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German Pages [315] Year 1996
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler
Band 116 Otto Gerhard Oexle Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus Studien zu Problemgeschichten der Moderne
von
Otto Gerhard Oexle
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
96. 56460
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Oexle, Otto Gerhard: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus: Studien zu Problemgeschichten der Moderne / von Otto Gerhard Oexle. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 116) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996 ISBN 3-525-35779-6 NE: GT
© 1996, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen.
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Inhalt
Einleitung
9
1. Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung
17
2. »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs
41
3. Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus
73
4. Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition
95
5. Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalter137 beschwörungen in der Weimarer Republik und danach 6. Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz' »Kaiser Friedrich der Zweite« in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik
163
7. ›Der Teil und das Ganze ‹ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historisch-typologischer Versuch
216
An merkungen
241
Verzeichnis der ersten Druckorte
310
Personenregister
311
5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
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Für Anno und Kristin
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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Einleitung
Der vorliegende Band versammelt Beiträge zur Theorie der historischen Erkenntnis und zur Wissenschaftsgeschichte der Kulturwissenschaften aus den Jahren 1984 bis 1996. Der im Titel verwendete Begriff der ›Problemgeschichte‹ bedarf dabei einer Erläuterung.1 Gemeint ist ein wissenschaftsgeschichtliches Vorgehen, das die den einzelnen, fachlichen Fragestellungen zugrunde liegenden wissenschaftlichen wie lebensweltlichen Orientierungen zum Gegenstand hat.2 Im Unterschied zu einer monodisziplinär ausgerichteten Wissenschaftsgeschichte ist eine als ›Problemgeschichte‹ vorgehende deshalb multidisziplinär orientiert. Hier geht es um die »Entwicklung von Disziplinkomplexen« in bestimmten Zeiträumen, getragen von der Einsicht, »daß verschiedene Disziplinen in einem überschaubaren Zeitraum sich mehr ähneln können als die unterschiedlichen Ausformungen ein- und derselben Disziplin über längere Zeitstrecken hinweg«.3 Die Ergebnisse von Wissenschaftsgeschichte als Problemgeschichte liegen deshalb nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinn, sondern sie betreffen jede einzelne Fachwissenschaft und deren aktuelle Forschungspraxis unmittelbar. Denn sie verhelfen zur Einsicht in tiefere Schichten der Genese und Relevanz wissenschaftlicher Ergebnisse. Problemgeschichten erhellen jene Zonen der Erkenntnis, in denen in der Auswahl bestimmter Ansätze und Sichtweisen Forschung gesteuert wird. Es geht um die Erkenntnis, wie und warum in der Wahl von Fragestellungen (aus einer Vielzahl von in gleicher Weise möglichen anderen) bestimmte Optionen getroffen, wie und warum in der Auswahl von Elementen für Definitionen bestimmte ›Gegenstände‹ und Erkenntnisziele gegenüber anderen bevorzugt wurden.4 Durch problemgeschichtliche Fragestellungen werden schlichte Fortschrittsgeschichten der Wissenschaft fragwürdig.5 Problemgeschichte macht darauf aufmerksam, daß Forschung zwar ein ständiges Fortschreiten und Weiterschreiten bedeutet, daß dieses aber (mit Kant gesprochen) ins Unabsehbare, ins Indefinite geht6 und demnach keinen ›Fortschritt‹ in irgendeinem teleologischen Sinne darstellen kann. Problemgeschichten machen darauf aufmerksam, daß Wissenschaft stets einen Teil der ›Kultur‹ 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
darstellt7 und in eine jeweilige ›Kultur‹ eingebunden ist und daß somit wissenschaftliche Erkenntnis von den Bedingungen der jew eiligen Gegen wart mit geprägt wird. Dies aber bedeutet, daß immer auch wissenschaftliche Erkenntnis verlorengeht oder verdrängt wird und daß ständig wissenschaftliche Ergebnisse und sogar in ihrem Ertrag noch lange nicht ausgeschöpfte Frageansätze von anderen überlagert werden und dann in Vergessenheit geraten. Schließlich machen Problemgeschichten der Kulturwissenschaften, wie erwähnt, darauf aufmerksam, daß solche Problemkonstellationen stets mehrere Fächer durchziehen und hier auf gleichartige, oft aber auch unterschiedliche Weise die Wege der Forschung prägen. Problemgeschichten der historischen Wissenschaften verweisen deshalb auch darauf, daß um 1900 einmal eine integrierende Historische Kulturwissenschaft konzipiert wurde, die in Deutschland mit den Namen von Georg Simmcl, Aby Warburg und Max Weber verbunden ist,8 daß diese und wie diese verdrangt wurde9 - was anderswo mit gleichartigen Unternehmungen nicht der Fall war10 -, so daß es heute an deren Gegenwart offensichtlich fehlt. Die erneute Schöpfung einer Historischen Kulturwissenschaft gehört deshalb heute zu den zentralen Aufgaben aller kulturwissenschaftlichen Fächer. Roger Chartier sprach unlängst davon, daß es darauf ankomme, die etablierten Grenzen der Fächer »zu erschüttern, ja durcheinanderzubringen«.11 Dem ist zuzustimmen: Gerade die Geschichtswissenschaft bedarf einer entschlossenen Ent-Disziplinierung, was vielleicht für andere kulturwissenschaftliche Fächer ebenso gilt. Die anhaltende und sogar zunehmende Faszination, die seit einiger Zeit und vor allem seit den 1980er Jahren vom Werk Simmeis, Warburgs, Webers oder von dem Ernst Cassirers ausgeht, hat ja gerade auch in der hier angelegten Nivellierung tradierter Disziplinengrenzen ihre Wurzeln. Freilich bedarf die ›Entdisziplinierung‹ jederzeit einer ebenso intensiv betriebenen ›Disziplinierung‹, in dem Sinne nämlich, daß die einzelnen kulturwissenschaftlichen Fächer sich ihrer historisch gewordenen, spezifischen Leistungen und ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit bewußt sind und sie zur Geltung bringen. ›Entdisziplinierung‹ bedeutet nicht Aufhebung oder Verwischung der unterschiedlichen Profile dieser Fächer, sondern die Entdeckung ihrer wechselseitigen Komplementarität. Eine solche Kulturwissenschaft ist allerdings nicht allein durch ›interdisziplinäre‹ Anstrengungen herzustellen, an denen es ja nicht fehlt, sondern durch die Konstituierung eines gemeinsamen Bewußtseins von ›Kulturwissenschaft‹ als Aufgabe. Die Beiträge des vorliegenden Bandes erörtern verschiedene jener Problemgeschichten, die in vielen Kulturwissenschaften relevant sind. Hierzu gehört vor allem das fundamentale Phänomen des ›Historismus‹, der universalen Historisierung alles dessen, was ist, eines der bedeutsamsten, 10 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
konstitutiven Kennzeichen der Moderne überhaupt.12 Mit dem Historismus sind zahlreiche weitere, einzelne Problemgeschichten verbunden, zum Beispiel die Thematik von ›Teil‹ und ›Ganzem‹.13 In seinem Essay »Die Krisis des Historismus« hat Ernst Troeltsch 1922 drei zentrale Probleme benannt, in denen er Dimensionen der vom Historismus als der »Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt«, als der »erstlichen Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken«, ausgelösten Krise erkannte und damit gewissermaßen drei fundamentale Problemgeschichten der Moderne bezeichnete.14 Zum einen nannte er »die Aufrollung der erkenntnistheoretisch-logischen Probleme der Historie«, nämlich die Frage nach den Bedingungen, nach der Leistungsfähigkeit und nach den Grenzen historischer Erkenntnis, nach der wissenschaftlichen ›Objektivität‹ also. Als zweites der Folgeprobleme des modernen Historismus bezeichnete Troeltsch »die Einführung des soziologischen Elementes in die historische Forschung«, somit die Erkenntnis, daß staatliche wie (in einem engeren Sinn verstanden) kulturelle »Bildungen aufruhen auf den jeweiligen gesellschaftlichen Grundlagen des Lebens«. Die dritte Dimension der vom Historismus ausgelösten Krise sah Troeltsch in der »Erschütterung des ethischen Wertsystems sowohl in der Begründung als im sachlichen Inhalt«, im modernen Relativismus also. Hiermit war, mit Nietzsche gesprochen, die Frage von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ aufgeworfen,15 und zwar in mehreren Hinsichten. Es ist diese Gemengelage von Objektivitätsfrage, Wertproblem und Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedingungen geschichtlicher Prozesse wie der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst, in der sich um 1900 die bereits genannte Historische Kulturwissenschaft formiert hat. Nimmt man andere, gleichzeitige Stellungnahmen hinzu, so ergibt sich nach 1870 und vor allem seit den 1880er Jahren eine erstaunliche Fülle von Debatten über wissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und historische Erkenntnis.16 Zu Recht hat man mit Blick auf die von dieser »Krise des Historismus« ausgehenden epistemologischen Erörterungen und Kontroversen die Epoche zwischen 1880 und 1930 als eine »Achsenzeit der geschichtstheoretischen Theoriebildung« bezeichnet.17 Hier entstanden folgenreiche und zugleich untereinander konträre epistemologische und wissenschaftsphilosophische Grundlegungen wie Friedrich Nietzsches zweite »unzeitgemäße« Betrachtung »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (1874), Wilhelm Diltheys »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (1883) und Max Webers Abhandlungen über »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« (1904) und über »Wissenschaft als Beruf« (1917/19), aber auch andere, nicht weniger bedeutende Schriften, die allerdings in den Kulturwissenschaften und zumal in der Geschichtswis11 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
scnschaft kaum Beachtung fanden: zum Beispiel Georg Simmeis Schrift über »Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie« von 1892 mitsamt ihrer völlig umgearbeiteten zweiten Auflage von 1905, Ernst Cassirers Buch »Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik« von 1910 und Edmund Husserls Schrift »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie« von 1936. Die Veröffentlichung von Webers »Wissenschaft als Beruf« entfesselte übrigens einen Wissenschaftsstreit,18 den die Anhänger Stefan Georges, von Nietzsches zweiter »unzeitgemäßen« Betrachtung inspiriert, mit Erich von Kahlers Buch »Der Beruf der Wissenschaft« von 1920 eröffneten und an dem sich zwar die Historiker kaum, um so mehr aber prominente Vertreter aller anderen Kulturwissenschaften, der Philosophie und der Rechtswissenschaft, der Soziologie, der Theologie, der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaften beteiligten, und der sich bis in die dreißiger Jahre hinein erstreckte. Allein schon an dem Verlauf dieses Streits ist übrigens deutlich abzulesen, wie und warum Max Webers Begründung einer Historischen Kulturwissenschaft - mitsamt ihrer epistemologischen Orientierung an Kants Kritizismus - nach 1918 verdrängt wurde und wie sich stattdessen mehr und mehr und immer rascher lebensphilosophische Positionen durchsetzten, die sich an Nietzsches Philosophie der Wissenschaft orientierten. Das ist auch für die Neuansätze nach 1945 nicht ohne Folgen geblieben. Ein anderes Phänomen, das im modernen Historismus seine Wurzeln hat, ist die noch zu wenig bekannte Geschichte der Epochen-Imaginationen, also der mentalen ›Bilder‹ von ›Mittelalter‹ und ›Renaissance‹, von ›Neuzeit‹ und ›Moderne‹, wobei gerade die gegensätzlich konstruierten Bilder von ›Mittelalter‹ und ›Rcnaissance‹ in ihrer Gegensätzlichkeit durch die Verknüpfung mit dem Bild der ›Moderne‹ und durch das Urteil über diese, also durch die Auffassung von der eigenen Gegenwart erzeugt wurden.19 Es handelt sich um Stellungnahmen zur Moderne in einer Spiegelung dieser Moderne in historischen Epochen, welche man auf diese Weise definierte. Diese bildhaften Deutimgsmuster haben die fachliche Einzelforschung tiefgehend geprägt, die Mittelalterforschung zum Beispiel ebenso wie die Renaissance-Forschung, und tun es noch immer. Zugleich werden in diesen Epochen-Imaginationen auch politisch-soziale Orientierungen sichtbar, werden Fortschrittsgeschichten (die ›Renaissancc‹ als Beginn der Moderne) oder Verfallsgeschichten erzählt, welche sich an einem imaginierten ›Mittelalter‹ als einer Zeit von ›Ganzheit‹ und ›Gemeinschaft‹ orientieren und sich schließlich - nach dem Vorbild der Schrift »Die Ghristenheit oder Europa« des Novalis20 - auf die Verheißung eines Neuen Mittelalters beziehen.21 Gerade in Deutschland gewann diese Thematik eine außerordentliche 12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Bedeutung. Sie wurde hier vor allem seit dem Zusammenbruch des Fortschritts-Paradigmas unmittelbar nach der Reichsgründung von 1870/71 virulent. Zu Anfang der 1880er Jahre begann der Soziologe Ferdinand Tönnies mit den Arbeiten an seinem Buch »Gemeinschaft und Gesellschaft«, das 1887 erschien und in dem zum ersten Mal, mit großer und in den folgenden Jahrzehnten noch zunehmender Resonanz, der Moderne und ihrer ›Gesellschaft‹ als einer bloß ›mechanischen‹ Regelung der Beziehungen zwischen den Menschen das Mittelalter mit seinen ›organischen Gemeinschaften kritisch gegenübergestellt wurde. ›Gemeinschaft‹ meinte hier, daß die Teile nicht, wie angeblich in der modernen Gesellschaft, beziehungslos und austauschbar sind, sondern am Ziel des ›Ganzen‹ teilhaben, so daß der Zweck des Ganzen zugleich ihr eigener ist. Auf dieser Linie entwickelte sich dann, stets im Zeichen von ›Ganzheift‹ und ›Gemeinschafts‹ in allen Kulturwissenschaften, ebenso aber auch in der ›Lebenswelt‹ und deshalb auch in Kunst und Literatur, seit 1900 und vor allem nach der Katastrophe von 1918, ein politisch-sozialer Mediävalismus, der schließlich in die Propagierung eines ›Neuen Mittelalter einmündete. Für viele Kulturwissenschaftler, für Philosophen und Theologen, Soziologen und Juristen, Historiker und Kunsthistoriker, bot die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 die unmittelbare Aussicht für die nach ihrer Auffassung historisch längst anstehende Verwirklichung dieses Neuen Mittelalters.22 Die Beiträge des vorliegenden Bandes möchten schließlich als ein Plädoyer für die selbstverständliche Einbeziehung der Theorie wissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher und historischer Erkenntnis in die Arbeit des Historikers verstanden werden. Dasselbe sollte auch für wissenschaftsgeschichtliche Reflexionen gelten. Epistemologische Grundsatzreflexion war in der Historischen Kulturwissenschaft eines Ernst Cassirer, Georg Simmel oder Max Weber selbstverständlich, wie oben bereits angedeutet wurde. Dabei muß man sich darüber im klaren sein, daß auch die Geschichte der Theorien der historischen Erkenntnis im Zeichen des Historismus, vom Beginn des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, keine schlichte Fortschrittsgeschichte darstellt. Sie erweist sich vielmehr als die Geschichte einer begrenzten Anzahl unterschiedlicher und konkurrierender Ansätze, die in konkreten historischen Situationen entstanden, oft kritisch aufeinander Bezug nahmen und auch heute nicht zu einem großen einheitlichen Ganzen vermittelbar sind.23 Dies ist deshalb zu betonen, weil oft vom Gegenteil ausgegangen wird. Die großen epistemologischen Ansätze der Geschichtswissenschaft in der Moderne beruhen aber auf sehr verschiedenen Voraussetzungen und Problemstellungen. Man hat die Wahl, muß sich freilich auch entscheiden. Es ist zu erinnern: an Wilhelm von Humboldts und Leopold von Rankes Begriff der 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
