auf die reine Bewusstseinstatsache des ›Augenblicks‹« (Bohrer 203) statt, die den gesellschaftlichen Entwurf einerseits in eine »ästhetische Utopie« transferiert (also den subjektiven Augenblick), andererseits eine daraus resultierende, an den Leser appellierende »Utopie des Ästhetischen« meint. Diese Doppelfunktion von Literatur als Utopie findet sich denn auch bei Werfel wieder. Dass das Prinzip von Gleichzeitigkeit eine subjektive poetologische Dimension aufweist, wird an anderer Stelle deutlich: Die »geistige Zeit« wird als die dichterische »Inspiration« bezeichnet, die »freilich nur blitzhaft« und als »greller Anfang von Einheitsgefühl« auftritt, was sich gemäß Erzähler als »abgeschwächte Spur« in »Erkenntnissen, Gedichten und Melodien« (Stern der Ungeborenen, 635) niederschlägt. Im Unterschied zum modernistischen Kanon entwirft Werfel nun aber sehr wohl eine konkrete Utopie und eine kollektive Perspektive. In seinem Roman handelt es sich ja gerade um die »Erkenntnisse, Gedichte und Melodien«, die F.W. gemäß erstem Kapitel als nächtlich Reisender »wider Willen« heimbringt. Der Zusammenhang von Werfels ästhetischer Utopie mit seinem Durchspielen einer konkreten literarischen Utopie besteht darin, dass die Utopie als Form und als Narrativ um Zeitmomente einer ästhetischen Utopie herum konstruiert ist. Werfels Erzählung überführt aber diese singulären Momente der Zeitverdichtung von ihrer rein ästhetischen Funktion innerhalb einer Poetik wieder in einen theologischen Kontext. Die literarische Moderne bekommt damit bei Werfel wieder einen

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Transzendenzbezug, der in der Profanierung des plötzlichen Zeiterlebens mehr und mehr in die bloße Struktur zurückgenommen worden war. Jedoch ist diese Re-Theologisierung ambivalent. Denn das Narrativ, das durch den entzeitlichten Moment der »Inspiration« freigesetzt wird, öffnet gerade keinen Raum für Gewissheiten. Die Differenz zwischen Gewissheit und Ahnungen, zwischen Faktizität und Fiktion ist für das Erzählen irrelevant. In einer »geistigen« oder synchronen Zeit nimmt man im Gegensatz zum diachronen Modell kausalistischer Geschichte das Erzählte ebenso als relative Möglichkeit an wie die durch Fakten beweisbare Welt des realen Geschehens. Auch der Glaube an kollektive Erlösung kann die Erzählung nicht plausibel machen, lediglich ihre Möglichkeit anderen Möglichkeiten parallelisieren. Indem der Roman derart seine eigene Narrativität und Fiktionalität kenntlich macht, thematisiert er auch die utopische Verschiebung hin in eine vermöglichte Welt. Gegenüber einer bedrängenden und partikularisierenden politischen Wirklichkeit, die erbarmungslos einer kausalen Logik des Faktischen folgt, aber auch gegenüber festschreibenden Kategorien von Glaubensidentitäten erzählt Werfels Stern der Ungeborenen die Welt als ein Universum verschiedener, sich widersprechender Möglichkeiten. Die historische Zeit wird somit in eine Zeit der poetischen Gleichzeitigkeit umgeschrieben.

5. D iaspor a Franz Werfels Roman ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie die Exilliteratur in ihren vermeintlich fantastischsten und fernstabliegenden Erzählwelten das Exil in eine neue Sinnstruktur überführt. Wenn politisches Exil Einsamkeit und Ohnmacht bedeutet, dann soll die Diaspora alternative Modelle raumzeitlicher Organisation und Verschiebung aufrufen, die an kollektive Strategien anknüpfen, mit politischer Ohnmacht produktiv umzugehen. Das griechische Substantiv diasporá leitet sich vom zusammengesetzten Verb dia-speíro ab, das »ausstreuen, sich zerstreuen, getrennt werden« bedeutet. Als Übertragung auf die jüdische Geschichte ist der Begriff »negativ konnotiert« (Baumann 827) und meint »das Land, über das man zerstreut ist, die Tat des Zerstreuens sowie die Menschen, die zerstreut sind/waren« (ebd.). Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre kann in verschiedenen Forschungskontexten eine Häufung des Wortgebrauchs, eine Popularisierung und Umsemantisierung des religiös geprägten und mit theologischen Konzepten von Strafe, Schuld oder Erlösung verbundenen Begriffs festgestellt werden.16 Der 16 | Die Verwendung des Begriffs Diaspora als Konzept korrespondiert mit der Wahrnehmung der sogenannten Globalisierung. Vgl. die umfassende Begriffs- und Forschungsgeschichte bei Dufoix.

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aus der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Torah und der Apokryphen, stammende Begriff der Diaspora hat sich zu einem zentralen Terminus der postkolonialen Studien und der sozialwissenschaftlichen Erforschung von Minoritäten entwickelt. In Anlehnung an einen Aufsatz von William Safran, der 1991 in der ersten Nummer der Zeitschrift Diaspora publiziert wurde, wird unter Diaspora in diesem Kontext grundsätzlich eine zerstreute Gemeinschaft verstanden, »die sich – durch Vertreibung oder Emigration – von einem ursprünglichen (oder imaginären ursprünglichen) Zentrum an mindestens zwei peripheren Orten verteilte« (Mayer 13). Diaspora meint also ein Bewusstsein für eine kollektive Deterritorialisierung und eine Detemporalisierung, ein Bewusstsein für Kontingenz und für die Möglichkeit, als Gemeinschaft stets an einem anderen Ort zu sein. Im Judentum kann Diaspora als das Bewusstsein einer Abfolge verschiedener Exile verstanden werden, in denen man sich kollektiv vom verlorenen Ursprung her wieder auf dieses versprochene Land hinbewegt. Hatte der Begriff Diaspora im jüdischen Kontext gerade nach der Shoah bloß negative Konnotationen, wird seit einigen Jahren auch die kreative, kultur- und identitätsstiftende Macht diasporischer Existenzweise betont (vgl. Boyarin/Boyarin). Diasporische Modelle lassen sich in Stern der Ungeborenen auf verschiedenen Ebenen finden. Davon zeugen Figuren des Dazwischen, die weder als fremd noch als beheimatet beschrieben sind, davon zeugt auch die netzartige Geografie der globalen Stadt, der »Panopolis«. Am wichtigsten aber ist die auf verschiedenen Ebenen auftretende Struktur der Gleichzeitigkeit, die auch als zyklische Menschheitszeit auftritt. Gegenüber einem teleologischen Zeitverständnis des Fortschritts und der historischen Kausalität stellt die Gleichzeitigkeit ein alternatives Zeitmodell dar, das mit dem Zeitbewusstsein der Diaspora verbunden ist. Richtet man die Aufmerksamkeit auf diasporische Momente des Romans, ist zunächst der Diskurs des Judentums auffallend, der den ganzen Text durchzieht und im Kontext der Gleichzeitigkeit an zentraler Stelle auftaucht. Die Beschreibung des symbolischen Instruments des »Isochronions« verweist nämlich explizit auf die jüdische Tradition, spezifisch auf die Tefillin, also die jüdischen Gebetsriemen: Äußerlich war das Isochronion eine kleine, sechseckige Metallkapsel mit je einem Riemen an jeder Seite. Sie erinnerte an die Phylakterien, an die Gebetsriemen der Juden, wo ebenfalls eine Kapsel inmitten der Stirne des Beters befestigt wird. [...] Das Isochronion schien ein unbekanntes Hilfsmittel zu sein, um das atomare Bewusstsein des Erdenmenschen in das Allbewusstsein des Himmelsmenschen einzuschalten, die irdisch-winzige Verschiedenzeitigkeit in die Gleichzeitigkeit des Ganzen verströmen zu lassen. Für den Eingeweihten, der das Isochronion anzuwenden verstand, gab es daher kein Nacheinander mehr, sondern nur ein unendliches Miteinander, eine Simultanität über alle Fassungsgrenzen. Seine Seele enthielt in jedem Augenblick alle Assoziationen

Gleichzeitigkeit und alle Zusammenhänge in der Natur, das Fallen eines Lindenblattes vor Jahrtausenden, die Explosionen eines Lichtgestirns vor Jahrmillionen. (Stern der Ungeborenen, 633-634)

Der Transfer von »Verschiedenzeitigkeit« zu Gleichzeitigkeit, von historischer und chronologischer Wahrnehmung zu einem detemporalisierten Erleben des »Ganzen« wird explizit mit der Zeit des Betens im traditionellen Judentum verglichen. Obwohl der Vergleich nicht sehr weit geführt wird (so bleibt offen, ob nach Ansicht des Erzählers auch beim Beten eine »geistige Zeit« erreicht wird), macht er auf den Diskurs des Judentums aufmerksam. Auch dieser Diskurs erscheint in einer für die utopische beziehungsweise dystopische Literatur typischen Weise: Die jüdischen Figuren in Stern der Ungeborenen sind Vermittlungsfiguren.17 Sie sind Outsider und Insider der utopischen Gesellschaft, sie gehören »weder dorthin noch hierher« (ebd. 480), wie es einmal vom jungen Juden Io-Joel heißt. Io-Joel unterscheidet sich von den anderen jungen Menschen »auf eine schwer beschreibliche Art, obwohl er äußerlich völlig einer der ihren war« (ebd. 430). Die Juden sind an die gesellschaftlichen Strukturen und Gepflogenheiten zwar angepasst, über die sie alles wissen, doch gehören sie der astromentalen Gesellschaft nur bedingt an. Die Ambivalenz der jüdischen Figuren zeigt sich auch in ihrer speziellen gesellschaftlichen Position als Juristen oder Ärzte, in der sie das Funktionieren der Gesellschaft garantieren, indem sie über ein Ausnahmewissen verfügen. Neben diesen soziologischen Charakteristika wird das Judentum als das Volk einer frommen Zeit bezeichnet, dessen noch nicht erfüllte Bestimmung es sei, gerade die Erlösung der anderen zu garantieren. Die jüdische Existenzweise ist diasporisch. Wie ironisch berichtet wird, hängt Minjonman jeweils ein Täfelchen mit der Aufschrift »Auf Wanderschaft« unter sein Namensschild, wenn er nicht erreicht werden möchte: »Im Zeitalters des Reisegeduldspiels [des ›Mentelobols‹] war der Begriff ›Wanderschaft‹ natürlich sinnlos, wenn man unter ihm nicht innerliche und willensmäßige Abwesenheit verstand« (ebd. 639). Auch das Wandern hat im utopischen Zustand also eine »geistige« Dimension angenommen. Das Wandern des astromentalen Ahasvers hat nicht mehr die Bedeutung einer linearen und gerichteten Bewegung durch die Raumzeit, sondern meint einfach die Möglichkeit einer Nicht-Verfügbarkeit, einer »Abwesenheit« eines Anwesenden. Die diasporische Struktur bleibt nicht ausschließlich auf das Judentum beschränkt. Wenn mit Diaspora ein Bewusstsein von möglicher Deterritorialisierung und möglicher Detemporalisierung verbunden ist, dann lässt sich dieses Möglichkeitsdenken auf verschiedenen Ebenen und an verschiedenen 17 | Die paradigmatische Figur eines utopischen Juden ist der Kaufmann Joabin in Francis Bacons Neu-Atlantis. (Vgl. Jowitt)

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Stellen des Romans wieder finden. Erstens werden der Erzähler F.W. und sein Freund B.H. – der oft als eine Art Extension der Erzählinstanz erscheint (vgl. Huber) – mit diasporischen Attributen charakterisiert. Ist F.W. ein Revenant und Untoter, so ist B.H. ein Wiedergeborener, für den das menschliche Zeitmaß sowieso eine andere, kosmische Bedeutung hat, da er es immer wieder erlebt. Somit ist auch B.H. ein »Außenseiter«, zugleich aber auch »das Medium, der Vermittler« (Stern der Ungeborenen, 59). Er ist ein »Agent, der zwei Gegenparte zugleich vertreten musste« (ebd.), nämlich den zitierten F.W. und die utopische Gesellschaft. Zweitens sind diasporische Elemente in der utopischen Wissenschaft auszumachen. Als wissenschaftlich-experimentelle Praxis wird das sogenannte Fremdfühlen von den »Xenospasten« im Djebel betrieben. Das Ausfliegen in eine gänzlich unbekannte Fremde und damit in einen Raum vollkommen unvorhersehbarer Möglichkeiten bildet die tägliche Erfahrung dieser mentalen Weltraumreisenden. Mit dem ironischen Namen »Xenospasten« wird auf die Erfahrungen von Exil, aber auch auf ein Bewusstsein einer immer schon bestehenden Fremdheit verwiesen. Die Relativität der Raumzeit, dass es keine eigene und damit absolute Zeit gibt, keinen eigenen und absoluten Ort, ist ja gerade die im Djebel auch durch das »Isochronion« gelehrte Tatsache. Doch die Wissenschaft hat eine eigentümliche Stellung innerhalb von Werfels utopischer Gesellschaft. Denn sie geht nicht mehr experimentell vor und stellt auch keine rationalen Begründungen oder Erklärungsmodelle auf, sondern dient der Illustration metaphysischer Gewissheiten. So ist die Gleichzeitigkeit eigentlich eine experimentelle Voraussetzung der astromentalen Physik, erklärt wird sie jedoch bloß als metaphysische Zeitstruktur, deren Lehre den Repräsentanten der Kirche zufällt. Drittens kann man Diaspora in Stern der Ungeborenen als eine Bedingung menschlicher Existenz finden, die nur mit religiösen Kategorien erfasst werden kann. Obwohl analog zu den physikalischen Ausführungen auch die Religion nicht als die reale oder wirkliche Religion aus Werfels Welt, sondern als eine utopische und damit mögliche Religion verstanden werden muss, sind die theologischen Grundgedanken doch diskursiv nachvollziehbar. Im Gespräch mit dem Großbischof der katholischen Kirche erfährt F.W., dass es einen linearen »Fortschritt« nicht gibt und nicht geben kann. Denn »weil die ganze menschliche Geschichte die Geschichte der Folgen des Sündenfalles ist«, sei sie auch »die Geschichte der immer weiter fortschreitenden Entfernung von Gott« (ebd. 257). Die astromentale Menschheit befinde sich also weiter von Gott entfernt als die Welt des 20. Jahrhunderts, doch wachsen mit der Entfernung auch die Aussichten auf Erlösung. Denn in einem am Ende des Romans kurz vor F.W.s Rückkehr stattfindenden zweiten Gespräch enthüllt der Bischof »die andere Hälfte der Wahrheit«: »Wir entfernen uns nicht nur von Gott durch die Zeit, sondern wir nähern uns auch Gott durch die Zeit, indem wir uns vom

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Anfang aller Dinge weg und dem Ende aller Dinge zu bewegen …« (ebd. 656). Diese eschatologische Perspektive wird im Roman als eine letzte bewegende Einsicht des Ich-Erzählers geschildert und mit oxymoronartigen Metaphern charakterisiert, die auch das »Mentelobol« und die damit verbundene Aufhebung des Raums in einem quasi theologischen Licht erscheinen lässt: »Die Gerade der Zeit beugt sich in jeder ihrer Sekunden vor dem Schöpfer in anbetender Krümmung. Und so sind wir geborgen, weil die Entfernung nichts anderes ist als eine Form der Annäherung« (ebd. 657). Im Roman gibt es Indizien, dass der dreitägige Aufenthalt F.W.s in der astromentalen Welt genau am Scheitelpunkt der von F.W. erzählten zirkulären Heilsgeschichte angesiedelt ist. Nach der apokalyptischen Katastrophe des (wegen der avancierten Waffentechnik nur sehr kurzen) Kriegs findet eine Versöhnung von Mentalen und Dschungel statt, nach der sich ein junger Sternenwanderer selbst opfert, um das im zerstörten Djebel verschwundene »Isochronion« zu bergen. Der Knabe wählt den qualvollen Tod an seinen Verbrennungen bewusst, nachdem er das Angebot ausgeschlagen hat, im retrogenetischen Humus das Sterben artifiziell umkehren zu können. Diese Figur könnte, wie die biografischen Interpretationen immer wieder betonen, von Werfel in Erinnerung an seinen gestorbenen Sohn modelliert worden sein (vgl. Binder). Sie trägt darüber hinaus Züge eines neuen Messias, der am Ende die chronologische Zeitstruktur des Kosmos aufhebt, indem er F.W. wieder – durch eine wie die anfängliche Aussendung ebenfalls nicht erzählte Handlung – am Ausgangspunkt in Beverly Hills im Jahr 1943 absetzt. Dass das astromentale Zeitalter auch heilsgeschichtlich und prophetisch grundiert ist, wird durch F.W.s Einschätzung der katholischen Kirche deutlich. Diese beschreibt er als sehr unterschiedlich von der existierenden Kirche im 20. Jahrhundert, denn sie sei als »vergeistigte Kirche« längst in eine chiliastische Epoche eingetreten, wie sie Joachim von Fiore im 13. Jahrhundert prophezeit habe (Stern der Ungeborenen, 643). Auch ohne die komplexen kultur- und religionsgeschichtlichen Verweise hier ausführlich zu referieren, kann festgestellt werden, dass das von Werfel für seine Utopie herangezogene Zeitmodell nicht das lineare Modell des Fortschritts oder einer unumkehrbaren Teleologie darstellt. Vielmehr ist die Zeit von Werfels Narrativ eine zirkuläre Zeit, in der das Ende wieder zum Anfang führt und umgekehrt. Die Verschränkung der Zeit entspricht aber auch dem synchronischen Zeitmodell der jüdischen Diaspora, in der die Vertreibung wieder zur Rückkehr, das Exil zu Erlösung führen soll. Das Thema von Judentum und Christentum und ihrer gegenseitigen Verschränkung spielt in Stern der Ungeborenen auf sozio-historischer und theologischer Ebene eine wichtige Rolle. Theoretisch bedeutsamer scheint allerdings die Inanspruchnahme dieser theologischen Struktur für die Konstruktion eines alternativen – ästhetischen –  Zeitmodells der Gleichzeitigkeit, das die Reise dieses Reiseromans bestimmt. Die Reise F.W.s geht nicht linear in eine

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offene und nie gesehene Zukunft, sondern findet geborgen zwischen einem prophezeiten Auszug und einer Rückkehr in eine potenzielle Erlösung statt. Damit wird auch das biografisch-politische und theologische Exil dieses Exilromans in ein diasporisches Bewusstsein von Gleichzeitigkeit und Allgegenwart transformiert. Diese Transformation wird so pathetisch verkündet wie ironisch durch den unzuverlässigen Erzähler verkörpert.

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Epiphanische Dystopie und utopische Epiphanie Figuren der Zeit(losigkeit) in Vladimir Nabokovs Prosa Wolfgang Stephan Kissel

I Vladimir Nabokov gilt heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als einer der zentralen Schriftsteller der literarischen Moderne, die Romane Die Gabe, Lolita, Pale Fire gehören zum gegenwärtigen Kanon der Weltliteratur. Diese Weltgeltung erlangte Nabokov als Romancier russischer Herkunft, der in englischer Sprache schrieb und in den USA, später in der Schweiz lebte, d.h. als transnationaler Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine literarischen Anfänge reichen jedoch zurück in die Epoche des Fin de Siècle und der Ersten russischen Emigration der zwanziger und dreißiger Jahre. Lange Zeit hat der bewunderte, in viele Sprachen übersetzte Autor von Lolita den jungen, nur einem begrenzten Leserkreis bekannten Exilautor in der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Die Ergebnisse intensiver Forschung haben allerdings gezeigt, dass das Fundament für den Weltruhm mit den acht russischen Romanen der Berliner und Pariser Jahre gelegt wurde.1 Zu diesem Fundament gehört eine intensive Auseinandersetzung mit allen Spielarten des Ästhetizismus, der »Lebenskunst« der Symbolisten und den Kunstutopien der Avantgarden. Zwischen 1890 und 1910 entwickelte sich der Symbolismus nicht nur zu einer sehr heterogenen literarischen Strömung, sondern auch zu einer philosophischen und religiösen Suchbewegung, die auf die Modernisierungskrisen, vor allem auf die Krise des Subjekts und der Sprache reagierte. Für den gesamten Symbolismus gilt, dass der konstante Ver1 | Brian Boyd hat in seiner zweibändigen Biographie ein Gesamtbild der »russischen und amerikanischen Jahre« entworfen und überzeugend herausgearbeitet, dass dieses Werk in zwei Sprachen eine ganze Lebenszeit umspannt und als Einheit verstanden werden muss. Vgl. Boyd, The Russian Years und The American Years.

