Historismus und literarische Moderne [Reprint 2011 ed.] 9783110935639, 9783484107250

Die radikal neuen Textverfahren der literarischen Moderne von Naturalismus und Décadence bis heute operieren mit einem S

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German Pages 382 [384] Year 1996

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Table of contents :
Einführung
I Textverfahren im Historismus
1. Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs
Historismus als Epoche der Geschichtswissenschaft
Positivismus und Relativismus
Der erweiterte Historismus-Begriff
Historische und historistische Verfahren
Ästhetischer Historismus
Historismus im Diskurs der literarischen Moderne
2. Historismus und Realismus im historischen Roman
Historisches Erzählen
Literarische Geschichtsikonographie
Literatur mit beschränkter Haftung
Scotts Poetik der historischen Differenz
Poetiken der Kontingenz
Poetiken der Beziehungslosigkeit
3. Populäre Wissenschaftsprosa und Lexemautonomie (von Friedrich Dethlefs)
Das positivistische Textmodell
Populäre Wissenschaftsprosa
Brehms Thierleben und die Naturgeschichte
Textverfahren in Brehms Thierleben
Auswertung: Relativistische Effekte in Brehms Textverfahren
II Texturen der literarischen Moderne
1. Naturalismus und Décadence als Verfahren
Naturalismus als Verfahren: Anfänge der Lexemautonomie
Das Paradigma Arno Holz
Décadence als Verfahren
Verfahren in der Folgezeit
Detlev von Liliencron
Peter Altenberg
Robert Walser
2. Historistischer und rhetorischer Katalog
Historistischer Katalog
Lexemautonomie
Rhetorischer Katalog
3. Dekorative Texturen
Ornamentik und Änigmatik
Kostbarkeit und Austauschbarkeit: Ferdinand von Saar
Ausstattungselemente, Ausstattungskataloge
Als Kontext: der Kunstgewerbe-Diskurs um 1900
»Gigerl«-Kunst: Felix Dörmann
Ästhetizistische Pose: Stefan George
Dekorative Texturen im Historismus
4. Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa
Hermeneutik und moderne Texturen
Struktur und Textur
Texturen in strukturierten Texten
Texturierte Texte, Unverständlichkeit
Gläubige Lesarten
Semiose
5. Die Textur der modernen Lyrik
Paradigma des Tiefsinns?
Hermetik und das ›souveraine‹ Wort
Legitimationsstrategien
Prosaische Lyrik, lyrische Prosa
Trakl
Rilke
Benn
Literaturwissenschaftliche Konsequenzen
6. Spieltexte und Spieltexturen
Systematische Überlegungen
Spielerische Lesarten
»Ungeratene Kinder« der Literatur: Spieltexte
Groteske: eine Sonderform der Spieltexte
Spieltexturen
Spieltexturen im historistischen Horizont
III Komplementäre Modelle der Strukturierung
1. Erzählen
Textur und Narration
Noch einmal: Flaubert
Exkurs: der Wahnsinn, die Textur
Probleme der Strukturierung
2. Essayismus
3. Enzyklopädie
Das semiotische Modell
Literarische Enzyklopädien
Die Systematik der Encyclopédie
Labyrinthe: Realismus und Naturalismus
Das lexikalische Kaleidoskop: Arno Holz
Paralyse und Semiose: Joyce und die Enzyklopädie der klassischen Moderne
4. Film
Film, Historismus, Literatur
Geschichte und Montage
Zitierte Literatur
Register
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Historismus und literarische Moderne [Reprint 2011 ed.]
 9783110935639, 9783484107250

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Baßler/Brecht/Niefange r/Wunberg Historismus und literarische Moderne

Moritz Baßler/Christoph Brecht/ Dirk Niefanger/Gotthart Wunberg

Historismus und literarische Moderne Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Gedruckt mit Unterstützung des Fördemngs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Historismus und literarische Moderne / Moritz Bassler ... Mit einem Beitr. von Friedrich Dethlefs. - Tübingen : Niemeyer, 1996 NE: Bassler, Moritz ISBN 3-484-10725-1 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

Einführung

1

I

Textverfahren im Historismus

1.

Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs Historismus als Epoche der Geschichtswissenschaft Positivismus und Relativismus Der erweiterte Historismus-Begriff Historische und historistische Verfahren Ästhetischer Historismus Historismus im Diskurs der literarischen Moderne

15 16 19 22 24 25 33

2.

Historismus und Realismus im historischen Roman Historisches Erzählen Literarische Geschichtsikonographie Literatur mit beschränkter Haftung Scotts Poetik der historischen Differenz Poetiken der Kontingenz Poetiken der Beziehungslosigkeit

36 36 42 46 50 56 62

3.

Populäre Wissenschaftsprosa und Lexemautonomie (von Friedrich Dethlefs) Das positivistische Textmodell Populäre Wissenschaftsprosa Brehms Thierleben und die Naturgeschichte Textverfahren in Brehms Thierleben Auswertung: Relativistische Effekte in Brehms Textverfahren

68 70 75 81 86 96

V

II

Texturen der literarischen Moderne

1.

Naturalismus und Decadence als Verfahren 105 Naturalismus als Verfahren: Anfänge der Lexemautonomie . 106 Das Paradigma Arno Holz 110 Decadence als Verfahren 114 Verfahren in der Folgezeit 119 Detlev von Liliencron 122 Peter Altenberg 128 Robert Walser 130

2.

Historistischer und rhetorischer Katalog Historistischer Katalog Lexemautonomie Rhetorischer Katalog

134 136 140 142

3.

Dekorative Texturen Ornamentik und Änigmatik Kostbarkeit und Austauschbarkeit: Ferdinand von S a a r . . . . Ausstattungselemente, Ausstattungskataloge Als Kontext: der Kunstgewerbe-Diskurs um 1900 »Gigerl«-Kunst: Felix Dörmann Ästhetizistische Pose: Stefan George Dekorative Texturen im Historismus

150 153 155 159 162 168 172 178

4.

Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa Hermeneutik und moderne Texturen Struktur und Textur Texturen in strukturierten Texten Texturierte Texte, Unverständlichkeit Gläubige Lesarten Semiose

181 182 184 185 186 193 195

5.

Die Textur der modernen Lyrik Paradigma des Tiefsinns? Hermetik und das >souveraine< Wort Legitimationsstrategien Prosaische Lyrik, lyrische Prosa Trakl Rilke Benn Literaturwissenschaftliche Konsequenzen

197 197 199 203 207 211 221 225 231

VI

6.

Spieltexte und Spieltexturen Systematische Überlegungen Spielerische Lesarten »Ungeratene Kinder« der Literatur: Spieltexte Groteske: eine Sonderform der Spieltexte Spieltexturen Spieltexturen im historistischen Horizont

III

Komplementäre Modelle der Strukturierung

1.

Erzählen Textur und Narration Noch einmal: Flaubert Exkurs: der Wahnsinn, die Textur Probleme der Strukturierung

265 265 267 271 273

2.

Essayismus

281

3.

Enzyklopädie Das semiotische Modell Literarische Enzyklopädien Die Systematik der Encyclopedie Labyrinthe: Realismus und Naturalismus Das lexikalische Kaleidoskop: Arno Holz Paralyse und Semiose: Joyce und die Enzyklopädie der klassischen Moderne

293 295 302 306 310 316

Film Film, Historismus, Literatur Geschichte und Montage

333 333 341

4.

235 238 241 245 248 250 259

325

Zitierte Literatur

353

Register

369

VII

Einführung

Dieses Buch formuliert Fragen, indem es Beobachtungen mitteilt. Es geht um die Beschreibung eines bestimmten Text-Verfahrens, das die literarische Moderne konstituiert. Dazu ist es nötig, neben dieser systematischen Fragestellung zugleich eine historische Begründung zu geben. Das Problem Historismus stellt sich für die literarische Moderne im Zusammenhang einer unabweisbaren Beobachtung: daß viele ihrer herausragenden Texte weitgehend unverständlich sind1 und daß diese Unverständlichkeit aus dem Eindruck einer gewissen Zusammenhangslosigkeit auf der Oberfläche ihrer sprachlichen Realisierung entsteht. Denn eine deutliche Isolierung von Wörtern, Sätzen, Bildern, ja selbst ganzen Passagen in den literarischen Texten der Moderne ist unverkennbar. Daß ein großer Teil der modernen Texte in einem Maße unverständlich ist, daß ihnen auch hermeneutisch nicht beizukommen ist, scheint evident. Das kann zweifellos nicht bedeuten, auch die Hermeneutik zu verabschieden. Aber in einer Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, daß hermeneutische Lektüre »als Wiederherstellung des Sinns« (Ricoeur2) von Texten nicht mehr und nicht überall gelingen will, ist es an der Zeit, sich zumindest darüber Gedanken zu machen, warum das so ist. Denn offensichtlich handelt es sich um eine grundsätzliche Frage. Historismus ist hier nicht im engeren geschichtswissenschaftlichen Sinne zu verstehen, sondern als Phänomen der Moderne insgesamt. Von besonderem Interesse für die Herleitung literarischer Verfahren ist der als historistisches Folgephänomen aufgefaßte Positivismus. Die vorgelegten Erörterungen greifen damit also auf einen Sprach- und Definitionszusammenhang zurück, der nicht unumstritten ist. Die überaus komplexe Verwendung

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Zum Problem der Unverständlichkeit in der Moderne vgl. Gotthart Wunberg, Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne, in: Hofmannsthal Jahrbuch zur Europäischen Moderne, 1/1993, S. 309-350; sowie G.W., Historismus, Lexemautonomie und Fin de sifecle. Zum Decadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende, in: Arcadia 30/1995, Heft 2, S. 31-61; Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916, Tübingen 1994. Paul Ricceur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt 1974; S. 41 (»l'hermineutique comme restauration du sens«; P.R., De l'Interprötation. Essai sur Freud, Paris 1965, Edition du Seuil; S. 36).

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eines jeglichen Historismusbegriffs fordert jedoch ohnehin eine Präzisierung im Hinblick auf die hier zu verhandelnden Probleme. Das wird in einem eigenen Kapitel geschehen.3 Die Verbindung zwischen Literatur und Historismus stellt sich über das Phänomen der Lexemautonomie her. Die moderne Literatur entwickelt in der Auseinandersetzung mit historischen Stoffen, ζ. B. im historischen Roman, und zugleich der »direkten Aneignung von wissenschaftlich-historischen Techniken auf quasi-historistischem Wege ein sprachliches Verfahren, das schließlich für sich selbst stehen, ja seinen Gegenstand - die Historie - sogar weitgehend verabschieden kann. Genauer heißt das: die Literatur entwickelt eine eigene Lexik, die erst in der Erledigung der Geschichte als ihres Gegenstandes zu sich selbst kommt. Am Ende dieser Entwicklung steht dementsprechend eine Autonomie der Lexeme: sie vermag wie selbstverständlich auf ihren ursprünglichen Gegenstand zu verzichten, wird dadurch übertragbar auf beliebige andere Gegenstände und konstituiert auf diese Weise ein neues Verfahren. Genau das bezeichnet den Tatbestand der literarischen Moderne. Das aufgebrochene, ja erledigte Referenzsystem zwischen Signifikant und Signifikat, eigentlich die Dispensierung der gesamten herkömmlichen Semantik, ist bereits hier vollzogen; lange bevor die Sprachwissenschaft in de Saussures Theorie dieses Phänomen abstrakt als wissenschaftliches formuliert. Folgt man dieser These, so wird verständlich, was bisher unverständlich bleiben mußte: die vermeintlich >sinnlosen< Verse Hofmannsthals genauso wie die Edelstein-, die Buch- und Bilderkataloge Huysmans' oder die Wort-Akkumulationen Marinettis und die Asyndetik des Spätexpressionismus und der Dadaisten.«4 Die Ausformungen, in denen die Lexemautonomie dann in Erscheinung tritt, sind allerdings sehr unterschiedlicher Art. Dabei stellen Kataloge ihre wohl auffallendste differenzierte und exakte Benennung, aber keineswegs ihre einzige Erscheinungsform dar; neben Befunden wie Aufzählung, Vollständigkeitstendenz, Detailtreue.5 Diese Phänomene sind in der Wissenschaftsprosa zu beobachten (wohin sie gehören und wo sie allein deswegen weiter keiner besonde-

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Vgl. Kapitel I 1: Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs. - Hier kann ein kurzer Hinweis auf Herbert Schnädelbach genügen, der zwischen einem positivistischen und einem relativistischen Historismus unterscheidet. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt 1983; hier besonders das Kapitel 2.1: Der Historismus; S. 51ff. - Als Einführung in das Gesamtproblem im Vorfeld der hier angestellten Überlegungen vgl.: Annette Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1992; dort auch weiterführende Literatur. - Zu einer speziellen Anwendung des Historismusbegriffs vgl. Dirk Niefanger, Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne, Tübingen, 1993 (Studien zur deutschen Literatur 128); sowie D.N., Artikel »Historismus«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3 [erscheint Tübingen 1996]. Gotthart Wunberg, Historismus, Lexemautonomie und Fin de sifecle, S. 31. Vgl. Kapitel II 2: Historistischer und rhetorischer Katalog.

ren Aufmerksamkeit bedürften), aber eben auch in Romanen wie denen von Huysmans,6 auch schon von Flaubert7 oder zeitgleich etwa im Versepos, ζ. B. in Hamerlings historistischem Epos Ahasver in Rom,s gar in der Lyrik - etwa im Phantasus von Arno Holz. 9 Wichtig ist, daran zu erinnern, daß es Kataloge - seit den Homerischen Schiffskatalogen 10 - immer schon gegeben hat; daß es aber unter den Bedingungen der Moderne mit ihnen eine andere Bewandtnis hat.11 Das komplexe Phänomen Unverständlichkeit wird im folgenden noch genauer dargestellt werden. Hier deshalb zunächst nur ein Verständigungshinweis auf das, worum es geht. Texte etwa schon des frühen Hofmannsthal, zahlloser Expressionisten dann, oder der Dadaisten, Robert Walsers, nicht zu reden von Paul Celan oder einigen Vertretern der Konkreten Poesie, sind schlechthin unverständlich.12 Beispiele finden sich in jeder gängigen

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Vgl. etwa die umfangreichen Buch-, Speisen- oder Edelsteinkataloge in Α Rebours. Vgl. Salammbd oder Bouvard et Pecuchet. Robert Hamerling, Ahasver in Rom. Eine Dichtung in sechs Gesängen, 1866. Vgl. bes. den fünften Gesang »Das goldene Haus [des Nero]«. Vgl. die Kapitel II 1: Naturalismus und Decadence als Verfahren, III 2: Essayismus und III 3: Enzyklopädie. Ilias 2, 484-877. - Bezeichnenderweise findet sich das Wort »Katalog« bei Wilhelm Raabe in für die Moderne höchst indizierendem Kontext: in seiner Erzählung Das Odfeld, in der es in der Tat in besonderer Weise um Kataloge geht. (Sämtliche Werke, im Auftrage der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, hg. von Karl Hoppe, Bd. 17, bearbeitet von Karl Hoppe und Hans Oppermann, Göttingen 1966, S. 5-220, hier S. 43). - Vgl. dazu Gotthart Wunberg, Unverständlichkeit, S. 325f.; sowie Kapitel II 2: Historistischer und rhetorischer Katalog. Alles das ist kein deutschsprachiges, gar deutsches Phänomen. Einzelne Fallstudien, die hier nicht durchgeführt werden können, müßten das zeigen. Neben den genannten französischen Autoren ließe es sich an Robert Walser genau so belegen wie an Walt Whitman, an Emerson oder Melvilles Moby Dick\ selbst - im Rahmen des »Literary Transcendentalism« - an einem so entlegenen Beispiel wie Margaret Fullers The Great Lawsuit von 1843, einem Traktat über »Man versus Men. Woman versus Women«, der sich interessanterweise entgegen allen Erwartungen umfangreicher >Kataloge< bedient. Den Hinweis auf Fuller verdanke ich Stephan Dietrich; vgl. dessen Aufsatz: >Tracing the Lineageverständliche< Texte gibt. Allerdings werden gerade sie im allgemeinen nicht zur Moderne in einem engeren Sinne gerechnet. Zudem ist der Kontext, in dem sie entstehen und zunächst wirken, sehr deutlich von solchen Texten bestimmt, die eher unverständlich sind. Die Moderne kennt zudem eine rhetorische Lizenz zur Öffentlichmachung von Unverständlichkeit, die voraufliegenden Zeiten fremd war. - Daß auch nicht-fiktionale Texte von einer vergleichbaren Unverständlichkeit betroffen sein können, wird uns später noch beschäftigen. - Man wird im übrigen konstatieren müssen, daß wahrscheinlich bestimmte Texte für bestimmte Leser zu allen Zeiten mehr oder minder unverständlich gewesen sind. Aber dazu wären die verschiedenen Bedingungen genauer zu benennen, unter denen Texte unverständlich sind. Es ist anzunehmen, daß bereits das Textverfahren, also ihre >Herstellungverstehen< wollen ein inadaequater Zugangsversuch bleiben muß. Aber das wäre eher ein Meta-Problem der Hermeneutik und damit ein anderes. »L'accusation d'obscurite lancie contre une telle esthdtique par des lecteurs ä bätons rompus n'a rien qui puisse surprendre« (Le symbolisme, in: Le Figaro, 18.9.1886, zit. nach Bonnet Mitchell, Les manifestes littiraires de la belle öpoque 1886-1914. Anthologie critique, Paris 1966, S. 29). »Ces littiratures non plus n'ont pas de lendemain. Elles aboutissent ä des alterations de vocabulaires, ä des subtilitis de mots qui rendront ce style inintelligible aux genirations ä venir. Dans cinquante ans, la langue des fröres Goncourt, par exemple, ne sera comprise que des späcialistes« (Paul Bourget, Essais de Psychologie contemporaine, Tome premier, Edition difinitive augment6e d'appendices, Paris 1920, S. 22f.) - Den für diesen Kontext wichtigen Zusammenhang mit Nietzsche hat ausführlich Elrud Kunne-Ibsch untersucht: Die Stellung Nietzsches in der Entwicklung der modernen Literaturwissenschaft, Tübingen 1972 (Studien zur deutschen Literatur 33); zum Verhältnis Nietzsche/Bourget vgl. bes. S. 196 ff.

So stehen die Wissenschaften zugleich auch vor der Tatsache, daß die Fakten sich in nie dagewesener Weise relativieren. Ihre positivistische Häufung und Isolierung also wird zur Voraussetzung der historistischen Relativierung. Die Geschichtswissenschaften, die gerade erst entstehenden Wissenschaften überhaupt, erreichen folglich zugleich, was sie keineswegs wollend Entsprechendes gilt nun interessanterweise bereits für die Befunde in der zeitgenössischen Literatur, erst recht aber für Texte der nachfolgenden Jahrzehnte. Dabei ist zunächst namentlich an den historischen Roman zu denken: Er nimmt insofern am Diskurs des Historismus teil, als er geschichtliche Gegenstände nur unter Berücksichtigung der Ergebnisse historischer Forschung, aber auch geschichtswissenschaftlicher Methodik verhandeln kann. Sein literarisches Textverfahren kann darum geradezu als Ergebnis einer Transformation des historistischen Positivismus begriffen werden. Dennoch - aus diesem Grund ist von der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Diskurs zu sprechen und nicht von Abhängigkeit oder Übernahme läßt sich nicht ohne weiteres ein Datum fixieren, zu dem aus einem Problem der Geschichtswissenschaft eines der Literatur wird. Der Favorisierung der Fakten in historischer Forschung korrespondiert die Autonomie der Lexeme im historischen Roman - in der Literatur aber führt das damit initiierte Verfahren zu Konsequenzen, die die methodischen Begrenzungen des Positivismus auf unabsehbare Weise sprengen. Da es sich um ein Phänomen von Interdiskursivität handelt, kann es andererseits nicht verwundern, daß das Problem in systematischer Schärfe bereits im frühen Historismus, etwa von den deutschen Kritikern der historischen Romane Walter Scotts formuliert wird. Willibald Alexis befindet

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Es ist nach diesen Voraussetzungen nicht verwunderlich, daß die Zeit zugleich mit diesen Entwicklungen auch eine eigene Sprachkritik ausbildet, die schließlich bei de Saussure et alii folgerichtig zur modernen Sprachtheorie wird (und die hier nicht weiter verfolgt werden kann). Sie leitet sich allerdings keineswegs aus einem abstrakten Bedürfnis nach Sprachkritik her, sondern resultiert aus der konkreten Erfahrung mit Sprache, die schon Nietzsche, bei dem sie beginnt, mit seinem bezeichnenden Satz aus dem Fall Wagner von 1888 von der »Anarchie der Atome« formuliert: die literarische Dicadence sei dadurch gekennzeichnet, »dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus« (Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, in: F.N., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., Hg. G. Colli/M. Montinari, Bd. 6, München 1980, S. 27). - Von Nietzsche (vgl. auch seine spezifisch sprachkritische Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873) führt der allerdings keineswegs gradlinige Weg zum Chandosbrief Hofmannsthals, zu den entsprechenden Äußerungen in Rilkes Malte und Musils Törleß oder auch - in anderer Weise - zur Sprachskepsis von Karl Kraus. Natürlich werden analoge Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit einer adäquaten Sprache auch in der zeitgenössischen (analytischen) Philosophie - Frege, Russell, der frühe Wittgenstein - gestellt. Ziel dieser Diskussion ist freilich vorerst, das sprachliche Repräsentationssystem zu verdeutlichen. Erst der an Mauthner anschließende späte Wittgenstein stellt das Repräsentationsmodell selbst radikal in Frage.

5

1823 kurzerhand, daß »die Geschichte [...] die größte Dichtung« sei, und daß, wer an ihr »künsteln« wolle, »zu Schanden« werden müsse.17 Damit ist die historische Imagination der Dichter grundsätzlich auf die Faktographie des Geschichtstextes verpflichtet. Hermann Kurz notiert die Konsequenzen dieser Selbstverpflichtung genauer, wenn er gut zwanzig Jahre später in der Vorrede zu seinem Sonnenwirt von den historischen Quellen als den »urkundlichen Zeilen« spricht, die geradezu eine Kette darstellten, mit der Dichtung und Geschichte aneinander gefesselt seien. Es gehe schlechterdings um »die Einheit von Dichtung und Geschichte«, denn nur in ihr realisiere sich die »wahre historische Poesie«.18 Diese Einheit, läßt sich folgern, ist nur dann zu bewahren, wenn sie sozusagen Zeile für Zeile immer neu hergestellt und beglaubigt wird. Dadurch kommt es zwangsläufig zu einer Heteronomie des poetischen Textes, in der die Entlehnung aus dem urkundlich Belegten den einzelnen Lexemen ein eigenes Recht - oder: Autonomie - verleiht. Die Konsequenzen, die sich daraus für die Kohärenz der literarischen Repräsentation ergeben, lassen sich am Beispiel des historischen Romans ausgezeichnet verfolgen - an den Nachfolgern Scotts (Alexis), an den literarischen Vertretern eines historistischen Positivismus (Dahn, Ebers; mit Einschränkung Scheffel), erst recht an Modellen eines geschichtskritischen historischen Erzählens, wie sie Fontane oder Raabe vorlegen. Der historische Roman stellt von daher ein Paradigma des so verstandenen Historismus dar: obwohl er, als ein Ensemble literarischer Verfahren, nur im Hinblick auf den Historismus der Geschichtswissenschaft begriffen werden kann, zeigen sich im historischen Roman Text-Effekte, die nicht kausal aus diesen diskursiven Voraussetzungen abgeleitet werden können. Das heißt: Die historistische Lexemautonomie präformiert die literarische Moderne. - Aber die These wäre gründlich mißverstanden, legte man sie dahingehend aus, die Einzelfakten der positivistischen Geschichtswissenschaft seien dasselbe wie die autonomen Lexeme in der Literatur, und die literarische Moderne könne darum genetisch aus historistischen oder posi-

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Willibald Alexis, The Romances of Walter Scott. - Romane vom Walter Scott, in: Wiener Jahrbücher der Literatur, Bd. 22/1823, S. 1-75, hier: S. 12. - Zit. nach Eberhard Lämmert et al. (Hg.), Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 16201880, Köln/Berlin 1971, S. 270. - Alexis gilt zurecht nicht nur als frühester Vertreter des historischen Romans in Deutschland, sondern auch als derjenige, der dessen internationalen Zusammenhang hergestellt hat, indem er sich nach Goethe als erster mit Scott beschäftigte. - Vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von Hartmut Steinecke, Romantheorie und Romankritik in Deutschland, 2 Bde., Stuttgart 1976 und Hartmut Eggert, Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850-1875, Frankfurt 1971 (Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts 14). Vgl. Kapitel I 2: Historismus und Realismus im historischen Roman. Hermann Kurz, [Vorrede zu] Der Sonnenwirth, in: Morgenblatt für gebildete Leser vom 18. Februar 1846, S. 165f.; zit. nach Eberhard Lämmert (Hg.), Romantheorie, S. 314.

tivistischen Praktiken abgeleitet werden. Vielmehr ergeben sich - gerade weil hier eine prinzipielle Differenz besteht - für die Literatur des 19. Jahrhunderts konzeptuelle Probleme; und auf diese Probleme wird mit Verfahren der Darstellung geantwortet, die auf die Moderne vorausweisen. Erst für die Literatur der Jahrhundertwende stellt Lexemautonomie dann tatsächlich den allgemeinen, alle Epochengrenzen übergreifenden Befund dar, und dieser Befund ist begründet in einem generellen, nicht auf Geschichtswissenschaft oder Positivismus begrenzbaren Historismus. Von diesem Historismus und seinen technischen Korrelaten in der Literatur ist im folgenden die Rede. Der historische Roman stellt ein Paradigma für die Voraussetzungen dieses Phänomens dar, aber gewiß nicht das einzige. Vielmehr ist bezeichnend, daß zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch die populäre Wissenschaftsprosa ein Medium bereitstellt, in dem der positivistische Historismus originäre literarische Effekte zeitigt. Die Literarisierungstendenz der wissenschaftlichen Texte angesichts des breiteren Publikums, das unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung des szientifischen Anspruchs die populärwissenschaftliche Darbietung erzwingt, ist unverkennbar. Nimmt man nur einige der bekanntesten Autoren wie etwa Alfred Brehm, Ernst Haeckel, Virchow, Gregorovius, Ludwig Büchner oder Wilhelm Bölsche, so zeigt sich, daß jeder von ihnen in seiner Weise mühelos zum Zeugen für ein der Lexemautonomisierung in den historischen Wissenschaften analoges Verfahren angerufen werden kann.19 Und zwar gilt das trotz aller Unterschiedlichkeit, die sich aus dem anderen Charakter des wissenschaftlichen, zumal naturwissenschaftlichen Gegenstandes ergibt. Das wird alles in allem nun allerdings auch nicht sehr verwundern. Denn daß die Wissenschaftsprosa einer in den Geschichtswissenschaften entwickelten Darstellungstechnik unbesehener folgt als das etwa für den Roman angenommen oder auch nur erwartet werden kann, scheint plausibel. Diese beiden Phänomene - historischer Roman und populäre Wissenschaftsprosa - bezeichnen den historischen Ort, an dem das systematisch formulierte Problem manifest wird. Entsprechend provozieren nach dem Rekurs auf die Genese der Problematik die so beschriebenen Voraussetzungen die Darlegung dessen, was aus ihnen für die Bestimmung der Literatur der Moderne folgt. Hat die Literatur solche Verfahren einmal erprobt, so bilden sie sich in der Folgezeit ganz offensichtlich wie von selbst weiter aus: zunächst in Naturalismus und Decadence, sodann im Impressionismus und dem, was an Ismen folgen mag. Etwas prononciert ließe sich formulieren, daß hier die Epochen in Verfahren umfunktioniert werden. Der seit dem Spätrealis-

19

Vgl. Kapitel I 3: Populäre Wissenschaftsprosa und Lexemautonomie.

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mus unübersehbar werdende Detailrealismus, der in den des Naturalismus mündet und sich in der Decadenceliteratur fortsetzt, meint - das ist Teil der These - nicht mehr die darin abgebildeten Gegenstände, sondern allein das Verfahren seiner Abbildung. Die damit sozusagen beiläufig in Erscheinung tretende Aufhebung der Epochen und Epochengrenzen ist zwar ein Nebenergebnis unserer Untersuchung, aber ein willkommenes. Nicht wegen eines eher fragwürdigen Revisionismus, der die Epochen abschaffen möchte. Vielmehr beantwortet die These zugleich auch die Frage nach dem Gewinn und den Konsequenzen des Ganzen für die Literaturwissenschaft. Wenn es sich hier um das der Literatur der Moderne inhärente Prinzip der Textgenerierung überhaupt handelt, dann stellt dieses Verfahren tatsächlich literaturwissenschaftlich gesehen »gleichsam ex negativo - die Einheit der modernen Literatur« her.20 Tatsächlich bestimmt die Vernachlässigung inhaltlicher Vorgehensweisen zugunsten einer des Verfahrens generell die Physiognomie moderner Texte. Die seitenlangen Aufzählungen >bedeuten< nicht, sind keine Inhalte oder doch als solche nicht wichtig; sie bilden vielmehr den Vorgang des Aufzählens, den von Katalog und Detailanhäufung selbst ab. Die These lautet, daß die zunehmende Verselbständigung der Lexeme, die spätestens seit dem Naturalismus über die Decadence bis zum Impressionismus zu beobachten ist, gegenüber jeglicher Epocheneinteilung das übergeordnete Verfahren ist. Es ist gerade nicht an bestimmte Ausprägungen oder Programme bestimmter literarischer Epochen gebunden, sondern bestimmt sie alle gleichermaßen und generell. Was dafür im einzelnen exemplarisch ist, liegt nur scheinbar weit auseinander, fügt sich vielmehr unter jenem übergeordneten Begriff des >Verfahrens< einer plausiblen Erkenntnis: Lyrik,21 dekorative Texturen,22 Prosa23 oder Spieltexturen.24 Es bleibt also keineswegs bei den gängigen Exempeln der Literatur wie Lyrik oder Prosa. Vielmehr gehören auch performative Momente, d.h. solche der Präsentation dazu: Buchschmuck, Typographie oder überhaupt Schrift. Denn solche Fokussierung auf das Material literarischer Produktion trägt ä la longue ganz offensichtlich »zu ihrer semantischen Entwertung« 25 im Sinne der Autonomisierung der Lexeme bei; ja man kann gerade auch hier von unharmonischer Verwechslung< sprechen. Ähnliches gilt für Erscheinungen (die sich zunächst eher als Grenzbereiche darstellen mögen) wie Groteske, Parodie und Spieltextur. Sie sind zusammenfassend am ehesten unter diesem letzten Begriff zu bestim-

20 21 22 23 24 25

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel

II II II II II II

5: 5: 3: 4: 6: 3:

Die Textur der modernen Lyrik, S. 231. Die Textur der modernen Lyrik. Dekorative Texturen. Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa. Spieltexte und Spieltexturen. Dekorative Texturen, S. 178.

men, einerseits gegen jene konstatierten Lexemautonomien abzugrenzen und andererseits mit ihnen zusammenzubringen. Solche und andere Themenkomplexe skizzieren die Breite des Spektrums in genügendem Maße, führen aber in der Konsequenz ihrer Abhandlung wiederum zu Restrukturierungsversuchen. Die zeigen sich ζ. B. in der Fortführung des Erzählens in die Gegenwart, in enzyklopädistischer und essayistischer Verlautbarung oder im frühen Film; in Darbietungsformen und Gattungen also, deren Produzenten unter den beschriebenen, völlig gewandelten Voraussetzungen arbeiten und folglich auch entsprechende Ergebnisse zeitigen. Es ist also kaum verwunderlich, daß die Erzählprosa experimentell und abstrakt wird, daß der Essay als Gattung in den Mittelpunkt des philosophischen und ästhetischen Interesses rückt (Lukäcs, Bense, Adorno), daß andererseits der frühe Film (aber nicht nur dieser) schon in der Stoffwahl historistisch konditioniert erscheint (Griffith, Eisenstein usw.). Dieses Buch ist aus einem Forschungsvorhaben erwachsen, das über einige Jahre zwischen einer Projektgruppe des Deutschen Seminars der Universität Tübingen und einer Gruppe von französischen Wissenschaftlern an der Maison des Sciences de l'Homme in Paris betrieben worden ist. Es ging um wechselnde Fragestellungen aus dem Horizont Moderne/Postmodeme und Literatur. Auf französischer Seite waren - unter der Federführung von Gerard Raulet - insbesondere Hildegard Chatellier (Strasbourg), Maurice Gode (Montpellier), Gilbert Merlio (Bordeaux/Paris) und Jacques Le Rider (Paris/Wien) an den regelmäßigen Arbeitstagungen beteiligt; auf deutscher Seite - unter der Leitung von Gotthart Wunberg - außer den Beiträgern dieses Bandes besonders Stephan Dietrich, Roland Kamzelak, Ralf Mennekes, Manuela Olsson, Burkhard Schäfer und Ines Steiner. Sie alle haben - jeder auf seine Weise und neben zahlreichen Gästen und Referenten aus dem Inund Ausland - die Diskussionen mitgetragen und mitgefördert. 26 Ihnen allen gilt der Dank der Autoren dieses Bandes; auch wenn verständlicherweise einzelne Anteile nicht mehr oder kaum noch ausgemacht werden können. Das betrifft im übrigen auch, ja in besonderem Maße die hier vorgelegten Einzelbeiträge selbst. Die sollten so eigentlich gar nicht bezeichnet werden; denn sie sind aus intensiver gemeinsamer Arbeit, zahllosen Gesprächen und Diskussionen entstanden und sind durch Gegenlesen von Vortrage- und Druckmanuskripten über Jahre geprägt. Jeder verdankt hier jedem so sehr Einsichten, Denkanstöße, Korrekturen, genug ehrliche Kritik

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Die Ergebnisse sind ζ. T. veröffentlicht oder werden in Kürze erscheinen. Vgl. Jacques Le Rider/Girard Raulet (Hg.), Verabschiedung der (Post-)Modeme? Eine interdisziplinäre Debatte, Tübingen 1987 (Deutsche TextBibliothek 7). - Christoph Brecht/Wolfgang Fink (Hg.), Unvollständig, krank und halb? Zur Archäologie moderner Identität, Bielefeld 1996.

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- überhaupt: Offenheit im gegenseitigen Umgang, daß bei aller pragmatischen Arbeitsteilung so etwas wie >Urheberrechte< nicht auszumachen wären, auch wenn man es wollte. Die dennoch aus Praktikabilitätsgründen notwendig gewesene Aufteilung ist eben eine Arbeitsteilung; sie bezieht sich so gut wie ausschließlich auf die Übernahme der endgültigen Formulierung gemeinsam vorab sanktionierter Inhalte. Und selbst die ist noch in gemeinschaftlichen Redaktionen intensiv besprochen und gegebenenfalls überarbeitet worden. Die Verantwortung für die Untersuchung insgesamt jedenfalls übernehmen die Autoren gern gemeinsam.27 Die Konzeption dieses Bandes bringt es mit sich, daß der Umgang mit Primär- und Sekundärliteratur im folgenden rein exemplarischen Charakter hat. Die Auswahl der ausführlicher behandelten Primärliteratur ergibt sich zumeist pragmatisch aus den Vorarbeiten im Projekt - sie ist weder umfassend noch etwa als Entwurf eines alternativen Kanons gemeint. Einige grundlegende Texte (darunter Nietzsche: Der Fall Wagner, Flaubert: Bouvard et Pecuchet, Huysmans: Λ Rebours und Holz: Phantasus) kommen an verschiedenen Stellen dieses Buches zu Wort, jedoch unter immer neuen und unterschiedlichen systematischen Aspekten, die sich gegenseitig zu einem Gesamtbild ergänzen.28 Ein Autoren- und Werkregister soll helfen, diese Zusammenhänge zu erschließen. Erst recht gilt der Hinweis auf den exemplarischen Umgang für die Sekundärliteratur. Es konnte und sollte an keiner Stelle die monographische Forschung zu einzelnen Texten und Autoren auch nur annähernd vollständig repräsentiert werden; sie wird immer nur punktuell beigezogen, wo es der Verdeutlichung und Argumentation dienlich schien. All dies gilt in noch verstärktem Maße für die prospektiven Entwürfe im Teil III: hier werden Perspektiven angedeutet, die sich aus der These des Buches ergeben. Keiner dieser Beiträge beansprucht Vollständigkeit und Abgeschlossenheit.

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Sie verteilt sich für die einzelnen Kapitel auf die Autoren wie folgt: Moritz Baßler: II 2: Historistischer und rhetorischer Katalog; II 4: Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa; II 5: Die Textur der modernen Lyrik; III 1: Erzählen. - Christoph Brecht: I 2: Historismus und Realismus im historischen Roman; III 2: Essayismus; III 3: Enzyklopädie; III 4: Film (gemeinsam mit Ines Steiner). - Dirk Niefanger. I 1: Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs; II 3: Dekorative Texturen; II 6: Spieltexte und Spieltexturen. - Gotthart Wunberg: Einführung; II 1: Naturalismus und Decadence als Verfahren. Primärtexte werden, wo möglich und vertretbar, (auch) nach leicht greifbaren Ausgaben zitiert. Damit soll u. a. dem Manko begegnet werden, daß aus Raumgründen der Untersuchung nicht, wie ursprünglich vorgesehen, auch ein Textteil beigegeben werden konnte.

Wie gesagt: das hier vorgelegte Buch formuliert Fragen, indem es Beobachtungen mitteilt; Beobachtungen, die erklären sollen, wie es zu dem auffallenden und nicht zu übersehenden Faktum kommen konnte, daß moderne Literatur unverständlich ist; wo die Gründe dafür zu suchen sind und was deren genauere Bestimmung dennoch zum Verständnis wenigstens ihrer Unverständlichkeit beitragen kann. Das ruft zu Widerspruch und weiterer Beschäftigung gleichermaßen auf; möge es so sein.

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I

TEXTVERFAHREN IM HISTORISMUS

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Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs

Historismus bezeichnet ein das Leben bestimmendes Verhältnis zur geschichtlichen Vergangenheit, genauer: die dominierende Bedeutung der Geschichte für die jeweilige Gegenwart. Eine eindeutige semantische Klärung über diese Bestimmung hinaus bereitet Schwierigkeiten. Denn: »Historismus ist ein umstrittener Begriff.«1 Dieser an den Anfang der jüngsten >HistorismusHistorik< erstmals umfassend dargestellt hat.9 Das Zusammenspiel von systematisch erfaßtem Quellenbefund (Heuristik) und genauer Quellenlektüre (Kritik) soll durch ein intuitiv gesteuertes Interpretieren des geschichtlichen Geschehens (Hermeneutik) ergänzt werden. Droysen sieht wie Ranke dabei sehr wohl, daß das erkennende Subjekt im Grunde der Ort verdunkelnder Interferenzen ist. Er insistiert auf der Einsicht, »daß auch der Inhalt unsers Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist«.10 Rankes Folgerung aus dieser Erkenntnis führt bekanntlich für den Historismus als Wissenschaft zum fatalen Glauben an eine dennoch mögliche >objektive< Erkenntnis der Geschichte: »Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen.«11 Während Droysen den vermeintlichen Schwachpunkt der Geschichtsanalyse methodisch aufzufangen sucht, verschließt der später an Rankes Sentenzen orientierte >positivistische< Historismus die Augen vor seinem zentralen Problem. Die harsche Historismus-Kritik, die Ende des 19. Jahrhunderts mit Nietzsche, Marx und Dilthey beginnt, setzt genau hier an. Weber, Troeltsch und Heussi führen sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts fort. Als dritter zentraler Aspekt des wissenschaftlichen Historismus kann die historische Ideenlehre bestimmt werden. Durch eigene, im Kontext des Historismus freilich eher vage explizierte Ideen geleitet, »entziffert« der Forscher seine Quellen »als Sinnsprache eines in ihnen manifesten Geistes«.12 Seine Interessen bestimmen also einerseits Auswahl, Lesart und Kontext der historischen Gegenstände, andererseits machen die in den Quellen entdeckten

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Leopold v. Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, hg. v. Horst Michael, Wien/ Hamburg/Zürich o. J. [1928] (Historische Meisterwerke, hg. v. Adolf Meyer et al.), S. 133f. Vgl. Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, München 1937 (ND 1977). Johann Gustav Droysen, Historik, S. 399. Leopold v. Ranke, Englische Geschichte vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert, hg. v. Horst Michael, Wien/Hamburg/Zürich o. J. [1928] (Historische Meisterwerke, hg. v. Adolf Meyer et al.), Bd. 1 (5. Buch), S. 425; vgl. dazu: Otto Gerhard Oexle, »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in: Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 1986, S. 131. Horst Walter Blanke, Historismus als Wissenschaftsparadigma. Einheit und Mannigfaltigkeit, in: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaft und Nation. Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991, S. 224.

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Ideen »den Sinn und die Bedeutung vergangenen menschlichen Tuns und Leidens für die eigene Gegenwart aus.«13 Innerhalb der wissenschaftstheoretischen Historismus-Diskussion wird der Fortschrittsgedanke, den Ranke mit seinem oben zitierten Individualitäts-Credo verbindet, zwar keineswegs ausgeklammert, doch nur ungern auf die ideologischen Implikationen dieser historistischen Ideenlehre bezogen. Geschichtliche Entwicklung scheint Ranke nämlich durchaus teleologisch zu begreifen. »Fortschritt« äußere sich eben darin, daß sich bestimmte »große Tendenzen«14 in den Epochen der Menschheitsgeschichte durchsetzen und andere verdrängen. Auch wenn Rüsen betont, die Formulierungen Rankes würden zeigen, »daß der Historismus die Fortschrittskonzeption der Aufklärung nicht« verwerfe, »sondern in eine erweiterte, die Eigenwertigkeit vergangener Kulturschöpfungen in sich fassenden« Konzeption »aufgehoben«15 habe, bleibt ein gewisser Widerspruch zwischen dem historistischen Individualitätsdenken und der teleologisch angelegten Ideenlehre bestehen. Ein vierter Aspekt ergibt sich aus der Ideenlehre: Die historistische Geschichtswissenschaft hat zumindest im 19. Jahrhundert eine tendenziell chauvinistische, staatslegitimierende Ausrichtung. Bezugsgrößen der Forschung sind Nation und Staat, weil sich auf diese einheitlich scheinenden und durch einschlägige Quellen in der Regel gut erfaßten Institutionen die Ideen problemlos beziehen lassen. So motiviert also trotz allem die deutlich herausgestellte vorgebliche Wertfreiheit und sachliche Neutralität eine politische Lesart; historistische Forschung erhält im Nationalstaat politische Funktionen: insbesondere als rhetorisch subtil formulierte »Sprache politischer Interessen und Einstellungen, als außerordentlich wichtiger Faktor der politischen Kultur«16. Dieser dominierende konservative Bezug auf Nation und Staat, der durch die am Vergangenen orientierte Ausrichtung schillernd wird, hat in der Moderne vielfach die sachliche Diskussion der historistischen Methodik zugunsten einer Polemik gegen die implizite Ideologie historistischer Praxis verschoben. Die Historikerschule um Jörn Rüsen betont mit den genannten vier Aspekten (Individualität der Ereignisse, Forschungsregeln, Ideenlehre, nationale Ausrichtung) den abgeschlossenen Charakter historistischer Wissenschaftlichkeit. Der Historismus ist für sie ein selbst historisch bestimmbares Phänomen der Geschichtswissenschaft und vor allem wissenschaftstheoretisch von Belang. Vorreiter und wichtigster Gewährsmann eines in dieser Weise verengten, historisierenden Historismus-Begriffs ist zweifellos Friedrich Meinecke. Seine Anbindung des Historismus an idealistische Vorstel-

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Horst Walter Blanke, Historismus als Wissenschaftsparadigma, S. 224. Leopold v. Ranke, Über die Epochen, S. 133. Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 109. Friedrich Jaeger/Jöm Rüsen, Geschichte des Historismus, S. 9.

hingen (Goethe, Humboldt, Ranke) klammert die positivistischen Varianten des Historismus, seine internationale und interdisziplinäre Verflechtung, die Kritik des späten 19. Jahrhunderts und seine ästhetische Praxis weitgehend aus. Eine zu deutliche Anlehnung an den Historismus-Begriff von Meinecke wird auch innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Diskussion immer wieder in Frage gestellt: in den 20er Jahren schon von Hintze oder Heussi, dann von Eucken oder Gadamer, zuletzt von Wittkau oder Oexle. Für eine breite Diskussion des Historismus ist seine geschichtswissenschaftliche Einengung jedenfalls fatal: »Der Historismus verlor dadurch seine Qualität als ein konstitutives Phänomen der Moderne.«17

Positivismus und Relativismus Der enge Historismus-Begriff bleibt im Grunde allein für die interne wissenschaftsgeschichtliche Forschung der historischen Kernfächer relevant. Mit ihm können allenfalls bestimmte Teildiskurse der historischen Methodenreflexion geführt werden. Ungeeignet erscheint er indes für die Beschreibung geistes- oder bewußtseinsgeschichtlicher Phänomene der Moderne. Geradezu unsinnig ist die durch die enge Anlehnung an Meinecke forcierte Ausgrenzung der breiten Historismus-Diskussionen in der Kunstgeschichte, der Musikgeschichte, den Philologien, der Ästhetik, der Philosophie, der Theologie, der Jurisprudenz und der Nationalökonomie. Angesichts dieser sehr fruchtbaren und bis heute breit geführten Diskussionen verblüfft das Beharren der Historikergruppe um Jörn Rüsen auf einem singulär geschichtswissenschaftlichen Historismus-Begriff; dies umso mehr, als die in Frage stehenden Phänomene sich strukturell im Grunde nicht wesentlich unterscheiden. Ganz im Gegenteil, ein erweiterter Historismus-Begriff, der sich zuerst einmal wieder auf die generellen Beobachtungen von Troeltsch besinnen müßte, wäre auch für die geschichtswissenschaftliche Diskussion eine Bereicherung. Zur Interdisziplinarität der Debatte einige kurze Hinweise: Die mit dem Aufkommen der Historischen Schulen in allen nicht-naturwissenschaftlichen Fächern der Universität seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufgeworfenen Methodenprobleme sind zwar unterschiedlich, die Denkmuster, die verhandelt werden, sind aber analog. Die Ablehnung von Naturgesetzen und überhistorischen - systematisch begründeten - Kategorien dient jeweils der Legitimation historischer, am Gebot der Wertfreiheit orientierter Forschung.

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Otto Gerhard Oexle, »Historismus«, S. 139.

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Diese Umorientierung von der allgemein geltenden Systematik zu historischen Einzeluntersuchungen bedingt eine Relativierung ästhetischer, juristischer, theologischer oder ökonomischer Aussagen.18 Das heißt konkret etwa: Gesetze sind nicht naturrechtlich, sondern bloß geschichtlich begründbar und haben deshalb nur vorübergehende Geltung. Nationalökonomische Modelle sollen nicht mehr künftige Entwicklungen prägen, sondern nur noch der deskriptiven Historik dienen; eine ökonomische Entwicklung ist also nicht mathematisch errechenbar, jedes Ereignis nur individuell begreifbar. Christus ist vor allem eine historische Gestalt, das Evangelium eine »Urkunde für eine wissenschaftlich hergestellte Biographie Jesu.«19 Die breite Diskussion des Relativismusproblems in den einzelnen Historischen Schulen ist gepaart mit extensiven positivistischen Forschungen20 nicht nur, aber vor allem auch auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften. Denn gerade die Biologie des 19. Jahrhunderts leistet - für die Geisteswissenschaften - positivistische Pionierarbeit, die über populäre Publikationen allgemein zugänglich wird und so nachhaltig das Bild szientifischen Denkens und Redens prägt21: Darwin, Haeckel und Mendel, aber auch de Vries und Sutton/Boveri stehen für eine gewissermaßen >historische< Orientierung auch in der Biologie. Der Zusammenhang von Positivismus und Relativismus wird heute auch von namhaften Historismus-Forschern betont.22 Er gehört seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert - außerhalb der engen geschichtswissenschaftlichen Diskussion - zur basalen Bestimmung eines als Moderne-Phänomen aufgefaßten Historismus. Bei Nietzsche und Dilthey (und später dann besonders bei Max Weber) hängt die Verknüpfung von Positivismus und Relativismus einerseits unmittelbar mit der Entfernung der Wissenschaft vom Leben und andererseits mit dem »Objektivitätsproblem«, also mit der »Frage nach den

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Wichtige Figuren sind: Friedrich Karl v. Savigny (Jurisprudenz), Martin Kähler (Theologie), Georg Gottfried Gervinus, Bernhard Suphan (Germanistik), Anton Westermann (Rhetorik), Hermann v. Helmholtz und vielleicht schon Johann Nikolaus Forkel (Musikwissenschaft), K.E.O. Fritsch, Gottfried Semper (Architektur). Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, 2. erw. Aufl. Leipzig 1896, S. 23, vgl. S. 120ff. Kähler polemisiert gegen diese Position mit dem Hinweis, es sei unmöglich, »quellenmäßige Einsicht in die Genesis des Messias Jesus zu gewinnen.« (S. VI). Vgl. auf dem Gebiet der Germanistik etwa die Weimarer Goethe-Ausgabe (1887-1919); dazu den Vorbericht von Bernhard Suphan. Vgl. Kapitel I 3: Populäre Wissenschaftsprosa und Lexemautonomie. Vgl. Otto Gerhard Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: Historische Zeitschrift 238 (1984), S. 22ff.; Annette Wittkau, Historismus; Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt 1983, S. 51ff.; Gfunter] Scholtz, Historismus, Historizismus, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974, Sp. 1141-1147; auch: Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 473-672.

Bedingungen und der Möglichkeit historischer Erkenntnis und nach der Art dieser Erkenntnis«23 zusammen. In seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben hat Nietzsche darauf aufmerksam gemacht, daß die Forderung nach Objektivität nicht nur einen lebensfernen Positivismus, sondern auch ein »Unbetheiligtsein«24 des Forschers am relativ gewordenen Gegenstand provoziere. Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst.25

Nietzsches Bild barbarischer Stoffhuberei wird fortan zur Ikone der kriseologischen Beschreibung des Historismus. Im Fall Wagner (Turiner Brief von 1888) wird dieser Historismus dann auch im Kontext moderner Ästhetik gesehen: sie steht im Zeichen der Spätzeit, des Alten, des Verbildeten, des Überreizten, kurz: des Dekadenten. Für die Literatur, für die »litterarische decadence« der Moderne wird der Historismus gar zum Hintergrund ihrer spezifischen Verfahren: In seinem Kontext wird »das Wort [...] souverain und springt aus dem Satz hinaus.«26 Die Krise des Historismus nimmt auch Dilthey wahr. Wie Nietzsche sieht er »das Messer [...] des historischen Relativismus, welches alle Metaphysik und Religion gleichsam zerschnitten hat.«27 Aber seine Analyse der Moderne erkennt, daß mit einer Ablehnung des historischen Relativismus nicht viel erreicht ist. Er denkt ihn weiter (»das Messer [...] muß auch die Heilung herbeiführen« 28 ), konfrontiert ihn mit philosophischer Kritik auf geistesgeschichtlicher Basis und - für den hier diskutierten Zusammenhang von besonderem Interesse - wie Nietzsche mit den Möglichkeiten der Kunst und Literatur im Zeichen des Historismus: Alles Feste ist schwankend geworden, eine schrankenlose Freiheit der Annahmen, das Spiel mit grenzenlosen Möglichkeiten lassen den Geist seine Souveränität genießen und geben ihm zugleich den Schmerz der Inhaltslosigkeit. Dieser Schmerz der Leere, dies Bewußtsein der Anarchie in allen tieferen Überzeugungen, diese Unsicherheit über die Werte

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Otto Gerhard Oexle, Von Nietzsche zu Max Weber. Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus, in: Rechtsgeschichte und Theoretische Dimension. Forschungsbeiträge eines rechtshistorischen Seminars in Stockholm im November 1986, Rättshistoriska Studier, Femtonde Bandet, Lund 1990, S. 97. Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York 1967 ff. (im folgenden zit. als Werke); III, Bd. 1, S. 289. Friedrich Nietzsche, Werke III, Bd. 1, S. 268; ähnlich schon: Ludwig Feuerbach, Über das Wunder, in: Sämtliche Werke, hg. v. Wilhelm Bolin/Friedrich Jodl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1903-1911, Bd. 7, S. 1. Friedrich Nietzsche, Werke VI, Bd. 3, S. 21. Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Leipzig/Berlin 1931 (= Gesammelte Schriften, Bd. 8), S. 232. Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre, S. 232.

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und Ziele des Lebens rufen verschiedene Versuche in Dichtung und Literatur hervor, die Fragen nach Wert und Ziel unseres Daseins zu beantworten.29

Der Zusammenhang von kriseologisch erlebter Beliebigkeit und emphatisch herausgestellter Souveränität,30 auf dem Dilthey hier beharrt, ist einer der zentralen Punkte eines ästhetisch verstandenen Historismus. Für Dilthey scheint der Zusammenhang von positivistischer Forschung und relativistischer Situation der Moderne insofern offenbar. In der Aufeinanderbeziehbarkeit dieser beiden Folgephänomene des Historismus sieht er Möglichkeiten, der Inhaltslosigkeit der Moderne eine adäquate künstlerische oder literarische Gestalt zu geben. Dabei ist kaum anzunehmen, daß Dilthey an eine neue Verbindlichkeit in diesen Bereichen denkt, eher wohl an eine Parallelerscheinung zu seiner neuen Philosophie, die ja gerade keine neuen Sinnangebote, sondern Deskriptionen bereitstellen soll.

Der erweiterte Historismus-Begriff Die Einbeziehung der Folgephänomene Positivismus und Relativismus und die Berücksichtigung der interdisziplinären Vernetzung der historistischen Problematik führt zu einem erweiterten Historismus-Begriff, der sinnvollerweise auch ästhetische Phänomene miteinbeziehen kann. Der so verstandene Historismus beruft sich auf die keineswegs bloß pejorativen Analysen von Nietzsche und Dilthey; er wird erstmals von Ernst Troeltsch umfassend dargestellt. Unter Historismus im weiteren Sinne wird also ein »konstitutives Phänomen der Moderne«31 verstanden, das zentrale Denk- und Vorstellungsweisen des 19. und 20. Jahrhunderts nachhaltig prägt. Die historistische Diskursformation hinterläßt insbesondere in den neu entstehenden Wissenschaften ihre Spuren; sie wirkt aber auch entscheidend auf die »ästhetische Praxis«32 des 19. Jahrhunderts und der beginnenden Klassischen Moderne,

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Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre, S. 198. Vgl. hierzu Friedrich Nietzsches decadence-Bestimmung (Werke VI, Bd. 3, S. 21). Zu literarischen Versuchen der Überwindung des Historismus vgl. Lothar Köhn, Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933, in: DVjs 48/1974, S. 704-766 u. DVjs 49/1975, S. 94-165. Die scheinbare »Souveränität des wissenschaftlichen Denkens« (Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre, S. 232) ist gemeint. Otto Gerhard Oexle, Von Nietzsche zu Max Weber, S. 119; vgl. Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus, S. 3; Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hg. v. Carl Hinrichs, München 1965, S. 1; vgl. auch: Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 473-672; Lothar Köhn, Überwindung des Historismus (1974), S. 750ff.; G[unter] Scholtz, Historismus, Historizismus, Sp.ll43f. Herwarth Röttgen, Historismus in der Malerei - Historismus in Italien, in: Ekkehard Mai/ Anke Repp-Eckert (Hg.), Historienmalerei in Europa. Paradigmen in Form, Funktion und

auf die Architektur, die bildende Kunst, die Literatur und die Musik. In dieser allgemeinen Fassung meint Historismus - so Troeltsch - eine tiefgreifende »Historisierung unseres Wissens und Denkens«, speziell »unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte.« Im so verstandenen Historismus wird »in allen kulturellen Feldern« 34 die »Geschichte zum Prinzip gemacht«.35 Dieses mit totalitärem Anspruch auftretende Denken führt in seinen Extremen im Bereich der Wissenschaft zu »sinnloser Stoffanhäufung und unausweichlichem Relativismus«,36 der allerdings »Teilausdruck der gesamten geistigen Situation«37 ist. Der begrifflichen Integration der Folgephänomene in einen erweiterten Historismus-Begriff, den Siegfried Kracauer hier vorschlägt, folgt auch Herbert Schnädelbach in seiner Unterscheidung dreier Historismus-Begriffe. Während mit Historismus3 der allgemeine, sich aus der Opposition zur vorgeblichen Rationalität der Aufklärung entwickelnde Bezug auf den stets historischen Charakter aller Kulturphänomene gemeint ist, bezeichnet der Historismust den - aus solchem Denken resultierenden - »Positivismus der Geisteswissenschaften: die wertfreie Stoffund Faktenhuberei ohne Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem.«38 Unter Historismus2 versteht Schnädelbach den - von Dilthey so benannten - historischen Relativismus, also eine Position, »die mit dem Hinweis auf das historische Bedingtsein und die Variabilität aller kulturellen Phänomene absolute Geltungsansprüche - seien sie wissenschaftlicher, normativer oder ästhetischer Art - zurückweist.«39 Wenn im folgenden ohne nähere Erläuterung und vereinfacht von >Historismus< gesprochen wird, werden im Sinne einer weiteren, auf kulturelle Phänomene der Moderne bezogenen Fassung des Begriffs seine Folgephänomene - der positivistische und der relativistische Historismus - mitgedacht. Das heißt aber nicht, daß jeder Historismus relativistisch oder positivistisch sei. Der so verwendete Begriff verweist vielmehr bloß auf den notwendigen diskursiven Zusammenhang, der zumindest seit Nietzsche und Dilthey besteht. Mit diesem erweiterten Gebrauch des Begriffs wird keineswegs eine aus seinem Bedeutungshof in den 20er Jahren ableitbare pejorati-

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Ideologie, Mainz 1990, S. 275; vgl. Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1980, S. 269. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (= Gesammelte Schriften, Bd. 3), Tübingen 1922, S. 9, S. 102. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 53. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 51. Siegfried Kracauer: Die Wissenschaftkrisis. Zu den grundsätzlichen Schriften Max Webers und Ernst Troeltschs [1923], in: Ornament der Masse. Essays, Frankfurt 1977, S. 197. Siegfried Kracauer, Die Wissenschaftskrisis, S. 198. Der grassierende »Wissenschaftshaß« des »besten Teils der heutigen akademischen Jugend« (S. 197) ist eine Folge, die Siegfried Kracauer 1923 konstatiert. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 51. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 51f.

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ve Färbung übernommen. Auch die relativistischen und positivistischen Varianten des Historismus sind hier völlig wertfrei bezeichnet.

Historische und historistische Verfahren Versteht man den Historismus als zentrale Diskursformation der Moderne, die seine positivistischen und relativistischen Varianten miteinschließt, kann auch der ästhetische Historismus in diesem Kontext diskutiert werden.40 Er ist eine ästhetische Kommunikationsform, dem ein Thesaurus verschiedener historischer und historistischer Ausdrucksmöglichkeiten und Gegenstände zur Verfügung steht. Der ästhetische Historismus kann also nicht nur auf Inhalte, Stoffe oder Gegenstände der Geschichte zurückgreifen, sondern auch auf Verfahren, auf historische und historistische. Historische Verfahren sind Kommunikationsformen, die so oder so ähnlich in historischen Dokumenten vorkommen; also altertümelnde Sprechweisen, historisch angelegte metrische Formen (>neue Nibelungenstrophewie es wirklich warbezeichnet< wird.41 Unter historistischen Verfahren können vornehmlich sprachliche, aber auch graphische Darstellungsweisen begriffen werden, die im Kontext der historistischen Wissenschaft - vornehmlich in ihrer positivistischen Ausprägung - angewendet werden. Diese finden sich zuerst im Bereich der Forschung, der populärwissenschaftlichen Prosa, der Historiographie oder der historistisch geprägten Lehrbücher. Zu nennen wären etwa wissenschaftliche Systematisierungstechniken, Anmerkungen und Fußnoten, Beschreibungs- und Aufzählungsverfahren, Kataloge, thetische Setzungen oder auch abstrahierende Strukturzeichnungen, Formeln oder Tabellen. Der Historismus bietet somit nicht nur den diskursiven Rahmen für historische Verfahren, sondern ermöglicht auch, daß im ästhetischen Bereich analoge historistische Verfahren praktiziert, bzw. solche imitiert oder gar >übernommen< werden 42

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Auf ästhetische Probleme des Historismus geht auch Jörn Rüsen ein - allerdings mit etwas anderem Ziel: vgl. Jörn Rüsen, Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begriindungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft, Stuttgart 1976, S. 88-95 (Kapitel »Historismus und Ästhetik«). Zu dieser Problematik vgl. Roland Barthes, Historie und ihr Diskurs, in: alternative 62/63 (1968), S. 171-180. Vgl. dazu Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916, Tübingen 1994, S. 177-179; auch: Gotthart Wunberg, Historismus, Lexemautonomie und Fin de sifecle, in: Arcadia 30/1995, S. 31-61.

Ästhetischer Historismus Vom ästhetischen Historismus43 kann in drei systematisch unterscheidbaren Fällen gesprochen werden, wobei sich die vorliegende Studie besonders mit dem dritten - literaturgeschichtlich interessantesten - Fall beschäftigen wird. Diese Unterscheidungen gelten mutatis mutandis auch für die bildende Kunst, die Architektur und zum Teil jedenfalls sogar für die Musik, werden an dieser Stelle aber nur mit Beispielen aus der Literatur erläutert.44 Es versteht sich von selbst, daß die unterschiedenen Typen - historiographischer, simulierender und technischer Historismus - >Idealformen< sind; in der Regel mischen sich die verschiedenen Varianten des ästhetischen Historismus. Unter dem Stichwort historiographischer Historismus kann eine Kunst gefaßt werden, die sich vornehmlich mit historischen Gegenständen befaßt. Sie versucht vergangene Zeiten gegenwärtig zu machen, indem sie historische Begebenheiten darstellt oder beschreibt. Diese Kunst ist als ästhetisches Pendant zur geschichtswissenschaftlichen Historiographie zu verstehen. Damit sei allerdings nicht gesagt, daß diese nicht ästhetisch erscheine; nein, gerade die Historiographie gehorcht mehr denn je den Prinzipien einer ästhetisch ausgerichteten Rhetorik. Heißt es doch bei Ranke: Die Historie unterscheidet sich dadurch von anderen Wissenschaften, daß sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt, findet, durchdringt; Kunst, indem sie das Gefundene, Erkannte wieder gestaltet, darstellt. Andre Wissenschaften begnügen sich, das Gefundene schlechthin als solches aufzuzeichnen: bei der Historie gehört das Vermögen der Wiederhervorbringung dazu.45

Nun bedeutet - anders als es Rüsen behauptet46 - die vorgebliche Ästhetisierung der Historiographie noch keine »Entrhetorisierung«;47 sie bedient sich nur einer etwas subtileren und - zugegeben - nicht mehr >klassischen< 43

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Zum Begriff vgl.: Hannelore und Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt 1975; Herwarth Röttgen, Historismus in der Malerei - Historismus in Italien, S. 297. Kurze Hinweise in: Dirk Niefanger, Historismus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Vgl. auch C[arl] D[ahlhaus], Historismus, in: Brockhaus. Riemann-Musiklexikon, hg. v. Carl Dahlhaus/Hans Heinrich Eggebrecht, Wiesbaden/Mainz 1978, S. 554 und Art. Historismus, in: Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst, hg. v. Wolf Stadler, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 31-33. Leopold von Ranke, Idee der Universalgeschichte, in: Aus Werk und Nachlass, hg. v. Walther Peter Fuchs/Theodor Schieder, München/Wien 1975, Bd. 4 (Vorlesungseinleitungen), S. 72. Vgl. u.a. Jörn Rüsen, Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke, in: Hartmut Eggert et al. (Hg.), Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 1-11; Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 64-69. Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 64.

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Redekunst. Die Textverfahren wandeln sich: aufklärerische Gesten der Erziehung und die schmückende Ornamentik traditioneller, emphatisch klingender elocutio werden durch Gesten der Wissenschaftlichkeit, der ornamentalen Enthaltsamkeit ersetzt, die natürlich nicht weniger rhetorisch sind.48 Ganz im Gegenteil: sie sind - jedenfalls im Zeichen eines allgemeinen Historismus - wirkungsvoller. Mit Dietrich Harth muß man sogar auf die im Grunde sehr alten rhetorischen Muster der modernen Historiographie verweisen.49 Methodische Reflexionen und sachgemäße Gliederungen bilden nun deutlicher das Netz der amplificatio als narrative Konstrukte. Die historische Narration wird zum eigentlichen Metier des historiographischen Historismus mit seiner großen literarischen Form, dem historischen Roman.50 Der Charakter der >narrativen< Texte im Historismus ist im Grunde nur aus der Nachbarschaft von Historiographie und Literatur zu verstehen; die erste liefert die >FaktenEreignisklassische< Geschichtsdrama zeichnet sich dadurch aus, daß der geschichtliche Prozeß zum historisch-dramatischen Moment verdichtet ist. Anders das Historische Drama des 19. Jahrhunderts: im Kontext des Historismus kann es auf narrative Elemente nicht verzichten. Sie implantieren die neu gewonnene Masse historischen Wissens in die hastige Szenenfolge dramatisierter Historie. Ein Beispiel des Dramas im Kontext des historiographischen Historismus wäre Ferdinand Lassalles sonst eher aus der Auseinandersetzung mit Karl Marx bekanntes Drama Franz von Sickingen (1858). Der Text selbst und vor allem seine Paratexte sind interessant genug, um skizzenhaft deutlich zu machen, worum es in dieser Ausprägung des ästhetischen Historismus geht. Lassalles Schauspiel versteht sich als ein »Literaturdrama«, das eine erweiterte und historisch ausführlichere Darstellung enthält als eine vorher veröffentlichte »Bühnenausgabe«; es ist so nicht zur Aufführung bestimmt, sondern dient ausdrücklich dazu, historisches Ge-

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Vgl. Leopold v. Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, S. 469 (Tagebuchblätter): »Man muß von der Erzählung gleichsam ihre Phraseologie abstreifen.« Vgl. Dietrich Harth, Historik und Poetik. Plädoyer für ein gespanntes Verhältnis, in: Eggert et al. (Hg.), Geschichte als Literatur, S. 12-23 und die Diskussion, S. 374-378; auch: D.H., Geschichtsschreibung und Dirk Niefanger, Historismus, beide Artikel in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Ranke beruft sich immerhin im unmittelbaren Kontext des obigen Zitats ausdrücklich auf Quintilians Standardwerk Institutio oratoria (vgl. Leopold v. Ranke, Idee der Universaigschichte, S. 73). Vgl. dazu Kapitel I 2: Historismus und Realismus im historischen Roman, sowie Bettina Hey'l, Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik, Tübingen 1994, insbesondere S. 38-55.

schehen möglichst genau, möglichst plausibel darzustellen und wichtige Momente der Geschichte literarisch zu würdigen. Als »Literaturdrama« enthält es typische Elemente des historischen Romans: ζ. B. eine - wie Lassalle selbst sagt - »an einen epischen Ton hinstreifende Schilderung des Lebens Huttens sowie des Reuchlinschen Streits.«51 Das Vorwort hebt dann auch mit einer kleinen historischen Forschungsdiskussion an. Recht selbstbewußt ist da die Rede von Ereignissen, die »im allgemeinen auch von den Geschichtsforschern mehr oder weniger richtig« gesehen werden, von »Beweisen« und von Argumentationen »auf echt wissenschaftlicher Basis«52 wird dort gesprochen; ganz unüblich für ein Vorwort, aber typisch für den Historismus ist die extensive Verwendung von Anmerkungen, Quellenzitaten und -angaben. Lassalles Beschreibung seines Dramentyps kann als Programm des historistischen Schauspiels gelesen werden: Ziel der Tragödie sei nicht mehr die Darstellung von individuellen Schicksalen, sondern von »großen kultur-historischen Prozesse[n] der Zeiten und Völker, zumal des eigenen.«53 Diese eigentlich undramatische, nationalgeschichtliche Ausrichtung paart Lassalle mit einer linkshegelianisch geprägten Variation der historistischen Ideenlehre, die verlangt, daß ein besonderes Interesse den »großen Kulturgedanken«, den »kämpfenden Gegensätze[n] des allgemeinen Geistes« gilt. Es versteht sich von selbst, daß das Historische Drama wie die historistische Historiographie dem Ideal der perspicuitas zu folgen hat: Die historische Entwicklung soll »in vollständiger Klarheit dramatisch entfaltet und gestaltet« werden. Folgerichtig ist, daß Lassalle in seinem Drama die Quellen selber reden läßt »wo dies tunlich war.« Er habe »Huttens Reden mit seinen eigenen fast unveränderten Worten wiederzugeben«54 versucht, es allerdings für überflüssig gehalten, »solche Stellen durch Druck oder Noten kenntlich zu machen«. Der »in der Literatur jener Zeit Bewanderte« könne sie schon »selbst herausfinden«;55 außerdem würde eine Hervorhebung nur den poetischen Genuß stören. Durchaus typisch für den historiographischen Historismus ist Lassalles Ablehnung einer »schlechte[n] Partikularistik, die in modernster Zeit in unserer Kunst überwuchert«.56 Eine ähnliche Ablehnung >moderner< Schreibweisen findet sich auch in Ludwig Uhlands historischer Ballade Graf Eberhard der Rauschebart aus dem Jahre 1815, die in die Frühphase des Historismus einzuordnen wäre. Die Ballade besteht aus insgesamt 74 Strophen, in denen in aller Ausführ-

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Alle Zitate: Ferdinand Lassalle, Franz von Sickingen. Eine historische Tragödie, Stuttgart 1974; S. 7 (Vorwort). Ferdinand Lassalle, Franz von Sickingen, S. 8f. Ferdinand Lassalle, Franz von Sickingen, S. 13. Alle Zitate: Ferdinand Lassalle, Franz von Sickingen, S. 14. Ferdinand Lassalle, Franz von Sickingen, S. 15. Ferdinand Lassalle, Franz von Sickingen, S. 14.

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lichkeit das späte Leben und blutige Kämpfen des schwäbischen Grafen farbenfroh geschildert wird. Dieser >epische< Charakter der historischen Ballade, insbesondere ihre streng biographische Orientierung unterscheidet sie von anderen, auf einzelne Ereignisse novellistisch zugespitzen Balladentypen (Schauerballade, didaktische Ballade etc.). Für den hier diskutierten Zusammenhang sind die ersten drei Strophen der Uhland-Ballade relevant; sie enthalten nicht nur eine Exposition, in der der Held vorgestellt wird, sondern sind auch als eine Art poesiologisches Vorwort lesbar. Ist denn im Schwabenlande verschollen aller Sang, Wo einst so hell vom Staufen die Ritterharfe klang? Und wenn er nicht verschollen, warum vergißt er ganz Der tapfem Väter Taten, der alten Waffen Glanz? Man lispelt leichte Liedchen, man spitzt manch Sinngedicht, Man höhnt die holden Frauen, des alten Liedes Licht; Wo rüstig Heldenleben längst auf Beschwörung lauscht, Da trippelt man vorüber und schauert, wenn es rauscht. Brich denn aus deinem Sarge, steig aus dem düstern Chor Mit deinem Heldensohne, du Rauschebart, hervor! Du schlugst dich unverwüstlich noch greise Jahr' entlang, Brich auch durch unsre Zeiten mit hellem Schwertesklang!57

Das Lied ist zur historischen Erinnerung geschrieben, die erzählte Historie steht im Zentrum. Es dient aber auch, wie die Epen der Staufischen Klassik, auf die implizit verwiesen wird, der Heldenverehrung; so sieht es jedenfalls der Mittelalter-Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts.58 Die Helden sind die Signaturen geschichtlicher Präsenz, präzise Daten und soziale Zusammenhänge aber weniger wichtig. Hier unterscheidet sich die historische Ballade vom Drama und Roman. Die Referenzen der Ballade auf Wappen, Beinamen und Insignien des Helden und anderer Protagonisten ersetzen als identifizierbare Zeichen historischer Überlieferung detaillierte Quellenangaben oder Abbildungen. Das >alte Liedneue Nibelungenstrophehell< sichtbar werdenden, d. h. >authentischen< Mittelalter. Die poesiologisch verstehbaren Anfangsstrophen der Ballade enthalten insofern das pathetische Credo des historiographischen Historismus: Er macht Geschichte in historischen Bildern begreifbar, so daß nicht nur die dieser Geschichte inhärenten Ideen sichtbar werden, sondern auch die >dunklen< Ereignisse der Vergangenheit mit hellsichtigem Blick geweitet werden können. Als simulierender Historismus wäre eine Kunst zu begreifen, die ältere Verfahren nachzuahmen sucht und dadurch, besonders im Zeichen des relativistischen Historismus, möglichst rein und ursprünglich Vergangenes erlebbar machen will. Simulation ist hier vom Begriff >Mimesis< zu unterscheiden: die simulierende Literatur orientiert sich an der Oberfläche des Als-ob, die Mimesis, zumindest in der klassischen Ästhetik, auf die sich die Literatur des 19. Jahrhunderts immer implizit bezieht, am wahren Gehalt des Gegenstandes; sie ist >zweite NaturGesichtebarocke< Gedichtsammlung Dafnis von Arno Holz und die Idylle Eine Schäferei65 von Paul Ernst.

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Stefan George, Werke. Ausgabe in vier Bänden, Hg. v. Robert Boehringer, München 1983, Bd. 2, S. 278. Vgl. dazu Marita Keilson-Lauritz, Von der Liebe die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987, besonders S. 94, 109f. Stefan George, Werke, Bd. 2, S. 278. Stefan George, Werke, Bd. 2, S. 279. Vgl. die wirkungsmächtige Rezensions-Reihe »Antikisierende Dichtung«/»Antikes und Antikisierendes« von Eugen Holzer im Litterarischen Echo zwischen 1903 und 1906. Das Nachwort der Reclam-Ausgabe der Schäferei (Paul Ernst, Der geraubte Brief, hg. v. Karl August Kutzbach, Stuttgart 1971, S. 69-80) gibt ein bizarres Zeugnis von der historistischen Wirkung des Textes: »Die rokokoleichte und volksliedhafte >Schäferei< musiziert das ewige Spiel der Geschlechter, wie es so nie und doch immer war und sein wird.« (S. 80).

Historische Kunst wird aber auch durch Präsentationstechniken simuliert. Zu erinnern wäre hier an die breite musikwissenschaftliche Diskussion um >historische Konzerteerlesenen< - erst wissenschaftlich zugänglich gemachten - Lexemen. Beide Phänomene begünstigen eine Tendenz zur Autonomisierung der Lexeme. Als Textverfahren der Literatur werden dominant: der Katalog, die hyperdetaillierte Beschreibung, der digressive Exkurs, name-dropping, Essayi-

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Dazu vgl. Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, insbesondere das Kapitel »Historismus«, S. 269-276. Vgl. etwa Rudolf Alexander Schröder, Der Basilisk (Eine Parabel), in: Die Insel, 1,2/1900, S. 231-233. Zur zeitgenössischen Diskussion und ihrer Relevanz für die Literatur vgl. Kapitel II 3: Dekorative Texturen. Zentral für die historistische Buchgestaltung sind die Holzschnittillustrationen des 19. Jahrhunderts in der Tradition der alten Meister um Dürer (Schnorr v. Carolsfeld, Schwind, Overbeck, Kaulbach, Alfred Rethel etc.). Zur Theorie der Buchgestaltung in der Klassischen Moderne vgl. u.a. Otto Julius Bierbaum, Gedanken über Buchausstattung, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 1/1897/98, S. 210-212 und Thomas James Cobden-Sanderson, Das Idealbuch oder das schöne Buch. Eine Abhandlung über Kalligraphie, Druck und Illustration und über das schöne Buch als Ganzes, übers, v. Richard Stettiner, Berlin 1921 (= The ideal Book, or book beautiful [1900]). Gotthart Wunberg, Historismus, Lexemautonomie und Fin de siecle, S. 58. Vgl. Kapitel II 3: Populäre Wissenschaftsprosa und Lexemautonomie und Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 178.

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stik; dann als radikale Folgen solcher Verfahren: Lexemautonomie, Aufwertung der materialen Seite der Sprache, unendlich scheinende Semiose, Unverständlichkeit. Hier wäre noch einmal an Nietzsches oben erwähnte Beschreibung dieses Phänomens im Fall Wagner zu erinnern. Das Verfahren und das Vokabular einer auf bessere Verständlichkeit der Welt zielenden Wissenschaft mutiert im Kontext der avantgardistischen Literatur zu einem Verfahren, das in seiner Radikalität unverständliche Texte produziert: »Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite.«70 Die aus ihrem ursprünglichen Kontext gelösten Worte werden aber nicht einfach >sinnlosautonome< Lexeme eine »Semiosis jenseits« ihres »ursprünglichen Referenzsystems.«71 Verschiedene Typen der Autonomisierung wären zu unterscheiden. In einigen Texten lösen sich die spezifischen, im 19. Jahrhundert herausgebildeten Bedeutungen zugunsten bewußt vager, einen geschlossenen hermeneutischen Zugang nur noch suggerierender Konnotationen (>StimmungenTexturen< genannt. Eine Textur ist »das sprachliche Material in seiner spezifischen Verknüpfung« ohne strukturierende Momente, die den hermeneutischen Zugriff auf Literatur lenken. In texturierter Literatur steht die Materialität des Textes im Vordergrund, globale inhaltliche Aussagen erübrigen sich. Eine terminologische Vereinfachung bietet sich an: Texte »ohne konsistente Strukturen«, die den »Interpreten [...] auf ihre Textur, auf den Stoff, aus dem sie gemacht sind, auf das Verfahren, nach dem sie hergestellt sind«73 verweisen, werden ebenfalls verkürzt Texturen genannt. Textur74 heißt also erstens die materiale Seite des Textes und zweitens - vereinfacht - der Text selbst, sofern eine Reduktion auf diese materiale Seite einen sinnvollen hermeneutischen Zugang erschwert oder verhindert.

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Friedrich Nietzsche, Werke VI, Bd. 3, S. 21. Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 178; vgl. auch Dirk Niefanger, Produktiver Historismus, S. 28ff„ 77ff. Vgl. Dirk Niefanger, Produktiver Historismus, S. 160ff. Alle Zitate: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 13ff. Vgl. Kapitel II 4: Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa. >Textur< bezeichnet hier also das Gegenteil dessen, was Erich v. Kahler etwas lax Textur nennt, wenn er von der »Textur der vordergründlichen Wirklichkeit« redet: Erich v. Kahler, Untergang und Übergang der epischen Kunstform, in: Neue Rundschau (1953), S. 17.