historischen Erkenntnis als einer metaphysisch und religiös begründeten Ideenerkenntnis; an den Positivismus und den Historischen Materialismus; an Diltheys Theorie der »Geisteswissenschaften« und des »Verstehens« im Gegensatz zur (positivistischen) Naturwissenschaft und deren »Erklären«; an die epistemologischen Begründungen einer Historischen Kulturwissenschaft als empirisch gestützter Hypothesenerkenntnis, die auf Kants transzendentalphilosophischen Begriff des Phänomens und der ins Indefinite stetig fortschreitenden Erkenntnis zurückgreifen; an die philosophische Hermeneutik eines Hans-Georg Gadamer; an die Wissenschaftsphilosophie Friedrich Nietzsches - sei es mit der Idee einer Historie, die authören muß, eine Wissenschaft zu sein, um sich in den Dienst des ›Lebens‹ begeben zu können,24 sei es mit der Entlarvung von Wissenschaft als einer Fiktion im Dienst des »Willens zur Macht«, die von Martin Heidegger in den zwanziger Jahren erneut aktualisiert wurden, um in unseren Tagen in der Gestalt des französischen »NeoStrukturalismus«,25 u. a. durch Michel Foucault, ein überraschendes und offenbar vielfältig faszinierendes, freilich mit Verdrängungen verknüpftes26 Comeback zu erleben. Diese einzelnen Ansätze untereinander zu verbinden oder gar synkretistisch zu vermengen, erscheint untunlich. Es geht vielmehr darum, sich ihrer unterschiedlichen historischen Kontexte und ihrer unterschiedlichen Begründungen und Zielsetzungen zu vergewissern, um dadurch die Leistungsfähigkeit aller dieser Ansätze, ebenso aber ihre Grenzen (und Grenzen haben sie alle, nur in verschiedener Weise) genauer zu bestimmen. Die eine absolut gültige Theorie wird dabei nicht zu ermitteln sein. Stehen doch auch diese Problemgeschichten, wie alle Problemgeschichten überhaupt, im Zeichen des Historismus, ja, sie müssen - wie das Unternehmen ›Problemgeschichte‹ in seiner Gesamtheit - als eine Hervorbringung des Historismus der Moderne gelten. Außerdem gehörte zu den Kennzeichen einer Historischen Kulturwissenschaft um 1900, daß sie aufgrund der ihr eigentümlichen epistemologischen Reflexion zu den Naturwissenschaften ein anderes Verhältnis definieren konnte,27 als es auf der Linie einer von Dilthey in Abgrenzung vom Herrschaftsanspruch des naturwissenschaftlichen Positivismus seiner Zeit konzipierten Geisteswissenschaft‹ möglich war und bis heute möglich ist.28 Es ist deshalb zu fragen, ob die Verwendung von Diltheys Begriff und Begründung der ›Geisteswissenschaften‹ überhaupt noch sinnvoll ist. Eher erscheint der Abschied vom Begriff der Geisteswissenschaft‹ auf ›geisteswissenschaftlichen ‹ Seite überfällig, nachdem sich die Naturwissenschaften in weiten Bereichen, vor allem in der Physik, schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts vom Positivismus verabschiedet haben.29 Kulturwissenschaft im Sinne Max Webers war sich bereits durch die Art ihrer Konstituierung stets ihrer kulturellen Bedingtheit und folglich ihrer 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
historischen Gewordenheit bewußt.30 Wenn den Arbeitsgebieten der Kulturwissenschaften »nicht die ›sachlichen‹ Zusammenhänge der ›Dinge‹, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme« zugrundeliegen, und wenn »die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften« in eine »grenzenlose Zukunft« hinein »wandelbar« bleiben, weil der »ewig fortschreitende Fluß der Kultur« den »historischen Disziplinen« stets »neue Problemstellungen zuführt« (und ihnen damit »ewige Jugendlichkeit« beschert), so bedeutet das ebensowohl die Vergänglichkeit aller Fragestellungen wie die »Unvermeidlichkeit« immer neuer.31 Es bedeutet aber auch, daß die Frage nach der kulturellen und historischen Bedingtheit aller dieser Fragestellungen bereits mitgedacht ist. Wissenschaftsgeschichtliche Reflexion ist, von daher gesehen, als Element einer Historischen Kulturwissenschaft unumgänglich. Solche Reflexion zu einem Teil der Forschungspraxis selbst werden zu lassen, ist aber auch von unmittelbarem Nutzen: ist es doch nützlich, die Genese der Problemstellungen zu kennen, in deren Rahmen man sich bewegt, und ist es doch zudem nützlich, wie oben bereits bemerkt, Erkenntnisverluste zu erkennen, weil dieses Erkennen von Verlusten den aktuellen Forschungsprozeß unmittelbar zu fördern vermag. Die Notwendigkeit wissenschaftsgeschichtlicher Reflexion als Teil der Forschung ergibt sich aber nicht nur aus dem praktischen Nutzen, sondern auch aus der historischen Lage, in der sich die Kulturwissenschaften seit dem epochalen Wandel der Jahre seit 1989 befinden. Dieser Wandel bedeutet auch, daß uns die Wechselfälle der Entwicklung der Geschichtswissenschaft wie der anderen Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert und gerade die nach 1945 eingeschlagenen Wege32 mehr und mehr in neuem Licht erscheinen.33 Die Zeit der Historisierung der Historie (und nicht nur dieser) hat erst jetzt eigentlich begonnen.34 Der Wiederabdruck von Aufsätzen, die ein und dasselbe Thema umkreisen, macht den Nachteil von Wiederholungen sichtbar. Der Leser wird dafür um Nachsicht gebeten. Michael Hänel hat die Entstehung des Manuskripts mit Umsicht unterstützt und das Register erstellt. Dafür sei ihm herzlich gedankt, ebenso wie Karin Lentge und Doris Büthe, die mit bewährter Sorgfalt die Satzvorlage vorbereitet haben. Göttingen, im Mai 1996
O.G. Oexle
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1. Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung
I An den Beginn dieser Erörterungen* sind drei Vorbemerkungen zu stellen. Die erste soll begründen, warum ein Mediävist dieses Thema behandelt, welches kein mediävistisches ist. Die zweite wird die im Titel verwendeten Begriffe ›Historismus‹, ›Wissenschaft‹ und ›Forschung‹ definieren. Und mit der dritten kann verdeutlicht werden, welche aktuellen Kontroversen zu dieser Standortbestimmung der Geschichtsforschung herausgefordert haben und in welcher Weise sie geleistet werden soll. (1) Die Theorie der Wissenschaft überhaupt und ebenso die Theorie einer einzelnen Wissenschaft ist eine zu wichtige Sache, als daß man sie ›Theoretikern‹ oder den Philosophen allein überlassen könnte. Die Reflexion über die Theorie einer Wissenschaft hat vielmehr ihren Platz vor allem im konkreten Forschungsvollzug dieser Wissenschaft selbst.1 (2) Unter ›Historismus‹ wird im folgenden mit E. Troeltsch, K. Mannheim und anderen der Vorgang der »grundsätzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens« verstanden,2 die Einsicht, daß alles und jedes geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist, »daß das Leben und die Wirklichkeit Geschichte sind und nichts anderes als Geschichte«.3 Historismus ist also eine »eine geistige Macht ... von unübersehbarer Tragweite, er ist der wirkliche Träger unserer Weltanschauung, ein Prinzip, das nicht nur mit unsichtbarer Hand die gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit organisiert, sondern auch das alltägliche Leben durchdringt«, wie K. Mannheim 1924 feststellte: Historismus ist schlechthin das »Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirklichkeit betrachten«.4 Diese Betrachtungsweise hat sich mit dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts, mit der Entstehung der modernen Welt endgültig durchgesetzt. Der Historismus gehört also zu den großen Grundkräften, * Vortrag, gehalten am 8. Dezember 1982 vor dem Historischen Verein zu Münster. Die Vortragsfassung ist beibehalten.
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die für die Moderne konstitutiv sind; er ist in eine Reihe zu stellen mit der Aufklärung, mit der politischen Revolution, mit der Industrialisierung und mit der Durchsetzung der modernen Naturwissenschaft und ihrer technischen Konsequenzen. Die Begriffe ›Wissenschaft‹ und ›Forschung‹ werden in unserer Alltagsspräche inhaltsgleich verwendet. Bei einem wissenschaftlichen Gebrauch dieser Begriffe ist jedoch auf ihre Unterscheidung zu achten. ›Wissenschaft‹ kann man definieren als eine Form des Wissens, die sich von anderen Formen des Wissens (zum Beispiel vom Alltagswissen, vom Wissen des sprichwörtlichen Mannes auf der Straße)5 darin unterscheidet, daß sie (a) systematisch ist, das heißt: ihr Wissen ordnet und in Zusammenhänge bringt, und daß sie (b) reflexiv ist, das heißt: über die Bedingungen ihres Wissens und dessen Zustandekommen reflektiert.6 So wie es verschiedene Formen des Wissens gibt, von denen eine Wissenschaft genannt wird, so gibt es auch verschiedene Formen von Wissenschaft, von denen eine ›Forschung‹ heißt. Von anderen Formen der Wissenschaft unterscheidet sich ›Forschung‹ durch ihren Grundgedanken, und dieser Grundgedanke ist: der Gedanke der Unendlichkeit, die Auffassung nämlich, daß der Gegenstand des Forschern, die empirisch erfahrbare Welt, unendlich ist und daß deshalb auch der Prozeß der Erforschung dieser unendlichen Welt prinzipiell ein unendlicher ist, daß er also niemals an ein Ende kommen, sein Ziel niemals erreichen kann.7 Wissenschaft als Forschung in diesem Sinne ist eine Hervorbringung der Geschichte des europäischen Okzidents. Aber auch in der europäischen Geschichte hat Wissenschaft nicht immer die Form von Forschung gehabt. Die aristotelische Wissenschaft zum Beispiel hatte nicht den Charakter der Forschung. Und auch die auf die aristotelische Wissenschaft gegründete Wissenschaft der Scholastik des 13. Jahrhunderts war zwar ein hochintellektua lisiertes und hochkomplexes Wissenschaftssystem, hatte aber gleichwohl nicht den Charakter von Forschung, weil die wissenschaftlich zu erkennende Welt hier als ein Kosmos, als eine geformte und begrenzte Gestalt, nicht aber als etwas Unendliches gedacht wurde. Die Idee von Wissenschaft als Forschung begann vielmehr erst dann in Erscheinung zu treten, als der Gedanke der Unendlichkeit, der Grenzenlosigkeit und also auch Gestaltlosigkeit der Welt theoretisch, d.h. theologisch und philosophisch, gefaßt worden war.8 Der Prozeß der Entfaltung dieses Grundgedankens begann im spätmittelalterlichen Nominalismus des 14. und 15. Jahrhunderts.9 Die folgenden Phasen dieses Prozesses bis zum Ende des 18. Jahrhunderts können bezeichnet werden mit den Namen Nikolaus von Kues, Kopernikus, Kepler, Galilei, Descartes, Pascal, Leibniz, Kant. Die Zusammenfassung der Ergebnisse läßt sich bei Kant nachlesen, wovon noch die Rede sein wird.10 Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Geschichtswissen18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
schaft? Diese Frage führt zum Thema zurück. Der Titel dieser Erörterungen enthält zwei auf den Unterschied von Wissenschaft und Forschung bezogene Thesen. Mit den im Untertitel angekündigten Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung wird nämlich die These vertreten, daß die wissenschaftliche Vergegenwärtigung von Geschichte heute nur die Form der Forschung haben kann. Der Obertitel soll jedoch darauf aufmerksam machen, daß es im Zeichen des Historismus, also im 19. und 20. Jahrhundert, auch andere Erscheinungsweisen von Geschichtswissenschaft gegeben hat und gibt, die nicht die Form von Wissenschaft als Forschung hatten und haben. (3) Die derzeit in der Presse, in den sogenannten ›Medien‹ und anderswo ausgetragenen Kontroversen über die moderne Wissenschaft entzünden sich bekanntlich daran, daß diese moderne Wissenschaft alle Lebensbereiche tiefgehend beeinflußt, was uns die Physik, die Biologie und viele andere Wissenschaften täglich demonstrieren. Angesichts dieses Sachverhalts ist die Einstellung gegenüber der modernen Wissenschaft heute mehr und mehr von Skepsis bestimmt, ja von Pessimismus und offener Feindseligkeit. Für viele Menschen in unseren Tagen ist Wissenschaft das schlechthin Böse geworden. Angesichts der zunehmenden Verbreitung dieser Einstellung ist mit Nachdruck daran zu erinnern, daß noch vor nicht allzu langer Zeit, noch um 1970, eine ganz andere Einstellung gegenüber der Wissenschaft die vorherrschende und allgemein verbreitete war, nämlich die Haltung des Optimismus, ja geradezu der Euphorie.11 Dieser rasche Wandel von der Euphorie zur Ablehnung hat etwas Beunruhigendes an sich, auch deshalb, weil die Tatsache dieses Einstellungswandels offenbar gar nicht bewußt ist. Aber gerade darin liegt das Problem: in dem Sachverhalt nämlich, daß der Wissenschaftsoptimismus von 1970 ebenso unreflektiert sich behauptet hat, wie heute der Wissenschaftspessimismus von 1980 sich Geltung verschafft. Die entscheidende Frage hat sich aber darauf zu richten, ob diese Alternative von Optimismus und Wissenschaftsglauben einerseits, von Wissenschaftspessimismus und Wissenschaftsfeindschaft andererseits überhaupt triftig ist, ob über moderne Wissenschaft nur im Zeichen dieser Alternative nachgedacht werden könne. Aber gibt es denn zu dieser Alternative konträrer Betrachtungsweisen eine Alternative? Auf diese Frage sind viele Antworten denkbar; theologische, philosophische, naturwissenschaftliche. Selbstverständlich kann die Frage auch dem Historiker gestellt werden, der sie mit den Mitteln seiner Wissenschaft zu beantworten suchen wird.12 Der Historiker wird dann über die Geschichte der Wissenschaft nachdenken. Diese Überlegungen können sich einerseits auf die Geschichte der Wissenschaft in Europa allgemein beziehen, andererseits auf die Geschichte seiner eigenen Wissenschaft, der Geschichtswissenschaft. 