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weis auf eine zweite oder höhere Wirklichkeit eine metatextuelle Ausrichtung nach sich zog: Ältere und jüngere Symbolisten schrieben »Texte über Texte«, denn im individuellen Schaffen sollte sich die »Struktur der Weltkultur« (Ju. Lotman) spiegeln. Daher lässt sich die symbolistische Intertextualität auch nicht auf französische oder deutsche »Quellen« eingrenzen, sondern muss als zumindest angestrebte permanente Wechselwirkung mit allen erreichbaren Epochen der Weltkulturen und ihren Hervorbringungen verstanden werden. Wollte der Symbolismus die Kunst erneuern, so dachte die Avantgarde (Futurismus, Suprematismus, Konstruktivismus) Kunst von ihrer gesellschaftlichen Funktion her: Kunst als treibende Kraft sozialer Veränderung sollte wesentlich dazu beitragen, die Utopie einer harmonischen Gesellschaft zu verwirklichen. Dazu sollten die Demontage der Kunst und ihre Überführung in Lebenspraxis dienen: »Der Symbolist verkündet eine utopische Kultur (bzw. Kulturutopie), die als Apokalypse symbolisch schon Gegenwart ist, […] während die postsymbolistische Avantgarde die ›Kulturutopie‹ gegen eine ›Utopiekultur‹ austauscht, in der das Ästhetische utopisiert und die Utopie ästhetisiert erscheint.« (Hansen-Löve, Der russische Symbolismus, 15; vgl. auch ders., Im Namen des Todes). Symbolismus und Avantgarden standen also durchaus in enger Beziehung zum utopischen Denken, das auch die Bolschewiki inspirierte. In der Korrespondenz mit Edmund Wilson hat Nabokov sich zur vorrevolutionären Kultur als dem entscheidenden Einfluss seiner Jugendzeit bekannt, er bezeichnet sich sogar als ein Produkt der Jahre von 1905 bis 1917.2 Durch Herkunft und Begabung begünstigt nahm der junge Nabokov die vielfältigen Anregungen des »Silbernen Zeitalters«, der russischen Fin de siècle- Epoche intensiv auf, las in drei europäischen Literaturen und entdeckte auch die zeitgenössischen Symbolisten. Vom Sommer 1914 an begann er, Gedichte zu verfassen, bald darauf veröffentlichte er als Privatdruck einen Band epigonal symbolistischer Lyrik (Stichi, 1916). Über die Lektüre der Verse Aleksandr Bloks und des Romans Petersburg von Andrej Belyj kam er vermutlich früh mit der Vorstellung von den ›zwei Welten‹ (dvoemirie) in Berührung.3 2 | In einem Brief an den amerikanischen Literaturkritiker Edmund Wilson vom 4. Januar 1949 hat Nabokov seine geistige Herkunft aus der vorrevolutionären Epoche betont. Vgl. in Karlinsky 220: »The ›decline‹ of Russian literature in 1905-1917 is a Soviet invention. Blok, Bely, Bunin and others wrote their best stuff in those days. And never was poetry so popular – not even in Pushkin’s days. I am a product of this period, I was bred in that atmosphere.« 3 | Zur direkten Begegnung 1918 auf der Krim zwischen dem jungen Vladimir Nabokov und Maksimilian Vološin, eine der großen Randfiguren der symbolistischen Bewegung, vgl. Boyd, The Russian Years, 148-149, zu Nabokovs Lektüren der Symbolisten vgl. ebd. 150, zu seiner Rezeption des symbolistischen »dvoemirie« geben Hinweise Bethea und Alexandrov.

Epiphanische Dystopie und utopische Epiphanie

Nach der Oktoberrevolution floh Nabokovs Familie zunächst auf die Krim und verließ dann Russland 1919 für immer. Nabokov verlor Elternhaus und Heimat und 1922 auch den Vater, Jurist und aktiver Politiker, der bei dem Versuch, seinen politischen Weggefährten Pavel Miljukov während eines öffentlichen Auftrittes in Berlin gegen fanatisierte monarchistische Attentäter zu schützen, selbst tödlich verletzt wurde. Der Politiker und Jurist Vladimir Dmitrievič Nabokov, der bis 1917 als öffentliche Person in Erscheinung trat und unter anderen Umständen berufen gewesen wäre, ein hohes Staatsamt auszuüben, wurde im sowjetischen Russland bald zur Unperson, deren Namen über Jahrzehnte ungenannt bleiben musste. Darauf mag man den konsequenten Rückzug des Sohnes in eine private Existenz zurückführen, seine lebenslange Weigerung, irgendeiner Partei, Organisation, auch nur Literatenvereinigung anzugehören. Der strikten Privatheit war das Exil als Existenzform vollkommen angemessen. Daher versagte sich Nabokov jenen geschichtsphilosophischen Pessimismus, der unter russischen Schriftstellern der Ersten Emigration so verbreitet war und kehrte vielmehr die übliche Perspektive auf das marginale Exilantendasein um: Das Exil wird zu einem »Nicht-Ort« jenseits oder außerhalb der Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts, zur U-Topie im konkreten Wortsinn.4 Der Schwerpunkt des jungen Exilschriftstellers verschob sich in wenigen Jahren von der Lyrik zur Prosa, ein wichtiges Entwicklungsstadium bildete dabei das Versdrama: Die unlängst wieder aufgetauchte Tragödie des Herrn Morn (entstanden 1923/4, erstmals vollständig publiziert 1997) entwarf bereits Figuren der Rekursivität oder Involution, die erst Jahre später in den Romanen eine narrative und poetologische Schlüsselrolle übernehmen sollten. Obwohl die Verluste, die er in jugendlichem Alter erfahren musste, den Schriftsteller für immer prägten, fand er sich doch in einem Umfeld wieder, das bei allen materiellen Entbehrungen für einen Künstler auch stimulierend sein konnte: Die erste russische Emigration war die literarisch-künstlerisch, intellektuell-wissenschaftlich produktivste Phase der russischen Emigrationswellen des 20. Jahrhunderts. Die Kultur des Exils stand unter permanentem Legitimationsdruck. Wie im 19. Jahrhundert über Rolle und Bedeutung der Intelligenzija, so wurde nun über die Bestimmung und Aufgaben der Emigration gestritten. Diese Polemiken schwankten zwischen der Hoffnung, das wahre, 4 | Vgl. Nabokov, Erinnerung, sprich, 375: »Wenn ich auf jene Jahre des Exils zurückschaue, sehe ich mich und Tausende anderer Russen ein seltsames, aber keineswegs unangenehmes Leben in materieller Armut und intellektuellem Luxus führen, ein Leben unter völlig belanglosen Fremden, geisterhaften Deutschen und Franzosen, in deren mehr oder minder unwirklichen Städten wir, die Emigranten, zufällig unser Domizil genommen hatten. Diese Einheimischen schienen genauso flach und durchsichtig wie aus Zellophanpapier geschnittene Figuren […]«.

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ewige Russland ins Exil gerettet zu haben und in der Kunst oder Religion im Wort bewahren zu können, und der Furcht vor dem Absinken in völlige Bedeutungslosigkeit. Während vor allem Vertreter der älteren Generation auf die »Rettung der russischen Kultur« und die »Mission der Emigration« hofften, sahen sich die jungen, unbekannten Exilautoren mit der Isolation in einem fremden Sprachraum, dem Schwund materieller Grundlagen, dem Verlust eines Literaturmarkts, der meisten Leser und der führenden Literaturkritiker konfrontiert.5 In Memoiren und Autobiographien der Ersten Emigration finden sich zahlreiche Hinweise auf einen Verlust zeitlicher Orientierung, von Verankerung in der Epoche, der nach der Zäsur des Exils eintrat und sich im Laufe der Jahre verstärkte. Russlands künstlerische Elite, die der europäischen Avantgarde vor dem Weltkrieg wesentliche Impulse verliehen hatte, geriet nach der Revolution und der Spaltung des russischen Kulturlebens in eine schwierige Lage: Sie wurde in ihrer östlichen Heimat allmählich marginalisiert, später verfolgt und sogar oft genug physisch eliminiert und in der westlichen Emigration sprachlich und kulturell zunehmend isoliert oder assimiliert.6 Eine Formulierung Andrej Remizovs mag hier für viele ähnliche Äußerungen stehen: »Die Uhren sind verloren und zerschlagen, – es hat ein Leben außerhalb der Zeit begonnen« (39). Dieses Empfinden vieler russischer Emigranten, außerhalb der Zeit, außerhalb der Gegenwart in einem endlosen Übergang oder Wartestand gelandet zu sein, stand in scharfem Gegensatz zur weithin verbreiteten Überzeugung, in der Sowjetunion werde eine neue Gesellschaft und sogar ein neuer Menschentypus geschaffen, der mit absoluter Sicherheit auf ein Ziel, die vollkommen gerechte Gesellschaft zustrebe. Auf diese Kluft reagierten zahlreiche russische Exilschriftsteller mit Kritik oder Gegenentwürfen zur kommunistischen Staatsutopie, sodass die Anti-Utopie oder Dystopie zu einer verbreiteten Gattung der russischen Exilliteratur wurde (vgl. Heller/Niqueux, 266-276). In dem Maße, in dem Nabokov zu seiner eigenen Sprache und Poetik fand, begann er sich von diesen literarischen Strömungen des Symbolismus, der Avantgarde und auch den Strömungen der Exilliteratur abzusetzen, er weigerte sich, Ideologien, geschichtsphilosophischen Spekulationen oder apokalyptischen Phantasmen Macht über seine schöpferische Imagination einzuräumen.7 Stattdessen ersann er auktoriale Strategien, um den Freiraum der modernen russischen, später englischsprachigen Literatur zu behaupten bzw. zu erweitern und die Wirren und Absurditäten der Epoche auf Distanz zu hal5 | Für eine Übersichtsdarstellung der russischen Exilliteratur bleibt grundlegend Struve. 6 | Zu den Verflechtungen der russischen Emigration mit den Gastländern Deutschland und Frankreich vgl. Williams, Johnston sowie Schlögel. 7 | Zu Nabokovs Verhältnis zur Geschichte vgl. Dolinin, Clio laughs last.

Epiphanische Dystopie und utopische Epiphanie

ten. Diese Linie verfolgt die vorliegende Untersuchung weiter, indem sie neue Verbindungen zwischen der Figur der Epiphanie in Nabokovs russischen Romanen und der Utopie/Dystopie im Exil herstellt.

II Detailstudien haben in letzter Zeit nachweisen können, wie genau der debütierende Lyriker Nabokov das Scheitern der »Lebenskunst«-Projekte, der Selbstermächtigung von Kunst und Künstlern zwischen Jahrhundertwende und zwanziger Jahren oder in einer anderen Terminologie der »Kulturutopie« des Symbolismus und der »Utopiekultur« der Avantgarden verfolgte und wie intensiv er nach einem Gegenentwurf suchte.8 Mit Maschenka (1926) ging Nabokov zur Romanprosa über, bis 1940 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Sirin acht russische Romane, die zwar in vielen Details die Realität des Exils zu erkennen gaben, aber zugleich die eindeutige Zuordnung zu dieser Realität als Exilliteratur verweigerten. Ihre große Kühnheit in der Behandlung des Sujets und der Figuren profitiert deutlich von den Innovationen der frühen Moderne, die mit einer Reihe konservativer sprachlicher und stilistischer Züge in der Tradition Puškins kombiniert werden. Nabokov behauptete sich als Exilautor, indem er auf die überzogenen Ansprüche der frühen Moderne verzichtete und sich entschieden von der rücksichtslosen Affirmation eines hypertrophen Künstlertums abwandte, d.h. weder nach einer symbolistischen »Lebenskunst« noch nach einer Demontage der Kunst und ihrer Überführung in Lebenspraxis im Sinn der frühen Avantgarde strebte (vgl. ebd. 294ff.). Vielmehr zog er die Grenze zwischen Leben und Kunst in seinen Romanen immer wieder und immer schärfer aus. Zu dieser Grenzziehung dienten ihm Hybridgebilde, die Züge des Künstler- und Entwicklungsromans, der fiktiven Biographie wie der literarisierten Autobiographie aufweisen. Im Medium der fiktiven (Auto-)Biographien spitzte er die Probleme der künstlerischen Lebensbeschreibung zu, wie z.B. die Darstellung von Kreativität, Originalität, Singularität, Identität, vor allem aber von Wahrnehmung bzw. Störungen oder Trübungen von Wahrnehmung.9 In den »erfundenen Biographien« figuriert eine ganze Galerie von Solipsisten, die mit Talent eher geschlagen als gesegnet das Gefängnis ihres eigenen Bewusstseins für das Zentrum des Universums halten. Daher können sie anderen Menschen Leid zufügen oder menschliches Leben auslöschen, ohne ihr Unrecht auch nur zu erkennen. Es sind Pseudokünstler, die sich und anderen vorgaukeln, geniale Schöpfer zu sein, die Grenze moralisch-ethischer 8 | Vgl. z.B. Bethea, sowie vor allem Dolinin, ›Dvojnoe vremja‹. 9 | Zur fiktiven Biographie vgl. Grabes.

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Normen überschreiten und dabei sich und andere zugrunde richten. In dieser Darstellung scheiternder Pseudokünstler gelingt Nabokov »via negationis« die Verbindung von ästhetischen (die Grenze zwischen Kunst und Leben), metaphysischen (die Suche nach einem Jenseits), ethischen (Unantastbarkeit der Menschenwürde) und epistemologischen (Autonomie der Erkenntnis) Fragestellungen und Problemfällen zu einer singulären Kunstform, die er vor allem in den Romanen Lolita und Pale Fire zur Vollendung führen sollte. Weder in den Religionen noch in systematischer oder philosophischer Begriffsbildung noch in den zeitgenössischen Naturwissenschaften findet Nabokov die Voraussetzungen seiner skopischen Mnemopoetik, sondern in seiner eidetischen bzw. synästhetischen Mehrfachbegabung. Die Begabung manifestierte sich in seiner Fähigkeit, Farbe und Klang synästhetisch zum ›Farbhören‹ zu verschmelzen, von der früh geübten Komposition von Schachproblemen, die ein ausgeprägtes räumliches Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen voraussetzt, und vom Sammeln und Klassifizieren von Schmetterlingsarten, lepidopterologischen Studien, die das Augenmerk des Forschers auf feinste Unterschiede richten, um verwandte oder scheinbar identische Spezies voneinander scheiden zu können. In Lužins Verteidigung (1930), dem Roman über ein introvertiertes Schachgenie, prägt sich die spezifische Visualität der Prosa Nabokovs zum ersten Mal voll aus, der Durchbruch zum führenden jungen Prosaschriftsteller der Ersten Emigration war vollzogen. In diesem Werk versetzte er seine Leser über weite Passagen in das Bewusstsein des zunehmend paranoiden Lužin, der sich während des Spiels auf das Niveau eines schöpferischen Künstlers erhebt, dem Leben jedoch vollkommen hilflos ausgeliefert ist und einzig in der Liebe zu einer jungen russischen Emigrantin eine Verbindung zur Realität aufbaut. Nach einem schweren psychischen Zusammenbruch bei einem Turnier gegen seinen Rivalen Turatti verordnet ein Arzt Lužin Schachentzug, doch der süchtige Spieler wird bald rückfällig und verfängt sich im eigenen Netz. Sein Bewusstsein kann nicht mehr zwischen Schachspiel und Realität unterscheiden, sein Spiel dehnt sich auf die gesamte Welt aus. Gegen Ende des Romans glaubt er sich seinen übermächtigen Gegnern nur durch einen tollkühnen Rösselsprung aus seiner Wohnung in einen Berliner Hinterhof entziehen zu können. Der Sprung Lužins in die Ewigkeit führt ihn geradewegs zurück aufs Schachbrett: Bevor er losließ, sah er nach unten. Irgendwelche hastigen Vorbereitungen waren dort im Gange. Die Fensterreflexe rückten zusammen und richteten sich aus, der ganze Abgrund schien sich in dunkle und bleiche Quadrate einzuteilen, und in dem Augenblick, in dem Lushin seinen Griff löste, in dem Augenblick, da ihm eisige Luft in den Mund schoss, sah er genau, was für eine Ewigkeit sich entgegenkommend und unerbittlich vor ihm ausbreitete (Nabokov, Lushins Verteidigung, 294-5).

Epiphanische Dystopie und utopische Epiphanie

Am Beispiel der Schlussszene lässt sich eine literarische Figur erläutern, die im Laufe der dreißiger Jahre für die Gestaltung von Nabokovs Anti-Utopien an Bedeutung gewinnen sollte, die Figur der Epiphanie. Seit der Romantik, vermehrt aber in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg lassen sich in moderner Prosa sogenannte Epiphanien beobachten, d.h. Augenblicke, in denen Individuen durch starke Sinneseindrücke eine momentane Steigerung ihrer Erlebnisintensität, ihres Wahrnehmungsvermögens oder ihrer Erkenntnisfähigkeit erfahren. Während die Epiphanie nach religiösem Verständnis das Erscheinen eines Gottes oder zumindest göttlichen Wirkens, einer übernatürlichen, numinosen Kraft in der Welt bezeichnete, wird sie nun zu einem innerpsychischen Phänomen, das durch eine Sinnesreizung ausgelöst wird. Für die englische Literatur ist eine Filiation solcher Epiphanien gut belegt, die von William Wordsworth über Walter Pater bis zu James Joyce reicht. Man hat diese Häufung von Epiphanien mit den Krisen der Moderne, vor allem mit der Krise des Subjekts und der Sprache in Verbindung gebracht: Zweifel an der Darstellbarkeit der Welt und ein Ungenügen an reiner Rationalität führen nach dieser Version zum Rückgriff auf sakrale Figuren, die jedoch nicht mehr mit eindeutig religiösem Inhalt gefüllt werden. Stattdessen übersetzen die Augenblicke, die der Erscheinung des Numinosum oder Faszinosum nachgebildet werden, Attribute oder Effekte des Sakralen in eine säkulare Sprache (vgl. z.B. Beja und Zaiser). In seinen Exilromanen greift Nabokov auf diese Grundfigur der Transgression wiederholt und an exponierter Stelle zurück, verleiht ihr allerdings zusätzlich eine unverkennbar agnostisch-skeptische Färbung. Es kann sich um Zustände der Erleuchtung und Entrückung handeln, die den fiktiven Protagonisten für die Dauer eines Augenblicks über die Gesetze von Zeit und Vergänglichkeit emporheben, es kann sich aber auch um augenblicksartige Enthüllungen einer bis dahin verborgenen oder nur geahnten Wahrheit handeln. Für Lužin fällt dieser Augenblick mit dem Augenblick des Todes zusammen, im freien Fall stürzt er der Einsicht seines Wahnsinns entgegen, auf die der gesamte Roman als »epiphanische Dystopie« zutrieb. Im Kontext der dreißiger Jahre werden einige Werke Nabokovs von Literarhistorikern als »anti-totalitäre Anti-Utopien« (Heller/Niqueux 275) eingeordnet, namentlich das Drama Walzers Erfindung/Izobretenie Val’sa, die Erzählung Tyrannenvernichtung/Istreblenie tiranov und der Roman Einladung zur Enthauptung/Priglašenie na kazn (1934). Dieser Roman steigert die Züge einer epiphanischen Dystopie noch einmal deutlich. Versatzstücke aus der absurden Realität der zeitgenössischen deutschen und sowjetischen Diktaturen werden virtuos eingespielt, ohne dass der Text auf realistische Wiedergabe der Zeitgeschichte reduziert werden könnte. Es lassen sich Gemeinsamkeiten mit der avantgardistischen Poetik feststellen: traditionell unvereinbare literarische Gattungen werden überblendet, literarische Verfahren werden im formalistischen Sinne

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»entblößt«, die Figuren erscheinen oft als Marionetten, werden also depersonalisiert, das »Subjekt des Textes« ist über- oder untermarkiert, die Textfunktionen schwanken beträchtlich zwischen ästhetisch, gnoseologisch oder expressiv, didaktische oder ideologische Textfunktionen werden zurückgewiesen oder ironisiert. Das gesamte Geschehen erinnert an ein surrealistisch verfremdetes Puppenspiel. Zu Beginn wird Cincinnatus C., der einzige Gefangene einer Festung, die einem totalitären, zugleich aber auch lächerlichen Staat als Gefängnis dient, das Todesurteil mitgeteilt: In Kürze soll er wegen »gnoseologischen Frevels« hinrichtet werden, der genaue Termin wird ihm jedoch vorenthalten. Sein Vergehen scheint aufs Engste mit der körperlichen Beschaffenheit des zarten, fragilen Cincinnatus zusammenzuhängen. Seine Zeitgenossen sind füreinander vollkommen durchsichtig, sie haben einander nichts zu verbergen und wollen voreinander auch nichts verbergen. Ihre Banalität, ihre Flachheit ist unerschütterlicher Konsens. Cincinnnatus C. hingegen durchbricht diesen Konsens, wenn er nicht genau auf jede seiner Regungen achtgibt: Er war undurchdringlich für die Strahlen der anderen und wirkte darum, wenn er nicht aufpasste, bizarr, wie ein einsames dunkles Hindernis in dieser Welt der füreinander durchsichtigen Seelen; jedoch lernte er, Transparenz vorzugaukeln, sozusagen mit Hilfe eines komplexen Systems optischer Täuschungen – aber er brauchte sich nur einmal zu vergessen, einen Augenblick die Herrschaft über sich zu verlieren und über die klüglich beleuchteten Facetten und Winkel, die er seine Seele einnehmen ließ, und sofort gab es Alarm (Nabokov, Einladung zur Enthauptung, 24-5).