Historismus im Diskurs der literarischen Moderne Daß auf die Probleme des Historismus (und auch auf seine Folgephänomene Positivismus und Relativismus) in der modernen Literatur immer wieder Bezug genommen wird, ist heute ein Allgemeinplatz der Forschung, der hier nicht erneut in extenso ausgebreitet werden soll.75 Lothar Köhn hat in seinen Studien zur Geschichte der Literatur zwischen 1918 und 1933 schon Mitte der siebziger Jahre plausibel machen können, wie breit die Auseinandersetzung mit den Problemen des Historismus nicht nur in der Spätphase der klassischen Moderne gewesen ist. Ein weit gefaßter Historismus-Begriff ermöglicht ihm, in vielen Texten Ansätze zur »Überwindung des Historismus«76 zu sehen. Dabei bezieht er die relativistische Situation des späten Historismus auf die in den Diskursen der Moderne, insbesondere aber in der avantgardistischen Literatur thematisch werdende Krise des Individuums. Kaum in den Blick kommen allerdings die sich - vor allem im Zusammenhang des positivistischen Historismus - radikal wandelnden Schreibweisen der Moderne. Deshalb sind ihm ζ. B. zwar die Reflexionen auf die relativistische Krise des Individuums im dritten Teil von Hermann Brochs Schlafwandler-Roman ein wichtiger Beleg für die Versuche der »Überwindung des Historismus«, die zum zentralen Moment der Konstitution der späten Moderne werden.77 Lohnen würde aber vielleicht gerade ein Blick auf die verschiedenen Textverfahren des Romans unabhängig von den oft überdeutlichen bewußtseinsgeschichtlichen Reflexionen des eingeschalteten Erzähler-Essays; in der Konstruktion des Textes sah ja offenbar Broch selbst seinen wichtigen Beitrag zur literarischen Avantgarde.78 Interessant für die hier erörterten Probleme bleiben indes solche Reflexionen, die sich mit den Textverfahren beschäftigen, also auf die poesiologischen Folgen des Historismus rekurrieren; hierzu zwei ganz verschiedene Beispiele. Richard Beer-Hofmanns Prosawerk Der Tod Georgs (1900) beschreibt ausführlich historisch orientierte Visionen seines Protagonisten Paul. Sein Nachdenken über die Strukturen der Visionen kann als Reflexion auf den

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Dazu vgl. u.a.: Bettina Hey'l, Geschichtsdenken und literarische Moderne, S. 38-55; Friedbert Aspetsberger, Der Historismus und die Folgen. Studien zur Literatur in unserem Jahrhundert, Frankfurt 1987; Helmut Bachmaier, Einleitung: Die Signaturen der Wiener Moderne, in: Helmut Bachmaier (Hg.), Paradigmen der Moderne (Viennese Heritage. Wiener Erbe, Vol. 3), Amsterdam/Philadelphia 1990, S. vii-xxiii; Robert Mühlher, Das »Historische« als Baustein der österreichischen Moderne, in: Institut für Österreichkunde (Hg.), Geschichte in der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Wien 1970, S. 93-109. Lothar Köhn, Überwindung des Historismus. Vgl. Lothar Köhn, Überwindung des Historismus, S. 159-163. Vgl. die Selbstdeutungen des Autors in: Hermann Broch, Die Schlafwandler, hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt 1978 (= Kommentierte Werkausgabe, Bd. 1), S. 719-735.

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historistischen Charakter literarischer Verfahren der Moderne gelesen werden: Denn allen Dingen, von denen er wußte, hatte er Leben gegeben. Wie stumme Schatten umschwebten sie andere; an ihn aber drängten sie sich gierig heran, trunken von seinem Blut, und durch ihn stärker als er.79

Der Zugriff des Literaten kann (und muß) im Zeichen des Historismus ein prinzipiell universeller sein, »allen Dingen«, die zur Verfügung stehen, verleiht die Literatur Leben. Sie erhalten nicht mehr den musealen Charakter wie in den historischen Wissenschaften, sondern werden in der Dichtung gleichberechtigt gegenwärtig. Die Möglichkeit des historistischen Zugriffs auf einen unendlichen Thesaurus macht den Schaffensprozeß zu einem bedrohlichen Unternehmen. Der Historismus offenbart sich als Krise und reizvolle Möglichkeit. Denn wenn in anderen das Wissen wie Korn in trockenen Speichern lag - in ihn war es wie in tiefgepflügtes feuchtes Erdreich gefallen; aufwuchernd sog es alle Kraft aus ihm.80

Als Möglichkeit der künstlerischen Produktion verlangt der Historismus spezifische literarische Verfahren. Eines davon beschreibt Paul als zwei aneinandergekoppelte Schritte: Der archäologischen Aneignung historischer Gegenstände folgt die netzartige Anordnung der historischen Partikel. Eigensinnig folgte er den Spuren aller Dinge nach rückwärts, bis ihre Wege mit den Wegen alles Lebens unlöslich sich verschlangen. Nichts sah er ahnenlos, und das Ebengeborene schien ihm greisenhaft verzerrt und beladen mit der Last von Erinnerungen, und sich schleppend mit Ketten, die es an Gewesenes schmiedeten. [...] So flocht sich wundervoll und beängstigend ein Netz um ihn, engmaschig und alle Freiheit ihm nehmend. Alles war mit allem unlösbar verknotet; Gewesenes stand neben ihm aufrecht wie Lebendiges, und er lebte wie in dumpfen menschenüberfüllten Räumen. Alle Herrlichkeit der Welt war funkelnd aufgestapelt an den Wänden und hing in reichen Gewinden von der Decke herab, und er sah, daß es schön war [...].81

Die Reflexions-Passage endet mit einem deutlichen Hinweis, daß es hier eigentlich um Dichtung, um den skizzenhaften Entwurf einer historistischen Poetik geht, die weniger an den einzelnen Gegenständen als vielmehr an den Vermittlungsverfahren interessiert ist. Wäre er ein Dichter gewesen, er hätte, was schwer und verworren auf seinem Nacken lastete, mit leichten Fingern formend über sein Haupt gehoben; und was zahllos und ohne Ende um ihn wallte, hätte er in Lieder gepreßt und gedichtet.82

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Richard Beer-Hofmann, Der Tod Georgs, Stuttgart 1980, S. 33f. Zum folgenden vgl.: Dirk Niefanger, Produktiver Historismus, S. 267-274. Richard Beer-Hofmann, Der Tod Georgs, S. 34. Richard Beer-Hofmann, Der Tod Georgs, S. 34f. Richard Beer-Hofmann, Der Tod Georgs, S. 35.

Als ein weiterer Text, der den Historismus auf literarische Verfahren bezieht, ist Carl Einsteins Erzählung G.F.R.G. lesbar. Dort geht es um die Suche nach einer neuen Kunst und Literatur im Zeichen eines religiös bedingten und ökonomisch genutzten Relativismus. Anders als in Beer-Hofmanns Fin de siecle-Text, finden sich in Einsteins Erzählung texturierte Passagen, die der Rede eines Irren zugeordnet werden. Diese Texturen werden durch die Protagonisten als Kunst indiziert und bewertet. Bei den unverständlichen Irrenreden handle es sich um Lieder, ja, eine »Nationalhymne«83, eine neue Kunst, die einen »vieles lehren konnte«. Häberle, die zentrale Figur der Novelle, »sah ein, daß er in diesen faulen Zeiten, die schon alles geschluckt und abgewertet hatten, nur mit dem kompletten Irrsinn durchdringen werde.« Sein Programm wird noch konkreter: »Man müßte die Strohköpfe mit kräftigen Mitteln vergiften. Mit einer Sache, die eben eo ipso unbegreiflich war.«84 Die >unverständliche< Kunst innerhalb des Irrenhauses wird mit einer Persiflage jenes kunsttheoretischen >IrrsinnsLinienkunst< des Jugendstils oder der >Mystizismus< Kandinskys kommen nacheinander und ohne Unterschied zu Wort.85 Die Ideen einer neuen, ganz anders auftretenden (Irren-)Kunst werden also einerseits mit der Diagnose eines allgemeinen relativistischen Historismus verknüpft und andererseits dem Pluralismus neu entstehender Kunstprogramme als radikale Möglichkeit entgegengestellt. Für Einstein sind »Positivismus und Relativismus« in der »Bestandsaufnahme der geistigen Situation der Jahrhundertwende [...] aufs engste miteinander verknüpft, und zwar unter dem Etikett >HistorismusIrrenrepräsentativen< Gattungen jener weiträumigen Epoche, die meist recht großzügig als die realistische geführt wird. Einen Gegenbeleg zu diesem zunächst einmal überraschenden Befund liefern allenfalls die verschiedenen Genres historischen Erzählens in Prosa,3 haben sich doch immerhin die meisten Realisten an der literarischen Geschichtserzählung versucht. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive jedoch, das zeigt die monographische Literatur zu einzelnen Autoren, wird gemeinhin die Wahl eines historischen Stoffs gegenüber dessen realistischer Behandlung als ein sekundärer Faktor verstanden, der in die (für jeden Realismus entscheidenden) Verfahren der Repräsentation nicht unmittelbar eingreift.

Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 49. Zu diesen beiden historischen Genres vgl. die Hinweise in Kapitel I 1: Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs. Die folgende, stark abstrahierende Darstellung läßt Differenzen zwischen verschiedenen Erzählformen, etwa zwischen historischem Roman und historischer Novellistik, unberücksichtigt.

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Daß unter dieser Perspektive die für das historische Erzählen im 19. Jahrhundert spezifische Korrelation von >Inhalt< (Referenz) und >Form< (Kohärenz) verfehlt wird, ist These des folgenden: Es soll gezeigt werden, daß Historismus und literarischer Realismus kein beliebiges Begriffspaar darstellen, sondern in strengem Sinn komplementäre Momente im Diskurs der Epoche bezeichnen. Zwar treten, wie an anderer Stelle aufgewiesen wird, 4 die Effekte eines literarisch-technischen Historismus erst in Texten der nach-realistischen Epochen in ihrer ganzen Prägnanz hervor. Doch kann dies nur auf den ersten Blick überraschen: Genauso wie nämlich »der Historismus in seiner klassischen Ausprägung im 19. Jahrhundert vom Relativismusproblem nicht ernstlich beunruhigt«5 wird, weil seine Vertreter darauf vertrauen, sie hätten sich des Entwicklungs-Sinns der Universalgeschichte ein für allemal versichert, so läßt sich für den Realismus des 19. Jahrhunderts feststellen, daß hier die Darstellbarkeit von Wirklichkeit als eine Prämisse fungiert, die nicht nur Affirmation, sondern auch Kritik dieser Wirklichkeit überhaupt erst ermöglicht.6 Das schließt jedoch nicht aus, daß in der Geschichtswissenschaft und ebenso in der Literatur des 19. Jahrhunderts diskursive Praktiken entwickelt werden, die den genannten theoretischen Prämissen zuwiderlaufen. Interne Widersprüche sind darum schon hier aufzuweisen. Deren effektive Sprengkraft wird jedoch erst später, in anderen diskursiven Konstellationen, vollständig erkennbar. Dem vermeintlichen >Spezialfall< des historisierenden Erzählens kommt bei der Suche nach Indizien für eine derart spannungsreiche Konstellation eine ausgezeichnete Bedeutung zu. Sie ergibt sich daraus, daß dieses Erzählen in ständiger Interferenz mit dem historischen Diskurs steht, und daß ihm vom zentralen Diskurs der Epoche höchst spezifische Regularien auferlegt werden. Die Erstellung historischer Fiktionen im Historismus ist nichts weniger als ein selbstverständliches Unterfangen - und darum wird hier aus komplexen Voraussetzungen eine Reihe von Textmodellen erzeugt, die geradezu als Paradigmen einer historistischen Modernisierung der Literatur im 19. Jahrhundert bezeichnet werden können. Diese These steht nicht mit dem eingangs erhobenen Befund im Widerspruch, daß die Geschichtsfiktionen im Jahrhundert des Historismus eher am Rand als im Zentrum des literarischen Diskurses stehen; daß es sogar um die Literarizität der historischen Romane stets ein bißchen zweifelhaft bestellt ist. Das vermeintliche Paradox löst sich auf, wenn man bedenkt, daß die Geschichtswissenschaft selbst, als akademische Leitdisziplin und als In-

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Vgl. Teil II: Texturen der literarischen Moderne. Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 27; vgl. auch: J.R., Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke, I.e. Für einen differenzierteren Blick auf die Semiotik des Realismus vgl. Kapitel III 3: Enzyklopädie.

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stanz gesellschaftlicher Selbstverständigung, der Literatur das Territorium streitig macht, auf dem diese ihre Fiktionen piaziert. Historistische Geschichtswissenschaft ist erzählende Geschichtswissenschaft. Und zugleich ist der literarische Geschichtserzähler auf das Material und überhaupt auf den Gegenstandsbereich der Historiographie angewiesen.7 Historische Fiktionen im 19. Jahrhundert stehen also in fundamentaler Konkurrenz zu einer akademischen Disziplin und deren wissenschaftlichem Diskurs. Aus diesem Grund gelten für sie prinzipiell andere >Spielregeln< als für die Geschichtsdichtungen früherer (oder auch späterer) Epochen - nämlich die Spielregeln einer heteronomen Literatur. Die Rezeptionsgeschichte der Romane Walter Scotts in Deutschland stellt gewissermaßen einen fortlaufenden Kommentar zum Problem einer solchen Heteronomie dar.8 Den Vertretern einer klassisch-romantischen Autonomieästhetik erscheint die Abhängigkeit vom historischen Faktum, bei aller Anerkennung der innovatorischen Bedeutung Scotts, als ein am Ende doch inakzeptabler Rückschritt ins Unpoetische. Für die Apologeten des historischen Romans dagegen ist die Geschichte immer schon die größte Dichtung (Alexis) und hat darum Modellcharakter für die Erzeugung literarischer Kohärenz. Wird die Poesie des Textes auf diese Weise gegen die Poesie des Gegenstandes ausgespielt, dann wird zugleich ein intrikater Zusammenhang von Autonomie und Heteronomie erkennbar. Denn jene Unabhängigkeitserklärung der Literatur um 1800, die von nun an ihr Spiel nach eigenen und nicht nach fremden Regeln spielen will, korrespondiert einer komplementären Transformation im Diskurs der zeitgenössischen Historiographie: zur Wissenschaft im modernen Sinn. Im Schritt zur Selbstorganisation geben Literatur und Geschichtswissenschaft jene gemeinsame Basis auf, die ihnen seit der Poetik des Aristoteles zur Verfügung stand. Noch in der Aufklärung verstehen sich Poetik und Historik gemeinsam als rhetorisch organisierte Genera der Darstellung. Auf dieser Grundlage wird auch die Möglichkeit eines wechselseitigen Zugriffs auf den Objektbereich oder die Verfahren der Nachbardisziplin geregelt. Solange der pragmatische Roman so gut wie die pragmatische Historiographie seinen Gegenstand als Geschichte ausweist, kann sich einerseits der Historiker rhetorisch-fiktionaler Mittel zur darstellenden Vermittlung seiner Erkenntnisse bedienen, während zum anderen der Poet beliebige Versatzstücke aus historischen Quellen entnehmen darf, um die Anschaulichkeit und

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Vgl. dazu die bereits in der Einführung zitierten Dikta von Willibald Alexis und Hermann Kurz. Dies ist, wenigstens in Form kursorischer Bemerkungen, in beinahe jedem der von Hartmut Steinecke zusammengetragenen Beiträge zur Romanpoetik in Deutschland zu verfolgen. Vgl. Romanpoetik in Deutschland. Von Hegel bis Fontane, hg. v. Hartmut Steinecke, Tübingen 1984.

Wahrscheinlichkeit seiner Erzählung zu garantieren. Obwohl dem im einzelnen hier nicht nachgegangen werden kann, spricht einiges dafür, daß sich dieser Austausch zwischen Roman und Historik in der Spätaufklärung sogar noch intensiviert: In literarischen Fiktionen besteht ein erhöhtes Bedürfnis nach Wahrscheinlichkeit, und darum wird beispielsweise dem erzähltechnisch beliebten Kunstgriff, einen fiktiven Herausgeber zu installieren, zusätzliche Konsistenz dadurch verliehen, daß dieser Herausgeber seinem Text gegenüber die Anwendung des quellenkritischen Instrumentariums der zeitgenössischen Historiker simuliert. Andererseits wird an den Text der Historiker ein gesteigerter Anspruch auf Kohärenz herangetragen, und in diesem Interesse funktionalisiert man die innovativen Organisationsformen, die zeitgenössisch für das Erzählen fiktiver Geschichten entwickelt werden, und depotenziert sie zu rhetorischen Dispositiven: Lange vor dem Historismus werden auf diese Weise »>Individualität< und >Entwicklung< [...] als historiographische Schreibarten diskutiert«.9 Es handelt sich, wie man sieht, um die Strukturmuster des für die literarische Autonomieästhetik zentralen Textmodells, des Bildungs- oder Entwicklungsromans. Individualität und Entwicklung stellen jedoch, historisch später, auch die »leitenden Kategorien des Historismus« dar; durch sie vermittelt sich die Selbstorganisation des historischen Diskurses im 19. Jahrhundert. Dazu bedarf es allerdings einer Umdeutung dieser Darstellungsmuster. Von Historismus kann erst dann gesprochen werden, wenn Individualität und Entwicklung die »narrative Kohärenz der historischen Erkenntnis« überhaupt sicherstellen, wenn sie sich also nicht mehr der rhetorischen Disposition des einzelnen Historikers verdanken, sondern als eine >objektive< Qualität gesetzt werden, die dem historischen Material aus sich selbst zukommt. Dann kann es tatsächlich heißen, die Geschichte sei die größte Dichtung, und die »Konzeption des Zusammenhangs der Begebenheiten«10 im Geschichtstext erhält eine zuvor unbekannte Dignität. Soweit es dabei um die Herstellung eines narrativen Zusammenhangs, das heißt: um Erzähltechnik geht, kommt die Modellfunktion für den Historismus entschieden der Literatur (in Form des goethezeitlichen Romans) zu: Die Geschichtserzählung wird zum Organon einer teleologisch aus sich selbst entwickelten Individualität. Der historische Idealismus, als philosophische Berufungsinstanz, stellt für das historiographische Nacherzählen des Geschichtsromans gewissermaßen die akademische Geschäftsgrundlage bereit. Wenn die Genese des Historismus literarisch von der Diskussion über die ästhetische Legitimität der Romane Scotts begleitet wird, dann geht es immer auch darum, auf welche Weise das literarische Erzählen sich in die-

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Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 56. Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 56.

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sem fremden Spiegel ästhetisch verfaßter Geschichte wiedererkennen kann. Die Legitimität der Geschichtskonstruktion selbst steht dabei nicht zur Debatte, sondern allenfalls die Frage, ob nicht Poesie statt Wissenschaft ihr Medium sein müsse. Wird diese, die romantische Option zugunsten Scotts abgewiesen, dann ist damit akzeptiert, daß das historische Erzählen ein Poesiedefizit leichter erträgt als ein Wahrheitsdefizit - daß es also, vor der Autonomie der Geschichte, eine Autonomie der Literatur nicht geben kann. Daß andererseits in der neuen Ökonomie des historistischen Geschichtsdiskurses auch eine neue Rhetorik der historischen Erzählung installiert wird, und daß sie implizit die Stelle der nunmehr ausgeschiedenen Schulrhetorik einnimmt, versteht sich am Rande.11 Die Elimination aller fiktionalen Elemente aus dem Geschichtstext, wie sie in Rankes vielzitierter Forderung nach »nackte[r] Wahrheit ohne allen Schmuck«12 zum Ausdruck kommt, erweist sich als überaus ambivalent. Zwar kann der Historismus mit diesem Anspruch »den Tatsachenbezug der Darstellung geschichtstheoretisch vertief[en]«, aber seine Fähigkeit - mit Gervinus - , »die geschlossene und totale Wirkung des Kunstwerks mit seiner Erzählung« hervorzubringen,13 verdankt sich der vorgängigen Ästhetisierung des Objektbereichs Geschichte. Dadurch erst wächst der Historiographie die Würde zu, nicht nur »Wissenschaft«, sondern »zugleich Kunst«14 zu sein. Rüsen hat den Rationalitätsgewinn akzentuiert, der unter diesen vom Historismus selbst nicht kritisch reflektierten Prämissen ermöglicht wird, und gezeigt, daß der Historismus in genau jenem Moment, in dem er sich als Geschichtsw/sjenic/zö/r etabliert, auch »die Geschichtsschreibung in bisher nicht gekanntem Maße erzählfähig« macht.15 Andererseits ist jedoch kaum umstritten, daß die Ausblendung der Probleme einer rhetorischen Techne zu einer geradezu systematischen Verdrängung des Darstellungsproblems in der der Geschichtswissenschaft führt. Der Verweis auf die Kunstförmigkeit der historisch erzählenden Wiederhervorbringung (Ranke) von Geschichte hat die Funktion, genau dieses Reflexionsdefizit zu kompensieren: durch den Verweis auf eine methodisch nicht vollständig ableitbare Notwendigkeit der Darstellung. Diese Legitimationsstrategie eröffnet jedoch zugleich einer vom Problem des Relativismus (im eigenen Selbstverständnis) nicht betroffenen Forschung die Möglichkeit, historistischen Relativismus als wissen-

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Vgl. Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986; differenzierend auch zum folgenden: Dietrich Harth, Historik und Poetik, I.e. Leopold von Ranke, Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber, Leipzig 2 1874, S. 24. Georg Gottfried Gervinus, Grundzüge der Historik, in: G.G.G., Schriften zur Literatur, hg. v. G. Erler, Berlin 1962, S. 49-103, S. 92. Leopold von Ranke, Idee der Universalhistorie, in: L.v.R., Vorlesungseinleitungen, hg. v. Volker Dotterweich/Walter P. Fuchs, München 1975, S. 72. Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 118.

schaftliche Praxis ungestört zu befördern und zu betreiben. Genau diesen Mangel an historischem Bewußtsein nimmt Nietzsche in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ins Visier. - Einerseits erhält also die »Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung« ihre Dynamik dadurch, daß der historistische Historiker »das Allgemeine in der Geschichte [als] wissenschaftlich nicht mehr faßbar« 16 aus seinem historischen Tagesgeschäft, der Erforschung des Einzelnen, ausblendet: Forschung als Prozeß methodisch kontrollierter Rationalität wird möglich, weil die Prämisse von Forschung nicht expliziert zu werden braucht. Daraus folgt andererseits jedoch nicht, daß der historische Idealismus nurmehr Privatsache des professionalisierten Historikers wäre.17 Sobald der Forscher anfängt, vom Einzelnen zu erzählen, macht er Figuren des Allgemeinen (etwa: Geschichte als gerichtete Bewegung, als Entwicklung, als Medium von Individualität) wieder zur Voraussetzung seiner Darstellung. Historismus in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ist also, zunächst einmal, als die Einführung neuer Diskursregeln im historischen Diskurs zu verstehen. Der historische Idealismus als Prämisse von Forschung und Darstellung systematisiert und integriert das weitgehend bereits von der Historiographen der Aufklärung entwickelte Instrumentarium historischer Kritik in einer disziplinären Matrix (Rüsen). Ihre Anwendung macht professionelle Geschichtsforschung von laienhaft betriebener historischer Liebhaberei unterscheidbar. Von nun an gilt die Vorschrift: nur der streng wissenschaftliche ist auch ein quasi-ästhetischer Text; d. h. nur die kontrollierte Rationalität in der »gründliche[n] Erforschung des Einzelnen«, und dabei der Verzicht auf das »Erdichten, auch ... im Kleinsten«18, verwandelt die Geschichtserzählung in ein Analogon von Kunst. Auch minimale Manipulationen der historischen Wahrheit ruinieren nicht nur die historische Wissenschaft, sondern erst recht die literarische Qualität. Wird nämlich im Verhältnis des Historikers zu seinem Material das Objektivitätsgebot verletzt, kann auch nicht mehr erzählt werden, was Geschichte war - weil nämlich Geschlossenheit letzten Endes gar kein Kriterium der Darstellung ist, sondern die vornehmste Qualität des Dargestellten, der Geschichte selbst. Darum ist seine Kunstförmigkeit für ein derart konzipiertes historistisches Erzählen keine Zusatzoption, die wahrgenommen werden kann oder auch nicht, sondern sie ist konstitutiv im Sinne einer Wahrheitsbedingung. - Kein Wunder also, daß der notorisch laxe Umgang des historischen Romans mit den geschichtlichen Tatsachen, daß überhaupt die Vermischung des historisch Faktischen mit romanhaften

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Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 67f. Vgl. die in dieser Hinsicht mißverständlichen Bemerkungen bei Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 68. Leopold von Ranke, Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber, S. 24.

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Fiktionen immer mehr zum Antitypus fachgerecht betriebener Forschung gerät. Wird nämlich dem Text des Historikers von der Geschichte selbst seine ästhetische Qualität verliehen, dann kann es neben ihm keine andere, erst recht keine autonom ästhetische Repräsentation von Geschichte geben.

Literarische Geschichtsikonographie Daß der wissenschaftlich fundierte Anspruch der Historiker auf die per se literarische Qualität ihrer Texte weit über die Grenzen der akademischen Disziplin hinaus im bildungsbürgerlichen Bewußtsein verankert war, das belegt nicht zuletzt die Verleihung des (überhaupt zweiten) Literatur-Nobelpreises an Theodor Mommsen im Jahr 1902. Gleichwohl gibt es eine historistische Poesie, die auf ihre Weise mit den Erzählungen der Historiker koexistiert - 1905 wird mit Henry Sienkiewicz immerhin auch einer ihrer Vertreter für nobelpreiswürdig erachtet. Die Erstellung historischer Fiktionen stellt jedoch im Diskurs des Historismus zwangsläufig eine paradoxe Praxis dar. Einerseits steht in diesem Diskurs die Geschichte im Zentrum der gesamten Sinnproduktion; andererseits hat die Geschichtswissenschaft die Repräsentation solchen Sinns im Zirkel von Forschung und Darstellung für sich monopolisiert. Wer sich methodischer Kontrolle entzieht, mag alles mögliche erzählen, nur stellt er nicht mehr die Geschichte dar. Geschichts-Fiktionen werden darum tendenziell funktionslos. Ihnen kann allenfalls noch die zweideutige Aufgabe zukommen, Ergebnisse professioneller Forschung für ein breiteres Publikum aufzubereiten. Die Aufgabe einer solchen Popularisierung wäre dann nicht mehr die einer autonomen Repräsentation des Gegenstandes, sondern die einer interdiskursiv übersetzenden Repräsentation von Repräsentationen. Auch damit kann jedoch die Schwierigkeit nicht aufgehoben werden, daß Historie, als Diskurs, im strengen Faktenbezug der wissenschaftlich organisierten Narration die einzig mögliche Form ihrer Darstellung gefunden haben soll. So lassen sich allenfalls pragmatische Argumente beibringen, die für eine literarische Behandlung der Geschichte sprechen: Zum einen verpflichtet die Professionalisierung von Geschichte in Form akademischer Wissenschaft auf einen Nachweis fachlicher Kompetenz, der nicht zuletzt sprachlich, durch den Gebrauch einer dem Laien nicht mehr ohne weiteres zugänglichen Terminologie geführt wird. Ein analoges Problem stellt zum anderen die fachinterne Spezialisierung und durch sie bewirkte exponentielle Zunahme historisch gesicherten Wissens dar; durch ihre interne Ausdifferenzierung droht die Geschichtswissenschaft ihre gerade erst erworbene Funktion als Medium gesellschaftlicher Orientierung und Selbstverständigung selbst wieder zu liquidieren. Ein Erzählen ohne Rücksicht auf methodische Regularien und 42

ohne Anspruch auf Vollständigkeit hätte der so entstandenen Tendenz auf die zunehmende Unverständlichkeit des historischen Diskurses entgegenzuwirken. Bezeichnenderweise haben nicht zuletzt historistische Historiker die Differenz von Geschichtssinn und Forschungspraxis wahrgenommen und eine Gegenstrategie entwickelt. In den sogenannten Professorenromanen von Ebers, Dahn und anderen Fachgelehrten entwerfen die Verwalter der Geschichte selbst die populären Medien, die historischen Sinn transportieren sollen, ohne sich mit dem Ballast der Quellenkritik und Faktendurchdringung zu belasten. Dabei erscheint den Autoren der von ihnen vollzogene Transfer jedoch vollkommen unproblematisch, als genüge das bloße Vorhandensein ihrer Forschungsergebnisse in Form einer wissenschaftlichen Darstellung, um ein historisches Fabulieren zu rechtfertigen. Wenigstens in buchhändlerischer Hinsicht gibt der überwältigende Erfolg solcher Texte der Spekulation auf das Bildungsinteresse des Publikums recht. Und dennoch drängt sich die Frage auf, ob das Anliegen einer Popularisierung von Wissenschaft im Professorenroman nicht von einer prinzipiellen Verachtung des Publikums getragen wird - oder zumindest von dem Bewußtsein, daß historische Bildung so gerade nicht zu vermitteln sei. Dahns Vorwort zu Ein Kampf um Rom etwa hält sich mit methodischen oder poetologischen Kautelen gar nicht erst auf, sondern besticht durch lakonische Trockenheit: Die wissenschaftlichen Grundlagen dieser in Gestalt eines Romans gekleideten Bilder aus dem sechsten Jahrhundert enthalten meine in folgenden Werken niedergelegten Forschungen: Die Könige der Germanen. II. III. IV. Band. München und Würzburg 1862-1866. Prokopius von Cäsarea. Ein Beitrag zur Historiographie der Völkerwanderung und des sinkenden Römertums, Berlin 1865. Aus diesen Darstellungen mag der Leser die Ergänzungen und Veränderungen, die der Roman an der Wirklichkeit vorgenommen, erkennen.19

Als nicht weiter diskussionsbedürftig setzt Dahn voraus, daß der geschichtswissenschaftliche Diskurs Wirklichkeit verbürgt, daß er also im Sinne des Rankeschen Diktums »zeig[t], wie es eigentlich gewesen«.20 Außer Frage steht auch, daß ein Roman diese Wirklichkeit manipuliert und verändert, so daß, wer wirklich etwas wissen will, sich weiterhin auf die Wissenschaft wird verlassen müssen. Die wird pikanterweise zwar ebenfalls von Professor Dahn verkörpert, doch der Text, den er hier ankündigt, kann sich keineswegs auf die Grundlagen der Geschichte berufen. Mag der Roman auch al-

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Felix Dahn, Ein Kampf um Rom. Historischer Roman (1876), Berlin o.J., S. 5. - Im weiteren folgen lediglich noch Angaben zur Entstehungsgeschichte des Textes. Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker, 1494-1515, Leipzig 2 1872, S. VII.

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lerlei Selbstzitate enthalten - Ein Kampf um Rom stellt dennoch nicht etwa eine alternative Version des historischen Diskurses (und seiner Wahrheit) dar. Was er stattdessen darstellt, ist ohne weiteres nicht zu benennen: Dahn kündigt einen Text an, der Bilder aus der Vergangenheit entwirft - und diese könnten allenfalls aus Referenzen auf den historischen Diskurs (und, durch ihn vermittelt: auf die Wirklichkeit) montiert sein. Spätestens aber, wenn solche Bilder durch eine Narration verbunden werden und in Gestalt eines Romans erscheinen, gelten neue Verknüpfungsregeln, die wissenschaftlich nicht gedeckt sind. Diese Resynthese willkürlich zitierter Diskursfragmente kann sich auf Geschichte in der Bedeutung der Historiker jedenfalls nicht berufen. Nicht nur, daß der Roman sich mit der Wirklichkeit des Gewesenen in einzelnen Punkten nicht deckt - schlimmer noch: er substituiert die Gesetzmäßigkeiten historischer Bewegung durch eine Eigendynamik des Erzählens, deren Gesetzlichkeit (oder Anarchie) anscheinend keiner methodischen Kontrolle unterliegt; er stellt etwas dar, aber was nur? Keinen Text, sondern Bilder - lautet Dahns ausweichende Antwort. Geschichtliche Ikono-Graphie in Gestalt des Romans: auf diese Bestimmung des Genres hätte Dahn sich gewiß nicht nur mit literarisch dilettierenden Fachkollegen verständigen können, sondern auch mit jenen historisch interessierten Laien, die die Ergebnisse ihrer Recherche (vor allem im Bereich der lokalen und regionalen Geschichte) gleich in den Rahmen von Geschichtsfiktionen stellen. Das historische Bild wird um die Mitte des 19. Jahrhunderts generell zum Wechselbegriff für die nicht-diskursiven Spielarten historischen Erzählens. Zu enormer Verbreitung gelangen beispielsweise Gustav Freytags zuerst 1859 publizierte, 1866 bereits in vier Bänden vorliegende Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Werden sie vom Autor als lediglich »anspruchslos[e] Illustrationen unserer politischen Geschichte«21 behandelt, so sind sie damit bereits in ein genaues Verhältnis zur historistischen Geschichtswissenschaft gesetzt. Wenn nämlich Freytag an anderer Stelle die »Aufgabe der Wissenschaft« dadurch bezeichnet sieht, »das schaffende Leben der Nationen zu erforschen«,22 so hat er das zeitgenössische Wissenschaftsverständnis durchaus adäquat charakterisiert - und zugleich den Ort bezeichnet, den historische Poesie unter Anerkennung des Darstellungsmonopols von Wissenschaft noch besetzen kann. Denn »der historische Blick [...] im Historismus« gewinnt seine »Kohärenz« dadurch, daß er sich »auf die Veränderung staatlicher Systeme im Beziehungsgeflecht absichtsvoller politischer Aktionen und Reaktionen [verengt]«.23 Wenn

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Gustav Frey tag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, 4 Bde., Leipzig 8 1874, Bd.l, Zueignung an Dr. Salomon Hirzel (1866), nicht paginiert [S.l]. Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd.l, Einleitung, S. 26. Jöm Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 43.

Frey tag also ausdrücklich »nicht die politische Geschichte der Nation [...] erzähl[en]« will, sondern »zuweilen unbedeutende Monumente aus dem Leben der Kleinen« versammelt, deren »Schicksal« in den Kategorien politischen Handelns nicht zu erfassen sei, dann können die von ihm vorgelegten »Bilder« den Diskurs der Fachhistoriker illustrierend ergänzen, ohne ihn zu sprengen oder seiner Kritik zu verfallen. Dieses Konzept plausibel zu machen, bedeutet für Freytag allerdings einen schwierigen Balanceakt. Denn er muß sowohl den interessierten Leser dessen versichern, daß die Narration der Bilder am Sinn der Geschichte partizipiert, als auch die historische Zunft davon überzeugen, daß das Abstandsgebot zwischen historischer und fiktionaler Erzählung gewahrt bleiben wird. Freytag zieht sich damit aus der Affäre, daß er zwar einerseits der Dichtung das Recht zuspricht, ein dem historischen Diskurs nicht Kommensurables zu repräsentieren - das Kleine, das durch die Maschen im Netz der politischen Geschichte schlüpft - , daß er aber gleichzeitig versichert, der Sinn der Mikro-Geschichte sei, literarisch eingefangen, am Ende doch derselbe wie der der Geschichte überhaupt. Der historische Diskurs stellt darum für Freytag das verbindliche Formular des von ihm erzeugten fiktionalen Zusammenhangs dar. Frey tag postuliert, jedes seiner Bilder werde »eine Ahnung davon« geben, »daß sich in der Seele jedes Menschen auch ein Miniaturbild von der Persönlichkeit seines Volkes« finde. In strenger Analogie zur Historiographie des Historismus projiziert Freytag das Prinzip der Einheit seiner Darstellung auf den dargestellten Gegenstand und will ihm damit die Qualität eines »Ganze[n]« verleihen, an welches »eine Menge von Anschauungen und Kenntnissen, welche wir in uns tragen, blitzschnell anschießen, wie die Strahlen um den Mittelpunkt eines Krystalles.«24 Das historische Bild stellt ein Kleines niemals für sich dar, sondern stets als Miniatur des großen Ganzen. Diese Projektionstechnik beruht als Form historischer Darstellung jedoch nicht auf einer methodisch kontrollierten Erforschung von Quellen, sondern sie hat den Charakter einer Setzung: Weil Freytag die politische Geschichte, wie sie die Historiker erzählen, als gesetzmäßig kennt und anerkennt, weiß er immer schon im voraus, daß das in seinen Bildern nacherzählte Partikulare sich als ein Individuelles erweisen wird - aber nur insoweit, als es im besonderen denselben Bewegungsgesetzen folgt wie die Geschichte (des historischen Idealismus) im ganzen. Der Begriff der Illustration ist diesem Verfahren also vollkommen adäquat: Das historische Bild ist eine Ableitung aus dem historischen Diskurs, und nur in dieser Heteronomie hat es seinen Wert. Die Narration steht hier im Modus einer fortlaufenden petitio principii - streng rhetorisch ist sie

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Sämtliche Zitate Gustav Freytag, Bd. 1, Einleitung, S. 21-23.

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auch und gerade dort organisiert, wo sie auf die Schemata von Individualit ä t oder >Entwicklung< zurückgreift. Freytags Illustrationen verlassen sich auf die Einheit der (nationalen) Geschichte und deren als Entwicklung »zu größerer Freiheit«25 bestimmten Richtungssinn; nur vordergründig wird hier von historischen Individuen und ihren Schicksalen berichtet (als sei damit ein Impuls der Autonomieästhetik aufgenommen). In Wahrheit sind Freytags Einzelne bloß Abziehbilder der historischen Bewegungsgesetze. Derivate idealistischer Geschichtsphilosophie werden derart zu rhetorischen Dispositiven historischen Erzählens banalisiert; die angestrebte Repräsentativität der einzelnen Bilder können sie aber so wenig garantieren wie deren innere Einheit. Darum kann Freytag, was er selbst als Geschichte versteht, mit fiktionalen Mitteln gar nicht erzählen. Jede Illustration steht für sich, und der Leser soll sich wie der Betrachter eines Bildbandes verstehen. Die Verknüpfungen zwischen den Miniaturen stellen auktorial gesetzte Legenden her, die den Sinn der Geschichte im Modus von Postulaten vergegenwärtigen. Ein Leser jedoch, der erfahren will, was es tatsächlich mit der Geschichte auf sich hat, muß Freytags Buch beiseitelegen und zum Text der Historiker greifen.

Literatur mit beschränkter Haftung Ein vorgängiger Verzicht auf die methodische Rationalität und systematische Kohärenz der Fachhistorik ermöglicht der historisierenden Poesie die Integration jener Elemente, die der Historismus, in Abgrenzung von der Aufklärung, aus dem Gegenstandsbereich Geschichte ausschließen mußte, um die Homogenität seines Diskurses zu sichern.26 Das Dilemma einer Verwertung der vom historischen Diskurs hinterlassenen Abfälle in einer zweiten Narration, die neben der politischen Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen herläuft, ist jedoch offenkundig. Es ist das Dilemma der Kulturgeschichte im Historismus.27 Neben den großen Zusammenhängen, von denen die Fachhistoriker erzählen, wird ein vages Interesse am Besonderen profiliert. Nur kann eigentlich nichts Besonderes und erst recht nichts Signifi-

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Gustav Freytag, Bd. 1, Einleitung, S. 21. Vgl. Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 42f. Die folgende Methodenkritik der Geschichtsminiatur soll pointiert, sie mag sogar überpointiert erscheinen. Daß unter dem Motto der Kulturgeschichte Defizite des Historismus kompensiert werden, und daß damit in mancher Hinsicht dem extensiven Geschichtsbegriff der Moderne vorgearbeitet wird, soll keineswegs bestritten sein. Daß unter dem Signum der Kulturgeschichte sogar das Interesse einer genuin literarischen Geschichtskritik verfolgt werden kann, wird sich im folgenden noch zeigen.

kantes dabei herauskommen. So sind es lediglich rhetorische (weil im Verhältnis zur historischen Narration beliebige) Glanzlichter, die beispielsweise Frey tag seiner Einleitung aufsetzt - wenn er berichtet, daß es im 16. Jahrhundert schon gläserne Fensterscheiben, im 17. Jahrhundert dagegen viel Aberglauben gab, oder daß im 18. Jahrhundert Schafe aus Spanien nach Deutschland importiert wurden.28 Nimmt man solche Informationen aus dem jeweiligen Bild-Komplex heraus, läßt sich nicht einmal ein metonymischer Zusammenhang erkennen. Kultur ist alles und nichts. Was der Historismus durch die Entrhetorisierung der Aufklärungshistorik gewann - Rationalität der Darstellung und narrative Kohärenz - , das wird von historischer Poesie dieser Sorte zwangsläufig wieder verspielt; verspielt darum, weil die Rhetorik der Kulturgeschichte jener pragmatischen Transparenz enträt, in der die Historiographie der Aufklärung die Interessen ihrer Darstellung offenlegte. Stattdessen präformiert eine immer nur entlehnte Geschichtsmetaphysik alle Gegenstände, die das kulturhistorische Erzählen ergreift und nach Benutzung wieder fallenläßt. Aus diesem Grund gewinnt die historische Poesie auch keineswegs ein Selbstbewußtsein eigenen Rechts; unverzichtbar ist ihr vielmehr jener Demutsgestus, in dem man historische und literarische >Anspruchslosigkeit< gleich zu Anfang signalisiert. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Formel gespielter Bescheidenheit, sondern um die ausdrückliche Anerkennung der inzwischen bekannten Diskursregel: Historische Fiktionen funktionieren unter der Voraussetzung narrativer Heteronomie. Darum kann es, für Dahn und andere, erst recht für den historisch interessierten Laien so aussehen, als sei es in diesem Genre eigentlich um das Erzählen keine so schrecklich ernste Sache, als seien historische Romane nicht nur keine Geschichte, sondern auch keine Literatur. Der Jurist Heinrich Albert Oppermann etwa stellt seinem Monumentalwerk Hundert Jahre. 1770-1870. Zeit- und Lebensbilder [!] aus drei Generationen eine Vorrede (»An den Leser«) voran, in der er zum einen nach gutem Brauch das von ihm als Autor Erfundene von quellenkundlich belegten historischen Tatsachen scheidet, in der er jedoch zum anderen seinen Text ganz ausdrücklich unter den Vorbehalt eines beschränkten Anspruchs auf literarische Vermittlung stellt: Ich wollte nicht, wie die meisten Romane es thun, die Liebe, den Anfang zur Bildung einer Familie oder die Zerstörung einer solchen, zum Vorwurf meiner Erzählung nehmen, weder die oft so sonderbare psychische Entstehung und Entwickelung der Liebe, noch das Aufhören derselben durch Untreue, Eifersucht, Misverständnisse, Unsittlichkeit, Ehebruch, noch die der Liebe entgegentretenden Hemmnisse und Conflicte, welche durch Geburt, Stand, Reichthum, Armuth, Religionsverschiedenheit, Feindschaft der Aeltern, Verrath von Freunden u.s.w., veranlaßt werden. Ich traute mir nicht die Kraft zu, blos seelische Zustände zum

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Vgl. Gustav Freytag, Bd. 1, Einleitung, S. 1, 8, 12.

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Gegenstande der Dichtung zu machen. Wohl aber glaubte ich, in der Geschichte der Familien, die ich zwei oder drei Generationen hindurch schildern wollte, den Charakter des Zeitalters im allgemeinen zeichnen zu können. 29

Zwar wird Oppermann, seine Vorrede kündigt es im Detail an, die topischen Figuren und Konflikte romanhafter Narration keineswegs verschmähen. Aber sein Bilderwerk soll eben alles sein - nur kein moderner Roman. »Wie es war und wie es geworden«,30 lautete zunächst der Arbeitstitel des Projektes. Und die Antwort auf die damit implizit gestellte Frage ist für Oppermann nicht in den sozusagen >privaten< Problemen seiner Protagonisten zu suchen. Soweit die Topoi genuin literarischer Konflikte ins Bild kommen, haben sie im Verhältnis zu Oppermanns primärem Interesse, historische Gegebenheiten im allgemeinen zu charakterisieren, wiederum nur illustrative Funktion. Der allgemeine Diskurs der Darstellung, den Oppermanns Roman generiert, deckt sich deswegen aber noch lange nicht mit dem methodisch kontrollierten Diskurs eines Fachhistorikers - es kommt ja vielmehr darauf an, durch die Einführung signifikanter fiktionaler Elemente ins historisch Tatsächliche dessen allgemeine Repräsentanz erst herzustellen. Dabei wird aus Oppermanns Einlassung - und aus der Wahl seines Gegenstandes - besonders deutlich, welche Folgen daraus für die Literarizität des so konzipierten Textes entstehen. In einem gewissermaßen systematischen Mißverständnis werden die für die Genese der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland formativen hundert Jahre literarisch dadurch charakterisiert, daß sämtliche Themen und Motive, mit denen die zeitgenössische Literatur operierte, lediglich als Staffage Verwendung finden. Mit der Absage an den scheinbar bloß am Seelischen interessierten Roman wird also auch jene Reflexivität gestrichen, durch die literarische Fiktionen zum Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung gerade in der von Oppermann dargestellten Epoche werden konnte. Das Paradox wird deutlich, wo der Autor einerseits die Familie als Schauplatz literarisch kodierter Konflikte ausdrücklich aus seiner Narration verbannt, wo er dieselbe Instanz jedoch im gleichen Zuge zum historischen >Rückgrat< seines Textes macht - als eine gleichsam naturale Garantin von (narrativer) Kontinuität. Unter Berufung auf das Allgemeine seiner historischen Intention meint Oppermann, sich die >Übersetzung< dieses Allgemeinen in das literarisch Signifikante seelischer Zustände ersparen zu können. Daß er sich damit auch der Literarizität seines Textes entledigt, erscheint ihm nicht als Verlust, sondern vielmehr als Chance - hatte er seiner Darstellung doch von vornherein eine entsprechende Vermittlungsleistung gar nicht zugetraut. 29

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Heinrich Albert Oppermann, Hundert Jahre. 1770-1870. Zeit- und Lebensbilder aus drei Generationen, Leipzig 1871, (Reprint: Frankfurt 1982), 3 Bde., Bd. 1, S. XIV. Heinrich Albert Oppermann, Hundert Jahre, S. XV.

Oppermann hätte sich also niemals damit übernommen, einen Roman zu schreiben - wenn ihm der historische Roman nicht als ein prinzipiell anderes Genus der Darstellung erschienen wäre. Seine Vorrede beseitigt gewissermaßen im Vorübergehen das Mißverständnis, das aus dieser Äquivokation für die Lektüre seines Textes entstehen könnte. Auch Oppermanns Lebensbilder sind darum - in ihrem Selbstverständnis - nicht mehr als eine rhetorische Übung, die sich unterhalb der Forderungen nach historischer Notwendigkeit und ästhetischer Kohärenz halten darf. Implizit wird damit immerhin bestätigt, daß nicht nur der Geschichtswissenschaft, sondern auch der Poesie ein diskursives Feld sui generis zugestanden wird - freilich: jenseits der Geschichte. Der historische Roman jedoch braucht jener literaturimmanenten Logik nicht zu folgen, die von der Dichtung verlangt, den Thesaurus der literarischen Sujets und narrativen Verknüpfungsmuster im Medium seelischer Zustände durchzuarbeiten und selbstreferentiell zu vermitteln. Man darf Oppermann geradezu ein fortgeschrittenes literaturtheoretisches Verständnis darin attestieren, daß er der Referenzillusion gar nicht erst erliegt, die literarische sei auch die historisch-tatsächliche Familie. Da er um die konstitutive Differenz zwischen literarischen und historischen Narrationen weiß, hält Oppermann zugleich für ausgeschlossen, daß das Besondere und Einzelne der Geschichte mit poetischen Darstellungsmitteln zu bewältigen sei. Auf je verschiedene Weise setzen Dahn, Freytag und Oppermann eine historische Poesie unter den Bedingungen des Historismus in ihr wenigstens selbstbeschränktes Recht. Zu betonen ist allerdings, daß die Genannten in ihren Vorreden lediglich Beispiele für literarische Strategien liefern, während ihre literarische Praxis damit so wenig analysiert ist wie das Erzählen anderer Autoren. Immerhin dürfte deutlich geworden sein, wie fruchtlos alle Diskussionen über den Ursprung des historischen Romans im frühen neunzehnten, im achtzehnten oder einem noch früheren Jahrhundert bleiben müssen. Einem Erzählgenre, das in seinen Konstitutionsbedingungen so direkt von den Veränderungen der Diskurse, vom jeweiligen Literatur- und Geschichtsbegriff abhängig ist, wird man kaum gerecht, wenn man ihm die Substanz einer historisch stabilen Gattung unterstellt. Wird die rhetorisch definierte Kommensurabilität sämtlicher Typen historischen Erzählens einmal aufgegeben, wie es mit Ende der Aufklärung geschieht, und hat die Geschichtswissenschaft im Historismus ihr Erzählmonopol einmal errichtet, dann bedeutet es etwas völlig Anderes als zuvor, Geschichten aus der Geschichte zu erfinden; wobei zu konzedieren ist, daß diese qualitative Veränderung sich nicht in einem historischen Sprung, sondern in einem komplexen und von Widersprüchen keineswegs freien Prozeß vollzieht. Es liegt nämlich eine unbestreitbare Ironie darin, daß mit dem allgemeinen Historismus um 1800 die große Stunde des historischen Romans gekommen scheint - so daß es tatsächlich so aussehen kann, als werde das Genre mit Scotts 49

Waverley (1814) ganz neu erfunden; und daß diese Verheißung, sobald sich der Historismus in einer Praxis historischer Wissenschaft rationalisiert, zunehmend als unerfüllbar erscheint.

Scotts Poetik der historischen Differenz Die interdiskursive Abhängigkeit historischer Fiktionen vom Diskurs der Geschichtswissenschaft, wie sie im Historismus besteht, ist eine konstitutive Voraussetzung für den historischen Roman des 19. Jahrhunderts. Sie stellt aber nicht dessen hinreichende Bedingung, schon gar nicht seine vollständige Beschreibung dar. Darum darf sich die Analyse keinesfalls damit zufriedengeben, konzeptuelle Widersprüche zu Lasten der literarischen Fiktion zu registrieren; und sie darf sich auch nicht damit begnügen, die Verlautbarungen der Autoren über ihre Texte zu registrieren und ideologiekritisch zu zerlegen. Im folgenden wird darum ein Perspektivenwechsel vollzogen und eine Gegenthese profiliert. Sie lautet, auf ihre einfachste Formel gebracht: Der historische Roman im 19. Jahrhundert ist keineswegs der rhetorische Appendix der Geschichtswissenschaft; er kann jedoch, wie gezeigt wurde, auch nicht deren gleichberechtigtes Pendant in einem Literatur und Wissenschaft gemeinsamen Interesse an der Geschichte sein. Darum werden die historischen Fiktionen im Historismus erst verständlich, wenn man sie als Funktionen des literarischen Diskurses versteht. Nur mittelbar sind historische Romane Repräsentationen historischer Zusammenhänge; zunächst einmal sind sie um der Literatur selbst willen geschrieben und verfolgen ein literarisches Interesse - ein Interesse an Erzählmodellen und Textverfahren, das Interesse eines technischen Historismus,31 Diese These steht nur scheinbar im Widerspruch zum bisher Gesagten. Sie erweist sich diesem als streng komplementär, sobald das literarische Interesse am historischen Roman benannt wird: als ein Interesse am Erzählen von Geschichten gerade unter den Bedingungen diskursiver Heteronomie. Positiv formuliert: Ein Text, der vom Diskurs der historischen Tatsachen abhängig ist, kann Optionen der Darstellung ergreifen, die unter den ästhetischen Prämissen der Autonomieästhetik verstellt bleiben. Erst unter einer solchen Perspektive stellt sich am Paradigma des historischen Romans jener Zusammenhang von Historismus und literarischer Moderne her, der Sache der vorliegenden Studie ist. Dieser Zusammenhang ist freilich zumindest ambivalent. Nach geläufiger Lesart und mit gutem Recht ist das konstitutiv pragmatische Moment hi-

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Zu diesem Begriff vgl. Kapitel I 1: Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs.

storischen Erzählens in der Vorgeschichte der Moderne zu verbuchen, als ein Erbe des 18. Jahrhunderts. In der Systematik der Aufklärungsrhetorik gilt der Roman, wie schon dargelegt, als ein Genus der Geschichtsschreibung. Daraus gewinnt er Konkretion und Anschaulichkeit, während er sich zugleich seines Wahrheitsanspruchs, d. h. auch seiner formalen Stringenz, durch einen metaphysischen Rückbezug auf Vernunft und Moral als metahistorische Instanzen versichert.32 Nach Aristoteles verdient der Poet, der so verfährt, den Vorzug vor dem Historiker. Denn während dieser in seiner Darstellung an die Kontingenz des Historisch-Faktischen gebunden bleibt, hat jener die Lizenz, Fiktionen zu entwerfen und sie nach Maßgabe der bloßen Wahrscheinlichkeit zu verknüpfen. Von daher kommt der Poesie, freilich unter metaphysischer Aufsicht, ein höherer Kohärenz- und damit auch Wahrheitsgrad zu, als sie der historische Diskurs jemals erreichen kann. 33 Den Prämissen einer solchen Poetik folgt beispielsweise Walter Scott im Preface zu seinem Roman Waverley; or, 'Tis Sixty Years Since. In seinem Anspruch als historischer Erzähler von der Konkurrenz historistischer Fachhistoriker noch unbedrängt, setzt Scott ganz selbstverständlich voraus, daß er mit Mitteln der Fiktion über den Objektbereich Geschichte verfügen kann. Die Konfrontation des Lesers mit der erzählten Vergangenheit ermöglicht dem Autor »some favourable opportunities of contrast«, und diese sollen, in einer ausgewogenen Mischung mit dem »amusement« des Publikums, dazu dienen, »at once to vary and to illustrate the moral lessons which I would willingly consider as the most important part of my plan«.34 Das erscheint wie eine Replik jener Technik nachlässiger Einkleidung einer didaktischen Intention ins historische Kostüm, die in Deutschland etwa Wieland in seinem Agathon (1766/67) bereits mit äußerster Ironie behandelte. Und entsprechend scheint Scott auch in seinem Verständnis von Geschichte noch ganz der Aufklärung verpflichtet. Ein ums andere Mal betont er die Unveränderlichkeit der anthropologischen Substanz, die sich in jedem historischen Wechsel identisch erhält; und in diesem Sinn soll auch der Roman verstanden sein: It is from the great book of Nature, the same through a thousand editions, whether of black letter or wire-wove and hot-pressed, that I have venturously essayed to read a chapter to the public.35

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Für Hinweise zur Problematik dieses Konzepts und auf die Forschung vgl. Christoph Brecht, Die gefahrliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks, Tübingen 1993, S. 18-37. Vgl. Aristoteles, Poetik, 1451a-1451b. Walter Scott, Waverley; or, 'Tis Sixty Years Since, hg. v. Claire Lamont, Oxford 1981, S. 5. Walter Scott, Waverley, S. 5. »Ich habe den Versuch gewagt, der Leserschaft einen Abschnitt aus dem großen Buch der Natur zu deuten, das durch tausend Auflagen hindurch unverändert bleibt, ganz gleich, ob es in Fraktur gesetzt oder auf satiniertes Velinpapier gedruckt wird« (Waverley, oder: 's ist sechzig Jahre her, übers, v. Gisela Reichel, München 1982; S. 11).

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Wenn es sich so verhält - warum sollte Scott überhaupt die »disadvantages« auf sich nehmen, die sich mit der Wahl seines historischen »subject« verbinden? 36 Jedoch zeigt Scotts Behandlung des Topos vom Buch der Natur zugleich eine subtile Tendenz zur Historisierung. Der Hinweis auf die Abgeschlossenheit des erzählten chapter suggeriert eine innere Einheit des Vergangenen, während in der Differenz verschiedener editions sehr deutlich eine prinzipielle Diskontinuität im Identischen von Gegenwart und Geschichte akzentuiert wird. Entsprechendes gilt für die Perspektive des Romans insgesamt: »Waverley is about not just the past but the pastness of the past, about a past which is qualitatively different from the present.«37 So verstanden, markiert Scotts Roman exakt die Schnittstelle zwischen dem metahistorischen Interesse einer Aufklärung, die in Form einer »tale of manners«38 allenfalls vergleichende Sittengeschichte betreiben will, und dem neu definierten Interesse eines aufgeklärten Historismus, in dem die Geschichte um der Differenzen und des Eigenrechts ihrer Epochen willen thematisch wird. Scott's historicism - in dieser Hinsicht vielleicht der Position Herders in Deutschland vergleichbar - ließe sich dann einigermaßen bruchlos auf die engen Beziehungen des Autors zur historischen Schule der schottischen Aufklärung zurückführen.39 Auch diese Lesart läßt freilich das beachtliche Selbstbewußtsein unerklärt, mit dem Scott seinen Roman im Preface zwischen allen Stühlen des zeitgenössischen Literaturbetriebs piaziert. Waverley ist keine »Tale of other Days«, kein »Romance from the German«, keine »Sentimental Tale« und keine »Tale of the Times« - alles Optionen jeweils hochkonventionalisierter literarischer Genres, deren Implikationen Scott mit spielerischer Ironie erörtert. Waverley ist »neither a romance of chivalry, nor a tale of modern manners«. Auch durch die erst später zur poetologischen Maxime aufgewertete 60-Jahres-Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem ist im Preface zunächst einmal nicht mehr bezeichnet als eine noch leere Mitte zwischen den selbstgenügsamen Reizmustern von »antiquity« oder »novelty«.40 Unter der Fülle negativer Bestimmungen droht das positive Anliegen des Waverley zu verschwinden, so daß die These gerechtfertigt scheint, Scott finde hier selbst noch keine poetologisch hinreichende Legitimation für einen Typ von Erzählung, der im Literatursystem keinen definierten Ort hat und darum kein Interesse beanspruchen dürfte. Tatsächlich bezieht der Autor daraus gerade seinen literarischen Anspruch: Waverley wird als eine singuläre Geschichte

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Walter Scott, Waverley, S. 5. Richard Humphrey, Walter Scott. Waverley, Cambridge 1993, S. 96. Diese Option wird von Scott als für das Sujet des Waverley unangemessen abgelehnt; vgl. Waverley, S. 4. Vgl. etwa: David Brown, Walter Scott and the historical imagination, London/Henley/Boston 1979, besonders S. 173-209. Walter Scott, Waverley, S. 3f.

angekündigt, die um ihrer selbst willen für wert gehalten wird, erzählt zu werden. Zur Durchführung dieses Experiments bedarf es einer formalen Innovation in den Mitteln der Darstellung und im Organisationsprinzip der Narration. Das historische Sujet gibt zunächst einmal das Operationsfeld für ein alternatives Modell literarischer Repräsentation ab. Dieses wäre, so viel darf aus Scotts Abgrenzung von den selbstreferentiellen Spielformen des zeitgenössischen Diskurses erschlossen werden, als ein realistisches zu bezeichnen. Nun ist die Rede von Scotts Realismus nicht mehr als ein Gemeinplatz recht unbestimmten Inhalts. Ganz gewiß geht es dem Autor nicht um eine Rückbindung des Erzählens an das historisch Faktische: Scott consistently refused to accept such a straitjacket in his fiction. It is certainly arguable that historical realism depends on an imaginative recreation of the period, rather than on a mere extrapolation from historical fact, just as novelistic realism in general differs from documentary.41

Derartige Bestimmungen müssen vage bleiben; sie reproduzieren allenfalls die Argumente, mit denen sich historische Dichtung gegenüber der Wissenschaft auf ihre poetisch-kulturgeschichtliche Lizenz beruft. Zudem ist lange bekannt, daß Scott sich nicht allein vielfache Verstöße gegen die historische Wahrheit erlaubt, sondern daß er seinen verschiedenen historischen Sujets auch mit dem immer gleichen Personal, mit tendenziell identischen Handlungsschemata und einem stereotyp wiederholten Konzept des Konflikts zwischen Alt und Neu, Past and Present zu Leibe rückt. Auch die topographische Exaktheit in der Beschreibung der Lokale und die Integration des (gälischen) Dialekts als spezifische Qualitäten der Waverley Novels42 ändern nichts an dem Befund, daß Scotts Erzählmodell für den historischen Roman durchaus nicht auf einer Strategie historischer Individualisierung beruht, sondern auf dem allgemeinen Diskurs eines höchst präsenten Erzählers. Scotts zeitgenössische Leser erkennen die Effekte dieser Erzählweise vielleicht darum so genau, weil ihre Lektüre noch nicht durch den Filter einer unendlichen Realismus-Diskussion gegangen ist. So ist es Alexis, der in Scotts Romanen »die Person des sogenannten Helden ganz zurücktreten« sieht, wogegen die andern mannigfachen Gegenstände zur Hauptsache im Romane werden. Dieß scheint uns der Sieg der Objektivität über die Subjektivität und vielleicht die Bestimmung aller Romane. 43

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David Brown, Walter Scott, S. 180f. Vgl. exemplarisch: John Lauber, Sir Walter Scott. Revised Edition, Boston 1989, S. 100130. Willibald Alexis, The Romances of Walter Scott (1823), in: Romanpoetik in Deutschland, S. 56-60; S. 58.

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Wer Scott kritisch gegenübersteht, in Deutschland etwa Immermann, kann auch die Widersprüche im Konzept eines solchen Gegenstands-Romans analysieren. Der Historiker stört den Poeten, und doch kann die historische Wahrheit vor der Poesie nicht zum vollen Durchbruch kommen. Man sieht deutlich das Bestreben des Verfassers, Sitten und Gesinnungen der Vorzeit darzustellen, darüber leidet die Darstellung der Handlung, und das Ruhende, das Todte bekommt auf Kosten des Fortschreitenden, Lebendigen die Herrschaft.

Anders als bei Homer »ist bei Walter Scott Alles fertig, wenn er es uns zeigt«. Scotts Texte erscheinen Immermann darum wie Bruchstücke aus ungeheuren gewirkten Teppichen. Sie sind zuweilen mit einiger Willkühr ausgeschnitten, und es ereignet sich, daß hier ein Bein, dort ein Arm, an einem andern Orte ein halbes Gesicht von fremden Gruppen zu dem Segment gelangt ist. 44

Immermanns Befund über eine Technik literarischer Darstellung, die ihre Gegenstände mortifiziert, segmentiert und in ihre Bestandteile zerlegt, um sie in einer Art Bricolage wieder zusammenzufügen, ist schon für sich genommen bemerkenswert genug. Mit einer Entschiedenheit, die man gemeinhin erst der literarischen Decadence zutrauen würde, blickt Immermann auf die Oberfläche des Textes, und dabei - die Metapher des Gobelins ist keineswegs zufällig gewählt - verwandelt sie sich ihm in eine Textur.45 Dem entspricht Alexis' zustimmende Auslegung der Scottschen Objektivität, in der die Geschichte des Helden nurmehr Vorwand für ist für eine Konfiguration der Gegenstände, der Objekte. Nimmt man beide Befunde zusammen, so ergibt sich (aus Lob und Tadel) nicht nur die denkbar härteste Antithese zur prozessualen Poetik des Bildungsromans; sondern es wird zugleich das Modell eines Textes entworfen, der autonome Partikel allein durch die Willkür seines Diskurses in einem gemeinsamen Tableau vereinigt. Über die spätere Kompromißformel eines Detailrealismus geht diese Diagnose weit hinaus; sie nimmt vielmehr mit Präzision jene Autonomie der Lexeme in den Blick, die für das Erzählverfahren des historischen Romans im 19. Jahrhundert - schon an seinem >Ursprung< - charakteristisch ist. Daß Walter Scott damit nicht einfach Unrecht getan wird, kann eine erneute Lektüre des Waverley-Preface belegen. Denn die Beteuerungen des Autors, seine Richtschnur sei die anthropologische Konstante, bleiben äußerst zweideutig. Die substantielle Identität eines metahistorischen Substrats differenziert sich ja überhaupt erst durch die scheinbar akzidentiellen Ver-

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Karl Immermann, Vorrede zur Übersetzung von Walter Scotts »Ivanhoe« (1826), in: Romanpoetik in Deutschland, S. 60-63; S. 62f. Zur Textur und ihrer Metaphorik vgl. Kapitel II 3: Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa.

schiedenheiten der jeweiligen Oberfläche. Und diese Oberfläche ist es, die Scott in ganzen Serien metaphorischer Amplifikationen beschreibt. Die »description of men« kann nur über die Beschreibung ihres Kostüms erfolgen; »the array of a fictitious character« als das Ephemere wird für den historischen Roman das Wesentliche, dessen Beschreibung wird bereits im Preface zum Telos des Erzählens. Nur auf dieser Oberfläche kann eine semantische Differenzierung erfolgen - wenn sich anders unter der Hülle immer wieder dieselben »passions« verbergen, which have alike agitated the human heart, whether it throbbed under the steel corslet of the fifteenth century, the brocaded coat of the eighteenth, or the blue frock and white dimity waistcoat of the present day. Upon these passions it is no doubt true that the state of manners and laws casts a necessary colouring; but the bearings, to use the language of heraldry, remain the same, though the tincture may be not only different, but opposed in strong contradistinction.46

Auf dieses Gewebe von Unterscheidungen wird zumindest implizit auch angespielt, wenn das Buch der Natur in seiner jüngsten Auflage auf besonders vornehmem Papier, »wire-wove and hot-pressed«, gedruckt sein soll. Denn wenn sich im Wesen von Natur und Geschichte lediglich eine diffuse und unterschiedslose Idenität der »ruling impulse[s]«47 erkennen läßt, wird der Betrachter genötigt, auf die differenzierten Abschattungen und erst recht auf die strong contradistinctions in den historischen Texturen zu achten. Scotts auktorialer Diskurs baut zwar auf starken Strukturen auf, die er mit massiven ideologischen Implikationen belädt. Daran, daß dieses Verfahren an verschiedenen Gegenständen eine höchst unterschiedliche heuristische Effizienz beweist, und erst recht daran, daß dieses Verfahren zur Bewältigung zeitgenössischer Stoffe untauglich bleibt,48 zeigt sich gleichwohl die Prädominanz eines rein formalen Schemas, das den Konflikt einer vergangenen Gegenwart mit einer vergangenen Vergangenheit als contradistinction zweier >fertiger< Semantiken inszeniert. Diese sind, mit Immermann zu reden, tot-, genau darum können jedoch sie mit historischem Material besetzt und angereichert werden. Dadurch wird das Vergangene wieder lebendig·, und in dieser Zubereitung wird es im 19. Jahrhundert allgemein geschätzt. - Eine Kunst der Oberflächen, oder, wie Immermann kongenial

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Walter Scott, Waverley, S. 4f. - »Empfindungen, die [...] das menschliche Herz immer bewegt haben, ganz gleich, ob es unter dem Eisenpanzer des fünfzehnten Jahrhunderts, dem Brokatgewand des achzehnten Jahrhunderts oder dem blauen Frack und der weißen Körperweste unserer Tage schlägt. Es trifft zweifellos zu, daß diese Empfindungen durch die jeweiligen Sitten und Gesetze eine besondere Färbung erhalten; aber, um in der Sprache der Heraldik zu reden, das Wappen selbst bleibt das gleiche, auch wenn die Bemalung nicht nur unterschiedlich, sondern sogar ganz gegensätzlich sein kann« (Waverley, S. 10). Walter Scott, Waverley, S. 5. Vgl. David Brown, Walter Scott, S. 205-209.

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sekundiert, eine Kunst der Gobelins: Genau dies soll Scotts historischer Roman sein, und genau dies ist schon das Preface, wenn es das immer gleiche Argument durch immer neue historische und literarische Kontraste amplifiziert. Das ist wohl zugleich die klarste Erläuterung seines Realismus, die von Scott erwartet werden kann.

Poetiken der Kontingenz Die aristotelische Distribution des Besonderen und Allgemeinen auf Historie bzw. Dichtung setzt voraus, daß das Allgemeine metaphysisch verwaltet wird und metahistorische Geltung beanspruchen kann. Walter Scott erweist dieser Poetik wortreich seine Reverenz, aber er unterläuft sie zugleich, indem er - im Vollzug des Erzählens - das Substantielle hinter jenen historischen Akzidentien verschwinden läßt, die in seinen Romanen die narrative Semiose erst ermöglichen. Mit den moral lessons des 18. Jahrhunderts hat dieses Verfahren nur noch bedingte Verwandtschaft. Sobald jedoch die Geschichtswissenschaft im Historismus einen durch Forschung vermittelten Wahrheitsanspruch sui generis erhebt, kann auf die aristotelische Position nicht mehr sinnvoll zurückgegriffen werden; zumindest dort nicht, wo man sich auf die Prämisse einläßt, der Sinn von Geschichte sei nur in dieser selbst zu finden. Ein solcher Sinn muß durch Erzählen hergestellt werden. Im Diskurs des Historismus gelten darum, wie gezeigt, dieselben narratologischen Spielregeln wie im Bildungsroman der Autonomieästhetik: Kontingenz wird nur insoweit zugelassen, als sie mit dem prozessual gedachten Ganzen der Erzählung vermittelt wird. Dieses Ganze realisiert sich im Prozeß, d. h. als Entwicklung von Individualität; unter der handlungslogischen Norm, daß alles, was zunächst zufällig erscheint, am Ende doch notwendig gewesen sein wird. Oder repräsentationslogisch: daß das Darstellbare durch die Prozessualität des Dargestellten selbst definiert wird. Ob es sich um Prozesse einer fiktiven Individuation oder um die Entwicklung politischer Gebilde, etwa der Nationen handelt - unter dem Postulat einer autonomen, selbstreferentiell vermittelten Bewegung kommt das in strengem Sinn Zufallige unter den Gegenständen erzählender Darstellung nicht mehr vor. In diesem Sinn interpretiert der geschichtswissenschaftliche Historismus »als historische Tatsachen vornehmlich absichtsvolle Handlungen«,49 denn nur diese sind der Interpretation im fest installierten hermeneutischen Zirkel zugänglich.

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Jörn Rüsen, Konfigurationen des Historismus, S. 110.

Der Forderung nach vollständiger selbstreferentieller Integration kann der historische Roman im Diskurs des Historismus per definitionem niemals vollständig genügen, denn er definiert sich eben durch seine Abweichung vom Erzählen der Historiker. Wenn Aristoteles dennoch weiterhin bemüht wird, wenn beispielsweise Hermann Kurz 1843 beansprucht, »im Dienst der Wahrheit zu lügen« sei »das holde Vorrecht der Poesie«, 50 dann steckt dahinter, genau besehen, ein geradezu antiaristotelisches Argument - denn die Wahrheit des historischen Romans soll die historische, sein Sinn soll der der Geschichte sein. Nun geht es allerdings nicht an, die Unvollständigkeit im faktengläubigen Diskurs der Historiker mit einer in sich geschlossenen Erzählung zu konterkarieren, die implizite Metaphysik des Romans dabei jedoch selbst wieder der Geschichte zu entlehnen. Diese Aporie ist nicht aufzulösen, ohne daß die konstitutiven Voraussetzungen des Historismus selbst in Frage gestellt würden. Und eine solche Infragestellung muß notwendig erfolgen, wenn es neben den Erzählungen der Historiker weiterhin die des historischen Romans geben soll. Kein Wunder also, daß Geppert in seiner Typologie des >einen< und des >andereneinen< vom >anderen< Roman kann allenfalls heuristischen Status beanspruchen. Dieses kritische Potential der Darstellung kann jedoch keinesfalls im Namen einer wiedergewonnenen Autonomie des poetischen Textes realisiert werden. Es würde die Selbstliquidation des historischen Erzählens bedeuten, die Dependenz vom historischen Diskurs und den An-

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Hermann Kurz, Nachwort zu Schiller's Heimatjahre. Erster Theil, in: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620-1880, hg. v. Eberhard Lämmert et al., Köln/Berlin 1971, S. 312-314; S. 313. Vgl. Hans Vilmar Geppert, Der >andere< historische Roman, Tübingen 1976.

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sprach auf eine auch historische Wahrheit aufzugeben - ein solcher Text wäre, ganz einfach, kein historischer Roman mehr.52 Seine Wahrheit kann jedoch vom Roman nicht selbstreferentiell erzeugt, sie kann allenfalls von den Historikern entliehen werden. Die Prozessualität der Geschichte ist aus diesem Grunde nicht zugleich die Form der Individualität im historischen Roman. Noch einmal sei an Scott erinnert: I have therefore, like a maiden knight with his white shield, assumed for my hero, Waverley, an uncontaminated name, bearing with its sound little of good or evil, excepting what the reader shall be hereafter pleased to affix to it.53

Der Held des historischen Romans ist ein leerer, frei besetzbarer Signifikant, er fungiert als Lexem unter Lexemen. Alexis hält demgemäß fest, Scotts Helden seien »unbedeutende, charakterlose junge Menschen, [...] liebenswürdige Nullen, erste Liebhaber, [...] negativ[e] Personen«.54 All dies trifft darum zu, weil die Zentralfigur einer historischen Erzählung sich ihr Schicksal nicht selbst aus scheinbaren Zufällen erzeugen darf, und weil sie darum dem Kriterium nicht genügt, nach dem Individualität durch Entwicklung erworben sein will. Solche Figuren müssen uncontaminated erscheinen, weil sie selbst nichts anderes sind als bloße Medien einer Kontamination: Statt daß sie sich entwickeln, entwickelt sich an den Zufällen ihrer Biographie die Notwendigkeit der Geschichte, die im Historismus die Funktionsstelle des Individuellen besetzt. Für den Roman hat dies zur Folge, daß auch die Kohärenz seiner Fabel letztlich auf der Notwendigkeit des historischen Prozesses beruht. Diese Garantie stiftet jedoch keineswegs schon ästhetische Kohärenz; ganz im Gegenteil verhindert sie letzten Endes deren Zustandekommen. Unter den Bedingungen diskursiver Heteronomie, im Historismus, kommt derart zum Tragen, was sich bei Scott andeutet: Der historische Roman ist ein Text mit Lizenz zum Gebrauch kontingenter Verknüpfungen und beliebiger Zeichen. Als dem historischen Diskurs entnommenes wird das Kontingente in einem ganz naiven Sinn repräsentabel. Wird Geschichte zum Selbstzweck eines literarischen Diskurses erhoben, dann darf, ja muß sie in ihren Details in die Fiktion integriert werden, obwohl solche Details ästhetisch funktionslos bleiben. So ergibt sich genau das, was Aristoteles dem Text der Historiker nachsagt: der historische Roman ist ein Aggregat kontingenter Zeichen.

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In den Bahnen einer entsprechenden Kritik bewegt sich im 19. Jahrhundert die Rezeption historischer Fiktionen aus der romantischen Schule. Walter Scott, Waverley, S. 3. - »Deshalb habe ich wie ein Ritter, der mit blankem Schild zum erstenmal in den Kampf zieht, für meinen Helden den unbelasteten Namen Waverley gewählt, worin weder Gut noch Böse mitschwingt, sofern es dem Leser nicht beliebt, ihm am Ende der Lektüre den oder jenen Beiklang zu geben« (Waverley, S. 7). Willibald Alexis, The Romances of Walter Scott, S. 56f.

Das Telos seiner kleinen Geschichte kann er nicht aus sich selbst, sondern nur dadurch legitimieren, daß er es für identisch mit dem Telos der Geschichtsbewegung überhaupt erklärt. Diese Delegation der internen Kohärenz an den historischen Diskurs ist durch keinen Klimmzug der historischen Imagination rückgängig zu machen. Positiv folgt daraus, daß der Romanerzähler die Sinnhaftigkeit seiner Erzählpraxis voraussetzen kann, ohne jemals den Beweis dafür antreten zu müssen, daß ein solcher Sinn im historischen Referenztext überhaupt aufweisbar sei. Schlicht gesagt: wenn im historischen Roman ein Wappen oder ein Kostüm, ein Festmahl oder eine Schlacht beschrieben wird, dann stellt das entsprechende Element nicht mehr dar als eine Referenz, ein Zitat aus dem historischen Diskurs. Da dieser selbst die Form eines großen, in sich kohärenten Romans hat, ist das im Erzählten Kontingente in zweiter Instanz doch wieder ein Notwendiges: In the long run wird alles seinen Sinn gehabt haben. Das Glück historistischer Geschichtsfiktionen liegt, trotz aller Demutsgesten, im Vertrauen auf diese fortlaufende Prolepse, die zum Prinzip des Erzählens wird - und unter deren Voraussetzung die Herstellung von Kontingenz zum Telos der literarischen Narration werden darf.55 Diese Voraussetzung betrifft aber nicht etwa nur die abstrakt-diskursiven Prämissen historischen Erzählens, sondern die elementaren narrativen Strukturen der Texte selbst, die Anordnung ihrer fiktionalen Elemente, die Texturen ihrer Oberfläche. Lange bevor Nietzsche einen Gedanken an das Textparadigma der Decadence verschwendet, ist das historische Erzählen unter den Bedingungen des Historismus ein Erzählen, das Details und Dinge, d. h. Sätze und Wörter akzentuiert, ein Erzählen, das mit der Autonomie der Lexeme rechnet und ästhetisch mit ihr kalkuliert. Dies wird umso deutlicher, je unmittelbarer Elemente des historischen Diskurses dem Erzähltext implantiert werden - besonders anschaulich etwa dort, wo die wissenschaftlichen Grundlagen der Poesie in Form von Fußnoten in den Erzähltext eindringen. Dies geschieht freilich nicht erst in den späteren Auflagen der Waverley-Romane, bei Scheffel oder Ebers, sondern bereits in Romanen des 17. oder 18. Jahrhunderts. Doch erst in der Konkurrenz zur wissenschaftlich kontrollierten Erzählung der Fachhistoriker repräsentiert das literarische Genus der Anmerkung jenen anderen und allgemeinen Diskurs, auf den die historistische Poesie konstitutiv angewiesen ist. Die Fiktion resigniert jetzt sichtbar vor der Aufgabe, die eigene Wahrheit des Erzählten mit Mitteln ästhetischer Selbstreferenz zu garantieren.

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Dies kann programmatisch, im Sinne einer Überwindung der klassisch-romantischen Ästhetik geschehen - aber es muß nicht so sein. An Scott und seinen Nachfolgern läßt sich vielmehr demonstrieren, wie die pragmatischen Momente im Roman der Aufklärung interdiskursiv, im Dialog mit dem Geschichtstext, in Verfahren des technischen Historismus transformiert werden.