19 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Mit diesen Andeutungen sind die beiden Hauptpunkte benannt, die hier zu erörtern sein werden. Die Frage nach dem Standort der Geschichtsforschung ist also eingebettet in die Frage nach dem Standort von Wissenschaft überhaupt. Und demgemäß haben die folgenden Erörterungen zwei Hauptteile. Ein erster Teil (Abschnitt II) erörtert in historischer Perspektive, und zwar im wesentlichen bezogen auf das 19. und 20. Jahrhundert, die Frage der Definition und der Beurteilung moderner Wissenschaft und Forschung. Ein zweiter Teil (Abschnitt III) erörtert für denselben Zeitraum die Frage nach Geschichtswissenschaft und Geschichtsforschung. In einem dritten Teil (Abschnitt IV) sind dann einige weiterführende Fragen zum Verhältnis von Geschichtsforschung und Historismus und zum Standort von Geschichtsforschung in der europäischen Wissenschaftsgeschichte der Moderne und der Vormoderne, des 17. und des 18. Jahrhunderts anzudeuten. II Anknüpfend an die Gegenüberstellung von Wissenschaftsoptimismus und Wissenschaftspessimismus unserer Gegenwart, soll zunächst dieser antagonistische Gegensatz eine historische Tiefendimension erhalten durch einen Blick auf die entsprechenden Haltungen vor einem Jahrhundert, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts also. Der Antagonismus begegnet dort als Kontrast zwischen dem Selbstverständnis führender Wissenschaftler jener Zeit und der Kritik ihres bedeutendsten Gegners, nämlich Friedrich Nietzsches. Kennzeichen der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts war ihre ungeheure Expansion im Zeichen des Positivismus. Die beeindruckendste Verkörperung dieser positivistischen Naturwissenschaft ist zweifellos der berühmte Mediziner, Arzt, Sozialreformer und Politiker Rudolf Virchow.13 Als Virchow im Jahre 1902 starb, war er »weltberühmt und unangefochten der führende Kopf der gesamten Naturwissenschaften«.14 Das wissenschafts- und erkenntnistheoretische Credo Virchows war der Positivismus.15 Das positivistische Denken nimmt das in der Erkenntnis Gegebene hin, fragt aber nicht, woher es gegeben ist; es kann diese Frage gar nicht stellen, da sie nicht »durch erneuten Rückgang auf ein Gegebenes beantwortet werden« kann; diese Frage erscheint somit sinnlos.16 Wirklichkeit wird einfach ›erfahren‹, der Positivismus vertritt also einen Empirismus.17 Alle Erkenntnis stammt demnach allein aus der empirischen Beobachtung, welche die Beschaffenheit der Natur, der Welt, so wie sie ›eigentlich‹ oder ›an sich‹ ist, objektiv wiederzugeben vermöge. Die »immer fortgesetzte sinnliche Beobachtung«, so sagte Virchow, führe zur Erkenntnis der »ewi20 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
gen Gesetze« der Natur, die sich durch diese Beobachtung immer »genauer« ergründen lassen. Darauf beruhe - wie Virchow annahm - »aller Fortschritt des Menschengeschlechtes«, und er beruhe »einzig und allein darauf«.18 Der Positivismus erhebt also den Anspruch, wahre Erkenntnis der Natur zu gewinnen, er ist ›objektivistisch‹ ,19 und dieser Objektivismus ist die Grundlage des Anspruchs der positivistischen Wissenschaft, daß »einzig und allein« sie den Fortschritt der Menschheit zu bewirken vermöge. Seit 1830 war der Begriff der positivistischen Wissenschaft und ihr Programm durch Auguste Comte formuliert worden,20 und seit den 1830er Jahren wurde auch der Begriff des ›Fortschritts‹ zu einem politisch-sozialen Leitbegriff und Kampfbegriff.21 Auf Grund ihres objektivistischen Geltungsanspruchs trat die positivistische Wissenschaft schon bei Comte an die Stelle der Religion.22 »Es ist die Wissenschaft für uns Religion geworden«, so erklärte auch Virchow 1865 auf der Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte,23 und 1873 äußerte er vor demselben Personenkreis: »Einen Glauben haben auch wir: den Glauben an den Fortschritt in der Erkenntnis der Wahrheit«.24 Die positivistische Naturwissenschaft im Sinne Virchows und anderer erhebt also zwei Ansprüche: 1. den Anspruch auf eine wahre Wiedergabe der Natur-Wirklichkeit, und - eben darauf sich gründend - 2. den Anspruch, daß ihre Ergebnisse das Leben im Sinne eines ständigen Fortschritts zum Besseren zu gestalten vermögen und deshalb von universaler Bedeutung seien, das heißt: das Leben in allen seinen Bereichen bestimmen dürfen und sollen. Die zweite große Wissenschaftsrichtung des 19. Jahrhunderts, die sich in einer stürmischen Expansion befand und die in ihrer Dynamik und in der Durchsetzung ihrer Ergebnisse den Naturwissenschaften jener Zeit in allem vergleichbar ist, war die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Das theoretische Selbstverständnis der einzelnen Richtungen der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts wird im zweiten Teil dieser Überlegungen eingehender zu erörtern sein. An dieser Stelle sei vorwegnehmend lediglich darauf hingewiesen, daß auch in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts die vorherrschende Orientierung die des Objektivismus ist. Das heißt: auch die Geschichtswissenschaft erhob im ganzen den Anspruch, Abbildung und Wiedergabe der Welt, der geschichtlich gewesenen Wirklichkeit bieten zu können, also - mit den berühmten Worten Rankes von 1824 - zeigen zu können, »wie es eigentlich gewesen«.25 Beiden Erscheinungsformen des wissenschaftlichen Objektivismus, dem naturwissenschaftlichen wie dem geschichtswissenschaftlichen, erstand in Friedrich Nietzsche ein leidenschaftlicher Gegner. Dem Wissenschaftsoptimismus der Natur- wie der Geschichtswissenschaft antwortete Nietzsche mit einem radikalen Wissenschaftspessimismus. 21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Die Naturwissenschaft seiner Zeit begriff Nietzsche als »etwas Furchtbares und Gefährliches«, als »ein Problem mit Hörnern«26 - aber ebenso als etwas unglaublich Törichtes. Töricht ist diese Wissenschaft, weil sie davon ausgeht, daß das von ihr Erkannte ›objektiv‹, d.h. absolut so sei. Töricht ist der »Glaube an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens«, töricht ist die Wissenschaft in ihrem Anspruch »auf universale Geltung und universale Zwecke«.27 Oder - wie Nietzsche sarkastisch bemerkte - alle die Dinge, worauf das Zeitalter so stolz sei, die »berühmte moderne ›Objektivität‹ «, das »untertänige Auf-dem-Bauch-Liegen vor jeder kleinen Tatsache«, seien doch eigentlich im Grunde nichts als »schlechter Geschmack«.28 Gefährlich und furchtbar aber ist diese Wissenschaft, weil sie von ihren Grundlagen her auf Zerstörung angelegt ist. Das »ins Ungeheure aufgetürmte Fachwerk« der Wissenschaft, in das die »ganze empirische Welt« hineingefüllt wird,29 dieser ganze »Turmbau« zu Babel ist nichts als »Hybris« und »Natur-Vergewaltigung«.30 Daß die Zerstörung bereits begonnen hat, ist nur deshalb unbemerkt geblieben, weil die Wissenschaft wie Opium wirkt: ihre allererste Wirkung nämlich sei eine »Steigerung der Weltbejahung«; und gerade auf dieser scheinbar positiven Wirkung am Anfang beruhe um so sicherer die endliche völlige Destruktion.31 Nietzsche hat seine radikale Kritik an der Naturwissenschaft seiner Zeit als »jener verhängnisvollsten Dummheit«, an der wir vielleicht »einst zugrundegehn« werden,32 ausgedrückt in dem Gegensatz von ›Wissenschaft‹ und ›Lebern. Die ›Wissenschaft‹, das ist seine These, zerstört das ›Leben‹. Deshalb lautet seine immer wieder gestellte Grundfrage: ob denn nun wirklich die Wissenschaft, »das Erkennen über das Leben herrschen« soll, oder ob nicht vielmehr »das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft« herrschen müsse.33 Gerade diese Frage ist es, die auch im Mittelpunkt von Nietzsches Auseinandersetzung mit der Geschichtswissenschaft seiner Zeit steht. Er hat diese Auseinandersetzung geführt in der zweiten seiner »Unzeitgemäßen Betrachtungen« aus dem Jahr 1874; sie trägt den berühmten Titel »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. »Wir brauchen Historie«, so stellte Nietzsche hier fest, »aber wir brauchen sie anders ... Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen«.34 Eine solche Auffassung war freilich in der Tat in höchstem Maße unzeitgemäß, weil sie sich »der so mächtigen historischen Zeitrichtung« und Zeitströmung entgegenstellte, welche seit dem Beginn des Jahrhunderts sich durchgesetzt habe, weil sie »etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz« sei, »ihre historische Bildung« nämlich, »als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen versuche«, weil sie die Meinung vertrete, »daß wir alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden«.35 Dieses »verzehrende 22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
historische Fieber« ist die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, der hier seine erste Beschreibung und Analyse erfährt,30 lange bevor der Begriff ›Historismus‹ in dem eingangs erörterten Sinn dann am Beginn unseres Jahrhunderts endgültig definiert wurde.37 Auch die im Zeichen des Historismus entfaltete Geschichtswissenschaft ist, wie die positivistische Naturwissenschaft, lächerlich und furchtbar zugleich. Lächerlich ist auch die Geschichtswissenschaft durch das endlose Anhäufen ihrer Stoffmassen, durch ihr unermüdliches Heranschleppen immer neuer »unverdaulicher Wissenssteine«, die - wie Nietzsche spottet - dem modernen Menschen »dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln«.38 Gefährlich aber ist auch die Geschichtswissenschaft, weil das von ihr emsig zusammengetragene Wissen in sich zusammenhanglos ist, weil es diesem Wissen an Ordnung und an Wertungen fehlt und weil deshalb hier alles mit allem »im Kampfe« liegt.39 Die Geschichtswissenschaft ist die »Wissenschaft des universalen Werdens«40 - und eben darin liegt ihre Furchtbarkeit. Nietzsche zielt hier auf etwas, das wiederum erst am Beginn unseres Jahrhunderts als das Problem des historischen ›Relativismus‹ und seiner »entnervenden Wirkungen«41 bezeichnet und erörtert wurde, die Tatsache nämlich, daß die Geschichtswissenschaft alles im Flusse des Werdens und Vergehens betrachtet: Staat, Recht, Moral, Kunst, Religion - alles behandelt sie als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen im endlosen Entstehen und Vergehen.42 Eben dadurch wird ihr, im wahrsten Sinne des Wortes, alles gleich-gültig.43 Oder, mit Nietzsches Worten gesprochen: durch die Übersättigung mit Historie gerate die Zeit »in die gefährliche Stimmung der Ironie über sich selbst und aus ihr in die noch gefährlichere des Zynismus«, wodurch »die Lebenskräfte gelähmt und zuletzt zerstört werden«.44 »Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden« wäre deshalb »eine Art von Lebens-Abschluß und Abrechnung für die Menschheit«.45 Der Forderung seiner Zeit, »daß die Historie Wissenschaft sein soll«, stellt Nietzsche deshalb seine Forderung entgegen, daß die Historie in den Dienst des Lebens treten müsse, daß sie überhaupt nur mehr »zum Zwecke des Lebens« betrieben werden dürfe.46 In dieser Aufgabe könne die Historie als »monumentalische Historie« belehrend die großen »Vorbilder, Lehrer, Tröster« aus der Geschichte vorstellen, könne sie als »antiquarische Historie« dem Bewahren und Verehren des Gewordenen dienen, müsse sie schließlich als »kritische Historie« die Vergangenheit zerbrechen, indem sie das Vergangene »vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt«; denn »jede Vergangenheit ... ist wert, verurteilt zu werden«.47 Dieses Plädoyer für eine Historie, die nicht Wissenschaft ist, sondern als monumentalische, antiquarische und kritische Historie dem Leben dient, liest sich wie eine direkte Absage an Rankes berühmte Feststellung von 1824, aus der bereits zitiert wurde, daß nämlich der Historie gerade nicht »das 23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Amt, die Vergangenheit zu richten«, und nicht das Amt, »die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren«, beizumessen sei; vielmehr solle sie »bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen«.48 Nietzsches radikale Kritik an der objektivistischen Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft seiner Zeit war folgenlos; sowohl die Natur- wie die Geschichtswissenschaft sind über diese fundamentale Infragestellung hinweggegangen. Ja, die Gestalt der objektivistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat vielfach bis heute unser Bild von Wissenschaft bleibend bestimmt. Nur so ist es zu begreifen, wenn jüngst der Soziologe F. H. Tenbruck die »drei großen Wahrheitsansprüche« unserer Gegenwart vergleichend behandelt und als »Rivalen« im Kampf um die Zukunft der Welt charakterisiert hat; und diese drei rivalisierenden Wahrheitsansprüche und »Missionsbewegungen« sind nach Tenbrucks Auffassung: das Christentum, der Kommunismus und die Wissenschaft.49 Und nur im Blick auf die im 19. Jahrhundert wurzelnden objektivistischen Auffassungen von Wissenschaft ist es zu begreifen, daß noch heute, wie im 19. Jahrhundert, die Positionen von Wissenschaftsoptimismus und Wissenschaftspessimismus einander antagonistisch widerstreiten. Die von Nietzsche geführte Erörterung des Verhältnisses von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ 50 ist freilich nicht mehr zur Ruhe gekommen. Das zeigt auch Edmund Husserls Schrift über »Die Krisis der europäischen Wissenschaften« aus dem Jahr 1936.51 Die Krise der europäischen Wissenschaften sah auch Husserl in dem ›Objektivismus‹ 52 der Natur- wie der Geisteswissenschaften, d.h. in der »positivistischen Reduktion der Idee der Wissenschaft auf bloße Tatsachenwissenschaft«. Zwar liege gerade in diesem Objektivismus und dieser positivistischen Reduktion der Wissenschaften ihr Erfolg begründet, aber eben auch ihr Nichterkennen der Krise, in der sie sich befinden; denn die Krise der Wissenschaften ist ihr »gleichgültiges Sichabkehren« von den Fragen, die für den Menschen des 20. Jahrhunderts die »entscheidenden« sind. »In unserer Lebensnot«, so stellte Husserl fest, »hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen«; die Krise der Wissenschaft liege in dem »Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit«.53 Nietzsches und Husserls Kritik der objektivistischen und positivistischen Wissenschaft haben an Aktualität nichts verloren. Die Frage ist nur: warum ist diese Kritik folgenlos geblieben? Hat dies damit zu tun, daß diese Kritik von philosophischer Seite, also gewissermaßen von außen an die Wissenschaft herangetragen worden ist? Und hängt es damit zusammen, daß eine sich objektivistisch und positivistisch verstehende Wissenschaft durch solche Anfragen von außen in ihrer Betriebsamkeit sich nicht stören läßt? Wenn wir die Frage so stellen, müßten wir prüfen, ob es denn eine Kritik der positivistischen und objektivistischen Wissenschaft gegeben hat, die von 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