Auf neuartige Weise integriert der Autor den »Komplex der Visibilität […], der Gesehenwerdenkönnen, Sichsehenlassen und Sichdarstellen umschließt« (Blumenberg 779), in die dystopische Struktur des Romans. Der Philosoph Hans Blumenberg hat in seiner postum publizierten Anthropologie diesen Komplex definiert und die Konsequenzen der Sichtbarkeit für das menschliche Bewusstsein dargelegt: Visibilität ist nicht nur der einfache Sachverhalt, daß der Mensch ein körperliches und damit physisch ›sichtbares‹, also Strahlung von der im Sonnenlicht enthaltenen Art reflektierendes Wesen ist. Es bedeutet mehr; vor allem, daß er vom Sehenkönnen der anderen ständig durchdrungen und bestimmt ist, sie als Sehende im Dauerkalkül seiner Lebensformen und Lebensverrichtungen hat (ebd. 778).

Soziale Empathie und Sehsinn hängen eng zusammen. Sichtbar zu sein für andere ist eine Grundtatsache menschlichen Lebens, die die psychischen und mentalen Strukturen entscheidend prägt. Sich der Sichtbarkeit bewusst zu sein, liegt dem sozialen Handeln zugrunde, Menschen internalisieren

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die Gegenwart der anderen. Sehen liegt an den Quellen der Soziabilität des Menschen, seiner Gesellschaftsfähigkeit und Gesellschaftsbedürftigkeit. Der Mensch muss sich den Blicken der anderen aussetzen, will er ein soziales Wesen sein. Für Cincinnnatus C. wird diese Exposition zur tödlichen Bedrohung, weil sie seine konstitutionelle Opazität enthüllt. So ist es bezeichnend, dass der zum Tode verurteilte Protagonist beginnt, im Angesicht des Todes zu schreiben. Die Lektüre basiert auf zielgerichteter visueller Wahrnehmung, das physische Auge nimmt Bedeutungseinheiten über die Schrift auf, die vom Gehirn, vom ,geistigen Auge‹ in Bilder, Vorstellungen, Ideen etc. umgesetzt werden. Die Fähigkeit der Schrift, Illusionen zu erzeugen, die die Wahrnehmung von Wirklichkeit vollkommen verdrängen können, rührt wesentlich aus diesem Zusammenhang her.10 Moderne Schriftsteller erfassen ihr Objekt auffallend häufig mit den Augen, diese visuellen Eindrücke werden in Worte umgesetzt und verschriftlicht und dann vom Leser erneut als Schrift erblickt und in eigene Vorstellungen, Erinnerungen, Bilder übersetzt. So entsteht eine zirkulare Bewegung vom Auge zur Schrift und von der Schrift zurück zu einem anderen Auge. Die Selbstreflexion, die Cincinnatus C. im 8. Kapitel niederschreibt, schließt diesen Kreis, indem er sich Rechenschaft über sein vergangenes Leben unter Attrappen, unter Fälschungen, Pseudomenschen ablegt: »Ich bin umgeben von einer Art elender Gespenster und nicht von Menschen« (Einladung zur Enthauptung, 38). Die Stadt, die Festung, in der er gefangen gehalten wird, wirken wie billige Imitate, eine schlecht gefertigte Theaterdekoration, die niemanden von ihrer Realität überzeugen kann. Die Orientierungen in der Zeit, auf eine Zukunft scheinen verloren gegangen zu sein, die Zeit, in der der Roman spielt, wirkt wie eine »vergangene Zukunft« oder eine Zukunft, die schon wieder Vergangenheit geworden ist. Technik, Wissenschaft, Bildung sind nur noch ein matter Abglanz ihrer einstigen Größe, selbst die Materie scheint ermüdet: »Die Materie war müde, die Zeit döste sanft« (ebd. 47). Auf dem Weg zum Schafott zerfällt schließlich die Staffage, gegen Ende des Romans räumt der Autor Nabokov die Kulissen ab. Alles löste sich auf. Alles fiel. Ein Wirbelwind packte und ließ kreiseln: Staub, Lumpen, Splitter aus bemaltem Holz, Stücke vergoldeten Stucks, Pappziegel, Anschläge; eine schale Düsternis griff schnell um sich; und inmitten des Staubes, inmitten der fallenden Dinge, inmitten der schwankenden Kulissen schritt Cincinnatus in jene Richtung, wo, nach den Stimmen zu urteilen, ihm verwandte Wesen standen (ebd. 252-3).

10 | Vgl. zum Nexus von Sehen und Schreiben Mergenthaler 3: »Literatur konstituiert sich zu­a llererst in einem visuellen Medium, der Schrift; der ihr korrespondierende Sinneskanal ist demnach das Auge.« Vgl. auch ebd. 382.

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In den fulminanten Schlusspassagen manifestiert sich eine unauflösbare Spannung zwischen der Endlichkeit eines menschlichen Autors bzw. Schöpfers und der Unendlichkeit des Schöpfertums, zwischen der Materialität des Kunstwerks, d.h. der notwendigerweise endlichen Schrift- bzw. Buchform und der Unendlichkeit der in ihm wirksamen Vorstellungskraft, schließlich zwischen der endlichen Fiktion und den unendlichen Lektüren, die diese Fiktion im günstigen Fall immer wieder neu erschaffen.

III Die Linie der epiphanischen Dystopie (Einladung zur Enthauptung) wird im englischsprachigen Werk mit Bend Sinister, aber auch mit Lolita, Pale Fire und Transparent Things fortgesetzt. Dagegen soll nun eine zweite Linie des Umgangs mit charakteristischen Zeitfiguren vorgestellt werden, die Linie der utopischen Epiphanie. Die beiden folgenden Abschnitte dienen der Erläuterung dieser Figur mit Belegen aus dem Roman Die Gabe und aus der Autobiographie Erinnerung, sprich. Im letzten der russischen Romane Die Gabe (1937/38) wird die prekäre Übertragung von literarischer und kultureller Autorität unter den Bedingungen des Exils thematisiert (vgl. z.B. Greenleaf). Der Roman gilt als Synthese aus Künstler-, Entwicklungs- und Bildungsroman, Abenteuer- und Reisebericht, semidokumentarischer Biographie und fiktiver Autobiographie (vgl. z.B. Boyd, The Russian Years, 447-478). Die Forschung hat den Hinweis des Autors, das eigentliche Thema des Romans sei die russische Literatur selbst, in vielen Studien aufgenommen und wertvolle Einsichten in die rekursive Struktur (z.B. Dolinin, The Gift) oder die Intertextualität (Davydov, The Gift; Paperno; Davydov, Weighing Nabokov’s Gift on Pushkin’s Scales; Greenleaf) des Kunstwerks gewonnen. Dabei ist der vieldeutig schillernde Titel u.a. als die literarische Gabe des Protagonisten, als das Geschenk der Liebe zu Zinaida Merc und als Wunder des menschlichen Bewusstseins aufgeschlüsselt worden. Dem Protagonisten Fedor Konstantinovič Godunov-Čerdyncev, einem in Berlin lebenden fünfundzwanzigjährigen russischen Exillyriker, verleiht Nabokov eine Reihe autobiographischer Züge: Bei Beginn des Romans hat Godunov-Čerdyncev gerade einen Band mit Kindheitsgedichten veröffentlicht, wie sein Schöpfer besitzt er ein außerordentliches eidetisches Vermögen und eine Fähigkeit zur ›audition colorée‹, zum Farbenhören bzw. zur Synästhesie, die ihn zur exakten sprachlichen Reproduktion russischer Topographien befähigt. Aus einem inneren Reichtum, aus einer Überfülle schöpferischer Gaben ist der junge Exillyriker in Berlin arm und einsam. Es widerstrebt ihm, die Bildung, die er als Abkömmling eines begüterten Adelsgeschlechts im vorrevolutionären Russland genießen durfte, nun als Emigrant in bare Münze umzusetzen.

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Sein Erwerbseifer als Sprachlehrer hält sich in engen Grenzen, die Französisch- und Englischstunden, die er unfähigen oder unwilligen Schülern erteilt, sind für beide Seiten eine Qual. Auch die einträglicheren Fachübersetzungen von Artikeln über die geringe Schalleitfähigkeit von Fliesenfußböden oder von Abhandlungen über Kugellager, sind kaum dazu angetan, Godunov-Čerdyncev ernsthaft zu beschäftigen. Schließlich ist auch sein Bestreben, aus seinen literarischen Ambitionen Profit zu schlagen, allenfalls schwach ausgeprägt, immerhin erfüllt ihn das bescheidene Einkommen aus seinen Gedichten mit einem gewissen Stolz. Als seine Mutter für einige Tage aus Paris zu Besuch kommt, kreist das Gespräch unweigerlich um den Vater, der kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf der Rückkehr von einer Forschungsreise verschollen ist, an dessen Tod aber weder Mutter noch Sohn glauben wollen. Bald nach diesem Besuch weckt die erneute Lektüre von Puškins Reise nach Arzrum in Godunov-Čerdyncev den Wunsch, eine Biographie des Vaters mit einer gebührenden Würdigung seiner Entdeckungsreisen zu verbinden. In einer kunstvollen Montage werden Auszüge aus diesen Reisetexten des Vaters geboten, die sich eng an authentische Berichte von großen russischen Entdeckungsreisenden des 19.Jahrhunderts wie Nikolaj Prževal’skij oder Grigorij Ėfimovič Grum-Gržimajlo anlehnen (Paperno). Godunov-Čerdyncev bearbeitet das Material nach dem Prinzip der Verfremdung, indem er geringe, aber charakteristische Abweichungen von der Vorlage einbaut. Diese Arbeit wird zum Wendepunkt in seinem Schriftstellerleben, zum Beginn seiner Selbsterschaffung als russischer Prosaautor. Der Vater, ein berühmter Naturforscher, Schmetterlingskundler und Entdeckungsreisender, verkörperte die Verhaltensideale der Adelskultur wie Ehrgefühl, Ritterlichkeit, Mut und Todesverachtung. Aus unbändigem Erkenntnisdrang nahm er das hohe Risiko seiner Asienreisen in Kauf. Die ungeklärte Abwesenheit des Vaters, der unerträgliche Gedanke an seinen wahrscheinlichen Tod spornen Godunov-Čerdyncev zu einem ersten Prosaversuch an, zum Versuch, Leben und Leistung dieses Vaters schreibend zu vergegenwärtigen. Indem er die wissenschaftlichen Arbeiten des Vaters durch den Filter der Prosa Puškins neu liest, führt der Roman vor, wie auch unter den Bedingungen des Exils die prekäre Übertragung von literarischer und kultureller Autorität gelingen kann. Der Adelsname Godunov-Čerdyncev spielt auf Puškins historisches Drama Boris Godunov an und ruft damit zugleich die Figur des Usurpators (samozvanec), des Pseudo-Demetrius auf (Greenleaf). Somit verweist schon der Namen des Protagonisten auf die gefährdete Übertragung von Autorität, auf betrügerische Bewerber und Konkurrenten um die literarische bzw. kulturelle Tradition. In dem Maße, in dem der Sohn die Herausforderung durch den Vater und Puškin annimmt, wächst sein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, vor allem in sein sprachliches Vermögen und seine Erinnerungsfähigkeit. Allmählich schafft er sich ein Instrument, mit dessen Hilfe er eine zumindest annähernde

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Vorstellung von der unverwechselbaren Individualität des menschlichen Bewusstseins geben kann. So empfängt der junge Lyriker auf seiner Suche nach einem großen Thema vom Vater respektive von Puškin die Gaben des Lebens und der Lebensbeschreibung. Nach einer Weile muss Godunov-Čerdyncev erkennen, dass es ihm an Distanz zur verehrten Vaterfigur fehlt, mehr noch dass die Gefahr einer Kontamination der Biographie des Vaters durch die Phantasie des Sohnes besteht. In einem Brief an die Mutter legt er dar, warum er den ursprünglichen Plan nicht zu Ende führen wird. Dieses Scheitern ist aber ein fruchtbares Scheitern, denn Godunov-Cerdyncev entschließt sich stattdessen, eine fiktive Biographie des russischen Schriftstellers und Sozialrevolutionärs Nikolaj Černyševskij zu verfassen. Das vierte Kapitel des Romans enthält dieses ›Werk im Werk‹, die Biographie Černyševskijs, die der Lyriker als sein erstes gültiges Prosawerk betrachtet und die zugleich eine Meisterleistung der Parodie darstellt. Eine Kultfigur nicht nur des sozialistischen Literaturkanons, sondern der gesamten russischen revolutionären Bewegung wird demontiert, die literarischen Produkte Černyševskijs in ihrer ästhetischen Unzulänglichkeit und Flachheit bloßgestellt (Davydov, The Gift). Am Ende liegt eine scharfe Abrechnung mit einer der mächtigsten Strömungen des russischen Geisteslebens, des utopischen Materialismus, vor. Dabei wendet der debütierende Prosaautor ein ähnliches Verfahren wie bei den Forschungsberichten des Vaters an: Reiches historisch-biographisches Material über Černyševskij wird herangezogen, aber charakteristisch verfremdet, diesmal jedoch ohne die Befangenheit, die den ersten Versuch scheitern ließ. Bei der Erstveröffentlichung Der Gabe in der Pariser Emigrantenzeitschrift Zeitgenössische Annalen fürchteten die für russische Verhältnisse liberalen Herausgeber, die mild ironische Sicht Černyševskijs würde in weiten Kreisen ihrer Leserschaft Empörung hervorrufen und Die Gabe konnte nur unter Ausschluss des vierten Kapitels erscheinen – ein singulärer Akt der Zensur im Exil. In der Zeit der Niederschrift der Biographie Černyševskijs festigt sich auch die Liebe zu Zina Merc, mit der er nach einem Umzug in die Agamemnonstraße Nr.15 Zimmer an Zimmer lebt. Die Tochter bzw. Stieftochter seiner neuen Vermieter leidet unter ihren Familienverhältnissen. Ihrer Mutter wirft sie vor, das Angedenken des verstorbenen Vaters verraten zu haben und eine Mesalliance mit einem vulgären, antisemitischen Russen eingegangen zu sein, auf dessen Nachstellungen sie nur mit Abscheu reagiert. Ihren Vater, einen gebildeten, wohlhabenden jüdischen Geschäftsmann, verklärt sie in den Gesprächen mit Godunov-Čerdyncev zu einem Kunstliebhaber in der Art von Swann aus Marcel Prousts A la recherche du temps perdu. Zina Merc gehörte zu den wenigen Lesern des ersten Gedichtbands von Godunov-Čerdyncev und sie erweist sich mehr und mehr als die ebenbürtige und fordernde Gesprächspartnerin, die den Lyriker aus seiner stolzen Vereinsamung erlösen kann.

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Nach der Veröffentlichung seiner Černyševskij-Biographie erlebt der Schriftsteller bei einem Ausflug im sonnendurchfluteten Grunewald einen Zustand ekstatischen Glücks: Die Sonne fiel über mich her. Die Sonne beleckte mich überall mit ihrer großen, glatten Zunge. Allmählich hatte ich das Gefühl, daß ich schmelzend durchsichtig, daß ich von einer Flamme durchdrungen war und nur insoweit existierte, als sie es tat. Wie ein Buch in eine exotische Sprache übersetzt wird, so wurde ich in Sonne übersetzt. (Nabokov, Die Gabe, 543)

Die Sonne, die Godunov-Čerdyncev physisch verwandelt, steht hier für das reine Geben und Schenken aus einer unerklärlichen Fülle, das sich in Zeiträumen vollzieht, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigen. In einer Ekstase des Glücks tritt das Ich des Schriftstellers aus der Zeit heraus und kommt zu sich selbst in einem der großen epiphanischen Momente im Werk Nabokovs (vgl. auch Kissel, Selbstbehauptung im Exil, 238). Dem Schriftsteller, der in den Lebensspender Sonne übersetzt wird, ist die Gabe des wissenden Sehens verliehen. Dass ihm ausgerechnet während dieser Momente von Ekstase seine Kleidung gestohlen wird und er nur mit einer Badehose bekleidet unter den neugierigen Blicken von Spaziergängern und Polizisten den Weg nach Hause finden muss, zeugt vom listigen und hartnäckigen Widerstand des Materiellen gegen die geistige Verwandlung. Gegen Ende des Romans wird die Zeit nach dem Tode sogar als Verwandlung in reines Sehen, in ungehinderte Schau imaginiert: Die für unsere Stubenhockersinne am leichtesten zugängliche Vorstellung von unserem zukünftigen Begreifen jener Umgebung, die uns mit dem Zerfall des Körpers offenbart werden soll, ist die Befreiung der Seele von den Augenhöhlen des Fleisches und unsere Verwandlung in ein einziges vollkommenes und freies Auge, das gleichzeitig in alle Richtungen sehen kann, oder anders gesagt: ein übersinnlicher Einblick in die Welt, begleitet von unserer inneren Beteiligung. (Die Gabe, 503)

Die fein verästelte Intertextualität, vor allem in ihren parodistischen Spielarten, entwirft ein umfassendes, sorgsam austariertes System von Nähe und Ferne zu anderen Autoren, neben den russischen Symbolisten und Akmeisten zunächst vor allem zu französischen Schriftstellern wie Baudelaire, Flaubert oder Marcel Proust.11 In einem Kapitel wird sogar ein eigener Kanon der englischen, französischen und russischen Moderne entworfen, den Nabokov in der Zeit seines Weltruhms, den späten fünfziger und den sechziger Jahren durchaus offensiv vertreten sollte (vgl. auch Kissel, Nabokovs Kanon). 11 | Zu Nabokovs Rezeption der französischen Moderne vgl. Foster 110-157.