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Welche Folgen sich aus dieser Poetik der Kontingenz nicht erst für den reflektierten, sondern auch für den scheinbar trivialen historischen Roman ergeben, soll mit einem Hinweis auf eines der großen Erfolgsbücher des 19. Jahrhunderts erläutert werden: Joseph Victor von Scheffels Ekkehard. Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert (1855). Die Fabel des Romans, der übrigens aus den Trümmern einer gescheiterten rechtshistorischen Habilitationsschrift entstand, läßt sich bündig zusammenfassen: Der Mönch Ekkehard wird in der Liebe zu Hadwig, der Herzogin von Schwaben enttäuscht; dadurch findet er jedoch letztendlich zu seiner wahren Berufung, der Poesie. - Scheffels Vorwort versammelt die inzwischen vertrauten Topoi zu einer Apologie des historischen Romans, »der als ebenbürtiger Bruder der Geschichte anerkannt zu werden« verlangt - zumal die Geschichte, wie sie bei uns geschrieben zu werden pflegt, eben auch nur eine herkömmliche Zusammenschmiedung von Wahrem und Falschem ist, der nur zu viel Schwerfälligkeit anklebt, als daß sie es, wie die Dichtung, wagen darf, ihre Lücken spielend auszufüllen. 56

Daß dem Historiker eben dies nicht erlaubt ist, weiß Scheffel im Grunde nur zu gut. Das belegt nicht zuletzt die massive Polemik gegen den historiographischen Historismus, die sich durch das gesamte Vorwort zieht. Scheffels Kampfansage gilt »dem Treiben und der Methode unserer Gelehrsamkeit«, einer »Leidenschaft« für das »Sammeln altertümlichen Stoffes«, die nur noch »zusammenträgt und zusammenscharrt, eben um zusammen zu scharren«. Das Bewußtsein für die problematischen Konsequenzen der historistischen Praxis ist um die Mitte des 19. Jahrhunderts freilich schon allgemein verbreitet; Scheffel ist hierin nichts weniger als originell (genausowenig wie später, in dieser Hinsicht, Nietzsche). Dennoch stünde die hier formulierte Grundlagenkritik des Historismus jedem (nach Geppert) anderen historischen Roman gut zu Gesicht: Ein ewiges Befangenbleiben im Rohmaterial, eine Gleichwertschätzung des Unbedeutenden wie des Bedeutenden, eine Scheu vor irgendeinem fertigen Abschließen, weil ja da oder dort noch ein Fetzen beigebracht werden könnte, der neuen Aufschluß gibt, und im ganzen - eine Literatur von Gelehrten für Gelehrte, an der die Mehrzahl der Nation teilnahmslos vorübergeht und mit einem Blick zum blauen Himmel ihrem Schöpfer dankt, daß sie nichts davon zu lesen braucht.57

So sieht der Positivismus der Forschungspraxis aus, wenn er sich unterhalb der ästhetischen Geschlossenheit des historischen Idealismus hält oder diese nur abstrakt voraussetzt - ein unabschließbarer, selbstreferentieller Prozeß,

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Joseph Viktor von Scheffel, Ekkehard, Gesammelte Werke in sechs Bänden, Stuttgart o. J.; Bd. 1/2, S. 99. Joseph Viktor von Scheffel, Ekkehard, S. 98.

in dem ein fundamentaler Relativismus durch Forschung hervorgetrieben wird: Ein Faktum ist nun einmal ein Faktum und eine Quelle ist eine Quelle, während die Wahrheit der Geschichte für den Historiker zur Vollständigkeit des bloßen Aggregats depotenziert ist. Auch wenn es sich hier um ein Zerrbild des Historismus handelt, ist dieses Zerrbild doch signifikant - da all dies, wie Scheffel richtig vermerkt, in der Konsequenz der historischen Methode liegt. Zur Legitimation seines poetischen Gegenentwurfs versieht freilich auch Scheffel seinen Text mit Anmerkungen für all diejenigen, die nicht ohne weiteres ihr »Vertrauen auf eine gewisse [!] Echtheit des Inhalts« setzen; er beruft sich auf »gewissenhafte kulturgeschichtliche Studien«, um zugleich einzuräumen, daß Personen und Jahreszahlen, vielleicht Jahrzehnte mitunter ein weniges ineinander verschoben wurden. Der Dichter darf sich, der inneren Oekonomie seines Werkes zulieb manches erlauben, was dem strengen Historiker als Sünde anzurechnen wäre.58

Hier wird nun sehr deutlich, daß die Poesie nicht weniger als die historische Forschung ein selbstreferentielles Spiel treibt, und daß der »historische Roman« die Funktionsstelle dessen, was früher »epische Dichtung« hieß, nur durch Anwendung manipulativer Verfahren besetzen kann. »Ein Stück nationaler Geschichte in der Auffassung des Künstlers« soll geboten werden, wobei »im Leben und Ringen der einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie zum Spiegelbild zusammenfaßt«. Gustav Freytag, der als Scheffels Zeitgenosse dasselbe Argument vorbringt,59 verschließt sich der Einsicht nicht, daß ein solches Konzept spiegelnder Repräsentation den historischen Diskurs und seine Wahrheit voraussetzt. Scheffel dagegen klagt ein, der gelehrte Diskurs der Historiker versage vor der Aufgabe, sich als exemplarisch und repräsentativ zu vermitteln. - Die Poesie als Alternative soll dies zustandebringen. Sie verfährt im Mittel »einer schöpferisch wiederherstellenden Phantasie« dann so, daß sie »das Schöne und Darstellbare einer Epoche umfaß[t]« - oder vielmehr: daß sie sich auf dieses beschränkt! Das bedeutet nicht nur, daß der Roman den historischen Diskurs nach Maßgabe seiner eigenen Ordnung noch einmal segmentiert und seligiert. Sondern was unter dieser doppelten Voraussetzung, schön und repräsentabel zu sein, im Spiegel des Romans erscheint, ist als Abbild der Epoche definitiv das Konstrukt einer autonom poetischen Imagination, die sich als imaginative recreation of the period zu tarnen versucht. Darum ist auch für Scheffel die Geschichte so tot wie nur möglich und zur beliebigen Verfügung freigegeben - eine Einsicht, die in der schönen Formulierung zum Durchbruch

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Joseph Viktor von Scheffel, Ekkehard, S. 102f. Vgl. oben: Literarische Geschichtsikonographie.

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kommt, es gehe um »die Frage, wie mit Erfolg an der geschichtlichen Wiederbelebung der Vergangenheit zu arbeiten sei«.60 Die Antwort auf diese Frage ist der Roman selbst, und in ihm erweist sich, daß die Verdrängung der poetischen Heteronomie nur durch einen Zirkelschluß ermöglicht werden kann. Der Sinn der Geschichte liegt, pointiert gesagt, darin, jene Kultur hervorzubringen, die sich einer kulturgeschichtlichen Rekonstruktion in Form historischer Romane anbietet. Im einzelnen kann hier nicht nachgewiesen werden, wie Scheffel entsprechende Motive in seine Narration einbaut - wie er zum Beispiel über den Topos vom lesenden Liebespaar (Abälard und Heloisa) verfügt, um im zehnten Jahrhundert eine Renaissance der Antike (vermittelt durch den Text Virgils) zu inszenieren, die sich dann im Ekkehard, als Renaissance nationaler Kultur, wiederholen soll. Lediglich auf die abschließende Pointe des Romans sei verwiesen, in der sich diese Figur zu einer Art Simulation von Selbstreferentialität verdichtet, mit der versucht wird, die These des Vorworts von der epischen Dignität des historischen Romans einzulösen. - Im Klima der Schweizer Alpen von der Liebe kuriert, wird Ekkehard, unter Beugung der historischen Wahrheit, zum Dichter des Walthariliedes, eines lateinischen Epos aus dem zehnten Jahrhundert. Völlig konsequent nimmt Scheffel dieses Epos in den Roman auf. Als dessen 24. Kapitel umfaßt es, in einer gereimten Nachdichtung, stolze 27 Seiten. Durch ihre Präsenz soll ein Stück historischer Poesie beglaubigen, was der historische Roman heute darstellt. Doch ist zwar Scheffels Version des Epos selbst ein Produkt des Historismus, das Waltharilied aber ist kein historischer Roman. In Scheffels Roman hat es den Status des Dokumentes, eines bloßen Belegs. Fremd und abweisend laden die Verse zum Überblättern förmlich ein. Denn im historischen Dichtwerk spricht sich eben nicht jener kunstliebende Klosterbruder aus, von dem Scheffel erzählt; und daß das Postulat seiner Autorschaft nicht einmal historisch einlösbar ist, unterstreicht nur die Nicht-Identität von historischem Epos und historistischem Roman. Die simulierte Selbstbegriindung des Erzählens verweist damit nachdrücklich auf jene Beziehungslosigkeit zwischen Erzähler und historischem Gegenstand, die Scheffels Roman im ganzen charakterisiert.

Poetiken der Beziehungslosigkeit In komparatistischer Sicht ist vielleicht Gustave Flaubert der Autor, an dessen historischen Fiktionen sich die Problematik des Genres am deutlichsten abzeichnet. Da Befunde einer fortgeschrittenen Lexemautonomie in Flau-

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Alle Zitate Joseph Viktor von Scheffel, Ekkehard, S. 99.

berts Texten an anderer Stelle nachgewiesen werden,61 soll hier ein scheinbar anekdotischer Hinweis genügen: Wenn Flaubert, wie bekannt, vor der Niederschrift eines Romans geradezu obsessiv sämtliche Literatur rezipiert, die über den ins Auge gefaßten Gegenstand bekannt ist, dann handelt es sich bei dieser Obsession nur noch dem Schein nach um >Vorarbeiten< zum Roman. De facto stellt die rezeptive Tätigkeit, als ein Äquivalent historischer Forschung, längst ein konstitutives Moment der Schreibarbeit selbst dar. Flaubert nimmt es mit dem Wahrheitsanspruch und der Präsenz zweier Diskurse in seinem Text lediglich ein wenig genauer als die Autoren des deutschen Historismus. Die »Scheu vor irgendeinem fertigen Abschließen, weil ja da oder dort noch ein Fetzen beigebracht werden könnte, der neuen Aufschluß gibt«,62 genau jene Erzählhemmung, über die Scheffel sich so großzügig hinwegsetzt, ist für Flaubert charakteristisch - und zwar, weil er kein Kriterium anerkennt, mit dem das Unbedeutende vom Bedeutenden unterschieden werden könnte. In ihrer Konsequenz verzichtet Flauberts historische Dichtung auf die Bequemlichkeiten der historischen Imagination; sie zielt auf das unerhörte Experiment ab, einen Text herzustellen, der keiner Anmerkungen mehr bedarf, weil er Satz für Satz und Wort für Wort die Zuverlässigkeit von Wissenschaft erreicht - ohne dabei jedoch vor der Darstellungsaufgabe der historischen Fiktion zu resignieren. An diesem Punkt wird das Erzählproblem des historischen Romans mit dem Problem von Repräsentation im Historismus überhaupt identisch.63 Eine Konzeption von vergleichbarer Stringenz ist im deutschsprachigen historischen Roman des 19. Jahrhunderts nicht erkennbar. Dabei lag es freilich in der Absicht der vorliegenden Studie, statt auf die Keller, Stifter, Meyer oder Fontane einmal auf die kleinen, für das Genre aber nichtsdestoweniger repräsentativen Meister hinzuweisen. Nicht dazu, dieses Defizit zu kompensieren, sondern eher dazu, das Ausmaß dieser Unterlassung zu kennzeichnen, sollen die folgenden Bemerkungen zu einer Erzählung von Wilhelm Raabe dienen. - Raabe hat wenig von der Geschichte gehalten und nicht viel von der Geschichtsschreibung erwartet. Klio gilt ihm als die »Muse der von den gebildeten Ständen der Gegenwart bevorzugten Geschichtsklitterung«.64 Hastenbeck (1898) trägt das Signum historischer Beziehungslosigkeit bereits im Titel: Denn Hastenbeck ist nicht Schauplatz der Erzählung, sondern ihrer Vorgeschichte; dort hat jene Schlacht stattgefunden, an deren Ausgang die Konvention von Kloster Zeven stand, und in die politischen Folgen dieser Konvention verwickeln sich Raabes Figuren, ohne

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Vgl. Kapitel II 1: Naturalismus und Decadence als Verfahren. Joseph Viktor von Scheffel, Ekkehard, S. 98. Vgl. Kapitel III 1: Erzählen. Vgl. Karl Jürgen Ringel, Wilhelm Raabes Roman »Hastenbeck«, Bern 1970, S. 131.

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irgendetwas von den politischen Voraussetzungen zu begreifen. So stellt >Hastenbeck< zwar im Diskurs der Historiker ein Datum dar; und dieses Datum erweist sich für das Findelkind Immeken wie für den Porzellanmaler und Deserteur Pold Wille als schicksalhaft. Doch die Spiegelbeziehung zwischen dem Leben der Einzelnen und dem Ganzen der Geschichte hat Raabe ein für allemal aufgehoben. Seine Protagonisten sind vor der Geschichte unbedeutend, und sie werden für die Geschichte nicht signifikant. Aus dieser Voraussetzung werden die Verfahren auch der Raabeschen Erzählung als Verfahren eines technischen Historismus erkennbar. Zwar wird fortlaufend aus dem historischen Diskurs zitiert, und der Erzähler greift vielfach auf historische Dokumente und Quellen zurück. Aber das mitunter fast wörtliche Zitat solcher Belegtexte soll den Leser keineswegs orientieren. Schon die Exposition der Erzählung65 bringt im Gegenteil die historischen Fakten in derart gründliche Verwirrung, daß Raabes Referenzen sich ohne profundes Vorwissen, ohne eigene Forschung nicht mehr aufhellen lassen.66 Daß die für historische Romane topische Wahrheitsbeteuerung ausdrücklich auf den fiktionalen, vom Erzähler verantworteten Teil der Geschichte beschränkt wird, unterstreicht die Absicht: Für den Diskurs der Historiker konnten Dichter niemals die Verantwortung übernehmen, sooft das Gegenteil behauptet wurde. Auch in Raabes Erzählung wird die konstitutive >Vorausgesetztheit< dieses fremden Diskurses nicht negiert. Aber der Erzähler nimmt, in dieser Hinsicht, nicht länger Rücksicht auf Darstellbarkeit, sondern beläßt die belegten Fakten gewissermaßen im Aggregatzustand ihrer Kontingenz. Diese Kontingenz ist freilich nicht beliebig. Sie ist nicht weniger manipulativ hergestellt als das individuelle Allgemeine im historistischen Erzählen. Raabes Arrangement, so ist zu folgern, reflektiert die Praxis des Geschichtspositivismus im Diskurs eines relativistischen Erzählens. Auf Raabes narrative Techniken, die für sein Erzählen charakteristische Intertextualität, die Raffinesse im Gebrauch von Zitaten und Anspielungen, kann hier nicht differenzierend eingegangen werden.67 Die der vielfachen Überschreibung der Narration mit anderen Texten komplementäre »devaluation of plot«68 erreicht in Hastenbeck ihr äußerstes; sie geht hier so weit, daß eine Fabel im engeren Sinn kaum noch zu paraphrasieren ist, weil die Geschichte des Liebespaars aus willkürlichen Identifikationen mit kulturellen Medien wie Geßners Idyllen (Daphnis und Chloe) oder dem Predigtbuch

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Vgl. Wilhelm Raabe, Hastenbeck, hg. von Hans-Jürgen Schräder, Frankfurt 1985, S. 9 12. Vgl. Ingrid von Heiseler, Die geschichtlichen Quellen und ihre Verwendung in Raabes Erzählung »Hastenbeck«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1967, S. 80-104. Vgl. etwa Wieland Zirbs, Strukturen des Erzählens. Studien zum Spätwerk Wilhelm Raabes, Frankfurt/Bern/New York 1986. Jeffrey L. Sammons, Wilhelm Raabe, Princeton 1987, S. 130.

des Gottlieb Cober überhaupt erst entsteht. Daß die von der Fürstenberger Porzellanmanufaktur in Umlauf gebrachten Abbilder Immekens (und ihrer Patronin, der Wackerhahnschen) am Ende wie Urbilder fungieren und das happy end herbeiführen, ist für diese Verschränkungen von Kunst und Leben (oder Kunstfiguren mit Kunstfiguren) bezeichnend. Für den hier erörterten Problemzusammenhang erhält jedoch ein spezieller Kunstgriff in der Konstruktion von Hastenbeck besondere Signifikanz: Die Figuren der Erzählung, die da im Jahre 1757 von allen Hunden gehetzt durch das winterliche Niedersachsen fliehen, befinden sich, ohne es zu wissen, und ohne es wissen zu können, auf einer Art Bildungsreise. Die Topographie der Erzählung wird mit einer imaginären Topographie der deutschen Klassik überblendet, in der alle Wege - historisch - nach Weimar führen. Nachdrücklich weist der Erzähler darauf hin, welche Rolle die Stolbergs, Bürger oder Voß, Jerusalems (des nachmaligen Werthers) Vater oder das lebende Vorbild zum Antonio (aus Goethes Tasso) einmal zu spielen haben werden - er will sich »offensichtlich keine Gelegenheit entgehen lassen [...], Goethe in das Gemälde hineinzubringen«.69 Der erzählerische Spiegel, der einmal das Große im Kleinen repräsentieren sollte, muß in diesem Fall allerdings schon darum blind bleiben, weil die unbedeutenden Figuren in Hastenbeck dem wahrhaft großen Mann im Diskurs des Erzählers, Goethe eben, schon aus historischen Gründen niemals begegnen können. Prägnanter noch als in der Titelgebung ist die Verschränkung der Narration mit dem Diskurs der Literaturgeschichte vom Prinzip der Beziehungslosigkeit gekennzeichnet. Genausogut wie Hastenbeck, genau besehen sogar noch treffender, hätte Raabe seine Erzählung darum mit dem exzentrischen Titel Weimar überschreiben können. Von Motiven einer »bürgerlichen Identitätssuche«, wenn auch mit offenem Ergebnis,70 kann wohl dennoch kaum gesprochen werden. Vielmehr ist es Raabe um eine genau kalkulierte Umsetzung der Paradoxien des historischen Romans in ein erzählerisches Vexierbild zu tun. Im Diskurs des Historismus beruht die Möglichkeit historischer Fiktionen, wie gezeigt wurde, auf der Figur einer fortlaufenden Prolepse, einem Vorgriff auf den Sinn der Geschichte und der Verwandlung dieser Geschichte in einen (Entwicklungs-)Roman. Bei Scheffel wird diese Prolepse im Erzählten formal dadurch verankert, daß das historische Epos den historischen Roman präformiert, das heißt, daß die Herstellung von Kultur (als Literatur) zum Sinn der Geschichte - und ihrer literarischen Wiederbelebung - erklärt wird. Diese Implikation des historischen Romans macht Raabe im Erzählarrangement von Hastenbeck zur Explikation - aber nur, um sie erzählend

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Barker Fairley, Wilhelm Raabe, München 1961, S. 77; vgl. S. 76-84. Irmgard Roebling, Raabes doppelte Buchführung, Tübingen 1988, S. 53; vgl. passim.

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aufzuheben. Denn unter den Bedingungen der ästhetischen Prolepse müßte die Geschichte Immekens und Pold Willes zur Bedingung der Möglichkeit nationaler Kultur in ihrer vornehmsten, klassischen Ausprägung erklärt werden. Das jedoch wäre für Hastenbeck eine nicht nur zynische, sondern auch eine unhaltbare Auslegung. Raabe demonstriert vielmehr, daß das eine mit dem anderen nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Um den Zusammenhang von politischer Geschichte und kultureller Blüte mag es so oder so stehen - stets wird die immanent gesetzte Teleologie des historischen Entwicklungssinns das Besondere und Einzelne der Geschichtssubjekte als unbedeutend von der Darstellung ausschließen. Das panoramatische Verfahren des historischen Romans wird darum in Hastenbeck geradezu pervertiert. Die Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts wird in einer enzyklopädischen Vielfalt von Referenzen heranzitiert, aber sie wird nur durch kontingente Setzungen mit dem Erzählten vermittelt. Die Herstellung von Klassik mag ein nationales Telos bedeuten; dem Erzählten bleibt dieses Telos gerade dort, wo seine Figuren mit dem nachmalig Klassischen in physische Berührung kommen, inkompatibel. So verstanden bleibt Raabe bei einer Kritik des historischen Diskurses nicht stehen, sondern er zielt auf eine prinzipielle Kritik am Begriff einer (historistischen) Kultur, die narzißtisch sich selbst zur Erfüllung der Geschichte erklärt. Ein solcher Einspruch wird jedoch erst möglich durch eine im Erzählen durchgeführte, radikale Selbstkritik der Verfahren literarischer Kohärenzbildung. Die Gleichung von Literatur und Geschichte geht nicht auf. Das demonstriert, je auf seine Weise, jeder historische Roman. Motive der Geschichtskritik oder gar der Geschichtsnegation, einer negativen Eschatologie oder eines ahistorischen Fatalismus bestimmen weithin den historischen Roman des 20. Jahrhunderts.71 Dies ist jedoch nicht allein darauf zurückzuführen, daß die Moderne den Glauben an den Sinn der Geschichte verloren hätte; zumindest ist der Zusammenhang zwischen historischen und erzählten Katastrophen ein äußerst vermittelter. Skeptizismus und Fatalismus können als Diskurseffekte eintreten, sobald jener implizite Vertrag gekündigt wird, der von Romanen fordert, ihren fiktionalen Eigensinn den Kontingenzen des historischen Diskurses zu unterwerfen. Der negative Geschichtsroman der Moderne betreibt, wie schon Raabe, Geschichtskritik als Verfahren: Die Freiheit der Fiktion wird an der Übermacht des Faktischen gebrochen; zugleich denunziert das Erzählen die Faktizität der vermeintlich historischen Wahrheit als einen Diskurs unter anderen. Die - immer noch: unveränderten - Voraussetzungen historischen Erzählens werden produktiv negiert, so daß

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Vgl. etwa: Harro Müller, Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe. Historische Romane im 20. Jahrhundert, Frankfurt 1988. - Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß so gut wie alle Formen historischer Fiktion, die im Historismus entwickelt wurden, bis heute fortbestehen (und sich bestens verkaufen).

es, im Extremfall, hinter dem historischen Diskurs gar keine >wirkliche< Geschichte mehr gibt, also keine Notwendigkeit, aber auch keinen Zufall. Dadurch wird jedoch der historistische Effekt im Textverfahren nicht aufgehoben, sondern vielmehr nach Belieben verschärft. In den modernen Poetiken der Beziehungslosigkeit fungiert die Muse der Geschichtsklitterung als Patronin eines montierenden, collagierenden Verfahrens: Aus diskursiver Heteronomie wird programmatisch Heterogenität. Von den Texturen eines solchen Erzählens wird im folgenden durchweg die Rede sein, denn es handelt sich um die Texturen der literarischen Moderne überhaupt.

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3.

Populäre Wissenschaftsprosa und Lexemautonomie von Friedrich

Dethlefs

Im Vorwort zum ersten Band seines Monumentalwerks über das Leben der Tiere beschäftigt sich Alfred Brehm unter anderem mit der Stimme. Er vertritt die These, daß Säugetiere mit Ausnahme des Menschen im Gegensatz zu den Vögeln keine harmonischen Laute hervorbringen, also eigentlich nicht singen können. Dazu vermerkt er in einer Fußnote: In der Neuzeit hat man allerdings mehrfach von >singenden< Mäusen gesprochen; es bedarf aber unzweifelhaft noch anderweitiger Beobachtung, um jenen Ausdruck zu rechtfertigen. Das >Singen< der Mäuse ist sicherlich auch nichts anderes als ein zwitscherndes Pfeifen.1

Dieses Problem findet sich in einem nachgelassenen Text Franz Kafkas wieder, der unter dem Titel Josephine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse bekannt ist. Die Erzählung dreht sich um die nicht zu klärende Frage, was den Gesang Josephines ausmacht und wie er überhaupt wahrzunehmen ist. Am nächsten kommt Kafkas Text der Brehmschen Fußnote in folgender Reflexion: eine Ahnung dessen was Gesang ist haben wir und dieser Ahnung nun entspricht Josefinens Kunst eigentlich nicht. Ist es denn überhaupt Gesang, ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen? 2

Die Übereinstimmung ist so offensichtlich, daß man im Werk-Kommentar vermerken könnte, Kafka habe sehr wahrscheinlich das Thierleben selbst (oder doch wenigstens das gleiche Werk wie Brehm) als Vorlage benutzt. Der Fund läßt sich aber auch als besonders markanter Fall allgemeinerer intertextueller Beziehungen verstehen. Er provoziert die Frage, wie ein solcher Bezug zwischen einem Sachtext und einem Text der literarischen Moderne eigentlich beschaffen ist. Was befähigt das Problem, ob Mäuse singen können oder nicht, zum Anlaß für Kafkas Erzählung zu werden?

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Alfred Edmund Brehm, Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, 10 Bde. (Bd. 9 von E.L. Taschenberg, Bd. 10 von O. Schmidt), Leipzig 2 1876-79; Bd. 1, S. 14. Franz Kafka, Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe, Hg. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, Frankfurt 1992; S. 652.

Die hier vertretene These, daß moderne Texturen historistisch begründet sind, bietet dafür eine Erklärung an. Brehms Anmerkung über den Gesang der Mäuse ist nämlich noch in weiterer Hinsicht ein Sonderfall. Sie ist die einzige Fußnote, die in dem siebenhundert Seiten starken ersten Band überhaupt vorkommt. Damit springt die Anmerkung im Wortsinne >aus dem Text heraussouverain< gewordenes Faktum kann das Singen der Mäuse überhaupt zum thematischen Substrat einer Erzählung werden, die im emphatischen Sinne modern ist. Die autonomisierende Vereinzelung wissenschaftlich verhandelter Sachverhalte und ihrer sprachlichen Repräsentationen gehört zu den wichtigen Voraussetzungen für den technischen Historismus der literarischen Moderne. Diese Lexemautonomie ist, so die These, eine Folge derjenigen Textverfahren, die im Gefolge des positivistischen Historismus verwendet werden.4 Während der relativistische Historismus als Diskursformation anzusprechen ist, in der das Autonomiepotential des historistischen Materials überhaupt erst erkannt wird, bezeichnet der positivistische Historismus vorrangig eine Wissenschaftspraxis, die sich in konkreten Textphänomenen niederschlägt. Diese positivistischen Textverfahren bilden die materiale Voraussetzung für den technischen Historismus. Positivistische Textverfahren finden sich primär in der Wissenschaftsprosa, und zwar unabhängig davon, ob sie historische oder naturwissenschaftliche Gegenstände behandelt. Hier wie dort wird gleichermaßen positivistisch strukturiertes Material als Text repräsentiert, wo nicht die Schulrhetorik die Verfahren auch der naturwissenschaftlichen Texte ohnehin legitimiert. Die Naturwissenschaftsprosa, zumal die populäre, trägt deshalb zur Lexemautonomie im selben Maße bei wie die kulturhistorische. Vermutlich ist sie zur Demonstration des Autonomisierungsprozesses sogar besser geeignet, weil der Positivismus in den Naturwissenschaften radikaler als in den Kulturwissenschaften betrieben wird. Dies wird deutlich, wenn man das Textideal eines Ranke, der sein Verfahren immerhin noch als Kunst versteht, mit dem der Mediziner Henle und Virchow vergleicht.5 Die meisten Texte mit naturwissenschaftlichem Inhalt, auf die sich die Darstellung im folgenden beschränkt, enthalten positivistische Verfahren al-

Vgl. Nietzsches metaphorische Kennzeichnung der »litterarischen ctecadence«: »Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr.« Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, KSA, Bd. 6, S. 27. Vgl. Einleitung und Kapitel I 1: Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs. Vgl. Kapitel I 1: Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs. Siehe nächster Abschnitt.

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lerdings nur unter anderen oder umgehen sie sogar mit Bedacht. Vor allem am Beispiel von Brehms Thierleben wird zu zeigen sein, wie sich die verschiedenen Textverfahren legitimieren, was sie für die sprachliche Bewältigung der Fülle an Fakten leisten und welche relativistischen Erscheinungen sich an ihnen feststellen lassen. Daß populärwissenschaftliche Texte für diese Fragestellungen besonders geeignet sind, hat seine Gründe. Anders als rein wissenschaftliche Texte sind sie gezwungen, das Faktenmaterial, wie umfangreich es auch immer sein mag, mit traditionellen Sprachverfahren zu harmonisieren, damit den Rezeptionserfahrungen des Publikums entsprochen werden kann. Populäre Sachtexte sollen wissenschaftliche Erkenntnisse in den öffentlichen Diskurs übersetzen.6 Es sind pragmatische Texte, die verständlich sein müssen, wenn sie ihrer Vermittlungsaufgabe gerecht werden wollen. Ihnen fehlt der Spielraum, durch poetologische Selbstreflexion einen Ausweg aus der Repräsentationsproblematik zu suchen, also einen autonomen Status jenseits der darzustellenden Gegenstände zu erreichen. Die hier verwendeten Lexeme können nicht einfach nur sprachliche Zeichen sein, sondern müssen ihre Fähigkeit, auf wissenschaftliche Sachverhalte referieren zu können, beweisen und bewahren. Deshalb läßt sich an diesem Material besonders gut, quasi unter experimentellen Bedingungen beobachten, welche Art Fakten auf welche Weise vertextet werden. Hier ist nicht von vornherein alles nur oder schon Sprache, obwohl sich natürlich alle populärwissenschaftlichen Schriftsteller unabweisbar vorgefundener sprachlicher Verfahrensmuster bedienen. Es geht bei populärwissenschaftlichen Texten um nicht mehr und nicht weniger als das Gelingen sprachlicher Repräsentation. Es soll gezeigt werden, wie die spezifisch positivistischen Bedingungen, denen ein solcher Text unterliegt, sich im Textverfahren auswirken und ihn an die Grenzen seiner Repräsentationsfähigkeit und Verständlichkeit führen.

Das positivistische Textmodell 1844 schreibt der Arzt und Anatom Jakob Henle für eine neue medizinische Zeitschrift den Eröffnungsbeitrag.7 Er befaßt sich darin mit den Grenzen der Erkenntnis sowohl in der Naturphilosophie als auch im Empirismus und fordert eine neue, >rationelle< Medizin. Diese soll weder reine Formenlehre betreiben noch bei der bloßen Erfahrung stehenbleiben, sondern experimentierend und vergleichend die tatsächlichen physiologischen Vorgänge begrei-

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Vgl. Uwe Pörksen, Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien, Tübingen 1986; v.a. S. 182-201. Jakob Henle, Medizinische Wissenschaft und Empirie, in: Zeitschrift für rationelle Medizin 1/1844, S. 1-35.

fen lernen. Die Erörterung dessen, was Naturphilosophie und Empirie an methodischen Einsichten bieten und an praktischen Ergebnissen vorweisen, bedient sich immer wieder sprachkritischer Argumente und verdichtet sich stellenweise zur Formulierung von sprachlichen Verfahrensregeln. Henles Ausführungen liefern deshalb einige Kriterien, wie positivistische Texte idealerweise aussehen müßten. Der Zusammenhang von Kausalität und Textkohärenz wird seit der Aufklärungspoetik vorausgesetzt. Nur ein Erzähltext, dessen Handlungselemente motivierend miteinander zu einer Entwicklung verknüpft sind, kann für sich in Anspruch nehmen, ein Ganzes zu sein, oder analytisch gesprochen: eine einheitliche Struktur zu besitzen. Es ist deshalb kein Zufall, wenn durch die Problematisierung von Kausalbeziehungen im Empirismus auch die Strukturiertheit von Texten entscheidend berührt wird. Wer die Erfahrung allein zur Norm seines Handelns machen will, darf nicht von den Ursachen und noch weniger von den Zwecken der Phänomene sprechen. Indem er mit Bewusstsein darauf resignirt, den innern Zusammenhang der Symptome kennen zu lernen, entwerfe er Bilder der Krankheiten nach den äussern Erscheinungen. Er soll, wenn er beschreibt, nicht erklären, sondern nur Surrogate der sinnlichen Eindrücke liefern 8

Henle erkennt, daß Textverfahren auch dort Zusammenhang stiften, wo er nicht erwünscht, sachlich nicht erwiesen, voreilig oder sogar definitiv falsch ist. In der Rhetorik eines Textes steckt immer eine Fülle von unreflektierten Vorannahmen, die der Empirist anders als der Hermeneut nicht läutern, sondern ausschließen will. Seine methodische Absicht erfordert deshalb strengste Kontrolle der sprachlichen Mittel. Er vermeidet ausdrücklich die etablierten Kohärenzmittel und Strukturierungsverfahren, weil sie ihm nicht exakt genug sind und seinem gestiegenen wissenschaftlichen Anspruch nicht entsprechen. Der Text, der das empirisch erhobene Material korrekt repräsentiert, verzichtet deshalb auf die Herstellung von Kausalbeziehungen. Das Material bleibt - der Methode nach vorläufig, im einzelnen Text aber definitiv - ungedeutet, zusammenhanglos und so vereinzelt wie möglich. Zum positivistischen Programm gehört darüber hinaus die Vereindeutigung der einzelnen sprachlichen Zeichen. Es soll darauf geachtet werden, daß die Bezeichnungen nicht selbst schon Interpretationen enthalten. Die Namen, welche der Empiriker den Krankheiten ertheilt, seien nicht Definitionen, sondern Nomina propria, um so willkommner, je weniger sich ein bestimmter Begriff an dieselben knüpft. 9

Jakob Henle, Medizinische Wissenschaft und Empirie, S. 15. Hervorhebungen nicht im Original. Jakob Henle, Medizinische Wissenschaft und Empirie, S. 15.

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Das Zeichen, das der Empiriker verwendet, soll möglichst konnotationsfrei, rein referentiell sein und das Bezeichnete begrifflich am besten überhaupt nicht qualifizieren. Daraus folgt, daß als Grundlage für die Feststellung von Wirkungszusammenhängen eigentlich nur noch quantitative Relationen in Frage kommen. Die vollkommenste Ausbildung aber erreicht die empirische Medizin, wenigstens dem Princip nach, in der numerischen oder statistischen Methode von Louis. Diese verwirft sogar, mit einer nicht genug zu schätzenden Pedanterie, die gangbaren Ausdrücke, wie »häufig, in der Regel« u. s. f., und will Zahlen an deren Stelle setzen, wodurch allein über das causale Verhältniss [...] ein sicheres Urtheil möglich wird.10

Krankheitssymptome sind für Henle Zeichen, die richtig gelesen werden müssen, damit ihre Bedeutung korrekt angegeben werden kann. Der semiotische Zugriff auf die methodischen Probleme der Medizin ist an sich schon bemerkenswert. Henle entwickelt ihn in kritischer Absicht, weil er das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung auf eindeutige Relationen beschränken will. Die Medizin soll zu einer exakten Wissenschaft werden, indem die normalsprachliche Semiotik aus ihr verbannt wird. Darin sind die Empiristen für Henle noch nicht weit genug gegangen, weil sie ihren Gegenstand experimentell nicht in seine Einzelheiten zerlegen, sondern sich auf das Sammeln äußerlicher Zeichen beschränken. Dadurch bleiben die Empiriker bei Konglomerationen von Zeichen und Ursachen stehen, deren interne Bedeutungsbeziehungen sie nicht ausreichend durchschaut haben. Dem Empiriker kann ein Symptom gar mancherlei bedeuten, weil es in den verschiedenartigsten Combinationen vorkommt. Das Register aller möglichen Bedeutungen eines Symptomes ist die Semiotik; [...] Dem rationellen Arzte bedeutet ein Symptom immer nur Eins..."

Henle fordert deshalb, von der reinen Empirie abzugehen, wieder Hypothesen aufzustellen, die aber nicht mehr hermeneutisch-deduktiv, wie in der Naturphilosophie, sondern jetzt experimentell verifiziert werden sollen. Auf diese Weise erfährt die Menge der Daten zwar einerseits strukturierende Eingriffe, gleichzeitig aber auch noch einmal eine gewaltige quantitative Ausdehnung. Die Krankheit als diffuse Erscheinung ist jetzt keine begrenzende Instanz mehr. Krankheitsursache kann potentiell jedes Faktum sein, weshalb im Prinzip auch jedes erfaßt werden muß, um erst nach dieser Inventur evaluiert zu werden. Henle geht über den Empirismus insoweit hinaus, als er nicht jegliche Deutung verweigert, sondern an der Benennung von Kausalbeziehungen durchaus Interesse zeigt. Vorläufig wird der Unter-

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Jakob Henle, Medizinische Wissenschaft und Empirie, S. 18. Jakob Henle, Medizinische Wissenschaft und Empirie, S. 24.

suchungsgegenstand aber in immer kleinere Bestandteile zerlegt, so daß die Synthese der Ergebnisse in immer weitere Ferne rückt und in Texten als strukturierendes Moment keine Rolle spielen kann. Als Probe auf die praktische Umsetzung der von Henle formulierten Anforderungen an einen positivistisch verfahrenden Text eignet sich das anatomische Protokoll, wie es Rudolf Virchow entwickelt hat.12 Das Protokoll gliedert sich in Vorgeschichte, ausführliche Untersuchung und Diagnose, wobei das methodische und quantitative Hauptgewicht auf dem mittleren Teil liegt. Formal sind die drei Teile strenger getrennt, als es in der einzelnen Formulierung tatsächlich durchgehalten wird. Überhaupt lassen sich Henles Idealvorstellungen in der Medizin als praktischer Wissenschaft nicht verwirklichen.13 Gleichwohl verfährt der Untersuchungsteil vollkommen anders als die interpretierende Diagnose. Als Beispiel zwei Abschnitte von 65 aus einem der Protokolle, die Virchow zur Erläuterung seiner >SectionsTechnik< anführt: 27. Die Oberfläche des Grosshims gut gebildet; die weiche Haut überall zart; die venösen Gefässe mit Blut gefüllt, auf der linken Seite bis zur vollen Rundung, etwas weniger auf der rechten. 28. Beim Einschneiden findet sich in den Seitenhirnhöhlen eine geringe, nicht messbare Menge klarer Flüssigkeit. Höhlen nicht erweitert; Hinterhömer verwachsen. Scheidewand weich und zerreisslich; Adergeflechte und obere Gefassplatte dunkelroth durch starke Füllung ihrer Gefässe. Die letztere trennt sich etwas schwer von den Vierhügeln. 14

Der Hermeneut versucht sich an diesem Text vergebens. Er wittert zwar überall Bedeutsamkeiten, weil der Text sie ihm ständig signalisiert. Es werden ζ. B. Abweichungen registriert oder bestimmte Details scheinen die Aufmerksamkeit des Anatomen besonders geweckt zu haben, wie etwa die kleine Menge klarer Flüssigkeit in den Seitenstirnhöhlen. Ohne Fachkenntnisse lassen sich die Befunde aber nicht interpretieren, oder, was wichtiger ist, der Text liefert dafür zu wenig Anhaltspunkte. Er erklärt fast nichts (Ausnahme: >durch starke Füllung ihrer Gefässerationellen< Gesichtspunkten zu deuten und dabei in einen vorempirischen Deduktionismus zurückgefallen ist. Rudolf Virchow, Vorlesungen über Allgemeine Pathologische Anatomie aus dem Wintersemester 1855/56 in Würzburg, nachgeschrieben von Emil Kugler, Jena 1930; S. 6. Rudolf Virchow, Sections-Technik, S. 47.

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barem Zusammenhang mit der Todesursache stehen mögen. Dennoch bleiben die meisten Einzelheiten aus dem Untersuchungsteil und damit der größte Teil des Textes insgesamt ohne integrierendes Moment. Das Untersuchungsprotokoll zeichnet sich deshalb durch extreme Redundanz aus. Es muß idealerweise alle Einzelheiten aufnehmen, um jegliches, den objektiven Befund verfälschende Vorverständnis über die Todesursache ausschalten zu können. Sein Prinzip ist positive Vollständigkeit und absolute Gleichbehandlung der vorliegenden Fakten. Deshalb kann der Text keine bedeutungstragenden Strukturen haben, es sei denn sie sind so weit formalisiert, daß sie sich bedeutungsneutral verhalten.15 Erst im Vergleich mit anderen Protokollen kann das Symptom als bedeutungstragende Abweichung vom Normalfall erkennbar werden. Das heißt, die Semiose findet nicht mehr im Text statt, sondern zwischen den Texten. Bedeutungserzeugend ist wie immer die Differenz, nur daß es sich hier nicht mehr um die einfache Distinction von Zeichen handelt, sondern um eine doppelte. Das Symptom hebt sich nicht nur wie alle anderen Zeichen von allen anderen Zeichen ab, sondern gleichzeitig aus einer Textur heraus, die es nicht mehr einbinden will und nur noch einen Hintergrund abgibt. Schon wieder >springt< hier ein >Wort aus dem Text< und wird >souverainbiogenetische Grundgesetz< und andere Lehrsätze, die die Evolutionstheorie als ganzes untermauern, sind veritable wissenschaftliche Leistungen, die ζ. T. bis heute gelten.30 Haeckels erstes populärwissenschaftliches Werk, die Natürliche Schöpfungsgeschichte, zielt zwar schon eindeutig auf allumfassende Erklärungen, die mit großem aufklärerischem Eifer vorgetragen werden.31 Vor allem ist dieses Werk aber eine systematisch aufgebaute Darstellung der Evolutionstheorie mit einem

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Es gibt allerdings Mischformen, die ihren Welterklärungsansatz durch enzyklopädische Breite zu belegen versuchen, ζ. B. Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Vgl. Dietrich von Engelhardt, Polemik und Kontroversen um Haeckel, in: Medizinhistorisches Journal 15/1980, S. 284-304. Vgl. Gunter Mann, Ernst Haeckel und der Darwinismus. Popularisierung, Propaganda und Ideologisierung, in: Medizinhistorisches Journal 15/1980, S. 269-283. G.M., Dilettant und Wissenschaft, in: Biologie für den Menschen, hg. v. Willi Ziegler, Frankfurt 1982, S. 4972. Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, Berlin 1868.

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wissenschaftsgeschichtlichen, zwei theoretischen und zwei praktischen Teilen, in denen die Entwicklungsgeschichte des Tier- und Pflanzenreichs in groben Zügen ausgeführt wird. Bei der Betrachtung der Textverfahren im Einzelnen zeigt sich, daß die Evolutionstheorie den Text sowohl nach der rezeptionsleitenden als auch nach der wissenschaftlichen Seite hin strukturiert. Die neue Theorie wird als Durchbruch gefeiert und explizit didaktisch an den Leser vermittelt. Die einzelnen Kapitel erscheinen in Vortragsform mit zahlreichen Appellen an die Urteilskraft, das Alltagswissen und die Parteilichkeit des Lesers. Gleichzeitig konkretisiert die Evolutionstheorie die abstrakte Systematik der Naturreiche zur Entwicklungsgeschichte. Haeckel kann diese Geschichte in den letzten beiden Teilen der Natürlichen Schöpfungsgeschichte zwar nicht von den Quellen her erzählen, weil es dafür zu seiner Zeit noch zu wenige paläontologische Zeugnisse gibt. Aber er kann die systematischen Verwandtschaftsverhältnisse wissenschaftlich begründet durch eine Verlaufsstruktur überblenden und dadurch Rhetorik, Syntax und Wortwahl anschaulich variieren. Die Entwicklungsgeschichte birgt wie die Anatomie spezielle Darstellungsschwierigkeiten. Das panoramatische Kontinuum, das sie sein will, muß mit der Kontingenz, vor allem mit dem Beginn und dem Ende von Entwicklungen fertig werden.32 Auch in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte erwachsen aus diesen theoretischen Problemen Strukturdefizite im Text. Bei der Darstellung der Entstehung erster Lebewesen aus unbelebter Materie tritt eine nochmals gesteigerte Emphase an die Stelle zureichender Begründungen.33 Der fortwährende Gebrauch des Superlativs, allgemein der Überschuß an Rhetorik ist allerdings ein durchgängiges Merkmal des Verfahrens und im Ganzen vor allem dem prophetischen Impetus des Autors zuzurechnen. Der Katalog, der hier ein systematischer ist, findet sich in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte nur in Inseln wieder und erscheint als eingeschalteter Merktext oder Gestus der Wissenschaftlichkeit pragmatisch gerechtfertigt. Der systematische Katalog entsteht dadurch, daß sich die Strukturbäume, die die Evolutionstheorie zu entwicklungsgeschichtlichen Stammbäumen umdeutet, als verzweigte Gebilde nicht linear darstellen lassen. Der Text kann die auf einer Strukturebene befindlichen nomina propria immer nur als Katalog präsentieren, als Begriffe, die dem nächsthöheren Begriff gleichermaßen und gleichwertig zugeordnet sind. Haeckel entledigt sich dieser Aufgabe weitgehend durch die Beigabe von Grafiken, die der Leser

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Vgl. Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, [EA 1938] Frankfurt 1974; S. 95. Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 406.

immer wieder beiziehen kann, wenn ihm der Zusammenhang verlorengegangen ist.

Brehms Thierleben und die Naturgeschichte Brehms Thierleben ist bis heute das bekannteste und populärste zoologische Werk in deutscher Sprache. Es war von Anfang an bei Wissenschaftlern und dem bildungsinteressierten Laienpublikum gleichermaßen beliebt. Der Brockhaus erhob es zur »Tierbibel des deutschen Volkes«.34 Gegenstand des Thierlebens ist im Wesentlichen die spezielle Zoologie. Es beschäftigt sich vor allem mit den einzelnen Tierarten, die ihrer Stellung im natürlichen System gemäß nacheinander abgehandelt werden. Das Thierleben hat daher deutlich enzyklopädischen Charakter. Ursache für den großen Zuspruch des Publikums ist neben der Fülle an neuen Erkenntnissen, die das Werk darbietet, vor allem die Art und Weise, wie das Wissen über die Tiere präsentiert wird. Der Text versammelt nicht nur Einzelfakten, sondern versucht, das lebendige Tier in seinem natürlichen Zusammenhang zu veranschaulichen. Dadurch gelingt eine sehr wirkungsvolle Verbindung von prodesse und delectare. Carl Neumann schrieb 1929 anläßlich des hundertsten Geburtstages von Brehm über das Thierleben: Uns Deutschen ist es das Tierbuch schlechthin, die meisterliche Naturgeschichte, die Hunderttausenden von Lesern nicht nur reiche Belehrung gespendet und den Naturgenuß vertieft, sondern sie durch ihre schöne Sprache und ihre lebendigen Tierschilderungen auch gut unterhalten, gepackt und erbaut hat. Noch nie war einer Naturgeschichte gleich dauernder großer Erfolg beschieden.35

Brehms Werk steht in der Tradition der Naturgeschichte; es hat seine wichtigsten Vorläufer in Plinius, Conrad Gesners Historia animalium aus dem 16. und Buffons Histoire naturelle aus dem 18. Jahrhundert. Die Naturgeschichte unterschied jedoch nicht zwischen methodisch gesicherten Beobachtungen und bloß fabelhaften Nachrichten, wie Brehm es dann weitgehend tut. Noch Oken recherchierte für sein 1839 erschienenes Werk intensiv in den antiken Quellen.36 Brehm betrieb solche philologischen Studien nicht mehr, sondern schrieb die brauchbar erscheinenden antiken Belege bei Oken einfach ab.37 Auf diese Weise findet sich noch manches Fabelhafte ohne kri-

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Art. Brehm, Alfred Edmund, in: Der große Brockhaus, Bd. 3, Leipzig 15 1929, S. 291. Carl W. Neumann, Brehms Leben, in: Das Brehmbuch, Berlin 1929, S. 13-84; S. 66. Lorenz Oken, Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände, Stuttgart 1839. Seine Begründung: »ich hatte wichtigeres zu tun, als in altem Wüste zu wühlen«. Alfred Brehm, Thierleben; Bd. 1, S. VIII. Vgl. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976; S. 22.

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tischen Kommentar im Thierleben wieder, im Vordergrund steht aber ganz eindeutig das empirische Interesse am Tier selbst und nicht, was im Lauf der Zeit darüber geschrieben wurde. Insofern verwendet Brehm die alte Gattungsbezeichnung Naturgeschichte im Titel seines Werkes zu Recht nicht mehr und darf auch nicht ausschließlich als Literat behandelt werden. Obwohl sie vom Buchmarkt noch nicht verschwand, hatte die Naturgeschichte im 19. Jahrhundert ohnehin ausgedient. Nachdem aus den Geschichten die Geschichte geworden war, konnte dieser Begriff auf die enzyklopädische Behandlung von Naturerscheinungen nicht mehr sinnvoll angewendet werden. Die Wörterbücher von Adelung, Grimm und anderen verzeichnen denn auch, daß die Naturgeschichte keine eigentliche Geschichte sei, sondern eine Beschreibung der Naturkörper.38 Tatsächlich hat die alte Naturgeschichte nichts mit der modernen Entwicklungsgeschichte gemeinsam. Wie die Universalgeschichte wandelt sie sich aber unter dem Eindruck der Historisierung des Weltbildes von der Historiensammlung zur Historie. Erste Versuche, eine moderne Geschichte der Natur zu schreiben, gibt es in den 1840er Jahren.39 Brehms Werk gehört im Gegensatz zu Teilen aus Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte dieser neuen Gattung nicht an, sondern hält an der enzyklopädischen Struktur der Naturgeschichte fest. In der Naturgeschichte war die holistische Herangehensweise Brehms angelegt, weil sie alle Informationen sammelte, die irgendwie mit der jeweiligen Art in Verbindung gebracht werden konnten. Dadurch stand die Gattung immer im Gegensatz zu den deduktiv-philosophisch verfahrenden Wissenschaften, der Klassifikation oder später der Systematik, und geriet schon im 18. Jahrhundert massiv in den Verdacht, überhaupt nur Literatur zu sein.40 Auf der anderen Seite konnte Buffon Linnes Systematik als künstlich verwerfen, weil sie die Lebenstätigkeit nicht berücksichtigte.41 Das tat allerdings auch Buffon nur auf dem Papier. Aus eigener Anschauung kannte er lediglich seinen botanischen Garten und die Präparate, die man ihm mitbrachte. Alle übrigen Fakten bezog er aus schriftlichen Quellen und weitgehend ohne kritische Prüfung. 42 Zu Brehms Zeiten hatte sich das System der Arten von seiner spekulativen Herkunft gelöst und als substantielle Beschreibung der natürlichen Verwandtschaftsbeziehungen etabliert. Die Systematik stand fortan nicht mehr im prinzipiellen Gegensatz, sondern als ein

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Vgl. Wolf Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S. 30. Vgl. Walter Baron, Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert und ihre geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, in: Technikgeschichte 33/1966, S. 307-328; S. 322. Wolf Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S. 38. Vgl. Walter Baron, Entwicklung der Biologie, S. 308f. Vgl. Wilhelm Bölsche, Der Brehm, in: Deutsche Rundschau 179/1919, S. 416-436; S. 417. Vgl. Walter Baron, Entwicklung der Biologie, S. 308f.

Zweig der ganzen Biologie komplementär zur »Lebenskunde«, die Brehm aus der alten Naturgeschichte heraus entwickelt. Obwohl die Systematik deshalb wie selbstverständlich als Grundstruktur für das Thierleben verwendet wird, richtet sich Brehms Ansatz immer noch gegen eine Zoologie, die sich auf die Bearbeitung toten Materials beschränkt. Unser reiches Schriftthum besitzt viele thierkundliche Werke von anerkannter Trefflichkeit, aber wenige, in denen die Lebenskunde der Thiere ausführlich behandelt ist. Man begnügt sich, zumal in den oberen Klassen, mit einer möglichst sorgfaltigen Beschreibung des äußeren und inneren Thierleibes, ja, man gibt sich zuweilen den Anschein, als halte man es für unvereinbar mit der Wissenschaftlichkeit, dem Leben und Treiben der Thiere mehr Zeit und Raum zu gönnen als erforderlich, um zu beweisen, daß der in Rede stehende Gegenstand ein lebendiges, d. h. nicht bloß ein fühlendes und bewegungsfähiges, sondern auch ein handelndes und wirkendes Wesen ist. 43

Die Systematik ist für Brehm eine Strategie, mit der großen Menge des Materials fertig zu werden, das sich in den naturkundlichen Sammlungen häuft.44 Sie ist aber keine adäquate Herangehensweise an das Tier in seiner natürlichen Erscheinung, wie er es beschreiben will. Welchen Stellenwert die Überwindung der bloßen Systematik durch Brehms Neuerung für die Zeitgenossen hatte und welcher Art die Innovationen waren, hat Alfred Tschentscher sehr anschaulich illustriert. Er beginnt seinen Aufsatz Vom Steckbrief zum Lebensbild mit einem Zitat: »Felis Leo L. Gemeiner Löwe. Einfarbig braungelb; Schwanz mit Endquaste; sechs bis acht Fuß; Männchen mit Mähne. Asien, Afrika; früher auch in Griechenland. Springt 30 Fuß weit; greift besonders fliehende Menschen und Tiere an; bereitet seinen Sprung erst dadurch vor, daß er sich niederlegt. Früher zu Kampfspielen der Römer benutzt.« Das ist kein Steckbrief, sondern wörtlich ein Kapitel über den Löwen aus der weit verbreiteten Schul-Naturgeschichte von Johannes Leunis, das erschreckende Beispiel einer Methode, nach der noch vor wenigen Jahrzehnten die Schuljugend Naturkunde im gleichen Geist, wie Form und Inhalt der zitierten Sätze zeigen, wie Vokabeln und Geschichtszahlen auswendig lernen mußte. Daß diese armselige Unterrichtsart eine sehr tiefgehende Änderung fand, verdanken wir an erster Stelle Alfred Edmund Brehm. 4 5

Im gleichen Jahr konstatiert auch der Brockhaus, Brehm habe »als erster [...] die Tiere als lebende Wesen und im Zusammenhang mit ihrer Umwelt anschaulich geschildert, nicht nur als anatomische Objekte betrachtet.« 46

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Brehms Thierleben, Bd. 1, S. VII. Vgl. die Hauptthese von Wolf Lepenies, Ende der Naturgeschichte. Alfred Tschentscher, Vom Steckbrief zum Lebensbild, in: Das Brehmbuch, Berlin 1929, S. 127-137; S. 127. Art. Brehm, Alfred Edmund, in: Der große Brockhaus 1929.

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Der Text aus Leunis' Schulbuch hat als systematische Darstellung, der es auf die genaue Bestimmung der einzelnen Art ankommt, seine Berechtigung. Der Telegrammstil vereinzelt die Fakten, um sie vergleichbar zu machen. Das Verhalten und die kulturgeschichtliche Anmerkung wollen sich aber schon hier nicht recht in diesen Stil einfügen. Sie sind ohne minimale Satzstrukturen offensichtlich nicht darstellbar. Für eine Lebensbeschreibung und zur Herstellung eines Interesse erregenden Lehrtextes ist dieses Verfahren erkennbar ungeeignet. Das Thierleben, das in Opposition zur bloßen Systematik geschrieben wird, wendet sich damit auch gegen ein spezifisches Darstellungsverfahren, dessen Leistung bei der Faktenvermittlung als ebenso unzureichend erschien wie die Auffassung der Fakten selbst. Daß Brehms Konzeption, die Verbindung von Enzyklopädie, Systematik und neuartiger Verhaltensbeschreibung auf die Bewältigung der Fülle an Forschungsergebnissen zielt, zeigt sich nicht zuletzt in der Geschichte des Werks.47 Die Bearbeiter des 20. Jahrhunderts hatten die gleichen Schwierigkeiten wie alle Wissenschaftler, die die Werke des 19. zu aktualisieren versuchten. Sie konnten nur unter größten Schwierigkeiten des angefallenen Faktenmaterials Herr werden und mußten doch ein Werk vorlegen, das seinen ursprünglichen Charakter eingebüßt hatte. Zum Teil mochte man die Schreibweise Brehms wissenschaftlich nicht mehr vertreten, zum Teil mußten die erzählenden Passagen getilgt werden, weil der Umfang des Mitzuteilenden dafür keinen Platz mehr ließ. Aus dem Volksbuch war unter dem Druck der Materialfülle doch wieder ein Nachschlagewerk geworden.48 Die Geschichte des Thierlebens lehrt, daß es die widerstrebenden Ansprüche, denen das Projekt ausgesetzt ist, auf historisch vorübergehend gültige Weise harmonisiert. Offenbar gelingt es ihm auf spezifische und singulare Weise, die Faktenfülle zu bewältigen. Deshalb sollen seine Textverfahren im nächsten Abschnitt noch etwas genauer in den Blick genommen werden.

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Zuerst 1864-69 in sechs Bänden erschienen; bereits sieben Jahre später brachte der Verlag die von Brehm selbst noch überarbeitete und auf zehn Bände erweiterte, zweite Auflage auf den Markt (1876-79). Die vierte Auflage von 1911-18 wurde von namhaften Zoologen stark modernisiert und noch einmal um drei Bände vermehrt. Alfred Tschentscher, Vom Steckbrief zum Lebensbild, S. 134. 1740 kennt die Wissenschaft rund 600 Tierarten, hundert Jahre später sind es allein 2400 verschiedene Arten von Schlupfwespen, die unterschieden, also gesammelt, beschrieben, im System lokalisiert und benannt werden müssen. Vgl. Wolf Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S. 17. Walter Baron, Entwicklung der Biologie, S. 315. Als Brehm das Thierleben schrieb, waren insgesamt etwa 250.000 Arten bekannt geworden. Bis heute hat sich ihre Zahl noch einmal versechsfacht. Vgl. Siegfried Schmitz, Tiervater Brehm. Seine Reisen, sein Leben, sein Werk, Frankfurt 1986; S. 192. Dazu kommt das Wissen über den inneren und äußeren Bau der Organismen und das Funktionieren ihrer Glieder und Organe. Mit der richtigen Interpretation der Zelle als universalem Baustein aller Gewebe zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann auch die Entdekkungsreise nach innen, die ihrerseits eine Fülle neuer Tatsachen erbrachte. Vgl. Walter Baron, Entwicklung der Biologie, S. 323f.

Über die Naturgeschichte hinaus enthält das Thierleben Merkmale des wissenschaftlichen Reiseberichts, der die Ergebnisse und Begleitumstände gelehrter Entdeckungsfahrten im 18. und 19. Jahrhundert publizistisch zusammenfaßte. Die Geschichte der Gattung mit ihrer sich verändernden Rolle zwischen Wissenschaft und Literatur ähnelt derjenigen der Naturgeschichte. Beide Gattungen sind wissenschaftliche Proformen, in denen die sich später ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Fachrichtungen noch ebenso nahe beieinanderliegen wie Empirie, Spekulation und rhetorische Konstruktion in ihren Verfahren.49 Auch der Reisebericht verliert im 19. Jahrhundert seine primär wissenschaftliche Funktion, überdauert aber als populäre oder literarische Form. Brehm, der Forschungsreisender und Wissenschaftler war, hat neben seinen naturkundlichen Werken vor allem Reiseberichte und kurze Reiseskizzen, u.a. für die Gartenlaube verfaßt. 50 Die Mischung aus Berichten, zum Teil abenteuerlichen Erzählungen und Betrachtungen, die den Reisebericht kennzeichnet, findet man auch im Thierleben wieder. Die Gattung Reisebericht stellt für Brehms Darstellungsverfahren eine ganze Reihe von Lizenzen bereit. Der Reisebericht darf über alles Fremdartige und Neue sprechen. Er darf sehr heterogene Dinge, Geographisches, Kulturelles, Wirtschaftliches, Naturwissenschaftliches, Historisches und Politisches, wie es eben begegnet, einbeziehen und reflektieren. Der Leser erwartet neben dem interessanten Gegenstand auch das persönliche Kolorit, die Begegnung zwischen dem Forschungsreisenden und dem Fremden.51 Angaben über die Reisebedingungen und die Schilderung abenteuerlicher Vorfälle sowie persönlicher Beziehungen sind willkommen. Sie stellen das erlebende Subjekt im Text überdeutlich aus und machen Identifikationsangebote an den Leser, die Voraussetzung für eine populäre Rezeption sind. Die Verschiedenartigkeit der Gegenstände, die Ereignishaftigkeit und die subjektive Einrahmung konvergieren mit einer lebendigen und abwechslungsreichen Sprache, die der Reisebericht aus der Literatur und der traditionellen Stillehre übernimmt. Der Reisebericht ist gleichzeitig Sach- und Sprachereignis, so wie das populärwissenschaftliche Werk auch. Brehm wurde und wird auch aus Vergnügen an seinem Stil gelesen, der literarisch

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Vgl. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, Bd. 2, Die Formenwelt, Stuttgart 1972; S. 267ff. und 275. Über Brehm siehe: Das Brehmbuch. Zum hundertsten Geburtstag von Alfred Brehm, Hg. Brehm Gesellschaft e.V., Berlin 1929. Siegfried Schmitz, Tiervater Brehm. Über Brehms Entwicklung zum populären Schriftsteller vgl. Hans-Dietrich Haemmerlein, Brehms Tierleben - ein vielschichtiges Erbe, in: Brehm-Blätter 3/1989, S. 13-29; S. 15. Vgl. Stefan Fisch, Forschungsreisen im 19. Jahrhundert, in: Peter Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt 1989, S. 383^105. Peter Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Tübingen 1990.

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geprägt ist und viele poetische Elemente enthält, die er selbst wie auch seine Leser durch die klassische Bildung vermittelt bekamen.52

Textverfahren in Brehms

Thierleben

Das Leben der Tiere, das dem Thierleben seinen Namen gibt, ist das Leben der konkret beobachtbaren Tierarten. Das Werk besteht deshalb zum größten Teil aus Einzeldarstellungen. Das Kapitel über den Bienenfresser ζ. B. gliedert sich in Abschnitte über Aussehen, Vorkommen, Nahrung und Verhalten dieser Vogelart, seinen Nutzen bzw. Schaden für den Menschen und die Möglichkeiten, ihn in Gefangenschaft zu halten. Der Text verwendet gleichermaßen Beschreibungs- und Erzählverfahren. Als erstes werden die äußeren Kennzeichen des Vogels aufgelistet: Ihr Leib ist gestreckt, der Schnabel länger als der Kopf, an der Wurzel ziemlich stark, spitzig, oben und unten sanft gebogen, scharfrückig und scharfschneidig, mit kaum eingezogenen Rändern und etwas längerem, aber nicht übergekrümmten Oberschnabel, ohne Kerbe vor der Spitze. 53

Die Beschreibung der körperlicher Merkmale läßt die angestrebte Lebendigkeit des Stils noch vermissen. Die Details sind in schmucklosen Sätzen mit abperlenden syntaktischen Strukturen zu einer langen Reihe verknüpft. Schon bei der Beschreibung der Farben ist Platz für Epitheta, die nicht nur konstatieren, sondern auch die Rede schmücken: Das Gefieder ist kurz und etwas derb, seine Färbung fast ausnahmslos eine sehr prachtvolle und bunte, obgleich die einzelnen Farben gewöhnlich über große Felder vertheilt sind.54

Je heterogener die Informationen sind, je mehr sie vor allem Handlungscharaker haben, desto mehr verläßt die Schilderung die reine Aufzählung, bietet Platz für Variationen und wird darüber zur Erzählung: Die im Norden lebenden Bienenfresser ziehen regelmäßig, die südlichen sind Stand- oder Strichvögel. Schon in Egypten lebt eine Art, welche jahraus jahrein an derselben Stelle verweilt und jährlich zweimal Verwandte über sich wegziehen sieht, ohne vom Wanderdrange ergriffen zu werden;55

Eine völlig andere Beschreibung präsentiert den Sachverhalt nicht unmittelbar, sondern rahmt ihn durch eine Beobachtungssituation ein. Dieser Modus

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Hans-Dietrich Haemmerlein, Brehms Tierleben, S. 15. Brehms Thierleben, Bd. 4, S. 317. Brehms Thierleben, Bd. 4, S. 318. Brehms Thierleben, Bd. 4, S. 318. Hervorhebungen nicht im Original.

erlaubt reichlich poetisches Beiwerk und evoziert die eigentliche Lebendigkeit des Objektes durch den Stil, der an Brehm so geschätzt wurde. Es ist unmöglich, Bienenfresser zu übersehen. Sie verstehen es, eine Gegend zu beleben. Kaum kann es etwas schöneres geben, als diese, bald nach Art eines Falken, bald nach Art der Schwalben dahinstreichenden Vögel. Sie fesseln unter allen Umständen das Auge, gleichviel, ob sie sich bewegen oder, von dem anmuthigen Fluge ausruhend, auf Zweigen und dem Boden sitzen. In letzterem Falle oder wenn sie unter dem Beobachter auf- und niederstreichen, kommt die volle Pracht ihres Gefieders zur Geltung. Wenn sie, wie es zuweilen geschieht, zu hunderten oder tausenden auf einzelnen Bäumen oder Gebüschen oder auf dem Boden dicht nebeneinander sich niederlassen, schmücken sie solchen Ruheplatz in unbeschreiblicher Weise. 56

Die Grundstruktur des Abschnitts wird als Beobachtungssituation entworfen, die durch eine ganze Reihe von Sätzen, Teilsätzen, Verben und Epitheta immer wieder aktualisiert wird. Diese Struktur wird mit faktischen Beobachtungen und ästhetischen Eindrücken so angereichert, daß ein abwechslungsreicher, anschaulicher Text entsteht, der keinerlei Tendenz zur Aufzählung oder strukturellen Vernachlässigung von Einzelheiten erkennen läßt. Eher noch kann man Redundanzen feststellen, die aber über das der Anschaulichkeit und Verständnissicherung dienliche Maß nicht hinausgehen. Die ästhetische Auffassung des Vogels in seiner Färbung und seinem Verhalten fällt stark ins Auge. Die in dieser Passage entworfene Beobachtungssituation ist jedoch gleichzeitig idealtypisch gehalten. Sie referiert auf konkrete Verhaltensweisen des Tiers, die sich unter guten Bedingungen tatsächlich beobachten lassen. Objektiver Sachverhalt und poetische Subjektivität stehen damit in einem ausgewogenen Verhältnis. Schon an den vorausgegangenen Beispielen ließ sich beobachten, daß die Darstellung um so anschaulicher ist, je mehr sich das darstellende Subjekt als Vermittlungsinstanz zu erkennen gibt. Das zeigt auch das folgende Beispiel, in dem keine unpersönliche Situation entworfen, sondern ganz im Stil des Reiseberichtes ein persönliches Erlebnis im klassischen Erzählpräteritum vorgetragen wird. Am Weihnachtstage des Jahres 1850 legte ich mein Boot in der Nähe der zahlreichsten Siedelungen an, welche ich kennen lernte. Mindestens sechzig Pärchen des Zaumspintes (Merops frenatus) [eine Bienenfresserart] hatten sich eine glatte, feste Thonwand am Ufer des Blauen Flusses zur Niststelle erwählt und hier ihre Höhlen eingegraben. Die Ansiedelung nahm höchstens einen Raum von drei bis vier Geviertmeter ein; [usw.]57

Diese Erzählung enthält nur wenig poetische Ausschmückungen. Sie vermittelt konkrete Fakten einer einzelnen Situation, die im vorangehenden,

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Brehms Thierleben, Bd. 4, S. 318. Brehms Thierleben, Bd. 4, S. 319.

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hier nicht zitierten Absatz bereits größtenteils im einfachen Stil eines zeitlosen Tatsachenberichts genannt worden waren. Die Erzählung kann also den sachlichen Beobachter genauso zeigen wie den poetisch gestimmten. In beiden Fällen dient sie der Veranschaulichung und Präzisierung. Die Verbreitung, das Zugverhalten und die Zugzeiten, Nahrungssuche und die Art der Nahrung, Brutverhalten und Aufzucht werden beim Bienenfresser detailreich dargestellt. Ende Mai beginnt das Brutgeschäft. Zur Anlage seines Nestes wählt sich der Bienenfresser am liebsten das sandige oder lehmige Ufer eines Flusses. Hier beginnt er ein rundes Loch von fünf bis sechs Centimeter im Durchmesser auszuhöhlen, [usw.]58

Die einzelnen Aspekte des Verhaltens werden zu einem Jahreszyklus zusammenkomponiert. Die Darstellung kann auf diese Weise kontinuierlich fortschreiten und mit der Wiederkehr des Frühjahrs zu einem quasi natürlichen Abschluß kommen. Dieses Verfahren strukturiert noch heute nahezu jeden Tierfilm. Der Bienenfresser ist ein Tier mit ausgeprägten Eigenschaften und wenigen Verwandten, so daß er sich als singuläre Art gut profilieren läßt. Wie schwer es dagegen ist, eine große Zahl zwar unterschiedlicher, aber in ihrer Charakteristik doch gleichartiger Tiere zu würdigen, zeigt das Beispiel der Kolibris. Vergebliches Beginnen würde es sein, wollte ich versuchen, an dieser Stelle den Gestaltenreichthum der Ordnung in genügender Ausführlichkeit zu besprechen. Der mir zugemessene Raum verbietet, etwas vollständiges zu geben, und da ich einmal unvollständig sein muß, bleibt es sich gleich, ob ich viele oder wenige von den in mehr als siebzig Unterabtheilungen oder Sippen gebrachten, etwa vierhundert Arten zählenden Vögeln hier beschreibe, soweit es sich um Gestalt und Färbung handelt.59

Niemanden wird es erstaunen, daß angesichts der großen Zahl der Tiere eine Auswahl getroffen werden muß. Bemerkenswert ist allerdings die Resignation, mit der dieses konstatiert wird. Die nicht zu bewältigende Vielfalt betrifft zwar nur die äußere Erscheinung, denn über das Verhalten ist sowieso fast nur Gattungsspezifisches bekannt. Das Prinzip enzyklopädischer Vollständigkeit wird durch das exemplarische Verfahren aber durchbrochen und offenbart dadurch seinen immanenten Relativismus. Die Notwendigkeit auszuwählen demonstriert die Beliebigkeit des Einzelnen, weil nicht mehr die Vollständigkeit der Natur als gegebenes Ganzes die Würde der Art garantiert.

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Brehms Thierleben, Bd. 4, S. 324. Brehms Thierleben, Bd. 4, S. 415.

Da bei der Beschreibung der Kolibriarten das Verhalten nun wegfallen muß, sind die Darstellungen eher kurz und tabellarisch und beschränken sich auf die äußere Erscheinung. Welche von den verschiedenen Arten dieser Gruppe die schönste, ist schwer zu sagen: sie wetteifern alle an Pracht. Ich will die Schmuckelfe (Lophomis ornata und aurata, Trochilus omatus, Ornismya und Mellisuga ornata) zur Beschreibung wählen. Das Rumpfgefieder ist bronzegriin, das verlängerte des Scheitels bräunlichroth, ein schmales Band, welches quer über den Unterrücken verläuft, weiß, das Gesichtsfeld grün, herrlich schillernd. Die Kragenfedem, welche sich stufig verlängern, sind licht rothbraun, an der Spitze schimmernd grün gefleckt. Die Schwingen haben dunkel purpurbraune, die Schwanzfedern dunkel braunrothe Färbung. Der Schnabel ist fleischroth, braun an der Spitze. Beim Weibchen sind alle Farben blasser, und der Kragen, die Haube sowie der schimmernde Fleck um den Schnabel fehlen gänzlich. 60

Das ganze Bemühen um Anschaulichkeit ist hier in die Beschreibung des Gefieders, vor allem in die Abstufung der Farben gelegt. Sie soll den Vogel in der Masse seiner Gattungsgenossen unverwechselbar charakterisieren. Da nun aber insgesamt sieben solcher Beschreibungen gegeben werden, unterläuft das Verfahren die beabsichtigte Individualisierung. Es stellt sich gerade kein eindeutiges Bild in der Vorstellung des Lesenden ein, es sei denn, er würde die Tiere schon kennen oder wollte ihre Merkmale auswendig lernen. Das wäre allerdings keine populärwissenschaftliche Rezeptionsweise mehr, sondern hieße, das Werk als Lehrbuch zu gebrauchen. Wirklich anschaulich sind in diesem Abschnitt nur die reichlich beigegebenen schwarz-weißen Abbildungen.61 Sie vermitteln wenigstens eine Vorstellung von der Gestaltung des Gefieders. Von den Farbadjektiven, die so detailwütig kombiniert werden, bleibt nur der Eindruck des vielfältig Bunten und Schillernden zurück, aber kein konkretes Bild. Man kann deshalb mit Fug und Recht sagen, daß es sich hier um eine Farbtextur handelt, wie sie auch in hyperrealistischen Beschreibungen auftritt und sich dann in der Decadence verselbständigt. Dieses Verfahren setzt Lexeme frei, weil es den Text nicht ausreichend zu strukturieren vermag. Es ordnet sich damit offensichtlich in den Prozeß ein, der zur Lexemautonomie führt. Kennzeichnend für viele Verfahren des Thierlebens ist, daß die Erscheinungen auf den Beobachter bezogen werden und von ihm aus eine Zuordnung

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Brehms Thierleben, Bd. 4, S. 422f. Die neue Qualität, die das Thierleben in der Naturtreue erreichte, offenbarte sich für die Zeitgenossen ganz wesentlich in den Abbildungen, die die Texte begleiten. Buffons Stiche zeigten noch ausgestopfte Tiere vor erfundenen Landschaften. Brehm gelingt es, Zeichner zu gewinnen, die die lebenden Tiere in ihrer angestammten Umgebung kennengelernt hatten. Das Ergebnis ist eine Anschaulichkeit der Bilder, die für die Betrachter überwältigend war. Sie verliehen Brehms Konzept und seiner Schilderung zusätzlich starke Evidenz. Vgl. Wilhelm Bölsche, Der Brehm, S. 431.

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oder Beurteilung erhalten. Diese subjektive Durchdringung des Gegenstandes ist eine Möglichkeit, das Fremde vertraut zu machen. Es kann dem latenten Krisenbewußtsein entgegenwirken, das aus dem >Zerfall< der Welt in objektive, äußerliche und nicht recht zugängliche Einzelfakten entspringt. Im Brehmbuch von 1929 heißt es: Was Brehm als Naturforscher auch heute noch bedeutet, mögen andere werten. Mir ist er der Lehrer, der Unzähligen das Auge geöffnet hat für das, was uns umgibt, und der uns zum Bewußtsein gebracht hat, daß wir nicht einsam auf dieser Erde wandern. Im Ring, im Mittelpunkt, an der Spitze eines unendlich reichen und uns verwandten Lebens ist die Erde erst unsere wirkliche Heimat geworden.62

Der Subjektivismus fördert die Anschaulichkeit des Textes, weil er Identifikationsangebote an den Leser macht,63 verträgt sich naturgemäß aber nur schlecht mit wissenschaftlichen Objektivitätsvorstellungen. Die Ehrfurcht einflößende Gestalt des Löwen, seine gewaltige Kraft, sein kühner Muth ist von jeher anerkannt und bewundert worden. Und wenn nun auch die Bewunderung oft das rechte Maß überschritten und dem Löwen Eigenschaften angedichtet hat, welche er wirklich nicht besitzt: gänzlich ungerechtfertigt ist sie nicht. Der Löwe erscheint neben den übrigen Katzen und selbst neben den meisten wilden Hundearten stolz, großmüthig und edel. Er ist bloß dann ein Räuber, wenn er es sein muß, und nur dann ein Wütherich, wenn er selbst zum Kampfe auf Leben und Tod herausgefordert wird.64

Die anthropomorphen Attribute und Nomina überschreiten deutlich den Status eines bloß poetischen Beiwerks. Sie haben substantielle Bedeutung und sollen das Tier in seiner Tatsächlichkeit charakterisieren. Die Anthropomorphisierung kann darüber hinaus die Darstellung dynamisieren und leicht verständlich begründen. Sie kann tierisches Verhalten motivieren oder sogar als intentionale Handlungen erzählen. Solche Verfahren haben eine lange Tradition. Auch Buffon hatte die Natur vermenschlicht. Er bediente sich einer Allegorese, die allgemeine Naturvorgänge personifiziert, ζ. B. »Mutter Natur«.65 Die Verfahren des Thierlebens sind dagegen Ausdruck eines psychologischem Konzepts. Vermenschlicht wird die einzelne Tierart in ihrem konkreten Verhalten. Brehm knüpft darin an Peter Scheitlin an, der die Tiere »als Kleinkinder vermenschlicht, [die] mit Sympathie, Mitleid, Stolz, Liebe und Haß handeln.«66

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Joh. Tews, Der Volks- und Jugenderzieher, in: Das Brehmbuch, Berlin 1929, S. 139-143; S. 142f. Vgl. Uwe Pörksen, Deutsche Naturwissenschaftssprachen, S. 196f. Brehms Thierleben, Bd. 1, S. 368f. Ernst Höhne, Der Stil Buffons. Eine stilistische Untersuchung der Histoire Naturelle, Generale et Particuliire, (Diss. Marburg 1913) Marburg 1914; S. 52. Katharina Heinroth, Die Geschichte der Verhaltensforschung, in: Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreiches, Sonderband Verhaltensforschung, hg. v. Klaus Immelmann, Zürich 1974, S. 1-15; S. 2. - Berufung auf Scheitlin ausdrücklich ζ. B. in Brehms Thierleben, Bd. 1, S. 22. Über Vorläufer, die Brehm direkt beeinflußten vgl. Hans-Dietrich

Brehm ist sich als Empiriker im Grundsatz bewußt, daß die anthropozentrische Perspektivierung der Naturerscheinungen wissenschaftlich problematisch ist, und weiß, daß der Text, der so verfährt, zur bloßen Dichtung abzugleiten droht. Er thematisiert deshalb das Projektionsproblem, um dann aber in einer überraschenden Wendung die Einfühlung des Menschen in seine >nächsten< Verwandten doch zu rechtfertigen: Das Auge der Säugethiere müssen wir übrigens auch noch von einem anderen Standpunkte betrachten: als äußeres, sichtliches Bild des Geistes. Bei den unteren Klassen hat es noch nicht die Beredsamkeit erlangt, daß es als Spiegel der Seele erscheinen könnte. Wir finden es zwar bei der Schlange tückisch, beim Krokodil hämisch und bei einigen Vögeln mild, bei anderen aber streng oder ernst, muthig etc: allein mit wenigen Ausnahmen legen wir selbst das hinein, was wir zu sehen glauben. Erst aus dem lebendigen Falken- oder Adlerauge spricht uns das Innere an; bei dem Auge der Säugethiere ist dies aber fast immer der Fall.67

Die Überzeugung, daß auch das Tier beseelt ist, gestattet Brehm seine einfühlende Betrachtungsweise. Sie hat den großen Vorteil, daß das Material für ein anschauliches erzählerisches Verfahren verfügbar gehalten wird. Dadurch fehlt aber die kritische Distanz zum eigenen Beobachterstandpunkt und zum Objekt. Durch die wissenschaftlich noch nicht ausreichend abgesicherte Einbeziehung des Verhaltens in die Betrachtung kehrt deshalb die Fabel, das nur im Text existente Faktum, in die Zoologie zurück.68 Die Vermenschlichung verschärft also das Dilemma jedes populärwissenschaftlichen Textes. Sie nährt den Verdacht, daß die Darstellung unter dem Primat dichterischer Freiheit steht und nicht unter dem der wissenschaftlichen Erkenntnis. Brehms wissenschaftliches Konzept ist erkennbar oberflächlich und fällt in seinem Problembewußtsein zweifellos hinter das der positivistischen Anatomen zurück. Die Reflexion über die Ursachen und den Charakter tierischen Verhaltens verläuft bei ihm noch in ganz spekulativen Bahnen und reproduziert lediglich den jahrhundertealten Streit zwischen Mechanisten und Vitalisten.69 Gleichwohl setzt Brehm sich kritisch mit den vorgefundenen Forschungs- und Textverfahren auseinander und formuliert ein berechtigtes Erkenntnisinteresse an Ökologie und Verhaltenskunde, die als wissenschaftliche Fachrichtungen zu seiner Zeit überhaupt noch nicht existieren.70 Brehm be-

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Haemmerlein, Brehms Tierleben, S. 21-24. - Zur Ablösung der barocken Allegorie durch das Genrebild vgl. Dolf Stemberger, Panorama, S. 61. Brehms Thierleben, Bd. 1, S. 20. Wolf Lepenies, Ende der Naturgeschichte, S. 115. Katharina Heinroth, Geschichte der Verhaltensforschung, S. 2f. Der Ökologiebegriff wird 1866 von Ernst Haeckel geprägt. Walter Baron, Entwicklung der Biologie, S. 325f. Eine naturwissenschaftliche Verhaltenskunde etabliert sich gar erst seit 1910.