innerhalb der Wissenschaft her vorgetragen wurde. Eine solche Kritik von seiten der Wissenschaft selbst müßte freilich einen nicht-positivistischen und nicht-objektivistischen Standpunkt vertreten haben. Kann man in historischer Betrachtung eine solche Position erkennen? Ist ein solcher Versuch gemacht worden? Diese Frage darf man bejahen, und zwar mit dem Hinweis auf Max Webers berühmte Abhandlung über »Wissenschaft als Beruf« aus dem Jahr 1919. 54 Max Weber behandelte hier genau dasselbe Problem wie vor ihm Nietzsche und nach ihm Husserl: das Problem des Verhältnisses von ›Wissenschaft‹ und ›Lebern‹. Aber Max Weber gelangte zu anderen Antworten, weil er Wissenschaft anders definierte, als sich die objektivistische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts definiert hatte, die Gegenstand von Nietzsches und Husserls Kritik war. Max Weber erörtert in seiner Abhandlung die Kardinalfrage nach dem Fortschritt der Wissenschaft, und er stürzt mit seinen Aussagen die SelbstRechtfertigung objektivistischer Wissenschaft von ihrem Sockel, nämlich die Annahme, daß wissenschaftliche Erkenntnisse eine zumindest im Prinzip absolute Gültigkeit besitzen. Dieser Annahme stellt Weber seine These vom Sinn wissenschaftlicher Arbeit gegenüber, daß nämlich »der Sinn der Arbeit der Wissenschaft« darin besteht, daß »jede wissenschaftliche ›Erfüllung‹ ... neue ›Fragen‹ « bedeutet und daß sie » ›überboten‹ werden und veralten« »will«. »Wissenschaftlich ... überholt zu werden, ist ... nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck«.55 Das Überholt-Werden, das Veralten der Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit ist also nicht - wie positivistisches und objektivistisches Denken annimmt - ein ungewolltes Schicksal, das den Zwecken der Wissenschaft zuwiderläuft; im Gegenteil, das Veralten ist das Prinzip jeglicher Wissenschaft. Wissenschaft kann demnach gar nicht als Annäherungsprozeß an die absolute Wahrheit verstanden werden. Wissenschaft ist nicht ›Fortschritt‹ im Sinn des Positivismus, sie ist vielmehr »prinzipiell« nichts als ein »Fortschritt in das Unendliche«,56 was etwas anderes ist, nämlich ein unendliches Fortschreiten und Weiterschreiten. Mit dieser Definition von Wissenschaft als einem unendlichen Fortschreiten ist das zweite Kennzeichen dieser Wissenschaft verbunden, daß nämlich jede »wirklich endgültige und tüchtige Leistung« immer eine »spezialistische Leistung« ist.57 Denn aus der Unendlichkeit des Wissenschaftsprozesses, aus der Unendlichkeit der Zahl schon geäußerter und noch möglicher wissenschaftlicher Thesen und Ergebnisse ergibt sich die Spezialisiertheit jedes einzelnen Ergebnisses mit Notwendigkeit. Max Weber versteht Wissenschaft also vom Grundgedanken der Unendlichkeit her, d.h., er definiert Wissenschaft als Forschung, als einen prinzipiell unendlichen Prozeß des Fragens und Suchens. Damit wird deutlich, daß Wissenschaft, die sich als Forschung versteht, sich als Gegensatz zu 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
allen positivistischen und objektivistischen Erscheinungsweisen von Wissenschaft definiert. Auch die Frage nach dem Verhältnis von ›Wissenschaft‹ und ›Lebcn‹ findet bei Max Weber eine andere Antwort. Wir erinnern uns an die im 19. Jahrhundert von der positivistischen Wissenschaft Virchows und ihrem Fundamentalkritiker Nietzsche verkörperte Alternative, ob denn nun das ›Leben‹ der ›Wissenschaft‹ unterzuordnen sei oder die ›Wissenschaft‹ dem ›Leben‹, die Alternative zwischen Wissenschaftsoptimismus und Wissenschaftspessimismus. Vor dem Hintergrund einer sich als Forschung definierenden Wissenschaft stellt sich diese Alternative nicht mehr, weil Forschung jenseits dieser Alternative steht. »Was leistet denn nun eigentlich die Wissenschaft Positives für das praktische und persönliche ›Leben‹?« so fragt auch Max Weber,58 und seine Antwort geht dahin, daß die Bedeutung der Wissenschaft für das Leben sehr begrenzt sei, da sie »auf die allein für uns wichtige Frage: ›Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?‹ keine Antwort gibt«. »Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar«.59 Max Webers Beispiele für den Sachverhalt sind von unverminderter Aktualität. Die Medizin erhält das Leben; aber »ob das Leben lebenswert ist und wann - danach fragt sie nicht«. Oder: »alle Naturwissenschaften geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: - das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus«.60 Entsprechendes gilt für die Geschichtswissenschaft, die Kunstwissenschaft, die Rechtswissenschaft und so weiter Angesichts der Unendlichkeit der Anzahl wirklicher und noch möglicher Fragestellungen und FLrgebnisse und angesichts des prinzipiellen ständigen Veraltens und Überholt-Werdens dieser Fragestellungen und Ergebnisse ist die als Forschung sich definierende Wissenschaft in ihrem Anspruch gegenüber dem ›Leben‹ sehr bescheiden. Sie erkennt die gerade in ihrer Unendlichkeit liegende Begrenztheit. Sie definiert sich deshalb nicht universal, sondern regional, als einen Bereich neben anderen Bereichen. Damit eröffnet sie den Blick auf andere Bereiche, von denen her und in denen allein Sinnfragen sinnvoll beantwortet werden können. An die Stelle des Streits um die wechselseitige Über- oder Unterordnung von ›Wisscnschaft‹ und ›Leben‹ tritt damit die Nebeneinanderordnung beider Bereiche, die sich in einem Verhältnis der wechselseitigen Ergänzung, der Komplementarität befinden. Max Weber steht mit seiner Bestimmung von Wissenschaft als Forschung natürlich nicht allein; er steht in jener Tradition wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Denkens, die bereits eingangs im Blick auf den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Prozeß der Ausfaltung dieses Gedankens 26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
der Wissenschaft als Forschung angedeutet wurde. Diese Tradition des Denkens war Max Weber vermittelt durch Kant.61 An das Ende des ersten Teils dieser Überlegungen sei deshalb Kants klassische Formulierung der Grundgedanken von Wissenschaft als Forschung gestellt. Sie findet sich in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« von 1787.62 Kant erörtert hier, was er die »Revolution« oder »Umänderung der Denkart« in der Wissenschaft nennt, wodurch »die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden« ist. Diese »Revolution der Denkart« vollzog sich dadurch, daß zuvor die Annahme herrschte, »alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten«. In der Revolution der Denkart hingegen habe sich - etwa bei Galilei und anderen - die Einsicht durchgesetzt, daß sich nicht die Erkenntnis nach den Gegenständen richten müsse, sondern - gerade umgekehrt - die Gegenstände sich nach der Erkenntnis richten, weil »die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt«. Wissenschaftliche Erkenntnis ist demnach also nicht Wiedergabe einer an sich bestehenden, an sich gegliederten und geordneten Wirklichkeit, sondern sie ist Hervorbringung einer geordneten und gegliederten Wirklichkeit im Lichte eines Entwurfs, einer Frage, eines Fragehorizontes, im Licht eines Ansatzes, einer Hypothese. Diese Hervorbringung ist jedoch keineswegs willkürlich und beliebig; mit den Worten Kants: man darf der Natur nichts »andichten«. Vielmehr ist der Entwurf dieser Frage ausgerichtet auf Material, das vor dem Horizont eben dieser Frage befragt wird. Die Frage ist also empirisch ausgerichtet. In der Naturwissenschaft wird diese Art der Befragung vorliegenden Materials als Experiment bezeichnet. Das Ergebnis des Experiments ist aber nicht Erkenntnis der Sache an sich, sondern ist immer ›nur‹ das, was im Licht der Frage zum Vorschein kommt, ist »Erscheinung«, ist Phänomen. Die Art wissenschaftlicher Erkenntnis, die man Forschung nennt, arbeitet also nach Kants eigener Metapher - ›zweihändig‹. Es hat die Vernunft ihre Prinzipien »in einer Hand« und das nach jenen »ausgedachte« Experiment in der anderen.63 Der Unterschied zwischen Wissenschaft als Forschung und einer sich positivistisch verstehenden Wissenschaft liegt also nicht darin, daß diese empirisch ist, jene aber nicht. Beide Auffassungen von Wissenschaft sind materialbezogen und verstehen sich empirisch. Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß der Positivismus das in der Erfahrung Gegebene einfach hinnimmt, ohne zu fragen, woher es gegeben ist,64 während Wissenschaft als Forschung davon ausgeht, daß es Bedingungen der Erkenntnis gibt, Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, die ihrerseits nicht Erfahrungscharakter haben.65 Was als Phänomen im Lichte eines Fragehorizonts zum Vorschein kommt, ist also nicht die ›Wirklichkeit‹ als solche. Es hat nicht den Charakter absoluter Erkenntnis; vielmehr 27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ist es ›relative‹ oder ›relationale‹ Erkenntnis, das heißt: diese Erkenntnis steht in einer Entsprechung, in einem Verhältnis - zu der Frage nämlich und zu dem Entwurf, in dessen Licht sie zum Vorschein kommt. Daß die Erkenntnisse der sich als Forschung verstehenden Wissenschaft relationalen Charakter haben, wird von Kant verdeutlicht, indem er den Vorgang wissenschaftlicher Erkenntnis in der Metapher des Zeugenverhörs beschreibt. Der Forscher ist in der Position des Richters, »der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt«. Es gibt also einen Sachverhalt, auf den sich alles Fragen und Antworten bezieht,66 es gibt auch die Antworten der Zeugen zu diesem Sachverhalt auf die vom Richter vorgelegten Fragen. Aber es gibt keine Gewißheit, ob es sich um wahre Antworten handelt. Der Richter gewinnt aus den Antworten Erkenntnisse, die in einem Verhältnis stehen zu den von ihm gestellten Fragen. Aber es hat der Richter keine Gewißheit, ob sein abschließendes Urteil auf wahrer Erkenntnis des Sachverhalts gründet. Dies nötigt den Richter zur Bescheidenheit.67
III Anhand von Max Webers Abhandlung aus dem Jahr 1919 und von Kants »Vorrede« aus dem Jahr 1787 wurde vergegenwärtigt, wie Wissenschaft als Forschung definiert ist. Man kann daran zugleich erkennen, worin sich dieses Konzept von Wissenschaft als relationaler Erkenntnis von dem Anspruch auf absolute Erkenntnis unterscheidet, den eine positivistische und objektivistische Wissenschaft erhebt. Schließlich wurde mit den beiden Definitionen von Wissenschaft als Forschung vom Ende des 18. und vom Beginn des 20. Jahrhunderts auch das 19. Jahrhundert mit seinen vorherrschenden positivistischen und objektivistischen Orientierungen eingegrenzt. Von diesen Feststellungen ausgehend, richtet sich das Interesse nunmehr auf die theoretischen Ausrichtungen der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die allesamt im Zeichen des Historismus stehen.68 Hierbei läßt sich zunächst eine Reihe objektivistischer Richtungen erkennen. In diese Reihe gehört erstens der geschichtswissenschaftliche Positivismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Frankreich vertreten wurde, zum Beispiel von Hippolyte Taine,69 der aber auch in Deutschland in Karl Lamprecht einen namhaften Vertreter hatte.70 In die Reihe objektivistischer Auffassungen der Erkenntnis von Geschichte gehört sodann der Historische Materialismus. In seiner Zweiten These über Feuerbach hat Karl Marx 1845 behauptet, daß »die Frage, ob 28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme«, daß »der Streit über die Wirklichkeit oder NichtWirklichkeit des Denkens« eine »rein scholastische Frage«, das heißt eine müßige und irrelevante Frage sei; denn es sei die Frage nach der Wirklichkeit und Wahrheit des Denkens ja »keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage«. »In der Praxis« nämlich müsse der Mensch »die Wahrheit«, das heißt die »Wirklichkeit und Macht« seines Denkens »beweisen«71 Dieses Beiseiteschieben der theoretischen Frage nach der Wirklichkeit des Denkens erweist sich freilich als höchst problematisch, weil ja die ›Praxis‹ im marxistischen Sinne bekanntlich ihrerseits wiederum daran hängt, ob - wie die berühmte Formulierung lautet - »die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft« wirklich »die Geschichte von Klassenkämpfen« »ist«. Das im Zeichen der Praxisfrage von der Schwelle gewiesene Erkenntnisproblem kommt also sogleich gewissermaßen zur Hintertüre wieder herein, und zwar in der Gestalt eines massiven Objektivismus.72 Die Erkenntnistheorie des Historischen Materialismus kann also in letzter Instanz nichts anderes sein als eine Abbildungs- und Widerspiegelungstheorie,73 derzufolge geschichtliche Erkenntnis in der Aufdeckung der historischen Vorgänge und der ihnen zugrundeliegenden Gesetze besteht, die im Denken »reproduziert« werden, wobei dieser Vorgang den Charakter einer »Annäherung an die objektive Wahrheit des historischen Prozesses« habe.74 Diese Feststellung enthält nichts Neues; sie muß in unserem Zusammenhang nur deshalb erfolgen, weil marxistische Historiker sich selbst stets im kontradiktorischen Gegensatz zum Positivismus sogenannter bürgerlichen Historiker definieren. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß der Historische Materialismus und der Positivismus in ihren erkenntnistheoretischen Grundannahmen übereinstimmen. Sie bilden ein ›erkenntnistheoretisches Paar‹,75 was in den gleichartigen Zeitumständen ihrer beider Entstehung im 19. Jahrhundert seine hinlängliche Erklärung hat. Dieselbe Paarbildung zeigt sich nun aber auch zwischen dem Historischen Materialismus und einem anderen seiner erklärten Gegner auf der Seite der sogenannten ›bürgerlichen‹ Wissenschaft, nämlich der idealistischen Theorie der Geschichtserkenntnis, wie sie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Wilhelm von Humboldt umfassend begründet und durch Leopold von Ranke exemplarisch verwirklicht worden ist. Auch die Theorie der Geschichtserkenntnis dieses deutschen Idealismus enthält als ihre Grundlage die Annahme der Möglichkeit objektiver Geschichtserkenntnis, wobei natürlich in diesem Fall die Begründung dieser Annahme anderer Art ist als im Fall des Positivismus und des Historischen Materialismus. Die objektivistische Orientierung Rankes wird in allen seinen berühmten und oft zitierten Sätzen sichtbar, angefangen von seinem »Zeigen, wie es eigentlich gewesen« von 182476 bis zu dem ebenso bekannten Diktum 29 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
