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German Pages 254 [256] Year 2002
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschich te Band 113
Hermetik Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace Herausgegeben von Nicola Kaminski, Heinz J. Drügh und Michael Herrmann unter Mitarbeit von Andreas Beck
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hermetik : literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace / hrsg. von Nicola Kaminski... unter Mitarb. von Andreas Beck. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; 113) ISBN 3-484-32113-X
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Andreas Beck Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
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Bernhard Greiner (Jerusalem)
Archäologie der Hermetik. Geschichten des Turmbaus zu Babel (Genesis 11, Kafka, Benjamin)
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Hans Schneider (Marburg) Das Platonisch-hermetische Christenthum - Ehre Gott Daniel Col-
bergs Bild des frühneuzeitlichen Spiritualismus
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Carsten Zelle (Bochum)
Der »Freund des Vergnügens« — zu den dichterischen Anfängen Johann Arnold Eberts in Hamburg
43
Christian Soboth (Halle/Saale)
Die Alchimie auf dem Abtritt — Johann Salomo Semler und die hermetische Kehrseite der Neologie
67
Burkhard Oohm (Kassel)
Aussichten in die Ewigkeit. Johann Kaspar Lavater und die Hermetik im Kontext von Pietismus und Aufklärung
101
Jürgen Brummack (Tübingen)
Natürliche Magie, Magnetismus, Alchemic: Über Jean Pauls Komet
129
Uive-K. Keteken (Bochum)
Auch ein Kapitel aus der Geschichte des Hermetismus: Ein Schleichweg aus den Zumutungen des Modernisierungsprozesses
161
VI Gerhard Kur% (Gießen)
Hermetismus. Zur Verwendung und Funktion eines literaturtheoretischen Begriffs nach 1945
179
Cornelia Blasberg (Tübingen)
»Nichts als die Wirklichkeit von Worten«. Auschwitz und die Hermetik der (literarischen) Zeugenaussage
199
Klaus Vondung (Siegen)
Hermetik im Cyberspace
219
Personenregister
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Vorwort der Herausgeber
Der Dichter, ein höherer Chemicus der Seelen, verwandelt die tiefste, abstracteste Philosophie in die Sprache des gemeinen Lebens. Durch diese höhere Seelenchemie findet der Dichter zuweilen den Stein der Weisen, den die Philosophie immer sucht. Theodor Gottlieb von Hippel, Kreuzund Querzüge des Ritters A. bis Z., §38
In die Kreu2 und in die Quer zwischen Literatur und Hermetik, Hermetik und Literatur ging es auf einem Kolloquium, das am 25. und 26. Mai 2001 in Tübingen stattfand. Sein Anlaß: der 60. Geburtstag von Hans-Georg Kemper, der schon vor einem Vierteljahrhundert - damals noch einsamer Rufer in der Wüste - darauf insistierte, daß bis weit ins vermeintlich aufgeklärte 18. Jahrhundert hinein die Literatur hermetisch >unterwandert< (bzw. die Hermetik in die Literatur >ausgewandertWeltwissen< zu sein, eben aus diesem untergründigen hermetischen Nährboden gewinne. Daß dieses Arkanum der (früh)neuzeitlichen Literatur sich vor den Blicken ihrer Erforscher gleichwohl so lange verbergen konnte, >Geheimwissen< auch unter Literaturwissenschafdern blieb, hat seinen Grund nicht nur in der hermetischen Natur der Sache; vor allem ist dies Folge der überlebensnotwendigen Anpassungs-, Anverwandlungs-, ja fast (al)chymischen Amalgamierungskünste des hermetischen Gedankenguts. »So präsentiert sich der Hermetismus der Frühaufklärung zum Beispiel nicht mehr nur im faltenreichen Gewände Böhmes. Und deshalb wäre es vor-eilig, etwa aus gravierenden
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Vorwort