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Die Struktur der Gabe selbst ist so angelegt, dass sich der Roman erst nach wiederholter Lektüre als Autobiographie von Godunov-Čerdyncev erschließt (Dolinin, The Gift). Dadurch entsteht eine Figur der Rekursivität oder Involution, eine Art von Möbius-Band, die das Kunstwerk in einem Schwebezustand zwischen Schließung und Öffnung belässt.12 Eine solche Prosa fordert einen idealen Leser als Mitschöpfer, der bereit ist, das Werk bei wiederholtem Lesen unter verändertem Blickwinkel neu zu entdecken und auf einer höheren Erkenntnisstufe zu verstehen. So schärft die Lektüre des Romans den Blick des idealen Lesers. Mit dieser intrikaten Struktur, die selbst eine Vielzahl möglicher Rezeptionsformen (z.B. fiktive Rezensionen) im Erzählfluss antizipiert, strebte Nabokov nach einem Maximum an Kontrolle über seine Texte. Daher sah man in ihm bisweilen den »Tyrannen« eines imaginären Reiches, der absolute Herrschaft über seine Geschöpfe und Schöpfungen beansprucht (vgl. etwa Couturier). Doch hat eine andere Richtung der Nabokov-Forschung sehr zu Recht die immer auch erkennbaren Selbstzweifel des Autors und sein Wissen um die »Risiken der Fiktion« hervorgehoben.13

IV Als Vladimir Nabokov Mitte der dreißiger Jahre mit der französisch geschriebenen Erinnerungsskizze Mademoiselle O. den Nukleus seiner späteren Autobiographie entwarf, bezeichnete er darin das vorrevolutionäre Russland als »jenes Rußland von einst, dessen Name heute wie Griechenland oder Rom klingt« (Erinnerung, sprich, 525). Kaum zwei Jahrzehnte nach diesen Ereignissen schien dem Romancier die vorrevolutionäre Epoche, ja die gesamte Welt seiner Kindheit ebenso versunken wie die alten Kulturen Europas, deren Blüte und Niedergang mehr als anderthalb Jahrtausende zurücklagen. Mit dem Zerfall der Ersten Emigration zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebte Nabokov abermals, wie ein bedeutender Teil der russischen Kultur des 20. Jahrhunderts spurlos zu verschwinden drohte. Bald nach Kriegsausbruch floh er mit Frau und Kind vor den herannahenden deutschen Truppen. Schon vor seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten hatte er den kostbarsten Besitz, seine russische Muttersprache, endgültig als Sprache seiner Kunstprosa aufgegeben und sich für das Englische entschieden. Als er in den späten vierziger Jahren eine Reihe von Skizzen über seine Kindheit und Jugend ver12 | Diese Hybridformen sind in der Debatte um das »offene Kunstwerk« nicht gebührend gewürdigt worden, vgl. vor allem Eco. 13 | Vgl. Wood 235: »The magician’s doubts are inseparable from his successes. They are his successes, they sustain the magic that seems to make them vanish.«

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fasste, die zunächst als Feuilletons im New Yorker erschienen, betrachtete er daher sein zweites Exil als endgültig und sein russisches Romanoeuvre als abgeschlossen. Der Titel der englischen Erstfassung seiner Autobiographie Conclusive Evidence von 1951 bekundet, dass der Exilautor schlüssiges Beweismaterial für seine Existenz im katastrophischen 20. Jahrhundert vorlegen und sich gegen die faktischen Verluste seines Lebens, die Vertreibung aus Russland, Verlust des Vermögens, Zerstreuung der Familie, Ermordung des Vaters, die Preisgabe der Muttersprache als Medium des Schreibens behaupten will.14 Konkret erinnert wird in dieser literarischen Autobiographie an das versunkene Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts und an die Familie, vor allem die Eltern des Autors. Der Titel der russischen Übersetzung/Fassung von 1954 Drugie berega (Andere Ufer) spielt auf Herzens S drugogo berega (Vom anderen Ufer) an. Die zweite englische Fassung Erinnerung, sprich (Speak, Memory, 1966) zitiert im Titel die Invocatio, die Musenanrufung der antiken Epen, der Ruf gilt der ersten der Musen, Mnemosyne. Keines seiner fiktiven Werke repräsentiert so umfassend einen mehrsprachigen Inter-Text wie die Autobiographie mit der englischen Erstfassung Conclusive Evidence, der russischen Rückübersetzung Drugie berega und schließlich der um ein Drittel erweiterten englischen Neufassung Speak, Memory in den sechziger Jahren: Die Erinnerungen reichen von August 1903 bis Mai 1940, d.h. sie enden mit Nabokovs Übersiedlung ins amerikanische Exil, ein geplanter zweiter Band über die amerikanischen Jahre gedieh über Vorstufen nicht hinaus. Die ersten elf von insgesamt fünfzehn Kapiteln sind den Jahren der Kindheit und Jugend gewidmet, die sich im geographischen Raum von St. Petersburg bis St. Nazaire, auf dem Landgut Vyra, im zaristischen Russland und in Mittelund Westeuropa abspielen. Ausführlich werden die Eltern, die Geschwister und Verwandten, die Reihe von Privatlehrern, die Gouvernante aus der Westschweiz geschildert. Bedeutenden historischen Persönlichkeiten hingegen, die im Hause des Vaters verkehrten, gesteht der Autor nur Nebenrollen zu. Der historische Kontext der Epoche wird in Erinnerung, sprich nicht ausgeblendet, sondern den literarischen Erfordernissen und künstlerischen Gesetzen der Autobiographie untergeordnet, das Individuelle und Singuläre ostentativ über das Kollektive und Gesellschaftliche gestellt. Lediglich die letzten vier Kapitel gelten den zwanzig Lebensjahren, die Nabokov nach der Flucht aus Russland zunächst als Student in Cambridge und dann als Exilautor von 1922-1937 in Berlin sowie von 1937-1940 in Paris verbrachte.

14 | Zur Entstehungsgeschichte der Autobiographie vgl. Boyd, The American Years, 149-165.

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Der erste Satz führt eine Lichtsymbolik und -metaphorik ein, die sich auf den folgenden Seiten weiter entfaltet und im Zentrum der komplexen skopischen Mnemopoetik stehen wird: »Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist« (ebd. 19). Dass die Begrenztheit des Lebens nicht nur durch einen Blick auf die Zäsur des Todes bzw. die Zeit nach dem Tod, sondern auch auf die endlose Zeit vor der Geburt erfasst wird, erzeugt bereits zu Beginn des Romans eine charakteristische perspektivische Verschiebung. Der erste Satz stellt einen besonderen Blickwinkel auf die fundamentalen Oppositionen von Geburt und Tod, Licht und Dunkel, Endlichkeit und Unendlichkeit ein und begründet damit den Vorrang, den die gesamte Erzählung dem Sehsinn zuschreiben wird: Im Medium der literarischen Autobiographie werden die Wahrnehmungspotentiale eines neuen, einzigartigen Sehens ausgelotet und in einzelnen Vorstößen erprobt, ob ein solches Sehen über Grenze und Ende des menschlichen Lebens hinausblicken kann – und sei es nur in einem Akt von Autosuggestion oder als Resultat einer optischen Täuschung. Die Reihe der Epiphanie-Szenen beginnt mit dem Augenblick, in dem das Selbst-Bewusstsein des Vierjährigen im strahlenden Licht eines Spätsommertages erwacht und das Subjekt der Erinnerung sich seiner Existenz in der Zeit bewusst wird: Wenn ich meine Kindheit erkunde (was nahezu der Erkundung der eigenen Ewigkeit gleichkommt), sehe ich das Erwachen des Bewußtseins als eine Reihe vereinzelter Helligkeiten, deren Abstände sich nach und nach verringern, bis lichte Wahrnehmungsblöcke entstehen, die dem Gedächtnis schlüpfrigen Halt bieten. Zählen und Sprechen hatte ich sehr früh und mehr oder minder gleichzeitig gelernt, doch das innere Wissen, daß ich ich war und meine Eltern meine Eltern, hat sich anscheinend erst später eingestellt und hing unmittelbar damit zusammen, daß ich ihr Alter im Verhältnis zu meinem begriff. Nach dem hellen Sonnenlicht und den ovalen Sonnenflecken unter den sich überlagernden Mustern grünen Laubes zu urteilen, die mein Gedächtnis überfluten, wenn ich an diese Offenbarung denke, war es vielleicht am Geburtstag meiner Mutter im Spätsommer auf dem Land, und ich hatte Fragen gestellt und die Antworten abgewogen. All das ist genau, wie es dem biogenetischen Grundgesetz zufolge sein soll; der Anfang reflektierenden Bewußtseins im Gehirn unseres entferntesten Vorfahren ist ganz gewiß mit dem Erwachen des Zeitsinns zusammengefallen (ebd. 22-23).

Die Umstände, unter denen sich diese »Offenbarung« des Zeitsinns ereignet, werden im russischen Originaltext durch stilistische Mittel aufgerufen, die deutliche Anklänge an den Symbolismus, insbesondere an Eigenarten des von Nabokov hochgeschätzten Andrej Belyj aufweisen. Der Spätsommertag, der Einfallswinkel des Sonnenlichts, die Sonnenflecken und die Helligkeitsgrade

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weisen deutlich hin auf den »solaren Motiv- und Themenkomplex« im Symbolismus und damit auf die Literatur zwischen Fin de siècle und Revolution (vgl. dazu etwa Hansen-Löve, Der russische Symbolismus). Doch während die Symbolisten den Kult des Zentralgestirns als Teil ihrer emphatischen Mythopoetik entwarfen, wendet Nabokov den Motivkreis von Sonne und Licht ins Individuelle und Singuläre: Dem erwachenden Bewusstsein des Kindes, das am Alter von Vater und Mutter seine bisherige Lebensspanne ermisst, erscheinen die Eltern erstmals als distinkte Individuen, denen bezeichnenderweise eigene Farbkombinationen zugewiesen werden: Als die mir eben enthüllte, noch frische und adrette Formel meines eigenen Alters, vier, den elterlichen Formeln, dreiunddreißig und siebenundzwanzig, entgegengehalten wurde, geschah etwas mit mir. Ich erhielt einen ungeheuer belebenden Schock. Als hätte ich eine zweite Taufe hinter mir […] fühlte ich mich mit einem Male in ein strahlendes und bewegliches Medium gestürzt, das nichts anders war als das reine Element Zeit. Man teilte es – genau wie erregte Schwimmer das flimmernde Meer – mit Wesen, die anders waren als man selber und einem doch verbunden durch den allen gemeinsamen Strom der Zeit, eine Umgebung, die grundverschieden war von der des Raumes […] In diesem Augenblick wurde mir deutlich bewusst, dass das siebenundzwanzig jährige Wesen in weichem Weiß und Rosa, das meine linke Hand hielt, meine Mutter war, und das dreiunddreißig jährige in hartem Weiß und Gold, das meine Rechte hielt, mein Vater. Zwischen ihnen, die gleichmäßig ausschritten, stolzierte ich, trippelte und stolzierte von Sonnenfleck zu Sonnenfleck in der Mitte des Weges […] (ebd. 23-24).

Ohne die ununterbrochene Generationenkette müsste der »Lichtspalt zwischen den Unendlichkeiten« verlöschen. Daher ist es von tiefer symbolischer Bedeutung, dass die Geburt des Bewusstseins auf einem Sommerspaziergang mit Vater und Mutter stattfindet. Aus der Retrospektive seines amerikanischen Exils in den späten vierziger Jahren, nach dem Untergang der Welt seiner Kindheit und Jugend, nach dem Tod der Eltern und des jüngeren Bruders Sergej verteidigt Nabokov mit der Exaktheit seiner Erinnerungen das Wunder des menschlichen Bewusstseins gegen alle Gefährdungen. Das in der Kindheit erlebte Glück der Offenbarung kann von den Verlusten des Erwachsenenalters nicht mehr gemindert werden. Daher liegen Ausgangs- und Zielpunkt der autobiographischen Selbstbehauptung in der Familiengeschichte. Dass die blitzartige Erleuchtung den vierjährigen Knaben in der Mitte zwischen Vater und Mutter ereilt, verweist aber nicht nur auf die genealogische Filiation, sondern unterstreicht auch das fundamentale dualistische Prinzip von Weiblichem und Männlichem und damit die Bedeutung der Differenz im Welt- und Menschenbild Nabokovs, für den das Erkennen und Benennen feinster Unterschiede die Berufung des Schriftstellers ausmachte.

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Wie sehr sich Nabokov von der symbolistischen »Lebenskunst« auch immer entfernte, so hielt er doch an der vertikalen Zielrichtung ›a realibus ad realiora‹ fest, die ›Schau der Schönheit‹ verblieb im Zentrum seines Werks. Durch seine naturkundlich akribischen Beschreibungen der ›realia‹, der sinnlich erfahrbaren Welt schimmert eine Ahnung der ›realiora‹, einer außerhalb der Zeit gelegenen, den menschlichen Sinnen nicht unmittelbar zugänglichen Welt hindurch. Dieser ›Schau des Schönen‹ dienen in erster Linie eine exakte Beobachtungsgabe und ein unbestechlicher Blick für das charakteristische, einzigartige Detail im Wuchs und Bau einer Pflanze, im zarten Adergeäst eines Schmetterlingsflügels oder im Verhalten eines Menschen. Die NaturKunde beruht nicht auf mathematischem Kalkül, sondern auf Anschauung und Deskription, sie zielt nicht auf schrankenlose Verfügungsgewalt über ein »Objekt«, sondern bewahrt bei aller Bemühung um exaktes Erkennen und Benennen eine Haltung ehrfürchtiger Scheu. Im elften Kapitel beschreibt Nabokov Episoden dichterischer Inspiration, die er in der Zeit seiner ersten Liebe als sechzehnjähriger junger Mann auf dem Landgut Vyra durchlebte. Noch vierzig Jahre später scheinen ihm diese Augenblicke der Entrücktheit vollkommen präsent, in späteren ähnlich tranceartigen Zuständen glaubte er oft, mit Leichtigkeit wieder zu der ersten prägenden Erfahrung zurückkehren, Raum und Zeit mühelos durchqueren zu können. Aber solche Grenzüberschreitungen bergen auch Gefahren, mit denen der debütierende Dichter sich erst vertraut machen muss. Am Ende des Kapitels trägt er der Mutter eines seiner noch epigonalen Gedichte vor, an die Rezitation schließt sich eine überraschende und erschreckende Konfrontation mit dem eigenen Ich an, die durch einen Blick in den Spiegel ausgelöst wird, den die gerührte Mutter dem vom Furor poeticus gezeichneten jungen Dichter reicht. Der unheimliche Augen-Blick der Begegnung mit einem seltsam verzerrten Alter Ego wird stillgestellt und ausgedehnt zur Urszene aller Selbstzweifel, die den Autor in seinen großen Romanen heimsuchen werden. Während die Mutter vornehmlich mit den Themen Gedächtnis und literarische Produktivität assoziiert wird, steht der Vater Vladimir Dmitrievič Nabokov für den Verhaltenskodex der Adelskultur, für Ehrgefühl, Ritterlichkeit, Mut und Todesverachtung. Als Jurist und Politiker repräsentierte er zudem eine allzu spät entwickelte und allzu früh abgeschnittene russische Tradition von Rechtsstaatlichkeit und aufgeklärter Liberalität. Obwohl er selbst dem Hochadel entstammte, war er einer der schärfsten Kritiker des Ancien régime, widersetzte sich unerschrocken der reaktionären Politik des letzten Zaren und gab ohne Zögern Privilegien preis. In der Autobiographie werden seine umfassende Bildung, Selbstbeherrschung, Entdeckerfreude auf abgelegenen Gebieten wie etwa der Lepidopterologie eingehend gewürdigt. Der Schluss liegt nahe, dass der hochbegabte älteste Sohn, der Liebling der Eltern und Familie

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sich zeitlebens an dieser Verkörperung eines Adelsideals maß und höchsten Erwartungen gewachsen sein wollte. Doch die Zweifel, die in einer sich von Patriarchat und Paternalismus immer rascher entfernenden Gesellschaft auf der Übertragung väterlicher Autorität lasteten, waren auch von einem so ungetrübten Vater-Sohn-Verhältnis nicht vollständig zu fernzuhalten. Sie werden aber in charakteristischer Weise verlagert auf schwierige Einzelgänger, Exzentriker und Außenseiter im engsten Kreis der Familie wie etwa Onkel Ruka, den Bruder der Mutter oder den eigenen jüngeren Bruder Sergej. Vor allem zeigt sich die ganze Fragilität dieser Übertragung im vorzeitigen Verlust des geliebten Vaters, der erschossen wird, als er seinen Freund Pavel Miljukov gegen faschistische Attentäter verteidigt. Andeutungen und Vorahnungen seines vorzeitigen gewaltsamen Todes durchziehen die Autobiographie. Gegen Ende des ersten Kapitels beobachtet der sechsjährige Vladimir durch den Fensterrahmen eines Salons, wie der Vater, der einer Gruppe von Bauern eine Bitte gewährt hat, gemäß altem russischen Brauch dreimal in die Luft geworfen wird. Der einsame Flug gen Himmel bedeutet einen Augenblick gesteigerter Existenz für den erlebenden Vater und für den beobachtenden Sohn. Die Szene kulminiert im Anblick des für Sekundenbruchteile frei in der Luft schwebenden Vaters, der zunächst die Assoziation eines Deckenfreskos in einer orthodoxen Kirche und schließlich eines in Sarg liegenden Toten hervorruft. Der visuelle Eindruck wird mit solcher Perfektion in Sprache umgewandelt, dass im weitgespannten Bogen der syntaktischen Periode der Schwung der wahrgenommenen Bewegung physisch spürbar nachwirkt: Von meinem Platz am Tisch aus konnte ich plötzlich einen wunderbaren Fall von Levitation erleben. Für einen Augenblick war dort die Gestalt meines Vaters in seinem windgekräuselten weißen Sommeranzug zu sehen, prächtig mitten in der Luft ausgebreitet, die Glieder in einer seltsam lässigen Haltung, seine wohlgestalten, unerschütterlichen Gesichtszüge dem Himmel zugewandt. Dreimal flog er solchermaßen zum mächtigen Hau-ruck seiner unsichtbaren Werfer in die Höhe, beim zweitenmal ging es höher als beim ersten, und dann, bei seinem letzten, luftigsten Flug, lehnte er sich wie für alle Zeiten gegen das Kobaltblau des Sommermittags, einem jener paradiesischen Wesen gleich, die mit dem ganzen Faltenreichtum ihrer Gewänder mühelos am Deckengewölbe einer Kirche schweben, indes unten schmale Wachskerzen in sterblichen Händen eine nach der anderen aufflammen, um im Weihrauchnebel einen Schwarm winziger Feuer zu bilden, der Priester von ewiger Ruhe singt und Trauerlilien das Antlitz des Menschen verdecken, der dort unter den schwebenden Lichtern in dem offenen Sarge liegt. (Ebd. 37)

Der pater familias schwebt im Zentrum einer Vision, in der Gutsbesitzer und Bauern einträchtig zusammenleben, der Vision versöhnten Landlebens, die eine lange Reihe russischer Autobiographien von Aksakov bis zu Bunin ima-