von 1860: »Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen«.77 Ziel der Rankeschen Geschichtschreibung ist - nach Rankes eigenen Worten - die »objektive Darstellung«, die »Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit«,78 die Erkenntnis des »Wesens« der Dinge.79 Die Begründung dieser Auffassung von Geschichtserkenntnis hat Wilhelm von Humboldt 1821 in seiner Schrift »Über die Aufgabe des Geschichtschreibers« vorgelegt.80 Diese Aufgabe ist: »die Darstellung des Geschehenen«.81 Der Historiker erreicht sie, indem er zum einen in der empirischen Arbeit mit dem historischen Material Tatsachen ermittelt. Dadurch erzielt er »die nackte Absonderung des wirklich Geschehenen«.82 »Die Geschichte selbst«, die »Wahrheit alles Geschehenen«83 erreicht der Historiker freilich allein durch ein zweites Moment seiner Arbeitsweise; Humboldt nennt es »Ahndungsvermögen« und »Verknüpfungsgabe«.84 Diese richtet sich auf das »Notwendige« der Geschichte, und das sind die »Ideen«,85 also jede menschliche Individualität, die Nationen, die Sprachen, das Recht. Die Ideen als das »Notwendige« sind »die wahrhaft wirkenden Kräfte« der Geschichte.86 Aufgabe des Geschichtschreibers in ihrer »letzten, aber einfachsten Auflösung« ist deshalb die »Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen«.87 Auch diese idealistische Theorie der Geschichtswissenschaft zielt also auf die Möglichkeit von Erkenntnis »der Geschichte selbst«, der »Wahrheit alles Geschehenen«. Der Unterschied zu den gleichlautenden Behauptungen des Positivismus und des Historischen Materialismus liegt lediglich in der Art der Begründung des Anspruchs, welche beim Idealismus nicht immanent, sondern transzendent und metaphysisch ist. Auch Ranke hat dies ausgesprochen in seiner berühmten Formulierung von den Ideen als »geistigen Wesenheiten«, ja als »Gedanken Gottes«88 und in seiner Auffassung, daß »die Historie in jeder Existenz ein Unendliches« anerkenne, »in jedem Zustand, jedem Wesen ein Ewiges, aus Gott Kommendes«; und dies sei »ihr Lebensprinzip«.89 Anknüpfend an diese Charakterisierung der idealistischen Begründung der Geschichtserkenntnis durch Humboldt und Ranke, sei an dieser Stelle eine Zwischenbemerkung eingeschoben, die den Begriff des ›Historismus‹ betrifft. Unter deutschen Historikern ist es weitgehend üblich, die durch Humboldt und Ranke begründete Auffassung der Geschichtswissenschaft als ›Historismus‹ zu bezeichnen. Diese Begriffsprägung ist vor allem von Friedrich Meinecke gefördert worden, der in seinen Arbeiten über die Entstehung des Historismus die These vertrat, daB der Historismus als große geistig-kulturelle Bewegung, die zu den Grundkräften der Moderne gehöre, in der Theorie der Geschichtswissenschaft eines Humboldt und Ranke seine Erfüllung gefunden habe, daß also zwischen dem Historismus 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
als geistig-kultureller Bewegung und der von Humboldt und Ranke entwickelten Auffassung der Geschichtswissenschaft eine notwendige und exklusive Beziehung bestehe.90 Daß diese These Meineckes höchst problematisch ist, hat 1975 Th. Nipperdey festgestellt.91 Auch unter dem Gesichtspunkt der hier zu erörternden Sachverhalte wird man Meineckes Verknüpfung als unhaltbar bezeichnen müssen. Zwischen dem Historismus als geistig-kultureller Bewegung - der Klarheit halber sei hier von ›Historismus I‹ gesprochen - und der idealistischen Begründung der Geschichtswissenschaft - ›Historismus II‹ - besteht keine notwendige und exklusive Beziehung. Eine solche Beziehung kann auch gar nicht bestehen, weil der Historismus als geistig-kulturelle Bewegung ganz offensichtlich nicht nur der idealistischen Geschichtswissenschaft zugrunde liegt, sondern auch anderen theoretischen Orientierungen der Geschichtswissenschaft, also dem geschichtswissenschaftlichen Positivismus und dem Historischen Materialismus. Auch sie stehen im Zeichen des Historismus, auch sie sind ein Teil der vom Historismus als geistig-kultureller Bewegung ausgelösten Expansion der Geschichtswissenschaft. Die von Meinecke begründete Identifizierung von ›Historismus I‹ und ›Historismus II‹ verstellt das Problem, um das es geht. Davon wird am Schluß dieser Erörterungen noch einmal zu sprechen sein.92 Zu den Orientierungen der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die im Zeichen des Historismus stehen, gehört nun aber auch die Definition der Geschichtswissenschaft als Forschung, die sich von den genannten objektivistischen Spielarten einer Theorie der Geschichtswissenschaft grundsätzlich unterscheidet. Sie ist im 19. Jahrhundert in der umfangreichsten und umfassendsten Theorie der Geschichtswissenschaft vertreten worden, die es überhaupt gibt, die freilich im 19. Jahrhundert nicht mehr als eine Randposition hat behaupten können und neben den objektivistischen Auffassungen eigentlich gar keine Beachtung gefunden hat. Gemeint ist die von Johann Gustav Droysen begründete »Wissenschaftslehre der Geschichte«, die er »Historik« nannte.93 Man kann Droysens »Historik« von vier Grundgedanken her erläutern.94 (1) Historische Erkenntnis ist nicht Abbildung geschehener Geschichte, sondern ist gedanklicher Entwurf. Die Totalität des Geschehenen ist nicht Gegenstand des geschichtlichen Erkennens und kann es nicht sein, da sie vergangen ist.95 Die Geschichte als die Gesamtheit vergangener Geschehnisse kann man nicht wissen. Es verhält sich mit der Geschichtswissenschaft also wie mit der Physik, deren »ganzes stolzes Gebäude« nicht eine Reproduktion äußerer Natur-Realität ist, sondern »ebenfalls nur innerhalb des wissenden Geistes steht«, wie Droysen treffend feststellt.96 In der Geschichtswissenschaft ist also »nicht das äußerliche Sein der Dinge« zu wissen und darin »gewiß zu nennen«, »sondern nur das gewußte Seiende, 31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
das gewußte Geschehene«.97 Geschichte ist »nicht die Summe der Geschehnisse, nicht aller Verlauf aller Dinge, sondern ein Wissen von dem Geschehenen«,98 oder, wie Droysen von der Geschichte prägnant sagt: »das Wissen von ihr ist sie selbst«,99 (2) Wie alles wissenschaftliche Entwurfs-Wissen und Hypothesenwissen ist auch das Wissen von der Geschichte nicht beliebig. Man darf auch der Geschichte nichts ›andichten‹. Auch im Fall der Geschichtswissenschaft ist das Wissen materialbezogen, es wird empirisch erworben. Geschichte als gewußte Geschichte ist deshalb »ein Ergebnis empirischen Erfahrens und Erforschens«.100 Geschichtliche Erkenntnis richtet sich ebenfalls auf Gegebenes. Das der historischen Erfahrung und Forschung Gegebene ist »das von den Vergangenheiten in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene«, nämlich das historische Material.101 Es besteht einerseits aus den unmittelbaren Überresten der Vergangenheiten: zum Beispiel Akten, Korrespondenzen, Literaturen, philosophische Systeme, Musik und Architektur, staatliche und gesellschaftliche Institutionen, Rechtssysteme und dergleichen; es besteht andererseits aus den vom menschlichen Denken geformten Erinnerungen an Geschichte, den menschlichen Zeugnissen über Geschichte, also zum Beispiel Memoiren, Geschichtschreibung, Geschichtswissenschaft. Der erste und zweite Grundgedanke von Droysens »Historik« offenbart also, daß geschichtswissenschaftliche Erkenntnis hier verstanden wird als empirisch vorgehendes und empirisch gestütztes Hypothesen- und Entwurfswissen. Geschichtswissenschaft im Sinne von Droysen ist also Forschung.102 So wie ›Natur‹ im Sinne der Naturwissenschaft Kants nicht die ›äußere‹ Natur ist, weil nur die ›gewußte‹ Natur überhaupt Gegenstand der Naturwissenschaft sein kann,103 so kann auch nur die ›gewußte‹ Geschichte Gegenstand der Geschichtswissenschaft werden. Wenn nun aber wissenschaftliche Erkenntnis der Geschichte ebenso wie die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur Forschung ist, worin unterscheiden sich dann Naturforschung und Geschichtsforschung? (3) Droysens Antwort auf diese Frage ist sein dritter Grundgedanke, nämlich: »Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehen«.104 Historische Forschung hat »verstehenden« Charakter. Dies ergibt sich aus der Beschaffenheit des historischen Materials in allen seinen Erscheinungsformen. Stets handelt es sich dabei ja um Hervorbringungen und Äußerungen des Menschen. Der Mensch aber ist »von dem Moment seiner Geburt, ja seiner Empfängnis an« der Wirkung »unberechenbarer historischer Faktoren« ausgesetzt,105 er empfangt die Fülle leiblicher und geistiger Dispositionen seiner Eltern, die Wirkungen seiner Umgebungen und der historischen Gegebenheiten von Sprache, Staat, Gesellschaft, Religion und so weiten Er hat dadurch ein menschliches Leben, daß er ein 32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
durch und durch geschichtliches Leben hat. Aber indem der Mensch durch und durch geschichtlich ist, ist die Geschichte durch und durch auf den Menschen bezogen: »die geschichtliche Welt ist die wesentlich menschliche«.106 Der Historiker, der die geschichtliche Welt empirisch erforscht, hat es also mit sich selbst zu tun, er erkennt seinesgleichen, er erkennt in »wesentlicher Gleichartigkeit und Gegenseitigkeit«.107 Deshalb ist sein Forschen ein Verstehen, deshalb ist geschichtliche Forschung »verstehende« Forschung oder »forschendes Verstehen«. (4) Man sieht, wie in Droysens drittem Grundgedanken jene Einsicht aufscheint, die den Grund des Historismus darstellt, die Einsicht nämlich, daß alles, was ist, geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist. Droysen hat daraus auch eine grundsätzliche Bestimmung der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis als Forschung abgeleitet, und das ist sein vierter Grundgedanke. In Droysens eigener Formulierung: »Das historische Forschen setzt die Einsicht voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist«.108 Das die Geschichte erkennende und erforschende Individuum steht also seinem Gegenstand nicht gegenüber, vielmehr ist es in seinen Gegenstand involviert, weil sein Erkennen der Geschichte selbst geschichtlich vermittelt ist. Daraus ergibt sich der Aspekt- und Entwurfscharakter seines Forschens und zugleich die Unendlichkeit der Zahl möglicher Aspekte und Entwürfe, weil die sich wandelnde Geschichte die Erkenntnis der Geschichte zu immer neuen Fragen und Ansätzen führt. Dieser Charakter des geschichtlichen Forschens wird von Droysen reflektiert in der Unterscheidung von ›vergangenen Gegenwarten‹ und ›gegenwärtigen Vergangenheiten‹.109 Droysens Bestimmung der Geschichtswissenschaft als Forschung hat, wie erwähnt, im 19. Jahrhundert kaum Beachtung gefunden; sie hat sich gegen die herrschenden objektivistischen Orientierungen der Geschichtswissenschaft in ihren idealistischen, materialistischen und positivistischen Ausformungen nicht durchsetzen können. So hat sie auch in der großen Kontroverse der deutschen Geschichtswissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts, im sogenannten ›Methodenstreit‹ um die Geschichtstheorie und Geschichtschreibung Karl Lamprechts,110 keine Rolle gespielt. Der ›Methodenstreit‹ um Karl Lamprecht war nichts als eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen objektivistischen Spielarten der Geschichtswissenschaft, und darin - nicht etwa in den intellektuellen und anderen Mängeln der Hauptkontrahenten - ist der Grund dafür zu suchen, daß dieser ›Methodenstreit‹ trotz gewaltigen Aufwands ohne jedes buchenswerte Ergebnis im Sande verlaufen ist.111
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IV Erst Max Weber hat dann am Beginn unseres Jahrhunderts die Auffassung von geschichts- und kulturwissenschaftlicher Erkenntnis als Forschung erneut vorgetragen.112 Dieser Neuansatz vollzog sich also nicht in der Geschichtswissenschaft im engeren Sinn, sondern im Zusammenhang der sich damals neu entwickelnden Wissenschaft der Soziologie. Dies war kein Zufall. Denn zur gleichen Zeit wie Max Weber und unabhängig von ihm haben auch andere führende Vertreter dieser neuen Wissenschaft, die übrigens derselben Generation wie Max Weber (1864-1920) angehörten, die kulturwissenschaftliche Erkenntnis in demselben Sinne definiert, nämlich als Forschung. Es waren dies Georg Simmel (1858-1918) 113 und Emile Durkheim (1858-1917). l14 Und ebenso wie Max Weber, so stehen auch Simmel und Durkheim in der hier schon mehrfach angesprochenen Tradition des Denkens über Wissenschaft als Forschung. An Simmel ist sie, wie ,auch an Max Weber, vermittelt durch Kant, an Durkheim durch Montesquieu.115 Dieser seit der Wende zum 20. Jahrhundert in der Soziologie sich vollziehenden Veränderung der erkenntnistheoretischen Denkart entsprach ein gleichgerichteter Vorgang in der Naturwissenschaft. Man kann daran erkennen, daß sich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in allen Wissenschaften eine epochale Veränderung der theoretischen Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis vollzogen hat. Was die Naturwissenschaften betrifft, so genügt es, als Stichwort an die ›Relativitätstheorien‹ Albert Einsteins zu erinnern, deren Grundlagen an die Bestimmung von Raum und Zeit im relationalen Sinn bei Leibniz und Kant anknüpfen.116 Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam ist ferner jene Abkehr vom naturwissenschaftlichen Objektivismus und vom Positivismus des 19. Jahrhunderts, die sich bald danach, in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, in der sogenannten ›Kopenhagener Deutung der Quantentheorie‹ vollzog.117 Die Änderung der wissenschaftstheoretischen Denkart konkretisierte sich hier in Werner Heisenbergs berühmter ›Unschärferelation‹ und in Niels Bohrs Begriff der ›Komplementarität‹ Heisenbergs ›Unschärferelation‹ bezieht sich auf den Sachverhalt, daß das objektivistische Subjekt-Objekt-Modell unzulänglich ist, weil in der Welt der kleinen Teilchen die beobachteten Phänomene durch den Beobachter und den Vorgang der Beobachtung allererst konstituiert werden. Mit Heisenbergs berühmter Formulierung: »Die ›Bahn‹ (sc. eines Teilchens) entsteht erst dadurch, daß wir sie beobachten«.118 Physikalische Erkenntnis hat also nicht absoluten, sondern relationalen Charakter. Anders gesagt: diese Naturwissenschaft beschreibt Natur »nicht einfach, so wie sie ›an sich‹ ist«, sie 34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