Unterschieden 2wischen den Anschauungen von Brockes und Böhme auf den nichthermetischen Charakter des Brockesschen Werkes schließen zu wollen.«1 Schwindelnde Aussichten, die ein solcher Befund dem Literaturwissenschaftler in hermeneutischer Perspektive eröffnet: weist ein Text Ähnlichkeiten mit Vorstellungen der hermetischen Tradition auf, so liegt der Verdacht nahe, es könnte unter der poetischen Erscheinungsform ein hermetischer >Subtext< lesbar werden; weist ein Text keine erkennbaren Ähnlichkeiten damit auf, so könnte dies gerade als Indiz für seine besonders >hermetische< Affinität zur Hermetik zu werten sein... Dieser hermetisch-hermeneutischen Provokation haben sich die neun Beiträger und eine Beiträgerin zu vorliegendem Band gestellt — mit einem Schwerpunkt im 18. Jahrhundert (Garsten Zelle, Christian Soboth, Burkhard D ohm), darin Kempers >ketzerischem< Aufruf zu hermetischer Lektüre gegen den (früh)aufklärerischen oder aber empfindsamen Strich folgend, einem weiteren im 20. Jahrhundert (UweIC. Ketelsen, Gerhard Kurz, Cornelia Blasberg), der offenbar im Zeichen eines anderen Paradigmas von >hermetisch< steht. An die Stelle eines metonymischen Verständnisses, wonach das hermetische Geheimwissen in einer sich fortwährend wandelnden Traditionsbewegung manifest wird, die gleichwohl, ungeachtet verschiedenartigster Metamorphosen, auf die mythische eponyme Gründerfigur Hermes Trismegistos zurückbezogen bleibt, tritt nun — so hat es den Anschein — in abruptem Traditionsbruch >Hermetik< in einem metaphorischen Sinn (>verschlossenundurchdringlichdem Unberufenen sich nicht erschließend< wie das arkane Wissen des Corpus Hermeticum oder, wenn die Metapher verbkßt, auch nur wie ein luftdicht verschlossenes Einweckglas). An die Stelle rezeptiver Tradierung und poetischer Adoptierung eines ursprünglich sakralen geheimen Wissens vom Ursprung, der selbst freilich metaphysisch entzogen bleibt, tritt nun die produktionsästhetische Versiegelung dessen, was sich profaner Versprachlichung entzieht. Was so einer scharf zäsurierten Bedeutungsentwicklung zu unterliegen und demnach kontingent,
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Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde. Tübingen 1981 (Habilitationsschrift 1976/77), Bd. 1,5.7.
Vorwort
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bloß begrifflich, unter dem gemeinsamen Etikett >Hermetik< versammelt scheint, erweist sich jedoch als begriffsgeschichtlich komplexer verschränkt. Schon der eröffnende Beitrag von Bernhard Greiner schlägt einen Bogen, der quer steht zu einem Modell geschichtlich einander ablösender Hermetikbegriffe: vom hebräischen Genesistext zu Kafka, von dort weiter zu Gershom Scholems und Walter Benjamins divergierenden Kafka-Lektüren, die wiederum vor das Gesetz, dessen Gabe im 2. Buch Mose bezeugt wird, zurückzugreifen suchen. Charakteristische Rückgriffs Strukturen bestimmen, wie Jürgen Brummack zeigt, auch den Umgang mit Hermetik in Jean Pauls Komet, und wenn es nach der Lektüre des von Uwe-K. Ketelsen aus der Versenkung literaturgeschichtlichen Vergessens gehobenen hermetischen >Schleichweges aus den Zumutungen des Modernisierungsprozesses< so aussehen mag, als hätte um die Mitte des 20. Jahrhunderts das traditionelle hermetische Paradigma als nun endgültig anti-modern und überholt ausgedient, so können die von Klaus Vondung gebotenen Aussichten ins 21. Jahrhundert mit erstaunlichen Einsichten aufwarten: Nicht nur daß die >Cyberaten< und >Cybernauten< der jüngsten Gegenwart — man vermag sich der suggestiven Evidenz kaum zu entziehen - ganz offensichtlich das altehrwürdige Corpus Hermeticum genau studiert haben, verdient nachdenkliche Aufmerksamkeit, sondern auch die bemerkenswerte Affinität ihrer computergestützten Erlösungsphantasien zu den von Burkhard Dohm entfalteten Aussichten in die Ewigkeit Johann Kaspar Lavaters. Daß aber, komplementär zur visionären >AussichtWüste< einer am Austausch zwischen Hermetik und Literatur desinteressierten Literaturwissenschaft sich mittlerweile in eine fruchtbare Forschungslandschaft verwandelt hat, steht zu hof-
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Vorwort
fen, daß auch auf diesem Feld unter der Schirmherrschaft des rechten Deus sich Aussichten in die Ewigkeit< eröffnen - wie es das zweite Emblem aus Joachim Camerarius' Symbolorum & embUmatum ex re herbaria desumptorum centuna von 1590 zweideutig in Wort und Bild faßt, wenn Hermes/Mercur mit der Linken in der rechten Bildhälfte einen Lorbeerbaum begießt, die Rechte zur Linken hingegen, scheinbar beiläufig, den Hermesstab über einen Baumstumpf hält, aus dem neue Triebe sprießen:
NEMPE ARBOS UNDE RIGETUR,
Jntcrtriimitltum^iintßrosirrigttijtrtes.