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wegt sich damit auf einem Gebiet, das methodisch noch nicht festgelegt ist und daher auch noch keine sprachlichen Repräsentationsregelungen kennt. Ihm steht das ganze, durch literarische Bildung und klassische Rhetorik geprägte Spektrum an Textverfahren ohne wissenschaftliche Restriktionen zur Verfügung. Die langanhaltende Wertschätzung seines Werkes liegt denn auch darin begründet, daß es erst im 20. Jahrhundert gelang, vergleichende und experimentelle Methoden mit entsprechenden Beschreibungsverfahren für die Analyse tierischen Verhaltens zu entwickeln, die modernen naturwissenschaftlichen Ansprüchen genügten. Das Thierleben sank dadurch zu einem Werk bloßer Erzählkunst (im Sinne nicht faktengetreuer Erfindung) herab, wie es im 18. Jahrhundert der Histoire naturelle von Buffon ergangen war. Es soll nun ein Blick auf den Teil des Thierlebens geworfen werden, der sich nicht mit den Tierarten im einzelnen befaßt und deshalb auch nicht feldbiologisch-konkret verfahren kann, sondern mit Abstraktionen arbeiten muß. Den Säugetieren ist wie den anderen Klassen eine ausführliche Einleitung vorangestellt, die sich u.a. auch mit der Anatomie befaßt. Bezeichnenderweise neigt die Darstellung gerade bei diesem Thema zur katalogartigen Aufzählung. Sie [die Wirbeltiere] kennzeichnen das innere Knochen- oder Knorpelgerüst, welches Höhlen für Gehirn und Rückenmark bildet und von Muskeln bewegt wird, die Gliedmaßen, deren Anzahl niemals vier überschreitet, das rothe Blut, ein vollständiges Gefäßnetz, die seitliche Gleichmäßigkeit des Leibes und die Längsgliederung der Organe. Ihre hohe Entwikkelung ist deutlich genug ausgesprochen. Das große Gehirn befähigt sie zu einer geistigen Thätigkeit, welche die aller übrigen Thiere weit überwiegt, ihre Sinneswerkzeuge haben mehr oder minder einhellige, gleichmäßige Ausbildung erlangt. Augen und Ohren sind fast immer vorhanden und dann stets paarig; die Nase besteht aus zwei Höhlen und dient nur ausnahmsweise als Tastwerkzeug. Leber und Nieren finden sich immer; die Mi\z fehlt selten. Alle sind getrennten Geschlechts. Empfindung und Lebendigkeit sind ihnen gemein. 71

Brehm ist offensichtlich bemüht, die Auflistung möglichst abwechslungsreich zu gestalten. Er variiert Satzlänge und -bauplan und wählt möglichst unterschiedliche Verben. Dennoch sind gerade die Verben meist nicht vollbedeutend. Ihre semantische Potenz beschränkt sich auf die bloße Feststellung des Faktischen.72 Variation kommt durch Verzeitlichung hinein, die hier auf die Entwicklungsgeschichte referiert. Ein anderes Mittel ist der Ver-

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Brehms Thierleben, Bd. 1, S. 4. Hervorhebungen nicht im Original. Zur Entstehung des Nominalstils im Zuge von Verwissenschaftlichung und Technisierung vgl. Hans Eggers, Deutsche Sprache im 20. Jahrhundert, München 1973; S. 65ff. Günther Drosdowski/Helmut Henne, Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache, in: Lexikon der Germanistischen Linguistik, hg. v. Hans Peter Althaus/Helmut Henne/Herbert Emst Wiegand, Tübingen 2 1980, S. 619-632.

gleich, der zwar einerseits das Aufzählungsschema durchbricht, aber gleichzeitig das Faktum als singuläres Kennzeichen relativiert. Die bedeutungsblassen Verben vermögen die Einzelheiten nur additiv zu ordnen. Sie generieren keine Struktur, die dem Absatz innere Einheit verleihen könnte. Die Forschung hatte die genannten Fakten als homologe Elemente des gleichen Bauplans erkannt und alle mit diesen Merkmalen ausgestatteten Tiere zu einer gemeinsamen Kategorie vereinigt. Die Darstellung verfährt umgekehrt. Sie geht von der höheren Kategorie, dem Oberbegriff, aus und zählt die Homologien als gemeinsame Merkmale auf. Die Merkmale sind damit nur durch ihre abstrakte Zugehörigkeit zu einer Kategorie verbunden. Sie sind nur faktisch, bilden aber von sich aus keinen Zusammenhang, der sich durch ein Erzähl- oder Beschreibungsverfahren sprachlich auch repräsentieren ließe.73 Daß die aufzählende Beschreibung eine innere Einheit vermissen läßt, die durch Bezug auf die allgemeine Kategorie nur behauptet wird, zeigt noch stärker der folgende Absatz über Wirbel und Rippen: Schon den Vögeln gegenüber zeigt sich der Hals der Säugethiere als durchaus einhellig gebaut: denn dort nimmt mit der Länge des Halses auch die Zahl der Wirbel zu. Der Brusttheil der Wirbelsäule wird von 10 bis 23, der Lendentheil von 2 bis 9, die Kreuzbeingegend von ebenso vielen und der Schwanz von 4 bis 46 Wirbeln gebildet. Rippen oder Rippenstummel kommen zwar an allen Wirbeln vor; doch versteht man gewöhnlich unter den Rippen bloß die an den Brustwirbeln sitzenden, platten und gebogenen Knochen, welche sich mit dem Brustbeine entweder fest oder durch Knorpelmasse verbinden und die Brusthöhle einschließen. Ihre Anzahl stimmt regelmäßig mit jener der Brustwirbel überein; die Anzahl der wahren oder fest mit dem Brustbeine verwachsenen im Verhältnis zu den sogenannten falschen oder durch Knorpelmasse mittelbar an das Brustbein gehefteten ist aber großen Schwankungen unterworfen.74

Spätestens diese Sequenz wird beim Leser einen relativistischen Effekt erzielen. Da ihm das Einzelne weder in seiner Funktion erklärt, noch in seiner Entstehung geschildert, noch sonst in einen Zusammenhang gebracht wird, kann er es wieder nur auswendig lernen oder darüber hinweglesen. Die Zahlenangaben machen es vollends deutlich, daß das, was hier mühsam in einen Text gekleidet wird, eigentlich in eine Tabelle oder ein Schaubild gehört. Brehm waren die Schwierigkeiten bei der Darstellung solcher Fakten bewußt, wie denn auch das ganze Konzept des Thierlebens darauf abzielt, sie auf ein Minimum zu beschränken. Der Abschnitt über die Anatomie der Säugetiere schließt: Diese allgemeinen Bemerkungen mögen für unsere oberflächliche Betrachtung des Säugethierleibes genügen. Wer sich darüber ausführlich belehren will, findet Hand- und Lehrbücher genug, welche ihm in verständlicher oder dunkler Weise mehr berichten können, als er

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Vgl. Kapitel II 2: Historistischer und rhetorischer Katalog. Brehms Thierleben, Bd. 1, S. 5.

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vielleicht selbst wünscht. Unser Zweck ist, das Leben des Leibes und der Seele, das Leben des ganzen Thieres kennen zu lernen[.]75

Daß die Betrachtung der Lebensäußerungen als eine inhaltliche Alternative zur anatomischen Beschreibung auch andere Verfahren als die mühsam variierte Aufzählung ermöglicht, haben die Beispiele zum Bienenfresser gezeigt. Interessant ist, daß Brehm selbst das Kriterium der Verständlichkeit anführt und systematische Texte als dunkel, also als unverständlich bezeichnet. Von dieser Rezeptionserfahrung war ja auch die Analyse der historistischen Verfahren in der literarischen Moderne ausgegangen. Das Thema Physiologie, das sich anschließt, bietet weit mehr Spielraum für anschauliche Darstellungsverfahren. Das liegt vor allem daran, daß Brehm sich auf die eigentliche Physiologie gar nicht erst einläßt. Er klassifiziert phänomenologisch Gehen, Laufen, Springen, Klettern, Flattern und Schwimmen und versucht, diese Fortbewegungsarten aus einem gemeinsamen Temperament herzuleiten und sie auf diese Weise von denen anderer Tierklassen abzugrenzen. Die Säugethiere leben nicht so viel wie die Vögel; denn ihr Leben ist bedächtiger und schwerfälliger als das jenes leichtsinnigen Volkes der Höhe. Ihnen mangelt die heitere Lebendigkeit und unerschöpfliche Lebensfröhlichkeit der Lieblinge des Lichtes; sie zeigen dafür eine gewisse Behäbigkeit und Lebensgenußsucht, welche vielen sehr gut und vielen sehr schlecht ansteht. Hinsichtlich ihrer Beweglichkeit und Bewegungsfähigkeit kommen sie den Vögeln nicht im entferntesten gleich. Nur wenige kennen die unbeschreibliche Lust einer ungebundenen Bewegung, nur wenige jagen jauchzend zwecklos umher, wie die mit ihren herrlichen Gaben scherzenden und spielenden Kinder der Luft. Sie haben ein ernsthafteres Wesen als diese und verschmähen ein unnützes Anstrengen ihrer leiblichen Kräfte. [usw.]76

Wo harte wissenschaftliche Fakten nicht im Wege stehen, ist offensichtlich Platz für die freie Setzung eines Zusammenhanges, wie hier der Gegensatz zwischen Lebendigkeit und Behäbigkeit. Die Bedeutung der beobachteten Erscheinungen ist durch die Wissenschaft nicht festgelegt (oder wird von Brehm ignoriert) und kann deshalb im Verfahren erzeugt werden. Der Text hat nun Platz für allegorische Anreicherungen, weil sich der gedachte Zusammenhang frei wählen läßt und damit auch bildliche oder poetisch anverwandelte Gegenstände in Betracht kommen. In diesem Fall ist die Grundidee sehr frei, an ihr ist fast nichts faktisch. Die meisten Nomina repräsentieren entweder die Setzung oder sie haben bildliche Bedeutung und sind dadurch in einen festen sprachlichen Bedeutungszusammenhang eingebunden. Relativistische Erscheinungen, die auf ein Übermaß gleichwertiger Le-

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Brehms Thierleben, Bd. 1, S. 8. Brehms Thierleben, Bd. 1, S. 8. Hervorhebungen nicht im Original.

xeme zurückgehen, sind deshalb nicht festzustellen. Wohl aber zeigt die Passage eine gewisse Beliebigkeit in der Verwendung des Bildmaterials. Keine der Allegorien wird durchgehalten und erhält dadurch Gelegenheit, sich zu einer Aussage im poetischen Modus zu verdichten. Ein anderes wirksames Verfahren, einzelne Merkmale zu einem Zusammenhang zu verknüpfen, ist, wie schon beim Bienenfresser, die Herstellung eines Kontinuums: Es ist anziehend und belehrend zugleich, die Steigerung der Schwimmthätigkeit zu verfolgen und die den Schwimmern gegebenen Bewegungswerkzeuge vergleichend zu betrachten. Wir können hier zuerst auch auf die unfreiwilligen Schwimmer blicken. Hier ist das behufte Bein als das unvollkommenste Werkzeug anzusehen; allein dieses vervollkommnet sich rasch in demselben Grade, in dem der Huf sich theilt: und so treffen wir unter den Vielhufern bereits ausgezeichnete Schwimmer, ja im Nilpferde schon ein echtes Wasserthier. [...] Die Robben bilden Uebergangsglieder von den Pfotenthieren zu den eigentlichen Fischsäugem. Ihre Füße sind nur noch dem Namen nach Füße, in Wahrheit aber bereits Flossen; denn die Zehen sind schon gänzlich in die Bindehaut eingewickelt, und nur die Nägel lassen sie äußerlich noch sichtbar erscheinen. Bei den Walen fehlt auch dieses Merkmal; die Zehen werden durch Knorpelgewebe dicht und unbeweglich mit einander verbunden, und bloß die gesammte Flosse ist noch beweglich; die hinteren Gliedmaßen verschwinden, aber der Schwanz breitet sich wagrecht zur echten Flosse aus: das Mittelding zwischen Säuger und Fisch ist fertig geworden?1

Brehm charakterisiert sein Verfahren treffend, wenn er von Steigerung und vergleichender Betrachtung spricht. Es integriert durch verlaufsanzeigende Verben und temporale Adverbien eine Vielzahl an Fakten in einen prozessualen Zusammenhang. Bemerkenswert ist, wie sich die ursprünglich nach einem willkürlichen Gesichtspunkt, nämlich der Schwimmtätigkeit aufgestellte Reihe mit ihrem transformatorischen Verfahren unversehns zu einem evolutionären Entwicklungsgang mit finalem Schluß wandelt - man beachte den Tempus Wechsel! Die Parallelität zwischen der rhetorischen Struktur und der Evolution ist verführerisch, aber nicht sachgerecht. Nilpferd und Pferd, Wal und Robbe haben allenfalls gemeinsame Vorfahren, sie stammen aber nicht voneinander ab. Der Zusammenhang zwischen den Fakten, der durch das Verfahren gestiftet wird, tritt jeder Isolierung des Einzelnen tatsächlich so wirkungsvoll entgegen, daß eine Fehldeutung provoziert wird.

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Brehms Thierleben, Bd. 1, S. 12f. Hervorhebungen nicht im Original.

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Auswertung: Relativistische Effekte in Brehms Textverfahren Brehms Thierleben kennt ebenso wie die anderen vorgestellten populärwissenschaftlichen Texte eine Vielzahl von Verfahren, die einen Argumentations·, Beschreibungs- oder Erzählzusammenhang herzustellen vermögen. Dazu gehört die Entwicklung einer spekulativen Idee, die Trägheit der Säugetiere zum Beispiel, die den Charakter einer Setzung hat. Diese Setzung sollte keine konkrete Art, sondern eine abstrakte Tierklasse profilieren helfen, deren Lebenstätigkeit man nicht unmittelbar beobachten kann. Dabei wurden, wie in der polemischen Argumentation der populären Materialisten, nur wenige Fakten vermittelt. Die Setzung wird also vorrangig nicht deshalb verwendet, weil sie vorhandenes Material bewältigen könnte. Sie wird auch im Thierleben alternativ zum Katalogverfahren eingesetzt. Man könnte Brehms Setzung im Gegensatz zu den rhetorisch-pragmatischen Setzungen Büchners oder Haeckels essayistisch nennen, um ihrer Situierung zwischen Wissenschaft und Dichtung gerecht zu werden. Der zentrale Satz des Beispiels, »Die Säugethiere leben nicht so viel wie die Vögel«78, ist als wissenschaftliche Aussage unhaltbar. Er leitet aber eine poetische Annäherung an einen Sachverhalt ein, der wiederum nicht vorrangig seiner poetischen Qualität wegen beschrieben wird, sondern weil er empirisch gegeben ist. Das Verfahren will also einen Sachverhalt, der sich der wissenschaftlichen Aussage (vorläufig noch) entzieht, mit poetischen Mitteln umschreiben. Es ist durch den poetischen Duktus hindurch diskursiv, und das bezeichnet den Tatbestand des Essayismus ziemlich genau. Historisch steht dieses Verfahren zwischen naturphilosophischem Idealismus und dem modernen, erkenntniskritischen Essayismus.79 Auf der einen Seite ist die essayistische Setzung nicht mehr in einem idealistischen Konzept aufgehoben, wie es noch in Humboldts Kosmos der Fall ist. Sie ist zum rhetorischen Mittel abgesunken, das den Text nur noch abschnittsweise zu strukturieren vermag. Auf der anderen Seite wird das Verfahren zwar alternativ zum wissenschaftlichen Positivismus eingesetzt, aber nicht im gleichen Maße erkenntnis- und sprachkritisch verwendet wie im modernen Essay. Wissenschaftlich neutraler ist die Einkleidung der Einzelheiten in Verläufe, wie die Entwicklungsgeschichte oder den Jahreszyklus. Sie unterwerfen die Fakten einer vergleichenden Betrachtung oder fügen sie in ein persönliches Erlebnis ein. Das Material präsentiert sich also in Strukturen, die von sich aus Zusammenhang und Anschaulichkeit schaffen und darüber hinaus den Rahmen für höchst vielfältige Variationen der Syntax und der Wortwahl stellen. Auch dieses Verfahren birgt seine Probleme. Es kann wissen-

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Brehms Thierleben, Bd. 1, S. 8. Vgl. Kapitel III 2: Essayismus.

schaftliche Erkenntnis suggerieren, wo diese gar nicht vorhanden ist und dadurch seine rhetorische Außenseite an den Tag legen. Das zeigt die Behandlung der Meeressäugetiere in der Einleitung des Thierlebens. Daß wissenschaftliche Erkenntnis jenseits sprachlicher oder rhetorischer Formen kaum zu denken ist, rechtfertigt nicht jede Anordnung der Fakten. Die Lizenz für die Verwendung von essayistischen Setzungen und Geschehensstrukturen ist die Annahme, das Tier als Ganzes, in der Einheit seiner Erscheinung und seiner Lebensäußerungen erfassen zu können. Dieser Ansatz teilt mit der Historischen Schule das empirische Objektivitätsideal. Der Forschungsgegenstand soll direkt zugänglich gemacht werden und dabei weder durch metaphysische Ableitungen oder (natur-)philosophische Entwürfe verstellt noch durch formalistische Klassifikationstechniken zerstükkelt werden. Das Tier als lebendiges darstellen, heißt für Brehm, es so zur Geltung bringen, wie es wirklich ist. Diesem Zweck dienen die verschiedenen veranschaulichenden Darstellungsverfahren im Text, die Abbildungen, die das lebendige Tier in Aktion vor einem natürlichen Hintergrund zeigen, und sogar die Gestaltung der Tiergehege in den von Brehm betreuten zoologischen Gärten, wo er die natürliche Umgebung der Tiere aufwendig nachzubilden versuchte.80 Entscheidend für den historistischen Charakter dieser Verfahren ist, daß sie trotz der Selbstverpflichtung des Autors zur Empirie nicht darauf zielen, dem Tier selbst gerecht zu werden. Es dominiert offensichtlich die Absicht, einen möglichst wirklichkeitsnahen und umfassenden Eindruck zu erzeugen. Der ganze Sprach- und Bilderpomp ist ausschließlich für den Betrachter und seine Illusionierung geschaffen. 81 Spätestens an der Zoodekoration wird die Übereinstimmung von Brehms Konzept mit dem Historismus als Illusionierungstechnik evident.82 Die Dominanz des Betrachters zeigte sich auch in den meisten Textbeispielen, die vorgetragen wurden. Er ist es, der den essayistischen Begriff prägt, er stellt die Entwicklungsreihe auf, er preist die Schönheit der Vögel und er erzählt seine Reiseerlebnisse. Die ganze Natur steht unterschiedslos zu seiner Verfügung und muß nur aufgesucht und beschrieben werden. Die

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Werner Frank, Brehms Illustrirtes Thierleben. Kommentar zur vollständigen FaksimileAusgabe der 1. Auflage, Stuttgart 1979; S. 34. Vgl. Rankes Bestimmung der Historiographie: »Der Zweck ist: jedes Vergangene wie ein Gegenwärtiges zu veranschaulichen«. Leopold von Ranke, [Einleitung zu einer Vorlesung über neuere Geschichte, Geschichtswissenschaft und Parteienstandpunkt], in: L.v.R., Aus Werk und Nachlass, Bd. IV, Vorlesungseinleitungen, hg. v. Volker Dotterweich/Walther Peter Fuchs, München 1975, S. 294-295; S. 295. Vgl. auch Dolf Sternberger, Panorama, S. 1 Iff. Die Zoodekoration wird heutzutage möglichst gering gehalten, weil sich nur so hygienische Verhältnisse herstellen lassen, die die Tiere überhaupt für längere Zeit am Leben erhalten.

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Kritik des eigenen Standpunkts und der eigenen Wahrnehmung bleibt, wo sie auftritt, nur an der Oberfläche. Die subjektive Perspektivierung erzeugt in Kombination mit dem empirisch-historistischen Objektivitätsideal einen spezifischen Relativismus. Für Brehm als Beobachter sind alle Tierarten gleich interessant und damit gleich viel wert, obwohl er sich über deren Nutzen für den Menschen durchaus negativ äußern kann. Sein Bemühen um vorurteilsfreie, >wissenschaftlich-neutrale< Beobachtung egalisiert zunächst einmal diese profanen Unterschiede. Bei der Behandlung bestimmter, hauptsächlich anatomisch-morphologischer Stoffe, aber auch bei der Auflistung von Belegstellen sind relativistische Erscheinungen festzustellen, die positivistisch verursacht sind. Sie resultieren aus der reinen Fülle des Materials, seiner Abstraktheit und der Schwierigkeit, die Einzelteile zu einer Einheit zusammenzufügen. Der fehlende Zusammenhang minimiert die sprachlichen Variationsmöglichkeiten und damit die Anschaulichkeit der Darstellung. Das Material wirkt tabellarisch oder statistisch und würde heute sicher wenigstens durch graphische Mittel begleitet, wenn nicht überhaupt ersetzt werden. Brehm hat im Gegensatz zu Haeckel die Möglichkeiten der Grafik und des Layouts fast gänzlich ignoriert. Die einzelnen Abschnitte tragen nicht einmal Überschriften, der Text ist gesetzt, als handelte es sich um einen Roman. Der positivistische Relativismus der Fakten ist gleichzeitig Darstellungsund Rezeptionsproblem. So wie der Text die Materialfülle nur schlecht bewältigt, kann auch der Leser von sich aus keinen Zusammenhang in die vereinzelten Informationen hineinbringen. Bei ihm stellt sich der relativistische Effekt ein, der ihn über das Einzelne hinweglesen läßt, wenn er keine weitergehenden Ziele verfolgt und die Fakten aus wissenschaftlichem Interesse auswendig lernt. Die Konzeption des Thierlebens ist tendenziell relativistisch, weil es eine große Menge eigentlich gleichwertiger Tierarten nebeneinander versammelt. Das präsentierte Wissen dehnt sich räumlich, also quantitativ aus,83 wie auch der Umfang des Werkes beweist. Brehm konnte das Thierleben nahezu im Alleingang schreiben, nicht weil er eine neuartige Methode der Informationsverarbeitung entwickelte, sondern weil er einen mehr oder weniger großen Teil der geschilderten Tiere selbst beobachtet hatte, sie im Gedächtnis behielt und die nötige Begeisterung sowie den Fleiß des 19. Jahr-

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Bölsche bemerkt, Brehm habe wie Buffon einen »geographischen Zug«. Wilhelm Bölsche, Der Brehm, S. 417.

hunderts mitbrachte, um seine Beobachtungen vor dem Publikum auszubreiten.84 Brehm legt seinem Werk die Systematik zugrunde und hat damit eine starke, wissenschaftlich begründete Struktur. Sie bewahrt ihn vor einer bloßen Aneinanderreihung der Arten, obwohl er das System typographisch kaum zur Geltung bringt. Die bloße Addition war vor dem 19. Jahrhundert ein praktikables Prinzip, weil noch nicht so viele Tierarten bekannt geworden waren. In Brehms raumgreifendem Werk verfiele die einzelne Art hoffnungslos dem Relativismus, wenn sie nicht in Familie, Gattung und Klasse eingebunden wäre, obwohl gerade die höheren Kategorien Schwierigkeiten bei der Darstellung verursachen. Der Relativismus setzt sich darüber hinaus deshalb nicht durch, weil Brehm in seiner Darstellung eben doch die Arten hervorhebt, die besondere Eigenheiten aufweisen und sich deshalb besonders gut von anderen abgrenzen, individuell charakterisieren und veranschaulichen lassen. In einem Werk, das tatsächlich alle Arten und zumal die große Zahl niederer Organismen berücksichtigt hätte, wäre das nicht möglich gewesen. Insofern tat Brehm gut daran, sich auf die höheren Tiere zu beschränken und hatte das Glück, daß noch nicht so viele Arten und Fakten bekannt waren wie heutzutage. In den katalogartigen Aufzählungen des Thierlebens zeigen sich erste relativistische Erscheinungen, die auf die Lexemautonomie der Moderne vorausweisen. Ursache für diesen Relativismus ist die reine Fülle der Fakten, die überwiegend positivistisch begründet ist. Die große Zahl der Lexeme wird jedoch durch starke Textstrukturen eingebunden, die inhaltlich durch ein historistisch zu nennendes Lebenskonzept legitimiert sind. Das heißt, das Generalverfahren des Thierlebens ist jenseits der konkreten sprachlichen Gestaltung zwar historistisch, ermöglicht es aber gerade, dem positivistischen Relativismus der Einzelfakten sprachlich kreativ entgegenzuwirken. Im 19. Jahrhundert verfahren alle Wissenschaften ungeachtet ihrer Sachgebiete und ihrer globalen Überzeugungen mehr oder weniger positivistisch. Die Erforschung und Dokumentation positiver Fakten gehört ebenso zur überall feststellbaren antiidealistischen Wendung wie zum Verwissenschaftlichungsprozeß insgesamt. Alle Wissenschaften häufen deshalb ein Tatsachenwissen an, dessen bloßes Ausmaß alles bis dahin Gewohnte überschrei-

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Brehm hat andere Autoren exzerpiert, intensiv korrespondiert und sogar Fragebögen verschickt. Viele Fremdberichte sind wörtlich in das Thierleben eingegangen. Brehm ist damit sicher auf dem Weg zu einer arbeitsteiligen Wissenschaft, man kann aber nicht sagen, daß er schon im Team gearbeitet habe. Vgl. Hans-Dietrich Haemmerlein, Brehms Tierleben, S. 24ff.

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tet. Unter diesen Voraussetzungen ist die Sachliteratur genötigt, positivistisches Material als Text zu repräsentieren. Besonders populärwissenschaftliche Texte folgen Darstellungs- und Wirkungskonzepten, die dem Positivismus gerade entgegengesetzt sind. Diese Konzepte legitimieren die Verwendung klassischer Darstellungsverfahren, die den jeweiligen Text im großen und ganzen strukturieren und populär rezipierbar machen. Während etwa das Leben als einheitsstiftender Begriff bei Virchow in die Zellen zurückverlegt wird und dadurch eine Art von Texten entsteht, die für die Texturen der Moderne unmittelbar anschlußfähig zu sein scheint, wird der Lebensbegriff bei Brehm >ganzheitlich< über das bloß Anatomische weit hinaus gefaßt und dadurch die Narration als legitimes Textverfahren zurückgewonnen. Dennoch können sich auch die populärwissenschaftlichen Texte dem Positivismus nicht entziehen. Bestimmte Gegenstände, vor allem die Anatomie, aber auch andere äußere Merkmale, wie ζ. B. die Färbung, oder Fundorte nebst Zeitangaben und Beobachtern neigen von sich aus zur Serialität oder werden durch positivistische Konzepte, wie etwa Henles Anatomie, vereinzelt. Sie können um der Wissenschaftlichkeit willen auch in populären Texten nicht einfach weggelassen werden. Wo die Referenz auf dieserart Sachverhalte hergestellt werden soll, lockert sich aber der Textzusammenhang, so wie umgekehrt die Passagen, die durch rhetorische oder poetische Verfahren besonders dicht strukturiert sind, oft keine exakten wissenschaftlichen Aussagen machen. Die verschiedenen katalogartigen Texturen, die vorgestellt wurden, sind nicht deshalb positivistisch zu nennen, weil sie Material aufnehmen, das mit Hilfe naturwissenschaftlich exakter Methoden erhoben wurde. Wollte man dabei stehen bleiben, ließen sich die populären naturwissenschaftlichen Sachtexte schwerlich in den Kontext des Historismus als Vorbedingung der literarischen Moderne einordnen. Positivistische Textverfahren präsentieren wissenschaftliche Tatsachen positivistisch. Sie setzen die Einzelfakten als Einzelfakten, um ihrer bloßen Existenz willen und realisieren keine strukturierenden Zusammenhänge, wie es der hermeneutisch lesbare Text gewöhnlich tut. Deshalb ist das entsprechende Textverfahren selbst positivistisch. Der Positivismus als wissenschaftliches und philosophisches Konzept verweigert, wenigstens vorläufig, die Interpretation der Fakten und die Angabe ihrer Bedeutung. Genau das tut das Verfahren auf der Textebene auch. Den positivistischen Textverfahren immanent sind relativistische Effekte, die aus der fehlenden Binnenstruktur der Kataloge resultieren.85 Diese Effekte werden bei Brehm ζ. B. schon mitreflektiert, schließlich ist das gan-

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Vgl. Kapitel II 2: Historistischer und rhetorischer Katalog.

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ze Lebenskonzept eine Strategie gegen die unlesbaren systematischen Darstellungen. Dennoch werden Lexeme in populärwissenschaftlichen Texten noch nicht autonom verwendet. Der positivistische Katalog entsteht als Text gerade bei dem Bemühen, wissenschaftliche Sachverhalte korrekt zu repräsentieren. Die populärwissenschaftliche Darstellung ist in ihren Prämissen also alles andere als relativistisch, aber sie etabliert Textverfahren, die die relativistische Disposition der Einzelfakten anzeigen und die Lexemautonomie damit auf den Weg bringen.

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II.

TEXTUREN DER LITERARISCHEN MODERNE

1.

Naturalismus und Decadence als Verfahren

Daß Naturalismus und Decadence (möglicherweise auch noch weitere >EpochenVerfahren< soll die Beobachtung einer bestimmten Art von Textgenerierung begrifflich gefaßt werden, die es ermöglicht, die Frage nach Sinn und Bedeutung von literarischen Texten weitgehend zu suspendieren; anders gesagt: hermeneutische Fragen nicht stellen zu müssen, die angesichts der generellen Unverständlichkeit moderner Texte ohnedies unbeantwortet bleiben würden. Keineswegs polemisch gegen die Verdienste gerade dieses Ansatzes, was ganz unangebracht wäre; aber doch als Versuch, für solche Texte in Zeiten radikaler Desemantisierung dennoch einen Zugang zu gewinnen, der nicht auf ihr Verstehen aus ist, sondern vielmehr darauf, ihre Machart und Aufbereitung, ihr Zustandekommen (ohne freilich produktionsästhetisch argumentieren zu müssen) zu begreifen. Wo es nichts zu verstehen gibt, kann man sich selbst die Paraphrase sparen, die im besten Falle die Wiederholung des Textes sein könnte, den man schon hat. Die modernen Texte, die dergestalt ausschließlich noch auf sich selbst verweisen und denen deshalb nicht beizukommen ist, erschließen sich allenfalls einem Blick auf die Besonderheit ihrer Durchführung; die heißt Verfahren. - Ein >anderes< Verfahren ist es insofern, als es sich in seiner Sorglosigkeit gegenüber Vorgaben wie Inhaltslogik, gar Argumentation, Argumentationsketten und zielgerichtetem Sprechen deutlich unterscheidet von allen Textverfahren vorangehender oder auch zeitgenössischer Texte. Das Problemfeld nun über seine systematische Fragestellung hinaus auch historisch in der ganzen Breite zu beschreiben, die es seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts einnimmt, wird kaum möglich sein. Dennoch ist die historische Begründung des in Frage stehenden Verfahrens unverzichtbar. Entsprechend der Intention dieses Buches geht es deshalb darum, Fragen zu formulieren und deren Dringlichkeit und Stichhaltigkeit exemplarisch und repräsentativ zugleich zu begründen; d. h. hier: am literarhistorischen Material. Das Folgende beschränkt sich daher auf diejenigen Punkte in der Entwicklung des Problems, an denen es sich historisch unwiderruflich heraus105

zubilden beginnt. Vor- und Nachgeschichte können lediglich angedeutet werden. Das Ganze reicht - um es wenigstens ungefähr einzugrenzen und einen ungefähren Anhaltspunkt zu geben - vom Realismus des späten Stifter bis zu den Collage-Techniken der Zwanziger Jahre und der zweiten Nachkriegszeit. Zu sprechen wäre also nicht nur von den historischen Romanen des 19. Jahrhunderts1. Vielmehr auch von Stifters Kuß von Sentze oder dem Frommen Spruch, von Friedrich Theodor Vischers Auch Einer, Texten, die genauso in die Vorgeschichte gehören, wie bestimmte Arbeiten der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts von Karl Kraus oder Alfred Döblin bis hin zu Max Frisch und Arno Schmidt in die Nach- oder Spätgeschichte des Phänomens. Alles das noch reiht sich über jenes >andere< Verfahren, das jetzt genauer zu formulieren ist, jenem >anderen< Verständnis an, das mit dem Insistieren auf Semantisierung kaum zu erreichen ist.2

Naturalismus als Verfahren: Anfänge der Lexemautonomie Versucht man, die Verknüpfung von positivistischem Historismus und literarischem Textverfahren systematisch zu fixieren, dann bietet sich dazu ein historisches Phänomen besonders an: der literarische Naturalismus. Das scheint zunächst verwunderlich, stellt sich aber bei näherem Hinsehen schnell als sehr plausibel heraus. An literarischen Texten des Naturalismus läßt sich die Erscheinung besonders gut beobachten und beschreiben, obwohl sie doch ihrer Genese nach viel früher anzusetzen ist: in der produktiven Nachbarschaft von Geschichtswissenschaft und historischem Roman in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.3 Der Naturalismus nämlich zeitigt Innovationen in zweierlei Hinsicht: einerseits indem er den ästhetisch zulässigen literarischen Gegenstand weiter faßt als es bis dahin der Fall war; insbesondere im Hinblick auf die zeitgenössische Sozialproblematik. Und er zeigt andererseits eine geschärfte Vorliebe fürs Detail. Zwar hängt das eine mit dem anderen aufs engste zusammen; denn ohne das Interesse an den sozialen Zuständen, die nach Meinung

Vgl. Kapitel I 2: Historismus und Realismus im historischen Roman. So stellt sich - analog zu einer Vorgeschichte der Lexemisolierung - u. a. auch die Frage, wie die Entwicklung weitergeht; und zwar im Hinblick auf bestimmte Themenkomplexe. Zu untersuchen wäre, ob ζ. B. Antikebegeisterung, Exotismus oder Orientalismus, kurz: die angerufenen (vertrauten) Fremdbilder etwa in Flauberts Salammbd, in der Musik von Hector Berlioz oder in Kafkas Chinesischer Mauer tatsächlich thematisch gemeint sind. Ob sie nicht vielmehr bloßes Arsenal darstellen und Katalogstoff sind; also einer Isolierung der Lexeme anheimfallen, die sie für eine thematische, folglich hermeneutische Interpretation, die sie >verstehen< will, ganz und gar unbrauchbar macht; sie stattdessen einer Bestimmung unterwirft, die auf einer Untersuchung des Verfahrens besteht, nicht der Bedeutung. Vgl. Kapitel I 2: Historismus und Realismus im historischen Roman.

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der naturalistischen Generation im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu wenig oder gar keinen Raum einnahmen, wäre es nicht vonnöten gewesen, ein Instrumentarium genauer Detailtreue zu entwickeln. Das ist aber bekanntlich in allen großen europäischen Nationalliteraturen des 19. Jahrhunderts in der Regel so gewesen: Frankreich, England, Russland, den skandinavischen Ländern - um nur diese zu nennen. Dennoch: trotz aller engen Verschränktheit von quasi-ideologischem Interesse und Detailbesessenheit, trotz aller scheinbaren Prädominanz der Gesinnung über die Ziele der Literatur zeigt sich bald eine deutliche Verselbständigung in der Darstellung des Beobachteten; eine Verselbständigung eben der detaillierten Schilderung. Das ist deutliches Stilprinzip in Melvilles Moby Dick (1851), ist in Ansätzen schon bei Hugo (Les Miserables, 1862) der Fall.4 Für die deutsche Literatur, die uns in diesem Zusammenhang besonders interessiert, zeigt sich das bereits im frühen historischen Roman; also bei Willibald Alexis, dann ganz deutlich bei Viktor von Scheffel, Felix Dahn oder Georg Ebers. Im bewußten Anschluß an Zola, der mit dem dezidierten Willen zum Detail zugleich den zur Totalität und zum Riesen-Opus verbindet, verselbständigt sich das in der deutschen Literatur noch im Spät-Naturalismus (Holz, oder Heinrich und Julius Hart5); für die französische geht die Entwicklung einigermaßen bruchlos von Zola über die Brüder Goncourt, Maupassant auf Huysmans über; so daß sich das merkwürdige Phänomen ergibt, daß bestimmte deutsche Spätnaturalisten (oder besser gesagt: Naturalisten in einer spätnaturalistischen Phase ihrer Arbeit) im Hinblick auf das Textverfahren annähernd zur gleichen Zeit die gleichen Erscheinungen zeigen wie die Vertreter der literarischen Decadence in Frankreich samt ihren Vorläufern wie etwa Flaubert oder eben auch Hugo.6 Ein gewisser Antagonismus ist dabei nicht zu verkennen; denn es geht bei allem um zweierlei zugleich: um Detailtreue und Totalität. Beide Ziele sind kaum miteinander zu vereinbaren, ja schließen sich eigentlich aus. Dennoch versucht man, sie - zum Teil sogar miteinander kombiniert - zu verwirklichen. Das tritt in gewisser Weise bereits, wenn auch nicht immer explizit, bei Zola in Erscheinung. Er sucht in den Rougon Macquarts seine am naturwissenschaftlichen Experiment orientierte, genaue und auf Detailtreue zielende Beschreibung mit der Vollständigkeit einer Groß-Familiendarstellung als gesellschaftlicher Totalität zu verbinden. Bei Arno Holz verhält es sich (ins Formale gewendet) in gewisser Weise ähnlich: er entwickelt aus seinem schmalen Phantasus-YiänAch&n seinen sogenannten Riesen-

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Vgl. auch Einführung, Anm. 14. Vgl. unten Anm. 7. Für die deutschsprachige Literatur ist dabei insbesondere an Arno Holz zu erinnern, über den später noch Genaueres zu sagen sein wird, aber auch bereits an Detlev von Liliencron.

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Phantasus von Hunderten von Seiten, dessen Ziel genauso die Darstellung einer Totalität ist wie das in zahllosen anderen entsprechenden Entwürfen der Zeit versucht wird.7 Das Dilemma, vor dem die Autoren stehen, ist von vornherein in dem angelegt, was sie beabsichtigen: in der Unmöglichkeit, Vollständigkeit der Abbildung einerseits und Genauigkeit des Details andererseits gleichrangig miteinander zu verbinden. Es ist nun interessant zu beobachten, daß zwar zunächst beides aufs engste zusammengehört: Totalitätskonzept und Detailtreue; daß sich aber auch hier beides sehr schnell verselbständigt. Im ersten Falle dokumentiert sich das Bedürfnis, der allgemeinen Zersplitterung und Auflösung ein monistisches 8 oder wenigstens holistisches Gesamtbild entgegenzuhalten. Im anderen verselbständigt sich die sprachliche Darbietung in jeder Hinsicht und bildet von nun an bestimmte Formen aus, die nicht mehr zu übersehen sind: redundante Anhäufung von Details, Ordnungs- und Strukturierungsversuche im Hinblick auf solche Redundanzen in Aufzählungen, komplexen Lexemreihungen, Katalogen oder auch (Bild-) Beschreibungen, wie in Α Rebours9 oder - unverhältnismäßig geradezu - in La Cathedrale10 von Huysmans. Zweifellos kann man - für die deutschsprachige Literatur - bereits in dem exzessiven Gebrauch, den Hauptmann in seinen Webern vom Schlesischen macht, in dem, was man >Soziolekt< oder >PsycholektDie Krönung der Jungfrau< des Fra Angelico im Louvre« (J. K. Huysmans, Die Kathedrale, übersetzt von Hedda Eulenberg, Berlin, [o.J.], 2 Bde. [in einem] I, 7, S. 151 ff.), die Beschreibungen der Beuroner Kunst (ebd. II, 4), der Plastiken (»Aber am einfachsten gehen wir einfach den Reihen der Statuen nach, die um den Türbogen geordnet sind«. [II, S. 95]). Vgl. Günther Mahal, Naturalismus, München 1975, bes. S. 95ff. Mahal beschreibt die Besonderheit naturalistischer Sprache, indem er die beobachteten Tatbestände in die Tradition der Rhetorik einordnet und (konsequenterweise und für seine Zwecke völlig zu Recht) von Ellipse, Aposiopese, Anakoluth, Katachrese usw. spricht.

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Nachbildung der Realität schon in Vor Sonnenaufgang (1889) - denkt man an die Reden des betrunkenen Bauern Krause12 etwa - hat zwar schlechterdings Modellcharakter für das, was man das Ideal naturalistischer Schreibweise nennen muß. Zugleich erkennt man aber eben auch, daß sich darin bereits ein >anderes Verfahren< abzeichnet. Eines, das sich zwar - hier wie andernorts - noch selbst als naturalistisch versteht, das aber doch diese Bezeichnung nur in sehr begrenztem Maße auch tatsächlich uneingeschränkt verdient. Es handelt sich um eine Spielart der Textgenerierung, die vielmehr sozusagen gerade auf dem Wege ist, sich zu verselbständigen und damit eben diese Verselbständigung zur Signatur ihres eigenen Verfahrens zu machen: eines Verfahrens, das die Autonomisierung der Lexeme betreibt, nicht weil sie sich aus einem naturalistischen Mimesis-Gebot ergäbe, sondern um ihrer selbst willen. 13 Man kann auch die Papierne Passion von Holz und Schlaf zu solchen Vor- oder Übergangsformen rechnen; und zwar in sehr spezifischer Beziehung: im Hinblick auf die hier ganz offensichtlich gewordene Verwischung der Gattungsgrenzen.14 Der Text liest sich in seinen Dialogpartien wie ein Drama, ohne es zu sein; die dazugehörigen minuziösen >Regieanweisungenandere Verfahren< nimmt gewissermaßen das impressionistische in sich auf. Also auch das impressionistische Textverfahren

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wird; wie in der jüngsten und umfassendsten Arbeit zum Problem von Hartmut Marhold, Impressionismus, I.e. Deutlich wird das aber auch in Schlafs enger Beziehung zum Werk Walt Whitmans, dessen Grashalme er übersetzt hat; und zwar gerade auch im Hinblick auf die impressionistischen Implikationen seines eigenen (nicht mehr naturalistisch ambitionierten) Werkes, denkt man an In Dingsda (1894 in Bierbaums Musenalmanach) oder Frühling (Leipzig 1896). Seine Beschäftigung mit Whitman und dem, was sich zeitgenössisch mit diesem Autor verbindet, legitimiert diese Texte sozusagen in sprachlicher Hinsicht noch ex post. - Die noch heute lieferbare Übersetzung erschien 1907 in Reclams Universalbibliothek. Das ist, wie jeder weiß, ein heikles Problem. Gerade die Offensichtlichkeit der mannigfachen Korrespondenzen und Entsprechungen zwischen den Bildern der Impressionisten und den (wenigen) Werken der Literatur, die dem unter der Überschrift >impressionistisch< an die Seite zu stellen wären, macht skeptisch. - Für die Wiener Moderne hat Dirk Niefanger kürzlich an die Bedeutung des künstlerischen Impressionismus im Zusammenhang mit der Literatur erinnert (Produktiver Historismus, bes. S. 157ff.). Günter Heintz im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Auswahl der Gedichte von Detlev von Liliencron unter der Überschrift »Literarischer Impressionismus« (übrigens selbst in seiner Knappheit einer der interessantesten Beiträge zum Thema), Stuttgart 1981, S. 135ff.; hier S. 145.

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stellt keinen selbständigen Vorgang dar, wird vielmehr nur verständlich in der Kontinuität von historistischer Faktenisolierung, naturalistischer Detailtreue usw., aus der es stammt. Unter solchen Voraussetzungen muß man geradezu sagen: mehr oder weniger beliebige Texte wie ganze Abschnitte aus Liliencron, Max Dauthendeys Blütenleben51 oder Paradies (beide 1893);52 sogar Ernst Stadlers berühmte Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht - oder zahllose weitere - lesen sich anders, liest man sie auf ihr Textverfahren hin. Marhold hat gut beschrieben, warum das Prosagedicht Blütenleben von Max Dauthendey, wie er sagt, »uneingeschränkt impressionistisch« ist: »Die Bewegung der Blätter und Blüten eines Baumes und der Insekten auf dem Stamm wird bildhaft in zahlreichen Nuancen wahrgenommen. Präpositionen sind dementsprechend, als lokalisierende Partikel, häufig; Konjunktionen, die gewöhnlich gedankliche Verbindungen stiften, in logische Beziehung setzen, fehlen.« 53 Uneingeschränkt impressionistisch oder nicht: das Problem stellt sich zwar für einen Zusammenhang nicht, dem es um die Frage nach dem Verfahren geht, auch wenn - gewissermaßen im Vorfeld - mit dergleichen Begriffen und Bezeichnungen notgedrungen hantiert werden muß. Wohl aber läßt sich konstatieren, daß genau der hier beschriebene Tatbestand auf eben das Verfahren anwendbar ist und zutrifft, an dessen Ende die Verselbständigung der Lexeme steht. - Ernst Stadlers Text Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht54 von 1913 mag man wegen seiner Lichter und Facetten als quasi-impressionistisch oder wegen seiner inneren Bewegung und der >großen Worte< eher als expressionistisch bestimmt auffassen: jenseits solcher epochenspezifischer Zuordnungsfragen ist beiden Schreibweisen das Verfahren gemeinsam, das die Sätze parzelliert, die Worte isoliert und den so gewonnenen Partikeln zur Autonomie verhilft. Was man gemeinhin als Impressionismus zu bezeichnen pflegt, ist so etwas wie der Schaltpunkt, an dem das im Naturalismus ausgebildete Verfahren, das hier gemeint ist, endgültig in die Selbständigkeit seiner Modernität entlassen wird. Was davon dann in Expressionismus oder Dadaismus weiterwirkt, ist nicht Impressionismus oder gar Naturalismus, sondern das diesen gemeinsame Verfahren, das die Lexeme autonom sein und die Literatur nur so überleben läßt. Diesen Schaltpunkt genauer zu bestimmen, ist Detlev von Liliencron besonders geeignet.

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Hartmut Marhold (Hg.), Gedichte und Prosa des Impressionismus, S. 182. - Zuerst in: Max Dauthendey, Ultra Violett. Einsame Poesien, Berlin 1893. Jürg Mathes (Hg.), Prosa des Jugendstils, S. 7ff. - Zuerst in: Ultra Violett, I.e. Hartmut Marhold (Hg.), Gedichte und Prosa des Impressionismus, S. 240. Die Aktion, Jg. 1913, Nr. 17 (23. April), Sp. 451.

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Detlev von Liliencron Innerhalb der deutschsprachigen Literatur bietet tatsächlich der heute kaum noch beachtete, seinerzeit aber überaus erfolgreiche und vielgelesene 55 Liliencron (1844-1909) wichtige Belegstellen für das Verfahren, um das es hier geht; genauer gesagt: Belege für dessen sukzessive Herausbildung am Ende des 19. Jahrhunderts. Und es lohnt sich, dem nachzugehen. Etwas verdeckt zunächst noch durch die Bezeichnung >ImpressionismusDie Musik kommtKatalog< ist eine Auflistung von insgesamt 73 Autoren bzw. Titeln, die der Notizbuchschreiber auf Bitten eines Freundes zusammenstellt, dem er »die besten Bücher aller Zeiten und Literaturen nennen« soll. 66 Was darauf folgt, ist eine Zusammenstellung von Schriftstellern aus Frankreich, England, Italien, Spanien, Dänemark, Skandinavien (sie!), Rußland. Jeder Rubrik sind bis zu zehn Titeln zugeordnet. Allem voran geht eine Liste mit über 30 deutschsprachigen Autoren, zu denen großzügig die Bibel, Homer und bestimmte römische Autoren genauso gezählt werden wie (ζ. T. mit kommentierenden Zusätzen) Goethe,67 Jean Paul und Kleist,68 Bismarcks Briefe, Theodor Storm und die 64

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Detlev v. Liliencron, Werke 5, S. 221. - Mag der Hinweis auf die »Farbenpracht« dieses alten Textes auch mehr oder weniger figürlich gemeint sein; er bezieht sich wohl faktisch im wesentlichen auf die wiedergegebenen Verse 6 und 7 des Buches Esther; die aber stellen, was die Farbnennungen angeht, einen Katalog dar: »Da hingen weiße, rote und gelbe [Luther: blaue!] Tücher, mit leinenen und scharlachenen Seilen gefasset, in silbernen Ringen auf Marmorsäulen. Die Bänke waren golden und silbern, auf Pflaster von grünen, weißen, gelben und schwarzen Marmeln gemacht [Luther: von grünem, weißem, gelbem und schwarzem Marmor], Und das Getränke trug man in goldenen Gefäßen, und immer anderen und anderen Gefäßen und königlichen Wein die Menge, wie denn der König vermochte.« (S. 221. Hervorhebungen nicht im Original). Detlev v. Liliencron, Werke 5, S. 242f. Hervorhebungen nicht im Original. Detlev v. Liliencron, Werke 5, S. 288ff. »Aber sie dürfte nicht vollzählig sein: es wird dies oder jenes Buch zu leicht vergessen. [...]«. »alles, mit Ausnahme von >Hermann und Dorotheaimpressionistische< in irgendeinem strikteren Sinne des Begriffs handelt. Um so nachdenklicher stimmt gerade die Tatsache, daß sie von einem Autor stammen, der mit Recht immer wieder dem Impressionismus zugerechnet worden ist. Das Fazit kann eigentlich nur heißen, daß die oben konstatierte Isoliertheit der Textteile mit dem Impressionismus sehr wohl zu tun hat. Und die sich daran anschließende These lautet, daß die Verselbständigung der Lexeme, die in den vorangehenden Darlegungen für den Naturalismus

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»beide mit hunderttausend Ausrufungszeichen«, Detlev v. Liliencron, Werke 5, S. 289 usw. Vgl. bes. Joris-Karl Huysmans, Α Rebours, Kapitel III und XII. - Auch bei Huysmans stehen Kataloge neben theoretischen Erörterungen (ζ. B. über Baudelaire, Mallarme und das Prosagedicht); am Ende von Kapitel XIV. Detlev v. Liliencron, Werke 5, S. 301ff. Zur Differenzierung dieses Komplexes vgl. bes. Rüdiger Görner, Das Tagebuch. Eine Einführung, MünchenyZürich 1986, der in einem eigenen Kapitel das »Tagebuch als Collage« (zu Gerhart Hauptmann, Frisch, Brecht und Grass) abhandelt. Vgl. auch Gustav Ren6 Hocke, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie, Wiesbaden/München 1986 (zuerst u.d.T. Das europäische Tagebuch, Stuttgart 1963); Peter Boerner, Tagebuch, Stuttgart 1969.

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genauso festgestellt werden konnte wie für die Decadence (und sich für noch weitere >Epochen< zeigen ließe), das übergeordnete Verfahren ist. Es ist gerade nicht an bestimmte Ausprägungen bestimmter sogenannter literarischer Epochen gebunden, sondern bestimmt sie alle gleichermaßen und generell. Richard von Schaukais Interieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen (1901)73 sind ein weiteres Beispiel für die Heterogenität von Texten in der Zwischenmoderne. Diese - in lockerer Folge, kaum irgendwie angeordnet Beobachtungen, Skizzen, Überlegungen und Impressionen (die an Altenberg erinnern), kleinen Erzählungen oder Tagebucheintragungen mit zahllosen Lektürenotizen praktizieren dasselbe Verfahren, das die Verselbständigung der Einzeltexte betreibt. Schaukai selbst nennt das Arno Holz (!) gewidmete Buch im Nachwort ein »Ragout«.74 Es ist lediglich dasjenige Buch Schaukals, das am deutlichsten, keineswegs als einziges75 diese Symptome zeigt. So mancher andere Autor wäre noch zu nennen: Wilhelm Bölsche mit dem Roman Die Mittagsgöttin·,16 oder Cäsar Flaischlen, den heute niemand mehr ernst nehmen wird. Allein dessen umständliche Titel wie die folgenden sind allerdings schon Indikatoren genug: Von Alltag und Sonne. Gedichte in Prosa. Rondos. Lieder und Tagebuchblätter. Mönchguter Skizzenbuch. Lebensidylle. Morgenwanderung77 oder: Jost Seyfried. Ein Roman in Briefund Tagebuchblättern. Aus dem Leben eines Jeden. Sprüche eines Steinklopfers. Sturmbruch. Lieder eines Schwertschmieds. Herzblut. Tor auf!7S Die Verselbständigung ganzer Texte korrespondiert hier derjenigen der Lexeme.

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Richard von Schaukai, Interieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen, Leipzig 1901. Auch in: Richard von Schaukai, Um die Jahrhundertwende, Hg. Lotte von Schaukai und Joachim Schondorff, München/Wien o.J., S. 31-174. 74 Schaukai, Um die Jahrhundertwende, S. 172. - Das Nachwort versucht, den Gesamttext sozusagen zu retten, indem es die Entscheidungsfrage anbietet (und zugleich verwirft), ob es sich bei diesem Ragout um ein »Kunstwerk« oder nicht doch um »>Unterhaltungslektüreich< zu liegen hätte, sondern auf >seheImpressionismus< aus dem genauen Hinsehen ab, versteht ihn explizit nicht nur als die sprachliche Umsetzung der »Netzhautbilder«, sondern als die »objektive[r], allgemeine[r] Dinge«, die »so wirklich wie irgendeine andere physiologische Erscheinung« seien.79 Friedell konstatiert damit implizit die Herkunft von Altenbergs Impressionismus aus dem Naturalismus, ganz wie das oben am Beispiel von Arno Holz geschehen ist. In dem Versuch, dem schwierigen Phänomen der Altenberg-Texte näher zu kommen, entwickelt er ein Bildensemble, das zugleich Altenbergs Verfahren und die Unzugänglichkeit und Unverständlichkeit der daraus hervorgehenden Texte berücksichtigt. Altenberg habe sich »gar keiner künstlerischen Mittel« bedient. Er habe vielmehr »gewissermaßen rein mechanisch« gearbeitet, »wie ein Morsetaster«; das Ergebnis sei Schwerverständlichkeit, ja Unverständlichkeit.80 In diesem Zusammenhang wäre besonders auf die folgenden Texte Altenbergs hinzuweisen: Speisehaus Prodromös, Ein unerfülltes Ideal (1906),81 79

Das Altenbergbuch, Hg. von Egon Friedell, Leipzig/Wien/Zürich 1921, S. 14f. - Vgl. auch Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, Bd. 3: Romantik und Liberalismus, Imperialismus und Impressionismus, München 2 8 - 3 2 j 9 5 4 1 9 3 1 ] . _ 399

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»Er arbeitete gewissermaßen rein mechanisch, gleich dem Schreibhebel eines telegraphischen Apparats, der einfach in Zeichen überträgt, was ein geheimnisvoller elektrischer Strom ihm zusendet. Dadurch kam freilich manches Sonderbare und Schwerverständliche [sie!] in seine Dichtungen. Wie ein Morsetaster: Punkt - Strich - Strich - Punkt, abgerissen, chiffriert, stenographisch, zerhackt: so schrieb er. Er folgte minutiös den Bewegungen des Lebens und machte auch alle ihre überraschenden Schwankungen und unlogischen Wendungen mit. Man konnte das alles nicht verstehen [sie!]«. Egon Friedell, Das Altenbergbuch, S. I5f. Prödrömos, Berlin 1906; zit nach Wemer J. Schweiger (Hg.), Das große Peter Altenberg Buch, Wien/Hamburg 1977, S. 287f.

[zuerst

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Leichtest-verdauliche Nahrung [...] (1906), 82 Zimmereinrichtung (1918) 83 und schließlich: Meine Ideale (1916). 84 Bezeichnend ist, daß die Formulierung »ein unerfülltes Ideal« von 1906 in dem Text von 1916 als »meine Ideale« - also: als erfüllte - zur Charakterisierung eines Katalogtextes wiederkehrt, tatsächlich wie das Endergebnis einer langen Bemühung um die Formalisierung einer >Textsorte< erscheint.85 Kennzeichnend auch für unseren Zusammenhang, daß es sich im ersten und zweiten Beispiel um Speisenkataloge handelt, wie man sie bei Huysmans beobachten kann: Leichtest-verdauliche Nahrung für moderne Kultur-Menschen: Ausschließlich weißes Fleisch: Poularde, Chapon de Styrie, ganz frische Fluß- und Seefische (vor allem Zander, Fogosch, Sole, Branzin, Schellfisch), junge Rebhuhn-Brüste, Hirn, Bries; dann ganz weichgekochter Karolinen-Reis; Spinat; ganz weiche Eidotter; Fleisch-Suppe; Extractum Puro; Beef tea jellie; Sardines Nantes, geschält natürlich; Erdapfel-Pür6e; Gervais-Käse, mit Salz; grünes Erbsen-Pür6e [...]86

Daß die Texte Altenbergs häufig, liest man sie auf ihren Inhalt hin, deutlich in den Diskurs von Reformkost und Gesundheitsreform gehören, nimmt ih-

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Prödrömös, Berlin, 1906; zit. nach Das große Peter Altenberg Buch, S. 289. Vita ipsa, Berlin 1918; zit. nach: Das große Peter Altenberg Buch, S. 116f. Nachfechsung, Berlin 1916; zit. nach: Das große Peter Altenberg Buch, S. 84f. Vgl. ζ. B. Speisehaus Prödrömös: »[...] In dem Speisesaale selbst, an der Wand ein herrlicher, einfacher, weißer Eiskasten, in dem man durch Kristallwände alles sieht. Ferner ein ebenso großer schöner Stahlkasten, mit vorne kristallenen Wänden, der von unten erwärmt, unsichtbar die lauen und warmen, bereits fertigen Speisen enthält. Ferner ein dritter Kristallkasten für die untemperierten Speisen, wie harte Eier, Salzkeks, Birnen (Alexander-Butterbirne, Isenbart, die gute Luise), Camembert, Gervais, Mondseer, Roquefort, Primsen, Gorgonzola (?).[...]« (S. 287). Demgegenüber wirkt der Text Meine Ideale von 1916 in der Tat wie eine mit den Mitteln sprachlicher Aussparung und Straffung erreichte Formalisierung: »Die Adagios in den Violinsonaten Beethovens. Die Stimme und das Lachen der Klara und der Franzi Panhans. Gesprenkelte Tulpen. Franz Schubert. Solo-Spargel, Spinat, Kipfelerdäpfel, Karolinen-Reis, Salz-Keks. Knut Hamsun. Die Intelligenz, die Seele der Paula Sch. Die blaube Schreibfeder »Kuhn 201«. Das Gewürz: Cat-sup. Mein Zimmerchen Nr. 33: Wien I, Dorotheergasse, Grabenhotel. Das Äußere der Α. M. Der Gmundener See, Wolfgang-See. Das Vöslauer Vollbad. Die Schneeberg-Bahn. Mondseer Schachtelkäse, topfig-jung. Sole, Zander, junger Hecht, Reinanken. Geld. Hansy Klausecker, dreizehn Jahre alt.« (Das große Peter Altenberg Buch, S. 84f.). Das große Peter Altenberg Buch, S. 289.

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nen nichts von ihrem Belegcharakter für das Textverfahren, dem sie gehorchen. Eine genauere Beschäftigung mit der Literatur (wenigstens der deutschsprachigen) der Folgezeit würde zeigen, daß für sie die Dinge prinzipiell nicht anders liegen.

Robert Walser Dazu gehört insbesondere noch der Hinweis auf einen Autor, der hier weniger als mancher andere fehlen darf: Robert Walser. Von den zahllosen Texten, die hier zu berücksichtigen wären, sind die folgenden vielleicht am besten dazu geeignet zu zeigen, wie es nach dem Impressionismus weitergeht, zugleich neben allen >Ismen< wie Expressionismus, Dadaismus oder Futurismus her. Zu nennen wären etwa: Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen von 1915,87 oder Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein, 1916.88 - Einen ähnlich überschriebenen Text Walsers gibt es schon aus den Jahren zuvor: Lampe, Papier und Handschuhe.89 In denselben Zusammenhang gehören schließlich auch die Rede an einen Ofen, 1915,90 und die Rede an einen Knopf, ebenfalls 1915.91 In den hier gemeinten Texten Walsers werden - das fällt als erstes auf scheinbar unwichtige Gegenstände zu Beschreibungsvorlagen, von denen man anzunehmen pflegt, daß sie schier zahllos vorhanden sind. Man könnte sagen: dem Autor stelle sich die Welt eben nicht (mehr) als Totalität dar; sie sei bereits disparat und präsentiere sich ihm folglich in Partikeln; oder: die Vielfalt der abgebildeten Welt allein schon dokumentiere ihrerseits noch einmal den selektiven Zugriff des Autors auf ihre Partikularität. Das mag nicht falsch sein. Die hier zu beobachtende Aufteilung der Gegenstände in ungezählte Unterarten geht aber noch einen Schritt weiter. So werden beispielsweise in dem kleinen Prosatext Lampe, Papier und Handschuhe die Papiersorten einzeln aufgezählt:

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Zuerst in Die Ähre, April 1915; in: Robert Walser, Träumen. Prosa aus der Bieler Zeit, 1913 - 1920, Zürich/Frankfurt 1985, S. 328-330. Zuerst Januar 1916 in der Vossischen Zeitung; in: Robert Walser, Träumen, S. 330-332. Jochen Greven hat in seiner Ausgabe solche »Sachtexte«, wie er sie nennt, geradezu unter der Überschrift »Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen« gesammelt. Er spricht von »spielerischer Wortartistik zu einem beliebigen motivlichen Vorwurf« (S. 424). - Über Walsers Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein handelt ausführlich Moritz Baßler unter der Überschrift »Rhetorischer Katlog«; in: Die Entdeckung der Textur, S. 141-148. Nicht eindeutig datierbar; in: Robert Walser, Der Spaziergang. Prosastücke und Kleine Prosa, Zürich/Frankfurt 1985, S. 154ff. Juni 1915 in Die weißen Blätter, in: Robert Walser, Poetenleben, Zürich/Frankfurt 1986, S. 106ff. Zuerst August 1915 in »Die weißen Blätter«; in: Robert Walser, Poetenleben, S. 108ff.

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Allgemein gesprochen gibt es dickes und dünnes, glattes und rauhes, grobes und feines, billiges und teueres Papier, und es ragen mit des gütigen Lesers Erlaubnis an verschiedenen Papiersorten- und Arten hervor, Schreibpapier, Glaspapier, Rostpapier, Postpapier, Packpapier, Zeichenpapier, Zeitungspapier und Seidenpapier.92

Stehen schon die drei Gegenstände des Textes: Lampe, Papier, Handschuhe völlig heterogen nebeneinander: ihre perfekte Disparatheit wird aber erst wirklich penetrant durch die nochmalige, gewissermaßen mikroskopische Verlängerung einer sich immer mehr verengenden Perspektive, die die Papiersorten en detail und völlig unproportioniert in den Blick bringt. Ähnlich übrigens wie in Raabes Odfeld, wo der alte Buchius seine Papiersorten aufzählt.93 In einem für diesen Zusammenhang aufschlußreichen und bezeichnenderweise ganz traditionell Naturstudie überschriebenen Text aus dem Jahre 1916 faßt sich die vom Erzähler beschriebene Landschaft schließlich folgendermaßen zusammen: Fröhliches Kindheitsland, lichte Eltemerde, hohe Felsen, heitere, kleine Wege, Stadt- und Bauernhäuser. Gottes und der Menschen helle Welt und reizende, anmutige Verstecke, Büsche, Gräser, Pflanzen, Apfel- und Kirschbäume, tiefsinnig-blasse Lilien, üppig-schöne Rosen im dunkelgrünen heimeligen Garten, Helligkeit des frühen Morgens, die Du mich götterhaft mit frischer Hoffnung anblitztest, dann wieder Du, geduldiger, glücklicher, wehmütig goldene Gedanken-Wellen, Lieder voll Lebenslust, Ströme voll Liebe heraufzaubernder Abend, Dein Bangen und Ahnen, Deine Schwäne auf silbem-stillem Wasser, Nächte mit Mond und Sternen, des Halbmondes Schwermutlächeln. Rötliche Wolken über abendlich bleichem See, Morgenrot, Wind, Regen und süße Mittagshitze [...].94

Hier erliegt das traditionelle Genus Landschaftsbeschreibung dem Verfahren des Katalogs.95 Den Gipfel scheinbarer Absurdität erreicht das Interesse am vereinzelten und, wie es scheint, entfremdeten Gegenstand in den beiden »Reden«: der Rede an einen Ofen und der Rede an einen Knopf. Solche Texte müssen unverständlich bleiben, solange man sie nicht aus dem Kontext einer inhaltslogischen Vorlagenverpflichtung herauslöst. Tut man das aber und bindet sie in ihrer Genese an eine positivistisch-historistische Erarbeitung von Welt, dann gewinnen sie innerhalb dieses Schemas die ihnen einzig zukommende Plausibilität. Daß sie nämlich Ausweis jenes dort erlernten und für die Welt-

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Robert Walser, Der Spaziergang, S. 155f. Wilhelm Raabe, Das Odfeld. Eine Erzählung, Fünftes Kapitel, in: W.R.: Sämtliche Werke, im Auftrage der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, hg. von Karl Hoppe, Bd. 17, bearbeitet von Karl Hoppe und Hans Oppermann, Göttingen 1966; S. 42. Zuerst u.d.T. »Naturschilderung«, in: Deutsche Monatshefte (Die Rheinlande), 16. Jg., Heft 1, Januar 1916, S. 27-31; in: Robert Walser, Seeland, Zürich/Frankfurt 1986, S. 60ff. - hier: 79f. Vgl. Kapitel II 2: Historistischer und rhetorischer Katalog.

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bewältigung als einzig richtig eingeschätzten Verfahrens sind. Ofen, Knopf, Asche, Nadel, Bleistift, Zündholz, Reisekorb, Taschenuhr, Wasser oder Kieselstein und verschiedene Papiersorten, Lampe oder Handschuh: das alles kann nur Gegenstand literarischer Bemühung werden, weil alle diese Partikeln gleich viel wert sind und sich in ihrer Dignität keinesfalls unterscheiden von dem, was an sogenannten »großen Themen« an der Tagesordnung sein könnte, sollte oder ist. »Ein jedes Ding kann der liebe Gott sein, man muß es ihm nur sagen«, dieser Satz aus Rilkes Geschichten vom lieben Gott96 steht sozusagen über allem und formuliert - den positivistischen wie den relativistischen Historismus abschließend beerbend - die bewußtseinsgeschichtliche Maxime der Zeit. Verfolgt man die weitere Entwicklung, dann stellt sich die als die unmittelbare Fortsetzung des hier Hergeleiteten dar. Ein paar Hinweise können genügen. Ganze Anthologien des Dadaismus oder der Konkreten Poesie, gar Paul Celan werden erst dann plausibel, wenn sie aus dem Zwang, hermeneutisch erfaßbar sein und etwas bedeuten zu müssen, heraustreten und sich aus dem ductus ihres Verfahrens erschließen können. Alle diese Texte produzieren auf Grund ihres >anderen Verfahrens< eine Art anderer, neuer Verständlichkeit, die mit einer semantisch vermittelten nur noch wenig zu tun hat. Sie stellen sich überdies wie von selbst neben A Rebours und La Cathedrale von Huysmans, Flauberts Salammbö, neben die Texte des späten Arno Holz, von Emerson oder Whitman. Noch das, was man gemeinhin und im weitesten Sinne unter literarischer Collage versteht - Texte von Karl Kraus oder Alfred Döblin, ja bis zu Max Frisch, Hubert Fichte, Arno Schmidt und Uwe Johnson97 - reiht sich mühelos jenem anderen Verständnis an, das mit dem Insistieren auf Semantisierung kaum zu erreichen ist. Die Texte gewinnen damit eine Art genereller Einsichtigkeit und Plausibilität, die ihre bis dahin gültige und scheinbar unabänderliche Unverständlichkeit aufzuheben im Stande ist. Aber diese Plausibilität ist nur im Rekurs auf die beschriebenen Phänomene zu gewinnen: im Rekurs auf das Verfahren, das auf der Lexemisolierung und in deren Folge der Lexemautonomie

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Rainer Maria Rilke, Wie der Fingerhut dazu kam, der liebe Gott zu sein, in: Geschichten vom lieben Gott, (zuerst 1900), in: R.M.R., Sämtliche Werke, Hg. Ernst Zinn, Bd. IV, Frankfurt 1961, S. 355. Karl Kraus, Der Hort der Republik, 1927. - Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, 1929. - Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän, 1979. - Hubert Fichte, Die Palette, 1965. - Uwe Johnson, Eine Reise nach Klagenfurt, 1974. - Der besseren Zugänglichkeit der sonst ζ. T. nur verstreut auffindbaren Texte (bzw. Auszüge) wegen hier der Hinweis auf Volker Hage (Hg.), Literarische Collagen. Texte, Quellen, Theorie, Stuttgart 1981, wo sie gesammelt sind.

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beruht. Das allerdings hebt sie weit über das hinaus, was jede spezifische Bedeutung im Sinne hermeneutischer Zugänglichkeit zu erreichen vermöchte, die - gäbe es die überhaupt noch - nach Bedeutung der Substrate fragen wollte.

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2.

Historistischer und rhetorischer Katalog

Der materiale Zusammenhang zwischen positivistischem Historismus und Schreibweisen der literarischen Moderne wird, wie die vorausgegangenen Kapitel gezeigt haben, besonders sinnfällig am Textverfahren des Kataloges.1 Ein Katalog ist die tendenziell vollständige Anordnung aller Lexeme eines gegebenen Paradigmas im Syntagma schlichter Reihung und damit wohl die einfachste Textur überhaupt. Als Liste von Begriffen, die einen gegebenen Oberbegriff nach einer vorgegebenen Ordnung vollständig explizieren, ist die einzige semantische Leistung des Kataloges das Denotat, die Aufzählung aller Elemente einer Klasse. Die sekundäre Strukturierung eines Kataloges, die Festlegung der Reihenfolge seiner Elemente, erfolgt entweder nach einer gegebenen Topographie des Gegenstandsbereiches oder aber pragmatisch (ζ. B. in alphabetischer Reihenfolge oder in der metrischen oder lautlichen Folge eines Merkverses). Die Anordnung bleibt in beiden Fällen willkürlich, weil das paradigmatische Feld aus räumlichen Nebenordnungen besteht und die Linearität der Anordung im Text dem äußerlich bleiben muß. In dieser reinen Form des Kataloges ist jedes seiner Elemente in gleicher Weise auf den Katalogbegriff bezogen. Zwischen den einzelnen Lexemen selber spielt sich semantisch nichts ab. Sie haben nichts miteinander gemeinsam als ihre Klassenzugehörigkeit, keines ist gegenüber dem anderen ausgezeichnet - in der bloßen Nebenordung unter einem Begriff sind alle gleich viel und damit natürlich auch gleich wenig wert. Mit den Eigenschaften der Vollständigkeit, des bloßen Denotats und der Egalität der Elemente ist die Katalogtextur die positivistische Schreibweise par excellence. Aus dem gleichen Grunde scheint ihre Potenz zu literarischer Semiose allerdings gegen Null zu gehen. Um so signifikanter wirkt die auffällige Prominenz des Verfahrens in der Literatur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts - bei den amerikanischen Transzendentalisten (Emerson, Whitman, Fuller), im späten Realismus (Flaubert, Vischer, Raabe) und vor allem dann in der Literatur der Jahrhundertwende (Huysmans, Holz, Wal-

Vgl. Kapitel I 3: Populäre Wissenschaftsprosa und Lexemautonomie, II 1: Naturalismus und Dicadence als Verfahren; zu diesem Kapitel die ausführliche Darstellung in: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 136-157.

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ser) und darüber hinaus. Es liegt nahe, hier ein besonders deutliches Indiz für den behaupteten Zusammenhang von Historismus und literarischer Moderne zu sehen. Die l:l-Abbildung der Welt, die zumindest als Postulat die positivistische Wissenschaft bestimmt, erfordert streng parataktische Textverfahren. Wo sie auf vollständige Aufzählung zielt (ζ. B. im anatomischen Protokoll, in taxonomischen Systemen etc.), kommen dafür eigentlich nur Katalogverfahren in Frage. Faktisch kann dabei der Textzusammenhang letztlich vollständig aufgegeben und durch Tabellen, Graphiken oder ähnliches ersetzt werden.2 Diese Möglichkeit ist im Katalogverfahren angelegt und weist den Katalog einmal mehr als einen Grenzfall von Text überhaupt aus. Erst indem die Wissenschaft auf die syntaktische Verknüpfung ihrer Befunde verzichtet, macht sie die ängstlichen Sprachregelungen der frühen Positivisten (ζ. B. Henle, Virchow) überflüssig. Deren Anliegen war eben die Vermeidung jener empirisch nicht gedeckten Bedeutungen gewesen, die sich in wissenschaftlichen Texten schon durch die bloße grammatische Verknüpfung, dann aber vor allem durch unscharfe Begriffe, metaphorische Rede etc. einzuschleichen drohten.3 Die neuen, aliterarischen Formen der wissenschaftlichen Katalogisierung sind dem Zweck des Kataloges, dem reinen Verzeichnis, daher vollständig angemessen. Die frühen Beispiele für den Katalog in der Literatur, die Geschlechterkataloge des Alten Testaments, Helden- und Schiffskataloge der antiken, Dichter- und Edelsteinkataloge der mittelalterlichen Versepik, scheinen diese Funktion des Sachverzeichnisses, vielleicht auch des Merkverses noch gehabt zu haben. Dazu mag ein gewisser performativer Effekt der amplificatio als Beitrag zu Schmuck und Gewicht der Rede getreten sein, wie sie sich auch im Barock findet. Die klassischen Vorbilder statten vermutlich auch die - selber bereits historistischen - Wiederbelebungsversuche des Versepos im 19. Jahrhundert mit einer Art Lizenz zum Katalogverfahren aus. Bis in diese Zeit bleiben Kataloge in der Literatur aber punktuelle Phänomene - zu einer signifikanten Häufung dieses Stilmittels kommt es erst im Zeitalter des Historismus.4

Vgl. Kapitel I 3: Populäre Wissenschaftsprosa und Lexemautonomie. Vgl. ζ. B. Jakob Henle, Medizinische Wissenschaft und Empirie, I.e. Den Vergleich mit den >klassischen< Katalogen hat früh schon Detlev W. Schumann durchgeführt mit folgendem Ergebnis: »Having thus touched upon various earlier occurrences of enumeration, we may dismiss them as essentially irrelevant to an understanding of that peculiar modern type that first appears in Whitman's Leaves of Grass and later abounds especially in German literature.« (D.W.S., Enumerative Style and its Significance in Whitman, Rilke, Werfel, in: Modern Language Quarterly 3/1942, S. 171204).

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Historistischer Katalog Die Einfügung eines Kataloges in einen literarischen Text kann in zweifacher Hinsicht Konsequenzen für dessen Semiose haben, erstens was die Stellung des Kataloges im Gesamtgefüge des Textes, zweitens was die Stellung der einzelnen Lexeme innerhalb des Kataloges betrifft. In eine übergreifende narrative oder argumentative Struktur ist der Katalog allein durch seinen Oberbegriff eingehängt. Für die Struktur des Romans Α Rebours, die Geschichte eines exzentrischen Dandys, ist die Information von Belang, daß Des Esseintes abseitige Dinge um sich versammelt: die Namen der einzelnen Autoren, Steine und Orchideen, deren Auflistung die Seiten des Buches füllen, sind dagegen vollkommen redundant und, wenn man so will, austauschbar. In literarischen, speziell narrativen Zusammenhängen wirkt der Katalog also als reine Amplifikation. Das zeigt sich auch an der Rezeption: der Leser, der den Katalogbegriff erfaßt hat, kann den konkreten Katalogtext überschlagen, ohne daß ihm dabei - was den Inhalt betrifft - Wesentliches entgeht.5 Literarische Texte seligieren und verknüpfen ihr Material normalerweise nach Kriterien der Relevanz und des semantischen Potentials. Der Katalog erscheint dafür herzlich ungeeignet: qua Katalogverfahren verselbständigen sich offenbar einzelne Textteile disproportional zum Gesamttext. Wenn ein einzelnes Gedicht aus dem Phantasm von Arno Holz in den späteren Fassungen ein zigfaches seiner ursprünglichen Länge einfach dadurch erhält, daß an gegebener Stelle statt eines Vogels jetzt (tendenziell) alle bekannten Vögel tirilieren und jeder einzelne von ihnen namentlich genannt wird, dann hat der Scherzname »Elephantasus« seine volle Berechtigung. Die durch das Katalogverfahren erzielte Amplifikation wirkt als textuelle Elephantiasis des - in seiner Struktur unveränderten - Ausgangsgedichtes. Diese Textwucherungen sind, von der Struktur des Ausgangstextes her gesehen, nicht nur disproportional, sondern auch disfunktional. Mit einem Satz wie »Des Esseintes schätzte antike Autoren in genau dem Maße, wie sie in Stil und Thematik vom klassischen Kanon abwichen« wäre das 3. Kapitel von Α Rebours6 für ein hermeneutisches Verständnis des Romans hinreichend paraphrasiert. Die sechzehn Seiten katalogartiger Aufzählung sol-

Ein mehrfach auch (sekundär-)literarisch belegtes Leseverhalten, so bemerkt etwa Lawrence Buell zu den Katalogen Whitmans: »It is tempting to skip over them as we read. >The pure contralto sings in the organ loftmovement< of the poem, whatever that is«. (L.B., Transcendentalist Catalogue Rhetoric: Vision versus Form, in: American Literature 40/1968, S. 325-339). Vgl. Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, übersetzt und hg. von Walter und Myriam Münz, Stuttgart 1992, S. 55-69.

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eher Autoren und ihrer Eigenschaften amplifizieren diesen Satz, mehr nicht; jede Nennung ist dadurch, aber auch nur dadurch mit dem Inhalt des Haupttextes verbunden, daß sie ein Exempel für seine Aussage darstellt. Das Ganze ist eine (umgekehrt proportional wertende) Umschrift einer römischen Literaturgeschichte, Holz hat seine Vogelwiese vermutlich aus dem Inhaltsverzeichnis eines Vogelbuches abgeschrieben7 - der positivistisch-historistische, enzyklopädische Charakter dieser Kataloge ist aber nicht nur aus solchen Quellen evident. Entscheidend ist, daß ein solches exzessiv exemplifizierendes Verfahren ursprünglich eben eine wissenschaftliche, aber keine literarische Schreibweise ist. In diskursiven Texten können solche Exempla die Wahrheit des Behaupteten belegen, in positivistischen Texten schlägt diese Exempelfunktion dann um, indem sozusagen das Etcetera wegfällt und durch die vollständige Aufzählung ersetzt wird - hier wird der Katalog vom Wahrheitsbeleg zum Denotat dieser Wahrheit selber. Im Roman ist die Wahrheit dagegen Funktion der Fiktion und somit zunächst unproblematisch - was Huysmans über Des Esseintes schreibt, ist allein dadurch schon >wahrwissenschaftlichen< Romans auf die reine Katalogform des Dictionnaire erreicht der historistische Katalog seine ultimative literarische Ausprägung. Erst in der Übernahme des Katalogverfahrens in Texten der Jahrhundertwende, die einen irgendwie wissenschaftlichen Sachbezug nicht mehr behaupten, verselbständigt sich dieses Verfahren von der ihm von Hause aus zukommenden Funktion und wird frei für neue, genuin literarische Besetzungen.

Lexemautonomie Wenn Kataloge mit der Struktur des umgebenden Textes nurmehr durch ihren Oberbegriff verbunden sind, so daß zwar dieser noch, nicht mehr aber das einzelne katalogisierte Lexem für die Semiose des Gesamttextes konstitutiv bleibt, stellt sich ein merkwürdiger Effekt ein: die einzelnen Lexeme

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Uwe Japp, Die Komik des Wissens, S. 412. »Vom Mangel an Methode in den Wissenschaften« sollte das Werk eine zeitlang im Untertitel heißen (Japp, S. 418). Vgl. Kapitel III 1: Erzählen. Gustave Flaubert, Wörterbuch der Gemeinplätze, aus dem Französischen von Monika Petzenhauser, München 1985; S. 77/78.

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des Kataloges werden in ihrer semantischen Valenz stark beschnitten. Im durch den Oberbegriff vorgegebenen Rahmen ist die spezielle Bedeutungsnuance des einzelnen Katalogelements - also ζ. B. was im Rahmen des Huysmanschen Edelsteinkataloges noch die Chrysolithen von den Olivinen und Chrysoberillen unterscheidet - für das Verständnis des Textes ohne Bedeutung. Hier gibt es nichts zu verstehen, insofern erübrigt sich auch ein Kommentar, wie er bei unbekannten Lexemen älterer Texte zu deren Verständnis hilfreich, ja notwendig war. Wenn die Bedeutung des Wortes aber nicht mehr von Bedeutung ist, bleibt übrig der Signifikant, eine Zeichen- und Klanghülse, ein fremd klingender Name. Innerhalb des Kataloges verselbständigen sich also die Lexeme von der ihnen von Hause aus zukommenden Funktion - etwas Besonderes zu bezeichnen - und werden frei für neue Besetzungen. Im Fin de siecle scheint sich diese Neubesetzung häufig darauf zu beschränken, daß ζ. B. die Edelsteinnamen eine seltene und kostbare Stimmung, einen irgendwie >tiefen< Exotismus transportieren. Schon dies ist aber nicht mehr nur eine Schwundstufe des exakt definierten Begriffes, wie ihn Enzyklopädie oder positivistisches Handbuch verzeichnen; denn einen Begriff in einem Text von seiner exakten Bedeutung soweit befreien, daß er für eine noch so vage Bedeutungsstreuung in Frage kommt, ist ja bereits eine produktive Umsetzung des Historismus. Diese Autonomisierungstendenzen deuten sich in den ihrer Herkunft und Natur nach historistischen Katalogen der Fin de siecle-Literatur erst an. Es ist immer noch möglich, die Chrysolithen in Α Rebours und die Paradiesvögel im Phantasus über eine hermeneutische Lesart mit der Struktur des Gesamttextes zu verbinden, nämlich über ihren Oberbegriff (seltene Edelsteine bzw. Vögel). Es ist zunächst die bloße Quantität dieser Kataloge, ihre enorme, jeder narrativen bzw. lyrischen Strukturerwartung zuwiderlaufende Ausdehnung, die darauf hindeutet, daß hier auch qualitativ etwas geschieht, daß sich ein bestimmtes Verfahren gegenüber seinem Text zu verselbständigen beginnt und im Grunde bereits ein anderes Lesen fordert als das an Strukturen und Inhalten ausgerichtete des traditionellen Lesers. Dieser überspringt die kataloghaften Texturen auf der Suche nach dem nächsten handlungs- und bedeutungstragenden Strukturelement » - why bother with the rest?«19 Warum sich mit dem Rest abgeben? Vielleicht weil es in der literarischen Moderne gerade dieser Rest ist, auf den es ankommt.