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giniert haben. Doch das Wissen vom Tod des Vaters, vom Untergang der vorrevolutionären Petersburger Kultur und ihrer Lebensformen liegt über der Szene bis in Details der Lichtmetaphorik (Sommermittag, kobaltblauer Himmel, Wachskerzen, winzige Feuer, schwebende Lichter). Die ländliche Idylle existiert nur für einen Moment im Blick des Knaben auf den Vater und die Bauern, die Gewalteruptionen der Jahre 1905/06 mit Lynchmorden, Brandschatzungen und Plünderungen, die Revolutionen von 1917 und die folgenden Versuche einer Auslöschung des Adels, ja ganzer Epochen der russischen Kultur werden bald jegliche Hoffnung auf eine friedlichen Evolution durch Reformen und eine allmähliche Aussöhnung der Gegensätze zunichtemachen. In der vaterlosen Welt des Exils bedeutete schon die Abfolge der Generationen einen Akt der Selbstbehauptung: Mit der Geburt des Sohnes Dmitrij vollendet sich die Ring- bzw. Spiralenstruktur der Autobiographie im fünfzehnten Kapitel. Da im nationalsozialistischen Deutschland Mutter und Sohn von Jahr zu Jahr gefährdeter schienen, blieb nur der erneute Auf bruch in ein weiteres Exil, zunächst nach Frankreich, dann in die Vereinigten Staaten. Der Flucht aus Frankreich sind die letzten Seiten der Autobiographie gewidmet, sie münden noch einmal in die Beschreibung eines herausgehobenen Augenblicks, der die Kette der vorhergegangenen Epiphanien aufnimmt und auf eigenwillige Weise abschließt. Die Wahrnehmung eines Schiffschornsteins in einem auf den ersten Blick völlig verwirrenden Puzzle von Eindrücken verheißt das rettende Gestade der Neuen Welt: […] plötzlich, als wir das Ende des Weges erreichten, erblickten Du und ich etwas, das wir unserem Kind nicht sogleich zeigten, um den seligen Schock, das Entzücken und die Freude ganz auszukosten, die es verspüren würde, wenn es vor sich das unwahrscheinlich gigantische, über allen Realismus hinaus reale Urbild der verschiedenen Spielzeugschiffe erblickte, mit denen es in der Badewanne herumgeplanscht hatte. Dort vorne, wo eine unterbrochene Häuserreihe zwischen uns und dem Hafen stand und das Auge vielerlei irreführende Dinge entdeckte, etwa die hellblaue und rosarote Unterwäsche, welche an einer Wäscheleine einen Eiertanz vollführte, oder ein Damenfahrrad und eine gestreifte Katze, welche sich bizarrerweise in einen rudimentären Gußeisenbalkon teilten, konnte man mit größter Befriedigung zwischen den wirren Winkeln der Dächer und Mauern einen prachtvollen Schiffschornstein ausmachen, der hinter der Wäscheleine wie ein Gegenstand in einem Vexierbild sichtbar wurde – Such, was der Matrose versteckt hat – und den man, hatte man ihn einmal gefunden, nicht mehr ungesehen machen konnte. (Ebd. 422-23)

Der bis in feinste Details ausgearbeitete Anblick, der sich der flüchtenden Familie 1940 im Hafen von St. Nazaire an der französischen Westküste darbietet, erinnert an surrealistische Collagen von Max Ernst oder an Rätselbilder von René Magritte. Solche Vexierbilder voller raffinierter Täuschungseffekte baute

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Nabokov selbst mit Vorliebe in seine Romane ein. Wenn der letzte Satz im russischen Original mit den Worten endet: »das einmal Gesehene kann nicht mehr ins Chaos zurückkehren«, dann wird der Zusammenhang zwischen exakter Wahrnehmung und Sinnstiftung, wird das Vertrauen in den vornehmsten und höchsten der menschlichen Sinne, den Sehsinn, noch entschiedener bekräftigt als in der englischen Fassung. So spannt sich ein weiter Erzählbogen von der Eingangsszene, in der sich der vierjährige Vladimir an der Hand der Eltern bei strahlendem Sonnenschein erstmals seiner selbst bewusst wird, bis zur Schlussszene, in der der Schriftsteller und seine Frau inmitten eines pittoresken Wirrwarrs falscher Signale das untrügliche Hoffnungszeichen für ein künftiges Leben in Freiheit entdecken.

V Nabokov setzt in den verschiedenen russischen und englischen Fassungen seiner Autobiographie eine Kette von Epiphanien als strukturierendes Element ein, um dem Text Kohärenz und Kohäsion zu verleihen. In diesen Momenten verdichten und steigern sich die Wahrnehmungen des Sonnenlichtes oder des Farbenspektrums, die visuellen Assoziationen, die geometrischen Muster und Konstellationen und stellen einen vielfach motivierten Zusammenhang her. Die Fülle visueller Metaphern verweist auf die Bevorzugung des Sehsinns, die als »Okularzentrismus« bezeichnet worden ist und die vor allem die westliche Kultur und insbesondere die Aufklärung (siècle des lumières/enlightenment, vgl. auch Kants »Vermögen des Auges«) und die Moderne nach Auffassung vieler Ideenhistoriker tief geprägt hat.15 Der Primat des Sehvermögens ist aber auch eng verbunden mit dem freien Spiel der Vorstellungskraft und Phantasie: Kinder und Götter finden höchstes Vergnügen an den Spielen der Phantasie, die alltägliche Sicht droht dieses Vergnügen abzutöten, die Quelle des Unendlichen zu begrenzen. Die Vorstellungskraft, die höchste Wonne des Unsterblichen und des Unreifen, soll nach gesellschaftlichen Konventionen ihre Grenzen haben. Während die Konvention dem »erwachsenen Menschen« das Staunen und Phantasieren abgewöhnt hat, rebelliert der Künstler mit seiner Lust am Unendlichen gegen die Begrenztheit des Lebens. Die Imagination erweist sich als Souverän auch über die eigene Biographie, ein subtiles Spiel mit Elementen der eigenen Biographie ordnet diese neu. Die Erkenntnis der thematischen Muster im eigenen Leben findet fernab von Teleologien, von Progress oder Regress, Fort- oder Rückschritt statt: Kohäsion 15 | Vgl. zu einer kritischen Diskussion einzelner Autoren und Stadien des Okularzentrismus Levin (Hg.), Modernity and the Hegemony of Vision und Sites of Vision.

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und Kohärenz einer individuellen Biographie werden nicht durch eine lückenlose Reihe objektiver Fakten gewährleistet; sie müssen durch kontinuierliche Selbstdeutung hergestellt werden, welche die Geschehnisse, Figuren, Konstellationen dem eigenen Leben zuschreibt. Mit einer Mischung aus wissenschaftlicher Präzision und künstlerischer Leidenschaft behandelt Nabokov seine Vergangenheit wie einen Text, den er zerlegt und wieder zusammensetzt. Die erinnerte Zeit ist das Reich des Autobiographen, in ihr kann er sich frei bewegen – nach thematischen Vorgaben. Aus der damaligen Wahrnehmung und der zum Zeitpunkt der Niederschrift gegenwärtigen Erinnerung entsteht eine Hellsicht, die in der erinnerten Gegenwart die »Muster« der Zukunft immer schon zu ahnen oder zu lesen scheint: Diese Hellsicht teilt sich wiederum dem Leser mit, der die Muster der Autobiographie kennt und verstanden hat und sich bei wiederholten, aufmerksamen Lektüren an sie zu erinnern vermag. Das Gedächtnis filtert aus den Kontingenzen vergangenen Lebens Muster heraus und die Imagination unterwirft sie einer verstehenden, ordnenden Lektüre. Das menschliche Gedächtnis hat für die individuelle Lebens-Zeit andere Zäsuren und Markierungen entwickelt als die physikalisch exakte Chronometrie. Die Zeit des menschlichen Lebens lässt sich nicht adäquat mit diesen naturwissenschaftlichen Methoden »messen«, sondern nur mit Hilfe des Gedächtnisses in bedeutsame Ereignisse unterteilen, das Gedächtnis ist das menschliche Sensorium für Zeit, es hat sich in ihr und an ihr entwickelt. Ich gestehe, ich glaube nicht an die Zeit. Es macht mir Vergnügen, meinen Zauberteppich nach dem Gebrauch so zusammenzulegen, daß ein Teil des Musters über den anderen zu liegen kommt. Mögen Besucher ruhig stolpern. Und am meisten genieße ich die Zeitlosigkeit, wenn ich – in einer aufs Geratewohl herausgegriffenen Landschaft – unter seltenen Schmetterlingen und ihren Futterpflanzen stehe. Das ist Ekstase, und hinter der Ekstase ist etwas anders, schwer Erklärbares. Es ist wie ein kurzes Vakuum, in das alles strömt, was ich liebe. Ein Gefühl der Einheit mit Sonne und Stein. Ein Schauer der Dankbarkeit, wem sie auch zu gelten hat – dem kontrapunktischen Genius menschlichen Schicksals oder den freundlichen Geistern, die einem glücklichen Sterblichen zu Willen sind. (Ebd. 186)

Nabokov bringt scharfe Korrekturen an der frühen russischen Moderne an und setzt doch zugleich den Versuch fort, die Endlichkeit der menschlichen Existenz durch die Schrift und das Schreiben zu relativieren. Aus einer sehr spezifischen Bewusstseinsform, dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit steigt zugleich die Ahnung von Unendlichkeit empor. Das Gefängnis der Zeit verhindert einen direkten Ausbruch, doch über Spiegelungen und Brechungen, Reflexe von Reflexen lassen sich die Konturen einer zeitlosen Welt er-

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ahnen. Der Gegensatz von endlichem Leben und unendlichem Schöpfertum erscheint dann als Täuschung, als Betrug oder einfach als falsche Frage. So wird auch verständlich, warum Nabokov in den verschiedenen russischen und englischen Fassungen seiner Autobiographie Speak, Memory eine Kette von Epiphanien als strukturierendes Element einsetzt, das dem Text Kohärenz und Kohäsion verleiht. In diesen Momenten verdichten und steigern sich die Wahrnehmungen des Sonnenlichtes oder des Farbenspektrums, die visuellen Assoziationen, die geometrischen Muster und Konstellationen und stellen einen vielfach motivierten Zusammenhang her. In Nabokovs Variante der modernen Autobiographie wirken sinnliche Wahrnehmung, Imagination und Gedächtnis in einzigartiger Weise zusammen, um das Subjekt auf dem Erkenntnisstand der Epoche zu behaupten. Die Szenen, in denen eine »Ekstase des Glücks« vermittelt wird, lassen sich in eine paradigmatische Reihe einordnen, die auch Epiphanien von James Joyce, Marcel Proust oder Robert Musil aufnehmen könnte.16 So liefern weder Kulturpessimismus noch Fortschrittsoptimismus Kategorien, mit denen der Zeitstruktur der Epiphanien Nabokovs beizukommen wäre. Emphase und Intensität der herausgehobenen Daseinsmomente überspielen alle Erfahrungen von Bruch, Zäsur, Diskontinuität. In der Ekstase des Glücks tritt das Ich aus der Zeit heraus und kommt zu sich selbst.

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16 | Vgl. Bohrer 186: »An die Stelle von Beschreibungen von gesellschaftlichen HarmonieZuständen oder ihrer Umkehrung rückt bei den Autoren des gesteigerten ›Augenblicks‹, bei Proust, James Joyce und Musil, das ›Ich‹ im Zustand emphatischer Wahrnehmung, einer die soziale, aber auch bloß private Wirklichkeit transzendierenden ›Ekstase‹ des ›Glücks‹. Die objektive Realität wird nicht mehr als eine utopisch veränderbare gedacht, die futuristische Antizipation fällt überhaupt weg, und die utopische Phantasie verlagert sich in die Innenseite des Subjekts.«

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Verspätete Vergangenheit Spuren des Utopischen in W.G. Sebalds Austerlitz Anna Montané Forasté

Über das Werk W.G. Sebalds in Zusammenhang mit Exilliteratur − und deren Verbindung zum utopischen Denken − zu schreiben ist nicht ganz selbstverständlich. Nur eine sehr weite Auffassung von Exil würde erlauben, Sebald als Exilierten zu bezeichnen. Er selbst, seit seinem 21. Lebensjahr im Ausland lebend, betrachtete seinen Fall als »freiwillige Expatriierung« (Gespräche, 209).1 Es ist aber unleugbar, dass es in seinem Werk immer wieder um das Schicksal von Menschen geht, die ihre Heimat verlassen bzw. verlassen müssen. »Wie weit einer von zu Hause wegkommt, freiwillig oder gezwungen«, schreibt Ruth Klüger, »ist für Sebald die natürlichste Frage, die man einem Menschen stellen kann. Und vielleicht auch die wichtigste.« (96) Die Intensität, mit der sich Sebald lebenslang im essayistischen wie auch im literarischen Werk 2 dem Thema der Heimatlosigkeit verschrieb – die Palette reicht von jüdischen wie auch nicht-jüdischen Exilierten bis zu Figuren, die sich in ihrer Heimat wie Exilierte fühlen − hat ihm vor kurzem den Eingang ins Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur verschafft. Selbst dort wird jedoch darauf hingewiesen, dass Sebald »mehr als Holocaustautor denn als Schriftsteller des Exils und

1 | Eigentlich geht Sebald 1965 in die Schweiz zum Studieren, siedelt dann nach Manchester um, kehrt kurzweilig nach Deutschland zurück und etabliert sich definitiv im Jahre 1976 in England, wo er an der University of East Anglia (Norwich) bis zu seinem Tod tätig war. Er hat jedoch mehrfach angedeutet, dass sein Weggehen mit der Schnelligkeit zu tun habe, mit der seine Landsleute nach dem Krieg über das Geschehene hinweggesehen haben. Vgl. hierzu Gespräche 252f. Trotz alledem hat Sebald sich nach wie vor als deutschen Autor verstanden (ebd. 124). 2 | Die literaturkritischen Schriften Sebalds sind mit den literarischen eng verwandt. In den Essays ab den 90er Jahren befreit er sich ganz von den Einschränkungen des sekundären Diskurses und verwirklicht unabhängig von Gattungseinordnungen sein Ideal, einfach Prosa zu schreiben. Vgl. hierzu Meyer 263.

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der Emigration rezipiert wird« (Modlinger 526).3 Und dennoch bietet die im Handbuch unternommene Interpretation der vier langen Erzählungen von Die Ausgewanderten Einsicht in einige Konstanten von Sebalds Annäherung an die Exilerfahrung. Exil ist bei Sebald immer »als dauerhafte, traumatisierende Heimatlosigkeit zu verstehen« (ebd. 526). Was er über die jungen Emigranten der ersten Romane Nabokovs schreibt, dass sie »in weit entscheidenderem Maß geprägt von der Erfahrung des Verlusts als von ihrer ausländischen neuen Umgebung« (CS 186)4 seien, gilt schrankenlos für Sebalds Exilierte. Die Geschichten der Ausgewanderten enden ohne Ausnahme in Zerstörung des eigenen Lebens oder des Gedächtnisses. Diese Geschichten, in denen Exil, Verlust und Erinnerung sich verschränken, werden nicht nur erzählt, sondern es wird ebenso deren Darstellbarkeit hinterfragt.5 Gewährt dieser ganz kurze Abriss dem Autor Sebald Eintritt in die Literatur des Exils, so scheint er ihn zugleich von der Gedankenwelt des Utopischen entschieden zu entfernen. Wenn Utopie mit Möglichkeitsdenken, mit einer in der Gegenwart entworfenen Zukunft zu tun hat (vgl. hierzu Voßkamp 1430), dann scheint den Sebaldschen Figuren nichts ferner zu liegen als eben dieses Denken. Nicht von ungefähr wird in der mittlerweile unübersichtlich gewordenen Sebald-Forschung öfters die Frage gestellt, ob es in seinem melancholischen Werk auch Platz für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft gebe und nicht nur für unaufhaltsame entropische Tendenzen (siehe beispielsweise Mack 236ff.). Diesen Sachverhalt im Auge behaltend wird im Folgenden auf die Geschichte der sicherlich entwurzeltesten Figur in Sebalds Universum eingegangen, nämlich auf die Geschichte Austerlitz’ im gleichnamigen Buch.

3 | Hierzu erklärt Schütte: »Für die Deutschen ließ er sich in die Kategorie Exil einordnen […] Amerikaner und Briten wiederum betrachteten ihn fast schon als einen der Ihren, wobei aber der Umstand irritierte, dass sich Sebald stur weigerte, in ihrer Sprache zu schreiben.« (9) Schüttes Darlegung ist jedoch fraglich, siehe dazu etwa die Kritik eines Manfred Durzaks, der »das von beruflichen Beweggründen diktierte Leben in England« des Autors Sebald in keinerlei Verbindung mit der großen Tradition von Exilanten sehen mag (445). 4 | Im Weiteren bezieht sich das Sigel CS auf Campo Santo. 5 | »Wie kaum irgendwo sonst werden hier Geschichten der Emigration nicht nur erzählt, sondern auch die Möglichkeiten und Grenzen von Repräsentation an sich befragt.« (Modlinger 527)

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1. U nverhofftes W iedersehen als V orl age Austerlitz, der 1939 mit viereinhalb Jahren als jüdisches Flüchtlingskind mit einem Kindertransport nach England kam, durchlebt Kindheit, Jugend und teilweise Erwachsenenalter in Unkenntnis seiner wahren Identität. Er verkörpert eine Existenz am Rande jeglicher Gesellschaftsordnung. Wie er rückblickend feststellt, war er immer vereinzelt »unter den Walisern« (er wurde von einem walisischen kinderlosen Ehepaar adoptiert) »ebenso wie unter den Engländern und den Franzosen«, und nie habe er sich »einer Klasse, einem Berufsstand oder einem Bekenntnis zugehörig gefühlt.« (A 185)6 Dieses andauernde Gefühl der Nichtzugehörigkeit drückt Austerlitz in einer noch gesteigerten Form aus, indem er sagt, er habe sich immer gefühlt, »als hätte [er] keinen Platz in der Wirklichkeit.« (A 269) Für die Gestaltung dieses radikal unbehausten Menschen bediente sich Sebald, seiner eigenen Aussage zufolge, »zweieinhalb Lebensgeschichten« (Schütte 179). Jacques Austerlitz ist jedoch eine genau durchdachte Collage, die ihn – so Irving Wohlfarth (240f) – zu einem anachronistischen Typen macht. Im Buch wird die Ähnlichkeit Austerlitz‹ mit dem Siegfried aus Langs Nibelungenfilm (A 14) und insbesondere mit dem Philosophen Ludwig Wittgenstein erwähnt. Viele biographische Einzelheiten entsprechen dagegen dem Leben des ungenannten, jedoch mehrmals zitierten Walter Benjamin.7 Austerlitz‹ Arbeitsausstattung − Rucksack und alte Kamera – ist wohl dem Autor selbst entnommen. Aber die Vorlage, an die sich Sebald gehalten hat, um all die heterogenen Teile zusammenzufügen, dürfte die Figur des Bergmanns aus Johann Peter Hebels Unverhofftes Wiedersehen sein. In dieser Kalendergeschichte finden sich sowohl das Motiv des unerwarteten Wiedersehens, das die Begegnungen zwischen Austerlitz und dem IchErzähler regiert, als auch eine Struktur der Ungleichzeitigkeit, mit deren Hilfe das traumatisierte Verhalten von Austerlitz narrativ vor Augen geführt wird. In der Geschichte des Bergmanns von Falun fand Sebald offensichtlich einen von jenen »sonderbare[n], von keiner Kausallogik zu ergründende[n] Zu6 | Im Weiteren bezieht sich das Sigel A auf Austerlitz. 7 | Wie Wohlfarth bemerkt: »Nirgends in Sebalds Werk sind Benjamins Spuren so deutlich erkennbar wie in seinem einzigen Roman Austerlitz« (196). Dass Sebald aber Benjamin »nirgends zu einem seiner Gewährsmänner erklärt«, lässt sich – mutmaßt der Kritiker, sich auf Harold Bloom berufend – vielleicht durch »Einflussangst« begründen (ebd. 187f.). In dem Robert Walser gewidmeten Essay »Le promeneur solitaire« aus Logis in einem Landhaus [künftig LL] fasst Sebald seine Beziehung zu den von ihm bewunderten Autoren wie folgt: »Ich habe immer versucht, in meiner eigenen Arbeit denjenigen meine Achtung zu erweisen, von denen ich mich angezogen fühlte, gewissermaßen den Hut zu lüften vor ihnen, indem ich ein schönes Bild oder ein paar besondere Worte von ihnen entlehnte […]« (139).