Bernhard Greiner (Jerusalem)
Archäologie der Hermetik Geschichten des Turmbaus zu Babel (Genesis 11, Kafka, Benjamin)
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wajebt kal-hä'äraes säpäh 'ahät üdebärim 'ahadtm
Wie sollen wir das Hebräisch, in dem dieser Satz verfaßt ist, auffassen? Wir nähern uns dem Satz sehr verschieden, je nachdem, ob wir seine Sprache als eine unter anderen denken oder als die Ursprache, die heilige Sprache. Der Palästinensische Talmud berichtet vom Disput zweier Gelehrter: »Es steht geschrieben: >Und die ganze Welt hatte dieselbe Sprache und dieselben Wörtern Rabbi [Ejleasar und Rabbi Jochanan [streiten darüber]. Einer sagt: sie haben in [den] 70 Sprachen geredet, und der andere sagt: sie haben in der Sprache des Einzigartigen der Welt, in der heiligen Sprache, geredet.«2 Eine bestimmte Zahl von Sprachen kann man darum annehmen, weil vor der zitierten Stelle, die besagt, daß die ganze Welt eine Sprache hatte, die Geschlechter aufgezählt werden, die sich aus den drei Söhnen Noahs gebildet haben (Eber, Japhet, Harn), und jede Geschlechterreihe mit dem Satz beendet wird: »Das sind die Söhne Japhets [Harns, Sems resp. Ebers] nach ihren Ländern, ihren Sprachen, Geschlechtem und Völkern« (Gen. 10,5, analog 10,20 und 10,31). Siebzig Sprachen anzusetzen und als eine von diesen das Hebräische (Aramäische), aber in der Perspektive der Einheit, wenn zugleich gesagt werden kann, die ganze Welt habe dieselbe Sprache gehabt, betont die Übersetzbarkeit der Sprachen untereinander. Eine Übersetzung von Gen. 11,1,
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Bereschit 11,1. In: Biblia Hebraica Stuttgartensia. Hg. v. Karl Eiliger und Wilhelm Rudolph. Stuttgart 31987. Megilkh 71b zu Gen. 1,9. In: Rabbinischer Kommentar zum Buch Genesis, zusammengesetzt, übersetzt und kommentiert von Dirk U. Rottzoll. Berlin, New York 1994, S. 195; vgl. hierzu Donatella di Cesare: Das Rätsel von Babel. Sprache und Sprachen in der jüdischen Tradition. In: Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition. Hg. v. Werner Stegmaier. Frankfurt a. M. 2000, S. 62-77, hier S. 64.
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Bernhard Greiner
die des palästinensischen Talmud, ist schon zitiert. Zum Vergleich übersetzt die heutige offizielle Lutherbibel den ersten Satz der Geschichte des Turmbaus zu Babel folgendermaßen: »Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.«3 Das ist sehr frei übersetzt: säpäh ist nicht die Zunge, sondern die Lippe, zugleich der Rand, das Ufer, also etwa des Übergangs zwischen Sprache und Nicht-Sprache, während die Zunge eingesetzt wird als Organ der Unterscheidung; däbär kann >Wort< oder >Ding< bedeuten, der Plural hiervon ergibt >die WörterSprache< als System ist. Buber und Rosenzweig übersetzen: »Über die Erde allhin war eine Mundart [was der >lippe< näher ist, aus deren Öffnung wir die Rede vernehmen] und einerlei Rede [das bleibt den >Wörtern< näher, ist noch nicht so abstrakt wie >Sprache