19

· Siehe oben Fußnote 5.

141

Rhetorischer Katalog Die beginnende Lexemautonomie im Fin de siecle-Katalog tendiert in eine ganz andere Richtung als die Kataloge bei Flaubert. Wo ein Lexem weder durch seine lexikalische Bedeutung noch durch seine Stellung im Gesamttext mehr hinreichend festgelegt ist, gibt es zwei Möglichkeiten: es kann entweder verstummen und entfallen oder aber es entwickelt eine neuartige, eigenständige Semiose. Im Fin des siecle können solche Worthülsen ζ. B. als semantisch unterbestimmte Träger von >Stimmungen< dienen.20 Die Katalogtextur kann aber auch innerhalb ihrer selbst semantische Bezüge etablieren, die gegenüber den Strukturen des Gesamttextes ihre Autonomie bewahren. Ein Beispiel für eine solche Texturpointe liefert der Katalog in Robert Walsers Prosastück Von einem Dichter (1901). Ein Dichter grübelt über das Wesen seiner Gedichte nach und kommt zu keinem Ergebnis. Dagegen beuge ich mich nun, der Schelm von Verfasser, über sein Werk und erkenne mit unendlich leichtem Sinn das Rätsel der Aufgabe. Es sind ganz einfach zwanzig Gedichte, davon ist eines einfach, eines pompös, eines zauberhaft, eines langweilig, eines rührend, eines gottvoll, eines kindlich, eines sehr schlecht, eines tierisch, eines befangen, eines unerlaubt, eines unbegreiflich, eines abstoßend, eines reizend, eines gemessen, eines großartig, eines gediegen, eines nichtswürdig, eines arm, eines unaussprechlich und eines kann nichts mehr sein, denn es sind nur zwanzig einzelne Gedichte, welche aus meinem Mund eine, wenn nicht gerade gerechte, so doch schnelle Beurteilung gefunden haben, was mich immer am wenigsten Mühe kostet.21

Bereits die Rahmenhandlung ersetzt Inhaltlichkeit durch Verfahren. Was dem »Dichter« nicht mehr gelingt, die Prädikation seiner ineffabilen Werke, kostet den »Schelm von Verfasser [...] immer am wenigsten Mühe«: er generiert einfach einen Katalog mit dem Thesaurus von Attributen aus dem Vorrat feuilletonistischer Literaturkritik. Die Elemente des so entstandenen Kataloges erfüllen keinen Oberbegriff mehr, dennoch scheint der Effekt für den strukturgewohnten Leser zunächst der gleiche wie beim historistischen Katalog: »nach zwei, drei Attributen hat man das Prinzip des Kataloges durchschaut und tendiert dazu, die folgenden Zeilen zu überspringen. Aber der texturierte Text weiß um sein Verfahren und kann es deshalb zu einer typischen Walser-Pointe nutzen: zwanzigmal war >eines< zu attributieren, der Erzähler läßt die virtuell unendliche Textur jedoch weiterlaufen bis einundzwanzig und foppt so den unaufmerksamen Leser, der auf der Suche nach dem nächsten Strukturelement die Katalogtextur übersprungen hatte.«

20 21

Vgl. Dirk Niefanger, Produktiver Historismus, S. 160-176. Robert Walser, Von einem Dichter [1901], in: R.W., Geschichten, Zürich/Frankfurt 1985, S. 7/8.

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»Im strukturierten Text bildet der historistische Katalog eine Enklave reiner Textur, im texturierten Text kann der Katalog dagegen Träger einer begrenzten Struktur, ζ. B. einer Pointe werden. Funktionalisierbar für den Gesamttext ist im ersten Falle der Begriff, im zweiten die Textur des Katalogs.« Diesen zweiten Fall kann man im Gegensatz zum >historistischen< als rhetorischen Katalog< bezeichnen. »In der Willkür seiner Abfolge betont der rhetorische Katalog den stipulativen Charakter seiner Setzungen; wo sie aus keinem Gesamtsinn mehr ableitbar scheinen, wird ihre Genese unverständlich und sie werden als apodiktische Setzungen empfunden.« 22 Mit dem Fehlen einer integrativen Struktur, der daraus resultierenden weitgehenden Autonomie der Elemente, die in Auswahl und Reihenfolge als apodiktische Setzungen erscheinen, und mit den Mikro-Pointen, die sich jetzt innerhalb dieser Textur ergeben, ist der rhetorische Katalog der paradigmatische Fall der modernen Textur. Nach diesem nebenordnenden Prinzip können Textelemente unterschiedlicher Art verknüpft werden, die durchaus größer sein können als einzelne Wörter. Viele Texte Robert Walsers realisieren das Prinzip beinahe in Reinform, schon die Titel von Asche, Nadel, Bleistift und Zündölzchen oder Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein·23 deuten darauf hin. Hier ein Beispiel aus Essern Kalbsfricandeau ist etwas Furchtbares. Boeuf ä la mode ist schrecklich. Käse zu Tee ist herrlich. Es gibt Leute, die gern Bratkartoffeln mit Käse zusammen essen. Maccaroni? Sie sind mein Leibessen. Aber sie müssen ganz mit Käseduft durchtränkt sein. Der Käse muß datriefen.[...] Pferde fressen auf eine sehr liebe Art. Mancher Mensch ißt viel weniger schön. Meine Gedanken führen mich auf echte Kieler Sprotten. Als ich zum ersten Mal Sprotten aß, befand ich mich wie im Himmel. Heute stehen sie bei mir ziemlich tief im Kurs. Roher Schinken ist immer ein gesundes Essen, gekochter ist zu schlüpfrig. Auf Süßigkeiten bin ich nicht erpicht, jedoch auf gestrichenes oder geschmiertes Brot ohne Beilage. 24

Der Text folgt im Grunde noch dem Prädikationsprinzip des Kataloges aus Von einem Dichter. Speisen werden benannt und bewertet, die Reihenfolge wird aus keiner übergeordneten Struktur ersichtlich (etwa als Menü-Folge o.ä.), auch wird hier nicht mehr, wie noch im Flaubert-Beispiel oben, öffentliches Wissen als solches kopiert. Natürlich kann man jeden einzelnen Satz referentiell lesen, aber die Folge erscheint als reine Willkür (und beliebig fortsetzbar). Bei näherem Hinsehen schreibt sich der Text ζ. B. über Assonanzen fort:

22

23 24

Alle Zitate: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 141. Vgl. dort S. 139-141 für eine ausführliche Interpretation des Walser-Textes und die Einführung der hier verwendeten Begriffe. Vgl. die Interpretation in: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 141-148. Robert Walser, Essen (I) [1911], in: R.W., Bedenkliche Geschichten, Zürich/Frankfurt 1985, S. 110-112.

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[...] gekochter ist zu schlüpfrig. Auf Süßigkeiten bin ich nicht erpicht, jedoch auf gestrichenes [...]

Der inhaltlich völlig unmotivierte Übergang von Schinken auf Süßigkeiten auf Brot wird so auf Texturebene plausibel.25 Eine andere, von Satzbau und Lautlichkeit nurmehr unterstütze Pointe ergibt sich zu Beginn aus dem Kontrast vom frankophonen Vokabular gehobener Speisekarten zu sehr schlichten Bezeichnungen: Kalbsfricandeau, Boeuf ä la mode, Käse zu Tee - man ahnt, daß das Furchtbare und Schreckliche der beiden ersteren nicht zum wenigsten ihre Signifikanten betrifft. Dann bestimmt eine Weile der Käse die Satz- und Themenfolge. Die Pointen können durchaus auch über inhaltliche Korrespondenzen erfolgen, so der Übergang vom wenig schönen Eßverhalten zu den Kieler Sprotten (man sieht es vor sich...); auch solche inhaltlichen Pointen bleiben jedoch stets begrenzt, Effekte der Textur. Deutscher Meister des rhetorischen Kataloges ist wohl Gottfried Benn. Die Textur nicht nur seiner im engeren Sinne literarischen Prosa, ζ. B. der Rönne-Novellen, auch die seiner essayistischen und poetologischen Schriften und sogar der Lyrik zehrt wesentlich von Effekten dieses Textverfahrens.26 Besonders in den Vorkriegsessays ist die Herkunft der Technik aus dem positivistischen Historismus dabei noch gut erkennbar, man kann beliebig eine Stelle herausgreifen: [Die menschliche Persönlichkeit] machte die ummodellierenden und neuschattierenden Evolutionen der Tiergeschlechter mit, einmal nähert sie sich den Beuteltieren, einmal den Säugern. Sie beugt sich den jedem erdgeschichtlichen Zeitalter zugehörigen spezifischen Tiersignaturen: sie trägt Schwimmhäute im Zeitalter der siegreich herrschenden Amphibien, Fell zur Zeit der Affensignatur. Sie verzeichnet alle diese Wendungen: geistig im Gedächtnis der Menschheit, den Urmythen, Ursagen, Urepen und der Körper summiert sie in seinen Rudimenten: alle diese Arten von Halbmenschen und Tiermenschen, die Arten mit Schuppen und Fischkörpem, die Arten mit Schwänzen, mit Affenfellen, die Riesen, die Chimären.27

Hier wird durchaus noch mit wissenschaftlich-referentiellem Anspruch argumentiert, der erste Satz deutet es an. Aber die raffende Darstellung, hier der evolutionären Entwicklung, gespeist aus dem Wissen unzähliger wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Darstellungen, ergibt eine Textur, deren eigene Effekte sich gegenüber dem Sachgehalt immer wieder verselbständigen. Die Proliferation der verfügbaren Fakten wird durch konse25

26 27

In späteren Texten können solche Verbindungen dann thematisch auch weiter ausgreifen: »Gestern aß ich Speck mit Bohnen und dachte dabei an die Zukunft der Nationen« (Robert Walser, Minotauros [1926/27], in: R.W., Es war einmal, Zürich/Frankfurt 1986, S. 191-193). Vgl. Kapitel II 5: Die Textur der modernen Lyrik. Gottfried Benn, Der Aufbau der Persönlichkeit [1930], in: G.B., Gesammelte Werke in vier Bänden, Hg. Dieter Wellershoff, Wiesbaden/München 1978 [zit. als Werke]; Bd. 1, S. 90-106.

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quente Mehrfachnennungen betont; sie macht eine Auswahl natürlich unerläßlich, aber warum gerade Beutel- und Säugetiere gegenübergestellt werden - die biologisch ja kein Oppositionspaar bilden - oder warum aus der Entwicklungskette nur Amphibien und Affen genannt sind, bleibt willkürlich. Die Verdreifachung der >Ur-worte< ist schließlich ein rein rhetorischer Effekt, Vokalismus stellt sich ein (»URmythe, URsagen, URepen Und der Körper SUmmiert sie in seinen RUdimenten«), und wo am Ende »die Riesen, die Chimären« herkommen, bleibt zumindest zweifelhaft. Chimärisch, d. h. eine Zusammenstellung von heterogenen Lexemen und Verfahren, ist vor allem der Text selbst, und man ist fast versucht, den darauffolgenden Satz poetologisch zu lesen: »In gar keiner Weise übersehen wir das Prinzip, das diese Entwicklung leitet und treibt.« Das Genieproblem, ein Essay von 1930, liefert einen seitenlangen Katalog von Genies, geordnet nach ihren Krankheiten und Süchten. Er beginnt als wohlstrukturierter historistischer Katalog, Oberbegriffe jeweils im Text hervorgehoben: »Es litten an ausgesprochener klinischer Schizophrenie: Tasso, Newton, Lenz, Hölderlin, Swedenborg, Panizza, van Gogh, Gogol, Strindberg, latent schizophren waren [...]. An Paranoia: [... ].« usw. - jeweils mit Beispielen genannt werden Melancholie, Vergiftungsideen, hysterische Anfälle, Paralyse, arteriosklerotische Verblödung, Selbstmord - dann weiter: Es hatten Triebvarianten in homoerotischer Richtung: vierzig. Es waren ihr Leben lang asexuell: Kant, Spinoza, Newton, Menzel (die berühmte Stelle aus seinem Testament: »es fehlt an jedem selbstgeschaffenen Klebestoff zwischen mir und der Außenwelt«). Es tranken [...],

woraufhin die Drogensüchtigen aufgezählt werden, darunter allein 38 Alkoholiker mit Namen (wo bei den 40 Homosexuellen noch die bloße Zahl gereicht hatte, die allerdings ein Hinweis auf die Vollständigkeitsintention des Kataloges ist). Die in Parenthese angedeutete Anekdote zu Menzel zeigt aber, daß auch dieser Faktenkatalog sich in seinem Sachbezug (Beleg der These vom kranken Genie) nicht genügt und Mikroeffekte anstrebt. Er läuft eine Seite später aus in eine Passage, die zwar verallgemeinert, dabei aber dennoch weiter Einzelheiten asyndetisch aneinanderfügt. Hier verselbständigt sich die Katalogtextur, ohne weiter belegende Funktion zu haben (schließlich fehlen die Namen) - offenbar gelten alle Details gleichviel: Mozart hatte verkrüppelte atavistische Ohren, Scarron war ein Krüppel ohne Beine, Toulouse-Lautrec von Kindheit an gelähmt, Verlaine hatte Henkelohren, der einen Wasserkopf, jener eine prognathen kriminellen Oberkiefer, der eine tierische fliehende Stirn, der idiotische Kinder - , das Produktive, wo immer man es berührt, eine Masse durchsetzt von Stigmatisierungen, Rausch, Halbschlaf, Paroxysmen; ein Hin und Her von Triebvarianten, Anomalien, Fetischismen, Impotenzen [,..]28

28

Gottfried Benn, Das Genieproblem [1930], in: G.B., Werke Bd. 1, S. 107-122; alle Zitate S. 113/114.

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Auch die Schlußfolgerung aus diesem Katalog, von der man «achliche Diskursivität erwarten könnte, gefallt sich, wie man sieht, in Pluralbildungen, die alle Einzelfakten entwerten, dazu in Lexemen, die direkt in die Poetologie und Poesie Benns hineinlaufen (»Rausch, Halbschlaf, Paroxysmen«). Im direkten Umgang mit dem proliferaten historistischen Faktenmaterial erprobt Benn hier die Textverfahren, die seinen literarischen Werken die Prägung geben. Es sind Verfahren, die die rhetorischen Möglichkeiten der Katalogtextur im engeren und weiteren Sinne literarisch fruchtbar machen. 29 Bei seiner Amplifikation der einfachen Dubliner-Geschichte zum Ulysses hat auch James Joyce die diversen rhetorischen Möglichkeiten des Katalogverfahrens entdeckt und vielfältig erprobt, ζ. B. im Qyc/o/w-Kapitel: Von seinem Gürtel hing eine Kette aus Kieseln, welche bei jeder Bewegung seiner unheilkündenden Gestalt zusammenschlugen, und es waren eingegraben auf ihnen mit roher, doch überraschender Kunst die Stammeszeichen vieler irischer Helden und Heldinnen des Altertums, Cuchulin, Conn von hundert Schlachten, Niall von den neun Geiseln, Brian von Kincora, Der Ardri Malachi, Art MachMurragh, Shane O'Neill, Pater John Murphy, Owen Roe, Patrick Sarsfield, Red Hugh O'Donnell, Red Jim MacDermott, Soggarth Eoghan O'Growney, Michael Dwyer, Francy Higgins, Henry Joy M'Cracken, Goliath, Horace Wheatley, Thomas Conneff, Peg Woffington, Der Dorf-Schmied, Captain Moonlight, Captain Boycott, Dante Alighieri, Christoph Columbus, St. Fursa, St. Brendan, Marschall MacMahon, Karl der Große, Theobald Wolfe Tone, Die Mutter der Makkabäer, Der Letzte Mohikaner, Die Rose von Kastilien, Der Mann für Galway, Der Mann, der die Bank von Monte Carlo sprengte, Der Mann in der Bresche, Die Frau, die es nicht tat, Benjamin Franklin, Napoleon Bonaparte, John L. Sullivan, Cleopatra, Savourneen Deelish, Julius Caesar, Paracelsus, Sir Thomas Lipton, Wilhelm Teil, Michelangelo, Hayes, Mohammed, Die Braut von Lammermoor, Peter der Einsiedler, Peter der Packer, Dunkel Rosaleen, Patrick W. Shakespeare, Brian Confuzius, Murtagh Gutenberg, Patricio Velasquez, Kapitän Nemo, Tristan und Isolde, Der erste Prince of Wales, Thomas Cook und Sohn, Der Junge Tapfere Soldat, Arrah na Pogue, Dick Turpin, Ludwig Beethoven, Die Colleen Bawn, Waddler Healy, Angus der Kuldeer, Dolly Mount, Sidney Parade, Ben Howth, Valentine Greatrakes, Adam und Eva, Arthur Wellesley, Boss Croker, Herodot, Jack der Riesentöter, Gautama Buddha, Lady Godiva, Die Lilie von Killarney, Balor mit dem Bösen Blick, Die Königin von Saba, Acky Nagle, Joe Nagle, Alessandro Völta, Jeremiah O'Donovan Rossa, Don Philip O'Sullivan Beare.30

Der Oberbegriff >irische Helden und Heldinnen des Altertums< ist zunächst gegeben, wird aber schon bald ad absurdum geführt: den Ardri Malachi erkennt der Leser als Buck Mulligan, eine Figur aus der Gegenwart des Ro-

29

30

Vgl. dazu en detail Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 150-157, mit zahlreichen Beispielen. James Joyce, Ulysses, Übersetzt von Hans Wollschläger, Frankfurt 1979; S. 410/411. »From his girdle hung a row of seastones which jangled at every movement of his portentous frame and on these were graven with rude yet striking art the tribal images of many Irish heroes and heroines of antiquity [...].« (Ulysses. The Corrected Text. Student's Edition, Hg. Hans Walter Gabler, Harmondsworth 1986; S. 244).

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mans, als »stattlich und feist« von der ersten Zeile an bekannt. Der Oberbegriff ist funktional kein solcher - neben der Anordung bleibt vor allem das Prinzip der Auswahl (warum diese? warum nicht mehr oder weniger?) völlig unklar er trägt jedoch zum rhetorischen Potential des folgenden bei, indem er, auf jeden der Katalogbegriffe angewandt, für zusätzliche semantische Spannung, zusätzliche Pointen sorgt. Jeden der Namen, die da in apodiktisch gesetzter Reihe folgen, befragt man zunächst unwillkürlich darauf, ob, inwiefern und für wen es sich hier um einen Helden handeln könnte. In Unterstützung dieses Effektes bewirkt der Oberbegriff sogar Eingriffe in die katalogisierten Namen, so wenn berühmte Nicht-Iren irische Vornamen bekommen (»Patrick W. Shakespeare, Brian Confuzius«). In der heterogenen Reihe isoliert der Leser darüber hinaus Mikro-Gruppen (»Captain Moonlight, Captain Boycott«), deren formale Ähnlichkeit zugleich den zeugmatischen Effekt ihrer Aufeinanderfolge verstärkt. Dieser ist natürlich ohnehin für einen Gutteil des Vergnügens zuständig, das man beim Lesen dieses Kataloges hat - sofern man nicht auf Handlung liest, den Katalog überspringt und sich dabei um dasselbe bringt. Über die katalogimmanenten semantischen Mikro-Effekte hinaus steht der Katalog auch in vielfältiger Beziehung zum Textganzen. Zunächst ist es natürlich kein Zufall, daß gerade das Zyklopen-Kapitel mit so vielen >Gargantuanismen< aufwartet. Nicht nur erweist sich die hier beschriebene Figur später als >einäugiger< Zyklop (wenngleich im übertragenen Sinne), die Amplifikation macht den Katalog selbst zum textuellen »Goliath«, der darüber hinaus als erster erkennbarer Nicht-Ire aufgenommen ist. Weiterhin ist die Stelle krönender Teil einer in die >realistische< Bar-Szene eingeschobenen Parodie historistischer Heldenepik,31 die ihre Pointe im Übergang zur >Normalsprache< des Kapitels bekommt (»Bringt Terry also jedenfalls drei Pinten auf Joes Rechnung«), Damit ist ein Bezug zu Epen wie ζ. B. den walisischen Mabinoggion möglich, wo sich durchaus bereits Beispiele für Kataloge mit einer gewissen Tendenz zur Verselbständigung finden lassen. Darüber hinaus aber verdichtet sich in diesem Katalog auch ganz einfach ein Teil des unerschöpflichen Thesaurus des Ulysses. Die meisten Namen kommen in der einen oder anderen Form noch öfter im Text vor; was hier in absurder Fügung nebeneinander zu stehen kommt, überzieht als Isotopiennetz den gesamten Roman, wodurch vielfältige semantische und formale Bezüge

31

Lesbar wäre der Katalog auch als eine Parodie auf Kataloge des 19. Jahrhunderts, die in diskursiver Absicht mit ähnlich heterogenen Listen aufwarten, ohne das Komische dieses Verfahrens bereits zu empfinden oder gar zu instrumentalisieren, ζ. B. die Kataloge großer Frauen in den Schriften Margaret Füllers. Vgl. dazu Stephan Dietrich, >Tracing the LineageRabe< und >Tür< durchdrungen. Auch in Musils Vereinigungen läßt sich eine geringe Zahl von Wortfeldern isolieren (ζ. B. Tiere, Klänge, Kreisfiguren), die in immer neuen Kombinationen die Textur konstituieren. Der Ulysses weist, als eine Art Enzyklopädie moderner Textverfahren, neben den genannten noch unzählige andere Varianten des rhetorischen Kataloges auf. Im obigen Beispiel mag man neben so vielen Kapitänen den Titelhelden vermißt haben, dazu vielleicht auch dessen morgenländisches Pendant. Letzteres bekommt wenigstens in Ithaca, dem ebenfalls katalogträchtigen Frage-und-Antwort-Kapitel, letzter Auftritt des auktorialen Erzählers vor dem personalen Schlußmonolog, noch seinen höchsteigenen Katalog. Bloom-Ulysses ist endlich im Bett. »He rests. He has travelled.« With? Sinbad the Sailor and Tinbad the Taylor and Jinbad the Jailer and Whinbad the Whaler and Ninbad the Nailer and Finbad the Failer and Binbad the Bailer and Pinbad the Pailer and Minbad the Mailer and Hinbad the Hailer and Rinbad the Railer and Dinbad the Kailer and Vinbad the Quailer and Linbad the Yailer and Xinbad the Phthailer.32

Hier wird das Katalogverfahren zur seriellen Textur. Deren Verfahrensregeln sind zwar leicht erkennbar (Polysyndeton und Variation der Anfangslaute), dennoch bleibt die konkrete Ausprägung (in Anordung und Auswahl) als apodiktische Setzung auch vom beschreibbaren Textverfahren aus nicht rationalisierbar. Der rhetorische Katalog ist nicht nur das basale Paradigma für die Verfahren texturierter Literatur in der klassischen Moderne. In vielfältigen Formen bereichert das Verfahren auch im engeren Sinne die Avantgardetechniken des 20. Jahrhunderts, prominent ζ. B. im Dadaismus, in den MontageTexturen der 20er Jahre, im Surrealismus und weit darüber hinaus, bis in die Popmusik-Texte der Beat-Ära -

32

James Joyce, Ulysses, S. 606/607. Spätestens hier wird die Übersetzung zur Nachdichtung: »Er ruht. Er ist gereist. Mit? Sindbad dem Seefahrer und Tindbad dem Teefahrer und Findbad dem Feefahrer und Rindbad dem Rehfahrer und Windbad dem Wehfahrer und Klindbad dem Kleefahrer und Flindbad dem Flehfahrer und Drindbad dem Drehfahrer und Schnindbad dem Schneefahrer und Grindbad dem Gehfahrer und Stindbad dem Stehfahrer und Zindbad dem Zehfahrer und Xindbad dem Ehfahrer und Yindbad dem Sehfahrer und Blindbad dem Phthefahrer.« (James Joyce, Ulysses, Wollschläger, S. 938).

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Like a rolling stone Like a rolling stone Like the FBI and the CIA And the BBC... BB King, And Doris Day. Matt Busby. Dig it, dig it, dig it [,..]-33

— und der Neuen Deutschen Welle (»Pfirsich, Kirsche, Bürste, Gurke, Harke.«34). Die außerordentliche Karriere dieses Verfahrens, verstanden als literarische Folgeerscheinung historistischer Katalogtextur, ist Illustration und Beleg der Hauptthese unseres Buches.

33 34

The Beatles, Dig it, auf: Let it be (1970). Palais Schaumburg, Madonna, auf: Palais Schaumburg (1981).

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3.

Dekorative Texturen

Wenige Jahre nach seiner großen Monographie zur inhaltlichen bzw. motivischen Bestimmung der decadence hat Erwin Koppen auf die sprachliche Seite dieser Literatur aufmerksam gemacht. Die Modifikation seiner Behauptung, eine »poetica del decadentismo« sei ein »Unding«1, fand in der Forschungsdiskussion allerdings wenig Beachtung. Erst im Vorfeld der hier vorgestellten Diskussion über den Zusammenhang von Historismus und literarischer Moderne wurde wieder auf Möglichkeiten der Beschreibung dekadenter Textverfahren hingewiesen.2 Koppens Weg zur >dekadenten Sprache< führt allerdings durch die Hintertür. Der Blick auf einschlägige Parodien 3 offenbart für ihn das verborgene Zentrum literarischer decadence: »Es ist nun bemerkenswert, daß sich die in der parodistischen Karikatur äußernde Kritik nur in zweiter Linie gegen dekadente Motive und Inhalte richtete, vor allem aber gegen eine bestimmte Art der poetischen Sprache und der lyrischen Technik.«4 Koppens interessanter Versuch, dekadente Textverfahren über ihre Parodien zu erfassen, fruchtet durchaus; in ihnen entdeckt er einen »onomatopoetischein] Singsang, die Technik der Evokation und der Nuancierung«, schließlich auch lächerlich gemachte »Synästhesien.« Verweist bei diesen Verfahren Koppens Nomenklatur noch auf ein zumindest implizit mimetisches Verständnis der Parodien, scheint die Beschreibung anderer sprachlicher Verfahren bereits auf jene Texte übertragbar, die im Kontext des technischen Historismus entstehen: »Nicht zuletzt aber karikieren fast alle Gedichte eine besondere Art von lyrischer Sprache, die zumindest in der Parodie als ein Irrgarten von bizarren Neologismen, unzusammenhängenden oder schlicht sinnlosen Wortfolgen, von wahllos gestreuten Farb-

2

3 4

Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus, S. 66; dazu: Gotthart Wunberg, Historismus, Lexemautonomie und Fin de siecle, S. 43f. Zuerst: Gotthart Wunberg, Historismus, Lexemautonomie und Fin de Siöcle; vgl. hierzu auch Kapitel II 1: Naturalismus und Dicadence als Verfahren. Vgl. Kapitel II 6: Spieltexte und Spieltexturen. Erwin Koppen, D6cadence und Symbolismus in der französischen und italienischen Literatur, in: Helmut Kreuzer et al. (Hg.), Jahrhundertende, Jahrhundertwende, I. Teil, Wiesbaden 1976, S. 81 (Abschnitt: »>Dekadente< Lyrik - >dekadente< Sprache«).

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adjektiven, von Wörtern, die nur >des Reimes wegen< legitimiert wären, erscheint."5 Koppens Abkehr von einer vornehmlich motivisch orientierten Bestimmung der Dekadenz zieht mit Recht jene Gattung als Paradigma heran, die seit jeher als besonders interessiert an sprachlichen Experimenten und u. a. deshalb auch als mehr oder weniger unverständlich gilt: die Lyrik6, hier insbesondere die französische des ausgehenden 19. Jahrhunderts, also Baudelaire, Verlaine und Mallarme. Als sein Kronzeuge des neuen - am Verfahren interessierten - Verständnisses von Literatur gilt Koppen die >fiktive< Kultfigur der Dekadenz, Des Esseintes aus Huysmans Roman Α Rebours·, hatte dieser doch in der Lyrik des Fin de siecle jene fast legendäre Hinwendung zu den »depravations les plus outrees de la langue«7 gefunden; Mallarme sei der größte Dichter dieser Literatur. Bei ihm offenbare sich jene »agonie de la vieille langue«, die, jedenfalls so wie sie Des Esseintes versteht, symptomatisch für eine vom Textverfahren her begriffene Dekadenz ist. Wie Nietzsche im Fall Wagner nimmt auch er den Verfall der Sprache in dekadenter Literatur wahr und entdeckt schließlich eine Wesensverwandtschaft ihrer Dichtungen zu »les mysterieux conceps et les enigmatiques expressions«8 mystisch verschlüsselter, religiöser Texte. Diese Assoziation führt ihn schließlich dazu, nach einem gelehrten »glossaire« zu rufen, das allerdings nicht die Aufgabe hat, die dekadenten Unverständlichkeiten zu erkären, sondern - ganz im Sinne historistischer Wissenschaftlichkeit - deren »dernieres balbuties, les derniers spasmes, les derniers eclats«9 genau aufzuzeichnen. Die Beschäftigung mit der Lyrik der decadence mündet also im Nachdenken über ein positivistisches Verzeichnis, in dem ihre rätselhaften Lexeme ähnlich wie in den Glossaren des barocken Polyhistors Du Cange gleichwertig eingetragen werden. Konsequent rückt so die materielle Seite der Texte in den Vordergrund, während die fiktionalen Welten der decadence aus dem Blickfeld geraten. Mit dieser >Wende< endet das Kapitel, kein weiteres Wort zur modernen Literatur folgt mehr. Diese Engführung historistisch geprägter Lexemsegmentierung und avantgardistischer Lyrik mag an sich schon für den hier diskutierten Zusammenhang erwähnenswert genug sein; ein besonderes Augenmerk verdienen 5 6

7

8

9

Erwin Koppen, Decadence und Symbolismus, S. 81. Vgl. Kapitel II 6: Spieltexte und Spieltexturen, sowie II 5: Textur der modernen Lyrik; außerdem: Gotthart Wunberg, Hermetik-Änigmatik-Aphasie. Zur Lyrik der Moderne, in: Fs. Victor Zmegaö zum 60. Geburtstag, Hg. D. Borchmeyer, Tübingen 1989, S. 241-249. Joris-Karl Huysmans, Α Rebours, hg. v. Marc Fumaroli, 2. rev. Aufl. Paris 1977, S. 302 (»auf die Spitze getriebenen Verderbtheiten der Sprache«). Joris-Karl Huysmans, Α Rebours, S. 321 (»den mysteriösen Konzepten und rätselhaften Ausdrücken«). Joris-Karl Huysmans, Α Rebours, S. 322 (»letztes Stammeln, letzte Spasmen, letzte Splitter«),

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die Lektüre-Beschreibungen in Α Rebours indes auch, weil Des Esseintes noch auf ein anderes zentrales Moment der zeitgenössischen Rezeption solcher Texte aufmerksam macht, das damit unmittelbar zusammenzuhängen scheint. Das Interesse gilt auch - und ganz besonders - der buchtechnischen Ausstattung. Seine nur neunseitige, nach seinen eigenen Wünschen hergestellte Anthologie von Mallarme-Gedichten verrät schon durch ihr Äußeres den Charakter ihres Inhalts und die Art und Weise der beabsichtigten Lektüre: Des Esseintes [...] überflog einige Seiten, die in das Leder eines Wildesels gebunden, unter einer hydraulischen Presse satiniert, mit aquarellierten Silberwölkchen verziert und mit alten Vorsatzpapieren versehen waren, deren verblaßte Rankenmuster etwas von der Anmut welker Dinge hatten, die Mallarme in einem so köstlichen Gedicht besingt. Die Seiten [...] waren auf Pergament gedruckt, und mit dem Titel >Einige Verse von Mallarme< versehen, der von einem hervorragenden Kalligraphen in farbigen, erhabenen Unzialbuchstaben gezeichnet und wie in den alten Manuskripten mit Goldpunkten gestaltet worden war. 10

Die Vorliebe für eine präzis erdachte Ausstattung hängt mit dem Bewußtsein von der Änigmatik der Lyrik zusammen. Die Lektüre der Gedichte Mallarmes zielt ja keineswegs auf Verständnis; die Freude an den Geheimnissen der formvollendeten Sprache, an der »langue adhesive, solitaire et secrete, pleine de retractions des phrases, de tournures elliptiques, d'audacieux tropes«11 verrät sein eigentliches Interesse: es gilt dem Textverfahren. Nur folgerichtig ist, daß die Vorliebe für die Rätselhaftigkeit der Lyrik nicht mit einer Entschlüsselungs-Intention verbunden wird12, sondern primär aus einer Freude an der Sprache des Unverständlichen resultiert. Die sprachliche findet ihr Pendant in der buchtechnischen Präsentation. Eine >kunstgewerbliche< Lektüre13 bringt beide Seiten zusammen: Die Rezeptions Verlagerung von einer inhaltlichen Lesart zu einer an der Anordnung und Verknüp-

10

11 12

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Joris-Karl Huysmans, Α Rebours, S. 315 (Übers, im Text D.N.): »Des Esseintes [...] parcourut quelques feuilles reliees en peau d'onagre, prialablement satinöe ä la presse hydrauliques, pommelie ä l'aquarelle de nudes d'argent et nantie de gardes de vieux lampas, dont les ramages un peu 6teints, avaient cette gräce des choses fanies que Mallarme c61£bra dans un si dilicieux poeme. (/] Ces pages [...] tiris sur parchemin, et pec£des de ce titre: Quelques vers de Mallarme, dessini par un surprenant calligraphe, en lettres onciales, colorizes, relevdes, comme Celles des vieux manuscrits de points d'or.« Joris-Karl Huysmans, Α Rebours, S. 316f. Anders ist dies bei klassischen Rätselgedichten ä la Friedrich Schaefer, vgl. Kapitel II 6: Spieltexte und Spieltexturen. Zum Verhältnis von Kunstgewerbe und Literatur um 1900 vgl. allgemein: Hans-Ulrich Simon, Sezessionismus. Kunstgewerbe in literarischer und bildender Kunst, Stuttgart 1976; Rüdiger Campe, Ästhetische Utopie - Jugendstil in lyrischen Verfahrensweisen der Jahrhundertwende, in: Viktor Zmega2 (Hg.), Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Königstein/Ts. 1981, S. 217-241. Zur analytischen Engführung von »Literatur und bildender Kunst« vgl. u. a. den gleichnamigen Sammelband, den Ulrich Weisstein herausgegeben hat (Bonn 1992) und Rainer Waming/Winfried Wehle (Hg.), Lyrik und Malerei der Avantgarde, München 1982.

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fung des sprachlichen Materials orientierten Leseweise bringt auch eine Sensibilität für die materiale Formalisierung der Sprache selbst mit sich: Typographie, Layout und Buchausstattung werden für Des Esseintes zum Bestandteil des Textes. Zum Genuß der verrätselnden sprachlichen Verfahren gehört offenbar ein entsprechender sinnlich, ein haptisch erfahrbarer Rahmen. Die Gedichte Maliarmes werden gleich durch mehrere kostbar scheinende Omamentschichten verdeckt, so daß ein unmittelbarer Zugang absichtsvoll erschwert wird: der Wildesel-Einband, der mittelalterlich gestaltete Titel, die mit verblaßten Rankenmustern ausgestatteten Vorsatzblätter und die durch Silberwölkchen verzierten Seiten. Schon in der Gestaltung des Buches wird auf diese Weise die Rätselhaftigkeit der Texte, ja der primär nichtmimetische, der ornamentale Charakter der Sprache evident. Die Ornamentschichten müssen im Rezeptionsvorgang Schritt für Schritt abgearbeitet werden; sie sollen nicht >verstandengenossen< werden.

Ornamentik und Änigmatik Ohne hier die komplexe Diskussion um das Verhältnis von Literatur und Ornament fortführen zu wollen,14 sei kurz angedeutet, wie der ornamentale Charakter einer Dichtung vorzustellen ist: Literatur begegnet prinzipiell immer als ornamental gestaltete, und zwar vor allem in den Bereichen Buchausstattung, Schrift und Rhetorik. Als Ornamente wären in der Literatur solche Elemente zu begreifen, die primär der Verzierung dienen und die deshalb keine unmittelbaren Sinnträger sind. Der Buchschmuck wird in der klassischen Moderne zum Paradigma einer kunstgewerblich orientierten Ästhetik: Leisten, Vignetten, Miniaturen, Schlußstücke, Bucheinbände und Vorsatzblätter werten nicht nur den Inhalt eines Textes auf, sie werden zum selbständigen Bestandteil des literarischen Kunstwerks. Dichtung entsteht erst - nach Otto Julius Bierbaum - im »Zusammenklang von Text und Schmuck«;15 der Buchschmuck bringt »das Wort wieder zu Ehren.«16 Wobei der Buchschmuck sich stilistisch am jewei-

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15

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Dazu: vgl. G£rard Raulet/Burghart Schmidt (Hg.), Kritische Theorie des Ornaments, Wien 1993; insbesondere Einleitung, S. 7-25, und den Beitrag von Jacques Dugast, Der Begriff des Ornaments in der Literatur, S. 142-154; außerdem: Alfred Pfabigan (Hg.), Ornament und Askese im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende, Wien 1985 und Burghart Schmidt, Rhetorik der bildenden Künste: das Ornament, in: Gert Ueding (Hg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des >Historischen Wörterbuchs der Rhetorikstilvollen< Kopien der historisch kompilierenden Epoche«17 oder in den weniger historistischen, floralen Buchornamenten, die seit dem Jugendstil gebräuchlich werden. Da diese Orientierung in der Moderne eine >stilistische< und keineswegs eine inhaltliche sein soll, kommt dem Buchschmuck nicht nur keine eigenständige semantische Valenz zu; nein, er entzieht durch seine beanspruchte Konzentration auf die ornamentale Seite der Kunst auch dem semantischen Bereich selbst Bedeutung. In diesem Sinne ist die >reine Linie< das paradigmatische Element des neuen Buchschmucks; sie ist nur schmückend. Im »Buchschmuck«, meint Franz Servaes in Ver sacrum, »tritt die reine Linie gleichsam als eine suggestive Kraft auf, die durch ihre Biegungen und Bewegungen« nicht mehr als »eine Stimmung« und keine Bedeutung im engeren Sinne »mitzuteilen unternimmt. Wenn sie dabei gelegentlich bestimmtere Formen annimmt [...], so ist das nur nebensächlich: die eigentliche Bedeutung steckt in der Linie selbst.«18 Auch im Bereich der Schrift sind die ornamentalen Elemente auffällig: Initiale, extravagante Schrifttypen und bestimmte Textanordnungen prägen in der Literatur der klassischen Moderne die Lektüre. Die Abweichungen von den im 19. Jahrhundert zur Norm gewordenen Schrifttypen (Fraktur, Antiqua etc.) und Satzspiegeln (in der Regel Blocksatz, sonst: linksausgerichteter Text) in den Literatur- und Kunstzeitschriften der Avantgarde verlagert die ausschließlich semantisch orientierte Lesegewohnheit zu einer auch graphisch interessierten Lektüre; die Schrift selbst und ihre Anordnung auf dem Papier erheischt höchste Aufmerksamkeit; insbesondere, wenn typographische >Lesehilfen< (Serifen, Sperrungen etc.) zugunsten einer gleichmäßig omamentalen Schrift abgewertet werden, wie in den Texten Stefan Georges, wie in den Blättern für die Kunst. »Denken wir an jene sinnlosen Sprüche und beschwörungen«, heißt es dort in einem Abschnitt über Maliarme, »die uns getröstet haben ohne dass wir ihren inhalt überlegt, an lieder und reime [...] die keine rechte erklärung zulassen«; solche »schwergeborenen verse« jagen »mänaden gleich« über das zum Kunstwerk gestaltete Papier; sie richten das Augenmerk auf die mäandrischen Ornamente der Buchstaben, die »endhaken der schrift.«19 Aber auch im Bereich der poetischen und rhetorischen Gestaltung sind ornamentale Strukturen erkennbar, die nicht als relevante Bedeutungsträger für den Gesamttext aufzufassen sind: Sprachfiguren, alle Arten von Redeschmuck, Füllwörter, prezioses, redundantes oder manieristisches Vokabu-

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19

Otto Julius Bierbaum, Gedanken über Buchschmuck, S. 69. Franz Servaes, Linienkunst, in: Jürg Mathes (Hg.), Theorie des literarischen Jugendstils, S. 97. Anonym, Dichterköpfe III: Mallarm£, in: Blätter für die Kunst I, 1892/93 (Faksimile 1967), S. 134.

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lar, exzessive Deskriptionen etc. erweitern vor allem das sprachliche und weniger das semantische Material des Textes. Gerade die »Ornamente der Rhetorik«20 stehen in der klassischen Moderne in unübersehbarer Korrespondenz zu den Ornamenten der beiden anderen Bereiche. Literatur mag im strengen Sinne nie ornamentfrei sein; wenn hier vereinfacht von einem ornamentalen Chrakter< gesprochen wird, ist damit eine signifikante Häufung gemeint, eine tendenzielle Dominanz der Ornamente gegenüber primär sinntragenden Zeichen. Die Ornamente erhalten nämlich genau dann eine erhöhte Valenz, wenn die traditionellen Charakteristika der jeweiligen Texte, insbesondere die semantischen Strukturen, abgewertet werden. Zwar dient auch um 1900 die ornamentale Gestaltung der Texte oberflächlich gesehen - wie aller Schmuck - der Aufwertung des Geschmückten, hier der Dichtung. Doch ist mit der schmückenden Aufwertung keineswegs ein besonderes Augenmerk auf deren Semantik geworfen; das Gegenteil wird erreicht: der erzwungene Blick auf den Schmuck verschiebt die Aufmerksamkeit von der Semantik zur ornamentalen Gestaltung: zum Buchschmuck, zur Typographie und zur Rhetorik. Die in >Wildesel-Leder< gebundenen Gedichte Mallarmes in Huysmans Α Rebours stehen insofern für eine offensichtlich werdende Tendenz: Nicht nur die materielle Seite der Sprache in ihrer asemantischen Verknüpfung und Verzierung wird gegenüber der sinnstiftenden Struktur aufgewertet, sondern auch die optische bzw. haptische Seite des Sprachmaterials, also die gegenständliche Erscheinung der Zeichen selbst. Beide Tendenzen verbinden sich mit einer mehr oder minder radikalen Zurückdrängung des Sinns im Text. Rezeption erscheint nun nicht mehr nur als hermeneutischer Vorgang, sondern vor allem auch als Akt des ästhetischen Genusses. Die Abkehr von der Dominanz des hermeneutischen Zugriffs verbindet den kunstgewerblichem Zugang zur Literatur mit den Rezeptionsweisen, die in der Folge positivistischer Tendenzen des Historismus entstehen.

Kostbarkeit und Austauschbarkeit: Ferdinand von Saar In Ferdinand von Saars spätem Gedicht Ver sacrum, veröffentlicht 1898 mit Rahmenzeichnungen des Secessionisten Josef Maria Auchentaller im siebten Heft der gleichnamigen Wiener Kunstzeitschrift Ver sacrum, wird dies unmittelbar deutlich. Hier zeigt sich erstens die Aufeinanderbezogenheit von graphischen und sprachlichen Elementen, von ornamentaler Ausgestaltung in beiden Bereichen, und zweitens eine mit der sprachlichen >Ausstat-

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Jacques Dugast, Der Begriff des Ornaments in der Literatur, S. 142.

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tung< verbundene - schon bei Mallarme zentrale - semantische Verrätselung; ja, die Änigmatik der Kunst wird schließlich zum selbstreflexiven Thema des Gedichts: VER S A C R U M Wieder draussen im weiten A l l Wird es Frühling. Mit dem blassem Gold Der Primeln schmückt sich die Flur; Der Weissdorn leuchtet, Es leuchtet die rosige Pfirsichblüte Und im ergrünenden Wald Singt die Drossel.21

Die erste Strophe assoziiert mit dem Eintreten des Frühlings die mythologische Komponente des festlichen Ver sacrum. Frühling läßt an die Erschaffung des Kosmos denken; das >weite All< ist in den festlichen Beginn der fruchtbaren Jahreszeit einbezogen. Zu dessen Anlaß verschönert sich die Natur: Die ersten Verszeilen realisieren diesen Schmuck mit der semantischen Verknüpfung von Pflanzennamen und Farben. Eine (geschlossene) Landschaft wird nicht evoziert; im Gegenteil, die genannten Planzen bevorzugen in der Regel ganz verschiedene Standorte. Der Beginn des Frühlings wird also mithilfe eines nach Blütenfarben (gold-gelb, weiß, rosig, grün) geordneten Pflanzen-Katalogs angedeutet, der durch ein weiteres bekanntes Frühlingselement, Gesang der Drossel, schließlich ergänzt wird. Ist es hier noch notwendig, die mimetische Referenz zu einzelnen Lexemen zu assoziieren, um die schmückende Wirkung der Worte nachzuvollziehen, dominiert im weiteren Verlauf des Gedichts mehr und mehr die nicht-mimetische Seite der Sprache; zu nennen wären die Preziosität der Wortauswahl, der Klang und die ungewöhnliche Verwendung einzelner Lexeme. Die Aufwertung der lexikalischen und klanglichen Valenz gegenüber der mimetischen hat durchaus ihren Grund in der inhaltlichen Schwerpunktverlagerung, die mit der zweiten Strophe einsetzt. Aber in stillen, Geheimnisvoll umzirkten Zaubergärten Blüht die Kunst. Dort, in ewigem Sonnenlicht, Schattenlos überwipfelt, Hauchen den schweren Duft, Leuchten in durchsichtiger Irispracht Weitkelchige Liliaceen und Tulipanen. Falter, breitflüglig,

21

Ferdinand v. Saar, Ver sacrum, in: Ver sacrum (1,7) 1897, S. 28-29; S. 28. Vgl. dazu auch Dirk Niefanger, Produktiver Historismus, S. 280-286.

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Stahlblau und flammenroth, Umschweben sie Und auf des Rasens Smaragd, Lastenden Silbergefiders, Schreiten weisse Pfauen. - 2 2

Zuerst fällt auf, daß hier wieder nicht eine konkrete Landschaft, sondern eine bestimmte Gattung von Orten charakterisiert wird. Allein dieser Umstand entfernt die wiedergegebene Natur aus dem Vorstellungsbereich. Die Gärten beherbergen eine ästhetizistisch geprägte, künstlich wirkende Natur: das Kunstambiente des Ver sacrum. Die Rätselhaftigkeit der »geheimnisvoll umzirkten Zaubergärten« wird durch eine Reihe von Lexemen unterstrichen: durch die Wahl der Pflanzenamen (»Liliaceen« für Lilien, »Tulipanen« für Tulpen), der gegensätzlichen Farben (Stahlblau - Flammenroth, Smaragd - Silber) und der getragenen Bewegungsverben (schreiten, schweben). Die graphische Gestaltung des Gedicht-Rahmens von Auchentaller orientiert sich offenbar an einer der genannten Blumen, verstärkt aber den rätselhaften Charakter; gezeichnet sind rankende Lilien, deren Farbgebung komplementär ausgetauscht wurde: die Stengel sind gelb, die Blüten grün. Die Lichtverhältnisse, die in der zweiten Strophe wiedergegeben werden, tun ein Übriges; einmal davon abgesehen, daß die schattenlose Überwipfelung von Blumen im ewigen Sonnenlicht mimetisch nicht denkbar scheint, vereinigt der Text hier Unvereinbares. Die dritte Strophe wirkt nur auf den ersten Blick konkreter: Traumhaft, In zarter, schimmernder Gliederhoheit, Die Häupter umkränzt mit Blumensternen, Wandelt ein Menschenpaar. Sanft aneinander geschmiegt, Wandelt es auf verschlungener Pfade Windungen Höher, immer höher hinan Bis zum achat'nen Säulenhalbrund, Das in den Azur des Himmels ragt. Rubine blitzen, Saphire und Opale An den gold'nen Capitälen Und an den goldenen Sockeln. Auf hundertstufiger, Weit ausgebuchteter Onyxterasse Thront die Sphinx. Mit marmor'ner Brust. Doch den geschmeidigen Löwenleib In jeder Faser glutdurchzittert, Thront sie Grossäugig ins Unendliche blickend, Über dem Räthselabgrund der Schönheit. 23 22 23

Ferdinand v. Saar, Ver sacrum, S. 28. Ferdinand v. Saar, Ver sacrum, S. 29.

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Das Menschenpaar, das in Saars Gedicht zu einer marmornen »Sphinx« aufsteigt, läßt an das biblische Paradies-Paar Adam und Eva denken, die Natur an einen ästhetizistisch Mmgedachten Garten Eden. Auf die reine Unschuld des Menschenpaares weisen die im Gedicht erwähnten und im Buchschmuck hervorgehobenen Lilien. Das Ziel des >Wandelns< ist das prächtig geschmückte Säulenhalbrund, das Allerheiligste. Über eine Enträtselung der geheimnisvollen Schönheit, die die »ins Unendliche blickend[e]«, den Raum beherrschende Sphinx repräsentiert, wird im Gedicht nichts gesagt; es wäre der >SündenfallEntweihung< der Kunst gleichkäme. Die Folge hieße: Vertreibung der Menschen aus dem Paradies rätselhafter Schönheit. Wieder zwingt allerdings das Verfahren des Textes und nicht sein zwar >geheimnisvoll< klingender, gedanklich aber doch recht >schlichter< Inhalt zum Nachsinnen. Die Rätselhaftigkeit der Schönheit kommt zuerst unmittelbar, dann durch das Symbol der Sphinx und schließlich durch die Lexemverwendung selbst zur Sprache. Zu nennen wären einmal die Edelsteine: Die blitzenden Rubine, Saphire und Opale kennt man als traditionelle Insignien göttlicher Herrschaft; sie sind kostbar und Ausdruck himmlischer Unerreichbarkeit. Zusammen mit den anderen herrschaftlichen Preziosen, dem achatnen Säulenhalbrund mit den goldenen Sockeln und Kapitalen, der Onyxterasse und dem marmornen Leib der Sphinx bilden sie eine wohl nicht in seiner groben Ausrichtung aber in seinen einzelnen Elementen austauschbare Dekoration des Textes. Die einzelnen Kostbarkeits-Lexeme sind ersetzbar. Insofern läßt diese Häufung der fremden und erlesenen Gegenstände in Saars Gedicht an historistische Textverfahren denken. Der Preziosen-Katalog interessiert nicht in der einzelnen Aufführung seiner Elemente, sondern nur hinsichtlich seines allerdings nurmehr imaginären Überbegriffs (>kostbare Ausstattungdichten< Text handelt - getrost >überlesen< werden; sie sind austauschbare >Belegetieferen< Sinn zielen, sondern auf die bloß geheimnisvoll wirkende Verkleidung des Sinns, auf eine rätselhafte Ornamentik, und nicht auf die Rätsel selbst.

Ausstattungselemente, Ausstattungskataloge Noch radikaler - noch >einfacher< - verfährt die mit ästhetischem Anspruch auftretende Mainstream-Literatur in dieser Zeit: Sie begnügt sich offensichtlich stärker noch als Ferdinand von Saars Ver sacrum mit der bloßen Evokation von Räumen, Szenen oder erlesenen Gegenständen; sie macht das nachdrücklich zur Hauptsache, was im Ver sacrum-Gedicht kaum noch Nebensache war: die Ausstattung des evozierten Bildes. Mit ihrer Aufwertung geht - wie im Ver sacrum-Gedicht - die Austauschbarkeit der schmückenden Elemente und eine tendenzielle textuelle Isolierung der entsprechenden Lexeme einher. Es versteht sich von selbst, daß es bei der >Ausstattung< eines literarischen Raums per se nicht um ein bloßes mimetisches Phänomen geht. Die Beschreibung eines Gegenstandes bedeutet zuallererst die Verwendung eines bestimmten Lexems in einem ästhetischen Zusammenhang; dieser und nicht die mimetische Referenz muß in literarischen Texten von besonderem Interesse sein; das heißt in bezug auf die Frage der >Ausstattungerlesen< erachtet werden. Taucht in einer beschreibenden Passage Peter Altenbergs also eine »Isenbartbirne«25 auf, können Überlegungen zum tatsächlichen Aussehen dieser Frucht getrost vergessen werden; Analoges gilt etwa für den Einband aus Wildesel-Leder (»peau d'onagre«) in dem oben zitierten HuysmansText, die »phosphorschimmernde Mondesgloriole«26 in Felix Dörmanns Satanella-Zyklus oder die »Lerchen-Pastete«,27 die bei einem Sterbefest in Kurt Martens Roman aus der Decadence angeboten wird. Interessant scheint einzig der exotische Charakter des Lexems innerhalb seines ästhetischen und diskursiven Kontextes, nicht aber der des >realen< Gegenstandes; dieser ist in allen genannten Fällen ja auch wenig auffällig.

25 26 27

Peter Altenberg, At Home, in: Das Peter Altenberg Buch, S. 23. Felix Dörmann, Neurotica, Dresden/Leipzig 1891, S. 68. Kurt Martens, Roman aus der D6cadence, Berlin 1898, S. 253.

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Die Aufwertung der Ausstattung betrifft insbesondere natürlich die Lyrik und einige deskriptive Prosatexte, aber auch innerhalb der Novellen, Erzählungen und Romane wird das Dekorative um seiner selbst willen gepflegt. Ein wenig erhabenes Beispiel: Der Protagonist der Novelle Die geliebte Wohnung von Ferdinand von Saars jungem österreichischen Kollegen Felix Dörmann wird als Ansichtskartenmaler, Korrektor und Übersetzer eingeführt, der früher »nacheinander Schauspieler, Maler und Schriftsteller gewesen«28 war; er zeigt eine Vorliebe für »tote Dinge, die schön waren, ohne Schmerzen zu bereiten, die ihn nicht erinnerten [...]: Möbel, Stoffe, Plastiken.«29 Diese Vorliebe für Gegenstände >ohne Erinnerung< macht ihn zum historistischen Ausstattungskünstler. Seine »geliebte Wohnung« gestaltet sich nach und nach zum Arrangement ohne weitere Referenz. Nur im »stillosen« Nebeneinander kann der eigentümliche Protagonist leben. Gelbe Damaste aus einem alten Schloß hatte er erworben, bauchige Barockkasten, alte Wandleuchter aus Dorfkirchen, deren Metallschilder den Kerzenann trugen, verräucherte, dunkle Figuren von Heiligen mit süßer Ekstase in den hageren Zügen, verblichene Meßgewänder bekleideten die Wände und vor den Türen hing schwarzer Sammt mit breiten Silberborten. Eine alte Kopie des Konzertes von Giorgione hing als einziges Bild in dem stillosen und doch so reizenden Raum.30

Dieser Textausschnitt unterscheidet sich nicht von historistischen Katalogen. Er funktioniert in der gleichwertigen und für eine räumliche Vorstellung zu unstrukturierten Anordnung der Lexeme ganz ähnlich. Er akzentuiert den Raum so, daß er gelesen werden soll wie ein Katalog: als Thesaurus nicht-semantisch gegliederter Elemente. Innerhalb der Novelle charakterisiert zwar die Art und Weise der Ausstattung, also das historistische Nebeneinander der Gegenstände, die Psyche des Protagonisten, nicht aber dieses hier beschriebene Interieur; es könnte fast beliebig durch eine der zahllosen historistisch geprägten Interieur-Beschreibungen der Jahrhundertwende, wie man sie bei Hermann Bahr, Peter Altenberg, Richard Schaukai und anderen findet, ersetzt werden. Bestimmte Lexeme erhalten in solchen Texten einen bloß >dekorativen< Wert. Das reduzierte semiotische System in den Deskriptionen erschöpft sich im Verweis auf den Ausstattungscharakter der evozierten Bilder. Bei den Beschreibungen ist ein interpretierender Zugang schon deshalb offensichtlich wenig adäquat, ein Schulterzucken angemessener. Hier scheint die hohe Kunst der Hermeneutik im eigentlichen Sinne suspendiert und für schwierigere Dinge aufgehoben. Hinweise auf das Stilempfinden des Prot-

28

29 30

Felix Dörmann, Die geliebte Wohnung, in: F.D., Alle guten Dinge. Novellen, Wien/Leipzig 1906, S. 81-93; S. 84. Felix Dörmann, Die geliebte Wohnung, S. 85. Felix Dörmann, Die geliebte Wohnung, S. 86.

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agonisten, den Zeitgeschmack des Autors oder den >Zeitgeist< solcher Bildtexte haben bestenfalls kulturgeschichtlichen Wert. Die Selbstgenügsamkeit der Ausstattung dominiert den Zugang zu solchen Interieurs. Interessant bleibt indes die Analyse im historistischen Kontext: So erweisen sich die Bildelemente zwar als besonders detailliert beschrieben, aber auch als besonders referenzarm - selbst bei angestrengt ikonographischer, metaphorischer oder allegorischer Lesart; aus einem >Interieurreiner AusstattungAusstattung< des Ambientes. Einen >tieferen< Sinn haben diese detaillierten Hinweise nicht. In der Regel kann allein das ästhetische Nebeneinander, wenn man will die erlesene >Komposition< der evozierten Bildlichkeit, als der einzige

31 32

33 34

Hermann Bahr, Vier Interieurs. Weihnachten 1899, in: Secession, Wien 1900, S. 251. Vgl. aus Felix Dörmanns unten eingehender besprochenem Farbträume-Zyklus die Gedichte Im Palmenhaus, Geträume und Sturm, in: Felix Dörmann, Sensationen, Wien 1892, S. 29-35. Felix Saiten, Nuance, in: Moderne Rundschau (3) 1891, S. 282-284; S. 282. Felix Saiten, Nuance, S. 283.

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>Sinn< solcher Beschreibungstexte oder Textteile gesehen werden; dieser geht allerdings in solch kurzen und unvollständigen Evokationen fast verloren. Man kann sich des Eindrucks, bedeutungslose Detailnennungen zu lesen, kaum erwehren.

Als Kontext: der Kunstgewerbe-Diskurs um 1900 Es bietet sich an, diese Art von Texten und Textpassagen im Kontext der zeitgenössischen Blüte des Kunstgewerbes zu lesen, ja, als literarisches Pendant zu diesem zu begreifen. Dabei ist natürlich nicht an eine polemische Verurteilung der Jahrhundertwendeliteratur im Sinne Moeller van den Brucks gedacht, auch nicht an eine vorschnelle Übertragung der Kunstgewerbe-Prinzipien auf die Literatur; vielmehr wäre ein gemeinsamer diskursiver Kontext zu erschließen, um dann erneut nach der Stelle und Funktion der Ausstattungslexeme in den entsprechenden Texten zu fragen. An eine ästhetische Diskussion in der frühen Moderne ist also zu erinnern, die im Kunstgewerbe die avantgardistischen Möglichkeiten und Tendenzen erblickt und die in ornamental gestalteten Kunstwerken (oder eben auch Kunstgewerbeobjekten) Ansätze zu einer amimetischen Kunst sieht; und dies lange bevor Kandinsky oder Picasso beginnen, abstrakte Gemälde zu produzieren. Die Forderung nach einer solchen >abstrakten< - nicht-gegenständlichen - Kunst ist zwischen 1890 und 1900 in der Regel verbunden mit einem Votum für eine >dekorative< Ausstattung der Objekte. Vielleicht sind diese Äußerungen deshalb bis heute so wenig beachtet worden. Im Beklagen der historistischen Verfallenheit des österreichischen und deutschen Kunstgewerbes beschwört Berta Szeps-Zuckerkandl das dichte Netz der negotiations zwischen Literatur, Kunst und Kunstgewerbe um 1900: Eine moderne Literatur hätten wir eine moderne Kunst auch; nur eine moderne Kunst-Industrie fehlt ganz. Und doch hängt Kunst und Kunstgewerbe so innig zusammen.35

Die einheimische Industrie »copiert noch immer fleißig Renaissancemuster und äfft Roccoco-Vorlagen nach. [...] Ein Schnörkel links hinauf, ein Schnörkel rechts herunter - das nennt man Roccoco.«36 Anders das moderne Frankreich: hier entstehen »tastende Versuche, neue Conceptionen, Vibration und Effecte zu schaffen«.37 Für die Beschreibung dieser vibrations

35

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Bertha Szeps-Zuckerkandl, Modernes Kunstgewerbe, in: Wunberg (Hg.), Das Junge Wien. Österreichische Literatur und Kunstkritik 1887-1902, Tübingen 1976, S. 457 (94.16) Bertha Szeps-Zuckerkandl, Modernes Kunstgewerbe, S. 457. Bertha Szeps-Zuckerkandl, Modernes Kunstgewerbe, S. 457.

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greift Szeps-Zuckerkandl immer wieder auf den Vater der literarischen decadence zurück: Die herrlich schillernden Untergründe zieren Motive, welche die Grenzen des herkömmlichen Dekors bedeutend erweitem. Die Zeichnung ist breit und kräftig und gibt Gedanken wieder, erweckt Sensationen, die direct Baudelaires Gedichten entströmen [...]. Märchenhafte Algen und Muscheln vom Meeresgrund, und besonders jene großen, geheimnisvollen Blumen [...], die >Fleurs du malschematisch< gewordenen Historismen des 19. Jahrhunderts werden zwar abgelehnt, eklektizistisch bleiben die Forderungen an das Kunstgewerbe dennoch: Der neue Stil baut auf der »Decorationsmanier«40 der Makart-Zeit auf und wählt sich den englischen Stil als Vorbild, »der Heterogenes so schön verbindet«41. Das Produkt erinnert dann an die »Verduren der Früh-Renaissance. Aber weit stärker klingt der müde Symbolismus durch [...]. Auch die ganze Naturanschauung der Japaner wirkt mit.«42 Originalität, Stringenz, Einheitlichkeit sind nicht die Kriterien des Kunstgewerbes der Jahrhundertwende. Geschmack basiert vielmehr auf dem Erkennen des Originellen, der modischen Zusammenstellung, der geschickten Integration der Versatzstücke - ein Historismus in neuem Gewand also. Julius Meier-Graefe setzt sich in der Freien Bühne von 1896 ebenfalls mit dem Problem der »Dekorativen Kunst«43 auseinander, und auch er zieht Parallelen zur Literatur. Er unterscheidet gleich zu Anfang seines Essays »zwischen Künstlern [...], bei denen sich das Dargestellte mit der wahrnehmbaren Natur zu decken scheint und solchen, bei denen diese scheinbare Beziehung wegfallt«44; also zwischen mimetischen und amimetischen Künstlern. Meier-Graefe konstatiert, daß man beginne, sich der nicht-mimetischen Kunst zuzuwenden, weil diese »vor der anderen einen Vorzug zu haben scheint: den eines unmittelbaren Nutzwertes für die Stilbildung, für das Kunstgewerbe.«45 Wie Szeps-Zuckerkandl glaubt Meier-Graefe, daß das Kunstgewerbe unmittelbar von Kunst und Literatur abhänge: »Man ist«, schreibt er, »in Malerei und Litteratur des ewigen coin de la nature über-

38 39

40 41 42 43

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Bertha Szeps-Zuckerkandl, Modernes Kunstgewerbe, S. 458. Bertha Szeps-Zuckerkandl, Kunstindustrie. Ein Epilog zur Weihnachts-Gewerbe-Ausstellung, in: Gotthart Wunberg (Hg.), Das Junge Wien, S. 671 (97.2). Bertha Szeps-Zuckerkandl, Kunstindustrie, S. 671. Bertha Szeps-Zuckerkandl, Kunstindustrie, S. 671. Bertha Szeps-Zuckerkandl, Kunstindustrie, S. 672. Jfulius] Meier-Graefe, Dekorative Kunst, in: Freie Bühne für modernes Leben, Neue Deutsche Rundschau (7,1) 1896, S. 543-560. Julius Meier-Graefe, Dekorative Kunst, S. 543. Julius Meier-Graefe, Dekorative Kunst, S. 544.

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drüssig geworden.«46 Andererseits - auch das sieht Meier-Graefe - ermöglicht die Nachbarschaft der Künste nicht nur ein einseitiges Profitieren des Kunstgewerbes, sondern regelrechte negotiations. Viele Künstler werden dort tätig, um neue Techniken und Motive zu erproben, die in ihren Disziplinen noch nicht machbar sind. Hier kann mit »dem unmittelbaren Ziele neuer dekorativer Wirkungen« jeder »Ballast historischer oder psychologischer Betrachtung«47 über Bord geworfen werden. Im Kunstgewerbe findet »der Künstler das Gebiet, in dem er seine Lust tummeln« kann, »ohne gegenständlich werden zu müssen.«48 Eine reine Farbensymphonie, also wohl die unmittelbarste Sensation eines Malers, bleibt, in den Rahmen gebracht und an die Wand gehängt, dank unserer natürlichen Laienhaftigkeit ein Unding. Man sucht aus dem Dunkelsten einen Sinn zu konstruieren, etwas Verstandesmässiges, der Verstand ist nun einmal da. Und nichts zerstört so sehr die Freude als dieser Sinn, der von der Erscheinung nur ein zweifelhaftes Spiegelbild sieht, nicht die Natur selbst, die göttliche Schwingung. 49

Das Kunstgewerbliche zeigt sich als experimenteller Freiraum, gerade weil es spezifisch in ökonomische Prozesse eingebunden ist. Der »Nutzwert des gefertigten Gegenstandes« befriedigt nach Meier-Graefe das vernünftige, realistische Bedürfnis des Käufers; das Dekorative ist Beigabe, die sich der Käufer leisten kann. Er setzt - reziprok zum Künstler - das Dekorative gegenüber dem Nutzwert herab; in der bloßen Ausstattung akzeptiert er deshalb amimetische Verfahren. Der Orientierung bietende Nutzwert des Gegenstandes »befreit« die Kunst von der »drückendsten Fessel«. Weil der Konsument die konsequent gegenstandslose Moderne nur im Kunstgewerbe-Objekt akzeptiert, weicht die Avantgarde in dieses Gebiet aus: Durch diese Pforte dringt die Moderne in das Publikum hinein, so kann es geschehen, es hat wenigstens den Anschein. Derselbe Banquier, der ein halbzahmes Bild für unmöglich hält, acceptiert ohne Besinnen die kühnsten objets d'Art. 5 0

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß Meier-Graefe mit seinem Ruf nach der Vörreiterrolle der ornamentalen Kunst nicht alleine steht. So versucht Anton Lindners Essay Farbe und Linie nachdrücklich eine Aufwertung des »decorativ Aufgefassten«, dem er - wie dem »Bildhaften«51 - eine räumliche Wirkung zusprechen will. Sie basiert auf der Unterscheidung einer »dekorative[n]« und einer »geistige[n]« Wirkung von Kunstwerken.52 Um die Eigen46 47 48 49 50 51

52

Julius Meier-Graefe, Dekorative Kunst, S. 545. Julius Meier-Graefe, Dekorative Kunst, S. 5 5 l f . Julius Meier-Graefe, Dekorative Kunst, S. 560. Julius Meier-Graefe, Dekorative Kunst, S. 560. Alle Zitate: Julius Meier-Graefe, Dekorative Kunst, S. 560. Anton Lindner, Farbe und Linie. Ein Versuch I, in: Wunberg (Hg.), Das Junge Wien, S. 1041 (00.3). Anton Lindner, Farbe und Linie, S. 1044.

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ständigkeit der Formen, Linien und Farben zu belegen, versucht Lindner, die von ihm betrachteten Objekte ausschließlich von ihrer dekorativen Seite zu erfassen: Flächen und Linien, sich selbst überlassen, formen sich im Auge des Beschauers zu rhythmischen Visionen, nehmen belebte Gestalten an (für die ein Terminus noch nicht gefunden ist, die aber den >Klangfiguren< in der Schwesterkunst Musik analog sein mögen), verdichten sich zu Rundungen und Kanten, dehnen, strecken sich nach allen Pfeilrichtungen, verflüchtigen sich ins Unendliche. 53

Der Sinn der Bilder interessiert Lindner natürlich bei solchen Beschreibungen nicht. Er begnügt sich mit vagen Hinweisen auf einen »associativen Factor.«54 Von einer >reinen< Farbensymphonie träumt auch Hermann Bahr. In seinem Impressionismus-Essay denkt er schon 1903 dessen >abstrakte< »Überwindung«; auch er sieht das Vorbild für eine solche Kunst im Ornamentalen, im Dekorativen kunstgewerblicher Objekte: Kein Mensch fragt, was ein Ornament >bedeutetsinnlos< wäre, das heißt: das durchaus keine Beziehung zur Wirklichkeit hätte, das nur seine Farben wirken lassen würde, die nichts bedeuten, nichts darstellen oder vorstellen. 55

An Bahrs Essays lassen sich gut jene negotiations nachvollziehen, die oben schon erwähnt wurden. Bahr selbst erwartet in der Literatur analoge Effekte; der dekorative turn der Malerei verspricht hier beste Erträge. Aber er formuliert seine Analyse gewohnt dunkel, sehr indirekt, geradezu verhüllend. Erstaunlich hellsichtig erscheint sie in seinem Essay Wahrheit! Wahrheit!. Zwar steht dort am Ende eine etwas plakative neoromantische Ablehnung des Wahrheitsgebarens der naturalistischen Kunst; doch offenbart die ausführliche Darlegung positivistischer und relativistischer Elemente der Literatur, daß Bahr die historistische Situation des Spätnaturalismus gesehen hat.56 Werke wie Huysmans' Α Rebours würden voller Akribie jede individuell erfahrene >Sensation< notieren, »den ganzen monde sentimentale, catalogue et condense en rebus suggestifs«. Die Gefühle von Des Esseintes würden in der Masse der Beschreibungen untergehen: sie »verlieren sich im 53 54 55

56

Anton Lindner, Farbe und Linie, S. 1042. Anton Lindner, Farbe und Linie, S. 1047. Hermann Bahr, Impressionismus (1903), In: H.B., Essays, Leipzig 1912, S. 163-175; S. 175. Vgl. Hermann Bahr, Wahrheit! Wahrheit!, in: H.B., Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887 - 1904, Hg. Gotthart Wunberg, Stuttgart/Berlin/Köln 1968, S. 78-85; insb. S. 80, 83f.

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Detail«.57 Bahr malt schließlich das nur oberflächlich als Schreckbild fungierende Bild eines Katalog-Romans, der auf »obligaten 350 Seiten«58 nur die Auflistung von individuellen >SensationenUnverständlichwerden< des Gegenstandes im Detail.62 In der gleichzeitigen, aber unverbundenen Wiedergabe der Details »findet« der fiktive neue Romancier wie der Impressionist »seine Sprache: die neue Technik«.63 Wie am Ende des Impressionismus-Essays als radikale Konsequenz der Detailfixiertheit ein Bild entworfen wird, »das durchaus >sinnlos< wäre«, »das keine Beziehung zur Wirklichkeit hätte«, weil es nur aus Ornamenten besteht, wäre eben eine Literatur vorzustellen, die aus Katalogen von unzusammenhängenden Empfindungen bestände. War die detaillierte Beschreibung bisher das dem Romangeschehen untergeordnete Prinzip der >AusstattungSensationendekadentes< Textgebaren, das sich legitimiert, indem es eine >dekadente< Pose auffällig-unauffällig - wie in der Technik des >Weiß auf Weiß< - illustriert. Dekorative Raum-Tableaus und änigmatische Phrasen entwerfen im vierten Gedicht des >Unterreiches< ein bewußt artifizielles Ambiente; hier wird das Textverfahren in einen selbstreflexiven Gedankengang einbezogen:

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Über Substrukturen, die etwa als psychologische Dispositionen des Autors lesbar sind und deshalb auf außerliterarische Welten rekurrieren, ist dabei nichts gesagt; dazu vgl. stellvertretend für eine Reihe von Ansätzen: Marita Keilson-Lauritz, Von der Liebe die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987. Anders die traditionell inhaltlich interessierte Stefan George-Forschung. Neuerdings finden sich aber vermehrt Hinweise auf die dominierende Bedeutung der Textverfahren: Jürgen Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges, München 1978, S. 6 7 86; Hella Tiedemann-Bartels, Versuch über das artistische Gedicht: Baudelaire, Mallarmi, George, München 1990, S. 58-85. Allgemeiner und mit Hinweisen auf die spätere Wirkung der Textverfahren auf die amimetische Dichtung der Avantgarde: Günter Heintz, Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986, S. 346-367 (»Geistige Kunst und Konkrete Poesie«).

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Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut. Von kohle die stamme, von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain Der früchte nimmer gebrochene laste Glänzen wie lava im pinien-hain. Ein grauer schein aus verborgener höhle Verrät nicht wann morgen wann abend naht Und staubige dünste der mandel-öle Schweben auf beeten und anger und saat. Wie zeug ich dich aber im heiligtume - So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass Dunkle grosse schwarze blume?" 2

Der imaginäre Sprecher des Gedichts scheint Algabal selbst zu sein, der hier mit einem dunklen Grundton sein Unterweltreich beschreibt. Den größten Teil des Gedichts nimmt die Beschreibung des düster-künstlichen Ambientes ein, das natürlich keinerlei Konturen gewinnt. Fast möchte man deshalb von einem analogen Verfahren des >Schwarz auf Schwarz< reden. George beschreibt eigentlich einen Nicht-Raum, eine Anti-Landschaft. Das Herzstück der imaginierten Welt ist ihr größtes Defizit, das als >schwarze blume< bezeichnet wird; diese soll kein natürliches Produkt von >luft und wärme< sein, sondern ästhetizistisch gezeugt werden. Wie wenig allerdings diese Variation der Suche nach der >blauen Blume< der Romantik den Kern der Existenz Algabals und seiner Welt in Frage stellen kann, zeigt die Situation, in der der Kaiser diesem Projekt nachsinnt: in Stunden der Muße, der spielerischen Hirngespinste, des Spazierens durch die Unterwelt. Diese Situation ist dem Sprecher offensichtlich so wichtig, daß er sie nicht mit untergeordneten Nebensätzen beschreibt, sondern als Parenthese hervorhebt, die Situation gleichsam mit der Frage nach der > schwarzen blumeschwarzen blume< als Ausdruck gelungener ästhetizistischer Textverfahren jenseits jeden Bezugs zur mimetisch abbildbaren Welt (die Zeugung fände ja im >heiligtume< statt), jenseits eines möglichen sozialen Austausches über Kunst also, so wird man in der Charakterisierung dieser Idee, dieses Denkmodells, eigentlich schon die einzig mögliche >perfekte< Verwirklichung der >schwarzen Blume< lesen können; eine Materialisierung der ästhetizistischen Idee wäre an Formen, Farben und mögliche Rezi-

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Stefan George, Werke, Bd. 1, S. 49.

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pienten gebunden, wäre also der völligen ästhetizistischen Beliebigkeit entkleidet. Das Gedicht kann deshalb als Votum für eine ungebundene Semiose gelesen werden, deren Beliebigkeit den Blick auf die jeweilige sprachliche Inszenierung lenkt. Die Machart des Gedichtes unterstützt den ästhetizistischen Duktus. So finden sich offensichtlich rein klanglich (und nicht semantisch) motivierte Vokabeln (»rain«, »mandel-öle«), altertümelnde, sich auffällig abhebende und deshalb >kostbare< - Worte (»läste«) und aus poetisch üblichen Lexemen, semantisch aber nicht motiviert zusammengesetze Verbindungen, die allenfalls als unspezifische Allusionen auf die versunkene Vesuvlandschaft verständlich sind (>Glänzen wie lava im pinienhaintendenziellen< Lexemautonomie kann in Georges Texten wohl noch nicht die Rede sein; zu deutlich bleibt die dekorative Rückbindung der gleichwohl in bestimmten Kontexten austauschbaren Lexeme. Das freie Verfügen über historische Thesauren und die katalogartige Verwendung von Kostbarkeitslexemen - besonders deutlich übrigens auch in Georges früher Prosa Schmucktrachten des Dierick Boutsm - machen die phänomenologische UnUnterscheidbarkeit von dekorativen und historistischen Texturen evident.

Dekorative Texturen im Historismus Die >dekorativen< Elemente der Literatur um 1900 sind uneinheitlich, verschiedene Formen und Grade der Dominanz >kunstgewerblicher< Strukturen sind beobachtbar: Neben der Evokation bloß >dekorativer< Bilder finden sich die Auflösung eines Bildzusammenhangs, die Entwertung einzelner, besonders pretioser Lexeme, schließlich eine überbordende Detaildeskription in Teilbereichen, und im Einzelfall die Tendenz zur semantischen Autonomie einzelner Sentenzen, Worte und Lexeme. Hinzu kommt die Aufwertung der Phonetik und der Schrift als an sich ornamentaler Strukturen und die Integration der Texte in aufwendigen Buchschmuck; diese Fokussierung auf das Materiale der literarischen Präsentation trägt zu ihrer semantischen Entwertung bei. In dieser >dekorativen< Diktion vieler Texte der Jahrhundertwende verbirgt sich ein avantgardistisches Credo: mit einer neuen, vorerst dekorativ lizensierten Handhabung sprachlicher Mittel soll die Generierung neuer Texturen erprobt werden. Die >ornamentale< Freisetzung von Lexemen beruht insofern zwar auf einer spezifischen Lizenz, nutzt aber unübersehbar

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[Stefan George], Schmucktrachten des Dierick Bouts, in: Blätter für die Kunst, 11,1 (1894), S. 14-15; auch Werke, Bd. 2, S. 281-282.

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die Kanäle des technischen Historismus und scheint nur in seinem Kontext begreifbar. Der diskursiv rekonstruierbare Status der dekorativen erscheint von jenem historistischer Texturen different. Gerade in Texten wie Georges Algabal wird aber evident, wie sinnlos die bloße Einordnung in den einen oder anderen Analysezusammenhang ist. Die dekorative Lizenzierung texturierter Verwendung literarischer Sprache zeigt sich als bloß andere analytische Perspektivierung, die aus zeitgenössischen Diskursen resultiert. Diese Diskurse stehen in engem Zusammenhang mit dem Historismus. Das Verfügbarwerden dekorativer Möglichkeiten, die relative - nicht durch übergeordnete Sinnvorgaben gesteuerte - Anordnung der Dekorationsmuster und die serielle Verwendung ornamentaler Strukturen (gerade auch in >kunstgewerblicher< Literatur) sind historistische Phänomene und ohne diesen Diskussionskontext nicht begreifbar. Daran ändert auch die >gläubige< Rückbindung des Ornaments an Natur- und Ganzheitsvorstellungen, wie man sie im Jugendstil findet, nichts. Im Gegenteil: diese Rechtfertigung serieller Verfahren zeugt gerade von der Abhängigkeit des Kunstgewerbes um 1900 vom Historismus und seinen idealistischen Ahnen. Die dekorative Gestaltung von literarischen Texten ist also nicht nur über den Kunstgewerbe-Diskurs, sondern auch über ihre Verfahren an den Historismus gebunden. In diesem Sinne kann Meier-Graefe verstanden werden, wenn er verlangt, »die Errungenschaften der modernen Wissenschaften [...] zu benutzen« und »neben der modernen Technik, der modernen Industrie, aus derselben Quelle heraus eine moderne dekorative Kunst zu schaffen.« 114 Die Textverfahren dieser Kunst lösen - wie gezeigt - zum Teil wenigstens sein Programm ein. Zumindest im Extremfall dekorativer Texturen scheint die Sprache von ihrem semantischen Körper befreit; ihr schmückendes Kleid >entkleidet< gewissermaßen die Texte von ihrem Sinn. Die Dekoration wird zum Eigentlichen, das Dekorierte verschwindet hinter der Ausstattung. Eine nur >dekorative< Sprache ist nicht mehr an die Logik der gegenständlichen Abbildung gebunden; das haben nicht zuletzt die AlgabalGedichte gezeigt. Ein solches Textverfahren entwickelt seine eigenen Schmuck-Prinzipien, seinen eigenen Ausstattungscode. Als deren erste Bestimmung muß die entlegene Lexemwahl und -kombination gesehen werden, die erst eigentlich im Historismus zu Verfügung steht. Allerdings verfahren diese Texte mit ihren Lexemen nicht völlig willkürlich; das haben die Analysen auch gezeigt. Sie kreisen um bewußt unspezifische Tableaus (Dörmann), um änigmatische Stimmungen (von Saar), um Sensationen (Bahr) oder Posen (George, Dörmann), die jeweils assoziiert werden sollen. Die systematische Verwandtschaft dieses Kreisens um einen vagen Sinnmittel-

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Julius Meier-Graefe, Dekorative Kunst, S. 552.