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sammenhängen« (CS 247), die die beliebtesten Sujets seines Schreibens sind. Seine Faszination zeitlebens für diese Geschichte lässt sich mehrfach belegen.8 In Austerlitz gibt sie konkret das Muster für die unwahrscheinlichen Begegnungen zwischen dem Protagonisten und dem Erzähler, die sich nach einem ersten Zusammentreffen in dem Antwerpener Zentralbahnhof immer wieder auf ganz unwahrscheinliche Art in Belgien begegnen werden. Während eines gewissen Zeitraums sind ihre Begegnungen vereinbart. Aber das erneute Wiedersehen nach mehr als zwanzig Jahren Trennung in der Bar des Londoner Great Eastern Hotels, in der weder Austerlitz noch der Erzähler je zuvor waren, trägt deutliche Spuren der Sprache Hebels und der von ihm gestalteten Situation. Der Erzähler spricht von der »unverhoffte[n] Wiederkehr von Austerlitz« (A 62),9 der, trotz all den Jahren als »Junggeselle«, in dem Lokal erscheint, wo gerade die »Arbeiter aus den Goldminen der City« (A 61) den Feierabend genießen. Obwohl Austerlitz älter als der Erzähler ist, sieht er jünger aus und ist »in seinem ganzen Aussehen unverändert geblieben, in der Körperhaltung sowohl als in der Kleidung« (A 61).10 Bekanntlich ruht der Bergmann aus Falun während fünfzig Jahren Weltgeschichte des Krieges und der Zerstörung – die von Benjamin im Erzähler-Essay gerühmte Chronologie des Todes (GS II·2 450f)11 – in Vitriolwasser. Während seine treue Geliebte altert, bleibt er unverändert, verschont vom Werk der Verwesung, als wäre es möglich, der Macht der Zeit zu entrinnen. Und so lebt Austerlitz die wenig mehr als fünfzig Jahre zwischen seiner Ankunft in England und dem epiphanischen Moment der Erinnerung seines Ankommens in der Liverpool Street Station geschützt vor dem Vergehen der Zeit, denn er hatte sich eine Art von Quarantäne- und Immunsystem ausgebildet, durch das [er] gefeit war gegen alles, was in irgendeinem, sei es noch so entfernten Zusammenhang stand mit der Vorgeschichte [s]einer auf immer engerem Raum sich erhaltenden Person. (A 205f)

8 | Vgl. hierzu Sebalds Antrittsrede vor dem Kollegium der Deutschen Akademie (CS 249f.), den Schluss von »Dr. Henry Selwyn« (DA 36f.), das Wiedersehen mit Aurach (DA 269) oder die Miniatur La cour de l’ancienne école (CS 51-53). Auf den intertextuellen Verweis auf Johann Peter Hebel, ohne jedoch Austerlitz zu berücksichtigen, weist ebenso Hannes Veraguth hin (36-49). 9 | Dagegen vertritt Wohlfarth (201) die Meinung, Sebald habe sich bei der Gestaltung der Beziehung Erzähler- Austerlitz von Poes The Man of the Crowd inspirieren lassen. 10 | Die Sebaldsche Lust am Versteckspiel offenbart sich ebenso in kleinen Details wie dem der schwedischen Herkunft des Rucksacks (vgl. A 62). 11 | Hier und im Weiteren werden Benjamins Schriften mit dem Sigel GS und entsprechendem Band zitiert.

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Der sonst scharfsinnige Kulturhistoriker12 hatte sich mit systematischer Hartnäckigkeit von den Ereignissen seines Jahrhunderts abgewendet: Für mich war die Welt mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts zu Ende. Darüber wagte ich mich nicht hinaus, trotzdem ja eigentlich die ganze Bau- und Zivilisationsgeschichte des bürgerlichen Zeitalters, die ich erforschte, in die Richtung der damals bereits sich abzeichnenden Katastrophe drängte. (A 205)

Austerlitz’ Versuch, das Geschehene zu ignorieren (er las keine Zeitung, hörte Radio nur zu bestimmten Stunden etc.) geht mit dem Gefühl einher, bereits ein Toter oder ein Sterbender zu sein. Am Tag der epiphanischen Vision denkt er, »nie wirklich am Leben gewesen zu sein oder erst geboren zu werden gewissermaßen am Vortag [s]eines Todes.« (A 202). Hier dürfte die Analogie mit der Geschichte des allemanischen Dichters ihre Grenzen finden: Während die Wiederkehr des toten Bergmannes das irdische Vorspiel zu dem endgültigen Wiederfinden im Paradies ist, führt der Eintritt in die Zeit den jahrzehntelang zu keiner Erinnerung fähigen Austerlitz13 zu einer mühevollen, schmerzhaften Rekonstruktion seiner Identität als Überlebender, die ihn mit dem Schicksal unzähliger Opfer konfrontiert.14

2. R andidyllen Die Zeit, schreibt Sebald, ist die »abstrakteste Heimat der Menschen« (CS 154). Dem um seine Vergangenheit (selbst)betrogenen Austerlitz fehlt diese elementare Heimat ganz und gar, so sucht er Schutz in einer Vielfalt von Räumen, denen allen der Hauch des Idyllischen anhaftet. Die Suche nach einem Zuhau12 | Bereits in der Schule lobt der Geschichtslehrer Hilary Austerlitz’ »scharfsinnige Untersuchung« (A 111). Der erwachsene Austerlitz ist sich aber dessen bewusst, dass sich in sein Interesse für Geschichte immer etwas nicht ganz Sachliches mischte, so etwa Empfindungen wie Trennungsschmerz oder Angst vor dem Unbekannten (vgl. A 25). 13 | Die Charakterisierung Austerlitz’ als jemanden, der »wenig Übung in der Erinnerung« hatte (A 105) und dem seine »Wissensanhäufung« als »kompensatorisches Gedächtnis« diente, erinnert sehr stark an Ambros Adelwarth: »Er [besaß] ein untrügliches Gedächtnis, aber kaum mehr eine mit diesem Gedächtnis ihn verbindende Erinnerungsfähigkeit« (DA 146). 14 | »So wußte ich, so unvorstellbar mir dies heute selber ist, nichts von der Eroberung Europas durch die Deutschen, von dem Sklavenstaat, den sie aufgerichtet hatten, und nichts von der Verfolgung, der ich entgangen war, oder wenn ich etwas wußte, so war es nicht mehr, als ein Ladenmädchen weiß beispielsweise von der Pest oder der Cholera.« (A 205)

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se durchquert das ganze Werk.15 Solange Austerlitz nichts von seiner jüdischen Herkunft in Prag und von der Auslöschung der Existenz seiner Eltern weiß – die Mutter wurde 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, die Spuren des Vaters verlieren sich im Lager Gurs –, phantasiert er alle möglichen Existenzen. Besonders angezogen von der Geschichte Moses’ – die Identifikation mit dem verlassenen Kind liegt nahe – findet er Zuflucht in den Bildern seiner Kinderbibel: Das Lager der Hebräer in der Wüste Sinai unterwegs zum gelobten Land scheint ihm der richtige Ort für sich zu sein (A 88).16 In einer bescheidenen Atlantis-Abwandlung führt er ein Unterwasser-Dasein auf dem Grund des Sees im überschwemmten Dorf seines Adoptivvaters (A 82). Mit Hilfe des Atlantes erstellt er sich eine »ideale Landschaft« (A 93), in die er sich jederzeit hineinversetzen kann.17 Seine Phantasie wird jedoch von der Realität des Landhauses Andromeda Lodge, in dem er die Ferien verbringt, bei weitem übertroffen. Andromeda Lodge stellt eine »andere Welt« (A 122) dar. Die Beschreibung dieses schönen, abgelegenen Hauses, in dem fast alle Räume ein Naturalienkabinett beherbergen, mutet wie eine Variation der Novalischen Visionen an,18 denn dort lebt man nicht nur im Einklang mit der Natur, sondern es wird genauso über das wahre Verhältnis zu ihr unterrichtet.19 Über lange Passagen wird Austerlitz über die Lebensgewohnheiten der Vögel und insbesondere über die Welt der Motten belehrt. Sebald entwirft hier das vormoderne Bild einer bis zum geringsten Lebewesen beseelten Welt. Austerlitz geht sogar

15 | Die Passage über die Brieftauben des Freundes Gerald Fitzpatrick steht als pars pro toto für die enorme Sehnsucht nach einem Zuhause, die das ganze Werk durchzieht (A 117f.), denn Austerlitz’ trist möblierte Londoner Wohnung kann man schwer als ein Zuhause betrachten, allenfalls ist sie »ein Dach« (A 240). 16 | Die Stelle ist wohl als Antizipation seiner jüdischen Abstammung zu verstehen. Zu dem riskanten Spiel Sebalds mit den Wörtern Lager/lagern, Austerlitz/Auschwitz, siehe Wohlfarth 206. 17 | Je mehr der heranreifende Austerlitz über geschichtliche beziehungsweise geographische Kenntnisse verfügt, was ihm zu einer realistischeren Deutung seiner Umstände hätte verhelfen können, desto mehr flieht er in phantasievoll erfundene Welten. Ebenso spielt Sebald mit dem Motiv der unbekannten Herkunft: Seinen wahren Familiennamen, den er erst mit fünfzehn erfährt, deutet Austerlitz, als er durch seinen bewunderten Geschichtslehrer André Hilary über die Napoleonische Ära genau unterrichtet wird, als eine Auszeichnung, als einen »Leuchtpunkt« an ihm um, statt ihn als einen »Schandfleck« zu verstehen (vgl. A 110f.). 18 | So etwa im Fragment gebliebenen Naturroman Die Lehrlinge zu Saïs. 19 | Vor der »Mannigfaltigkeit« der Natur lässt die Lehrergestalt Alphonso »lange einfach nur schauen und staunen« (A 136).

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so weit, den Motten die Fähigkeit zu träumen zuzutrauen.20 Andromeda Lodge entspricht dem Psychogramm des Exilierten, dem die Natur ersatzweise einen universell teilbaren Zusammenhang anbietet – für Austerlitz ist der Landsitz ein Ort des Friedens, in dem man ein »Gefühl der Ewigkeit« (A 143)21 verspürt (vgl. hierzu Guillén 31-36). Aber gleichermaßen stellt dieser Naturraum, soweit er von den Menschen nicht gestört wird, einen impliziten Gegenentwurf zur Zivilisationsgeschichte dar. So wird in den Mund eines der Bewohner von Andromeda Lodge Sebalds nicht allzu fremder Gedanke gelegt, das ganze Unglück der Menschen habe seine Ursache im Abweichen von der Natur (A 139).22 Jedenfalls steht die Rede über das gleichbleibende, immer sich wiederholende Verhalten der Tiere im krassen Kontrast zum menschlichen Tun, das zur Unvernunft neigt, wie Austerlitz in seinen langen Exkursen über die Bauten der kapitalistischen Ära in aller Deutlichkeit darlegt. Ganz im Sinne einer gescheiterten Aufklärung behauptet er, »unsere besten Pläne [verkehrten sich] im Zuge ihrer Verwirklichung in ihr genaues Gegenteil« (A 46).23

3. E ine niemals zu E nde gehende P ein Eigentlich sind Austerlitz’ Randutopien Vorbereitungen auf seine lange Disquisition über die Zeit, bei der offensichtlich Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte Pate gestanden haben, denn Austerlitz entfaltet den Gedanken einer anderen Zeitlichkeit, der mit keiner Vorstellung einer homo20 | Eine Gabe, die ebenso dem Kopfsalat nicht ganz abzusprechen wäre: »vielleicht träumen auch die Motten oder der Kopfsalat im Garten, wenn es zum Mond hinaufblickt in der Nacht« (A 142). 21 | Andromeda Loge ist ein Ort des Friedens, in dem Austerlitz das »Gefühl der Ewigkeit« (A 143) verspürt, ist das Paradies, in dem Austerlitz – so erzählt er retrospektiv – hätte sterben wollen. Hutchinson spricht diesbezüglich von »utopische[r] Zeitlosigkeit« (Leichtigkeit, 471) und erklärt weiter: »Es ist allgemein auffällig, daß die glücklicheren Momente in Sebalds Werk fast immer von einem Gefühl der Zeitlosigkeit begleitet sind, als ob ein solches Glück in Zeitgebundenheit unmöglich wäre.« (Ebd. 473) 22 | In Bezug auf die Baugeschichte der Irrenanstalten, Schulen, Waisenhäuser etc. sagte Sebald: »[D]ie von den Menschen ausgedachten Systeme annullieren sich selber in ihrer Entwicklung, sie tendieren vom Sinn zum Unsinn, immer prinzipiell. Das ist so ein Grundgesetz wahrscheinlich dessen, was wir tun. Wenn wir immer nur wie eine Amsel dasselbe Nest bauen würden, dann würde uns dieses Problem nicht passieren, aber wir müssen uns immer entwickeln.« (Gespräche, 210) 23 | Auf die Frage, ob er an einer Art Universalgeschichte der Katastrophen schreibe, antwortete Sebald: »Letzten Endes handelt es sich um so etwas wie eine Beschreibung der Aberration einer Species« (Gespräche, 259).

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genen, linear strömenden, messbaren Zeit beizukommen ist. Die mit unseren Uhren lesbare Zeit sei eine »Erfindung« (A 149), sagt Austerlitz, das verlogene Pendant einer Fortschrittsidee, die keine Rücksicht auf die sich »Außer-derZeit« Befindenden nimmt: Das seien die Toten, die Sterbenden, die Kranken, die Unglücklichen, alle ausnahmslos von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft abgeschnitten (A 151). Austerlitz denkt an eine alternative Zeit, ihm gefiele, daß nichts von dem, was die Geschichte erzählt, wahr wäre, das Geschehene noch gar nicht geschehen ist, sondern eben erst geschieht, in dem Augenblick, in dem wir an es denken, was natürlich andererseits den trostlosen Prospekt eröffne eines immerwährenden Elends und einer niemals zu Ende gehenden Pein. (A 152)

So sehr Austerlitz’ erwünschte Zeitkonstruktion Benjamins Eintreten für die Namenlosen der Geschichte teilt, ist sie aber weit entfernt von der Hoffnung, die Benjamins Blick auf die Vergangenheit innewohnt. Zwar erinnert Austerlitz‹ Idee − eine Geschichte, die nicht ist, sondern die entsteht in jeder Gegenwart, die an die Vergangenheit zurückdenkt − stark an Benjamins Augenblick der Erkennbarkeit, aber an das Geschehene zurückdenken bedeutet für ihn letztlich sich mit einem endlosen Schmerz zu konfrontieren.24 Den sehr bedeutenden Unterschied zwischen Sebald und Benjamin bei gleicher Kritik an der Chronologie des Fortschritts fasst Wohlfarth bündig zusammen: »Es gibt für Benjamin keine Politik ohne Trauer, aber auch keine Trauer ohne Politik. Demgegenüber erschöpft sich Sebalds Politik, sofern man von einer solchen sprechen kann, weitgehend in Trauer« (193).25 Was Sebald von Benjamin trennt, lässt sich gut an den jeweiligen poetischen räumlichen Vorstellungen einer anderen Zeitlichkeit beobachten. Während Benjamin von verlassenen Orten spricht, die »die Züge des Kommen24 | Variationen von Austerlitz’ Zeitauffassung finden sich in mehreren Passagen des Buches. Sie zielen poetisch auf einen Umgang mit dem Tod bzw. den Toten, der die Macht der Lebenden über die Toten – wie sie Canetti, auch eine wesentliche Inspiration für Sebald, genauestens herausgearbeitet hat – schwächt. So redet Austerlitz im Sinne einer Verräumlichung der Zeit von »ineinander verschaltete[n] Räume[n], zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können« (A 269). An anderer Stelle spricht er von seiner Überzeugung, dass »die Grenzen zwischen dem Tod und dem Leben durchlässiger sind, als wir gemeinhin glauben« (A 401). Ebenso spricht er, Benjamins zweite These über den Begriff der Geschichte und Passagen aus der Berliner Kindheit collagierend, von Verabredungen sowohl mit künftigen wie auch vergangenen Ereignissen (A 367). 25 | Überhaupt bietet Wohlfarths Essay eine unerlässliche Studie zur Rezeption Benjamins in Sebalds Œuvre.

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den« tragen, von Orten, an denen die Zukunft ein Vergangenes ist (GS IV·1 256), erzählt Austerlitz, in chiastischer Umkehrung, von stillen Orten, die den Eindruck erwecken, das Vergangene sei noch nicht geschehen, es stehe noch in der Zukunft. Geht es im Falle Benjamins um eine Suche »nach der verlorenen Zukunft« (Szondi 287), eine Suche nach den in der Vergangenheit gescheiterten Möglichkeiten und nicht eingelösten Versprechen, um diese zu verwirklichen, handelt es sich bei Austerlitz um vergebliche Versuche, der zerstörerischen Macht der Geschichte zu entgehen. Bei den Ausflügen zu den verlassenen Landhäusern in der Umgebung von Oxford, die Austerlitz noch in seiner Studienzeit mit seinem Geschichtslehrer Hilary unternimmt, betritt er Räume, die, generationenlang geschlossen, den falschen Eindruck vermitteln, die »Zeit sei […] stehengeblieben, als lägen die Jahre, die wir hinter uns gebracht haben, noch in der Zukunft« (A 160). Der Eintritt in solche sozusagen Zeitoasen wird aber mit der »Verwirrung der Gefühle« (A 160) oder beinahe mit dem Verlust des Verstandes bezahlt (A 161), wie der Besitzer des Landhaus Iver Grove den Besuchern erzählt. Beides wird Jahre später Austerlitz erfahren, der, in eine Persönlichkeitskrise riesigen Ausmaßes geraten, nach Prag reist, um seine Identität aufzuklären. Er wird dann in ein Zimmer geführt werden, »in dem alles gerade so war wie vor beinahe sechzig Jahren« (A 224). Diesmal steht die Unterbrechung der linearen Zeit im Zeichen des Andenkens und der Trauer: Věra, das ehemalige Kinderfräulein von Austerlitz und enge Freundin seiner Mutter, ertrug nach dem Verlust der beiden keine Veränderung mehr (A 224). »Grade, daß alles bei unserer Rückkehr dasteht, ,als wäre nichts gewesen‹, kann das Unheimlichste von allem sein«, schreibt Bloch in Spuren (172). Austerlitz’ Rückkehr ist der Beginn einer nur lückenhaften Rekonstruktion, denn es ist das Anliegen Sebalds auch das Vergessen zu materialisieren (Gespräche, 222).26

26 | Das Werk der Vergessenheit oder die nur »approximative Wahrheit über die Vergangenheit« (Gespräche, 256) ist vielleicht nirgends so deutlich zu spüren wie an dem dürftigen Familienalbum, das Austerlitz sich zusammenbastelt. Von Věra bekommt er eine Fotografie, auf der er knapp vier Jahre war. Er erkennt das Kind, das er einmal war, kann aber sich nicht mit ihm identifizieren, ihm ist alles »ausgelöscht von einem überwältigendem Gefühl der Vergangenheit« (A 267). Das Bild der Mutter hätte Austerlitz ohne die Hilfe Věras nicht erkennen können, trotzdem bleibt die Authentizität des Bildes Konjektur (A 361). Vom Vater gibt es kein Bild, er ist ein Abgrund, der sich in den Buchseiten auftut.