beschreibt vielmehr »die Natur, die unserer Fragestellung und unseren Methoden ausgesetzt ist«; sie ist »ein Teil des Wechselspiels zwischen der Natur und uns selbst«.119 Oder mit den Worten Albert Einsteins ausgedrückt: »Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann«.120 Auf denselben Sachverhalt bezieht sich Niels Bohrs Begriff der ›Komplementarität‹.121 Mit diesem Begriff ist gemeint, daß es über ein und denselben Gegenstand konträre Theorien geben kann - etwa die Teilchen- und die Wellentheorie des Lichts -, daß diese konträren Theorien sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich vielmehr ergänzen. Erst in dieser ›Komplementarität‹, »erst durch das Nebeneinander der beiden widersprechenden Betrachtungsweisen wird der anschauliche Gehalt des Phänomens voll ausgeschöpft«.122 Wir haben also von dem Sachverhalt auszugehen, daß sich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine grundsätzliche und umfassende Veränderung der wissenschaftlichen Denkart abzeichnet, in der Wissenschaft als Forschung definiert wird und die offensichtlich auf die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts zurückgreift. Aus dieser Feststellung ergeben sich für den dritten und abschließenden Teil unserer Überlegungen drei weiterführende Fragen. Erstens stellt sich die Frage, wie die derzeit in der deutschen Geschichtswissenschaft geführten Kontroversen über historische Erkenntnis und über den Historismus vor diesem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund eingeordnet und beurteilt werden müssen. Zweitens werden wir darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Wissenschaftsreflexion der Vormoderne, also der Zeit vor dem 19. Jahrhundert, für unsere Gegenwart hat. Und schließlich ergibt sich drittens die Frage, wie der seit den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts sich ausbildende Objektivismus und Positivismus im Rahmen der europäischen Wissenschaftsgeschichte zu beurteilen sind. (1) Die derzeit von deutschen Historikern ausgetragenen Theorie-Kontroversen bewegen sich zum Beispiel um die Frage des Verhältnisses von ›Objektivität‹ und ›Parteilichkeit‹ in der historischen Erkenntnis, oder um die Frage, ob die Substanz geschichtlicher Erkenntnis sich als ›Theorie‹ (d.h. im Entwerfen von ›Modellen‹) oder als ›Erzählung‹ darzustellen habe.123 Sehe ich recht, so sind diese Kontroversen über ›Objektivität‹ und ›Parteilichkeit‹, über ›Theorie‹ und ›Erzählung‹ in dieser Form nur vor dem Hintergrund objektivistischer Auffassungen der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis möglich.124 Versteht man Geschichtswissenschaft als Forschung, so erscheinen diese Alternativen nicht als sinnvoll.125 Es ist kein Zufall, daß gerade Droysen vor mehr als einem Jahrhundert in der Einlei35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
tung zu seiner »Historik« eben diese beiden Kontroversen, die offenbar schon zu seiner Zeit ein ungemeines Interesse fanden,126 als »Aporemata« bezeichnet hat, das heißt als unlösbare Fragen.127 Und die Unlösbarkeit dieser Fragen wurzelt darin, daß sie falsch gestellt sind. Auch zu den aktuellen Kontroversen über ›Historismus‹ wäre einiges zu bemerken. Der Diskussion fehlt es, so meine ich, an Deutlichkeit, weil immer wieder - in dem oben erläuterten Sinn128 - ›Historismus I‹ und ›Historismus II‹ vermengt werden. Diese Vermengung begegnet zum Beispiel auch in W. J . Mommsens Streitschrift von 1971 mit dem programmatischen Titel »Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus«.129 Die von Mommsen und anderen erhobene Forderung, die Geschichtswissenschaft habe sich »jenseits des Historismus« zu stellen, erscheint indessen kaum mehr sinnvoll, sobald man die angeblich notwendige und exklusive Verknüpfung der beiden ›Historismen‹ aufhebt. Versteht man dann nämlich unter ›Historismus‹ die von Humboldt und Ranke vertretene idealistische Art der Geschichtswissenschaft, so ist die Forderung, es habe sich die Geschichtswissenschaft »jenseits des Historismus« zu stellen, zwar berechtigt, aber sie ist doch zugleich auch eine Banalität, über die zu streiten sich nicht lohnt - wenn man davon ausgeht, daß Geschichtswissenschaft Forschung zu sein habe. Versteht man jedoch unter ›Historismus‹ jene für die Moderne konstitutive geistig-kulturelle Bewegung, so bleibt unklar, ob und wie die Geschichtswissenschaft sich jemals jenseits dieses Historismus wird stellen können, der doch offenbar ihre Voraussetzung darstellt.130 Es sei denn, die Geschichtswissenschaft gehe den Weg, den ihr Nietzsche gewiesen hat und begebe sich als bloße Historie belehrend, bewahrend und verurteilend in den Dienst des ›Lebens‹. Eine solche Historie stünde in der Tat »jenseits des Historismus«, was ja Nietzsches Ziel war. Doch würde eine solche Historie weder Wissenschaft sein noch jemals Forschung sein können. (2) Die zweite Frage betrifft die Bedeutung der vormodernen Wissenschaftsreflexion. Im Blick auf die Definition der modernen Geschichtswissenschaft geht es hier vor allem um den Zusammenhang der Entstehung von Geschichtsforschung und der Entstehung von Historismus im 17. und 18. Jahrhundert.131 Wie kann man einen solchen Zusammenhang fassen? Es wurde festgestellt, daß der Grundgedanke von Forschung der Gedanke der Unendlichkeit der Welt ist. Dieser Gedanke war es, der die als Forschung sich verstehende Wissenschaft zur Entfaltung brachte, beginnend mit dem spätmittelalterlichen Nominalismus, bis zur Zusammenfassung durch Kant am Ende des 18. Jahrhunderts.132 Außerdem haben wir festgestellt, daß die Grundeinsicht des Historismus darin besteht, daß alles geschichtlich bedingt und geschichtlich vermittelt ist.133 Aus dieser grund36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
sätzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens durch den Historismus resultiert das Problem der Relativierung aller Werte, sobald sie in den Bereich dieser universalen Historisierung geraten. Könnte nun - so wäre zu fragen - der Zusammenhang zwischen der Entstehung des Historismus und der Entstehung von Geschichtserkenntnis als Forschung nicht darin zu erkennen sein, daß die Geschichtsforschung sich ausformte in dem Maße, wie sie den Gedanken der Unendlichkeit in sich aufnahm? Grundlage der Entstehung der Geschichtswissenschaft als Forschung wäre dann der Gedanke, daß nicht nur die physikalische Welt eine grundsätzlich unendliche ist, sondern daß dies auch von der geschichtlichen Welt gilt; daß auch die Geschichte unendlich ist, insofern sie ein unendliches Werden und Vergehen immer neuer Formen und Werte ist. Wir wissen von dem Gefühl des Schwindels, das die Naturforscher der frühen Neuzeit angesichts der Unendlichkeit der physikalischen Welt ergriff. Hat dieses Gefühl nicht seine Entsprechung in dem Gefühl des Schwindels, das den Historiker ergreift: sowohl angesichts der Unendlichkeit der geschichtlichen Welt in ihrem ständigen Sichwandeln als auch angesichts der aus dem ständigen geschichtlichen Wandel sich ergebenden Unendlichkeit möglicher historischer Perspektiven und Fragestellungen, die ihrerseits dem steten Wandel und dem Vergehen unterworfen sind? Versteht man den Historismus als das Eindringen des Unendlichkeitsdenkens in die Auffassung der geschichtlichen Welt, so wäre die Entstehung von Geschichtswissenschaft als Forschung eine Konsequenz des Historismus. Mit anderen Worten: der Relativismus der Werte, der mit dem Historismus einhergeht, und der Relationalismus einer sich als Forschung verstehenden Geschichtswissenschaft - dieser Relativismus und dieser Relationalismus stünden in einem Verhältnis der Entsprechung und gegenseitigen Bedingung. Das bedeutet aber auch, daß der Relativismus seine Schrekken verliert, wenn man ihn im Horizont von Wissenschaft als Forschung betrachtet.134 Anders gesagt: nur aus der Sichtweise einer sich objektivistisch definierenden Wissenschaft ist der Relativismus ein Problem. Vom Standpunkt einer Geschichtswissenschaft aus, die sich als Forschung versteht, ist er vielmehr etwas Selbstverständliches. Für eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung, die im Blick auf die Vormoderne, im Blick auf das 17. und 18. Jahrhundert und unter dem Gesichtspunkt des Unendlichkeitsdenkens solchen Zusammenhängen nachgeht, ergeben sich vor allem zwei Fragestellungen. Zum einen bedürfen die Zusammenhänge zwischen historistischem Relativismus und erkenntnistheoretischem Relationalismus einer eingehenden Untersuchung. Zum anderen wäre zu achten auf die im 17. und 18. Jahrhundert sichtbar werdenden Zusammenhänge zwischen Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. 37 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
(a) Die Zusammenhänge zwischen Relativismus und Relationalismus im 17. und 18. Jahrhundert sind bereits in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts durch E. Cassirer135 und P. Hazard136 vielschichtig behandelt worden, vor allem im Hinblick auf die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, die Zeit um 1700. Die Entsprechung von Relativismus und Relationalismus begegnet dann insbesondere in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei einem Autor, dessen Bedeutung für die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft als Forschung zumindest von den Historikern noch zu entdecken ist, bei Montesquieu. Die Entsprechung von Relativismus und Relationalismus ist die Grundlage, die das literarische wie das wissenschaftliche Oeuvre von Montesquieu trägt.137 Ein anderer Autor von großer Bedeutung könnte Leibniz sein. Denn Leibniz hat, wie eingangs erwähnt, die Entfaltung des Gedankens der Wissenschaft als Forschung mit gefördert und er war zugleich Naturwissenschaftler und Historiker.138 (b) Ein zweiter Schwerpunkt der Betrachtung ergibt sich in der Beobachtung der Zusammenhänge zwischen Natur- und Geschichtswissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Ein wichtiger Beitrag zu diesem Thema ist das 1979 erschienene Buch von D. von Engelhardt über »Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus«.139 Engelhardt zeigt, wie sich im 17. und 18. Jahrhundert die Naturwissenschaften historisiert haben, und zwar in einem doppelten Sinn. Einmal dadurch, daß sie die Veränderung der Naturgegebenheiten in der Zeit erkannten, also die geschichtliche Dimension der Natur wahrnahmen: die Geschichte der Erde und ihrer geologischen Schichten, die Geschichte der Pflanzen- und Tierarten, die Geschichte der Himmelskörper. Zum anderen bestand die Historisierung der Naturwissenschaft darin, daß sie die Geschichtlichkeit ihrer eigenen Erkenntnisse zu erkennen begann, daß sie »auch über die bisherige Wissenschaftsentwicklung« und über »die Bedingungen der Forschung« nachdachte, ihre Naturforschung also mehr und mehr »im Horizont der Geschichte« betrieb.140 So wurde diese Naturwissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts in wachsendem Maße »zugleich Geisteswissenschaft«.141 Der Positivismus des 19. Jahrhunderts hat diese Entwicklung abrupt beendet, wie Engelhardt ebenfalls darstellt.142 Aus der Sicht der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutet der Positivismus des 19. Jahrhunderts mit seinem Objektivismus und seinem Glauben an den Fortschritt durch Wissenschaft deshalb eine Reduktion der Komplexität des Denkens, oder - mit den Worten Engelhardts - eine »Entproblematisierung«, eine »Entproblematisierung des Erkenntnisprogresses«143 und, wie man hinzufügen darf, auch eine Entproblematisierung des Erkenntnisprozesses und seiner Bedingungen. 38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
(3) Wir können aus alledem entnehmen, daß der objektivistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts in ihren verschiedenen Spielarten keineswegs jene Selbstverständlichkeit und Naturwüchsigkeit zukommt, die sie sich selbst beimaß und die ihr vielfach auch heute noch immer zugeschrieben wird. Diese Wissenschaft bedeutete vielmehr einen Bruch gegenüber den wissenschaftstheoretischen Orientierungen des 18. Jahrhunderts und sie ist dann seit der Wende zu unserem Jahrhundert ihrerseits mehr und mehr in Frage gestellt worden, in Rückgriffen auf jene wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Positionen, die im 18. Jahrhundert erreicht waren, was sich in der ›Revolution der Denkart‹ der modernen Physik am Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso ablesen läßt wie an der Erkenntnistheorie eines Emile Durkheim, eines Georg Simmel, eines Max Weber. Der Positivismus und Objektivismus des 19. Jahrhunderts erweist sich deshalb in seinen naturwissenschaftlichen wie seinen geschichtswissenschaftlichen Erscheinungsformen nicht als die universal gültige Form moderner Wissenschaft. Im Rahmen der europäischen Wissenschaftsgeschichte seit Beginn der Neuzeit bildet er eher einen Sonderfall.144 Wissenschaft als Forschung versteht sich als die prinzipiell unendliche Erkenntnis der unendlichen physikalischen, der unendlichen geschichtlichen Welt. Aus der Einsicht in die doppelte Unendlichkeit sowohl ihres Gegenstandes als auch ihrer Aspekte und Auffassungen von diesem Gegenstand ergibt sich für Wissenschaft als Forschung die Einsicht in ihre Begrenztheit. Aus ihrer Erkenntnis, daß Forschung ein unendliches Fortschreiten ist, ergibt sich die Erkenntnis, daß Fortschritt im Sinne des Positivismus ihre Sache nicht sein kann. Die Streitfrage des 19. Jahrhunderts, ob denn nun die Wissenschaft das Leben beherrschen solle, oder ob nicht die Wissenschaft genötigt werden müsse, sich dem Leben unterzuordnen - diese quälende und unfruchtbare Alternative ergibt sich nicht, wenn Wissenschaft als Forschung verstanden wird. Forschung steht jenseits des Streits um Wissenschaftsoptimismus und Wissenschaftspessimismus, weil sie auf Grund der ihr selbst eigenen Erkenntnis ihrer Begrenztheit weder Gegenstand der Euphorie noch Gegenstand der Feindschaft sein kann. Wissenschaft als Forschung versteht sich nicht absolut und universal, sie versteht sich relational und regional. Sie erkennt sich als Bereich neben anderen Bereichen. Wissenschaft als Forschung erhebt nicht den Anspruch, das Bild der Wirklichkeit zu bieten.145 Sie weiß, daß es neben ihrer Art, Wirklichkeit zu erkennen, andere Arten der Deutung und Gestaltung von Wirklichkeit gibt: das ›Leben‹ als der Bereich der Entscheidungen und des Handelns, die Kunst, und gewiß auch die Religion. Wissenschaft als Forschung gibt den Blick frei auf solche Bereiche. Sie erkennt, daß Sinnfragen und also auch die Frage nach dem Sinn jeglicher Wissenschaft nur von jenen anderen Bereichen her sinnvolle Antworten finden können. Wie der einzel39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ne Forscher, zumal wenn er in seiner Wissenschaft und damit auch im Leben an verantwortlicher Stelle steht, diese Antworten sucht und findet, das haben in unserem Jahrhundert sowohl der Historiker und Soziologe Max Weber146 als auch der Physiker Werner Heisenberg147 vorbildlich gezeigt.