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punkt mit historistischen Katalogverfahren ist unübersehbar. Im dekorativen Verfahren wird mit ähnlichen Techniken die Egalität der vereinzelten semantischen Elemente freigelegt. Auch hier sind die Textwucherungen nur durch vage Sinnhierachien begründet, die, wegen ihrer beabsichtigten Unbestimmtheit (Stimmungen, Posen etc.), eine Dominanz der Verfahren selbst erzeugen. Die Sinnhierarchien werden dadurch wie selbstverständlich in Frage gestellt. Daß die Vagheit der ästhetizistischen Ordnungsmuster im Kontext des relativistischen Historismus stehen, bedarf kaum der Erwähnung. Die Infragestellung der vagen ästhetizistischen Ordnungskategorien gehört nun zwar zum Programm des Diskurses über die Lebensferne der Kunst, sie lizensiert aber gleichzeitig die Dominanz der Dekoration. Das redundant vorgebrachte Leiden am Ästhetizismus erscheint insofern gerade als eine Hinwendung zur dekorativen Textur. Dieser Hintergrund verbindet eine solche Literatur - nach Baudelaires berühmter Preface des Fleurs - mit anderen >dekorativen< Künsten. Das Vorwort zu den Fleurs du Mal sieht, »que la poesie se rattache aux arts de la peinture, de la cuisine et du cosmetique.«115 Die Gemeinsamkeit liegt in der artistischen - und nicht mimetischen - Erzeugung von >Sensationen< (Süße, Bitterkeit, Grauen etc.).116 Die Möglichkeit, Sätze auf dem Reißbrett rein nach künstlerischen Prinzipien zu formen, rückt die Dichtkunst nach Baudelaire schließlich in die Nähe der Musik und Mathematik.117 Schon Baudelaire hatte ja in seinem von Stefan George und Felix Dörmann ins Deutsche übertragenen Einleitungsgedicht zu späten Fassungen der Fleurs du mal, also in einem der wichtigsten Programmgedichte der Dekadenz, klar gemacht, daß die immer wieder >inhaltlich< angegriffene Literatur zuallererst >artistischVerfahren< zu beschreiben, d.h. vorrangig auf die »Garnnummern und Webweisen« zu achten, die das literarische Gewebe konstituieren, hat diese Tradition literaturwissenschaftlicher Theoriebildung darauf bestanden, »daß das, was das Kunstwerk zu Kunst macht, nämlich sein eigentümlicher Aufbau, nicht übersehen werden darf«. 2 Seither haben Formalisten, Strukturalisten und Poststrukturalisten den Appell an »die Disposition des Rezipienten, den Text als Text, als >gewobenes Gemachtes< wahrzunehmen, sich auf das [...] >Spiel der Signifikantem einzulassen«,3 gegenüber einer dominanten Tradition inhaltlicher Lektüre immer wieder erneuert. War dieser Mainstream zu Sklovskijs Zeit vor allem auf außerliterarische Kontexte aus,4 so ist der formalen Lektüre mit dem Aufstieg der Hermeneutik zur literaturwissenschaftlichen Basiswissenschaft eine andere, subtilere Konkurrenz erstanden: die Lektüre des Textes als Aussage, als Phase in einem dialogischen Handlungsgeschehen. Roland Barthes, Die Lust am Text [1973], aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt 7 1992; S. 94. Jan Mukarovsky, Zur tschechischen Übersetzung von Sklovskijs »Theorie der Prosa« (1934), in: alternative 14/1971, S. 166-171; Zitate S. 170 u. 169. Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität. Zur Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne, Tübingen 1988; S. 97. Bodes Buch faßt die hier skizzierte Tradition zusammen und profiliert ihre Ergebnisse im Vergleich mit anderen Theoriesträngen des 20. Jahrhunderts. »[...] die einen verstanden die Geschichte der Literatur als bloße Widerspiegelung der Ideologie- oder Kulturgeschichte im weiten Sinne des Worts, andere interpretierten das dichterische Werk als Dokument des inneren und äußeren Lebens des Dichters, wieder anderen galt es lediglich als Kommentar zum gesellschaftlichen oder auch ökonomischen Geschehen.« (Jan Mukarovsky, Zur tschechischen Übersetzung, S. 166).

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In unserem Zusammenhang ist die Konzentration auf die Textur literarischer Texte jedoch keine methodische Vorentscheidung in der formalistischen Tradition, sondern die Konsequenz aus einem historisch-systematischen Befund, der am literarischen Material gewonnen wurde - die vorangehenden Kapitel haben wesentliche Aspekte dieses Befundes verhandelt. Die Bedeutung der bislang wenig beachteten materialen Seite des (positivistischen) Historismus für Status und Semiose des literarischen Materials in der Moderne fordert eine Korrektur und Ergänzung von Lothar Köhns These, die Einheit moderner Literatur liege im Versuch einer >Überwindung des (relativistischen) Historismusgewobenes GemachtesSchreibendenWie war die Formulierung? Was ist damit gemeint?< Ziel ist es, »den Leser für das einzunehmen, was der Text sagt, der eben damit selber verschwindet.«9 5 6

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Vgl. Lothar Köhn, Überwindung des Historismus, I.e. Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, in: Philippe Forget (Hg.), Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte, München 1984, S. 24—55; S. 40. Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, S. 39. Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, S. 37. Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, S. 46. In der neueren, spezifisch literaturwissenschaftlichen Hermeneutik gibt es Ansätze, diese Paradigmen zu relativieren, um

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Offenkundig ist dieses hermeneutische Paradigma für literarische Texte nur partiell geeignet, weil diese »in ursprünglichem und eigentlichem Sinne Text sind.«10 Dennoch macht seine Anwendung durchaus Sinn überall dort, wo auch literarische Texte auf eine bestimmte Weise um eine zentrale Aussage herum organisiert sind. Der Einstieg in den hermeneutischen Zirkel verspricht Erfolg bei Texten, die eine Integration ihrer Teile in ein strukturiertes und intelligibles Ganzes gewährleisten. Die Methode findet also ihren adäquaten Gegenstand nicht nur in Sachtexten, sondern auch in literarischen Texten, die nach einem >organischen< Paradigma verfaßt sind - grob gesprochen in Texten von der Aufklärung bis zum Naturalismus. Die Textur des literarischen Textes, seine Machart, seine Oberfläche, behält in diesem Paradigma, mit Kant gesprochen, den Status der anhängenden Schönheit< (pulchritudo adhaerens). Das, dem sie anhängt, ist die Textaussage; deren Begriff aber erschließt sich nicht den »Regeln des Geschmacks«, sondern der Vernunft.11 Auch wenn der literarische Text einen Eigenwert behält, Ziel bleibt letztlich immer das paraphrasierende Verstehen des Gemeinten. Ein deutlicher Überschuß an Form, eine Verselbständigung der Texturen gegenüber der Textstruktur, wie sie oben am Beispiel der Katalogtextur beschrieben wurde, fällt dann notwendig unter das Verdikt des >Manierismus< - hier wird die »Vereinbarung des Geschmacks mit der Vernunft« 12 problematisch. Und wenn gar »die Flucht aus dem Vorgeformten mit dem Grenzereignis der Unverständlichkeit ihr Spiel zu treiben beginnt«, dann besteht die Aufgabe des Hermeneuten ausdrücklich nicht »in der deskriptiven Erfassung dieser Reize« der Textur, »sondern in der deskriptiven Erfassung [der] Sinnerwartung, die mit jedem Sprachgebilde [...] wie eh und je gegeben ist.«13 Die Rezeptionsgeschichte moderner >abstrakter< Prosa und Lyrik bestätigt genau diese Tendenzen: Immer wieder, oft wider besseres Wissen, laufen die Interpretationen auf Paraphrase hinaus, die formale Textbeschreibung bleibt Mittel zum Zweck, und wo die hohen Sinnerwartungen dann enttäuscht werden (d.h. bei den ehrlicheren Interpreten), werden Sinnlosigkeit und Krise zum letzten Sinn erklärt.14 Diese Aporien werden verständlich, wenn sich zeigen läßt, daß sie Effekte eines interpretatori-

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dem literarischen Gegenstand gerechter zu werden. Spätestens die interpretatorische Praxis zeigt jedoch zumeist, daß solche Adaptionsversuche nicht tief genug ansetzen. Ein Beispiel ist das Mißverhältnis zwischen einer methodischen Grundlegung, die auf Verfahrensanalyse hinausliefe, und doch wieder bloß paraphrasierender Praxis in Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung-Typologie-Entwicklung, Stuttgart 1991. Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, S. 46. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart 1976, § 16, Β 48 u. 51. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Β 51. Hans-Georg Gadamer, Lyrik als Paradigma der Moderne, in: H.G., Kleine Schriften IV, Tübingen 1977, S. 249-255; S. 251. Zur Prosa vgl. Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, 9. Kapitel; zur Lyrik s.u. Kapitel II 5: Die Textur der modernen Lyrik.

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sehen Verfahrens an Texten sind, deren Machart diesem Verfahren nicht entspricht.

Struktur und Textur Eine terminologische Präzisierung des Texturbegriffes erfordert als Widerpart einen Strukturbegriff, der sich nur partiell auf eingeführte Terminologie stützen kann. Die Struktur eines literarischen Textes sei im oben angedeuteten Sinne das, was seine Aussage trägt bzw. von ihr erhellt wird. Diese Struktur läßt sich - gut hermeneutisch - paraphrasieren. Vorgeschlagen wird also eine Paraphraseprobe', was sich an einem Text paraphrasieren läßt, sei der Struktur zugerechnet, alles andere ist bloße Textur und läßt sich allenfalls wiederholen.15 Strukturen erfüllen in einem Text mindestens vier Funktionen. (1) Schon bei Dilthey war mit Struktur »ein Beziehungsganzes gemeint [...], das nicht auf der zeitlichen Abfolge des Erwirktseins beruht, sondern auf inneren Beziehungen.«16 Die Struktur ist somit das Gerüst, das den Text trägt (strukturiert), ζ. B. eine Narration, die den beschreibenden Passagen, die in sie >eingehängt< werden, Ort und Sinn zuweist. Für den Leser prägt die Struktur vor allem das hermeneutische Vorverständnis, das sich dann über die verstehende Integration der Textdetails zum vollen Textverständnis läutert. Texturierte Passagen, ζ. B. endlose (historistische) Kataloge, tragen zum Strukturwissen des Lesers wenig bei und lassen sich deshalb ohne gravierenden Verständnisverlust überlesen. (2) Strukturen sind tendenziell kohärent und abgeschlossen; »jede Struktur ist bewohnbar, und das ist sogar ihre treffendste Definition.«17 Das bedeutet, daß das Ende eines Textes, sofern es einsichtig ist, als Struktureffekt erklärbar sein muß. - Die Punkte (1) und (2) definieren das Paradigma des >organischen< Sprachkunstwerks. (3) Strukturen sind übertragbar. Weil sie weitgehend »von der Qualität der Elemente abstrahieren«,18 lassen sie sich auch mit anderen Elementen besetzen und ermöglichen somit allegorische, symbolische oder andere >übertragene< Lesarten. Strukturen lassen sich übersetzen, Texturen nicht. (4) Weil die »vermeintliche Wirklichkeitsnähe der Prosa [...] ein Effekt ihrer [...] eingängigeren Machart« ist,19 läßt sich auch der >Realismus< mimeti15

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Zur Paraphraseprobe vgl. Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 63; Klaus Weimar, Enzyklopädie der Literaturwissenschaft, München 1980, §§ 304-306; Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 15/16. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 5 1986; S. 227. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, aus dem Französischen von HansHorst Henschen, Frankfurt 1988; S. 76. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Entwurf einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 2 1988; S. 384. Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 148.

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scher Prosa überwiegend als Struktureffekt bezeichnen. Texturen fehlt dagegen die zur Illusionierung einer raum-zeitlichen Welt (oder eines Subjektes) erforderliche Kohärenz. - Insgesamt sind Strukturen als die sinntragenden Gerüste also für den Inhalt eines Textes zuständig, auch von daher eignet sich die Paraphraseprobe zu ihrer vorläufigen und die hermeneutische Paraphrase zu ihrer definitiven Erfassung. Der Texturbegriff betont dagegen die generative Vorstellung< (Barthes) und den materialen Aspekt des Textes. Eine Textur ist beschreibbar nur über die generativen Regeln, die >Garnnummern und Webweisen< (Sklovskij) ihrer Herstellung, d.h. als Textverfahren. Texturen sind also virtuell unendlich. Zu einem Textverfahren gehören ein Thesaurus, der die verfügbaren Elemente (Lexeme, Aussagen o. ä.) enthält, sowie die Verknüpfungsregeln, nach denen diese Elemente gefügt und kombiniert werden. Der Thesaurus >Namen seltener Edelsteine< und die Verknüpfungsregel >einfache Reihung< ergäben ζ. B. die Textur eines Edelsteinkatalogs. Eine Paraphrase würde diesen Katalog auf seinen Oberbegriff reduzieren und also verschwinden lassen. Er ist tendenziell unabschließbar, solange sich Edelsteinnamen finden lassen, und er ist nicht übertragbar, weil sich von der Qualität seiner Elemente eben nicht abstrahieren läßt. Solcherart über ihre paradigmatische und syntagmatische Dimension beschrieben, waren Texturen bislang vorwiegend Gegenstand der Linguistik. Ein spezifisch literaturwissenschaftliches Interesse können sie erst in solchen Texten beanspruchen, in denen hermeneutisches Strukturverstehen nicht mehr greift, d.h. in den texturierten Texten der literarischen Moderne.

Texturen in strukturierten Texten Eine Paraphrase von Madame Bovary wird dem Text gerechter, erfaßt mehr Wesentliches von ihm als eine Paraphrase des Ulysses. Die obengenannten Struktureffekte scheinen eher Eigenschaften traditioneller, die Textureffekte eher solche modemer Literatur zu benennen. »Man lese einmal langsam, man lese alles von einem Roman von Zola, und das Buch wird einem aus den Händen fallen; man lese dagegen schnell und nur diagonal einen modernen Text, und dieser Text wird undurchsichtig, der Lust unzugänglich: man wartet, daß etwas passiert, und es passiert nichts«.20 Die verschiedenen Textorganisationen erfordern also auch verschiedene Lesarten. Dem Strukturleser wirken texturierte Passagen als Amplifikationen, d.h. redundant, wenn nicht gar störend. Das Prinzip ist jedem Karl-May-Leser noch von früher geläufig: seitenlange Landschaftsschilderungen werden überblättert;

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Roland Barthes, Die Lust am Text, S. 20.

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heute mögen sie adulter Relektüre als das einzig Faszinierende an den dikken Romanen erscheinen. Auch historisch treten texturierte Passagen in strukturierten Erzähltexten zunächst als Amplifikationen auf, als überlange Beschreibungen, als Kataloge, aber auch ζ. B. als Traumsequenzen oder als Irrenrede. Der Effekt ist dabei zunächst derselbe: als ganze bleiben diese Passagen im strukturierten Haupttext referentialisiert und damit verständlich, die strukturelle Sinngebung erfaßt jedoch nicht mehr die Fügungen innerhalb der Passage (d.h. die Textur). Das verwundert zunächst nicht: Irre reden eben irr, in Träumen kann sich eine Logik entfalten, die nicht mehr die des >realistischen< Rahmentextes sein muß. Mit solchen >Texturblasen< wird in der Prosa seit der Jahrhundertwende ausgiebig experimentiert. Wo die texturierten Passagen schließlich den traditionell strukturierten Rahmentext an Umfang und Bedeutung zu überwiegen beginnen, wird der Textstatus ambig. Das ist ζ. B. in Gustav Sacks Erzählung Das Duell der Fall, wo die »Lyrismen« des einen Protagonisten sich gegenüber der Textaussage soweit verselbständigen, daß am Ende unentscheidbar bleibt, wie der Text zu verstehen ist.21 Die texturierte Passage im Duell ist überdies Teil eines nachgelassenen Romanfragmentes namens Paralyse, das auf die strukturierte Referentialisierung (abgesehen vom Titel) ganz verzichtet. Spätestens wo Irren- oder Traumtexte aber zur referenzlosen Simulation werden (ζ. B. in Paul Adlers Nämlich), wird das traditionelle Verständnis (eben als Traum- oder Irrentext) ihnen nicht mehr gerecht. »Die referenzlose Simulation löst die alte Verbindung von Wahnsinn und Krankheit auf, um eine ganz andere herzustellen: die Verbindung von Wahnsinn und Schreiben.«22 Die neuartigen Texturen erfordern demnach eine neuartige literaturwissenschaftliche Beschreibung, die sich vom referentiellen (hier: medizinischen) Vorverständnis freimacht und dazu mit dem an strukturierten Texten entwickelten »Einheitlichkeitsmodell des Verstehens« bricht; dieses »liegt ja sämtlichen Überlegungen zur Hermeneutik zugrunde, die daher um eine entscheidend neue und ihnen entgegengesetzte ergänzt werden müßte.«23

Texturierte Texte, Unverständlichkeit Als Texturen seien verkürzend auch solche Texte bezeichnet, die überwiegend oder ganz aus texturierten Passagen bestehen. Sie bieten dem Leser keine Strukturen mehr, die sie einem traditionell hermeneutischen Verständnis erschließen könnten. Ihr Effekt ist daher der der Unverständlichkeit. 21

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Vgl. dazu und zum ganzen Abschnitt ausführlich: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, 1. Kapitel. Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 21987; S. 314. Jürgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne, S. 63.

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Speziell die Kurzprosa im Umfeld des frühen Expressionismus von der Marinetti-Rezeption bis DADA hat solche unverständlichen Texturen erstmals in extenso erprobt. Sie erfüllten am ehesten die kunstprogrammatische Forderung der emphatischen Moderne nach dem ganz Neuen, dem ganz Anderen, nach der direkt und ohne Traditionsbelastung aus einer >Primärwirklichkeit< (Carl Einstein), aus dem >Geistigen< (Kandinsky) empfangenen Form.24 Aber auch auf den ersten Blick völlig verständliche Texte wie die Prosastücke Robert Walsers erweisen sich als Texturen im obengenannten Sinne. Hier sind zwar die einzelnen Sätze plausibel und verständlich, ihre Kombination und Abfolge dagegen wirkt oft ganz willkürlich und wird aus keiner >inneren< Struktur heraus plausibel. Das vorgegebene Thema (Überschrift) nutzen diese Texte als Lizenz für ein prinzipiell endloses Assoziieren,25 das nur durch die Länge der Aktenbögen begrenzt ist, auf deren Rückseite Walser zu schreiben pflegte. Anhand des Textes Die Schraube aus Theodor Däublers Prosaband Mit silberner Sichel (1916) lassen sich einige Implikationen texturierter Prosa illustrieren.26 Der Text beginnt wie folgt: Die Sterne sind die Vorläufer der Schraube: des Menschen erstes Sternbekenntnis war auch für die Schraube ihr Vorhandensein. Der erste Stem ist überhaupt des Menschen Wunsch zu fliegen: und das, was über uns in heller Schrift am Himmel steht, ist nur das Vorbild zur Schraube. Die Scheinbarkeit der Stemverzackung kann das All befliegen. Die Steme stehn wartend über den vergangnen Schmieden. Es gibt Steme mit vielen Flügeln, denn die Flügelzahl verändert sich, weil sie Tatsachen entscheidet. Die Steme erfliegen unser Auge, oft der gleiche Stern mit fünf, sieben, sechs und noch weniger oder mehr Zitterzacken; Diamanten schwingen, das liegt an Tau und Mondheit oder einem ungeahnten Zwischen-Himmel-und-Erde, die er, der liebe Stern, zu durchfliegen hat. [~.]27

Das liest sich zunächst befremdlich, doch zögert man, gleich von Unverständlichkeit zu sprechen. Die Sätze sind grammatisch intakt, das Vokabular ist vertraut. Erst die Paraphrase-Probe zeigt: ein Inhalt des Textes läßt sich nicht ohne weiteres wiedergeben, Die Schraube muß daher - zunächst jedenfalls - als ein unverständlicher Text gelten. Es bleibt aber festzuhalten der Lektüreeindruck einer weitgehenden ästhetischen Kohärenz und damit verbunden der Verdacht, der Text könne in einem dem Leser noch unbe24

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Vgl. ausführlich: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, 2. Kapitel. Zum diskursiven Umfeld auch: Moritz Baßler, »Lehnstühle werden verrückt«. Spiritismus und emphatische Moderne: Zu einer Fußnote bei Wassily Kandinsky, in: Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne 1/1993, S. 287-307. Vgl. bereits Fritz Kochers Aufsätze [1904] und die hier poetologisch formulierten Schwierigkeiten beim »Freithema« (Zürich/Frankfurt 1986; S. 24-26). Die folgenden Ausführungen zur Schraube präsentieren eine stark verkürzte Fassung des 3. Kapitels aus Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur. Theodor Däubler, Die Schraube, in: T.D., Mit silberner Sichel, Dresden-Hellerau 1916, S. 101-106; S. 101. Angaben hieraus im folgenden in runden Klammern im Haupttext.

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kannten Kontext verständlich werden. Dieser Eindruck prinzipieller Verstehbarkeit entsteht vor allem durch eine thetische, quasi definitorische Diktion: »Die Sterne sind die Vorläufer der Schraube«; »Die Windmühle ist mystisch« (102). Hier werden in klaren Aussagesätzen Zuordnungen definiert, die der Sache nach neu sind, durch das vom Leser mitgebrachte Wissen nicht schon plausibel; sie verfahren demnach nicht mimetisch-beschreibend, sondern stipulativ. »Die Sätze tragen ihr eigenes Maß in sich. Wenn sich zwei Worte verbinden, gibt's eine Gestalt.«28 Sie stiften ihre Verbindungen erst »in der höhern Ebene der Dichtung« (102). Nach diesem Verfahren ist ein Großteil des Textes generiert. Dabei kann man die meisten Zuordnungen durchaus vage mitvollziehen. Sie funktionieren im weitesten Sinne nicht über Referenzen, Kausalbeziehungen oder logische Strukturen, sondern über Gestaltähnlichkeiten und Konfigurationen (Segel - Viertelmond, Schraube - Stern). Schlichte Substantive, die klare Gestalten bezeichnen (Stern, Flügel, Schraube, Mühle, Mond), werden immer wiederholt und einander sowie anderen Substantiven desselben Thesaurus zugeordnet (Tau, Brot, Esel, Herz, Schwan, Tier). So wird im ersten Abschnitt der »Stern« der »Schraube« zugeordnet, beide aber dem »Fliegen« und dem »Flügel«, der »Schmiede« usf. Jede einzelne Zuordnung bleibt akzeptabel, z.T. über mitgedachte Komposita wie >Flügelschraube< oder >FlugzeugpropellerSinn< zu besetzen. Hier liefern die Akrobaten am Trapez die Grundfiguren Pendel, Rad und Sichel. Die Besetzung mit Bedeutung erfolgt ausdrücklich (»Vielleicht sagt so etwas sogar sinnbildlich: [...]«). Ergebnis sind dann thetische Sätze wie »Das Rad [...] bedeutet Todessturz, Niedergang, sichtbare Beschliessung unserer Kreisbestimmung. Kunstgerechtes Akrobatentum ist Höchstmöglichkeit, das Rad zu erbringen [...].«, die sich von einer Beschreibung des Varietes gelöst haben und ebensogut in der Schraube stehen könnten. In Aufenthalt ist die Genese dieser Textur nachvollziehbar. Fraglich bleibt jedoch, ob die hier gegebene Verständlichkeit auch zum Verständnis der Schraube beiträgt. Durch die Sinnbesetzung, die etwa das Rad hier erfährt, werden dortige Sätze wie »Doch das Mühlrad, das ebenfalls ein Stern ist, hat die Form des Kreuzes [...]« (101) oder »Und jede Umdrehung des Rades bezeichnet einen anderen Stern, und jedes Leben von hundert Jahren heißt bei der Mühle Milchstraße« (103) kaum wesentlich erhellt. Es bleibt bei vagen Formanalogien, die Zuordnungen werden durch das Hinzuziehen von Parallelstellen nicht präziser, auch wenn diese in sich verständlicher sind als die Schraube. Das Verfahren der Schraube-Textur ist in Däublers Prosa allgegenwärtig. Zu jeder Verknüpfung Α-B lassen sich in anderen Texten Verknüpfungen AC, B-D, D-Α usw. finden. Doch verdichten und schließen sich diese Setzungen nicht zu einem System, aus dem heraus jede einzelne Setzung sinnvoll und verständlich wäre. Vielmehr kann nach diesem Verfahren ein unendlich erweiterbares Netz geknüpft werden, wird die Generierung einer Textur ermöglicht, die an alles und jedes anschlußfähig ist. Es gibt keinen in sich geschlossenen Metatext, der Däublers Werk zusammenhielte, sondern nur die vielen, nach einem gemeinsamen Verfahren generierten Texte; »es gibt gar keine Erde, sondern bloß ein Erdbeben.« (106) Die Textur, als Ergebnis von Däublers spezifischem Textverfahren, besetzt sämtliche Gegenstände, denen er sich literarisch widmet. Texte, die als Beschreibungen angelegt sind, verlieren ihren referentiellen Bezug, sobald 189

die Textur einsetzt. Kasimir Edschmid hat das von allen Däubler-Interpreten am genauesten beobachtet, schon 1919 schreibt er in Theodor Däubler und die Schule der Abstraktem Natürlich hat er [Däubler] nie Erzählungen geschrieben oder Sachen, die vorgehn. Höchstens daß er auf sie gleich einem Schemel steigt, um rasch da hinauf zu kommen, wohin es ihn zieht. Seine Sätze werden sofort visionär, umnebeln sich, irren im Freien.29

»Natürlich« kann ein Autor, der dem Expressionisten Edschmid Vorbild ist, keine strukturierten Texte verfaßt haben, »Erzählungen oder Sachen, die vorgehn«. Mit dem >Visionärwerden< der Sätze benennt Edschmid den Verlust des Referenzbezuges beim Einsetzen dessen, was wir als Textur bezeichnen. Diese wird damit nicht einfach als referenzlos gedeutet, sondern als »visionäres« Referieren auf etwas Transzendentes oder auch, wie es unten heißt, auf »Seelenzustände«. Auch das virtuell unendliche Kombinationspotential des Däublerschen Verfahrens hat Edschmid gesehen und treffend benannt als das »Sternspiel«: Däublers Sprache ist eigentlich tatsächlich Schnee. Sie setzt sich aus wenigen Flocken in ein Gestöber um, Vision opalisiert sich an Vision der Farben [...]. Er hat in der Sprache keine logische Absicht mehr, sondern vielmehr den Willen, aus ihrer ungeheuren Vielhaftigkeit immer das Sternspiel herauskommen zu lassen, berauscht sich am Anblick und spielt damit immer weiter, bis er rasch in Seelenzustände wieder einschwingt. 30

Logische Argumentationsstruktur wird ersetzt durch ein kombinatorisches Verfahren, ein »Spiel«, das aus einem Thesaurus kleinen Umfangs von überwiegend schlichten Substantiven (»aus wenigen Flocken«) mittels Prädikation in einfachen Aussagesätzen eine unendliche Textur (»ein Gestöber«) generiert. Der Befund ist ein Wuchern der Textur über Däublers gesamtes Werk: »Sterne, Sterne, abermals bloß Sterne.« (114) Däublers Textur ist beschreibbar über das Verfahren ihrer Herstellung, Thesaurus und Verknüpfungsregeln. Man kann dann zeigen, wie nach diesem Verfahren die unterschiedlichsten Texte generiert werden, nämlich all jene, die Däublers Gesamtwerk ausmachen. Der Prozeß dieser Generierung ist jedoch virtuell unendlich, die Textur tendiert zum Wuchern. Das Problem, das sich hieraus ergibt, läßt sich so formulieren: Das Textverfahren kann immer nur die (unendliche) Textur beschreiben, niemals aber den (endlichen) Text. Das Webmuster ergibt einen Stoff, aber jedes konkrete Stück Stoff muß irgendwie zugeschnitten sein, d.h. jeder einzelne Text und wir haben es ja immer nur mit konkreten Texten zu tun, andernfalls wäre die Germanistik eine experimentelle Disziplin - muß eine Struktur

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Kasimir Edschmid, Theodor Däubler und die Schule der Abstrakten [1919], in: K.E., Frühe Manifeste. Epochen des Expressionismus, Hamburg 1957, S. 98-105; S. 100. Kasimir Edschmid, Theodor Däubler, S. 101.

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aufweisen, die ihn definiert, so texturiert er auch sei. Die einfachste Struktur entstünde dadurch, daß aus der Stoffbahn ein Stück abgeschnitten wird, der Text also irgendwo an beliebiger Stelle anfängt und aufhört, ohne daß ihm Gründe dafür inhärent wären. Doch selbst wenn vorgängig einleuchten mag, daß hiermit eine Eigenschaft moderner Texte im Ansatz beschrieben ist, muß klar sein, daß sich kaum ein Text finden wird, der in einem derart extremen Maße texturiert wäre. Die Schraube ist bereits ein höchst texturierter Text, sie wird nicht einmal mit einer verständlichen Passage eingeleitet, die den Referenzbezug sichern würde, sondern beginnt schon als Textur. Um so dringender bleibt die Frage, wovon dieser Text denn nun eigentlich handelt oder was er soll. Eine Bestandsaufnahme der Wörter, die in Däublers Textur verwoben sind, ergab wie gesagt einen begrenzten Thesaurus, dessen zentrale Elemente clusterartig die einzelnen Abschnitte dominieren. Insbesondere die drei Vokabeln >SternFlügel< und >Schraube< mit ihren Ableitungen bestimmen weite Passagen (die Abschnitte I, III, IV, VI und VII). Führt ihre ostinative Verwendung und Kombination mittels des beschriebenen Verfahrens über die vagen Gestaltähnlichkeiten hinaus zu irgendwelchen inhaltlichen Aussagen, die festzuhalten wären? Es gibt ja durchaus Sätze, die formal über das rein Thetische hinausgehen, Konstruktionen wie die folgende: Es gibt Steme mit vielen Flügeln, denn die Flügelzahl verändert sich, weil sie Tatsachen entscheidet. (101)

Es liegt ein hypotaktisches Gebilde mit zwei Kausalsätzen vor: Α (Hauptsatz), denn Β (kausaler Hauptsatz), weil C (kausaler Nebensatz). Α ist eine thetische Setzung im beschriebenen Sinne. Diese Setzung wird nun, trotz des kausalen Modus, durch Β in keiner Weise plausibler. Die »Flügelzahl verändert sich« ist eine weitere freie Setzung, ebenso C, sie entscheide Tatsachen. Die komplexe grammatische Struktur ist semantisch nicht gedeckt. In Abschnitt II herrscht ein signifikant anderes Vokabular vor als in den übrigen Teilen (Zentralbegriffe >Mühle< und >MondSprecherSinn< zentral organisiert, weder von einem Subjekt noch von einem System aus. Textur besetzt traditionelle syntaktische Gefüge und wird von ihnen getragen. Dabei wird die semantische Komponente der Gefüge, ζ. B. daß Kausalsätze Begründungszusammenhänge stiften oder ein Personalpronomen eine Person konstituiert, weitgehend außer Kraft gesetzt. Damit ist eine wesentliche Eigenschaft der Textur benannt, mit der jedoch das individuelle Prosastück Die Schraube noch nicht zureichend beschrieben ist. Der ausführlich dargestellte konfigurative Nexus des Däublerschen Textverfahrens wird ja an einigen Stellen ergänzt und überlagert durch einen zweiten, vage finalen Nexus. Dem »Sternspiel« end- und richtungsloser Verknüpfung der Gestalten bzw. Worte wird im Text immer wieder eine Dynamik unterstellt und ein Vektor zugeordnet. Textsignal hierfür sind die Verbalsubstantive auf -ung. Den traditionellen Fundus (ζ. B. Hoffnung, Erwartung, Erfindung, Zielverheissung) ergänzen Neologismen Däublers wie »Stemverzackung«, »Tierung«, »Wesung« oder, besonders inflationär gebraucht, »Sternung«. Nun aber verheißt der Mensch ein eignes Sternbild: alle Wirbel der Schraube heißen Sternung: sämtliche Flüge über den Ozean heißen Sternung: unsre Flügelschläge durch die Luft heißen Sternung. (103)

Wiederum bleibt die semantische Bedeutung der auffälligen syntaktischen Fügung, hier über die Doppelpunkte, unklar. Das Wort »Sternung« ist eher als Nomen acti zu lesen denn als Nomen actionis: die Dynamik ist immer schon eine nominalisierte, nur als solche kann sie in Däublers statischem Stil figurieren, in einer Textur repräsentiert sein, die sich über Substantivzuordnungen konstituiert. Es ist bezeichnend, daß der dichteste Cluster solcher Nomina gerade im V. Abschnitt auftritt, der ganz aus Fragen besteht, dessen Setzungen also am wenigsten autoritär daherkommen. Das dynamische Moment, der Vektor, schlägt auch in Ansätzen zu rhetorischen Strukturen durch: wo von Verheißung, vom »Ende der Höllenangst«, von vorbedeuteter Ewigkeit (103) die Rede ist, werden Formen einer bekannten teleologischen Rhetorik zitiert, an die eine »gläubige« Lesart (s.u.) anknüpfen könnte. Solche Textsignale häufen sich am Ende der Schraube, wo der Text zum Hymnus wird, in ein alternierendes Metrum fällt, Stabreim bemüht und einen prophetisch-imperativischen Gestus annimmt:

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LASST sie FLIEgen, EUre DRAchen, GEBT euch AUF in PILgerSTIMen! was ihr freigebt, will, weil wunschgewesen, doch nach Haus zum Sterne, und der Stem ist deine Zielverheissung tief im Ich. (106; Hervorhebungen nicht im Original)

Der rhetorische Gestus ist hier eindeutig, doch bleibt er, wie zuvor schon die grammatischen Strukturen, semantisch völlig unterbestimmt. Der Text bleibt auch hier texturiert und damit unverständlich.

Gläubige Lesarten Dennoch sind die rhetorischen Strukturen vorhanden und können als Leseanweisungen fungieren für eine »gläubige« Lesart, d.h. eine Lesart, die sich über die Texturiertheit des Textes und damit über seine erklärungsbedürftigsten Phänomene hinwegsetzt und, ausgehend von wenigen ausgesuchten Textsignalen, einen Sinn konstruiert, der für das Ganze einstehen soll. Eine solche Lesart versteht den Text, aber sie versteht den Text nicht. Sie kommt zunächst als jener hermeneutische Reflex zustande, den Gadamer als »Ausgangserfahrung« des Hermeneuten beschreibt: Von diesem Vorverständnis [...], das einem die Dichtung selber aufnötigt, muß ausgegangen werden, wenn man zu verstehen sucht, wie davon die Rede ist, das heißt, es muß der Verständnis- und Auslegungshorizont gewonnen werden, innerhalb dessen die dichterische Aussage in ihrer Genauigkeit vollziehbar wird.31

Die hermeneutische »Ausgangserfahrung« umfaßt also erstens den Eindruck der Unverständlichkeit des Textes,32 zweitens ein »Vorverständnis«, also eine hypothetische Formulierung der Text»aussage«, die »einem die Dichtung selber aufnötigt«, die also von gegebenen Textsignalen ausgeht, und drittens die Überzeugung, von diesem Vorverständnis aus sei der »Text als sinnvoll und sprechend wiederzugewinnen, der sich als fremd und befremdlich zu verbergen schien.«33 Punkt 1 und 2 sind bei der Schraube erfüllt: der Text ist unverständlich, es gibt jedoch Textsignale, die eine vorgängige Sinnkonstruktion ermutigen. Man könnte ζ. B. meinen, es ginge in diesem Text um die Einordnung neuester Technik (Schraube: Flugzeugpropeller und Dampferschraube) in ein final bestimmtes Geschehen: die Gestalt des Sterns, zugleich am Himmel und »Zielverheissung tief im Ich«, werde dynamisiert (»Sternung«) zur gestaltgleichen »Schraube«, die als Propeller den »Flug« ermöglicht (»sämtliche

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Hans-Georg Gadamer, Mythopoietische Umkehr in Rilkes Duineser Elegien, in: H.G., Kleine Schriften II: Interpretationen, Tübingen 1967, S. 194-209; S. 197. Gadamer (Mythopoietische Umkehr, S. 194) bezeichnet es ja ausdrücklich als »die ursprüngliche hermeneutische Aufgabe, Unverständliches zu erklären«. Hans-Georg Gadamer, Mythopoietische Umkehr, S. 209.

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Flüge über den Ozean heissen Sternung«) und damit den Menschen seinem (vom Stern) verheissenen Ziel näherbringt. Von diesem durchaus noch unklaren Vorverständnis aus muß nach Gadamer jetzt der Interpretationsprozeß (nach Punkt 3) einsetzen, in dem sich die einzelnen Teile des Textes von diesem Ganzen aus erschließen und ihrerseits dazu beitragen, das Gesamtverständnis zu klären, zu präzisieren und nötigenfalls zu korrigieren. In der Erwartung, solcherart in den hermeneutischen Zirkel einzusteigen, stößt der Interpret im Falle des vorliegenden Textes auf die Textur. Die Details des Textes stützen die Ansätze traditioneller Struktur nicht, von denen her sich das Vorverständnis formulierte. Es wurde oben gezeigt, daß genau das Gegenteil der Fall ist: die Textur entwertet die Strukturen, indem sie ihre vorangenommene Semantik entwertet bis negiert. Damit ist die basale Selbstreferenz blockiert, der der hermeneutische Zirkel entspricht. Die Schraube enttäuscht also die oben als Punkt 3 formulierte Erwartung. Der Text wird nicht über das Vorverständnis hinaus »sinnvoll und sprechend«, er bleibt »fremd und befremdlich«. Der redliche Hermeneut hätte daraufhin das Vorverständnis fallenzulassen, die Unverständlichkeit des Textes als bleibende einzugestehen und die Interpretation auszusetzen. Eine »gläubige« Lesart verweigert sich dieser Konsequenz. Sie bleibt gleichsam die rudimentäre hermeneutische Lesart, indem sie das konstruierte Vorverständnis zu der endgültigen Lesart verabsolutiert, obwohl diese im hermeneutischen Interpretationsprozeß nicht verifiziert werden konnte. Dabei nimmt sie hohe Kosten dafür in Kauf, daß ihr Unverständlichkeit in gelungenen literarischen Texten eine Undenkbarkeit bleibt; denn irgendwie müssen die semantischen Probleme der Textur immer kompensiert werden. Eine gängige Kompensationsstrategie besteht ζ. B. darin, die eigentlich erklärungsbedürftigen Textphänomene und -passagen kaum zu berühren und von Dingen zu handeln, die ohnehin nicht unklar waren. Viel weiterreichende Konsequenzen haben jedoch die Versuche, den unübersehbaren Dunkelheiten der Textur einen hypothetischen Sinn zu unterlegen, dessen Bedeutsamkeit und Autorität dann die eines gewöhnlichen literarischen Textes weit übersteigt. Angesichts eines solchen starken, aber transzendenten Signifikats wird die Interpretation zur Exegese.34 Die quasi-religiösen Tendenzen dieser Praxis sind eindeutig, so daß »gläubige Lesart« hinfort als terminus technicus ohne Anführungszeichen stehen darf.

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Zur Däubler-Rezeption vgl. Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S .71-78.

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Semiose Die Däublersche Textur ist in der Schraube von rhetorischen Strukturen überformt. Diese sind jedoch nicht stark genug, die Texturphänomene in ein hermeneutisches Verstehen rückzubinden. Die thetischen Setzungen sind im einzelnen oft nachvollziehbar, stiften aber keine systematischen Konstrukte über den Satzzusammenhang hinaus. Die Einheit des Textes liegt demnach in diesem Verfahren und nicht in irgendeinem Signifikat (ζ. B. einem Inhalt, einem Subjekt, einer Theorie), auf das er verwiese. Das Verfahren der Schraube verweigert überkommene (kausale, psychologische, beschreibende) Zusammenhänge und stiftet neue. Ohne ideologische Botschaft, ohne programmatischen Subtext fällt dabei jeder so gestiftete Zusammenhang aus seiner momentanen inhaltlichen Bedeutung gleichsam im Weiterlesen zurück in eine rein formale. Die Setzung trägt immer nur einen Satz weit. So setzt der stark texturierte Text ein Spiel mit Unverständlichkeit und Verstehen in Gang, indem er zu bestimmten Lesarten verführt, nur um sie gleich wieder zu enttäuschen. Moderne Texturen dieser Art haben mit den Verfahren des technischen Historismus im engeren Sinne35 kaum noch Ähnlichkeit. Sie stellen jedoch das genaue textuelle Analogon zur historistischen Grundsituation virtuell unendlicher Datenfülle ohne ausgezeichnete Ordnungsmuster dar. Die bloße Masse der verfügbaren Lexeme ist unübersehbar geworden, aber erst ihre generelle Freisetzung aus vorgegebenen Strukturzusammenhängen wird entscheidend für die Semiose moderner Literatur: virtuell unendlich geworden sind dadurch vor allem die Möglichkeiten textueller Verknüpfung.36 Die historistische Grundsituation kennzeichnet die literarische Moderne also primär als Vertextungsproblem,37 Die Unangemessenheit einer hermeneutisch bestimmten Literaturwissenschaft gegenüber den Texturen besonders der emphatischen Moderne ab etwa 1910 läßt sich als Resultat einer Strukturerwartung beschreiben, die alte Rezeptionsmuster perpetuiert, weil sie die Konsequenzen historistischer Enthierarchisierung für das literarische Material nicht berücksichtigt. Weil aber auch die Rezeptionsseite, der Diskurs über moderne Literatur, über die Strukturen, die diese Literatur verweigert, nicht verfügen kann, steht der Interpret selbst angesichts modemer Texturen

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Vgl. Kapitel I 1: Historismus. Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs. Zur Enthierarchisierung der Lexeme in literarischen Texten tragen - über die zahlreichen Diskurseffekte, von denen dieses Buch handelt, hinaus - auch relativistische Effekte bei, die speziell literarische Ordnungsmuster betreffen: etwa die Historisierung der Gattungen, die aus den gegebenen »Naturformen der Poesie« (Goethe) historisch gewordene und damit verfügbare, aber auch umgehbare Schemata literarischer Strukturierung macht. Vgl. dazu besonders den III. Teil dieses Buches.

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vor dem historistischen Dilemma.38 Als bescheidenste Art der Erfassung jener Textphänomene, angesichts derer seine erlernten Schemata nicht greifen, ziemt ihm daher zunächst jener >glückliche PositivismusAmbiguität< zunächst generell als Platzhalter dient »zur Bezeichnung der Effekte noch nicht ausgemachter Semiosis.«40 Bereits die knappen Andeutungen zum rhetorischen Katalog, zum Verweisungsnetz der Däublerschen Textur, zur Entleerung grammatischer und rhetorischer Formen und zur beharrenden Semiose der Reststrukturen zeigen, daß sich hier ein weites Feld öffnet, mit sehr viel komplexeren Effekten, als das Schlagwort >Ambiguität< und die Beispiele, die Bode selber gibt, vermuten lassen.41 Die detaillierte Erforschung und Beschreibung dieser Effekte steckt noch ganz in den Anfängen. Sie allein kann jedoch der Weg sein, die ganzheitlichen hermeneutischen Sinn- und Unsinnsbesetzungen, die bis heute das Gros der Forschungsliteratur bestimmen, ein für alle Mal abzulösen. Voraussetzung wäre, daß man auf die spezifischen semantischen Bedingungen moderner Textur reflektiert, bevor man versteht.

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Für literarhistorische Fragestellungen ist dieses Problem bereits erkannt und beschrieben. Vgl. Moritz Baßler, Einleitung, in: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt 1995, S. 7-28. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, übersetzt von U. Koppen, Frankfurt 4 1990; S. 182. Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, S. 142. Oder auch das Prinzip der >MontageTiefe< einer Bedeutung aus organisiert, sondern als neu- und eigengesetzliche Organisationen eines Sprachmaterials zu beschreiben, das in der gigantischen Amplifikations- und Desemantisierungsmaschinerie des Historismus frei geworden war. Paradigma dieser >unverständlichen< Moderne ist seit jeher vor allem die hermetische Lyrik von Mallarme bis Celan und darüber hinaus gewesen. 1 Eben diese Lyrik gilt aber bis heute zugleich als das Paradigma literarischen Tiefsinns. Die hermetischen Gedichte werden - emphatischer als andere Literatur - als »Vorstoß an die Grenze des Sagbaren« gelesen, als Signifikanten für eine »Transzendenz«, für eine »Idee des Absoluten«, die zugleich als »Gedanke des Nichts«, dem letztlich nur das »Schweigen« gemäß wäre, mit Schauder erfüllt.2 In einer sinnentleerten Welt wird der hermetische Dichter vom Typ Celan zum letzten Garanten eines absoluten Sinns und zugleich zu dessen Märtyrer: Ausgesetzt an der Grenze der Sprache wird er nicht müde, in seinen Worten Vorstöße ins Wortlose zu unternehmen. Die Vergeblichkeit seiner Bemühung mag Wahnsinn und Tod zur Folge haben. Aber sein Untergang wird nicht verhindern können, daß sein hoffnungslos-verheißungsvolles Abenteuer im Unbetretenen Nachfolger findet. [...] Die Kunst lebt fort, solange der Künstler bereit ist, sich der tödlichen Herausforderung des Absoluten zu stellen.3

Angesichts hermetischer Lyrik bemüht die Prosa der Literaturwissenschaft gelegentlich von poetologischen Äußerungen der Autoren gestützt - die 1

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Vgl. den einflußreichen Kolloquiumsband: Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, Hg. W. Iser, München 1966 (= Poetik und Hermeneutik 2). Dazu Hans-Georg Gadamers Rezension: Lyrik als Paradigma der Moderne [1968], in: H.G., Kleine Schriften IV: Variationen, Tübingen 1977, S. 249-255. Alle Formulierungen aus dem Mallarm£-Kapitel in: Paul Hoffmann, Symbolismus, München 1987, S. 120-139, das sich in dieser Hinsicht übrigens zurückhaltend gibt. William H. Rey, Poesie der Antipoesie. Moderne deutsche Lyrik. Genesis-Theorie-Struktur, Heidelberg 1978; S. 187.

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großen Signifikanten des Abendlandes (Wahnsinn, Tod, Untergang, Abenteuer, das Absolute),4 schwingt sich auf zu Hagiographie und Prophetie und wird so nicht selten zur halbherzigen Imitation ihres Gegenstandes.5 Rhetorik dieser Art verträgt sich dabei durchaus mit genauen Formanalysen der Texte. Ein konkurrierendes Sprachspiel angesichts desselben Phänomens behauptet - vor allem nach 1945 - eine besondere >Exaktheit< der Erkenntnisund Definitionsleistung der Lyrik. Ein Roman von vierhundert Seiten enthält möglicherweise ebensoviel an Definition wie ein Gedicht von vier Versen. Ich bin bereit, diesen Roman zu den Gedichten zu zählen.

erklärt Günter Eich in Vezelay,6 und drei Jahre später soll diese Idealkonkurrenz nicht mehr nur zur literarischen Prosa, sondern zu den menschlichen Erkenntnisformen überhaupt bestehen: Sie [die Sprache der Dichtung] gehört zu unseren Möglichkeiten der Erkenntnis, ich bin geneigt zu sagen, sie ist diese Möglichkeit. Sie ist exakt.7

Auch hinter diesen selbstbewußten Formulierungen verbirgt sich freilich vor allem die Unmöglichkeit zu sagen, was denn qua Lyrik definiert und erkannt wird. Die Exaktheit einer Übersetzung aus einem nicht vorhandenen Urtext8 ist ein Paradox, das Wesen und Ort des Gesagten ebenfalls im >Wortlosen< und >Unbetretenen< läßt - wobei es sich eben »weitgehend um ein religiöses Gebiet« handelt.9 Beide Redeweisen über Lyrik laufen auf dasselbe hinaus: auf die Vorstellung, der Dichter verfüge irgendwie über ein »heimliches Wissen [...], seine Kunst korrespondiere an jeder Stelle mit dem Weltgrund«10; wobei dieses Wissen — zugleich gewisser und problematischer als alles prosaische Wissen - freilich »unaussprechlich« bzw. eben nur in Lyrik sagbar ist. Kurz - das vorderhand Unverständliche suggeriert, vor allem in der Lyrik, eine beson-

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Noch Adornos folgenreiches Diktum über Lyrik nach Auschwitz gehört in diesen Zusammenhang. Oben zitierte Stelle beginnt ζ. B., vermutlich unbeabsichtigt, mit einem verdeckten RilkeZitat (»Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens«). Günter Eich, Der Schriftsteller vor der Realität [1956], in: G.E., Gesammelte Werke, Hg. von Axel Vieregg, Frankfurt 1991, Bd. 4, S. 613/614; S. 614. Günter Eich, Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises [1959], in: Ges. Werke 4, S. 615-627; S. 619. Vgl. Günter Eich, Der Schriftsteller vor der Realität, S. 613. Günter Eich, Die etablierte Schöpfung. Ein Gespräch mit dem >neuen< Günter Eich, in: Ges. Werke 4, S. 533/34; S. 534. Ulrich Schödlbauer, Die Modernitätsfalle der Lyrik, in: Merkur 49/1995, S. 171-177; S. 173.

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dere, man darf mit allen Vorbehalten des >dopo Nietzsche< sagen: religiöse Tiefe der Bedeutung. Erst die Gewißheit dieser Bedeutung lizensiert dann die exakte Beschreibung der poetischen Verfahren, die in der Lyrikrezeption weiter entwickelt ist und akribischer betrieben wird als irgendwo sonst.11 Diese wirkmächtige Qualität der Lyrik, die Erstleser so gut bezeugen wie Literaturprofessoren, Zeitgenossen so gut wie Nachgeborene, ist nicht mit dem Hinweis auf die >gläubige Lesartsouveraine< Wort Ist Morgensterns Fisches Nachtgesang »das tiefste deutsche Gedicht« (wie Jeremias Mueller lakonisch kommentiert12) oder ein harmloser literarischer Scherz? Ist Hofmannsthals Lebenslied ein hermetisches Gedicht über die tiefen Dinge des Lebens oder eine Spieltextur, freigesetzt über die Lizenz eines beliebigen >LebensFormStils< erklärt. Lyrik, als die im Vergleich zur Prosa traditionell >dichtereprosaische< Medium mitteilender Sprache« als Material verwende.18 Die auf diese theoretische Einsicht folgende Praxis läuft auf eine Lesart hinaus, die sich dem Textsinn über die je individuelle »immanente Poetologie« des jeweiligen Oeuvres nähert. Vor allem die Kolloquiumsdiskussion zeigt allerdings, daß auch hier das hermeneutische Verstehensprinzip im Grunde nicht angetastet wird. Auch wo es sich offensichtlich nicht mehr um die klassischen Spielarten der obscuritas (die dem gelehrten Wissen bei modemer Hermetik immer wieder einfallen), auch nicht um das Prinzip des beau desordre handelt (der werkimmanent die immer vorausgesetzte Ordnung nur retardiert), bleibt die Frage nur, »ob die Dichtung durch den Leser gleichsam zu Ende gedichtet werden soll, oder ob man den Text, so wie er ist, entschlüsseln soll.«19 Daß es ein Ende, einen geschlossenen und vollständigen Sinn geben muß, bleibt die nicht eigens explizierte Prämisse. Moderne Texturen bleiben in dieser Sicht bloße Grenzfälle einer durchgängig gültigen Abweichungsästhetik. Der Locus classicus für den Gegenentwurf zu diesem organologischen Textverständnis ist die Decadence-Definition Nietzsches im Fall Wagner: - Womit kennzeichnet sich jede litterarische d6cadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des

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Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 149. Karlheinz Stierle, Möglichkeiten des dunklen Stils in den Anfängen moderner Lyrik in Frankreich, in: Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion, S. 157-194; S. 158. Vgl. bereits Hans Robert Jauß, Zur Frage der Struktureinheit älterer und moderner Lyrik, in: GRM 41/1960, S. 231-266. Manfred Fuhrmann in der Diskussion zu: Syntax in dunkler Lyrik. Nerval - Mallarmi, in: Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion, S. 443-452; S. 444.

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Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der cadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens [...]. Das Leben, gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde rückgedrängt, der Rest arm an Leben. [...] Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist sammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. - 20

dedie zuzu-

Nietzsche vermeidet hier bereits einen Irrtum, dem die hermeneutikgeleitete Literaturwissenschaft seither immer wieder aufgesessen ist, nämlich >decadence< inhaltlich zu nehmen.21 Seine Diagnose ist frei von aller Kulturnostalgie; hier geht kein Abendland unter, der Dekadenzdiskurs wird vielmehr aufgegriffen, um einen Paradigmawechsel in Sachen Textorganisation zu beschreiben. Das Textganze sei »kein Ganzes«, d. h. keine selbstverständlich gegebene organische und sinntragende Einheit mehr. Diesem natürlichen Textbegriff wird ein >künstlicher< entgegengesetzt, der Begriff des Artefakts. Aber - und hier unterscheidet sich Nietzsche von seinen kulturpessimistischen Nachfolgern - dieses moderne Artefakt hat nicht etwa weniger »Leben« als das alte Kunstwerk, vielmehr gilt Mayers Energieerhaltungssatz auch in der Literatur: »die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens« gibt es auch hier, nur sitzt sie im Detail, in den »kleinsten Gebilden«, und nicht mehr im Ganzen. Unter dem Stichwort »Leben« wird hier also die Frage der Semiose behandelt. Das »Leben« eines Textes ist sein Sinn, und dieser wird im modernen Artefakt nicht mehr vom Ganzen, vom »Willen« einer Aussageintention her garantiert, sondern ist in die Partikel abgewandert - »das Wort« ist in seinem semantischen Potential »souverain« geworden gegenüber den Prinzipien seiner Vertextung. Diese »Disgregation des Willens« schwächt jedoch den Willen nicht, sondern weist ihm einen neuen Ort (oder besser: viele neue Orte) zu, den Willen-zur-Macht-Kampf der Textatome, der offenbar von keiner umfassenden Bedeutung mehr eingebunden und kontrolliert werden kann. Der Paradigmawechsel, der hier unter »decadence« beschrieben wird, verlegt den Schwerpunkt literarischer Sinngebung von der übergreifenden Struktur in die anarchischen Elemente der Textur. An was für Texte Nietzsche (und Bourget, auf den er hier rekurriert) auch gedacht haben mag, die Befreiung und Auratisierung des Wortes, die er diagnostiziert, prägt die Programmatik der klassischen Moderne bis zu den Futuristen (>parole in libertäKunst< wie eh und je gegeben ist«,25 findet sich nicht mehr im Kunstwerk als entschlüsselbare Aussage, sondern das diskursive Umfeld legt fest, wie das an sich Unverständliche >gemeint< ist. »Gemeintes«, sagt Gadamer, »ist immer unbestimmt und daher mannigfacher Ausfüllung fähig - das Ausgeführte dagegen ist fixiert und damit dem Veralten preisgegeben.« Für die hermetischen Texte der Moderne gilt genau das Gegenteil: das Ausgeführte ist als Fixiertes, d. h. als Text, immer neuer semantischer Ausfüllung fähig, während das 24

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Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1973, ζ. B. S. 39, 231-234; sowie Gotthart Wunberg, Hermetik - Änigmatik - Aphasie, bes. S. 246-249. Hans-Georg Gadamer, Lyrik als Paradigma der Moderne, S. 251.

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je Gemeinte historisch kontingent ist.26 Damit sind solche Texte prinzipiell der Möglichkeit enharmonischer Verwechselungen ausgesetzt, von Nonsens zu Tiefsinn (ζ. B. Morgenstern), von Kitsch zu großer Kunst (ζ. B. Trakl,27 Rilke), von Bluff zu weiser Verkündigung (ζ. B. Däubler28), von Irrenrede zu souveräner Sprachartistik (ζ. B. Walser) usw. in verschiedenen Kombinationen. Ein hübsches Beispiel einer solchen Verwechselung findet sich in der australischen Literatur mit dem sogenannten »Ern Malley-Jux«. 1944 publizierte die Avantgardezeitschrift Angry Penguins 16 Gedichte eines gewissen Ern Malley, die, wie sich später herausstellte, von den traditionalistischen Dichtern James McAuley und Harold Stewart angefertigt und unter falschem Namen an den Herausgeber Max Harris geschickt worden waren, um auf diese Weise »the gradual decay of meaning and craftsmanship in poetry«, den Verfall von Sinn und handwerklichem Können in der modernen Lyrik bloßzustellen. McAuley und Stewart hatten die Gedichte angeblich an einem Nachmittag zusammengeschustert: Wir schlugen willkürlich irgendwelche Bücher auf und pickten zufallig ein Wort oder eine Formulierung heraus. Diese listeten wir auf und verwoben sie zu unsinnigen Sätzen. Wir zitierten verkehrt und machten falsche Anspielungen. 29

Gewebe, hergestellt aus Thesauren (»Listen«) von Lexemen, die aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen isoliert wurden, nach Verknüpfungsregeln, die semantische Eindeutigkeit unterlaufen - das Verfahren moderner Texturen ist hier tatsächlich treffend beschrieben. Daß moderne Lyrik auf diese Weise diskreditierbar sei, beruht freilich »auf der Annahme, daß literarische Komposition nur das Werk eines einzelnen Geistes sein kann, der auf eine kohärente Bedeutung abzielt, daß diese Bedeutung dem Text durch den Geist des Autors gegeben ist«30 - eine Annahme, die die Scherzbolde als traditionelle Hermeneuten ausweist. Entsprechend wurden die Gedichte Malleys (The Darkening Ecliptic) auch nach der Aufdeckung des Juxes von

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Hans-Georg Gadamer, Lyrik als Paradigma der Moderne, S. 255. Mit sehr viel »gutem Willen« könnte man Gadamers Schlußsatz auch in dem Sinne lesen, wie er hier korrigiert wird. Zur Möglichkeit, Trakl für Kitsch zu halten, vgl. Wolfgang Preisendanz, Auflösung und Verdinglichung in den Gedichten Georg Trakls, in: Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion, S. 227-261; S. 261. Vgl. zur Däubler-Rezeption ausführlich: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, 3. Kapitel. »We opened books at random, choosing a word or a phrase haphazardly. We made lists of these and wove them into nonsensical sentences. We misquoted and made false allusions.«, zit. n. Artikel >Ern Malley HoaxLyrik< in Prosatexte eingefügt, ζ. B. bei Peter Altenberg,40 texturierte Passagen innerhalb eines strukturierten Prosatextes wurden nicht nur als Traum oder Irrenrede, sondern gelegentlich auch als »Lyrismen« deklariert;41 auf einer Metaebene wird dies bereits reflektiert in Carl Einsteins Erzählung G.F.R.G.42. Auch die zeitgenössische Rezeption reagiert auf die neuartigen Texturen der Expressionisten mit dem entsprechenden Muster: Georg Heyms Novellen (Der Dieb) ζ. B. seien »kaum Novellen zu nennen, sondern schon Lyrik in Prosa« (Kurt Kersten), Benns Gehirne »Gedankenlyrik, die leuchtende, musikalische Prosa wurde« (Max Herrmann-Neiße) 43 Solche Urteile gehen mit einer positiven Wertung einher, sie verstehen sich als Ehrenrettung des sonst - als Prosa - unverständlichen Neuen. In gleichem Sinne, aber abwertend, betont im Rückblick noch Karl Otten, die »erzählende Prosa« vieler Expressionisten - »wenn sie solche überhaupt geschrieben haben« stelle »bestenfalls Verse in Prosa dar«.44 Auch in der Forschungsliteratur wird die »lyrische Tendenz expressionistischen Erzählens« hervorgehoben. So behauptet Thomas Rietzschel:

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Ulrich Schödlbauer, Die Modernitätsfalle der Lyrik, S. 171. Ernst Stadler, Dichtungen-Schriften-Briefe, Kritische Ausgabe, Hg. K. Hurlebusch/K.L. Schneider, München 1983; S. 343 (in einer Rezension des Bebuquin von 1912). Akolö's Gesang, Akold's süßes Lied, in: Peter Altenberg: Wie ich es sehe [1897], Berlin 1910, S. 314/315. Vgl. dazu ausführlich: Dirk Niefanger, Produktiver Historismus, S. 8 2 84. Z.B. in: Gustav Sack, Das Duell, in: Die Ähre 1914. Vgl. dazu ausführlich: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 26-29. Carl Einstein, G.F.R.G. [1913/18], in: Werke Bd. 1, S. 135-165. Vgl. dazu ausführlich: Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 51-55. Kurt Kersten, Georg Heym. »Der Dieb«. Ein Novellenbuch [1913], in: Karl Ludwig Schneider/Gerhard Burckhardt (Hg.), Georg Heym. Dokumente zu seinem Leben und Werk, o.O. 1968, S. 269-271; S. 270. Max Herrmann-Neiße, Gottfried Benns Prosa, zit. n. Benn - Wirkung wider Willen, Hg. Peter Uwe Hohendahl, Frankfurt 1971; S. 130. Karl Otten, Die expressionistische Generation [1957], in: Ahnung und Aufbruch, Hg. K.O., Darmstadt/Neuwied 2 1984, S. 11-39; S. 11.

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Expressionistische Prosa ist meist erzählende Lyrik oder lyrisierende Erzählung, weil sie einen mehr oder weniger epischen Stoff lyrisch behandelt, weil der >epische< Text vermittelt, was bislang vornehmlich die Lyrik ausdrückte.45

Argumentativer Bezugspunkt ist hier das Gattungsschema Hegels, nach dem Lyrik bekanntlich unmittelbarer Ausdruck von Subjektivität ist. Die Einheit des lyrischen Werkes wird demnach nicht durch eine Sache, einen verständlichen Inhalt garantiert, sondern durch »die subjektive innere Bewegung und Auffassungsweise«,46 die weiter keines objektiven Ausweises bedarf. Darin ist bereits eine Lizenz zur Unverständlichkeit enthalten, wenn Hegel selber betont: In dieser Rücksicht erweist sich selbst das ganz leere Lirum-larum, das Singen und Trällern rein um des Singens willen als echt lyrische Befriedigung des Gemüts, dem die Worte mehr oder weniger bloße gleichgültige Vehikel für die Äußerung der Heiterkeiten und Schmerzen werden [...].47

Was liegt also näher, als »das ganz leere Lirum-larum« texturierter Lyrik und Prosa über das Paradigma Lyrik der subjektiven Befindlichkeit des modernen Autors in seiner Dauerkrise zuzuschreiben? Dabei wird allerdings übersehen, daß das Paradigma Subjektivität - jedenfalls in seinem traditionellen Sinn - zur Beschreibung lyrischer Textverfahren spätestens mit »Baudelaires Neubeginn« obsolet geworden ist.48 Gerade in der strukturierten Prosa des 19. Jahrhunderts waren die Verfahren zur Repräsentation von Innerlichkeit in den Techniken erlebter Rede, personaler Erzählung und inneren Monologes enorm verfeinert worden. Die Ästhetik der Ambiguität, die mit den Symbolisten zum Spezifikum literarischer Moderne wurde, ist dagegen als Produkt einer »Bewußtlosigkeit, die dichtet« (Döblin), als lyrische Selbstaussage ohne objektivierende Gestaltung nicht mehr hinreichend zu fassen 49 Was Rietzschel und seine Kronzeugen mit >Lyrisierung< meinen, ist mit >Texturierung< besser beschrieben. Ähnliches gilt für die ebenfalls von Baudelaire begründete und im Symbolismus festgeschriebene Tradition des Prosagedichtes. Fülleboms Versuch, diese Gattung auch literaturwissenschaftlich-definitorisch in den Griff zu bekommen, läuft, wie an anderer Stelle gezeigt, eben nicht auf eine Gattungsbestimmung hinaus, sondern auf den Begriff dessen, was hier Textur

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Thomas Rietzschel, »Prosa wird wieder Dichtung«. Die lyrische Tendenz expressionistischen Erzählens, in: Weimarer Beiträge 25/1979, S. 75-99. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik Bd. 2, Hg. F. Bassenge, Berlin 4 1985; darin: Die lyrische Poesie, S. 469-512; S. 477. Friedrich Hegel, Ästhetik Bd. 2, S. 479. Vgl. Schödlbauer, Die Modernitätsfalle der Lyrik, S. 172. Vgl. Thomas Rietzschel, »Prosa wird wieder Dichtung«, S. 91, mit Bezug auf Alfred Döblin, Der Bau des epischen Werkes.

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heißt.50 Als wesentliches Kriterium gilt ihm insbesondere die Eigenschaft des Poeme en prose, »auf sich als sprachliches Gebilde zu zeigen, indem es die ästhetischen Elemente sowie die gedanklichen und sachlichen Inhalte zurücktreten läßt zugunsten der formalen Seite der Sprache.«51 Folgerichtig ist Fülleborn bereit, auch den Werther oder Hemingways Erzählungen unter die Prosagedichte zu rechnen (man denke an Eich in Vezelay). Noch Stefan Nienhaus benennt die »Nichtvertauschbarkeit des Textelements auf der syntagmatischen Ebene, die strukturelle Abhängigkeit aller Elemente voneinander, bei denen jeder Ortswechsel eine Bedeutungsveränderung zur Folge hat«, als »das wichtigste Merkmal, das das Prosagedicht mit dem Versgedicht verbindet.«52 Das Primat der Form gegenüber allem etwa Gemeinten, die apodiktische Setzung, die über poetische, nicht inhaltliche Logik geregelte Verknüpfung der Textelemente, kurz: die Eigenschaften des nicht-organologischen Artefakts, des texturierten Textes sind hier deutlich benannt. Daß sie im klassischen Gattungsschema zunächst mit Lyrik assoziiert und zuweilen gleichgesetzt wurden, ist verständlich, für eine Theoriebildung zur literarischen Moderne jedoch nicht anschlußfähig. Gerade das Aufkommen des Poeme en prose ist vielmehr als Indiz dafür zu nehmen, daß dieses klassische Gattungsschema nicht länger trägt. Natürlich gibt es seit Baudelaire, Mallarme und Rimbaud eine Gattungstradition des Prosagedichts, die auch in der deutschen Literatur gewirkt hat, vor allem in der Wiener Moderne. Fülleborns formaler Definitionsversuch, mit seiner Folge einer inflationären Ausweitung der Gattungsbezeichnung auf nahezu jede Art formal anspruchsvoller Prosatexturen, auch wenn sie fraglos anderen Gattungszusammenhängen zugehören (ζ. B. dem der Short story) oder gar nur Teile anderer Texte sind (ζ. B. Briefe aus dem Werther), verweist auf das übergeordnete Problem. Das Prosagedicht entsteht als ein Vehikel, in Prosa mit >lyrischen< Schreibweisen, d. h. mit formal bestimmten Texturen zu experimentieren. Es ist dabei gleichursprünglich mit einer Textur moderner Lyrik, die sich von ihren eigenen Gattungsvorgaben weitgehend befreit, neue Wege der Semiose einschlägt und dabei in den freien Versen zunehmend dem ähnlich sieht, was man bislang nur als Prosa kannte. Beide Gattungen sind damit zu lesen als Reaktionen auf eine historistische Verselbständigung des sprachlichen Materials, dessen Ordnung durch vorgegebene Gattungsstrukturen obsolet und d. h. nur noch im historisti-

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Vgl. Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 186/187; zu: Ulrich Fülleborn, Das deutsche Prosagedicht. Zu Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1970; vgl. auch Gotthart Wunberg, »Ohne Rücksicht auf Inhalt - lauter Venerabilia«. Überlegungen zu den Prosagedichten Hugo von Hofmannsthals, in: Austriaca 37/1993, S. 319-331. Ulrich Füllebom, Einleitung, in: Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts, München 1976; S. 41. Stefan Nienhaus, Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende. Altenberg - Hofmannsthal - Polgar, Berlin/New York 1986; S. 20.

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sehen Zitat möglich scheint. Es ist also nicht so, daß hier Lyrik und Prosa partiell ihre Funktionen tauschen: beide Gattungen verfallen dem historistischen Paradigmawechsel literarischer Semiose. Das traditionelle Gattungsschema wird transzendiert durch die Entdeckung der Textur. Die Gattung Prosagedicht wird in der Folge auf ihre symbolistischen und Fin de siecle-Formen festgeschrieben, was spätere explizite Rückgriffe auf die Tradition nur bestätigen. Das Experimentieren mit Texturen dagegen greift spätestens in der emphatischen Moderne auf alle literarischen Gattungen über. So sind die Prosastücke von Robert Walser oder Else LaskerSchüler, die unverständliche Kurzprosa der Expressionisten oder die Maulwürfe und ihre Verwandten nach 1945 Beispiele für eine kurze texturierte Prosa, die sich selbst nicht mehr in der Tradition des Prosagedichtes lokalisiert. Wie andere Gattungen auch, ist dieses längst Teil des historistisch verfügbaren und abrufbaren Formenkanons geworden, dem jede Avantgarde zunächst zu entkommen sucht - mit Texturen, die Fülleborn alle zu den Prosagedichten zählen würde. Das symbolistische Poeme en prose war jedoch nur ein historisch früher Versuch, unter den materialen Bedingungen des Historismus nicht-historistische Literatur zu schreiben - ein Versuch, der von der parallel angelaufenen radikalen Modernisierung der Lyrik selbst rasch überholt wurde. Wenn im folgenden das Paradigma der Texturierung an drei deutschen Lyrikern der klassischen Moderne - Trakl, Rilke und Benn - überprüft wird, dann im vollen Bewußtsein kursorischer Vorläufigkeit. Insbesondere ist es unmöglich, hier die vorliegende Forschung auch nur einigermaßen repräsentativ zu diskutieren. Es kann zunächst allein darum gehen, die richtigen Fragen zu stellen, d. h. Perspektiven für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit moderner Lyrik zu finden, die der Entdeckung der Textur als Voraussetzung lyrischer Semiose Rechnung trägt.

Trakl Georg Trakls schmales Gesamtwerk ist durchgängig bestimmt von einer unverwechselbaren Textur. Wie bei Däubler,53 so besteht auch bei Trakl der Thesaurus überwiegend aus Substantiven von geradezu archetypischer Einfachheit (am häufigsten: Nacht, Schatten, Abend, Auge, Wald, Stern, Hand, Herz, Gott, Stirn, Antlitz, Baum, Blut, Garten, Stille, Wein, Fenster, Wind, Wolke),54 verbunden mit ebensolchen Adjektiven - mit einer auffälligen 53 54

Vgl. Kapitel II 4: Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa. Genannt sind hier wie im folgenden Lexeme mit über 50 Belegstellen im Gesamtwerk in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit (nach dem Häufigkeitswörterbuch in: Index zu Georg

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Dominanz von Farbworten - (dunkel, blau, schwarz, leise, still, alt, golden, weiß, rot, sanft, purpurn, grün, braun, silbern, kühl, einsam, wild, tot) und Verben (gehen, schweigen, sehen, verfallen, singen, tönen, sinken, treten, fallen, stehen, kommen, dämmern).55 Auffällig ist darüber hinaus die lyrische Interjektion »o«, mit 197 Belegen eines der häufigsten Worte bei Trakl überhaupt. Daß sich der Eindruck einer äußerst homogenen Textur ergibt, obwohl die syntaktischen Formen der Verknüpfung und die Verwendung überlieferter und neuer lyrischer Strophenformen durchaus vielfältig sind,56 liegt jedoch nicht nur am Thesaurus, sondern auch an den semantischen Verknüpfungsregeln, die gegenüber den herkömmlichen lexikalischen, grammatischen und gattungsspezifischen Vorgaben weitgehend autonom sind. Trakls typische Verknüpfung ist nicht von Däublers quasi-definitorischer, Allgemeingültigkeit prätendierender Art (A ist B). Sie beruht auf Setzungen, die zunächst so etwas wie eine lyrische, raum-zeitlich bestimmte Situation zu konstituieren scheinen (A ist), paradigmatisch etwa im Psalm·. »Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat./Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt./Es ist ein Weinberg [,..]«.57 Die semantische Kühnheit seiner Fügungen wirkt dadurch selten hart gesetzt; denn obwohl der Eindruck einer lyrischen Situation sich oft nur über bestimmte Artikel und zwei, drei zueinander passende Lexeme herstellt und durch weitere Setzungen meist gleich wieder demontiert wird (»Es ist eine Insel der Südsee [...]«), erhöht er doch die Akzeptanz des Lesers beträchtlich, wozu freilich auch die Homogenität des Thesaurus das ihre tut. Man kombiniere ein paar der oben aufgezählten Lexeme auf diese Weise, und das Ergebnis sieht zunächst aus wie Naturlyrik, ζ. B. in Untergang (5. und letzte Fassung): Über den weißen Weiher Sind die wilden Vögel fortgezogen. Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind. Über unsere Gräber Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht. Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.

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Trakls Dichtungen, bearbeitet von W. Klein und H. Zimmermann, Frankfurt 1971; S. 169-178). Hilfsverben sind in dieser Aufzählung nicht erfaßt. Im Gegensatz ζ. B. zum lyrischen Frühwerk Georg Heyms, wo 96 Prozent aller Gedichte »dieselben formalen Aspekte« aufweisen: vierzeilige Strophen, fünfhebiger Jambus und Endreim; darin aber einen umfänglichen und heterogenen Thesaurus verarbeiten (vgl. Jürgen Ziegler, Form und Subjektivität. Zur Gedichtstruktur im frühen Expressionismus, Bonn 1972; S. 44-54). Georg Trakl, Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Hg. Walter Killy/Hans Sklenar, 2 Bde., Salzburg 2 1987, Bd. 1; S. 55. Ähnlich auch in De profundis. Vgl. die epische Eingangssetzung des »Es war einmal« im Märchen. Analog zu diesem Fiktionalitätssignal ließe sich bei Trakl von einem Lyriksignal, einer Chiffre lyrischer Setzung sprechen. Auch das lyrisch-elegische »o« hat diese Funktion.

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Immer klingen die weißen Mauern der Stadt. Unter Domenbogen Ο mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mittemacht.58

Die ersten drei Verse könnten ein stimmiges Naturbild ergeben: der Weiher ist weiß, also zugefroren, demnach ist Winter, die Zugvögel haben sich aufgemacht nach Süden, die Nächte sind sternklar und eisig. Der bestimmte Artikel vor »Weiher« legt einen Ort fest; das vergleichsweise Unbestimmte der Formulierung »am Abend« (nicht: »an diesem Abend«, »heute Abend«) deutet allerdings, wie das Jahreszeitliche überhaupt, eher auf Iteratives hin als auf eine konkrete Situation. Auch der Plural der ersten Person läßt keine Erlebnislyrik im strengen Sinn erwarten, eher scheint das Winterbild allgemein-symbolisch für »unsere« Kälte und Verlassenheit zu stehen - das hat man schon gehört. Tod und Krise (»Gräber« und »zerbrochene Stirne«) lassen denn auch nicht lange auf sich warten, die Bildlichkeit scheint im zweiten Abschnitt etwas abstrakter zu werden, aber die Tendenz ist klar - der so eingestimmte Lyrikleser wird leicht bereit sein, auch das folgende zu schlucken: »Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.« - Nun, warum nicht? Weil der Weiher zugefroren wäre, wenn diese Lesart stimmte, darum! Spätestens mit Vers 6 zerbricht das zunächst einigermaßen plausible Naturbild. Dieser Bruch ist kein Bruch der Textur: Eiche, silbern und Kahn entstammen demselben Thesaurus wie weiß, Weiher und Vögel. Auch handelt es sich nicht um einen Wendepunkt in der linearen Abfolge des Gedichts, wie er typischerweise etwa im 9. Vers eines Sonetts erfolgen könnte. 59 Das Gedicht hat in diesem Sinne gar keine lineare Logik, es gibt keine Partikel, die ein Nacheinander konstituieren würden; die einfachen Aussagesätze zu ein oder zwei Versen sind einander streng nebengeordnet (Parataxe). Das Phänomen wird als »expressionistischer Reihungsstil« beschrieben; Trakl zählt neben van Hoddis {Weltende) und Lichtenstein (Die Dämmerung) zu seinen Erfindern. 60 Diese Diagnose verändert das Gedicht rückwirkend: der für Naturlyrik typische sukzessive Aufbau einer tages- und jahreszeitlich, landschaftlich etc. bestimmten, immer noch hinreichend >realistischen< lyrischen Situation - mit Wanderers Nachtlied als klassischem Muster - findet hier gar nicht statt. »Immer klingen die weißen Mauern der Stadt«, nicht nur im Winter - überhaupt ist von Winter nicht die Rede, es ist die Frage, ob das

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Georg Trakl, Untergang (5. Fassung), in: G.T., Dichtungen und Briefe 1, S. 116. So in Anklängen noch in Trakls Verfall, vgl. dazu: Wolfgang Preisendanz, Auflösung und Verdinglichung, S. 237/238. Hans-Georg Kemper, Gestörter Traum. Georg Trakl: Geburt, in: Silvio Vietta/H.K., Expressionismus, München 2 1983, S. 229-285; S. 229. Vgl. auch: Christoph Eykman, Trakls späte Lyrik als Gegenstand der literarischen Hermeneutik, in: Joseph P. Strelka (Hg.), Internationales Georg Trakl-Symposium, Bern u. a. 1984, S. 96-104; S. 101/102.

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Farbwort »weiß« - hier oder anderswo - überhaupt als Farbe zu lesen ist und nicht vielmehr als »absolute Chiffre« (Killy). Jede Zeile steht für sich, neben den andern, in facettenartiger Anordung. Ihre Addition ergibt keine Winterlandschaft und auch keine »Seelenlandschaft« (Kemper), sondern ein Gedicht. Diese durchaus radikale und zunächst kontraintuitive Konsequenz ist in der Trakl-Forschung früh gezogen worden. Schon Preisendanz mißtraut den Nachwirkungen der »Stimmungslyrik«.61 In einer Zusammenstellung von Parallelstellen (zur »Amsel«) weist er die hohe Rekurrenz der Bilder nach und kommt zu dem Ergebnis, »daß es sich hier nicht mehr um stellvertretende, sondern um sich selbst meinende Bilder handelt. Ihre Semantik verbürgt der Kontext des Gedichts, sie stehen aber auch nicht mehr für den Ausdruck eines Erlebens oder Gestimmtseins.«62 In welcher Weise »der Kontext des Gedichts« die Semantik der Bilder bestimmen soll, bleibt allerdings die Frage. Gerade die sukzessive Paradigmatisierung des Syntagmas, die dafür normalerweise zuständig ist, findet ja hier nicht statt. Wo kommt er her, der >silberne Kahnsilbern< im lyrischen Werk Trakls auf diese Weise zu semantisieren versucht. Sie teilt die Beobachtung und Preisendanz' Schluß, daß das Wort »isoliert vom geläufigen semantischen Gebrauch [...] autonomer Sinnträger« ist,63 hält es jedoch für eine auflösbare »Chiffre« aus Trakls »Metasprache«. Ihre Parallelstellenschau soll zeigen, daß die Polyvalenz von >silbern< eine eingeschränkte ist, das Wort sei bei Trakl »reserviert für den erotischen Bereich« und bleibe damit »allein an die inzestuöse Beziehung zu seiner um fünf Jahre jüngeren Schwester Gretel geknüpft«. 64 Der kühne Sprung von der Autonomie des Sinnträgers in die Biographie und real existierende Psyche des Dichters soll uns hier zunächst mal gar nicht erschüttern, wahrhaft erschütternd ist vielmehr Wolffheims Sicherheit im Verständnis der aufgereihten Parallelstellen: »Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei«, »Silbern sank des Ungebore61

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»Aber kann hier noch im selben Sinn von Natur die Rede sein wie bei Storm oder Liliencron? Illudieren die Bilder dieses Gedichtes in ihrem Zusammenhang eine konkret vorzufindende, potentiell in der Empirie wiedererkennbare Außenwelt, zu der dann auch gehört, daß sie einer konkreten potentiellen Perspektive des lyrischen Ich zugeordnet ist?« (Wolfgang Preisendanz, Auflösung und Verdinglichung, S. 240). Wolfgang Preisendanz, Auflösung und Verdinglichung, S. 241. Elsbeth Wolffheim, »Die Silberstimme des Totengleichen«. Das Farbwort >silbern< im lyrischen Werk Georg Trakls, in: Text & Kritik 4/4a: Georg Trakl, München 4 1985, S. 3 7 44; S. 38. Elsbeth Wolffheim, »Die Silberstimme des Totengleichen«, S. 37.