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4. D ie E rzählung als A rche N oah Austerlitz ist ein Buch über die Rettung einer Geschichte und somit ein Buch über das Erzählen. Die Kalendergeschichte Hebels liefert, wie vorher erwähnt, den Hintergrund für den Augenblick der Übergabe der Geschichte Austerlitz‹ beziehungsweise den Augenblick der Wahl eines Bewahrers, der die Geschichte retten kann. Über die äußerste Unwahrscheinlichkeit des Wiedersehens mit dem Erzähler verliert Austerlitz, wie üblich bei ihm, kein Wort, aber er gesteht ihm, er habe genau an diesem Tag »sonderbarerweise« (A 68) an die belgischen Begegnungen der Vergangenheit gedacht und daran, dass »er bald für seine Geschichte, hinter die er erst in den letzten Jahren gekommen sei, einen Zuhörer finden müsse, ähnlich wie ich [der Erzähler, Hervorhebung A.M.F.] es seinerzeit gewesen sei in Antwerpen, Liège und Zeebrugge.« (A 68) Austerlitz‹ Assoziationen sind entgegen seinem Empfinden gar nicht so »sonderbar«: Der Erzähler ist ihm in den Sinn gekommen beim Betrachten eines Bildes der biblischen Arche Noah. Er möchte zweifelsohne seine Geschichte retten. Der Erzähldrang ist dem unverhofften Charakter des Wiedersehens, »entgegen jeder statistischen Wahrscheinlichkeit«, zu verdanken. Die im Text eingefügte Fotografie der Arche Noah intensiviert die Entscheidung für die Bewahrung.27 Bearbeitungen der Sintfluterzählung sowie Anspielungen auf sie sind keine Seltenheit in der modernen Literatur. Angesichts der katastrophalen Geschichte des 20. Jahrhunderts nimmt es kaum wunder, dass der Noah-Stoff als Vorlage zu literarischen Inszenierungen einer Endzeit gedient hat, obwohl die ihm ebenso zugehörigen Rettungskomponenten nicht immer verdrängt wurden. Piktogramme der Hoffnung wie Arche, Ölzweig, Taube, Regenbogen und Sintflut sind unzertrennlich (Jablkowska 90f).28 All diese Bilder der Hoffnung werden in Austerlitz erwähnt und fotografisch anschaulich gemacht. Hier werden sie als Wahrzeichen einer Utopie der Form genommen – wenn auch einer sehr verhaltenen –, die stark an das Erzählen gebunden ist. In diesem Sinne

27 | Wohlfarth bezeichnet den Ich-Erzähler als »quasi providentielle[n] Vertrauensmann« (202). Seinerseits beschreibt Ben Hutchinson den Sebaldschen Erzähler in Austerlitz als jemanden, der »actively helps Austerlitz to face up to his past by visiting him and eliciting his story« (Erzähler als Schutzengel, 86), dabei nimmt er meines Erachtens die zurücknehmende Haltung des Erzählers nicht genügend wahr. 28 | Jablkowska sagt dazu: »Während in der Johannes Offenbarung das Neue Jerusalem erst am Ende der ungeheuren Zerstörung die Menschheit erlöst, gibt die Arche von Anfang an der göttlichen Sintflut-Strafe einen Sinn« (91). Rettungsgeschichten aus der biblischen Flut hatte Austerlitz während seiner walisischen Zeit vom Schuster Evan erzählt bekommen (vgl. A 120f).

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ließe sich, den Titel von Günter Kunerts Frankfurter Poetik-Vorlesungen leicht abwandelnd, von der Erzählung als Arche Noah sprechen.29 Keineswegs einverstanden mit der Gattungseinordnung Roman bezeichnete Sebald Austerlitz als ein »Prosabuch unbestimmter Art« (Gespräche, 199). Dieser schwebenden Charakterisierung zum Trotz gibt sich das Werk in eher traditioneller Gestalt: Austerlitz ist ein Roman, der keiner sein möchte, ein Buch, das den Eindruck erweckt, das Werk eines Erzählers zu sein, wenn dieser eine längst ausgestorbene Figur ist. Diese Einschätzung stammt, wie bekannt, aus Benjamins Erzähler-Essay. Bereits als er sagte, er möchte »die großen einfachen Züge, die den Erzähler ausmachen« (GS II·2 438), darstellen, suchte er etwas, das eigentlich nicht mehr am ursprünglichen Ort war (der oralen Welt der namenlosen Erzähler), sondern nur sozusagen rekonstruiert in den Werken der Hebels, Kellers oder Lesskovs. Seine vielzierte Diagnose lautet: »die Erfahrung ist im Kurse gefallen« (ebd. 439) und »beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute« (ebd. 445). Und gleicher Meinung ist Austerlitz: Er redet von der »im Gleichmaß mit der Proliferation des Informationswesens fortschreitende[n] Auflösung unserer Erinnerungsfähigkeit.« (A 404) Trotzdem versucht der Autor Sebald im Post-Holocaust Zeitalter, in einer Welt, in der die Medien Entwicklungsformen erreicht haben, die zu Benjamins Zeit undenkbar waren, seiner Geschichte die Aura wahrer Kommunikation wiederzugeben. Fast pedantisch verwirklicht er in Austerlitz all jene Züge, die nach Benjamin das Werk des echten Erzählers ausmachen. Die gewöhnliche Uferlosigkeit der Sebaldschen écriture wird diesmal durch die für das 19. Jahrhundert übliche Technik der Rahmenerzählung gezähmt, die nach Benjamin besonders geeignet für die Modulierung der »Spur« der Erzählstimme bzw. -stimmen ist: Es ist die Neigung der Erzähler ihre Geschichte mit einer Darstellung der Umstände zu beginnen, unter denen sie selber das, was nachfolgt, erfahren haben […], so liegt [ihre] Spur im Erzählten vielfach zu Tage, wenn nicht als die des Erlebenden so als die des Berichterstatters. (A 447)

In der Tat nutzt Sebald die lange Rahmen-Ouvertüre zur Verortung der faschistischen Barbarei in dem größeren Zusammenhang des gescheiterten Gesamtprojekts der Moderne.30 Aber der »langsame Anfang des Buches« (Klüger 29 | Gemeint ist Kunerts Text: Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. 30 | Anhand von Austerlitz’ gelehrten Betrachtungen zum »Baustil der kapitalistischen Ära« (A 52), die die unheimlichen Verbindungen zwischen Architektur, Macht und Gewalt vor Augen führen. Es handelt sich um den in der Forschung öfters besprochenen Sebaldschen »oblique approach« zum Holocaust. Im Gespräch mit Michael Silverblatt erklärte

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101) dient ebenso der Zeichnung des Erzählerprofils als einem der sogenannten nachgeborenen Generation: Spätestens in dem rückblickend beschriebenen Besuch des Erzählers im ehemaligen Auffanglager Breendonk erweist er sich als alter ego des Autors, wobei jene von Marianne Hirsch als »living connection« (104) bezeichnete Betroffenheit deutlich wird.31 Mit der Erinnerung an die unheimliche Ausstattung der Räumlichkeiten von Breendonk wird ebenso transparent, worauf die Funktion des Erzählers (und damit indirekt die des Autors) sich beschränken soll: auf das Zuhören, Aufzeichnen und Weitererzählen der »Geschichten, die an den ungezählten Orten und Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben« (A 39). Eine Funktion, die radikal intensiviert wird, als Austerlitz in der Binnenerzählung, deren Anfang das Arche-Bild markiert, die Geschichte seines eigenen Lebens beginnt. Da betont Sebald den Zuhörerstatus des Ich-Erzählers und setzt jenes Verhältnis in Szene, was nach Benjamin das »naive Verhältnis des Hörers zu dem Erzähler, [beherrscht] von dem Interesse, das Erzählte zu behalten« ausmacht, die Haltung jenes »unbefangenen Zuhörer[s]«, der sucht, »der Möglichkeit der Wiedergabe sich zu versichern« (GS II·2 453).32 Seinerseits verfügt Sebald selber hierzu: »I’ve always felt that it was necessary above all to write about the history of persecution, of vilification of minorities, the attempt, well-nigh achieved, to eradicate a whole people […] So the only way in which one can approach these things, in my view, is obliquely, tangentially, by reference rather than by direct confrontation.« (in Dreyfus 17). 31 | Viele Einzelheiten im Leben des Ich-Erzählers entsprechen dem in der ersten Anmerkung skizzierten Werdegang Sebalds (vgl. hierzu A 38, 41f., 53f.). Als »Zauberer der Koinzidenzen« (Gfrereis/Strittmatter in Chroucheva 41) lässt Sebald seinen um die Zeit der Folterungen Jean Amérys geborenen Ich-Erzähler die Festung Breendonk besuchen. Bis dahin vergessene, ekehafte Kindheitserinnerungen überfallen ihn im Inneren der Folterkammer. Zu dieser umstrittenen Stelle, siehe Schütte (189), Öhlschläger (Heimat, 109). 32 | Der Erzähler ist ein konzentrierter Zuhörer, der sich schon am gleichen Abend des unverhofften Wiedersehens mit Austerlitz für die Weitergabe der Geschichte vorbereitet, indem er bis spät in die Nacht hinein in Stichworten und unverbundenen Sätzen so viel wie möglich vom Gehörten aufschreibt, und der dann beim Niederschreiben der Geschichte sorgfältig die Etappen verbucht, in denen Austerlitz ihm die Geschichte seines Lebens erzählte, die Pausen registriert und manchmal sogar das letzte Wort eines Erzählabschnitts, als wollte er seine mnemotechnischen Strategien offenbaren. Das stetige Wiederholen des »so Austerlitz« hebt ständig hervor, dass es sich um transponierte Rede handelt. Vgl. hierzu Heidelberger–Leonard: »Nirgends überschreitet der Ich- Erzähler seine Befügnis, nirgends spricht er über den Zeugen« (21), in diesem Sinne zitiert sie die ebenso treffenden Worte von Anne Fuchs: »Zeugenschaft fungiert in Austerlitz als vorbehaltlose Zuhörerschaft« (16).

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Austerlitz über jene Weisheit, die laut Benjamin den echten Erzählern eigen ist. Nicht nur verfügt er über unglaubliche Sachkenntnisse, die er mit Eleganz vermittelt, sondern er ist ein wahrer Meister: Er ist mit der Autorität jener ausgestattet, die um die Nähe des eigenen Todes wissen33 und vor allem empfindet er die Dringlichkeit des Überlebenden: Bei der Besichtigung der Registraturkammer von Theresienstadt denkt er, dass hier sein wahrer Arbeitsplatz hätte sein müssen, »wo so viele zugrunde gegangen sind […]« und »dass er ihn nicht eingenommen habe aus eigener Schuld« (A 401). Austerlitz’ Geschichte hat zweifelsohne die Benjaminsche »Sanktion des Todes« (GS II·2 450) und er gibt sie bedächtig weiter. Als lebe er in einer Zeit, »in der es auf Zeit nicht ankäme«, wie Benjamin, Paul Valéry zitierend, sagt,34 ist er auf eine vollkommene Erzählung aus, die das Ergebnis der Schichtung vielfacher Nacherzählungen ist (ebd. 448). Eine Erzählung, die er von »Erklärungen fernzuhalten« weiß und die mit einer eher dürftigen Psychologie auskommt, etwas, das, wieder nach Benjamin, die »halbe Kunst des Erzählens« ist (ebd. 445).35 Und dennoch: Sebalds unzeitgemäße Restauration der Figur des Erzählers ist ein solider Kunstgriff, der die Gebrechlichkeit, beinahe Unmöglichkeit, der Erinnerung vor Augen führt. Der Leser wird ständig mit ungefähren Erinnerungen konfrontiert, mit Rekonstruktionen von Rekonstruktionen. Und beide, der Erzähler und Austerlitz, geben oft genug zu verstehen, dass ihre Rekonstruktionen ungenau bleiben. Das Kontinuum der Erzählung, ihre Bruchlosigkeit ist nur eine scheinbare. Dazu müssten noch die vielen Passagen im Buch berücksichtigt werden, in denen die Ergebnisse unserer Erinnerungsbemühungen relativiert werden. Dies ein Skeptizismus, der bei Sebald tief verwurzelt ist.36 Bei Austerlitz benutzt er eine literarische Form unter gleichzeitiger Verfremdung derselben. Bis zuletzt arbeitet er am Schein echten Erzählens. 33 | Vgl. die vorher zitierten Worte Austerlitz’, in denen seine Eile zum Ausdruck kommt: »er [müsse] bald einen Zuhörer für seine Geschichte finden« [Hervorhebung A.M.F.]. 34 | Seine Vorliebe für Auflistungen von allerlei Objekten aus den verschiedensten Bereichen sei an dieser Stelle bloß als Beweis für ein vom Wunsch nach Vollständigkeit besessenes Erzählen erinnert. 35 | Wie Veraguth bemerkt, »verzichtet [W.G. Sebald] auf die Figurenzeichnung als Mittel zur Beschreibung von Menschen und Leben nahezu vollständig« (33). Und so wie »es mit Austerlitz so gut wie unmöglich war, von sich selber beziehungsweise über seine Person zu reden« (A 50), hat Austerlitz nicht nötig, dass Andere von sich selber reden, um sie kennenzulernen. Vgl. hierzu die Episode mit Marie de Verneuil (A 374). 36 | Wie Austerlitz selber sagt: »Ja,[…] und was wissen wir überhaupt, und wie erinnern wir uns, und was entdecken wir nicht am Ende?« (A 295). Überhaupt wird die immense Erinnerungsarbeit, die von vielen im Roman geleistet wird, bereits auf den ersten Buchseiten relativiert, als der Erzähler vom Durcheinander der Bilder spricht: Versucht er sich an die Salle des pas perdus im Antwerpener Hauptbahnhof zu erinnern, sieht er das

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Bezeichnenderweise ist »Märchenerzählung« (A 415) das letzte Wort, das der Erzähler von Austerlitz vernimmt, bevor dieser zur Suche nach seinem Vater und Marie de Verneuil, seiner gescheiterten Liebe, auf bricht. Abermals wird auf eine charakteristische Eigenschaft des wahren Erzählens angespielt: »In der Tat«, schreibt Benjamin, »gibt es keine Erzählung, an der die Frage: Wie ging es weiter? ihr Recht verlöre.« (GS II·2 455). In Austerlitz bleibt offen, wie die doppelte Suche des Protagonisten ausgehen wird. Dies führt aber keineswegs zu Spekulationen etwa darüber, ob er den Vater oder Marie finden werde.37 Es ist nicht nur, dass die digressive Dynamik des Textgewebes – wie immer bei Sebald – die Konstruktion eines Plots verunmöglicht und Begriffe wie »Geheimnis« oder resolution außer Betrieb setzt (hierzu Long, The Ambulatory Narrative), sondern vielmehr, dass mit Austerlitz’ Schwinden die Bergung seiner Geschichte relativiert wird. Beim Abschied übergibt er dem Erzähler die Schlüssel zu seiner Londoner Wohnung, und lädt ihn ein, wann er immer wolle, sich dort einzurichten, um »die schwarzweißen Bilder [zu] studieren, die als einziges übrigbleiben würden von seinem Leben.« (A 414). Die Einschätzung des Protagonisten über sein Schicksal verdient unsere Aufmerksamkeit: Obwohl Austerlitz sich sehr um die Rettung seiner Geschichte gekümmert hat, denkt er, von ihm werde letztendlich nur eine Bildersammlung überleben. Dieses graphische Erbe wird gleich am Anfang der Rahmenerzählung erwähnt, indem von den »vielen Hunderten[…] Bildern«, die größtenteils noch unsortiert sind, die Rede ist (A 15). Retrospektiv gelesen legen die vielen Bilder des Buches nahe, dass der Erzähler der Einladung von Austerlitz gefolgt ist. Andere Bilder und Beweisstücke hat er bereits im Laufe des Gesprächs mit Austerlitz von diesem erhalten und sind ebenso in einem in die Länge gezogenen mise en abîme an verschiedenen Stellen des Textes eingebaut (vgl. u.a. A 114, 361, 377). Austerlitz’ Überzeugung, von ihm würden nur Bilder bleiben, erhält ihre genaue Bedeutung, wenn man bedenkt, dass Bilder für Sebald die »Dokumente par exellence« (Gespräche, 168) sind und dass die Art und Weise, wie Austerlitz die Bilder studiert, der des Dichters Sebald zum Verwechseln ähnlich ist. Im Buch beschreibt Austerlitz seine »Denk- und Erinnerungsarbeit« mit Fotografien als eine Art Patiente-Partie, während derer sich immer wieder neue Ordnungen aus Familienähnlichkeiten ergeben würden (A 175f). Und genauso arbeitet Sebald geduldig an der Vernetzung weit auseinander liegender Dinge, Nocturama; will er sich das Nocturama vorstellen, kommt ihm die Salle des pas perdus in den Sinn (vgl. hierzu Mosbach 130f). 37 | »Auf ein Happy End« – bemerkt Ruth Klüger – »läuft Sebalds Roman natürlich nicht hinaus, dazu ist es zu spät, und zu viele Verbrechen liegen zwischen der Kindheit und der Gegenwart.« (102) Wohlfarth spricht von »verhaltenes happy end« und stellt fest, dass in Sebalds Universum »[n]ur der, der seine Geschichte [zu] erzählen weiß, dem Tod der Emigration [entgeht]« (219).

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aufmerksam gegenüber dem Appell der Bilder, den er als die Forderung deutet, »zu erzählen oder sich vorzustellen, was man, von diesen Bildern ausgehend, erzählen könnte.« (Gespräche, 165) Die Hunderte noch unsortierter Bilder, die im Besitz des Erzählers sind, deuten auf diese unablässige Verbindungsarbeit, auf die vielen noch ungeschriebenen Geschichten hin. In diesem Sinne zeigt sich in der Abschiedsszene die wahre Dimension der überkonstruierten, bisweilen unglaubwürdigen Figur von Austerlitz: Sie ist bloß ein Knotenpunkt im Netz der Geschichte des Leidens,38 deren unzähligen Linien Sebald nachging. Und so hat es auch seine Folgerichtigkeit, dass die Rahmenerzählung allem Anschein zum Trotz den Text keineswegs schließt. Obwohl der Erzähler nach gut dreißig Jahren zu den Schauplätzen des Anfangs – dem Antwerpener Nocturama, Breendonk – zurückkehrt,39 ist er schon mit einer anderen Leidensgeschichte beschäftigt,40 und zwar liest er in Dan Jacobsons Roman Heshel’s Kingdom und erfährt von der fruchtlosen Suche des Schriftstellers nach seinem Großvater − dem bald nach dem 1. Weltkrieg frühverstorbenen Litauer Rabbiner Heschel –, und von der Auswanderung seiner Vorfahren nach Südafrika. Erst hier verlässt das Hebelsche Motiv des Bergwerkes seine Latenz: Dem Leser wird mitgeteilt, die stillgelegten Minen von Kimberley dienten Jacobson als Bild »für die untergangene Vorzeit seiner Familie und seines Volks, die sich, wie er weiß, von dort drunten nicht mehr heraufholen läßt.« (A 420)41 Dieser offene Schluss, in dem der Erzähler zum Leser wird, deutet auf die vielen Geschichten hin, die, dem Gebot des »Andenkens derer, denen das größte Unrecht widerfuhr« (CS 248) folgend, noch zu schreiben sind. Aber genauso verweist er auf die vielen Lektüren, zu denen die Texte Sebalds quasi zwingen. Walter Benjamin empfand als »Siegel der Vollkommenheit« der Hebelschen Geschichten, wie schnell diese vergessen werden (GS II·1 280).42 Dieses Qualitätsmerkmal, womit der Philosoph pro domo spricht, lässt sich auch bei Austerlitz ausmachen. Hier verhindert die äußerste Verschachtelung des Erzählten dessen Aneignung seitens des Lesers. Sebald suchte die perfekt formale Entsprechung von Darstellung und Dargestelltem, ihm ging es dabei nicht um die Bemächtigung des Erinnerten, sondern um die »verschiedenen 38 | Dazu Parry: »Die Figur des Austerlitz ist letztlich nur ein Katalysator für die Lektüre dieser Spuren.« (109) 39 | Die Rückkehr nach Breendonk liest Heidelberger-Leonard als explizite Hommage an Jean Améry (19). 40 | Vgl. hierzu die ausführliche Analyse von Yahya Elsaghe zu Austerlitz‘“fraktale[m] Ende« (174f.). 41 | Auch Ernst Bloch, der bekanntlich Unverhofftes Wiedersehen aufs Höchste schätzte, schreibt in »Wiedersehen ohne Anschluss«, dass im Gegensatz zur »melancholischen Vergaffung« »substanzvolle Erinnerung« »keine leibliche Rückkehr mehr braucht« (88). 42 | Darin stimmt Sebald mit Benjamin vollkommen überein (LL 12).