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2. »Historismus« Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs
I. Derzeitige Definitionen des Historismus Thema dieses Vortrags ist ein historisches Phänomen und ein Problem, das den Verfasser seit einiger Zeit ebenso sehr beschäftigt wie seine fachwissenschaftlichen, also sozialgeschichtlichen und mediävistischen Forschungen. Denn der Historismus ist ein grundlegendes, ein konstitutives Phänomen der Moderne, vergleichbar der Aufklärung, der Revolution, der Industrialisierung und Technisierung sowie der universalen Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche. Zudem ist das Problem des Historismus verknüpft mit Grundfragen moderner Wissenschaft und Forschung, und das wohl nicht nur in der Geschichtswissenschaft und in den sogenannten Geisteswissenschaften:1 Erörterungen über Begriff und Phänomen des Historismus begegnen vielmehr in einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen von sehr unterschiedlicher Art. Außer in der Geschichtswissenschaft stoßen wir auf Erörterungen des Historismus-Themas in der Philosophie, zuerst bei L. Feuerbach (1839) und F. Nietzsche (1874), dann bei W. Dilthey, E. Husserl, M. Scheler, K. Jaspers, M. Heidegger und H.-G. Gadamer. Die Nationalökonomie wurde wiederholt von Methodenstreiten über Historismus bewegt, zuerst mit der Auseinandersetzung zwischen C. Menger und G. Schmoller seit 1883/84, dann in einem zweiten Historismus-Streit der 1930er Jahre, den W. Eucken auslöste. Besondere Bedeutung haben die Kontroversen über Historismus in der Theologie, wo der Widerstand gegen die Anwendung der historischen Methode und gegen das historisierende Denken schon 1873 durch Nietzsches Freund F. Overbeck ausgesprochen wurde und wo sich gegen den Historismus und Relativismus, gegen den »Geschichtspan theismus der liberalen Theologie« (R. Bultmann) eines A. v. Harnack und eines E. Troeltsch2 unmittelbar nach 1918 schließlich jene neuen theologischen Richtungen sich durchsetzten, die mit den Namen u. a. von K. Barth, E. Brunner, R. Bultmann und F. Gogarten verbunden sind. Die Rechtswissenschaft, insbesondere die Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie, aber
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auch die Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte führten und führen noch immer ihre eigenen Historismus-Kontroversen, wovon noch die Rede sein wird. Ausgedehnte Erörterungen über Historismus gibt es auch in anderen Ländern, vor allem in Italien, in der Nachwirkung der Historismus-Arbeiten von B. Croce,3 ferner in den Vereinigten Staaten4 und in England5 sowie in Frankreich.6 In den hier nur angedeuteten, jeweils fachspezifischen HistorismusErörterungen wurden ganz unterschiedliche Wege beschritten. Meist sind die Erörterungen weder untereinander noch mit der geschichtswissenschaftlichen Historismus-Debatte verknüpft. Vielfach gab und gibt es in diesen Auseinandersetzungen mehrere Historismus-Begriffe, die nacheinander auftauchten und deshalb heute gewissermaßen in Gemengelage begegnen, so etwa in der Geschichtswissenschaft, in der Rechtswissenschaft, der Nationalökonomie und der Kunstgeschichte. Darüber hinaus wird ›Historismus‹ allenthalben nicht nur als definierter wissenschaftlicher Begriff, sondern oft auch nur als Schlagwort verwendet: bekannte Buchtitel wie »Der Historismus und seine Probleme« (E. Troeltsch), »Der Historismus und seine Überwindung« (E. Troeltsch), »Die Krisis des Historismus« (K. Heussi), »Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus« (W. J . Mommsen)7 sind längst zu Parolen geronnen, wobei oft nicht mehr klar ist, zum Teil nicht einmal klar werden konnte, was damit ursprünglich eigentlich gemeint war.8 Und nicht nur als bequemes Allerwelts-Schlagwort, sondern vor allem als Kampfbegriff findet, heute wie früher, der Begriff des ›Historismus‹ Verwendung; ›Historismus‹ ist dann nicht das, was man sich selbst auf seine Fahne schreibt, als ›Historismus‹ gilt vielmehr das verfehlte Tun anderer. Einige Beispiele sollen die Heterogenität der vorliegenden Historismusbegriffe und -definitionen verdeutlichen. In der Geschichtswissenschaft begegnen derzeit drei Definitionen. Da gilt einmal ›Historismus‹ als eine Geschichtsauffassung, die in individualisierendem Verfahren die einfühlende Nachzeichnung vergangenen Geschehens an und für sich betreibt, dabei also die Beschäftigung mit der Vergangenheit von allen Bezügen zur Gegenwart freihält. ›Historismus‹ ist also Geschichte um ihrer selbst willen, wie W. J . Mommsen in seiner Streitschrift »Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus« von 1971 darlegte.9 Historismus dieser Art steht im Gegensatz zu einer gegenwartsbezogenen und strukturgeschichtlich angelegten Geschichtsforschung.10 Ganz anders hat F. Meinecke in seinem berühmten Werk über »Die Entstehung des Historismus« von 1936 den Begriff definiert.11 Für Meinecke war Historismus »nichts anderes« als die Anwendung der in der »großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben« durch Ranke. Meinecke sah 42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
durchaus diesen Historismus als »eine allgemeine abendländische Bewegung«, doch sei »die Krone« dabei »dem deutschen Geiste« zugefallen, der hier »die zweite seiner Großtaten nächst der Reformation vollbracht« habe. Als den »Kern« dieses Historismus bestimmte Meinecke die »Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung«, die mit der entwickelnden Denkweise, dem Entwicklungsgedanken verbunden sei; denn »im Wesen der Individualität ... liegt es, daß sie sich nur durch Entwicklung offenbart«. Es ist unschwer zu erkennen, daß W. J . Mommsens Historismusbegriff auf dem Meineckes beruht, indem er diesen mit einer negativen Bewertung versieht. Aber auch in anderem Zusammenhang blieb Meineckes Historismusbegriff gültig. So definierten jüngst H. W. Blanke und J . Rüsen Historismus als »die Wissenschaftsauffassung der Geschichtswissenschaft, mit der diese sich von der Aufklärung abgrenzte und neue leitende Hinsichten auf die menschliche Vergangenheit und ein neues (hermeneutisches) Verständnis von historischer Methode als Regelsystem der Forschung entwickelte«; Historismus ist demnach »die Form des historischen Denkens ..., in der er sich zu einer autonomen Fachdisziplin im Laufe des 19. Jahrhunderts institutionalisiert hat«.12 Ganz anders hatte indessen vor Meinecke Ernst Troeltsch den Begriff definiert. In seinem Buch »Der Historismus und seine Probleme« bestimmte Troeltsch 1922 Historismus als »die grundsätzliche Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte«.13 Auf dieser Linie hat unlängst H. Gollwitzerden Historismus als eine »kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung«, als eine »breite, internationale Bildungsbewegung« bezeichnet, die »in den Entstehungsvorgang der modernen Welt« eingebettet sei und deren vielfältige Auswirkungen in der Tat erstaunlich sind: nicht nur in der umfassenden Historisierung verschiedenster akademischer Fächer, sondern auch als »Öffentlichkeitshistorismus« in der Gestaltung und Durchdringung des öffentlichen Lebens, u. a. in der Kunst, der Architektur und der Literatur, im Denkmalskult des 19. Jahrhunderts oder im Massenphänomen des Jubiläumswesens.14 Es fehlt nicht an Versuchen, die in der Geschichtswissenschaft begegnenden verschiedenen Historismus-Begriffe in systematischer Betrachtung zu vermitteln,15 was aber offensichtlich nicht recht gelingen will. Ähnlich ist die Situation in anderen Fächern, wo - z. Τ unte r Einfluß geschichtswissenschaftlicher Definitionen - die gleichen Divergenzen der Begriffsbildung begegnen, so in der Rechtswissenschaft16 und in der Philosophie.17 Auch die Nationalökonomie hat mehrere Historismus-Begriffe hervorgebracht. Sie sind verknüpft mit den bereits erwähnten Historismus-Streiten des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen es vor allem um die wirtschaftsgeschichtlichen Ansätze und Methoden G. Schmollers ging. Die gegen 43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Schmoller gerichtete Anschuldigung des ›Historismus‹ meinte dabei freilich ganz Verschiedenes. C. Menger bekämpfte 1884 als Schmollers ›Historismus‹ das Verwischen der Grenze zwischen der theoretischen Volkswirtschaftslehre, d. h. der politischen Ökonomie, und der historischen Wissenschaft von der Volkswirtschaft.18 J . Schumpeter hingegen würdigte 1926 Schmollers ›Historismus‹ als das »Begreifen der Geschichte aus der Geschichte«, nämlich als den Entwurf »einer einheitlichen Soziologie oder Sozialwissenschaft als gedanklich (›theoretisch‹) verarbeiteter Universalgeschichte«.19 W. Eucken wiederum machte 1938 Schmoller verantwortlich für die Verbreitung von Relativismus und Fatalismus; Eucken verstand nämlich im Anschluß an Troeltsch unter ›Historismus‹ »die grundsätzliche Historisierung unseres gesamten Wissens, Denkens und Wertens«, d.h. die »Relativierung der Wahrheitsidee« als Zerstörung der »Basis« jeglicher Wissenschaft, woraus sich für Eucken die Notwendigkeit einer »Überwindung des Historismus« zwingend ergab.20 Seit 1938 wird der Historismus-Begriff auch in der Kunstgeschichte erörtert. H. Beenken sprach damals vom Historismus als einer »Krankheit«, welche die europäische Baukunst um 1800 befallen und ihre »organische Weiterentwicklung in ... hohem Grade in Frage gestellt« habe. Historismus galt Beenken als »Krise« und »Störung«, als eine »Hemmung der naivschöpferischen, architektonischen Gestaltungsprozesse ... von innen her«; sein Wesen sei »ein geschichtliches Reflektieren und Sichzurückversenken in andere Zeitalter«, das »einen Willen zur Erneuerung von Formen aller möglichen längst vergangenen Stile« hervorgerufen habe.21 Auf derselben Linie hat unlängst (1961) N. Pevsner die »Wiederkehr des Historizismus«22 beklagt als der »Tendenz, an die Macht der Geschichte in einem solchen Maße zu glauben, daß ursprüngliches Handeln erstickt und durch ein Tun ersetzt wird, das von einem Präzedenzfall einer bestimmten Zeit inspiriert ist«. Seine Definition sei, so erklärte Pevsner noch einmal 1965, »daß der Historismus die Haltung ist, in der die Betrachtung und die Benutzung der Geschichte wesentlicher ist als die Entdeckung und Entwicklung neuer Systeme, neuer Formen der eigenen Zeit«.23 Ganz anders als Beenken hat P. Frankl, ebenfalls 1938, in systematischer Absicht ›Historismus‹ (»historisierende Stile«) und ›Urstile‹ (»originäre Stile«) einander gegenübergestellt (»Es gibt Naissancen und Renaissancen oder Urstile und Historismus«) und vorgeschlagen, in diesem präzisen Sinne zum Beispiel von »Karolingischem Historismus« zu sprechen.24 Auch der Ansatz Frankls wurde jüngst wieder aufgegriffen, indem W. Götz eine »wesentliche Erweiterung« des Historismus-Begriffs »gegenüber seiner bisherigen Anwendung« vorschlug.25 Götz definierte Historismus als den »absichtsvollen Rückgriff auf die Geschichte«, als »eine Gesinnung, die sich das Kunstwerk einordnet, ja unterordnet«. Historismus in der Kunstgeschichte hieße dann: »Kunst im Dienste 44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
einer Weltordnung, einer Staatsidee, einer Weltanschauung, die aus der Geschichte programmatisch ihre Denkmodelle und Formenmodelle beziehen«. Somit sei jede Epoche in der Lage, »ihren eigenen Historismus hervorzubringen«. Begriffe wie ›Renovation‹, ›Renaissance‹, ›Klassizismus‹ würden dadurch »nicht überflüssig«, sondern könnten »gleichsam Gattungen des Historismus bezeichnen«; und der Historismus des 19. Jahrhunderts sei darum »nur« als eine »zeitbedingte Sonderform des Historismus allgemein« zu betrachten. Gegen die von Götz vorgeschlagene »formgeschichtliche« und »geistesgeschichtliche Ubiquität« des Historismus-Begriffs ist von seiten der Geschichtswissenschaft (mit Recht) Einspruch erhoben worden, weil hier die »sehr bestimmte historische Lokalisierung« des neuen, in seiner Art unverwechselbaren »historischen Geschichtsdenkens« um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert außer Acht gelassen worden sei.26 Deshalb sei an dieser Stelle auf eine weitere (bisher kaum beachtete) Historismus-Definition von kunsthistorischer Seite aufmerksam gemacht, die einem solchen Bedenken Rechnung trägt und deshalb um eine historische Begründung des Begriffs bemüht ist. W. Hofmann hat in seinem großangelegten Werk »Das irdische Paradies« (1960) dargestellt,27 wie die europäische Kunst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihrer Geschichtlichkeit gewahr wird und deshalb »zwei Hauptwege der Selbstdarstellung« einschlägt: »der eine führt sie, im Wortgebrauch Nietzsches, in die ›Historie‹, der andere in das ›Leben‹. Auch der Künstler erfährt Gegenwart und Vergangenheit innerhalb des kunstgeschichtlichen Prozesses als zwei distinkte Erlebnisräume. Beider gemeinsamer Ursprung ist, merkwürdig genug, das Weltbild des Historismus«. ›Historie‹ und ›Leben‹ als »zwei distinkte Vorstellungsräume« der Kunst des 19. Jahrhunderts entstanden als »Folge der Relativierung aller Wertvorstellungen«; so ist das 19. Jahrhundert in seiner Kunst ein »entzweites Jahrhundert«, nämlich in dem »großzügigen laisser faire des Historismus« und dem dialektisch dagegen gesetzten Anspruch der »harten, unabdingbaren Forderung an die jeweilige Gegenwart, nichts anderes als sie selbst zu sein«. Es wird sich im folgenden zeigen, daß der von einem affekthaft-wertenden Historismus-Begriff (Beenken, Pevsner) ebenso wie von einem unhistorisch-formalen (Frankl, Götz) sich unterscheidende Begriff W. Hofmanns in seiner Anknüpfung an Nietzsche den Kern des Historismus-Problems tatsächlich trifft.28