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nen Haupt hin«, »Silbern zerschellt an kahler Mauer ein kindlich Gerippe«, »Wenn Orpheus silbern die Laute rührt« - wo ist hier der erotische Kontext eindeutig? Zweimal sei >silbern< »verknüpft mit unverkennbar erotischen Symbolen, dem Dorn und der Schlange«65 - zweimal? Bei 61 Belegstellen? Hier hat sich offenbar ein anderswo gewonnenes Vorverständnis verselbständigt. Und woher wissen wir, daß ausgerechnet Dorn und Schlange in Trakls Werk tiefenpsychologische Symbole von >unverkennbarer< Semantik sind? Konsequenterweise wäre dann jedes Lexem, wäre Trakls gesamte Dichtung nur Chiffre für seinen Inzest - und das wiederum hälfe uns bei der Auseinandersetzung mit der Gestalt seiner Werke gar nicht, selbst wenn wir es glaubten. Deutungen dieser Art finden sich in der Literatur zu hermetischer Lyrik zuhauf, auf unterschiedlichem Niveau und mit verschiedenen Subtexten. Letztlich muß man ihnen vorwerfen, daß sie die Semioseprinzipien, die sie selber erkannt haben, nicht konsequent anwenden. Die Parallelstellen können deshalb nicht helfen, weil sie immer nur die Allgegenwart des Thesaurus belegen. Da keine semantisch ausgezeichneten Stellen in dieser homogenen Textur markiert sind, bleiben sie alle gleich problematisch; und wenn der Kontext einmal irgendwo stimmiger scheint als an anderer Stelle (vgl. den »weißen Weiher« und die »weißen Mauern« in Untergang), dann ist das eben nur scheinbar; traditionelle Lektüreerwartung sieht sich kurzfristig bestätigt, nur um desto deutlicher enttäuscht zu werden.66 Nicht nur kann »die Bedeutung der präsentierten Realitäten [...] nicht erläutert werden im Hinblick auf eine potentielle empirische Außenwelt«67 - strenggenommen werden gar keine »Realitäten« präsentiert, weil Trakls lyrische Sprache nicht mehr über Referenzen Sinn herstellt, weil ihren Lexemen das außersprachliche Signifikat, d. h. die konventionelle Bedeutung, der Inhalt fehlt.68 »Die natürlichen Zusammenhänge sind also durch funktionale Beziehungen ersetzt«, so »daß sich der Zusammenhang zwischen Wort und Sache in der Sprache der Poesie gelöst hat.«, resümiert bereits Walter Killy69 - man muß kein Poststrukturalist sein, um an Trakls Lyrik zu diesen Ergebnissen zu kommen (die übrigens Nietzsches Decadence-Definition ein weiteres Mal paraphrasieren). Ohne semantische Verankerung in der konventionellen Mitteilungs- und Bezeichnungssprache - und es sind gerade die Verknüp65 66

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Elsbeth Wolffheim, »Die Silberstimme des Totengleichen«, S. 42. Kempers Modellinterpretation von Geburt führt das in ihrem ersten Durchgang, der eine naive Lesererwartung voraussetzt, sehr schön vor (Hans-Georg Kemper, Gestörter Traum, S. 229-234). Wolfgang Preisendanz, Auflösung und Verdinglichung, S. 244. So schon Walter Killy: »Es ist für diese Sprache bezeichnend, daß sie häufig spricht, ohne eigentlich mitzuteilen. Sie hat eine Fülle von Bildern, die nicht der Einsicht dienen, weil sie der Verbindlichkeit entraten, die zur Kommunikation Voraussetzung ist.« (Walter Killy, Wandlungen des lyrischen Bildes, Göttingen 6 1971; S. 125). Walter Killy, Wandlungen des lyrischen Bildes, S. 126.

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fungsregeln Trakls, die diese unterlaufen - werden die Lexeme autonom gegenüber vorgegebenen Bedeutungen und zugleich >souverain< gegenüber einem konventionell verstandenen »Kontext des Gedichtes«. Beides hilft nicht mehr, die individuell gegebenen Sprachgestalten der Lyrik Trakls zu verstehen. Der parataktische Reihungsstil ist nur die konsequente Form der apodiktischen Setzung, die das Semioseprinzip dieser Lyrik ist. Die hermeneutische Zuversicht der Trakl-Forschung ist früh erschüttert worden durch das Bekanntwerden der nachgelassenen Fassungen.70 Sie belegen, daß Trakl bei der Umarbeitung seiner Gedichte - bei weitgehender Beibehaltung der syntaktischen und Versstrukturen - die einzelnen Lexeme aus seinem beschränkten Thesaurus immer wieder durch andere ersetzt hat. Die stehengebliebenen Lexeme erscheinen so in unterschiedlichen Kontexten oder besser Kombinationen (>Technik der bewahrenden Versetzungsilberne Kahn unter Eichen< ist präfiguriert in »Unter Silberweiden« - eine irgendwie referentielle Semiose kann hier nicht mehr am Werke sein. »Man sieht zunächst keinerlei Gemeinsamkeit zwischen den Varianten.«, stellt bereits Killy fest. »Dabei liegt sie auf der Hand, aber sie hat mit dem Inhalt nichts zu tun: manchmal tönt ein grollender Ton darin leise löst sich eine goldene Wolke auf

Wichtiger als der Gehalt war für Trakl der sinnliche Klang des Satzes.«75 Auch Kemper betont in diesem Sinne die Bedeutung der klangästhetischen und formal-strukturellen Dimension; daß das alles sein soll, kommt dem hermeneutisch geschulten Interpreten allerdings »geradezu befremdlich« vor.76 Jedes Bemühen, semantische Plausibilitäten zu formulieren, läuft jedoch in dieselbe Aporie hinein: um irgendwo eine »inhaltliche« Stimmigkeit nachzuweisen, muß wenigstens eine Stelle referentiell gelesen werden. Eine im weitesten Sinne >realistische< Auflösung mindestens eines Bildes, einer poetischen Setzung wäre die Voraussetzung für Lesarten wie jene, daß die »emotionale menschliche Reaktion auf die Bilder der erstorbenen Natur« in zwei Versen von Melancholia »die Dominanz des Klanglichen« durchbricht.77 Diese Voraussetzung ist jedoch nicht gegeben; wo sie prätendiert 74 75 76

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Georg Trakl, Dichtungen und Briefe 1, S. 389. Walter Killy, Wandlungen des lyrischen Bildes, S. 122. »Es ist geradezu befremdlich, in welchem Ausmaß sich für die Änderungen in Trakls Entwürfen klangästhetische Begründungen angeben lassen. Denn man muß sich fragen, wie man ein Dichten zu bewerten hat, das um klanglicher Harmonien und Kontraste willen inhaltliche Widersprüche in Kauf zu nehmen scheint.« (Hans-Georg Kemper, Gestörter Traum, S. 250). Hans-Georg Kemper, Varianten als Interpretationshilfe, S. 35; Eykman hat solche Deutungsmuster der Trakl-Forschung typologisch unterschieden, von der »simplen Paraphra-

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wird, fallen Kempers sorgfältige Analysen hinter die eigenen Ergebnisse zur Semiose Trakls zurück. Einigermaßen unbefriedigt muß er zugeben, daß seine Ergebnisse, wo sie den formalen Bereich verlassen, »nicht eindeutig«, »die Zuordungen [niemals] bis zur Identifizierbarkeit sicher« sind.78 Es ist beinahe zwingend, daß dann am Ende doch wieder die abgegriffenen Topoi von Rausch, Wahnsinn, Ich-Dissoziation und Traumlogik bemüht werden, um wenigstens diesen Sachverhalt zu plausibilisieren. Aber macht man es sich nicht doch etwas einfach, wenn man semantische Fragestellungen zu Trakls Lyrik gar nicht mehr zuläßt? Schließlich kann Literatur gerade im Gegensatz zu den anderen Künsten die konventionellen Bedeutungen nicht einfach ablegen, weil sie bereits ihrem Material, den Wörtern, anhaften. Sind Trakls Gedichte wirklich asemantische Klanggebilde, oder machen sie doch Sinn? Diese in der Sekundärliteratur nach wie vor umstrittene Alternative, die ζ. B. Eykmans Forschungsbericht strukturiert,79 erweist sich als nicht mehr sachgemäß, sobald die Texturiertheit moderner Texte als historische Bedingtheit dieser Lyrik in den Blick kommt. Gerade vom Aspekt des Materials her muß die Ausgangsfrage vielmehr lauten: welche literarisch-semiotischen Effekte setzt das lyrische Verfahren Georg Trakls denn frei? Eine Antwort wie >Destruktion der Lesererwartungsouverain< gebärden. In ihrer archetypischen Einfachheit scheint die lexikalische Revolution des Historismus spurlos an ihnen vorübergegangen zu sein. Aber was transportieren »Wald« und »Wild«, »silbern« und »Abend«, »Brot und Wein«? Ohne das irritierend Antireferentielle der Traklschen Verknüpfungen könnte ein solcher Thesaurus das Material für ein Oeuvre der Heimatkunstbewegung abgeben, erst die Freisetzung aus den geläufigen sprachlichen Zusammenhängen kann eine andere Aura aktualisieren, die diesen Worten anhängt - und zwar auf höchst vermittelte, nämlich intertextuelle Weise. Wer die scheinbar schlichten und ursprünglichen Sätze Trakls liest, staunt zunächst über die vielfältigen literarischen Referenzen und Sub-

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se« über die Bezeichnung eines »abstrakt-begrifflichen Inhalts«, die Reduktion auf verschiedene »Sem-Bestände« und die produktive Weiterdichtung zur »Bedeutungs-Entfaltung« einzelner Lexeme (Christoph Eykman, Trakls späte Lyrik, S. 100-101). Hans-Georg Kemper, Gestörter Traum, S. 252, 255. Christoph Eykman, Trakls späte Lyrik als Gegenstand der literarischen Hermeneutik, I.e. Vgl. Hans-Georg Kemper, Georg Trakls Entwürfe, S. 160-165; H.K., Gestörter Traum, S. 229-234.

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texte, die man für seine Gedichte nachgewiesen hat. Die Beerbungen gehen bisweilen bis an die Grenze des Plagiats: Hölderlin, Novalis, Heine, Eichendorff, Mörike und natürlich Rimbaud sind nur die eindrücklichsten und häufigsten Vorbilder. Trakls Thesaurus entstammt dem Thesaurus der im engeren Sinne lyrischen Tradition. Gerade in ihrer Autonomie gegenüber gewohnten sprachlichen und immanent gesetzten Sinnzusammenhängen können seine Lexeme die Aura von Stimmung und Bedeutung dieser Tradition bewahren und neu vermitteln.81 Sie sind also nicht asemantisch, sondern rufen intertextuell vermittelte Bedeutungs- und Stimmungskomplexe auf. 82 In ihrer spezifisch lyrischen Fügung werden »die durch die Sprachlichkeit unserer Welt gleichsam aufgespeicherten Vorstellungskomplexe so zueinander in Relation gebracht, daß ein semantischer Bezug dieser Sprache nur mehr auf die in Wörtern vertretenen Vörstellungskomplexe, aber nicht auf die sonst den Vorstellungskomplexen zuzuordnenden Dinge und Sachverhalte besteht.«83 Hier ist Preisendanz zuzustimmen, mit der Betonung jedoch, daß über diese »Vorstellungskomplexe«, die sein kurzes Resüme gleich dreimal bemüht, weiter kein positives Wissen zu erlangen ist; sie sind also für den Interpreten nicht als neue Signifikate der alten Signifikanten zu instrumentalisieren.84 Womit sich auch hier die (positivistische) Tugend empfiehlt, über Dinge, über die man nicht reden kann, nicht allzu viele Worte zu verlieren. Festzuhalten ist jedenfalls, daß auch das Traklsche Wortmaterial wider Erwarten - in seinem semantischen Potential von der historistischen Lexemautonomie durch und durch geprägt ist. Man hat die Behauptung aufgestellt und zurückgewiesen, »alle Gedichte Trakls seien im Grunde nur ein Gedicht«.85 Der Sachverhalt ist jetzt genauer zu fassen: es handelt sich bei Trakls Lyrik um eine Textur. Daß aus dieser einen Textur ganz verschiedene Gedichte gemacht sind, führt zum Problem der spezifisch lyrischen Setzung zurück. Es wurde gezeigt, daß Trakls Gedichte nicht von einem Sinnzentrum aus organisiert sind, weder von der Stimmigkeit einer Aussage noch von der eines Inhalts, und wo eine Stim-

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83 84

85

In diesem Sinne ist Klaus Simons Behauptung »Bei Trakl sind die Worte Muster, abstrakte Zeichen einer hinter ihnen aufscheinenden Fülle« zu präzisieren (K.S., Traum und Orpheus. Eine Studie zu Georg Trakls Dichtungen, Salzburg 1955; S. 146). Es handelt sich also nicht um eine Aktualisierung der »lexikalischen Bedeutung«, wie diskutiert wurde (vgl. Christoph Eykman, Trakls späte Lyrik, S. 97). Die lexikalische Bedeutung ist ja nur eine Kodierung einer nicht mehr selbstverständlichen alltags- oder fachsprachlichen Bedeutung. Ihr Medium, das Lexikon, trägt als wichtiges historistisches Instrument gerade zur Autonomisierung der Lexeme bei. Wolfgang Preisendanz, Auflösung und Verdinglichung, S. 251. Der Erklärungswert einer gelehrten Rückführung auf Theoreme der Psychophysik Ernst Machs (vgl. Hans-Georg Kemper, Gestörter Traum, S. 259-285) - man könnte auch auf Kandinskys Farbenlehre o.a. verweisen - ist demnach zweifelhaft, wie geistesgeschichtliche Erklärungen dieser Art überhaupt. Natürlich haben diese Dinge historisch alle etwas miteinander zu tun, aber was? Wer das formulieren könnte! Vgl. Hans-Georg Kemper, Gestörter Traum, S. 237.

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mung oder innere Verfassung deren Stelle einnehmen soll, bleibt alles im Vagen. Der Grund dafür, daß trotz des Primats dieser so homogenen Textur jedes Gedicht seine »individuelle Physiognomie« (Kemper) aufweist, läßt sich vielleicht so ausdrücken: In modemer Lyrik wird Textur als Struktur gesetzt. Die beiden ersten Abschnitte von Untergang könnten in ihrem typischen Reihungsstil im Prinzip so fortgesetzt werden, immer eine Setzung an die nächste gereiht ließe sich die Textur unendlich fortschreiben, wie es eben die Eigenschaft von Texturen ist. Die Frage nach dem Besonderen dieses Trakl-Gedichtes läßt sich also auf die Frage fokussieren, wie oder besser noch warum es endet. Die ersten beiden Abschnitte weisen ein gleiches Verhältnis von Syntax zu Zeilenumbruch auf: ein Satz füllt die ersten beiden Zeilen, ein zweiter die dritte. Im dritten Abschnitt kehrt sich dieses Verhältnis um. Dadurch bleibt der Mittelvers, der zuvor je eine Setzung abschloß, syntaktisch offen und überläßt es dem letzten Vers, den Bogen zu schließen: Unter Dornenbogen [...] klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.

Semantisch muß dies keineswegs die resümierende Schlußsentenz sein, als die man es gelesen hat86 - es ist eine Setzung wie andere auch; zwei Sätze beginnen mit »Über«, zwei mit »Unter«, jeweils dazwischen steht ein Satz, der mit Temporalangabe beginnt (»Am Abend«, »Immer«), das könnte durchaus seriell angelegt sein. Erst die rhetorische Gewalt des eingeschobenen, die Syntax sprengenden »O mein Bruder« (das in der dritten Fassung noch in jedem Abschnitt wiederkehrte) - mit dem Traklschen »o« als Chiffre der lyrischen Setzung - gibt Vers 9 das volle Gewicht eines Schlußverses. Es ist also, über die im engeren Sinne lyrischen Formelemente hinaus, die gegenüber jeglicher Semantik autonome rhetorische Struktur des Gedichtes, was seine unverwechselbare Form ausmacht. Die Art, wie die immergleiche Textur syntaktisch und graphisch gesetzt ist, erzwingt - über die semantische Aura der Lexeme und ihrer Kombinationen hinaus - die individuelle Wirkung des Gedichtes. Trakl hat mit dieser Kombination von einfachem, aber bereits literarisiertem Thesaurus, kombinatorisch setzender Lexemverknüpfung und individueller syntaktisch-rhetorischer Struktur ein Textverfahren entwickelt, das immer neue lyrische Texte zu generieren erlaubte, von denen jeder einzelne den Anforderungen moderner Lyrik verblüffend genau entspricht.

86

Vgl. ζ. B. Franz Fühmann, Gedanken zu Georg Trakls Gedicht, Wiesbaden 1983; S. 7-15, für einen eindrucksvollen Rezeptionsbericht.

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Rilke Das lyrische Werk Rainer Maria Rilkes ist nicht von einer solchen Einheitlichkeit des Verfahrens. Nicht nur aufgrund seines Umfangs, mehrerer deutlich unterschiedener Phasen und der Masse von Selbst- und Fremdkommentaren entzieht es sich einem pauschalen Zugriff, vor allem probiert es - mit durchaus unterschiedlichem Erfolg - viel mehr Möglichkeiten lyrischer Gestaltung aus als das schmale Oeuvre Trakls; insbesondere arbeitet es stärker mit poetologischen Strukturen, die bei Trakl fast vollständig fehlen. Begriffen als eine perfekte Synthese von Dichten und Denken (ζ. B. von Martin Heidegger, Ernst Heller), gelegentlich aber auch unter massiven (Geschmacks-) Vorbehalten (ζ. B. Hugo Friedrichs), hat dieses Werk einen Diskurs von Ausdeutungen in Gang gesetzt, an dem sich die bedeutenden Geisteswissenschaftler des Jahrhunderts nahezu vollzählig beteiligt haben. Bereits Paul de Man hat jedoch bemängelt, es seien dabei »selbst die besten Ausdeutungen Rilkes im großen und ganzen auf dem Stand der Paraphrase verblieben [...], einer Paraphrase, die oft eindringlich und sorgfältig ist, die aber nicht die Übereinstimmung der Bedeutung mit den sprachlichen Mustern hinterfragt, welche verwendet werden, eben jene zu übermitteln.«87 Dieses bereits für Trakl konstatierte Faktum 88 kann dazu ermutigen, mit der Betrachtung von modernen Textverfahren auch vor einer Literatur vom Rang der Elegiendichtung Rilkes nicht von vornherein zu kapitulieren. Für die Auseinandersetzung mit den immer neuen Paraphrasen als Ergebnis persistierender hermeneutischer Auslegung kann der glückliche Umstand genutzt werden, daß sich der Neubegründer einer auch philologischen Hermeneutik, Hans-Georg Gadamer, gerade mit den Duineser Elegien auseinandergesetzt hat, um an diesen schwierigen Texten Grundsätzliches zum eigenen Verfahren zu klären. Sein Text über die »mythopoietische Umkehrung« in den Elegien89 wiederholt zunächst die zentralen hermeneutischen Theoreme: Die »ursprüngliche hermeneutische Aufgabe, Unverständliches zu erklären« (194), zielt auf ein Verstehen, das idealerweise den Text aufhebt. »Das Verständnis eines Textes tendiert [...] dazu, den Leser für das einzunehmen, was der Text sagt, der eben damit selber verschwindet.«90 Der Hermeneut setzt dabei eine vorgängige intentionale »Einheit des Gesagten« (194) zunächst als »Verständnis- und Auslegungshorizont« (197) voraus.

87 88 89

90

Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt 1988 [EA 1979]; S. 57. Vgl. noch einmal Eykmans Typologie der Trakl-Paraphrasen [Fußnote 77]. Hans-Georg Gadamer, Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien, I.e. Seitenzahlen hieraus im folgenden in Klammern im Haupttext. Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, S. 46.

221

Gadamer gewinnt diesen Horizont für die Elegien, indem er »die Frage, was der Engel der Elegien bedeutet«, voranstellt und beantwortet (»Ein Gefühl, das sich nicht verflüchtigt, sondern in sich steht, das heißt bei Rilke Engel«, 198). Diese Deutung basiert auf dem Prinzip der Allegorie - der Engel »als eine handelnde Person« personifiziert das Gefühl - , Gadamer sagt: des »Mythos«. Bei Rilke wird es zur mythopoietischen Umkehrung: die Welt des eigenen Herzens wird in der dichterischen Sage als eine mythische Welt, das heißt eine Welt aus handelnden Wesen uns entgegengestellt. (199)

Die »Welt des eigenen Herzens« wird als reale Referenz genommen für die Bildwelt des Gedichts. Tertium comparationis wäre demnach die Struktur der narratio im poetischen Mythos. Daraus folgt die Aufgabe des Hermeneuten: Paraphrase dieser Struktur und »Zurückübersetzung« in eine Beschreibung der wirklichen Welt (200). Aus diesem Deutungsansatz ergeben sich zwei grundsätzliche Probleme. Erstens: »Alle dichterische Rede ist Mythos, das heißt, sie beglaubigt sich selbst durch nichts als ihr Gesagtsein.« (198). Zugleich soll diese Rede jedoch mimetisch fungieren, d. h. sie setzt auf ein Wiedererkennen der erzählten Strukturen in der Welt, hier: »Was sich als das Handeln und Leiden von anderen« - im Falle der 10. Elegie ζ. B. von Engeln, Klagen oder jungen Toten - »darstellt, wird als das eigene leidende Erfahren verstanden.« (199) Es bleibt aber durchaus unklar, welche Seite die Autorität hat, diese Struktur vorzugeben, zu »beglaubigen«. Zweitens: Gadamers Prinzip der »mythopoietischen Umkehrung« setzt eine übertragbare narrative Struktur voraus. Zugleich heißt es jedoch überraschenderweise, in den Elegien gebe es gerade »keine in sich stimmige Welt mythischer Gestalten oder ausdrücklich vorbereiteter Vergleiche, die unserem heutigen Verständnis aufzuschließen die hermeneutische Aufgabe wäre.« (200) Stattdessen soll jetzt - höchst vage - »ein plötzliches und unvermutetes Anklingen von Stimmigkeiten« die Grundlage sein, von der aus »sich ein fast hermetisch scheinendes dichterisches Gebilde in unser Verständnis hinein ausbreitet.« (200) Die Elegien erfüllen demnach in ihrer Struktur - oder vielmehr ihrem Mangel an Struktur - offenbar gar nicht die elementaren Bedingung für Gadamers Interpretation. Sowohl Gadamers Prinzip der »mythopoietischen Umkehrung« als auch dessen Unstimmigkeiten verweisen auf ein spezifisches Textverfahren Rilkes. Der hermeneutische Ansatz gelangt deshalb nicht zu einer adäquaten Beschreibung dieses Verfahrens, weil er einen einheitlichen Sinn des Gesagten immer schon voraussetzt. Schon Musil hat jedoch als das wichtigste Textverfahren Rilkes die Figur eines Chiasmus gesehen, in dem zwei Bildebenen miteinander so eng verschränkt werden, daß Bildspender und Bildempfänger nicht mehr zu trennen sind: 222

Statt zu sagen, der Novemberabend sei wie ein Tuch oder das Tuch sei wie ein Novemberabend, könnte man nicht beides in einem sagen? [...] Rilke hat es immerwährend getan.91

Der Chiasmus wird absolut. Stellt in den Neuen Gedichten noch »jedes Gedicht [...] in seinen eigenen Ausdrücken das Rätsel des Chiasmus dar, der es konstituiert«,92 so verschränken sich in der 10. Duineser Elegie eine Vielzahl von Bildbereichen zu einem Gewebe, einer Textur solcher Chiasmen. Dabei ist der Thesaurus, aus dem die Bilder stammen, vor allem durch das frühere Werk Rilkes bereits definiert (ζ. B. »Stadt« durch das Stundenbuch und den Malte). An diesen Parallelstellen sind sie wiederum in der gleichen Technik mit weiteren Bildern verschränkt.93 Stets »wird eines zum Gleichnis des anderen [..,] ist alles Gleichnis, und - nichts mehr nur Gleichnis.«94 Als Ergebnis dieses Verfahrens hat jedes Bild virtuell unendliche Tiefe und befindet sich doch auf einer Oberfläche mit allen anderen Bildern, auch denen, die seine eigenen »Bedeutungen« darstellen. Wenn somit die Bedeutung eines Rilkeschen Bildes vom Text selbst nicht mehr zureichend kontrolliert wird95 und nur durch den gesamten Thesaurus einigermaßen in ihrem Spektrum limitiert ist, so sind die Verknüpfungen doch im einzelnen jeweils hochartifiziell gesetzt. Die Interpretation Rilkes läuft Gefahr, zur uferlosen Textur (ä la Däubler) zu werden, nicht die Texte Rilkes selbst. Dazu tragen, neben der perfekten Beherrschung der formalen poetischen Mittel, wiederum jene Strukturen bei, die dem Text über verweisende Bildlichkeit hinaus sein Gerüst geben. Solche Strukturen stellen im Hauptteil der 10. Elegie (Verse 16 - 105) die Topographie von LeidStadt und Landschaft der Klagen, die Narration vom Weg durch diese Topographie und der poetische Mythos vom Land der Klagen dar. Entscheidend ist, daß diese Strukturen gegenüber dem texturierenden Verfahren des Rilkeschen Vergleiches sekundär sind, d. h. die einzelnen Bilder sind nicht in den Dienst eines von diesen Strukturen vorgegebenen Sinnes gestellt wie es im >organischen< Kunstwerk der Fall wäre. Sie überwölben das Spiel der einzelnen Chiasmen und strukturieren deren gemeinsame Oberfläche, und zwar indem sie sie repräsentieren, nicht transzendieren. Die Topogra-

91

Robert Musil, Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Januar 1927, in: R.M., Ges. Werke Bd. II, Hg. Adolf Fris6, Reinbek 1978, S. 1229 - 1242; 1238. 92 Paul de Man, Allegorien des Lesens, S. 75. 93 »[...] deshalb sind alle Dinge und Vorgänge in seinen Gedichten untereinander verwandt und tauschen den Platz wie die Steme, die sich bewegen, ohne daß man es sieht.« (Robert Musil, Rede zur Rilke-Feier, S. 1240) Vgl. Kapitel II 4: Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa, zu Theodor Däublers »Stemspiel« (Edschmid)! 94 Robert Musil, Rede zur Rilke-Feier, S. 1237. 95 Auf der Produktionsseite steht hierfür die Rhetorik des Diktats, des Empfangens der Dichtung von einer höheren Macht, die Rilke besonders für die Elegien und Sonette immer wieder bemüht.

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phie, die »Karte«, ist für diese Technik ein adäquates Bild.96 Diese Strukturen sind sozusagen die Sternbilder in Rilkes Textur, im Sternspiel, dessen Bedeutungsfluktuation auch sie nicht entgehen.97 Gadamers »mythopoietische Umkehrung« kann als ein Versuch verstanden werden, das Verfahren des absoluten Chiasmus bei Rilke zu beschreiben. Bei diesem Versuch bleibt der Hermeneut jedoch einem referentiellen, mimetischen Prinzip literarischer Semiose verpflichtet, das hier nicht mehr angemessen ist. Gadamer spürt zwar die Reziprozität der Repräsentation (ζ. B. von Gefühl und Engel, Toten und Klagen, Leid und Stadt), kann sie jedoch als absolute nicht eingestehen. Dazu müßte er die vorausgesetzte »Einheit des Gesagten« (im Sinne von >EinsinnigkeitEindeutigkeitleichtsinnigen< (nichtreferentiellen), wehmütigem (angesichts der Ineffabilität melancholischen) und h o f f nungslosem (nicht vom Geist der Utopie beseelten) >GeistessouverainerBroadwaySt. Moritz< und >TelefonVergrößerung< und >Narkose< findet im hermeneutischen Zirkel statt. Da jeder Lexemgebrauch einen Überschuß an enzyklopädischem Weltwissen freisetzt, muß jeweils lokal entschieden werden, was davon brauchbar ist und ad hoc repräsentiert werden soll. So werden fortlaufend semantische Netze entworfen, die sich gegebenenfalls auch des Mittels der Definition bedienen (und so das Netz für diesen Text - in einen Baum zurückverwandeln) können. Welche spezifische Ordnung eine solche lokale Repräsentation hat, hängt letztlich vom Genus des Textes (und von der Kompetenz des Lesers) ab. Der damit initiierte Prozeß ist prinzipiell offen und unabschließbar. Dort, wo für die Ermittlung der Bedeutung keine kulturellen Stereotypen zur Verfügung stehen, müssen neue Verknüpfungen ins enzyklopädische Netzwerk eingetragen und erprobt werden. Das heißt: jede Lektüre ruft die Enzyklopädie auf und fordert eine jeweils neue Darstellung von Inhalten, die selbst eine enzyklopädische Form annimmt. Das Wörterbuch ist also nur ein Sonderfall enzyklopädischer Verfahren, und von enzyklopädischen Verfahren kann und wird im folgenden überhaupt gesprochen werden, wo ein Textverfahren steuernd in diesen semiotischen Prozeß eingreift. Die Entwicklung entsprechender Techniken scheint im besonderen Interesse der Literatur zu liegen. Die Metapher etwa, die nicht verstanden werden kann, ohne daß solche semiotische Kreativität aktiviert wird - an diesem Gedanken hat Eco kein Erstgeburtsrecht - , ist so etwas wie der Modellfall von Semiose. Ihr Funktionieren »erlaubt, die Enzyklopädie zu verstehen«.13 Erst recht bewegt sich Ecos Erörterung des Symbols als einer offenen und überdeterminierten Textmodalität in vertrauten Bahnen.14 Zwar kann man zweifeln, ob das Motiv der Epiphanie bei Joyce, Eliot und anderen Autoren der klassischen Moderne ohne weiteres dem symbolischen Modus zugeschlagen werden kann,15 doch läßt sich schon aus dieser knappen Skizze von Ecos Ansatz erkennen, wie hervorragend mit Hilfe einer enzyklopädisch orientierten Semiotik Verstehensirrita-

12 13 14

15

Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 108. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 191. »Das Symbol hat keinen autorisierten Interpretanten. Das Symbol sagt, daß es etwas gibt, was es sagen könnte, aber dieses Etwas kann nicht ein für alle Mal und deutlich buchstabiert werden, denn sonst würde das Symbol aufhören, es zu sagen« (Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 237.) Vgl. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 233f. - hierzu später mehr.

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tionen angesichts moderner Texte beschrieben und unterschieden werden können. Wenn Eco etwa resümiert, »sowohl das Symbol als auch die Allegorie« würden »von einem Gefühl der Wortverschwendung signalisiert, von dem Verdacht, daß es pragmatisch >unökonomisch< ist, so viel Textenergie aufzuwenden, um bloß dieses zu sagen«,16 dann gilt dieser Befund auf andere Weise erst recht für jene Techniken einer höchst expliziten Wortverschwendung, die mit dem Begriff der Lexemautonomie gekennzeichnet wurden. In einem Text wie Arno Holz' Phantasus dient der offenkundige Mangel an textinterner Ökonomie keineswegs einer Vervielfachung der Bedeutungen; und generell läßt sich sagen, daß Texte, die dem Prinzip der Lexemautonomie folgen, ihren verschwenderischen Umgang mit Wörtern in keiner höheren Semantik poetischen Rechts fundieren. Die solchen Texten eigentümliche Unverständlichkeit bestimmt sich aus ihrem spezifischen Verhältnis zum enzyklopädischen Universum. Der historistische Katalog notiert Wortbestände in Form von Listen, die ein gegebenes Rahmenthema virtuell vollständig erschöpfen; der Literatur der Decadence genügt es nicht mehr, Pracht und Prunk synekdochisch oder generalisierend, etwa mit einem Hinweis auf die >Kostbarkeiten des Orients und Okzidents< zu repräsentieren sie zählt die Inhalte der Schatzkammern und Raritätenkabinette, die Speisezettel der Festmähler und die Bände der Bibliotheken Stück für Stück und Posten für Posten auf. Ein pars pro toto gilt diesem Diskurs als gemogelt. Das hat eine irritierende Interpretationsunbedürftigkeit solcher Texte zum Ergebnis. Die Enzyklopädie muß nicht erst aufgebaut werden - sie ist im Text schon präsent. Aus solcher Wortverschwendung folgt dann nicht mehr die Aktivierung vielfältiger und differierender semantischer Potenzen in den einzelnen Lexemen, weil nämlich der Text selbst als lokale Repräsentation dessen fungiert, was in einem Diskurs der Sparsamkeit der enzyklopädischen Kompetenz der Leser überlassen bleiben könnte. Historistische Verfahren dieser Art setzen - mit Eco gesprochen - auf eine möglichst gründliche Narkotisierung des Lesers. Von der Wortverschwendung rhetorischer Kataloge - und erst recht durchgeführter literarischer Texturen - ließe sich das Gegenteil behaupten, so daß es vielleicht kein Zufall ist, daß Joyce in Finnegans Wake einen »ideal reader suffering from an ideal insomnia« entworfen hat.17 Verzichtet ein Text auf einen organisierenden semantischen Rahmen oder multipliziert er absichtsvoll die Zahl der auf ihn >passenden< Formulare, dann läßt sich die Bedeutung der einzelnen Lexeme nicht mehr durch Narkose ausdifferenzie-

16 17

Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 237. James Joyce, Finnegans Wake/Finnegans Wehg. Kainäh ÜbelSätzZung des Wehrkeß fun Schämes Scheuß, von Dieter H. Stündel, Frankfurt 1993, S. 120; vgl. Umberto Eco, Das Offene Kunstwerk, S. 404f.

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ren, und es können keine Spezialwörterbücher zur weiteren Verwendung vergrößert werden. - Lexemautonomie und Textur manipulieren also, auf verschiedene Weise, die Funktion des Interpretanten im Prozeß der Semiose; und dadurch belassen sie den Wörtern ihres Thesaurus eine spezifisch moderne Wörtlichkeif. Historistische Kataloge sind >antisemiotische< Texte, weil sie ein vorgefertigtes Wörterbuch auf der Textoberfläche präsentieren und damit die spontane Erstellung enzyklopädischer Repräsentationen behindern; Texturen dagegen machen ernst mit der Maxime, jeder >Knoten< des semiotischen Universums könne mit jedem anderen verbunden werden - nur daß sie, im Unterschied zur sprachschöpferischem Funktion der Metapher, die von ihnen gesetzten Verknüpfungen in ihrer Kontingenz belassen. Texturen sind, so verstanden, selbst Rhizome. Sie sind durch keine lokale Enzyklopädie verständlich zu machen, weil sie alle möglichen Bedeutungen als ihre Ko-Texte beanspruchen. Darum können sie allenfalls als >MetatexteÜberinterpretationen< verwehrt sich Eco zurecht dagegen, Textstrukturen zu beliebigen Momenten der Semiose zu depotenzieren. Ihm wäre allerdings entgegenzuhalten, daß aus dekonstruktiven Lektüren unter denselben Bedingungen >gute< Interpretationen entstehen wie aus hermeneutischen - dann nämlich, wenn die Abwesenheit von Sinn so wenig vorausgesetzt wird wie seine Anwesenheit. Sinn oder Nicht-Sinn, das folgt aus dem Konzept der enzyklopädischen Semiotik, sind weder Funktionen einer allgemeinen, je schon bestimmten kulturellen Semantik, wie es eine philosophische Hermeneutik unterstellen mag, noch vage Begleiteffekte von Semiose überhaupt, wie im Dogma der Dekonstruktion, sondern sie sind Funktionen des je gegebenen Textes; Funktionen, die sich - hermeneutisch oder dekonstruktiv - niemals vollständig konstruieren lassen. Darum ist jede >StrukturNetzwerke< aus Wörtern, die in einem gewissermaßen vorsemantischen Stadium konfiguriert wurden. Eine weitere Differenzierung in der Beschreibung von Textverfahren scheint jedoch vorzugsweise dort möglich, wo die generativen Möglichkeiten der Lexemautonomie nicht genutzt werden, um das Extrem der Textur zu suchen, sondern um bedingte (>sekundäreSpezialwörterbücher< mit einem radikal reduzierten Lexembestand (Trakl) oder auch >Spezialmythologien< als kulturell vermittelte Formulare (Rilke) verwendet, die suggerieren, zwischen Text und Enzyklopädie bestünde hermeneutische Zirkularität. Solchen im Grunde tautologischen Poetiken ist gleichwohl mit Hermeneutik ebensowenig beizukommen wie vergleichbar konzipierten narrativen Semantiken, die erst recht zur freien, letztlich beliebigen Allegorese einladen (Kafka). - Weil im Diskurs der literarischen Moderne die Unendlichkeit der Semiose als gegeben vorausgesetzt wird, lassen sich die unter diesen Bedingungen hervorgebrachten Texte nicht mehr mit einer Hermeneutik erschließen, die an einer Literatur der Interpretanten20 entwickelt wurde. Es handelt sich um eine Literatur der Wörter und der Wörtlichkeit, wenn nicht der Buchstäblichkeit. Darum ist es auch nicht oder doch nicht ohne weiteres adäquat, zu behaupten, die Moderne habe die Bedeutungen ihrer Texte auf geheimnisvolle Weise vervielfacht; denn auch das Gegenteil dieses Satzes kann richtig sein. Und immerhin gilt für jeden Text, daß er mehr ist als »ein kommunikativer Apparat«, daß er »die vorangegangenen Signifikationssysteme in Frage stellt, sie oft erneuert und manchmal zerstört«. Wohl zieht Eco zum Beleg für die Auflösung konventionell strukturierter Wörterbücher Finnegans Wake heran - »eine Textmaschine, die dazu geschaffen wurde, Grammatiken und Wörterbücher zu liquidieren«.21 Doch ist gerade Joyces Text, wie vergleichbare Texte der klassischen Moderne, auf die Wörtlichkeit bestehender Wörterbücher zutiefst angewiesen, um in ihrer Bearbeitung das Universum der enzyklopädischen Kompetenz zu reflektieren und den Prozeß der Semiose zu problematisieren. Entsprechendes läßt sich auch in einem Rückblick auf die semiotischen Modelle des Essayismus

19 20

21

Vgl. Kapitel II 5: Die Textur der modernen Lyrik. Auf diese Kennzeichnung Gepperts für die Narrationen des realistischen Romans wird zurückzukommen sein; vgl. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994, S. 226 u.ö. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 46.

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belegen. Die dort zentralen Begriffe der Kombinatorik und der Konfiguration, das Ansetzen am kulturell Vermittelten der Artefakte und an der Homonymie der Wörter zugleich, läßt ein konstitutives Bewußtsein von jener enzyklopädischen Strukturierung der Semiose erkennen, die mit dem Begriff der Intertextualität nur in einem ihrer Teilbereiche umschrieben ist. Der moderne Essay ist darum ein Modellfall sekundärer Strukturierung. Um literarische Enzyklopädien als vergleichbare, aber mit dem Essay nicht identische Strukturmodelle im Diskurs der Moderne soll es im folgenden gehen.

Literarische Enzyklopädien Der Begriff einer literarischen Enzyklopädie ist mit einer doppelten Bedeutung besetzt. Zum einen findet er, vor allem in der angelsächsischen Literaturwissenschaft seit Northop Frye, Verwendung zur Bezeichnung eines metahistorischen Formtypus. Zum anderen hat er in Selbstbeschreibungen der literarischen Moderne seine durchaus prominente Stelle, spätestens seit Ezra Pound Joyces Ulysses, in einer glücklichen Eingebung, dem französischen Publikum als genuinen Nachfolger und Vollender von Flauberts Romanprojekt Bouvard et Pecuchet vorstellte. Bouvard et Pecuchet treibt Flauberts Gedankengänge und seine Kunst weiter voran, nicht aber die historische Tradition des Romans und der Novelle. Man kann die »verhackstückte Enzyklopädie« [Flaubert], die den Untertitel »Mangel an Methode in den Wissenschaften« trägt, als den Beginn einer neuen Form auffassen, einer noch nie dagewesenen Form. Weder der Gargantua noch Don Quichote noch Tristram Shandy können als ihr Urbild gelten. [...] Besonders aber geht uns das Kapitel über die »idies reijues« (»Gemeinplätze«) an, denn von da aus kann man die Verbindung von Flaubert zu Joyce herstellen. Zwischen 1880 und dem Jahr, in dem Ulysses begonnen wurde, hat niemand den Mut gehabt, die gigantische Enzyklopädie der Dummheit in Angriff zu nehmen, niemand die Geduld, den Durchschnittsmenschen, die Verallgemeinerung aller Verallgemeinerungen, zu erforschen.22

Angewandt auf Joyce (Ulysses, Finnegans Wake), Pound (Cantos) oder T.S. Eliot (The Waste Land) ist die Rede vom enzyklopädischen Charakter ihrer Texte inzwischen fast selbst zum Gemeinplatz geworden, wobei jedoch Pounds goldene Worte wenig Gehör gefunden haben, mit Flauberts Romanfragment fange etwas Neues an, das nicht ohne weiteres mit anderen weit dimensionierten, an Weltwissen reichen Werken der Weltliteratur über einen Kamm geschoren werden dürfe. Bezeichnend ist wohl, daß Bouvard et Pecuchet, obwohl unbestreitbar ein Initialtext der Moderne, in der entsprechenden Forschungstradition wenig Beachtung findet. Mit der »Geschichte dieser beiden Biedermänner, die

22

Ezra Pound, James Joyce und Pecuchet (1922), in: Über Gustave Flaubert, hg. v. Gerd Haffmans/Franz Cavigelli, Zürich 1979, S. 232-247, S. 233, 238f.

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eine Art possenhaft kritische Enzyklopädie abschreiben«,23 ist nämlich nicht viel anzufangen, wo moderne Texte - als Enzyklopädien - möglichst bruchlos in das Kontinuum des abendländischen Kanons einrücken sollen. So wird in Fryes metahistorischer Typologie der »modes« und »archetypes« die enzyklopädische Form verstanden als »a genre presenting an anagogic form of symbolism, such as a sacred scripture, or its analogues in other modes. The term includes the Bible, Dante's Commedia, the great epics, and the works of Joyce and Proust.«24 Das ist großzügig gerechnet. Kriterium der enzyklopädischen Form ist hier allerdings nicht eine benennbare Textstruktur, sondern die Repräsentanz der Inhalte. Der Begriff soll all jene Texte umfassen, in denen die Summe des kulturellen Wissens und der Erfahrung einer Epoche gebündelt erscheint - nicht nur Gargantua, Don Quichote und Tristram Shandy, sondern ad libitum etwa auch Goethes Faust oder Thomas Manns Joseph und seine Brüder. Entsprechende Texte brauchen untereinander kaum Gemeinsamkeiten aufzuweisen, da sie ja - ihrem Begriff nach historisch verschiedenes repräsentieren. Nur was? - und wie? Ganz kann man sich dem Verdacht nicht entziehen, daß Enzyklopädien dieser Art ihren Namen letzten Endes doch ihrem Umfang (nach Versen oder Seitenzahl) und ihrer bereits vorgefundenen Stellung im literarischen Kanon verdanken - Enzyklopädien, könnte man boshaft sagen, wären jene Texte, die von Literaturwissenschaftlern wie heilige Texte gelesen werden. Historischer Differenzierung und der Präzision formaler Beschreibung kommt ein derartiger Literaturbegriff nicht zugute. So entspricht Flauberts Bouvard et Pecuchet zwar in jeder Hinsicht den formalen Kriterien enzyklopädischer Darstellung - da jedoch der Roman statt der Weisheit der Epoche deren gesammelte Dummheiten, ja den Inbegriff ihrer Dummheit repräsentiert, lädt er zu kulturellen Synthesen nicht ein. Spätestens hier wäre also, auf dem Weg zu Proust und Joyce, eine Zäsur zu setzen: Bouvard et Pecuchet ist nicht nur eine Parodie, sondern der Antityp der >sakralen< Enzyklopädie. Diese These wird vollends unabweisbar, wenn man Flauberts vorhergegangenen Roman, die Tentation de Saint Antoine (1872) mit in die Betrachtung einbezieht. Wie, unter anderen, Foucault gezeigt hat, sind in beiden Texten die »Elemente« der Konstruktion »dieselben« — »ein aus Büchern entstandenes Buch; die gelehrte Enzyklopädie einer Kultur« - so daß das nachgelassene Romanfragment geradezu als »Doppelgänger« der Tenta-

23

24

Flaubert an Madame Roger des Genettes, 19. August 1872, zitiert nach: Raymond Queneau, Bouvard und Picuchet, in: Gustave Flaubert, Bouvard und Pecuchet, Zürich 1979, S. 375-393; S. 381. Northrop Frye, Anatomy of Criticism. Four Essays (1957), London 1990, S. 365 (vgl. dt: Analyse der Literaturkritik, Stuttgart 1964). Fryes eigenwilliger, im einzelnen durchaus differenzierter Ansatz ist hier nicht zu diskutieren; vgl. etwa, durchaus im Sinne des Erfinders, Edward Mendelson, Encyclopaedic Narrative from Dante to Pynchon, in: MLN 91 (1976), S. 1267-1275.

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tion verstanden werden kann.25 Hier wie dort sind es »die bereits gesagten Worte, die überprüften Texte, die Massen an winzigen Informationen, Parzellen von Monumenten, Reproduktionen von Reproduktionen«, ist es »das ständige Raunen der Wiederholung«,26 das den Text im Zusammenspiel mit einer phantastischen Narration hier, in Form einer enzyklopädischen Reihe dort strukturiert. In diesem Sinn stellen beide Texte exemplarische >Bibliotheksphantasmen< vor, die jedoch heilige und profane Schriften, indem sie sie zitieren, auflösen und zersetzen; oder anders gesagt: historistisch entwerten. Und wenn es sich bei Bouvard et Pecuchet um eine Parodie handelt, dann allenfalls um eine Selbstparodie des von Flaubert entwickelten Verfahrens zur Herstellung von Romanen aus einer enzyklopädisch umfassenden Lektüre.27 In der Konfrontation mit Texten wie den Romanen Flauberts, die ihrer Form und ihrem Inhalt nach aus Zitaten und Wiederholungen bestehen, erweist sich ein systematisch unterbestimmter Enzyklopädiebegriff wie der Fryes als unbrauchbar. Heuristisch aussichtsreich erscheint dagegen der von Hilary Clark unternommene Versuch, das Genre der fiktionalen Enzyklopädie nicht nur als Medium einer kulturellen Symbolik, sondern aus einer spezifischen Beziehung zu den Schriften der eigentlichen Enzyklopädisten zu begreifen. Eine Enzyklopädie läßt sich definieren als »a book or set of books containing information on all aspects of knowledge, or on one particular branch of knowledge«;28 in Fryes »encyclopaedic mode« läge dann einer Art literarischer >Übersetzung< aus diesem nicht-fiktionalen Darstellungsmodus vor. »The traits of the non-fictional encyclopaedia«, hebt Clark hervor, »cannot be directly applied to fiction; the relation is one of translation, not of correspondence between the two forms of encyclopaedic discourse. The non-fictional encyclopaedia remains a model or metaphor for its fictional counterpart«.29 Von der These ausgehend, daß fiktive Enzyklopädien sich der Durcharbeitung von strukturellen Problemen enzyklopädischer Darstellung in einem anderen Medium widmen, kann jedoch auch Clark gemeinsame Charakteristika des enzyklopädischen Diskurses insgesamt entwickeln. Konstitutiv sei eine Spannung zwischen »totalization and incompleteness«, durch die Enzyklopädien anstatt zu formaler Integration zu einer

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Michel Foucault, Un »fantastique« de bibliothfcque, in: M.F., Schriften zur Literatur, Frankfurt 1988, S. 157-177, S. 174. Michel Foucault, Un »fantastique«, S. 160. Für weitere Hinweise zu diesem Zusammenhang vgl. Kapitel I 2: Historismus und Realismus im historischen Roman; Kapitel III 1: Erzählen. Hilary Clark, The fictional encyclopaedia: Joyce, Pound, Sollers, New York and London 1990, S. 17. Weiterführende Informationen zur Geschichte des enzyklopädischen Gedankens bei: Robert Collison, Encyclopaedias. Their history throughout the Ages, New York 1964. Hilary Clark, Encyclopaedia, S. 35.

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»increasing fragmentation« tendierten;30 sie seien zwar einerseits, als Repräsentationen eines Wissens, extrem zeitgebunden, im Gegenzug jedoch durch eine immanente Tendenz zur Aufhebung von Zeit in Ewigkeit gekennzeichnet; schließlich handle es sich hier, wo »one great Text [...] out of other texts« erschrieben wird, um paradigmatische Fälle von Intertextualität oder »>bookishnessBuch< und den >Büchern< nicht einfach als Konstante der »tradition« einer >Gattung< betrachtet werden.33 Clarks eigener Ansatz legt die Gegenthese nahe, von einer Gattung, gar einer Gattungstradition könne gar nicht die Rede sein, sondern allenfalls von prinzipiell differierenden Lösungen im Rahmen einer historisch je verschiedenen diskursiven Konstellation. Wenn nämlich, beispielsweise, Diderot die enzyklopädische Tradition selbstsicher ignoriert, dann liegt bei ihm nicht etwa ein »blind spot in an >enlightened< encyclopaedist« vor.34 Historische Ignoranz wäre allenfalls dort anzunehmen, wo verkannt wird, daß es sich bei dem in mittelalterlichen Enzyklopädien kompilierten Material entschieden nicht um ein Wissen im Sinne der Aufklärung handeln konnte - obwohl dort die Kriterien der Form erfüllt waren. Gerade weil jedoch für die mittelalterlichen Enzyklopädisten die Fragen der Autorität, der Schrift, der Beständigkeit und Vollständigkeit ihrer Texte ein für allemal beantwortet schienen, weil diese Texte so vollständig und zeitlos waren, wie sie nur sein konnten, kamen sie für das Projekt einer aufgeklärten Enzyklopädistik als Referenzen nicht in Frage. Damit zeigt sich aber auch, daß den von Clark herausgearbeiteten Charakteristika einer von Spannungen und Paradoxien bestimmten >Gattung< selbst

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Hilary Clark, Encyclopaedia, S. 36f. Hilary Clark, Encyclopaedia, S. 40. Hilary Clark, Encyclopaedia, S. 43. Hilary Clark, Encyclopaedia, S. 26f. Hilary Clark, Encyclopaedia, S. 27. - Im übrigen wird diese Tradition aber durchaus zur Kenntnis genommen; vgl. Denis Diderot, Prospekt der Enzyklopädie, in: Artikel aus der von Diderot und d'Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, hg. v. Manfred Naumann, Leipzig 1984, S. 22-53, S. 23f.

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nur historisch begrenzte Geltung zukommt. Sie sind ganz auf die französische Encyclopedie (35 Bde; 1751-1780) und allenfalls auf die zeitgenössischen Paralleluntemehmungen in England und Deutschland zugeschnitten, also auf jene Tradition enzyklopädischen Denkens, die mit Bacon beginnt und mit der Encyclopedie bereits wieder an ihr Ende kommt. Zurecht wird das 18. als das enzyklopädische Jahrhundert bezeichnet; alle späteren Versuche, die gesamte enzyklopädische Kompetenz etwa des 19. Jahrhunderts in einem Buch zusammenzufassen, sind gescheitert - so wie etwa die dem Umfang nach umfassendste, von Ersch und Gruber 1815 begründete, Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste nach Abschluß von 167 Bänden erloschen ist. Wenn es sich also als sinnvoll erweist, von fiktionalen Enzyklopädien in der Literatur der Moderne zu sprechen, dann operieren diese Texte unter der fundamentalen, von der >Gattungsgeschichte< schnöde übersehenen Voraussetzung, daß die zeitgenössische Wissenschaft vor der Undarstellbarkeit des enzyklopädischen Universums als ganzem längst resigniert hat.

Die Systematik der

Encyclopädie

Dennoch bleibt der Ansatz richtig, enzyklopädische Formen überhaupt aus ihren internen Darstellungsproblemen zu verstehen. Und wenn, wie die Semiotik postuliert, sprachliche und kulturelle Kompetenz nicht systematisch voneinander geschieden werden können, dann dürfte aus jenen Darstellungsproblemen, mit denen sich die Herausgeber der Encyclopädie konfrontiert sehen, nicht wenig über die Problematik aller Versuche einer literarischen Totalisierung zu lernen sein. Das dynamische Objekt der Enzyklopädie entzieht sich jeder auch nur tendenziell vollständigen Abbildung und jeder Fixierung in Zeit und Raum. Ecos regulative Idee von der »globale [n] semantischefn] Kompetenz einer gegebenen Kultur«35 entspricht aber gleichwohl dem empirischen Gegenstand, der in Diderots und d'Alemberts Programm einer Synthese des Wissens anvisiert wird. Sämtliche Programmschriften der Enzyklopädisten sind darum von der Absicht motiviert, den Versuch einer Darstellung des Undarstellbaren und der willkürlichen Anordnung des nicht natürlich Geordneten als ein - notwendig problematisches - Experiment zu legitimieren. Diderot ist sich dabei durchaus dessen bewußt, daß die Ordnung des Wissens von der Ordnung der Sprache und ihrer Wörter abhängt, weil sich nämlich »die Definitionen der Namen nicht von den Definitionen der Sachen unterschei-

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Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 108.

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den«.36 In den programmatischen Schriften der Enzyklopädisten werden die Aporien des Projektes überhaupt auf erstaunlichem Niveau verhandelt, ja es wird hier bereits bis zu jenem Extrem vorausgedacht, das Borges in seinen gern zitierten Erzählungen zum Thema immer wieder umspielt: Daß eine vollständige Enzyklopädie auf eine >Verdopplung< der Welt hinauslaufen müßte. Diderot sieht im exponentiellen Wachstum der Buchproduktion schon jenen »Zeitpunkt voraus, in dem es fast ebenso schwer sein wird, sich in einer Bibliothek zurechtzufinden wie im Weltall«;37 und so macht er just die Unvollkommenheit des empirischen Druckwerks zu dessen Tugend, indem er anführt, der Unterschied zwischen »der Lektüre eines Werkes, in dem alle Triebkräfte des Weltalls dargelegt wären, und der Erforschung des Weltalls selbst« müsse tendenziell verschwinden, so daß dieses »unermeßlich[e] Buch«38 so unübersichtlich oder unlesbar würde wie die Welt, als ganze, selbst. Gleichwohl unterscheidet sich die Enzyklopädie vom bloßen Wörterbuch oder vom Konversationslexikon des 19. Jahrhunderts, dem d'Alembert eine Art prophetischer Kritik widmet,39 dadurch, daß die Kontingenz der Lemmata in ihrer alphabetischen Anordnung durch eine systematische Hintergrundstruktur aufgefangen wird. »Die Enzyklopädie«, hält Diderot darum fest, »duldet - strenggenommen - überhaupt keine Auslassung.«40 Und indem alles genannt wird, was genannt werden muß, wird auch jedem Begriff sein Ort im Ganzen zugewiesen. Der Aufriß einer enzyklopädischen Struktur muß darum der Aufriß einer Hierarchie des Wissens sein. Er läßt sich, wie Francis Bacon es zuerst skizzierte, schematisch in einem enzyklopädischen Baum veranschaulichen;41 d. h. in einem Schema, das in seiner Anlage dem Porphyrischen Baum des klassischen Wörterbuches entspricht. Allerdings zollen die enzyklopädischen Bäume seit Bacon der Komplexität ih-

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Denis Diderot, Artikel Enzyklopädie (Encyclopedie), in: Artikel aus der Enzyklopädie, S. 314-416; S. 318. Vgl. außerdem Diderots Prospekt (S. 22-53); Jean-le-Rond d'Alemberts Artikel Wörterbücher (Dictionnaires) (S. 226-231), sowie seinen Discours preliminaire, deutsch: D'Alembert, Einleitung in die französische Enzyklopädie von 1751, hg. v. Eugen Hirschberg, Leipzig 1912. Denis Diderot, Artikel Enzyklopädie, S. 385. Denis Diderot, Artikel Enzyklopädie, S. 358. Vgl. d'Alembert, Artikel Wörterbücher, S. 227f. - Ein zweifellos entscheidender Aspekt der Enzyklopädieproblematik wird im vorliegenden Zusammenhang gänzlich außer acht gelassen: ihr Zusammenhang mit den Funktionen des kulturellen Gedächtnisses und deren historischer Transformation; vgl. dazu etwa die Beiträge in: Memoria. Vergessen und Erinnern (Poetik und Hermeneutik XV), hg. v. Anselm Haverkamp/Renate Lachmann, München 1993. Denis Diderot, Prospekt, S. 25. Vgl. die Zusammenstellung verschiedener Schemata bei Robert Darnton, Philosophen stutzen den Baum der Erkenntnis. Die erkenntnistheoretische Strategie der Encyclopedie, in: R.D., Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, München 1989, S. 219-243; S. 240-243.

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res Objektbereiches dadurch Tribut, daß sie das Prinzip einer streng binären Differenzierung stellenweise durchbrechen und eine Mehrzahl von Verzweigungen zulassen. Beeindruckend fällt jedoch in dieser Hinsicht ein Vergleich der französischen Encyclopedic mit ihrem unmittelbarem Vorläufer, der Cyclopaidia von Ephraim Chambers (1728) aus. Während Chambers sich sichtlich um eine binäre Distribution bemüht, scheint das französische Schema vor allem dazu entworfen, die Unübersichtlichkeit des Wissens in seiner Gesamtheit zu demonstrieren - wobei jedoch auch noch diese Unübersichtlichkeit sich einer ausdrücklich zugestandenen Vereinfachung komplexerer Verhältnisse verdankt. - Zudem besteht in jedem enzyklopädischen Projekt eine nicht aufhebbare Spannung zwischen Baum und Text. Wenn die ideale Hierarchie der Topoi in die sukzessive Linearität einer Folge von Artikeln (in Buchform) übertragen werden muß, wird die enzyklopädische Struktur notwendig entgleiten. Aus der doppelten Spannung zwischen dem Prinzip einer idealen Ordnung und ihrer unvollkommenen Schematisierung, dem streng gegliederten Schema und der Beliebigkeit einer jeden schriftlichen Präsentation stellt sich der Konflikt zwischen programmatischer Ordnung und pragmatischer Anordnung als das konstitutive Darstellungsproblem jeder Universalenzyklopädie heraus: Was oberflächlich betrachtet in der Figur eines sukzessiv zu vervollständigenden Zirkels (Kyklos) der Wissensgebiete aufgeht, birgt in Wahrheit die schwer überschaubare Räumlichkeit einer imaginären Bibliothek, in der immer nur Spezialenzyklopädien (oder >lokale Repräsentationenincompleteness< beunruhigt, als durch die unheimliche Aussicht auf jene alle lokalen terminologischen Hierarchien überbordende Vollständigkeit, die in Unlesbarkeit umschlagen müßte.

Labyrinthe: Realismus und Naturalismus Ist das 18. Jahrhundert das enzyklopädische, so gehört das folgende den Konversationslexika, deren Siegeszug mit dem Unternehmen von Brockhaus (1809) beginnt.48 Im Konversationslexikon sind alle internen Spannungen durch Preisgabe der Kohärenzforderung eliminiert. Die programmatische Oberflächlichkeit eines auf Information reduzierten Wissensbestandes steht gewiß für das Scheitern der aufklärerischen Bildungsutopie49 - denn zwischen lexikalischer und enzyklopädischer Darstellungsform besteht (bei phänotypischer Ähnlichkeit im Gebrauch des ABC) ein prinzipieller Antagonismus. An die Stelle einer pragmatischen Anordnung kohärenten Wissens setzt das Konversationslexikon die programmatische Beliebigkeit der dargebotenen Fragmente heterogener Wissensgebiete. Kriterium des Konversationswissens ist darum, pointiert gesagt, gerade seine Unbrauchbarkeit in einem spezifischen (erst recht: wissenschaftlichen) Kontext. Für die klassische Moderne hat Carl Sternheim die Verwechslung des konversationslexikalischen mit dem genuin enzyklopädischen Modus im »Dunstkreis zentraleuropäischer Gemeinplätze« notiert, als die Illusion, alles Wißbare sei gefunden und durch Worte schon Gemeingut. >Verbreitet ist das Wandbrett mit dem Lexikon.< Aus dem billige Kenntnis der Welt jeder ziehen kann.50

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Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 129. Die Bedeutung der Totalisierung des enzyklopädischen Gedankens im Idealismus (Hegels formale Enzyklopädie) und in der Romantik (Novalis' universalenzyklopädische Spekulationen), sowie deren jeweiliges Verhältnis zur Ordnung des Systems, können hier nicht erörtert werden. Einige Hinweise zur >Bildungsfunktion< des Konversationslexikons gibt Gerhart von Graevenitz, Memoria und Realismus - Erzählende Literatur in der deutschen >Bildungspresse< des 19. Jahrhunderts, in: Memoria. Vergessen und Erinnern, S. 283-304, besonders S. 284-287. Carl Stemheim, Kampf der Metapher, in: C.S., Essays. Werkauswahl Bd. 4, hg. v. Wilhelm Emrich/Manfred Linke, Darmstadt/Neuwied 1973, S. 19-25; S. 22.

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In seiner unvermittelten Linearität und seiner reinen, durch keine Hierarchie der Begriffe verstellten Kontingenz erweist sich das Konversationslexikon als durchaus genaues Analogon von Lexemautonomie. Im Grunde handelt es sich dem Ideal seines Gebrauchs nach - durch >Blättern< und punktuellfragmentarisches Zitieren - um ein Mittel zur Herstellung von Katalogen. Diese können historistisch vermittelt erscheinen (wenn es sich um Informationen zu einem einzelnen Lemma handelt); dem Prinzip ihrer Aufreihung nach sind sie jedoch nurmehr rhetorisch bestimmt. Konversation als Austausch von Informationen, wie sie in Lexika kodifiziert sind, hangelt sich am Wörterbuch der Gemeinplätze entlang: Das notiert nicht nur, in Reinform, Flauberts Dictionnaire des idees regues, sondern auch, in zahlreichen Varianten, der Dialog im Drama der klassischen Moderne.51 Die literarische Enzyklopädie der klassischen Moderne tritt darum nicht nur bei Flaubert als negative Enzyklopädie, als Unternehmen zur kritischen Auflösung des Gemeinplatzes in Erscheinung, sondern etwa auch in jener von Sternheim gemeinsam mit Carl Einstein geplanten Encyclopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie, von der lediglich eine erste Seite überliefert ist.52 Solche Befunde führen notwendig auf die Frage, ob die negativen Enzyklopädien, zu denen - nach Pounds Einschätzung - ja auch Joyces Ulysses gehören würde, nicht nur die Kehrseite einer irreduziblen Voraussetzung literarischer Repräsentation hervorbringen. Wenn Flaubert in Bouvard et Pecuchet das eigene generative Verfahren zur Herstellung von Romanen parodiert, und wenn anders bereits die erlebte Rede der Madame Bovary ein Kompendium von Gemeinplätzen versammelt, dann wird die Aufgabe dringend, das Verhältnis des literarischen Realismus zur enzyklopädischen Darstellungsweise zu untersuchen. Angesichts umfangreicher und nach allgemeiner Ansicht >welthaltiger< Romane, und erst recht angesichts monumentaler Romanzyklen wie der Comedie Humaine eines Balzac, drängt sich geradezu die Vermutung auf, die Intention auf eine enzyklopädische Repräsentation sei vom wissenschaftlichen gewissermaßen direkt in den literarischen Diskurs ausgewandert - oft genug hat man demgemäß die Texte der europäischen Realisten ohne weiteres als romangewordene Kompendien ihrer Epoche in Anspruch genommen. Einer näheren Betrachtung hält die Intuition, die einem solchem Zugriff zugrundeliegt, jedoch nicht stand - zumindest muß differenziert werden. Zu diesem Zweck wird im folgenden auf Gepperts ausführliche Analysen zur Semiotik des realistischen Romans zurückgegriffen, die vergleichbare Konzepte von Roman Jakobson oder Roland Barthes auf einleuchtende Weise

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Vgl. Christoph Brecht, Kruzifix, errichtet vom Verschönerungsverein. Ödön von Horväth und die Semantik der Moderne, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 2/1994, S. 309-332. Vgl. Carl Sternheim, Erste Seite einer »Encyclopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie«, in: Essays, S. 27-29.

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mitreflektieren. Am realistischen Erzählen läßt sich demnach zwar eine konstitutive Beziehung auf das dynamische Objekt der Semiose feststellen; diese ist jedoch nicht im engeren, d. h. darstellungstechnischen Sinn enzyklopädisch zu nennen. Gepperts vielfach variierte Generalthese situiert vielmehr die Zeichensprache des Realismus im Modus einer sozusagen prinzipiellen Vorläufigkeit: Was der literarische Realismus des 19. Jahrhunderts impliziert, ist die Realisierbarkeit einer Sinntotalität des Wirklichen. Was er erreicht, ist zuletzt, als finales Interpretans bzw. als nicht mehr weiter begründbare Ordnung seiner aktualen Interpretanten, seines Diskurses, immer eine unvollständige Induktion. Es ist ein immer neues Ansetzen von hypothetischen Sinn- und Wirklichkeitsentwürfen, [...] aber immer in der Weise, daß der Weg wichtiger ist als das Ziel. 53

In diesem Sinn kann die Metapher des Weges geradezu als eine organisierende metapoetische Allegorie für das realistische Erzählen überhaupt fungieren.54 Denn »realistische Zeichensprachen« beruhen - in die Terminologie von Peirce übersetzt - auf singulären Verkettungen von Indizes, und es ist für sie kennzeichnend, daß sie »ihre Codes >aufbrauchenrealistischen< Semiotik dar, in der die

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Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg, S. 184. Vgl. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg, S. 215. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg, S. 127. Vgl. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg, S. 8; S. 15-19. Vgl. Kapitel I 3: Historismus und Realismus im historischen Roman.

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Garantie des Zusammenhangs der Zeichen, der Verlauf des poetischen Weges an einen anderen Diskurs delegiert ist. Nach Maßgabe einer enzyklopädischen Heuristik< in einem semiotischen Modell sind realistische Erzählverfahren demnach dadurch zu charakterisieren, daß die Problematisierung des Einzelnen und Besonderen durch einen mehr oder minder reflektierten Vorgriff auf einen erst noch herzustellenden Zusammenhang legitimiert wird. In dieser Formulierung gilt die These von der Heteronomie eines solchen Erzählens auch für den realistischen Roman, wie ihn Geppert untersucht. Die semiotische Produktivität des enzyklopädischen Universums muß als gegeben vorausgesetzt werden, weil sie in ihrer Allgemeinheit einem systematischen Zugriff nicht zugänglich ist - realistische Narrationen liefern darum Modelle einer (unendlichen und unabschließbaren) Annäherung an das dynamische Objekt ihres Erzählens. Verfolgt man Gepperts Ansätze zu einer semiotischen Differenzierung der »literarischen Schreibweisen verschiedener Epochen« 58 weiter, so läßt sich dieses Charakteristikum des Realismus besonders prägnant in einem Vergleich mit der »System-Semiose« naturalistischen Erzählens profilieren. Am Beispiel von Zolas L'Assommoir (Der Totschläger, 1876) weist Geppert auf, wie der gesamte Roman als Explikation seines Titels gelesen werden kann - weil nämlich der Romantitel das semantische Potential des Textes insgesamt organisiert.59 Der Totschläger ist zunächst eine Schnapskneipe, daneben natürlich ein Mordinstrument, »aber so wird auch die Destilliermaschine genannt, welche dort aufgestellt ist«. Die »Bedeutung von >assomerWirklichkeitskriseLabyrinthe< eröffnet einen Augenblick lang und für den, welcher ihre Bedeutung kennt, sehr weit reichende, sozusagen >kühn metonymische< Folgerungen«; doch bleibt dabei »im ganzen [...] die Kontinuität der Zeichenerzeugung gewahrt«, so daß das vermeintliche >Spinnennetz< sich schließlich »als ein völlig indexalisches Weg-, Richtungs- und Hinweis-System erweist«. Das narrative Labyrinth des Realismus entsteht also tatsächlich unter rigider Kontrolle eines Erzählers, der »zwei Punkte durch zwei möglichst lange Ungerade zu verbinden sucht«.68 Ein solches Labyrinth stellt eine Variante der hier >regierenden< Allegorie

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Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 125. Manfred Schmeling, Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt 1987, S. 70f. (Abbildung S. 71). Wenn am Ende von Schmelings Interpretation aus den chthonischen Elementen des labyrinthischen Mythos die »kosmische Kreislauf-Idee« als Dominante des Romans entwickelt wird, scheint freilich die Pointe des labyrinthischen Diskurses gerade verfehlt. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg, S. 313. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg, S. 401. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg, S. 404.

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des Weges dar, oder mit Eco: ein Labyrinth erster Ordnung, in dem »der Ariadnefaden völlig sinnlos« bleibt, weil das » Labyrinth selber ... ein Ariadnefaden« ist.69 Die Irrgärten Zolas sind dagegen nach jener zweiten Ordnung konzipiert, die im Muster des Porphyrischen Baumes anschaulich wird. Hier gilt: »der Versuch des Besuchers, den Weg zu finden, ist der Minotaurus«;70 denn der »Irrgarten weist Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Pfaden auf«, und der Besucher kann sich durch Wahrnehmung »bestimmte[r] Wahlmöglichkeiten« zurechtfinden, die »anderen gegenüber bevorzugt« sind.71 Den Ariadnefaden, den der Heros/Leser hier benötigt, stellt das allgemeine Gesetz bereit, dem unterworfen der Roman als definitorische Explikation einer deterministischen Semantik erscheint. Tatsächlich jedoch befindet sich das Zolasche Textlabyrinth immer schon im Übergang zum Labyrinth dritter Ordnung, einem semiotischen »Netz«, das ein »unbegrenztes Territorium« mit unabsehbaren Möglichkeiten der Verknüpfung und temporaler Dynamik - oder: ein Rhizom umschreibt.72 Gerade in diesem Widerspiel zwischen deterministischer Dogmatik und der Semantik des Wortspiels liegt, wie sich noch zeigen wird, die Bedeutung des Naturalismus für den Diskurs der experimentellen Moderne 73

Das lexikalische Kaleidoskop: Arno Holz Dem Interesse an einer historischen Semiotik der literarischen Moderne drängt sich von diesen Befunden her verführerisch der Gedanke auf, im Grunde sei alles ganz einfach und dem Diskurs dieser Moderne komme doch so etwas wie eine unaufhaltsame Eigendynamik zu - hin auf eine exponentiell zunehmende Entgrenzung der Semiose. Der zuletzt angedeutete Dreischritt in der Abfolge regulativer poetologischer Modelle scheint eine Literaturgeschichte in nuce jedenfalls zu implizieren: Die realistischen Wege eines singularen und kontinuierlichen Erzählens führten dann durch die naturalistischen Irrgärten, die das vorausgesetzte Allgemeine in ein enzyklopädisches Labyrinth verwandelten, bis zu einem Modell von Textualität, in dem das enzyklopädische Universum nicht mehr poetisch chiffriert, sondern in Form von Texturen gewissermaßen unmittelbar abgebildet wür-

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Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 125. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 126. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 125. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 126f. Vgl. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg, S. 313. Die »symbolische[n] Räume« (S. 312) einer zyklisch gedachten Natur nehmen allerdings, wie gesehen, die Dynamik der Semiose wieder in die Tableaus einer Dauer im Wechsel zurück.

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de. Exemplarisch wäre dafür ein Text wie Finnegans Wake, der seinen »Wehg«74 nurmehr als auswegloses Geflecht von Bedeutungen präsentiert, und der als ein Gewebe von strenger Wörtlichkeit zugleich in jedem Wort einen Meta-Text darstellte. Daß eine derartige teleologische Rekonstruktion der literarischen Moderne einem Kurzschluß erliegt, daß sie entscheidende Momente und Funktionen moderner Textualität schlicht verdrängt, macht schon ein flüchtiger Blick auf die literarischen Verfahren der Decadence deutlich, deren historistische Eigentümlichkeiten oben ausführlich beschrieben und analysiert wurden.75 In der Lexemautonomie, besonders in den Katalogverfahren einschlägiger Texte, scheint keineswegs die Semiotik der Enzyklopädie am Werk zu sein, sondern vielmehr die reduzierte Semantik der Konversationslexika, wenn nicht der Wörterbücher. Erst recht gilt diese Diagnose für jene Werke, die Arno Holz im Anschluß an seine Experimente mit naturalistischen Schreibweisen vorgelegt hat, d. h. vor allem für die späten Fassungen des Monumentalgedichtes Phantasus,76 Die Rezeptionsgeschichte zeigt, wie schwierig es ist, sich über die Bedeutung dieser literarischen Monstrosität klarzuwerden. Einerseits handelt es sich beim Phantasus um ein weithin ungelesenes, weil: weithin unlesbares Kuriosum von Text; andererseits gibt es, zumindest im deutschen Sprachraum, kaum einen Autor, an dem sich besser belegen ließe, daß aus dem Naturalismus eine prinzipiell andere, neue eben: die moderne Literatur hervorgeht. Am Pathos einer selbstbewußten Avantgarde fehlt es dem Autor nicht: »Wie einen Markstein« will Holz den wortreichen Extrakt seiner Poetologie »in die Geschichte menschlicher Wortkunst« setzen, »als Grenzscheide zweier Zeiten«.77 Der Gestus solcher Setzung ist allerdings mit einer Warnung oder Drohung verknüpft. Keinem anderen ist es seit Arno Holz gelungen, diese literarische Epochenschwelle zu überschreiten. »Die Versuche der Jüngeren [...] mögen sich einregistrieren, wie und wo sie wollen,« schreibt Holz - und die emphatische Moderne liegt da schon Jahre zurück all denen ins Stammbuch, die ihn als Vaterfigur der Avantgarde reklamieren; »ich kann unmöglich zugeben und muß es abwehren, daß sie den >Weiterbau< auf einem >Fundament< bedeuten, das ich durch lebenslange Arbeit gelegt habe, und dessen Vorhandensein sie, radikal ausgedrückt, eher negieren als bejahen«.™ Man hat jedoch nicht auf Holz gehört: Es gibt kaum eine Spielart irgendwie experimenteller Modernität, für die er nicht als Vorläufer oder Wegbereiter in Anspruch genommen worden wäre. 74 75 76

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Vgl. James Joyce, Finnegans Wake / Finnegans Wehg. Vgl. Kapitel II 1: Naturalismus und Ddcadence als Textverfahren. Was im folgenden für den Phantasus angemerkt wird, gilt prinzipiell auch für die anderen Monumentalwerke des Autors, insbesondere für Holz' Blechschmiede. Arno Holz, Die neue Wortkunst, (Das Werk, Bd. X), Berlin 1925. S. I. Arno Holz, Die neue Wortkunst, S. 698. 317

Freilich stets unter Vorbehalt. Der Phantasus bleibt in strengem Sinn ein Sonderfall; vom engen Kreis seiner Epigonen abgesehen hat Holz keine Schule begründet, keine literarischen Söhne und Töchter gezeugt. Heißenbüttels Diktum vom Vater Arno Holz ist in diesem Sinn ironisch pointiert, denn die Avantgarde kann Holz allenfalls als einen »Ersatzvater«,79 eher noch: als einen etwas wunderlichen Erbonkel mit ungewissem Vermögensstand adoptieren. - Holz' Verwandtschaft mit seinen Nichten und Neffen, diese These erscheint immerhin konsensfähig, ergibt sich aus dem für die klassische Moderne charakteristischen, paradoxen Ineins von Sprachskepsis und Sprachvertrauen, Sprachkrise und Sprachbegeisterung.80 Das wäre gewissermaßen die Holzsche Variante der für die Literatur der Jahrhundertwende angeblich paradigmatischen Chandos->Krisec Bei jedem Satz, den ich niederschrieb, gähnten um mich Abgründe, jede Wendung, die ich aus mir riß, schien mir ein Ungeheuer, jedes Wort hatte die Niedertracht, in hundert Bedeutungen zu schillern, jede Silbe gab mir Probleme auf.81

Unverkennbar liegt hier eine weitere, diesmal eine dezidiert produktionsästhetische Variante von Nietzsches Dicadence-Oeimiüon vor, die überdies das Theorem der Lexemautonomie auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Jedoch ist zu bedenken, daß Holz sich an der zitierten Stelle einer werkbiographischen Krise im Rückblick auf seine naturalistischen Formexperimente erinnert; der Kontext läßt keinen Zweifel daran, daß der Phantasus nicht Dokument der Sprachskepsis sei, sondern triumphaler Beleg für deren Überwindung. Probleme mit Sätzen, Wörtern und Silben zu haben, das gehört für Holz zur Symptomatik der Vormoderne - modern ist eine Ästhetik, die daraus die poetologische Konsequenz zieht und zur Wortkunst mutiert: Holz' Phantasus ist Literatur unter den Bedingungen der Lexemautonomie, gerade darum aber eine souveräne und autoritative Literatur. Zumindest im deutschen Sprachraum ist Arno Holz, wie sich zeigen wird, der einzige Autor, der eine programmatische Poetik der Lexemautonomie - vor oder dies-

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Helmut Heißenbüttel, »Vater Arno Holz«, in: H.H., Über Literatur, Olten/Freiburg 1966, S. 36-39, S. 36. Für einige Positionen der Holz-Forschung vgl. Wilhelm Emrich, Die Struktur der modernen Dichtung; Zur Ästhetik der modernen Dichtung; Arno Holz und die moderne Kunst, in; W.E., Protest und Verheißung, Frankfurt/Bonn 3 1968, S. 111-122; 123-124; 155-168; Hans-Georg Rappl, Die Wortkunstlehre von Arno Holz, (Diss.) Köln 1957, S. 49f.; Ingrid Strohschneider-Kohrs, Sprache und Wirklichkeit bei Arno Holz, in: Poetica 1 (1967), S. 44-66; Gerhard Schulz, Arno Holz. Dilemma eines bürgerlichen Dichterlebens, München 1974; Bemd Helmut Neumann, Die kleinste poetische Einheit. Semantisch-poetologische Untersuchungen an Hand der Lyrik von Conrad Ferdinand Meyer, Arno Holz, August Stramm und Helmut Heißenbüttel, Köln/Wien 1977; Rob Bums, The Quest for Modernity. The Place of Amo Holz in Modem German Literature, Frankfurt/Bern 1981; Robert Oeste, Arno Holz. The long poem and the tradition of poetic experiment, Bonn 1982. Amo Holz, Die neue Wortkunst, S. 341.

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seits einer Poetik der Textur - entwickelt und literarisch konsequent realisiert hat. Darin liegt seine exzentrische Stellung im Diskurs der literarischen Moderne begründet. Zugleich erweist sich diese Poetik, ganz im Sinn des Autors, als eine genaue Antwort auf die Aporien der naturalistischen Semiose und ihrer >SystemkriseWeltbild< heute noch in den Rahmen irgend einer >FabeI< oder >Handlung< spannen zu wollen, hätte mir kindlichstes Vermessen geschienen! Was zu einem Weltbild heute >gehörtLegende< imstande wäre, für einen solchen >Inhalt< den dazu nötigen Untergrund zu schaffen! 87

Die neue Unübersichtlichkeit der Moderne ist narrativ nicht repräsentabel; ungerührt konstatiert schon Holz das Ende der großen Erzählungen: im Diskurs des Historismus. Aus Sicht einer allgemeinen Semiotik, aber auch im Verständnis von Holz, handelt es sich bei dem bunten Gewimmel der Diskursfragmente und beim unkontrollierbaren Schillern der Semantik autonomer Lexeme um ein und dasselbe Phänomen. Literatur kann dann zwar,

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Arno Holz, Die neue Wortkunst, S. 651f. Arno Holz, Die neue Wortkunst, S. 651. Arno Holz, Die neue Wortkunst, S. 651.