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Schwierigkeiten der Erinnerung« (SG 8).43 Der Hervorhebung dieser Schwierigkeiten, nicht deren Beseitigung, steht Sebalds eigentümliche Poetik der Langsamkeit im Dienste.44 In dieser Unabschließbarkeit, die sowohl écriture wie auch Lektüre betrifft, läge der utopische Gestus in Sebalds Werk. Freilich handelt es sich um einen sehr verhaltenen Gestus. Auf den Spuren Walter Benjamins wandelnd hat er seine Dokumentation mit Fiktion verbindende Arbeit als eine Art kritische Historiographie verstanden (Zeeman 3).45 Seine Tätigkeit entspricht der des Benjaminschen Chronisten bzw. historischen Materialisten, der wiederum einiges vom Erzähler Hebel geerbt hat. So schreibt Benjamin im dritten Abschnitt von Über den Begriff der Geschichte: Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. (GS I·2 694)

Auch Sebald empfand, dass es keinen Sinn machte, zwischen großen und kleinen Ereignissen zu unterscheiden. »Unser Leben«, sagte er 1998 in einem Interview für das holländische Fernsehen, »ist nicht nur von den großen Ereignissen der Vergangenheit bestimmt, sondern jeder kleinste Teil Geschichte trägt zu einer Entwicklung bei, […] woran wir letztendlich alle teilnehmen.« (Zeeman 3) Benjamins politisch-messianischem Ideal einer vollkommen erlösten Menschheit weicht Sebald aber aus. In der literarischen Form des Schreibens gehe es allenfalls »um einen Versuch der Restitution« (CS 248).46 Die Restitution Sebalds blickt ständig auf die Vergangenheit zurück, sie ist »Be43 | Anne Fuchs vertritt die Meinung, Sebald sei oft weit mehr an den Mechanismen der Suche nach der Vergangenheit interessiert als an der Vergangenheit selbst (in Hutchinson, Erzähler als Schutzengel, 78). 44 | Long zufolge erzeugen die Texte Sebalds eine der Kultur eigentümliche Temporalität, die Widerstand gegen die beschleunigte moderne vita activa leistet und die eine kontemplative Lektüre verlangt, wofür die Beziehungen der Erzähler und Figuren zu den visuellen Künsten in Sebalds Œuvre ein Vorbild anbieten (Variaciones, 22f). In diesem Zusammenhang begegnet man in der Forschung allerlei Umschreibungen des Sebaldschen Stils u.a.: »modernes Biedermeier« (Shields 72), »Trauermarsch-Tempo« (Wohlfarth 211), »Kunstsprache« (Gespräche, 254). 45 | Öhlschläger spricht von »Geschichtschreibung im Feld des Literarischen« (Medialität, 21), Wohlfarth von »geschichtsschreibende[r] Kunst« (217). 46 | Dazu Heidelberger-Leonard: »Restitution: Nicht als Schadenersatz oder Entschädigung, nicht als Wiederherstellung und sicherlich nicht als Heilung. Restitution eher im juristischen Sinn von Rückerstattung (21).

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schreibung des Unglücks«, die »in sich die Möglichkeit zu seiner Überwindung [einschließt]« (B 12).47

5. V erspäte te V ergangenheit »Bis zu einem gewissen Punkt interessiert mich die Zukunft nicht, weder mich noch die Figur des Erzählers«, sagte Sebald im oben genannten Interview, »[i]ch habe den Eindruck, dass die Zukunft eher etwas Destruktives ist« (B 3). Diese Worte, die auch seine literarische Figur Austerlitz hätte sagen können, scheinen fast wie die Transkription einer Kindheitserfahrung zu sein, die er sich in seiner Rede Versuch der Restitution in Erinnerung ruft. Im Winter 1949, noch ein Kind von fünf Jahren, pflegte er im Familienkreis das sogenannte Städtequartett zu spielen. Die Tatsache, dass die Abbildungen des Kartenspiels später lange Zeit seine Vorstellungen von den deutschen Städten prägten, hätte er sicherlich als harmlose Kindheitsepisode wahrgenommen, wenn jene ihm kein so extrem falsches Bild seines Heimatlandes vermittelt hätten: Tatsächlich war in dem Städtequartett, wie aus meiner aus der Erinnerung geholten Aufstellung erhellt und worüber ich mir seinerzeit naturgemäß keine Gedanken machte, Deutschland noch ungeteilt, und nicht nur ungeteilt ist es gewesen, sondern auch unzerstört, denn die gleichmäßig dunkelbraunen Abbilder der Städte, die früh in mir die Idee erweckten von einem finsteren Vaterland, diese Bilder zeigten die deutschen Städte ausnahmslos, so wie sie vor dem Krieg gewesen waren […] (CS 241).

Aus der Perspektive des spielenden Kindes war das schon Vergangene – die Zerstörung und Teilung Deutschlands – noch Zukunft. Zwar ahnte es ein finsteres Vaterland, aber es hatte noch keinen Begriff von dem ominösen Protagonismus seines Landes in der Geschichte der Barbarei. Sebald hat sich mehrfach kritisch über die lange Zeit geäußert, die er benötigte, um sich ein Bild davon zu machen: Zu dem Schweigen zu Hause gesellte sich die Tabuisierung der damals jüngsten deutschen Geschichte in der Schule wie auch später an der Universität (CS 249). Erst aus der Distanz des Ausgewanderten – genau wie seine Figuren hat sich Sebald bis zuletzt in England nur als Gast betrachtet48 − wurde die unbekannte Vergangenheit nachgeholt. Diese als unverzeihlich verspätet empfundene Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft hat 47 | Das Sigel B bezieht sich auf Die Beschreibung des Unglücks. 48 | Sebald redete von seiner »provisorischen Existenz« (Gespräche, 253), die ihm die »Haltung des Zuschauers […] mit einem hohen Grad von emotionaler Beteiligung« (ebd. 152) ermöglichte. Ebenso diesbezüglich schreibt Mühling: »,Was Sebald an English author? ›I have lived here for thirty years,‹ he said shortly before his death, ›and yet I do not

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ihn unversöhnlich und womöglich unerbittlicher an die literarische Beschreibung des geschädigten Lebens gebunden.49 Die Beschreibung des Unglücks ist freilich noch keine dezidierte Arbeit am Glück.

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feel in the least at home here.‹ It seems as if there was no such thing as a home country for Sebald anymore, only, as for the emigrants in his novels, the loss of home countries.« 49 | »Obwohl ich 21 Jahre alt war, als ich Deutschland verließ, nahm ich das Desaster mit, diese Last habe ich noch nicht abladen können.« (Zeeman 4)

Verspätete Vergangenheit

Heidelberger-Leonard, Irene. »Zwischen Aneignung und Restitution. Die Beschreibung des Unglücks von W. G. Sebald. Versuch einer Annäherung«. W.G. Sebald: Intertextualität und Topographie. Hg. Irene Heidelberger-Leonard/Mireille Tabah. Berlin, Münster u.a.: LIT-Velag, 2008. 9-24. Hirsch, Marianne. »The Generation of Postmemory«. Poetics Today 29.1 (2008): 103-128. Hutchinson, Ben. «Der Erzähler als Schutzengel«: W.G. Sebald’s Reading of Giorgio Bassani«. Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 6 (2007), XII: 69-90. — »Die Leichtigkeit der Schwermut: W.G. Sebalds Kunst der Levitation«. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006): 457-477. Jablkowska, Joanna. Literatur ohne Hoffnung. Die Krise der Utopie in der deutschen Gegenwartsliteratur. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag, 1993. Kunert, Günter. Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. Frankfurter PoetikVorlesungen. München: Carl Hanser, 1985. Klüger, Ruth. »Wanderer zwischen falschen Leben. Über W.G. Sebald«. W.G. Sebald. Hg. Heinz Ludwig Arnold. München: Text+Kritik, 2003. 95-102. Long, J.J. »W.G. Sebald: The Ambulatory Narrative and the Poetics of Digression«. W. G. Sebald Schreiben ex patria/Expatriate Writing. Hg. Gerhard Fischer. Amsterdam/New York: Rodopi, 2009. 61-71. — »W. G. Sebald: texto, imagen, artes«. Las variaciones Sebald/Sebalds Variations. Barcelona: Centro de Cultura Contemporánea de Barcelona-CCCB, 2015. Mack, Michael. »Between Elias Canetti and Jacques Derrida: Satire and the Role of Fortifications in the Work of W.G. Sebald«. W. G. Sebald Schreiben ex patria/Expatriate Writing. Hg. Gerhard Fischer. Amsterdam/New York: Rodopi, 2009. 233- 256. Meyer, Sven. »Editorische Notiz«. W.G. Sebald. Campo Santo. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 2006. 262-263. Modlinger, Martin. »W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen (1992)«. Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Hg. Bettina Bannasch/Gerhild Rochus. Berlin/Boston: De Gruyter, 2013. 520-526. Mosbach, Bettina. »Blinder Fleck – Zur Reflexion der Gewalt der Darstellung bei W.G. Sebald«. W. G. Sebald Schreiben ex patria/Expatriate Writing. Hg. Gerhard Fischer. Amsterdam/New York: Rodopi, 2009. 109- 132. Mühling, Jens. »The Permanent Exile of W.G. Sebald«, https://sebald.word press.com/category/jens-muhling/. Letzter Zugriff: März 2016. Öhlschläger, Claudia. »Medialität und Poetik des trompe-l’oeil: W.G.Sebald und Jan Peter Tripp«. Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 6 (2007), XII: 21-43.

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Autorinnen und Autoren

Caspar Battegay, Dr. phil., ist seit 2014 »Ambizione«-Research Fellow des Schweizerischen Nationalfonds an der Section d’allemand der Universität Lausanne. Von 2005 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Danach bis 2014 Assistent am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel. Wichtigste Publikationen: Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830-1930 (Böhlau 2011); Judentum und Popkultur. Ein Essay (transcript 2012). Arbeit an einem Forschungsprojekt mit dem Arbeitstitel Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und ›jüdische Frage‹. Enric Bou ist Professor für spanische und katalanische Literatur an der Università Ca’ Foscari in Venedig. Von 1996 bis 2011 lehrte er an der Brown University in den USA. Sein Lehr- und Forschungsinteresse umfasst eine breite Spanne an spanisch-iberischer und katalanischer Literatur des 20. Jahrhunderts, konzentriert sich aber vor allem auf Lyrik, Autobiographie, Stadtliteratur und spanischen Film. Zu seinen neuesten Veröffentlichungen zählen Daliccionario. Objetos, mitos y símbolos de Salvador Dalí (Tusquets 2004), eine Edition von Pedro Salinas’ Obras Completas (Cátedra 2007), und ein Essay über Literatur und Raum: Invention of Space. City, Travel and Literature (Vervuert-Iberoamericana 2013). Germán Garrido Miñambres ist Dozent für deutsche Literatur an der Universität Barcelona und seit 2009 an der Universität Complutense in Madrid. Forschungsschwerpunkte sind deutsch-spanische Literaturbeziehungen, Gattungstheorie, Poetik, Philosophie und Literatur. 2008 erschien seine Monographie Die Novelle im Spiegel der Gattungstheorie (Königshausen & Neumann). Seine letzten Veröffentlichungen befassen sich mit Kants Kritik der Urteilskraft und ihrer Bedeutung für die Literaturwissenschaft.

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Heidi Grünewald ist Dozentin am Seminar für Moderne Sprachen und Literaturen der Universitat de Barcelona (UB). Dissertation zum Thema Rezeption deutscher Literatur im katalanischen Modernismus am Beispiel von Joan Maragalls Identitätsdiskurs der Moderne (2012). Forschung: Romantik, Neuromantik, Literatur und Medien, Literatur und Historiographie, Mythokritik. Aktuelle Projekte: Interkulturelle Rezeption in Exil und Migration; Mythenrezeption im Film. Publikationen u.a.: »Kleist-Rezeption in Spanien, Mittel- und Südamerika« (in: Kleist-Handbuch, Metzler 2009); »Zur Begegnung Hugo von Hofmannsthal-Edgard Varèse« (in: Apropos Avantgarde, Frank & Timme 2012); »Netzwerk Wagner« (in: Richard Wagner. Ein einmaliger Rezeptionsfall, Winter Verlag 2014); »Mit kleinen Dingen gegen das große Getöse. Zu Siegfried Kracauers Roman »Ginster« (in: Retornos/Rückkehr, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, Mitherausgeberin). Jordi Jané i Carbó ist emeritierter Professor für deutsche Philologie an der Universität Tarragona. Er wurde mit einer Arbeit über die Rezeption der Französischen Revolution in der deutschen Literatur promoviert (1975) und war u.a. Gastprofessor an der Universität Gießen und an verschiedenen spanischen Universitäten. Seine Forschungsinteressen bewegen sich im Feld moderner und zeitgenössischer deutscher Literatur. Er hat u.a. Kurt Tucholsky und Buschs Max und Moritz übersetzt sowie in Spanien Lessings Minna von Barnhelm (Barcelona, 1979), Heines Wintermärchen (Barcelona, 1982; zusammen mit K. Forssmann), eine Auswahl von Schriften Goethes (Barcelona, 1982) sowie Büchners Gesammelte Werke (Madrid, 1992, zusammen mit K. Forssmann) herausgegeben. Wolfgang Stephan Kissel, Dr. phil., ist Professor für Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas an der Universität Bremen. Gastprofessuren 2006 an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und 2007 in Paris VIII, 2011/12 opus magnum-Stipendium der VW-Stiftung zum Thema: »Die barbarische Zivilisation. Eine russische Diskursgeschichte«. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Zivilisationstheorie, russische, polnische, serbische Literatur des 18.-20.Jahrhunderts, Memoirenliteratur, Autobiographik und Reiseliteratur, Exilliteratur, Visualität in russischer Literatur, Drama (Čechov), Orientalismus. Neuere Veröffentlichungen: Čechovs Kosmos. Theater, Raum und Zeit (Böhlau 2012). Herausgeber von: Der Osten des Ostens. Orientalismen in slavischen Kulturen und Literaturen (Peter Lang Verlag 2012) und (zusammen mit Ulrike Liebert) Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989 (LIT Verlag 2010). Robert Leucht, PD Dr., ist Lehrbeauftragter an der Universität Zürich und 2017 Max Kade Distinguished Visiting Professor an der University of Illinois. 2015

Autorinnen und Autoren

war er als Gastwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin und als Gastdozent am Queen Mary College der University of London tätig. Forschungsgebiete: Utopieforschung, Exilliteraturforschung, Literatur und Technikgeschichte, komparatistische Fragestellungen sowie Kulturtransfer und Übersetzen. Aktuelle Publikationen sind die Monografie Dynamiken politischer Imagination. Die deutschsprachige Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten, 1848-1930 (De Gruyter 2016), der Aufsatz »Griechische Wilde. Vergleiche zwischen Antike und Neuer Welt, 1752-1821. Lafitau, Böttiger, Winckelmann, Bougainville, Forster« (Euphorion 4, 2015) sowie der mit Magnus Wieland herausgegebene Sammelband Dichterdarsteller. Fallstudien zur biographischen Legende des Autors im 20. und 21. Jahrhundert (Wallstein 2016). Linda Maeding, Dr. phil., ist Dozentin an der Universität Complutense in Madrid. Von 2008 bis 2013 Lektorin an der Universität Barcelona sowie von 2014 bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Exil und Migration, deutsch-spanische Literaturbeziehungen, Gedächtnis und Literatur, Autobiographik. Aktuelle Publikationen: »Exil als Ort einer europäischen Literatur? Lektüren zu Texten von Max Aub und Egon Schwarz« (Arcadia 51.1, 2016), »Von der Folklore zur transkulturellen Aneignung: Zur Rezeptionsgeschichte von Bodas de sangre« (in: García Lorcas Bodas de Sangre und die Literaturtheorie, Reclam 2016). Derzeitiges Forschungsprojekt: Postkolonialität und Exil. Deutschsprachige Literatur in den Amerikas. Anna Montané Forasté ist Profesora Titular für Neuere Deutsche Literatur, Universität Barcelona, wo sie Allgemeine Literaturwissenschaft und Literatur der deutschen Romantik unterrichtet. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige, insbesondere österreichische Literatur des 20./21. Jahrhunderts. Arbeiten über Peter Handke, Josef Winkler, Angela Krauß, Peter Bichsel, Bernhard Schlink, Ödön von Horváth, Thomas Bernhard, Franz Kafka, W. G. Sebald, Maja Haderlap u.a. Übersetzungstätigkeit vom Deutschen ins Spanische bzw. Katalanische: Dürrenmatt, Handke, Kleist. Rosa Pérez Zancas wurde 2010 zum Thema »Dialogizität und literarische Intertextualität zum Schreiben über den Holocaust: Ruth Klüger« promoviert. Am Seminar für deutsche Literatur der Philologischen Fakultät der Universität Barcelona lehrt sie seit 2007 deutschsprachige Literatur und Kultur. Sie ist Herausgeberin der mehrsprachigen Jahresschrift Anuari de Filologia. Literatures Contemporànies und beteiligt sich an den Forschungsprojekten der Universitat de Barcelona »Ex patria: Exilios, destierros y destiempos en las literaturas alemana e hispánica« und »Construcción de Identidades Literarias Contemporáneas«.

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Marisa Siguan, Prof. Dr. Seit 1991 Lehrstuhl für Deutsche Philologie an der Universitat de Barcelona. Lehre: Neuere Deutsche Literatur, Schwerpunkt Jahrhundertwenden (18.–19. und 19.–20. Jahrhundert). Gründungspräsidentin der spanischen Goethe-Gesellschaft und seit 2013 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. In den letzten Jahren Senior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies und am Internationalen Kolleg Morphomata Köln. Letzte Publikationen: Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kertesz, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub (De Gruyter 2014); mit Hans Gerd Rötzer: Historia de la literatura en lengua alemana. Desde los orígenes hasta la actualidad (UB 2012). Loreto Vilar ist Profesora Titular für deutschsprachige Literatur an der Universität Barcelona. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Literatur und Marxismus, DDR-Literatur, Frauenliteratur. Neueste Publikationen: »Das Gelobte Land Sozialismus aus deutscher und katalanischer Sicht: Susanne und Wolfgang Leonhard, Tomàs und Teresa Pàmies« (in: Kreuzwege, Neuwege. Literatur und Begegnung im deutschen und spanischen Exil, Königshausen & Neumann 2014); »Fortschritt und Fortschrittsgläubigkeit« (in: Christa Wolf Handbuch. Leben Werk Wirkung, Metzler 2016). Jörg Zimmer ist seit 1993 Professor für Philosophie an der Universität Girona. Zahlreiche Aufsätze zu den Arbeitsschwerpunkten Ästhetik, Dialektik, deutsche Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Buchpublikationen: Die Kritik der Erinnerung, 1993; Schein und Reflexion. Studien zur Ästhetik, 1996; Metapher. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe Bd.5, 2003; Reflexion. Bibliothek dialektischer Grundbegriffe 11, 2004; La realitat de l’aparença. Estudis sobre dialèctica, 2010; La filosofia alemanya contemporània, 2011 (mit Mònica Carbó); Arbeit am Begriff, 2014

Literaturwissenschaft Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.) Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt September 2016, 318 S., kart., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3266-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2

Stefan Hajduk Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit Juli 2016, 516 S., kart., 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3433-4 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3078-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3179-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 S., kart., 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2502-8 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2502-2

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.) Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 1 Juli 2016, 216 S., kart., 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3415-0 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3415-4

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