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nach dieser Diagnose, gar nicht anders, als kaleidoskopisch zu verfahren wie es auch schon im ersten Phantasus geschieht. Dadurch gewinnt sie sogar erst eine mimetische, oder besser: ikonische Qualität zweiter Ordnung. Doch kann sie dem Anspruch auf Darstellung, mit dem der Diskurs der Moderne konfrontiert, nur gerecht werden, wenn sie, im Holzschen Verstand, zur Wortkunst wird. Ganz einfach gesagt: Wo hundert Bedeutungen alludiert sind, müssen auch hundert Bedeutungen artikuliert werden. Und dies kann geschehen, indem dem Lexem, das zum Knotenpunkt einer semantischen Verknüpfung wird, hundert andere Lexeme beigestellt werden. Auf diese Weise kann es dazu kommen, daß die späten Phantasus-Bände über weite Strecken auf denselben Sätzen (d. h. denselben syntaktischen Strukturen) beruhen wie die Miniaturen der Erstfassung. Nur daß diese Sätze durch lexikalische Amplifikation ins Monströse aufgeschwollen sind. Holz' Postulat, »möglichste Objektivität sei Aufgabe des Künstlers«,88 meint demnach die möglichst vollständige Kontrolle über die semantischen Potentiale des literarischen Textes, ja der Semiose überhaupt. Das ist die denkbar radikalste Verkehrung jener Qualität einer ambigen, mit Bedeutung überdeterminierten Rede, die der Poesie seit jeher und der Literatur der Moderne im besonderen zugeschrieben wird:89 Ausschaltung aller Polyvalenz durch Vollständigkeit der Bezeichnung. Das klingt naiv, und der Einwand liegt nahe, der ganze Phantasus beruhe auf einem enormen Mißverständnis, einer kaum glaublichen Ignoranz gegenüber der semiotischen Produktivität von Sprache. Doch schon die prinzipielle Unabschließbarkeit des Holzschen work in progress, auch wenn sie biographisch zunehmend Züge einer DonQuijoterie annimmt, verweist auf ein reflexives Bewußtsein von der Problematik des Phantasus. Der Einwand, bei Holz bleibe »die Zerteilung und Häufung von Wortmaterial in sich selber stecke[n]«, ist sicherlich gerechtfertigt. Aber wenn das tatsächlich »geschieht, weil Holz gegen alle Möglichkeiten, sein Material aus sich sinnvoll zu organisieren, blind bleibt,« dann ist dem immerhin entgegenzuhalten, daß Holz sich sehenden Auges und aus, seines Erachtens, guten Gründen in diese vermeintliche Sackgasse verrennt. Aus seiner Sicht kommt buchstäblich alles darauf an, die Selbstorganisation des Materials, der literarischen Semiose möglichst vollständig zu blockieren. - Einer späteren Avantgarde, die Wörter als Materialien einer durchgreifenden semantischen Manipulation betrachtet, wird der Phantasus darum zwangsläufig zum Rätsel: Sollte all dieser Aufwand an einer, wie es zunächst scheint, genuin avantgardistischen Sprachtechnik nur zu dem Zweck betrieben sein, die enzyklopädische Kompetenz des Lesers nicht zu

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Arno Holz, Die neue Wortkunst, S. 341. Vgl. etwa Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg, S. 221-230; Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität, I.e. Helmut Heißenbüttel, Vater Arno Holz, S. 36f.

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aktivieren, sondern sie - mit Ecos schönem Begriff - zu narkotisieren? Aber so verhält es sich tatsächlich: während die Katalogverfahren der Decadence punktuell operieren und, um im Bild zu bleiben, Techniken einer örtlichen Betäubung des Lesers bereitstellen, liefert der Phantasus das textgewordene Äquivalent einer enzyklopädischen Vollnarkose. Er erweist sich in dem Sinn als unlesbar, daß die gesamte Textstrategie darauf gerichtet ist, Lektüre als hermeneutisch offenen Prozeß zu verhindern. Und um dies zu erreichen, soviel sollte man Holz zugestehen, bedarf es einer intrikaten und konsequent gehandhabten Worttechnik. Den so erstellten Text zu zitieren, fällt schwer - da mit jedem Zitat der Effekt einer kaleidoskopisch zusammenhängenden Vollständigkeit wieder zunichtegemacht wird. Der Phantasus spricht jedoch im ganzen so, wie die Vögel auf der »Hallelujawiese« zwitschern: in allen Emphasen, mit allen Ekstasen, in allen Melodien, in allen Phantasien, in allen Energien, in allen Kakophonien, in allen Dialekten, [...] mit allen Verzierungen und Mordenten, mit allen Figurierungen und Fisimatenten, mit allen Paraphrasierungen in allen Schattierungen, mit allen Artikulierungen in allen Exekutierungen, mit allen Modulationen in allen Präzisionen, mit allen Koloraturen in allen Bravouren, in allen Skalen auf allen Vokalen, in allen Kadenzen ohne Grenzen, in allen Lagen: es ist nicht zu sagen, [...]"

Und obwohl es kaum zu sagen ist, handelt es sich hier noch nicht um ein extremes Beispiel für das im Text vorherrschende Additionsverfahren. Jene »Konversationslexikonrealität und Synonymenwörterbuchpoesie«,92 die man ihm polemisch vorgeworfen hat, bezeichnet daraus das eigentliche Begehren des Dichters Holz. Oeste verweist etwa auf die Parallele zwischen einer Phantasus-Pass&ge und Bechsteins Naturgeschichte der Hof- und Stubenvögel (1879), »the index to which, predictably, reads like a >Phantasus< excerpt.«93 Aber im Grunde liegt ja auf der Hand, daß der

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Arno Holz, Phantasus, in: ders., Werke, Bd. 1-3, Neuwied/Berlin 1962, Bd. 3, S. 364f. Gerhard Schulz, Arno Holz, S. 186. Robert Oeste, The long poem, S. 160.

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Phantasus nicht von der Macht des originären Dichterwortes zehrt, und daß die Tätigkeit des Kopierens, des Abschreibens von Wortlisten den Autor Holz so wenig entehren kann wie Flauberts Figuren Bouvard und Pecuchet.94 In meinem Schädel befindet sich ein Archiv, mit lyrischen Wunderwerken gewesener Generationen so vollgepfropft, daß ich wirklich davon überzeugt bin, es wird in ihrer Art Köstlicheres nie geschaffen werden.95

Holz sieht seine Aufgabe jedoch nicht etwa darin, diese poetische Tradition fortzuführen. Im Gegenteil, ist der Speicher voll, so muß er entleert werden, und zwar gründlich - zum Beispiel durch die Inkorporation hemmungslos ausgeschriebener Stilparodien in die eigenen >OriginaltexteAbschaltung< der Semiose in einer Semantik des Lexikons. Die lückenlose Verkettung der Hyponyme, bedeutungsä/z/j/Zc/ier, aber durchaus nicht bedeutungsgleicher Wörter96 bringt eine enzyklopädische Textvariante völlig eigener Art hervor. Der Phantasus setzt sich aus einer Folge punktuell situierter Wörterbücher zusammen, die als Listen strikt gleich-gültiger Lexeme erscheinen. Dennoch läßt sich nicht behaupten, diese Lexeme erlangten im Phantasus »willy-nilly a degree of autonomy«.97 Ihre Autonomie ist im Gegenteil Bedingung der Möglichkeit dieses Textes, und erst unter dieser Bedingung erzeugt Holz einen Text von extremer Kontiguität. Dabei wird auch einkalkuliert, daß »Worte [...] weiter nichts als Silben« sind.98 Die für den Phantasus charakteristischen Neologismen, ebenso die in den späteren Fassungen immer mehr verdichteten Effekte von Reim und Assonanz spren-

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Daß zwischen Holz und Flaubert ein Zusammenhang besteht, darauf hat bereits Helmut Heißenbüttel hingewiesen, vgl.: H.H., Materialität der Sprache, in: Über Gustave Flaubert, Hg. G. Haffmans/Franz Cavigelli, Zürich 1979, S. 289-298. Arno Holz, Die neue Wortkunst, S. 497. Vgl. Bernd Helmut Neumann, Die kleinste poetische Einheit, S. 222. Rob Bums, The Quest for Modernity, S. 213. Arno Holz, Die Blechschmiede, Das Werk, Bd. VII/IV, Berlin 1924, Bd. IV, S. 744.

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gen den lexikalischen Zusammenhang nicht, sondern dichten ihn sozusagen gegen jede semiotische Streuung ab. Die autobiographischen, mythologischen oder populärwissenschaftlichen Formulare der Erstfassung verschwinden hinter ihrer jeweiligen Amplifikation, oder: sie werden in dieser Überdehnung kaleidoskopisch zerstreut. Zwar ist der Phantasus auch eine überdimensionale Männerphantasie, in der der Autor A.H. als phylo- und ontogenetische Weltseele spazierengeht. Aber sein Text wird nicht zur Enzyklopädie der Mythen und Archetypen; und die historischen Episoden der unternommenen Zeitreise unterschreiten kategorisch auch noch das Niveau trivialisierender Geschichtsdichtung. Im strikten Gegensatz etwa zum stream of conciousness bei Joyce soll und muß der »Wort- und Assoziationsschwall bei Holz einschichtig« bleiben, »ohne die mythisch-sinnvolle Doppelbödigkeit des Iren.«99 Ein konstitutiver »lack of depth« scheidet Holz auch von dem long poem eines Ezra Pound.100 Denn genau darauf kommt es an: auf Oberflächlichkeit - auf die Erstellung eines syntagmatischen Zusammenhangs, der keinen paradigmatischen Tiefgang zuläßt, weil alles, was >unten< sein könnte, vom Autor nach >oben< geholt worden ist. Darum eröffnet zwar in enzyklopädischen Texturen der klassischen Moderne virtuell jedes Lexem den >Durchblick< auf eine unendliche Semiose, die im Text und über den Text hinaus im Gange ist, auf eine Semiose, die den Text erst macht, selbst wenn sie ihn - als Text - unverständlich macht. Die polierte Oberfläche der Phantasus-Textur dagegen bleibt vollständig opak. Zu Ende gedacht läuft die Notation aller jeweils möglichen Bedeutungsvarianten darauf hinaus, daß gar keine Bedeutung zustandekommt. Damit ist zwar gründlich verhindert, daß unvorhergesehene semantische Verknüpfungen eintreten, oder daß sich die Reihe der Wörter gar in ein semiotisches Labyrinth verwickelt. Doch das geschieht um den Preis, daß der Phantasus als ein semantisch höchst differenzierter und dennoch nichtssagender Text dasteht - man müßte ihn, wenn es dergleichen gäbe, tatsächlich als einen a-semiotischen Text bezeichnen. Der performative Widerspruch liegt hier darin, daß nichts performiert wird: Trotz der virtuell unendlichen und empirisch überwältigenden Länge seiner Sukzession ist dieser Text so gut wie nicht geschrieben}^

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Gerhard Schulz, Arno Holz, S. 227. Robert Oeste, The long poem, S. 55. Außer Betracht bleiben hier die kosmologischen Ornamente, mit denen Holz sein Verfahren in späteren Jahren sozusagen pro domo semantisiert hat: Imaginationen von Wörtern, die durch Mittelachsentechnik und einen untergründig skandierten und sorgfältig ausgezählten Rhytmus der Silbenzahl (vgl. Die Neue Wortkunst, S. 713f.) ihre »ursprünglichen Werte« zurückerhalten sollen (Die Neue Wortkunst, S. 501). Derartige sekundäre Überformungen sprengen den hier analysierten Zusammenhang jedoch nicht auf, sondern dienen ersichtlich der Affirmation der vollkommenen Flächigkeit der Phantasus-Textur.

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Paralyse und Semiose: Joyce und die Enzyklopädie der klassischen Moderne102 You complain that this stuff is not written in English. It is not written at all. It is not to be read - or rather it is not only to be read. It is to be looked at and listened to. His writing is not about something; it is that something itself ,103

Diese Sätze könnten, für sich genommen, auch als eine Charakteristik des Phantasus durchgehen. In mancher Hinsicht wären Holz und sein Text mit Becketts Diktum sogar besser bezeichnet als Joyces Work in Progress, das schließlich 1939 in Buchform unter dem Titel Finnegans Wake erschien. So wäre das einschränkende not only mit Rücksicht auf Holz überflüssig: Phantasus ist ein Text, dessen Kontiguität durch eine physiognomische und phonetische Kostprobe vielleicht schon hinreichend zu belegen wäre. Für Finnegans Wake gilt dies nun freilich gerade nicht: Die Vertauschbarkeit mancher Attribute belegt nicht mehr, als daß Holz wie Joyce zum Archiv der literarischen Moderne gehört. In diesem Archiv sind ihre Texte jedoch nicht einfacher zu situieren als durch die Feststellung, daß der Phantasus in beinahe jeder Hinsicht den konsequenten Antityp zu Finnegans Wake darstellt. Scheinbare Koinzidenzen in Sprachbehandlung und Worttechnik, über deren Nachweis die Holz-Forschung den Marktwert ihres Autors zu verbessern sucht, erweisen sich als trügerisch. Enharmonische Verwechselungen zwischen Holz und Joyce sind nur darum möglich, weil beide Autoren die vertrauten Mechanismen sprachlicher Repräsentation verabschieden; aber während Holz einen unlesbaren Text herstellt, indem er den Prozeß der Semiose tendenziell zum Stillstand bringt, können Joyces Texte als das Paradigma einer entgrenzten und offenen Semiose qua Literatur verstanden werden. Der Phantasus kann nicht gelesen, sondern eigentlich nur noch wahrgenommen werden; Finnegans Wake dagegen muß gelesen, aber nicht nur gelesen werden. Während Holz die enzyklopädische Kompetenz narkotisiert, wendet sich Joyce an einen Leser, der durch >ideale Schlaflosigkeit in seiner semiotischen Produktivität stimuliert wird.104 Das insoweit zu Joyce angemerkte ist weder originell noch neu. Im Rahmen der vorliegenden Skizze wäre der Anspruch auch vermessen, originäre Einsichten und Forschungsergebnisse zum Werk des bedeutendsten Enzyklopädisten der literarischen Moderne vorzulegen.105 Ambitioniert genug ist 102

Zum generativen Verhältnis zwischen Paralyse und Textur, vgl. Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur, S. 23-59. 103 Samuel Beckett, Dante [...] Bruno, Vico [...] Joyce (1929), in: S.B. et al„ Our Exagmination Round his Factification for Incamination of Work in Progress, London 1972, S. 7-22; S. 14. 104 v g l . James Joyce, Finnegans Wake, S. 120. 105 Am Umfang von Bibliotheken bemißt sich auch die Menge der Forschungsliteratur; der Verfasser gesteht ein, sich mit einer höchst selektiven Auswahl begnügt zu haben.

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schon der Versuch, Joyce in jenen literarhistorischen und intertextuellen Zusammenhang einzureihen, der hier, mit Unterstützung von Ecos Semiotik, umrissen wurde. Immerhin kann jedoch auf eine Forschungstradition verwiesen werden, die enzyklopädische Strukturen bei Joyce explizit erörtert;106 zudem wird in der Forschung, auch dort, wo der Begriff der Enzyklopädie nicht fällt, geradezu zwangsläufig ein Diskurs über die Spezifika der Semiose in Joyces Texten geführt. Der folgende Versuch, den enzyklopädischen Diskurs der Moderne über Flaubert, Zola und Holz hinaus bis zu Joyce zu verlängern, hat darum lediglich vorläufigen und andeutenden Status; er weist auf mögliche Zusammenhänge hin und nimmt dabei das Risiko der Überinterpretation bewußt auf sich, indem er punktuell, >stellenweise< ansetzt und wieder abbricht, ohne eine Interpretation (im engeren Sinn) zu leisten. Immerhin bietet sich dem so definierten Interesse dadurch ein Ansatzpunkt, daß auch Joyces literarische Anfänge allgemein dem Naturalismus zugerechnet werden. In Joyces Erzähldebüt Dubliners (1914) findet sich im ersten Absatz der Eingangserzählung, The Sisters, die vielzitierte Passage: Every night as I gazed up at the window I said softly to myself the word paralysis. It had always sounded strangely in my ears, like the word gnomon in the Euclid and the word simony in the Catechism. But now it sounded to me like the name of some maleficent and sinful being.107

Die drei Lexeme paralysis - gnomon - simony sind heterogenen Referenzdiskursen entnommen; für die beiden letzteren wird sogar ausdrücklich der jeweilige Referenztext angegeben. Metonymisch verbunden sind sie durch ihre Herkunft aus der griechischen Sprache und, im Bewußtsein des kindlichen Ich-Erzählers, durch ihre Unverständlichkeit. Diese Qualität stiftet auf Figurenebene den Kontext einer unartikulierten, aber übermächtigen Bedrohlichkeit, die im Erzählten mit dem Einbruch des Todes in die Welt des Kindes identifiziert werden kann. Darüber hinaus hat die Verbindung des medizinischen mit dem mathematischen und theologischen Diskurs jedoch ihre systematische Bedeutung im Diskurs des Erzählers. Hier fungieren die Fremdwörter als Elemente einer Enzyklopädie, die die Narration strukturiert und mit einer allgemeinen Bedeutung auflädt. Paralysis, dem Thesaurus des Naturalismus (mit seinem Gesetz des genetischen Fluchs als einer fatalen Determination) entnommen,108 kann - auf der Ebene dieses Diskurses - als zentrales Lexem, als 106 Vgl Hilary Clark, Encyclopaedia, S. 47-88; Lorraine Weir, Writing Joyce. A Semiotics of the Joyce System, Bloomington 1989; beide im Anschluß an Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache; vgl. auch Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, S. 293-442. 107 James Joyce, Dubliners, Harmondsworth 1965, S. 7. 108 »There was no hope for him this time«, lautet der erste Satz der Erzählung (Dubliners, S. 7).

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»das Schlüsselwort für die Gesamtheit der Erzählungen« in Dubliners verstanden werden.109 Wenn aber »>Dublin< [...] ebensowenig wie >paralysis< mit vorgefertigten, herkömmlichen Definitionen zu beschreiben und zu verstehen« ist, dann nicht allein, weil »alle Zeugenaussagen oder Definitionen [...] ideologieverdächtig« sind,110 sondern weil der semantische Komplex Dublin in Joyces Erzählen überhaupt erst entworfen, d. h. enzyklopädisch strukturiert wird. Aus der Beschränktheit der personalen Erzählperspektive könnte, ohne Rückgriff auf diesen Diskurs des Erzählers, kein Indiziengeflecht induktiv erschlossen, erst recht keine >Wahrheit< abgeleitet werden. Das Medium der »Vermittlung« ist nicht ein »Bewußtsein«, sondern eine transpersonale Enzyklopädie.111 Dieses Erzählverfahren weist deutliche Parallelen zur >System-Semiose< bei Zola auf. Die spezifische Differenz liegt einerseits tatsächlich in der personalen Brechung des auktorialen Zugriffs; andererseits und vor allem jedoch in der Konstruktion der narrativen Semantik. Joyces Enzyklopädie ist schon hier nicht die eines Wörterbuchs in Form des Porphyrischen Baumes, das als Äquivalent eines allgemeinen Gesetzes fungieren könnte. Vielmehr: it sounds strangely. Die Reihe der Fremdwörter hat den Charakter einer kontingenten Setzung, einer kühnen Verknüpfung autonomer Lexeme, die durch ein beschränktes personales Bewußtsein formal zwar legitimiert ist, in ihren semiotischen Effekten jedoch die Grenzen dieses Bewußtseins überschreitet. Nicht nur eine metonymische Kette liegt hier also vor, nicht nur ein Verfahren des »lexical chaining«112 wie im Katalog, sondern paralysis gnomon - simony entwerfen die Topik des imaginären Dublin von vornherein in Form eines enzyklopädischen Netzes, oder eines semiotischen Rhizoms. Dabei macht es sehr wohl einen Unterschied, ob durch Meditation des Lexems paralysis »die Dubliner Realität mit ihrem zentralen Wesensmerkmal >zur Epiphanie< gebracht« wird,113 oder ob nicht vielmehr die Verabschiedung von Kategorien wie >Wesen< und >Realität< primäre Voraussetzung dafür ist, daß eine Epiphanie sich einstellen kann - eine Epiphanie, die dann vielleicht nichts anderes wäre als die Eröffnung einer neuen enzyklopädischen Struktur: eine initiale Verknüpfung als Ausgangspunkt eines offenen semiotischen Prozesses. »Epiphanien«, folgert Multhaup, »gerinnen dem Leser, der sie aus objektivierter Distanz sieht, zu einem distanziert zu

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Vgl. Uwe Multhaup, James Joyce, Darmstadt 1980, S. 129-133, S. 129. Uwe Multhaup, James Joyce, S. 130. Vgl. Uwe Multhaup, James Joyce, S. 130f. Vgl. Hilary Clark, Encyclopaedia, S. 51f. Uwe Multhaup, James Joyce, S. 129.

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beurteilenden Material«.114 Und in der Tat bedarf ein Text dieser Art eines reflektierenden Lesers. Nur >gerinnen< entsprechende Konfigurationen gerade nicht, sondern sie verflüssigen vielmehr die Semantik des Erzählten, da sie nicht der deduktiven Logik eines allgemeinen Gesetzes folgen. Umberto Eco versucht, Joyces »Theorie der Epiphanien« als radikale Säkularisierung des »symbolische[n] Modus« zu begreifen. Hier erscheinen Ereignisse, Gesten, Dinge plötzlich als merkwürdige, unerklärliche, zudringliche Zeugnisse innerhalb eines Kontextes, der zu schwach ist, um ihre Anwesenheit zu rechtfertigen. So enthüllen sie, daß sie da sind, um etwas anderes zu enthüllen, und am Leser ist es zu entscheiden, was das ist." 5

Dieser Beschreibung kann nicht widersprochen werden; und dennoch scheint Joyces Textstrategie die »semiotische Maschinerie«116 des Symbols, die durch Verzicht auf einen »autorisierten Interpretanten« einen »Nebel möglicher Interpretationen« erzeugt,117 auf subtile aber durchgreifende Weise zu manipulieren. Ein Symbol ist ein singuläres Textereignis, das durch seine semiotische Offenheit seinen Kontext sprengt - Symbole »detonieren« im Syntagma.118 Darum können sie nicht als Indizien gelesen werden wie die Elemente einer sukzessiv entfalteten Allegorie, und darum wird der symbolische Modus seit jeher aus einer Opposition zum Diskurs verstanden. Auch Joyces Epiphanien werfen den Leser sozusagen aus dem Text der Narration hinaus, doch mit ihnen eröffnet der Erzähler zugleich eine Ebene sekundärer Kontiguität. Diese ist gerade nicht Symbol, sondern Diskurs denn paralysis hat in gnomon und simony durchaus vom Text autorisierte Interpretanten. Die Lexeme lassen sich jedoch auch nicht allegorisch verketten, sondern wer den Verzweigungen des Erzählerdiskurses folgen will, muß über die Prüfung der Erzählperspektive hinaus eine Enzyklopädie der paralysis selbst aufbauen - ζ. B. mit Hilfe von Lexika oder unter Beiziehung des Euklid und des Katechismus. Ist dieses Spiel einmal eröffnet, dann muß die Semantik der Narration fortlaufend in diese sekundäre Struktur eingetragen werden, so daß sie sich immer weiter verzweigt und mit semiotischen Potentialen anreichert. Dies ist das generative Prinzip enzyklopädischen Erzählens in der klassischen Moderne, ein generatives Prinzip, das Joyce bis in seine späten Texte beibehält - auch wenn er es bis hin zu Finnegans Wake entschieden radika-

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Uwe Multhaup, James Joyce, S. 131. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 231. - Die Frage nach dem Verhältnis von Epiphanie und Symbol hat in der Joyce-Forschung Tradition; vgl. Uwe Multhaup, James Joyce, S. 127-129. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 231. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 237. Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, S. 238.

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lisiert. Weil er über dieses Verfahren souverän verfügt, darf Joyce nicht als Kronzeuge für die Krise des Erzählens in Anspruch genommen werden; und aus demselben Grund finden sich in Joyces Werken zwar zahlreiche texturierte Passagen, aber die Texte als ganze gehen im Begriff der Textur nicht auf. Effekte von Unverständlichkeit, die im narrativen (oder texturierten) Syntagma auftreten, werden im Sekundärdiskurs zu Indizien einer wenn auch kühnen, so doch als legitim vorausgesetzten und kalkulierten semantischen Verknüpfung. Darum werden alle Joyce-Leser zwangsläufig Detektive im Dienst der Semiose - von Theodor Däublers Sternspiel dagegen geht keine entsprechende Provokation aus; es kann zwar weitergespielt werden, aber nur auf der Ebene der Textur. Umgekehrt gibt es für Texte von Joyce gleiches gilt notabene für Arno Schmidt - keine gläubige Lesart; allenfalls gibt es Fälle von Abhängigkeit, deren Symptomatik jedoch mehr mit dem klinischen Bild der Spielsucht gemein hat als mit dem Glaubensbekenntnis literarischer Sekten.119 Das enzyklopädische Erzählprinzip darf allerdings keinesfalls mit jenen auf den ersten Blick stabilen semantischen Formularen ineinsgesetzt werden, die Joyce für die strukturelle Überformung seiner Narrationen benutzt: Ulysses kann nicht als enzyklopädische Ableitung der Odyssee oder anderer Intertexte, etwa des Hamlet verstanden werden. Konsequenterweise wären derartige Formulare als tertiäre Strukturen zu bezeichnen. Unter ihnen stellt die Überblendung der Narration mit einer anderen lediglich eine spezielle Anwendung dar; prominente Beispiele, die nach einer differenten Logik funktionieren, sind die interdiskursive Vernetzung zwischen Finnegans Wake und Giambattista Vicos zyklischer Geschichtskonzeption oder die emblematische Zuordnung der Kapitel des Ulysses zu Körperorganen und ihren Funktionen. Diese wie andere, vergleichbare, Muster bilden starke Strukturen von (wie die Forschung feststellen mußte) begrenzter semantischer Reichweite aus. Sie funktionieren keineswegs im Sinne einer hermeneutischen Kontrolle oder eines erläuternden Kommentars zum Literalsinn des Erzählten. Vielmehr bringt die Überschreibung der einen Narration mit heterogenen und immer nur partiell anwendbaren Semantiken die semiotische Aktivität erst richtig in Gang: Wer sucht, der findet - aber spätestens bei der Rückkehr in den Textzusammenhang muß sich der Leser fragen lassen, was er eigentlich gefunden hat. Das Schlüsselwort einer neuen Enzyklopädie vielleicht; aber gewiß keinen hermeneutischen Schlüssel zum Text. Dabei versteht sich am Rande, daß auch die (erste) Ordnung der Narration nicht etwa dem Paradigma realistischer Kontiguität folgt, sondern daß auch ihr Zusammenhang in Form von Indizien im Syntagma verstreut wird.

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Zu diesen Versuchen einer Unterscheidung vgl. Kapitel II 4: Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa.

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Einerseits erreicht das Erzählte, von der Aufgabe entlastet, durch Selektion seiner Elemente Bedeutsamkeit zu evozieren, einen vorher nicht gekannten Grad an Vollständigkeit im Detail, was wiederum auf den Zusammenhang der Joyceschen Poetik mit Verfahren der Lexemautonomie verweist. Andererseits folgt das Erzählen jedoch einer »Ästhetik der Verzögerung«, die »selbst die einfachsten Tatsachen durch Parallaxe präsentiert, ein Element jetzt, eins später, und große Bereiche von Tatsachen offenläßt, die später oder nie zusammengesucht werden müssen«.120 »Here form is content, content is form«, 121 versucht Beckett zu erläutern und landet bei einem klassizistischen Gemeinplatz. Diderots frühe Einsicht in das Prinzip der Semiose wäre hier schon besser angewandt, daß sich »die Definitionen der Namen nicht von den Definitionen der Sachen unterscheiden«,122 weil nämlich - was auch der moderne Essayismus immer wieder betont - jeder Name schon eine Enzyklopädie seiner Sache ist. Im einzelnen ist hier nicht zu verfolgen, mit welchen Mitteln Joyce vor allem in Finnegans Wake die semiotische Manipulation der Lexeme in den Exzeß treibt. Aus dem generellen Spiel mit Phänomenen der Polysemie und der Homonymie lassen sich einige spezifische Techniken des Joyceschen Wordplay herausfiltern:123 Der Pun beruht auf dem Prinzip der Assonanz; in einem denotierten Lexem oder einer Lexemgruppe ist durch »approximative Homonymie bzw. Homophonie« ein zweites Lexem konnotiert;124 das portmanteau word wird »durch die Überblendung von Wörtern deckungsgleicher Formelemente produziert«, so daß es »sich also erkennbar um ein Wort und mehrere Wörter zugleich« handelt.125 Schließlich können, als »by far the most common type of wordplay in the Wake«, auch portmanteau puns erzeugt werden.126 Die derart generierten Lexeme sind strange oder kühn im Prinzip ihrer rein formalen Verknüpfung, doch weisen sie durch ihre >Machart< nachdrücklich genug auf das zugrundeliegende Prinzip hin. Darum sind sie auch auf Transparenz angelegt, ohne daß sie sich deshalb desambiguieren oder auch nur, wie kühne Metaphern, auf ein Spiel von Ähnlichkeiten und

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Hugh Kenner, Ulysses, Frankfurt 1982, S. 122; zahlreiche Beispiele im Zusammenhang des Kapitels, S. 109-123. Die Narration von Finnegans Wake aus dem Zustand ihrer Zerstreutheit zu erlösen, ist bislang nicht gelungen. Gleichwohl bildet die zugrundeliegende personale Konstellation von H.C.E. und Familie eine starke Struktur, die (unter anderem) den Text vor der Verwandlung in eine reine Textur bewahrt. Samuel Beckett, Dante [...] Bruno, Vico [...] Joyce, S. 14. Denis Diderot, Artikel Enzyklopädie, S. 318. Für einen Überblick vgl. etwa Hilary Clark, Encyclopaedia, S. 47-52; Eberhard Kreutzer, Das Wortspiel in >UlyssesUlyssesUlyssesUlyssesAnna Liviafilmischen< Schreibens, sondern auf einen Roman aus der Schule des sozialistischen Realismus (Stalingrad von W. Nekrassow). Aber der Regisseur liest diesen Text im Hinblick auf eine mögliche filmische Verwertung, und darum artikuliert er seine Einwände aus der Perspektive einer Poetik des Films. Kritisch bemängelt wird die falsche Kontinuität, die Strukturlosigkeit der Textvorlage; und für Eisenstein heißt das: was dem Text fehlt, ist Montage - als Element der Darstellung. Wenn ausgerechnet daraus der Vorwurf eines Mangels an Realismus abgeleitet werden kann, und wenn Eisenstein seinen Befund ganz unverkennbar als einen Befund von Lexemautonomie formuliert, dann geht es längst nicht mehr um Fragen einer besonderen ästhetischen Ideologie, sondern um die zentralen Probleme im Diskurs der klassischen Moderne. Und wenn die elementaren Fragen, die eine Poetik des Films beantworten muß, in diesem Diskurs formuliert werden, dann sind auch die Darstellungsformen des Mediums im Spannungsfeld von Historismus und Moderne zu situieren.2 Aber ist Eisenstein, als Vertreter der Film-Avantgarde, nicht ein ausgesprochener Sonderfall? Wohl kaum; denn an der Heftigkeit, mit der die mißlichen Effekte einer strukturlosen Schreibweise von ihm markiert werden, läßt sich ein Reflex auf die Filmgeschichte überhaupt erkennen: Dem Film selbst war es nämlich nicht an der Wiege gesungen, daß er zwischen Bedeu-

Sergej Eisenstein, Fragen der Komposition, in: S.E., Gesammelte Aufsätze I, Zürich o. J. [1961], S. 306-340, S. 328f. Zu Terminologie und Phänomenologie vgl. Kapitel I 1: Historismus: Zu einer literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs; Kapitel II 1: Naturalismus und Decadence als Verfahren.

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tendem und Unbedeutendem unterscheiden könne und solle. Seine Darstellungsformen - differenzierende Semantiken - mußten durch Erprobung medienspezifischer Verfahren erst einmal erfunden werden. In einem Chaos sekundärer Elemente beginnt buchstäblich die Geschichte des Films, und in ihrem Fortgang wird sie dadurch bestimmt, daß sich diesem Chaos niemals eine vollkommen transparente Struktur abgewinnen läßt. Darum hat sich auch der Film, nolens volens, im Diskurs des Historismus einzurichten. Mit Überlegungen zu diesem Zusammenhang überschreitet die vorliegende Studie gleichwohl jene Kompetenz der Literaturwissenschaft, die sie bis hierher durch ihre technische Spezifikation des Historismusbegriffs zu stärken versuchte. Auch dies war freilich nicht exklusiv, sondern exemplarisch gedacht - und damit auch als Provokation an kunst- und kulturwissenschaftliche Nachbardisziplinen, ihre Konstruktionen der Moderne im Horizont des Historismus neu zu perspektivieren. So spekuliert der folgende Exkurs auch nicht auf mögliche Wahlverwandtschaften zwischen Literatur und Film, sondern versucht im Gegenteil, die Verschiedenheit beider Medien unter historistischen Voraussetzungen zu profilieren. Film, so lautet die These, ist zunächst einmal Textur. Sein Material - belichtetes Zelluloid - hat mit Wörtern als dem Material der Literatur die eine, aber konstitutive Eigenschaft gemein: Filmbilder in Projektion erzeugen unvermeidlich Sinneffekte. Kamera und Projektor sind semiotische Apparate.3 Darum können Filme so wenig asemantisch sein wie Texte. Der frühe Film, auch wo er sich zunächst mit dem Effekt der Illusionierung seines Publikums begnügt, muß Verfahren bereitstellen, die den filmtechnisch hergestellten Sinn organisieren und kontrollierbar machen. Im frühen Film dreht sich darum alles um die Strukturierung von Semiose durch Technik,4 Im Zuge der Kodierung populärer Genres stellt sich schon bald heraus, daß die spezifischen Möglichkeiten der Filmtechnik, medial Vermitteltes in

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Zum Problem von Sinn und Bedeutung im frühesten Film, bei Lumiere und Μέΐίέβ, vgl. Lorenz Engell, Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt/New York/Paris 1992, S. 41-59. Zur Begrifflichkeit von Textur und Struktur vgl. Kapitel II 3: Moderne Texturen am Beispiel abstrakter Prosa. - Erst einer späteren Filmavantgarde kann es darum gehen, Verfahren zu entwickeln, die das Sinnbegehren des Publikums unterlaufen oder enttäuschen. Im Hinblick auf solche Verfahren wäre folgerichtig von einer sekundären Texturierung zu sprechen, da jeweils die zeitgenössisch schon konventionalisierten Semantiken des Films ins Kalkül gezogen werden müssen - selbst dort, wo dem Medium seine Abhängigkeit von referentiellen Effekten gründlich ausgetrieben werden soll. Typologisch lassen sich Experimente mit der Entsemantisierung (Abstraktion) des Films, wie sie in den 1920er Jahren beispielsweise von Viking Eggeling, Hans Richter oder Walter Ruttmann in Deutschland, von Henri Chomette, Fernand Liger oder Rene Clair in Frankreich unternommen werden, den Versuchen einer konkreten Negation bestehender Semantiken gegenüberstellen, für die die >Einwirkungskunst< der russischen Filmavantgarde als Beispiel gelten kann. Zwischen den scheinbaren Extremen engagierter Filmkunst und eines Cinema pur bestehen jedoch mannigfache Möglichkeiten des Austausche und der Vermittlung.

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konventionelle Bedeutung zu übersetzen, sich nicht in Anlehnung an die darstellende Kunst des >Dramas< entfalten lassen. Statt im abgefilmten Bühnenschauspiel liegt die >Zukunft< des Films in der souveränen Organisation von Zeit, das heißt: im Erzählen. Die ersten beiden Jahrzehnte der Filmgeschichte (1895-1915) können als die formative Phase in der Ausarbeitung dafür geeigneter Instrumente betrachtet werden, und hier vollzieht sich die Semantisierung des Mediums als Entwicklung höchst äußerlicher Techniken oder Tricks, die sich als tauglich erweisen, zwischen der mechanischen >Erzählzeit< der Projektion und der >erzählten Zeit< einer imaginären Handlung vermittelnd einzutreten. Die damit bezeichnete Tendenz: von der Textur einer Bewegungsillusion zur Struktur einer Narration, kann durchaus sinnvoll als eine >Umkehrung< der für die literarische Moderne charakteristischen Tendenz zur Entgrenzung von Semiose begriffen werden - jedenfalls wenn dadurch das Mißverständnis vermieden wird, Film sei >modernDekonstruktion< traditioneller Sinnproduktion abgäbe. Gleichwohl läßt sich an den Semantiken des frühen Films durchgängig belegen, daß das Kino ebensowenig per se ein Äquivalent von >realistischer< Repräsentation bereitstellt. Vielmehr unterliegt die Produktion von filmischem Sinn den Voraussetzungen des Historismus, und zwar eines - hier ganz wörtlich zu verstehenden - technischen Historismus. Diese These steht in einem komplexen Verhältnis zu den verschiedenen Konzepten der Filmtheorie und -geschichte. Es zeigt sich erstens, daß die zeitgenössische literarische Kritik des frühen Films zur Heuristik des Phänomens nur wenig beiträgt. Wo Impressionen von der >binnenexotischen< Erfahrung eines Kinobesuchs notiert werden, finden sich vielfach treffende Beobachtungen; wo die Kritik dagegen prinzipiell verfährt, wird deutlich, daß die Konkurrenz des neuen Mediums unter Literaten Existenzängste oder aber auch Begehrlichkeiten auslöst: Ein Großteil gerade der deutschen >Kino-Debattennicht-literarische< Film sei durch ein systematisches Modernitätsdefizit charakterisiert.7 Komplementär mit einem derartigen Verständnis der Beziehung zwischen Literatur und Film ist drittens eine positive Auslegung der Medienkonkurrenz verbunden: Das visuelle Medium usurpiere keineswegs die Funktionen von Buch und Lektüre oder führe gar zur Abschaffung der Literatur; vielmehr sei der kulturelle Effekt des Films der einer Entlastung literarischer Imagination. Nicht zuletzt durch die Konventionalität des Films werde der Literatur die Lossagung von repräsentativen Funktionen und damit der Aufbruch in die Modernität ermöglicht.8 Die polemische Variante dieser Kompensationsthese liegt übrigens in Kittlers fröhlicher Medienwissenschaft vor, die der Literatur in ihrer Zurückgebliebenheit gegenüber technischen Speichermedien nurmehr die Verwaltung des verbliebenen Buchstabensalats überläßt.9 Auch hierzu ist anzumerken, daß jedenfalls der Film jene Funktionen, die die Literatur >verliert< oder >abgibtwirklich realistischem Repräsentation gelesen wird? Aus den Effekten einer solchen Lektüre darf dann aber dennoch nicht geschlossen werden, daß das Syntagma kontinuierlichen Erzählens im Kino auf literarische Vor-Bilder zurückgreift. Vgl. etwa: Gotthart Wunberg, Unverständlichkeit, S. 341-350. Vgl. Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 235-257 und passim.

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entfalten als Ansätze zu einer Narratologie, die hermeneutisch größere Zusammenhänge zu umgreifen versucht.10 Auch ohne die kleinste semantische Einheit des Films festlegen oder den Begriff eines filmischen Zeichens definieren zu wollen, läßt sich an Beispielen des frühen Kinos instruktiv beobachten, wie Korrelationen zwischen technischen Verfahren und semantischen Effekten implementiert werden daß manche Anwendungsmöglichkeiten punktuell erprobt und wieder vergessen, daß andererseits zunächst radikal erscheinende Lösungen schnell zu Konventionen des Films insgesamt oder einzelner seiner Genres werden. Angesichts dieser mediengeschichtlichen Eigendynamik ist die Feststellung unabweisbar, »daß der Film das Erzählen keineswegs unter >Anleitung< der Literatur oder der traditionellen Künste >gelernt< hat«11 - und von daher ist zugleich Zurückhaltung gegenüber allen Versuchen geboten, »die Instititutionalisierung« des Films als bloßen Wechselbegriff seiner »Literarisierung« anzusetzen.12 Ganz abgesehen von den kommerziellen oder industriellen Aspekten der Mediengeschichte, liegt es in der internen Logik filmischer Verfahren begründet, daß »Begriffe wie >Sprache des Films< oder >Filmsprache< ausgerechnet in der Frühzeit des Stummfilms geprägt worden sind«, wobei als »Faustregel« gelten kann: »Je geringer die Zwänge zur Filmapologie, desto größer die Verbreitung der Sprachanalogie.« Siegrist ist darum zuzustimmen, das »international gleichzeitig entstandene [...] Sprachähnlichkeitstheorem implizierte] für die frühe Filmtheorie [...] ein demonstrativ emanzipatorisches Element«.13 Dennoch hat Eisenstein mit gewissem Recht von einer »ersten literarischen Periode« des Films gesprochen, in der man sich »auf die dramatische oder epische Sujet-Fabel-Erfahrung der Literatur stützte, d. h. von der Literatur die Elemente einer Konstruktion der Dinge zu einem Ganzen entlehnte«, während erst »die zweite literarische Periode [...] die Literatur auf einer anderen Ebene« verwertete: »Sie applizierte die literarische Erfahrung auf dem Gebiet der Technologie jener Materialien, mit denen die Literatur operiert.«14 Allerdings handelt es sich hierbei weniger um eine historische als um eine systematische Unterscheidung. Unabhängig von der Literatur hat nämlich in der Technologie des Films die >zweite Periode< immer schon begonnen, nur wird sie in der Regel nicht selbstreflexiv in eine Poetologie des Mediums umgesetzt. Von daher wäre es durchaus reizvoll, »Literaturge-

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Vgl. für einen kritischen Überblick, und stellvertretend für die nicht genannten Klassiker der Filmsemiotik: Hannsmartin Siegrist, Textsemantik des Spielfilms. Zum Ausdruckspotential der kinematographischen Formen und Techniken, Tübingen 1986. Joachim Paech, Literatur und Film, S. 23. Joachim Paech, Literatur und Film, S. 25f. Hannsmartin Siegrist, Textsemantik des Spielfilms, S. lOf. Sergej Eisenstein, Die zweite literarische Periode des Films (1929), in: S.E., Schriften 3: Oktober, hg. v. Hans-Joachim Schlegel, München 1975, S. 244-248; S. 245.

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schichte« einmal anders, »als Vorgeschichte des Films« zu verstehen. Wenn jedoch behauptet wird, daß »nicht nur die Filmemacher Anleihen bei der Literatur des 19. Jahrhunderts gemacht haben, sondern daß diese Literatur bereits vor dem Film Aspekte des Filmischen im literarischen Erzählen vorweggenommen hat,«15 ist das Primat der Literatur erneut festgeschrieben. Und dabei bliebe es auch dann, wenn »die bürgerlich-realistische Literatur des 19. Jahrhunderts [...] von einer Hypertrophie des Sichtbaren« geprägt gewesen wäre, »die allerdings erst im 20. Jahrhundert ihre adäquaten Medien Kino und Fernsehen bekommen wird, um in der Literatur des vergangenen Jahrhunderts die geeigneten Stoffe vorzufinden.«16 Daß hier ein Kurzschluß zwischen den Ebenen von Wahrnehmung, Darstellung und Sujet stattfindet, wird vollends an der These deutlich, strukturelle Analogien zwischen literarischem Realismus und filmischer Realitätssimulation ließen sich auf die »gemeinsame Erfahrung prinzipiell gleicher gesellschaftlicher Verhältnisse« zurückführen.17 Wie man es dreht und wendet: der Montage-Begriff, so gut er auf manche Texte der klassischen Moderne paßt, stellt im Hinblick auf das multiperspektivische Erzählen im 19. Jahrhundert nicht mehr dar als eine Metapher. Dagegen ist Montage, als Herstellungsverfahren, die elementare Voraussetzung für jede filmische Narration. So will denn auch das scheinbar kontinuierliche und bruchlose Erzählen im klassisch-realistischen Filmtextn Hollywoods die Montage mit allen Mitteln >unsichtbar< machen, während bezeichnenderweise die erzählende Literatur des 19. Jahrhunderts dem Leser ihren Perspektivismus geradezu aufdrängt. Kemp differenziert sehr einleuchtend zwischen den Effekten filmischer Parallelmontage, die dem Zuschauer aus einer quasi auktorialen Position heraus ermöglicht, »narrativen Mehrwert« zu produzieren - und dem diametral gegensätzlichen Effekt, den Flauberts (immer wieder als >prä-filmisch< zitierte) Darstellung des Landwirtschaftsfestes in Madame Bovary hervorbringt. Der Kunst war es darum gegangen, die Kategorie Kontingenz nicht nur zuzulassen und zu gestalten, sondern sie zum Gegenstand und Aufbauprinzip einer neuen ästhetischen Erfahrung zu machen. Wenn Flaubert Thema und Verfahren in Engführung zusammenhält, wenn er Verfahren thematisiert, dann reduziert der Film Verfahren auf den Sinn von Technik.19

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Joachim Paech, Literatur und Film, S. 49. Joachim Paech, Literatur und Film, S. 61. So Joachim Paech (Literatur und Film, S. 49) in einer stark verkürzenden Eisenstein-Paraphrase. Eisenstein selbst geht es keineswegs um gleiche, sondern ausdrücklich um historisch differente Verhältnisse, in denen dann Literatur bzw. Film vergleichbare gesellschaftliche Funktionen übernehmen können; vgl. Sergej Eisenstein, Griffith, Dickens und wir (1946), in: Gesammelte Aufsätze I, S. 60-136; S. 72f. Zum Begriff vgl. Joachim Paech, Literatur und Film, S. 176-179. Wolfgang Kemp, Die Analytik des Endlichen. Kunst und Literatur vor dem Film, in: Fischer Filmgeschichte, hg. v. Werner Faulstich/Helmut Körte, Bd. 1, Frankfurt 1994, S. 68-85; S. 82.

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Was die Literatur betrifft, so ist diesen Anmerkungen zu einer Ästhetik des technischen Historismus kaum zu widersprechen. Für den frühen Film jedoch gilt, daß die Reduktion auf Technik gerade zur Voraussetzung für die Entwicklung eigenständiger Verfahren wird - weil die Semantiken des Films notwendig technische Semantiken sind. In der formativen Phase des Mediums ist kaum zu unterscheiden, ob Bedeutungen durch den Einsatz von Verfahren realisiert werden, oder ob nicht vielmehr die Verfahren selbst einen Sinn evozieren, der erst nachträglich in eine Textbedeutung zurückgelesen wird. Jedenfalls kann festgehalten werden, »that certain technical devices or shot transitions do not have stable, one to one meanings, but must be understood as relative.«20 An dieser semiotischen Offenheit seiner Technik wird Film als das Medium eines fortgeschrittenen Historismus par excellence erkennbar. Die Semantisierung des scheinbar nur Medialen, als primäre Voraussetzung, rückt die filmischen >Aussagen< und >Texte< von Beginn an ein in einen durch und durch historistischen Diskurs. Und erst in diesem Diskurs tritt der Film in eine komplementäre, mitunter auch dialogische Beziehung zu anderen Medien. Diese These, historisch entfaltet und systematisch differenziert, führt nicht auf die Forderung nach einer anderen Filmtheorie oder einer alternativen Geschichte des Kinos. Zunächst einmal geht es um den Versuch, vertraute Elemente neu anzuordnen. Mit einer mentalitätsgeschichtlichen Argumentation, die auf dem Zusammenhang von »Zergliederung, Bewegung und Wirklichkeitsverlust im späten 19. Jahrhundert«21 insistiert, verträgt sich das ohne weiteres. Andererseits kann unter Hinweis auf einen technischen Historismus (der den konstitutiven Zusammenhang von Positivismus und Relativismus voraussetzt) der Zusammenhang von »Sinn, Sinnverlust und Sinnproduktion« um 1900 wesentlich präziser bestimmt werden als durch vage Hinweise auf eine »fragmentarisch erlebte Welt, wie die Industriezivilisation sie aufweist«. Wenn richtig ist, daß das Kino von Anfang an »die schon zerlegte Welt noch einmal zerlegte« und dabei gleichwohl »einen Zusammenhang« stiftete, dann ist mit diesem scheinbaren Paradox der Zusammenhang von Film und Historismus genau benannt. Und die semiotische Eigentümlichkeit einer solchen Kombinatorik von Fragmenten (oder autonomen Lexemen) dürfte von daher besser zu fassen sein als mit einem Rückgriff auf die metahistorisch konzipierte Unterscheidung verschiedener Typen der Utopie bei Ernst Bloch.22

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Thomas Elsaesser, Early Film Forms: Articulations of Space and Time, in: T.E. (Hg:), Early Cinema: Space - Frame - Narrative, London 1990, S. 11-30; S. 12.; in bezug auf den Beitrag von Barry Salt, Film Form 1900-1906, S. 31-44. Lorenz Engell, Sinn und Industrie, S. 21. Lorenz Engell, Sinn und Industrie, S. 49; vgl.f.

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Nicht zuletzt gewinnt dann auch die These an diskursanalytischer Schärfe, der »Historismus« selbst sei ein Aspekt des »für das 19. Jahrhundert typischen Bemühen[s] um die methodische Erfassung und Erforschung von Bewegungsphänomenen aller Art«.23 Denn auch der Zusammenhang mit der Vorgeschichte des Films läßt sich auf strikt technischem Niveau herstellen. Historistisch verfahren schon jene Experimente einer Reihenphotographie, die Marey und Muybridge seit 1872 entwickeln, um eine exakte Analyse von Bewegungsabläufen zu ermöglichen. Zwar können die mit dieser Technik gewonnenen Bildsequenzen bereits wieder projiziert und so Bewegungen >wiederhergestellt< werden; das wissenschaftliche Interesse richtet sich jedoch auf die Zerlegung, nicht auf die Synthese von Abläufen (die als solche, in Echtzeit, ja auch in natura zu beobachten waren). Auch wenn es diese Bildfolgen auf eine Projektionszeit von nicht mehr als ein bis zwei Sekunden brachten, ist es doch weniger die Kürze ihrer >LehrfilmeAusschnitte< scheinbar nur vorgezeigt werden. Der Film kompensiert darum auch gewiß nicht den Verlust von Unmittelbarkeit, sondern er repräsentiert ihn auf spektakuläre Weise. Insofern ist er als ein illegitimes Kind des analytischen Positivismus adäquat bezeichnet.

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Lorenz Engell, Sinn und Industrie, S. 13. Vgl. Lorenz Engell, Sinn und Industrie, S. 29.

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Geschichte und Montage »Zerhackung oder Schnitt im Realen, Verschmelzung oder Fluß im Imaginären - die ganze Forschungsgeschichte des Kinos spielte nur dieses Paradox durch.«25 Sie spielt dabei freilich, völlig gegenstandsgerecht, jenes Spiel weiter, das der Film selbst von Anfang an betreibt. Der Historismus des 19. Jahrhunderts fungiert dafür nicht nur als technischer Berater, sondern auch als Stichwortgeber im Repertoire der Stoffe und Ausstattungen. Schon Edisons Kinetoskop, das bei allen Distributions- und Rezeptionsunterschieden zum Kino doch schon Filme (als Handlungen) zeigt, führt unter anderem die Enthauptung der Maria Stuart vor. Diesem ersten Historienfilm (1895) folgen zahllose andere, so daß es naheliegt, die folgenden Anmerkungen zum technischen Historismus des frühen Films mit Überlegungen zur Darstellung von Geschichte im Stummfilm zu verbinden - ohne darum freilich die Systematik der Analyse auf Aspekte der >ersten literarischen Periode< des Films zu verengen. Formen eines (auch für heutige Begriffe) langen Kinofilms werden erstmals zwischen 1905 und 1914 von der historischen Schule des italienischen Monumentalfilms erprobt: La presa di Roma (Filoteo Alberini, 1905); La caduta di Troia (Giovanni Pastrone, 1911); Quo vadis? (Enrico Guazzoni, 1913) - um nur einige Beispiele für Filme zu nennen, die zum jeweiligen Datum mit Spieldauer und Budget, Zahl der Statisten und Aufwand der Ausstattung jeweils neue Maßstäbe setzten. Dennoch will sich der italienische Historienfilm in die großen Tendenzen der Filmgeschichte nicht recht einfügen. Zwar war der detektivische Spürsinn der Filmhistoriker, stets auf der Suche nach Fortschritten in der Handhabung filmspezifischer Mittel wie Kameraführung oder Montage, an diese Filme keineswegs verschwendet. Wer sie auf >zukunftsweisende< Signale durchforstet, tut ihnen dennoch unrecht. Allerdings wird hier eine »Autonomie der Visualisierung des Kinos gegenüber der Abhängigkeit von Literatur und Theater« schon erreicht - das zeigt sich vor allem an der Behandlung des Raums und der Ausnutzung seiner Tiefe. Und die Kamerafahrt mit dem carello (einem Kamerawagen) kann, was die Erfassung dieser Räumlichkeit betrifft, als durchaus funktionale Alternative zu montierenden Verfahren gelten.26 In seinen Erzählverfahren bleibt das frühe italienische Kino jedoch auf einen »Doppeldiskur[s]« angewiesen: Der Bilderzählung muß durch Zwischentitel jene »Bedeutung« verliehen werden, »die innerbildlich durch Aufnahme und Montage noch nicht erbracht werden kann«. Das heißt: der Film kommt als eine Folge von Illustrationen - als »Bilderbogen« daher. Die emphatische »Wirklichkeits-

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Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986, S. 187. Vgl. Lorenz Engell, Sinn und Industrie, S. 63f.

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referenz« einer Präsentation, die »massenhaft >wirkliche< Menschen in >wirklichen< Räumen« abbildet,27 ist durch die Historizität der Sujets nicht nur vermittelt, sondern sie wird durch sie, im Sinne einer vorgängigen Textreferenz, überhaupt erst ermöglicht. Von Verfilmungen populärer Geschichtsromane oder auch nur trivialer historischer Mythen kann - und soll - hier im Grunde noch gar nicht gesprochen werden. Auf höchst genregerechte Weise ist der Gestus dieses Monumentalfilms der des Herzeigens, der Ausbreitung von Materialien. Das heißt: Unter Voraussetzungen, die denen des historischen Romans im 19. Jahrhundert zunächst einmal analog sind, realisiert die italienische Schule eine neue - filmische - Option. Im Konfinium von historistischer Malerei und Literatur ergreift sie die Möglichkeit, Tableaus als historische Bilder an sich zu projizieren und in Bewegung zu versetzen. Davon hatte das historische Erzählen im Roman nur träumen können. Denn was der Film vorführt, basiert auf der Prämisse, daß nicht allein die Verantwortung für die Bedeutsamkeit des Erzählten an die Geschichte delegiert werden kann, sondern daß darüber hinaus die narrative Funktion von Geschichte als Erzähltext an eine in den Zwischentiteln repräsentierte Geschichtsliteratur abgetreten werden darf.28 Die Unmittelbarkeit der Präsenz des Vergangenen im Film realisiert sich erst durch diese doppelte Vermittlung hindurch. Als eindrucksvoller Beleg dafür, wie sich ein solcher Film des literarischen Diskurses bedient, ohne sich damit auch die Probleme literarischer Repräsentation anzueignen, kann auch, als Außenseiter unter den historischen Sujets, der >Dante-Film< L'lnferno (Francesco Bertolini/Adolfo Padovan, 1911) betrachtet werden. Da in diesem Fall bereits die Textvorlage, wiewohl sie zu einer historisierenden Bebilderung einlädt, die Dynamik von Geschichte im Übergeschichtlichen stillstellt, kann der Film auf narrative Elemente fast völlig verzichten und sich ganz darauf konzentrieren, die ihm eigene Semantik durch Erprobung von Techniken zur Darstellung simultaner Vorgänge zu bereichern. Es wäre also ein Mißverständnis, zu behaupten, der Film, der das Erzählen noch nicht beherrschte, habe im italienischen Monumentalfilm lediglich seine Not zur Tugend gemacht. Ganz im Gegenteil ermöglicht der Verzicht auf Narration eine Lösung des Darstellungsproblems, die sich dem aktuellen Stand der Medientechnik nicht einfach anpasst, sondern diese Technik, als Modus ihrer Aussage, konsequent fortentwickelt. Erst im Rückblick kann es als eine Perversion des Mediums betrachtet werden, daß die Visualisierung von Geschichte unter diesen Prämissen sozusagen ohne Rücksicht auf die

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Irmbert Schenk, Die Anfänge des italienischen Monumentalfilms: Von Die Eroberung Roms (1905) bis Cabiria (1914), in: Fischer Filmgeschichte, Bd. 1, S. 150-167; S. 152f. Vgl. Kapitel I 2: Historismus und Realismus im historischen Roman.

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Dimension der Zeit erfolgt. Dem italienischen Monumentalfilm liegt jedoch nichts daran, seine technischen Innovationen in eine verbesserte Ökonomie der filmischen Erzählung zu investieren. Stattdessen wird, sobald sich neue filmische Darstellungsmittel ausdifferenzieren, die Komplexität des dem Film vorausgesetzten Arrangements weiter gesteigert. Darum kann nur auf den ersten Blick verblüffen, daß in Pastrones Cabiria (1914) die zuvor bei Guazzoni schon erreichte »perspektivische Klarheit der Bildkompositionen und -abschlüsse« wieder aufgegeben wird, »zugunsten eines narrativen Schwelgens in Bildern und Texten«.29 Cabiria, als Glanzstück des Genres allgemein anerkannt, wartet dementsprechend mit Neuerungen auch im Verhältnis von Text und Bild auf. Der Film wurde zunächst unter dem Autorennamen Gabriele D'Annunzios vertrieben, wobei der Dichterfürst allerdings nur einen Einführungstext - und eine Folge von Zwischentiteln verfaßt hatte. D'Annunzios Texte taugen jedoch keineswegs dazu, das narrative Gerüst der Filmfabel zu vermitteln, sondern sie treten neben die weiterhin im konventionellen Sinn verwendeten Schrifteinlagen. Auf diese Weise bilden sie über dem Film einen »Metatext« aus, der sich, wie Schenk hellsichtig anmerkt, »in seiner emphatischen Rhetorik mit der märchenhaften Monumentalität des Dekors und der historischen Räume« verbindet, »ohne semantisch verständlich zu sein«.30 In dieser Unverständlichkeit liegt freilich gerade die semiotische Funktion der >poetischen< Texte - denn an ihrer Autonomie bestätigt sich zugleich auch die Autonomie des filmischen Zeichensystems. Abstrahiert man einmal von der Teleologie der Filmgeschichte, dann kann nicht länger »paradox« erscheinen, »daß Cabiria weniger als seine Vorgänger Zwischentitel benötigen würde, auch nicht mehr unbedingt als >Tableau-Film< auftreten müßte, [...] wäre die Handlung nicht gar so vielfältig und große Zeit- und Ortsräume umfassend.« Umgekehrt! Es ist die vergleichsweise souveräne Beherrschung »rein bildliche[r] Mittel der Aufnahme und Montage«,31 die Pastrone zur Amplifikation der filmischen Tableaus auf allen Ebenen der Sinnproduktion befähigt. Der höhere Aufwand an Narrativität, den die Dehnung der erzählten Zeit über Jahrzehnte verlangt, wird nicht um seiner selbst willen betrieben, sondern steht ganz im Dienste einer Geschichts-Illustration, die nun verschiedene Attraktionen - etwa den Moloch des karthagischen Kultus, Hannibals Elefanten bei der Überquerung der Alpen, die Brennspiegel des Archimedes - in jenem gemeinsamen Zusammenhang vorzuführen vermag, den sie im populären Geschichtsbewußtsein beanspruchen. Statt >besser< zu erzählen, erhöht der Film die Komplexität seines historischen Referenztextes, bis ein hinreichender Grad an Unübersichtlichkeit - man dürfte

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Irmbert Schenk, Anfänge des italienischen Monumentalfilms, S. 158. Irmbert Schenk, Anfänge des italienischen Monumentalfilms, S. 160. Irmbert Schenk, Anfänge des italienischen Monumentalfilms, S. 160f.

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auch sagen: Unverständlichkeit - wieder erreicht ist. Gleiches gilt für die komplementäre Funktion der literarischen Vermittlung: statt in der Reduktion auf banalisierende Referenzen wird sie in Cabiria in Form eines Textes begleitend mitgeführt; als rhetorischer ornatus gehört sie genausogut zur Ausstattung des Films wie die Fülle der Dekorationen und Kulissen. In diesem Sinn trägt aber auch sie zur artifiziellen >Wirklichkeit< dieses, wenn man so will: historischen Realismus bei. Nimmt man all dies zusammen, so wird sich die These kaum halten lassen, die in Cabiria eher beiläufig erprobte Technik der Parallelmontage sei dieselbe, die »von Griffith in Intolerance 1916 systematisch entfaltet« wird.32 Denn auch der Parallelmontage als der zentralen »shot transitio[n]« des frühen Films darf nicht einfach eine stabile Semantik oder ein »one to one meanin[g]« zugeschrieben werden.33 Ohnehin sind von der Gesamtproduktion des frühen Films nur bescheidene Bestände erhalten geblieben, so daß jeder Streit um Prioritäten mehr oder weniger auf Spekulation beruht. Gleichwohl hat sich eingebürgert, die Filmgeschichte der ersten Jahrzehnte im Verweis auf wenige exemplarische Regisseure zu betreiben, deren Filmchen dadurch auf seltsame Weise den Status von Klassikern erhalten und in einem Verlaufsschema figurieren, das längst vielfach differenziert und in seiner Widersprüchlichkeit durchschaut wurde. Die Hartnäckigkeit, mit der dieses Schema dennoch weiter fortgeschrieben wird, ist nur daraus zu erklären, daß es die narrative Funktion erfüllt, die Ausarbeitung der >Filmsprache< als einen kontinierlichen Prozeß beschreibbar und darstellbar zu machen. Darum muß jede Filmgeschichte mit dem frühen Kino der Lumiere und Melies, mit >ungeschnittener< Wirklichkeitsreferenz einerseits und phantastischer, aber an den Bühnenraum gebundener Tricksemantik andererseits beginnen; als »eine nicht unwichtige Etappe auf dem Weg zum Film als Kunst« gilt weiterhin die sogenannte Schule von Brighton, die erste episodisch gegliederte Filmerzählungen hervorbringt (Attack on α China Mission; James Williamson, 1901); schließlich werden in Filmen von Edwin S. Porter verschiedene Verfahren einer mehrsträngigen Narration erprobt (The Great Train Robbery; 1903).34 Auch David Wark Griffith dreht zwischen 1908 und 1913 zunächst mehr als 400 Kurzfilme, in denen er Möglichkeiten einer erzählenden Montage experimentell durchspielt, bevor er sich dem historischen Monumentalfilm zuwendet und mit The Birth of a

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Irmbeit Schenk, Anfänge des italienischen Monumentalfilms, S. 161. Thomas Elsaesser, Early Film Forms, S. 12. - Darüber hinaus ist eine direkte Beeinflussung Griffiths durch Pastrones Cabiria unwahrscheinlich; vgl. Gottfried Schlemmer, Das frühe Filmepos: Intoleranz (Intolerance, 1916), in: Fischer Filmgeschichte, S. 266-287, S. 278f. (Anm. 8). Für eine erste Information vgl.: Peter Hoff, Von der Reportage der Wirklichkeit zur Fiktion. Theaterkonvention versus Filmsprache, in: Fischer Filmgeschichte, Bd. 1, S. 117-134 (Zitat S. 120).

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Nation (1914) den (bei allen Vorbehalten) wohl unumstritten ersten Spielfilmklassiker inszeniert. »Das Griffithsche Konzept des Konfliktfilms dient der weiteren Ausdifferenzierung des filmischen Sinnangebots als Fußpunkt, als Ausgangsplateau«;35 hier wird mit der Logik der Einstellungsverknüpfung in Form der optischen Kontinuität in Raum und Zeit und mit der Etablierung eines erzählenden Schemas, bei dem die Gegensätze aufgebaut und in eine spannungsgeladene Konflikthandlung überführt werden, [...] ein Niveau erreicht, unter das der Film in der Folge nicht zurückkehrt.36

Allerdings treten auch an diesem >Wendepunkt< der Filmgeschichte charakteristische Widersprüche auf - und zwar mitten im Zentrum der filmischen Semiose, an den Organisationsformen einer kontinuierlichen Narration. Neben der Parallelmontage - der alternierenden Koppelung dargestellter Handlungen in getrennten Räumen, die der Zuschauer als simultane Vorgänge zu lesen hat - gehört vor allem die systematische Verwendung der Großaufnahme zu Griffiths Errungenschaften. Beide Darstellungsmittel werden bereits in After Many Years (1908) - einer Verfilmung von Tennysons Enoch Arden - einer gemeinsamen Semantik der Montage unterworfen: auf die Großaufnahme vom Gesicht einer Frau folgt die Einstellung, die den Schiffbruch ihres auf See verschollenen Gatten zeigt. Allgemein gilt dieser Kunstgriff als filmhistorische Innovation. Nur, liegt die Pointe des Verfahrens darin, daß diese Sequenz die im Gesicht der Frau >gespiegelten< Bewußtseinsinhalte (die Sorge um den Vermißten) verbildlicht, wobei »der Gedanke, ein Bild als Gedanken zu verwenden, [...] zu diesem Zeitpunkt für den Film neu« war?37 Oder sind »derartige Gedankenbilder [...] bereits auf der melodramatischen Bühne des 19. Jahrhunderts und in den frühesten Anfängen des Films (ζ. B. als flashbacks) durch >Projektionen< dargestellt worden« und entsprechen ganz den »Konventionen nicht-kontinuierlichen, szenischen Erzählens des frühen Films« - so daß das Innovative der Montage bei Griffith umgekehrt darin liegt, daß zwei heterogene Räume objektivierend zueinander in Beziehung gesetzt werden? Die Auskunft, »dem subjektiven Wunsch« entspreche »auch eine dargestellte Wirklichkeit [...], die zunächst nur der Zuschauer kennt«,38 kann kaum befriedigen, da sie ja bereits ein adäquates Verständnis beim Zuschauer voraussetzt. Ist aber die Doppeldeutigkeit nicht aufzuheben, dann war der Einwand der Produzenten von After Many Years durchaus berechtigt: »Die Leute werden nicht wissen, was los

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Lorenz Engeil, Sinn und Industrie, S. 85. Lorenz Engeil, Sinn und Industrie, S. 84. Lorenz Engeil, Sinn und Industrie, S. 85. - Ähnlich argumentiert Sergej Eisenstein, Griffith, Dickens und wir, S. 96f. Joachim Paech, Film und Literatur, S. 46f.

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ist«; während die Entgegnung des Regisseurs, ein Romancier wie Dickens schreibe »auf die gleiche Weise«,39 an der nur für den Film spezifischen Ununterscheidbarkeit phantasmatischer und referentieller Effekte vorbeigeht. Die Ambivalenz der Montage, die sich hier andeutet, hat für die Filme Griffiths grundlegende Bedeutung. Nur eine verengende Rezeption wird im Einsatz der Parallelmontage ausschließlich den Königsweg zu filmischer Erzählökonomie erkennen. Daß der Regisseur selbst der Montage ein sehr viel tiefgreifenderes Sinnpotential zuerkennt, ist an der Konzeption von Griffiths zweitem Monumentalfilm, Intolerance (1916), durchgängig zu belegen. Hier, wo Griffith Techniken zur filmischen Synchronisierung von Geschichte überhaupt vorführt, erscheint die Parallelmontage als »das Mittel schlechthin, seinem Ideal der Ganzheit Ausdruck zu verleihen«.40 Oft genug ist auf die (ideologisch massiv besetzte) Naivität des Moralisten Griffith hingewiesen worden, der meinte, vier Stories unter dem Dach einer simultanen Montage auf die Darstellung von >Intoleranz< als historischer Untugend verpflichten zu können - eine Modem Story im >ArbeitermilieuZerstückeln< der Szene« führt. Da schließlich auch die »>didaktische< Methode« des Filmautors eine »ständige Unterbrechung der narrativen Kontinuität« erzwingt, spricht Schlemmer zutreffend von einem »Zerfall der Denkabläufe« beim Rezipienten. Zutreffend wehrt er jedoch auch alle Versuche ab, derartige Diskontinuitäten, ja die weitgehende Desintegration eines Filmtextes, an dem »die Bruchstellen der Zusammenfügung sichtbar« bleiben, vorschnell mit einem modernen, narrationskritischen Montagebegriff zu bearbeiten.43 Wer Intolerance rundweg dem >Textarchiv< der klassischen Moderne zuschlagen wollte, müßte unterdrücken, daß die Montage des Films unmißverständlich auf Ganzheit - oder auf Totalität zielt. Hinter diesem Motiv steckt aber dennoch mehr als ein sozialpsychologisch erklärbarer Impuls;44 nämlich der durch die Darstellungsform erhobene Anspruch auf eine nur im Film mögliche, totale Vergegenwärtigung des vom Historismus bereitgestellten Materials. Die vier Episoden von Intolerance bilden diesen Anspruch im Modus einer Synekdoche ab, die für die Kontingenz ihrer Elemente und ihrer Zusammenstellung keiner Rechtfertigung mehr bedarf. Hierin liegt auch die Differenz zu der in The Birth of α Nation schon im Titel signalisierten Intention auf filmisch reproduzierende Identitätsstiftung, ein Initiationsmodell, das Griffith nach Belieben auf weitere Sujets hätte applizieren können. Der >Sinn< von Intolerance erschöpft sich darin jedoch so wenig wie in der Reproduktion eines ideologisch erstarrten Geschichtsbildes; er erschließt sich überhaupt nicht vom Signifikat her, sondern allein aus der Ordnung der filmischen Signifikanten. Intolerance, als eine materiale >Enzyklopädie< des Historismus, stellt zugleich die Enzyklopädie des frühen Films dar: Die Projektion von Totalität, die Griffiths Film entwirft, ist zuallererst das formale Äquivalent der hier realisierten technischen Optionen, ein Äquivalent der Montage. Diese selbst soll hier - als semiotischer Generator - vorgeführt werden. Mehr war für Griffith nicht zu machen. Weniger - etwa ein kontinuierliches Erzählen auf Kosten der Großaufnahme oder auch nur ihrer semantischen Potentiale - durfte es allerdings auch nicht sein. Denn Ideologie und Ästhetik dieses Films sind nur Funktionen jener filmspezifischen Verfahren, auf denen prinzipiell auch noch der von Griffith her fortgeschriebene klassischrealistische Filmtext Hollywoods beruht. »Die Alternative: entweder Sinnverlust oder Film stand nicht mehr zur Debatte«, resümiert Engeil die Leistung Griffiths. »Was zur Debatte stand,

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Gottfried Schlemmer, Das frühe Filmepos, S. 276f. Vgl. Gottfried Schlemmer, Das frühe Filmepos, S. 275f.

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war vielmehr die Frage, welchen Sinn Film produzieren könne und solle.«45 Diese letzte Frage war freilich von Anfang an Gegenstand einer Debatte gewesen, die nur von den filmherstellenden Medientechnikern vor (und nach) Griffith nicht explizit geführt zu werden brauchte. Gerade umgekehrt läßt sich darum behaupten, daß mit Intolerance der Film zum ersten Mal seinen Sinn aufs Spiel setzt, statt den Automatismus der Semantisierung technischer Verfahren für die Erzeugung besonderer Bedeutungen als selbstverständlich zu beanspruchen. Auch Engells typologische Unterteilung der Filmproduktion vor 1915 in »Aufbruchs- und Ordnungsutopien« wäre auf der Ebene der Verfahren prinzipiell in einem »wechselseitige[n] Zuspiel beider Formen der Sinngebung« zu fundieren. 46 Hinter der Alternative von >Sinnverlust oder Film< verbirgt sich, so gesehen, die in der Spannung zwischen einem texturierten Material und seiner strukturierenden Zurichtung entfaltete semiotische Prozessualität des frühen Films. Und an ihr zeichnet sich, wie zu beobachten war, jene Tendenz zur fortlaufenden Überlastung der Struktur ab, die durch Überschreitung der bereits konventionalisierten Semantiken die Textur des Materials immer wieder zum Vorschein bringt. Der historische Monumentalfilm ist hierfür nur ein Beispiel, und auch die durch und durch konventionalisierte Montage im Star- und Genre-Kino Hollywoods kann dieses Erbe, als ihre mediale Voraussetzung, nie durch ein ganz stabiles Sinnkalkül verdrängen. In diesem - technischen - Sinn hat das Medium Film sehr wohl seinen Ort im Archiv der klassischen Moderne.47 Daß jedoch Griffith mit Intolerance beim Publikum durchfiel und auch später in Hollywood keine Karriere mehr machte, hat seinen Grund in der Sache. Die Zweideutigkeit der Montage ist bei ihm irreduzibles Moment der filmischen Struktur. Selbst wo sie konventionell erscheint, ist ihr Effekt doch der einer nicht vollständig kontrollierten semantischen Streuung. Dadurch gerät der Moralist Griffith unversehens in Gesellschaft der nominellen Antipoden seines Weltanschauungskinos. In der filmischen Dynamik der last minute's rescue ist die Apotheose der Bewegung immer auch die Apotheose der Montage, oder umgekehrt. Selbst in Intolerance führt das zu einem Modus der kontingenten Setzung oder beliebigen Bereitstellung narrativer Elemente, die keine andere Funktion haben, als die Kontinuität des Parallelismus zu garantieren. Spätestens wenn der für das Geschwindig-

45 46 47

Lorenz Engell, Sinn und Industrie, S. 84. Lorenz Engell, Sinn und Industrie, S. 69. In der Reihe der späteren großen >Historiker< des Stummfilms wäre neben Lubitsch (Madame Dubarry, 1919) und Fritz Lang (Die Nibelungen; 1923/24) vor allem Abel Gance zu nennen, der in Napoleon (1927) mit einer schwerverdaulichen Mischung aus am historischen Individuum demonstriertem Symbolzwang und Texturen der Massenszene eindrucksvoll belegt, daß die prekäre Balance der Montage bei Griffith unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen Konventionalisierung der filmischen Semantik nicht mehr zu halten war.

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keitsduell von Automobil und Eisenbahn unentbehrliche Rennwagen zur rechten Zeit am rechten Ort bereitsteht, sieht man sich unversehens an die Semantik - oder die semiotische Anarchie - des Slapstick verwiesen, wie ihn der Griffith-Schüler Mack Sennett seit 1912 produzierte. Dieser Gedanke kann hier nicht weiter verfolgt werden. Daß jedoch das thematisch unvereinbar Scheinende im Verfahren koinzidiert, wird nicht zuletzt durch die Rezeption des amerikanischen Films in der sowjetischen Avantgarde belegt. Hier zeigt man sich vom Exzentrismus des Slapstick gleichermaßen begeistert wie von den Ordnungen der Montage im Erzählkino Griffiths. Beide Verfahren in ein genaues - semiotisch produktives - Verhältnis zu bringen, daran arbeitet sich Sergej Eisenstein schon in seinen Bühnenexperimenten am Ersten Arbeitertheater des Proletkult ab. In Streik (1924), dem ersten Film in Eisensteins Revolutionstrilogie, kann der Versuch als gelungen gelten, Geschichte als Form des Films durch Montage semantisch offener Bewegungsfiguren zu realisieren.48 - Zugleich gewinnt die Theorie des Films bei Eisenstein die selbstreflexive Qualität einer Theorie der ästhetischen Moderne, in der das Prinzip der Montage den Status einer systematisch fundierten Technik zur Uberwindung des Historismus — durch Anwendung historistischer Verfahren - erhält. Statt einer >Enzyklopädie< filmischer Errungenschaften ä la Griffith bietet darum Eisenstein schon in Streik eine intermediale Recherche nach offenen semantischen Potentialen in der frühen Filmgeschichte an, statt der Addition von Verfahren eine Collage von Zitaten, statt des Parallelismus verschiedener Sinngeneratoren eine Reflexion auf die Möglichkeit von Sinn als Film. Auf diesem Niveau der Artikulation ergeben sich für die Behandlung des Mediums Film im Zusammenhang von Historismus und Moderne vergleichsweise geringere Schwierigkeiten.49 Schließlich spricht Eisenstein selbst davon, daß er zu Beginn seiner Filmarbeit in allererster Linie von der Beziehungslosigkeit der einzelnen Filmteile gefesselt war; nichtsdestoweniger geschah es häufig, daß die Teile - nach dem Willen des Regisseurs zu-

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Vgl. demnächst hierzu, wie überhaupt zum Zusammenhang von emphatischer Moderne und filmischer Montage: Ines Steiner, Montage der Revolution. Sergej Eisensteins Semantik der Moderne, in: Unvollständig, krank und halb? Zur Archäologie moderner Identität, hg. v. Christoph Brecht/Wolfgang Fink, Bielefeld 1996. - Der Filmforschung gilt in der Regel erst das revolutionäre Pathos des Panzerkreuzer Potemkin als Beleg für Eisensteins Loslösung von der biologistisch konzipierten Einwirkungskunst; vgl. etwa: Lorenz Engell, Sinn und Industrie, S. 89f. Es darf sogar behauptet werden, daß sich der Film, als Medium des technischen Historismus, einer entsprechenden Lektüre sehr viel widerstandsloser >ergibt< als literarische Texte nach Ende der emphatischen Moderne. Das gilt, nicht nur historisch sondern auch systematisch, vor allem für avantgardistische Positionen (und keineswegs ausschließlich für reine Montage-Theorien). Seien es Filme etwa der Nouvelle Vague oder eines Peter Greenaway - Reflexionen auf den Zusammenhang von Medium und technischem Historismus sind mit Händen zu greifen (aber auch leicht in moderne oder postmoderne Klischees zurückzulesen).

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sammengestellt - im Widerspruch mit sich selbst >etwas Drittes< ergaben, das heißt, sie traten in Beziehung zueinander.50

Eisensteins Schriften stellen geradezu eine Anthologie zu Problemen eines Historismus als Verfahren dar.51 Gegen Versuche einer Harmonisierung, wie der Regisseur sie später selbst unternommen hat, bleibt festzuhalten, daß auch Eisensteins >filmischer Konstruktivismus< im Sinne des angeführten Zitats die Momente der filmischen Textur zu ihrem Recht kommen läßt am wenigsten vielleicht in Panzerkreuzer Potemkin (1925), aber noch in Streik und erst recht wieder in Oktober (1927). Den Begriff eines filmischen Essays kann jedenfalls der letztgenannte Film mit vollem Recht für sich in Anspruch nehmen. Und zugleich koinzidiert in Oktober der Versuch einer vollständigen Vermittlung der montierten Einstellungen auf bezeichnende Weise mit dem Rigorismus einer programmatischen Ästhetik der Beziehungslosigkeit, wie sie etwa den ersten Filmexperimenten eines Luis Bunuel zugrundeliegt. Dieser dialektische Zusammenhang von Struktur und Textur am Kino der Avantgarde wäre systematisch zu entfalten und filmgeschichtlich zu vertiefen.

50 51

Sergej Eisenstein, Montage 1938, in: Gesammelte Aufsätze I, S. 229-280; S. 232. Zu Eisensteins umfassendem, am Film geschulten, aber alle Mediengrenzen überschreitenden Montageverständnis vgl. die Hinweise bei Hannsmartin Siegrist, Textsemantik des Spielfilms, S. 14-21.

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