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II. Zur Geschichte des Historismus-Problems im 19. und 20. Jahrhundert Schon der flüchtige Überblick über die verschiedenen Historismus-Definitionen verschiedener Fächer innerhalb der letzten hundert Jahre widerlegt die Vermutung, daß es eine alle Fächer übergreifende Erörterung des Problems gegeben habe oder daß diese Diskussion im Sinne einer zur Gegenwart hin fortschreitenden steten Verbesserung der Auffassungen von Historismus verlaufen sind. Die Überwindung dieser Divergenzen, die Überwindung der fachspezifischen Vereinzelungen und Verdinglichungen in den Historismus-Definitionen erscheint deshalb notwendig. Damit wäre auch eine Befreiung vom Ausgeliefertsein an gegenwärtige Diskussionsstufen zu erreichen, wo vielfach mit Historismus-Begriffen hantiert wird, die schon bei oberflächlicher Betrachtung sich durchaus als historisch bedingt erweisen, ohne daß dies bei der Prägung und Verwendung des jeweiligen Begriffs bewußt wäre. Zu diesem Zweck sei eine Historisierung der Historismus-Diskussion vorgeschlagen,29 d. h. eine umfassende, ebensowohl problemgeschichtliche wie begriffsgeschichtliche30 und zugleich auch wissenschaftsgeschichtliche Erörterung des Themas, die den Durchbruch des Historismus als »Welt-Anschauung«, als »geschichtswissenschaftliche Theorie«, als »Sehweise der Gebildeten« wie als »kulturhistorische und sozialgeschichtliche Bewegung«31 - einem Gedanken O. Brunners folgend - im Zusammenhang sieht mit dem Durchbruch der modernen Welt. Denn der Historismus steht nicht nur - wie O. Brunner feststellte im Gegensatz zum Kosmosdenken und zum Naturrechtsdenken, er läßt in seiner durchgehenden Historisierung überhaupt »alles ältere geschichtliche Denken als irgendwie ›ungeschichtlich‹ erscheinen«.32 Daraus gewinnt er auch seine Dynamik als ein zumindest »begrenzt erfolgreicher Versuch, die Geschichtswissenschaft, nachdem entsprechende Dominanzphasen der Theologie und der Philosophie vorhergegangen waren, im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften zur Leitdisziplin zu erheben«.33 Gewiß war dies eine Konsequenz der Erfahrung des Traditionsbruchs und der Veränderung des Zeiterlebnisses34 in jener »Erfahrung der Beschleunigung, welche die Gegenwart als Epoche der permanenten Reversibilität von den vergleichsweise statischen Verlaufsformen der vormodernen Geschichte abhebt und die Exempla der Vergangenheit ihrer Aussagekraft beraubt«.35 Besonders deutlich hat J . Burckhardt schon in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Traditionsbruch und die mit ihm verknüpfte Krisenerfahrung reflektiert:36 »Fast sämtlichen europäischen Völkern ist das, was man historischen Boden nennt, unter den Füßen weggezogen worden« durch die »völlige Negation, die zu Ende des vorigen Jahrhunderts in Staat, 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Kirche, Kunst und Leben eintrat« (so Burckhardt 1842) 37 und die zum »Bruch«, zum »Sturz von Moralen und Religionen« führte, wie Burckhardt 1868 in Basel formulierte.38 Eben diese gewaltigen Veränderungen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts hätten zu einem »Gegengewicht« genötigt, zu einer neuen Art der Reflexion der Geschichte: der Geist »baut etwas Neues«, das jedoch nicht der Zeitlichkeit enthoben ist, sondern »dessen äußeres Gehäuse mit der Zeit dasselbe Schicksal erleiden wird«.39 Der neuen geschichtlichen Deutung der Moderne ist Historizität also ebenso eigentümlich wie den geschichtlichen Strukturen, durch deren Wandel sie hervorgebracht wurden. Etwa zur selben Zeit hat in Berlin J . G. Droysen in seinem »Grundriß der Historik« (1857/58) im Hinblick auf die historische Erkenntnis dieselbe Erfahrung der Gewordenheit ausgesprochen: daß in der geschichtlichen Welt »nichts unvermittelt« sei und daß dies auch für das Denken über Geschichte gelte: »Das historische Forschen setzt die Einsicht voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist. Die erkannte Tatsache dieser Vermittlungen ist die Erinnerung«.40 Damit waren die Grundbedingungen, war die Grunderfahrung des Historismus ausgesprochen, die im historischen Prozeß selbst begründet sind. Am Beginn unseres Jahrhunderts hat K. Mannheim es noch einmal pointiert ausgedrückt: »Nicht die Geschichtsschreibung hat uns den Historismus gebracht, sondern der Geschichtsprozeß hat uns zu Historisten gemacht .... Einen Historismus gibt es erst, seitdem die Probleme, die mit der neuen Lebenshaltung mitgegeben waren und sich vielleicht in der Geschichtsschreibung nur am handgreiflichsten auswirkten, die Stufe der Selbstbewußtheit erlangten«.41 Zur Darstellung der wechselvollen Geschichte von Problem und Begriff des Historismus sei im folgenden deren Gliederung in fünf Abschnitte vorgeschlagen. Sie soll Phasen und Knotenpunkte der Geschichte des Historismus skizzieren, um zugleich die jeweils in sich geschlossenen fachinternen Historismus-Erörterungen aufzubrechen, ihre Ergebnisse für synchrone Zusammenhänge verfügbar zu machen und damit zur Beobachtung von Zusammenhängen und Verknüpfungen, von Unterschieden und Diskontinuitäten zu gelangen, woran es vor allem fehlt. Von den hier abgegrenzten fünf Phasen sollen im folgenden zwei etwas ausführlicher erörtert werden, weil ihnen wohl eine Schlüsselstellung in der Geschichte des Historismus zukommt. (1) Die erste Phase kann man mit der ersten Nennung des Worts ›Historismus‹ bei Novalis 1798/99 beginnen lassen.42 Es folgte eine Äußerung L. Feuerbachs (1839), die bereits ein Grundmotiv der HistorismusKritik anschlägt.43 Feuerbach kritisierte den »faulen Packesel unserer Zeit«, der eine der Gegenwart feindliche Vergangenheitsbetrachtung betreibe, er wandte sich gegen die (für ihn in dem Historiker H. Leo) »personifizierte 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Mißgunst des Historismus gegen die gesunden Blutstropfen der Gegenwart«. Feuerbachs Diktum richtet sich also gegen ein der Gegenwart entfremdetes, unbegriffenes Sammeln historischer Fakten als Selbstzweck, zugleich aber auch gegen den »religiösen Materialismus und Historismus unserer Tage«, worunter er die Verwendung historischen Wissens in der Theologie verstand. Gegen »Historismus« dieser Art richte sich ein »kritischer Antihistorismus« bei Kant, Fichte, Herder, Lessing, Goethe und Schiller, die alle »schon aufs strengste zwischen Historie und Wahrheit« zu unterscheiden gewußt hätten. Gegen Feuerbachs »Antihistorismus« wiederum konzipierte in der Folge der Philosoph Chr. J . Braniß (»Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart«, 1848) unter dem Stichwort ›Historismus‹ eine Geschichtsphilosophie, welche nach dem Zweck der Geschichte fragt und also auf die Gegenwart und die Zukunft ausgerichtet ist.44 In ähnlicher Weise hat der Philosoph C. Prand (»Die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie«, 1852) den »wahren Historismus« definiert, »welcher das Ideale, wie es von Poesie und religiösem Bewußtsein angefangen alle Verhältnisse ohne Ausnahme und die ganze Geschichte durchzieht, erkennen will, und hiebei sowohl auf jener Continuität des Idealen selbst beruht, als auch sie erst aufzeigend bewahrheitet«.45 Seinen Lehrer Prantl verteidigend, hat auch F. Dahn in mehreren (allerdings erst 1883 veröffentlichten) Schriften abermals einen auf Lessing und Kant gegründeten »wahren Historismus« definiert, der »die Weltgeschichte im weitesten Sinn als ein Ganzes, als die einheitliche, nach Vernunftgesetzen notwendige Entwicklung eines Prozesses« erfaßt und »so jede gegenwärtige Wirkung als das notwendige Resultat der Gesamtheit seiner Vorbedingungen« zu begreifen vermöge; dies sei jedoch nicht im Sinne eines »spekulativen Prinzips« zu verstehen, vielmehr sei der »Historismus« »überwiegend ein methodisches Moment«; das »Urprinzip des Historismus« sei »der Satz der Kausalität«, der Historismus erkenne, wie »alles mit Notwendigkeit aus seinen Vorbedingungen folge, nach Vernunftgesetzen«.46 In diesen Auseinandersetzungen über Historismus seit 1848, in die schließlich auch R. Haym eingriff (»Hegel und seine Zeit«, 1857), ging es also um die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit, von Geschichte und Gegenwart, zugleich aber handelte es sich um eine Auseinandersetzung mit der Hegeischen Philosophie.47 (2) Das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart ist auch das Hauptthema einer Schrift, die umfassend und für die folgenden Jahrzehnte prägend das Thema des Historismus erörtert. Sie kann als epochemachend gelten, weil sie immer wieder den Anknüpfungspunkt für Erörterungen über Historismus bot und weil sie die Dimensionen des Historismus-Begriffs erstmals bestimmte, die in den folgenden Jahrzehnten in freilich sehr unterschiedlicher Weise aufgegriffen und erörtert wurden. Es handelt sich 48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
um die Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, die F. Nietzsche als ordentlicher Professor der Klassischen Philologie an der Universität Basel48 im Jahr 1874 veröffentlichte. Darüber wird im folgenden Abschnitt dieser Überlegungen (Abschnitt III) ausführlicher zu sprechen sein.49 Es sei an dieser Stelle noch einmal erwähnt, daß bereits im Jahr zuvor der ebenfalls in Basel lehrende und mit Nietzsche eng befreundete Theologe und Kirchenhistoriker F. Overbeck mit seiner Schrift »Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie« den Angriff gegen die historische Theologie eröffnete und darin zugleich den Kern des Historismus Problems erörterte.50 (3) Seit Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts setzte dann die Reflexion über das Thema des Historismus in weiteren Bereichen ein. Eine Epoche bezeichnet W. Diltheys erstes Werk, die »Einleitung in die Geisteswissenschaften« von 1883.51 Diltheys Ziel war die Erarbeitung einer »Kritik der historischen Vernunft«, die Gewinnung eines Urteils »über den innersten Antrieb der gegenwärtigen wissenschaftlichen Bewegung«, und zwar über »das Ganze jener Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande haben«, die ›Geisteswissenschaften‹ also, deren Entstehung, wie Dilthey betont, »in der Praxis des Lebens selbst« wurzelt, da »ihre ersten Begriffe und Regeln zumeist in der Ausübung der gesellschaftlichen Funktionen selber gefunden« wurden, also durch und durch geschichtlich bedingt und vermittelt sind. Mit diesen Bemerkungen hat Dilthey schon 1883 sein Hauptproblem und die von ihm dafür in Betracht gezogene Lösung skizziert. Das Problem ist der das ›Leben‹ bedrohende Relativismus, - mit Diltheys anschaulicher Metapher: »das Messer des historischen Relativismus, welches alle Metaphysik und Religion gleichsam zerschnitten hat«. Immer wieder wird Dilthey in der Folge herausarbeiten, daß die »Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins ... gründlicher noch als der Überblick über den Streit der Systeme den Glauben an die Allgemeingültigkeit irgendeines der philosophischen Systeme« zerstört habe, daß »die historische Vergleichung ... die Relativität aller geschichtlichen Überzeugungen« zeige, daß »das historische Bewußtsein ... immer deutlicher die Relativität jeder metaphysischen oder religiösen Doktrin, die im Verlauf der Zeiten aufgetreten ist« erweise. Die Konsequenz ist jener »Schmerz der Leere«, das »Bewußtsein der Anarchie in allen tieferen Überzeugungen«, die »Unsicherheit über die Werte und Ziele des Lebens«.52 Denn: »Die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend«.53 Diltheys Ausweg aus der Anarchie der Werte und der Unsicherheit des Lebens war es, das ›Leben‹ selbst zum Fundament der Erkenntnis zu machen, das jeglicher Erkenntnis vorausliege. Denn, wie Dilthey schon 1883 erklärte: »Leben ist 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
das erste und immer Gegenwärtige, die Abstraktionen des Erkennens sind das zweite und beziehen sich nur auf das Leben«.54 Damit hat Dilthey die Theorie der historischen Erkenntnis im Zentrum jenes Problems angesiedelt, das bald darauf unter dem Begriff des ›Historismus‹ allgemein erörtert werden sollte: in dem Problem der geschichtlichen Gewordenheit alles dessen, was ist, mit seiner Konsequenz, der Relativität, dem Relativismus. Noch im Jahr des Erscheinens hat G. Schmoller Diltheys »Einleitung« besprochen, und zwar zusammen mit den ebenfalls 1883 erschienenen »Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere« von C. Menger,55 und er hat damit Menger zu jener eingangs bereits erwähnten Streitschrift über »Die Irrtümer des Historismus« provoziert, welche den ersten Historismus-Streit der Nationalökonomie auslöste.36 Seit 1892 begann sich dann die 1873 von F. Overbeck begonnene Kritik an der historischen Theologie deutlicher zu erklären und mündete in die sich verstärkende Historismus-Debatte ein: damals erschien M. Kählers berühmte Streitschrift »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus« mit ihrer Kritik am »Historizismus« (»der historische Jesus der modernen Schriftsteller verdeckt uns den lebendigen Christus«).57 Wenig später definierte F. J . Schmidt (»Der Niedergang des Protestantismus«, 1904) den »Historismus« als »Positivismus«: »Positivismus wird der physiologische, psychologische und historische Empirismus erst dann, wenn er seine Erkenntnisart zum Universalprinzip erhebt und die Totalität des Lebens daraus zu bestimmen sich anmaßt. Nicht die Psychologie, sondern der in der Gesamtforschung zum Prinzip erhobenen Psychologismus; nicht die Historie, sondern der in den Geisteswissenschaften zum Prinzip erhobenen materialistische Historismus ... zeitigen erst den Positivismus«.58 Ebenfalls 1892 veröffentlichte G. Simmel die erste Fassung seiner erkenntnistheoretischen Studie über »Die Probleme der Geschichtsphilosophie«, die eine »Kritik«, ja eine »Überwindung« des »historischen Realismus« sein wollte, »für den die Geschichtswissenschaft ein Spiegelbild des Geschehenen, ›wie es wirklich war‹ bedeutet«, und den er in der dritten Auflage des Werks (1907) als ›Historismus‹ bezeichnete: Die Befreiung vom »historischen Realismus« ist Befreiung vom »Historismus«.39 In der Nachfolge der Erörterung des Historismus-Problems bei Nietzsche hat der Philosoph R. Eucken 1904 seinerseits die von Nietzsche erörterten Fragen mit dem inzwischen allgemein verwendeten Begriff des ›Historismus‹ verknüpft. Historismus ist nach Eucken die »Verworrenheit« im »Verhältnis des gegenwärtigen Menschen zur Geschichte«, indem er an der Geschichte hängt, von der Geschichte lebt und sich gerade deshalb in seinem »eigenen Leben durch sie aufs stärkste bedrückt« fühlt - dies ist »der entnervende Historismus mit seiner Verstrickung in ein Halbleben«, weil der »Ausdehnung des Gesichts50 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
kreiscs durch die Geschichte die zusammenhaltende und aneignende Kraft nicht entspricht, und daher der Mensch im Zentrum seines Lebens Schaden erleidet«. »Der Fortschritt des historischen Wissens hemmt direkt die Verbindung der Geschichte mit dem Leben«.60 Seinerseits wiederum an Diltheys Äußerungen über den historischen Relativismus anknüpfend hat E. Husserl 1911 in seiner epochemachenden Schrift »Philosophie als strenge Wissenschaft« das Problem des »Historizismus« und seiner Konsequenzen, nämlich der »historizistischen Skepsis«, des »extremen skeptischen Subjektivismus« dargestellt, dem er seine phänomenologische Wesenseinstellung entgegenhielt.61 Auch das Grundproblem der modernen Denkmalpflege im Zeichen des Historismus wurde bereits damals mit Deutlichkeit benannt, indem der Kunsthistoriker G. Dehio in seiner Schrift über »Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert« von 1905 »Denkmalpflege« und »Restaurationswesen« treffend als »Antipoden« und zugleich als »echte Tochter« bzw. »illegitimes Kind« des »Historismus des 19. Jahrhunderts« bezeichnete.62 (4) Eine neue und man darf sagen: die entscheidende Phase in der Geschichte der Auseinandersetzungen über Historismus begann in Deutschland mit dem Zusammenbruch von 1918. Sie bietet ohne Zweifel den Höhepunkt der Historismus-Reflexion und steht im Zeichen einiger weniger bedeutender Veröffentlichungen weniger Autoren, die alle ein und dieselbe Generation repräsentieren. Zu diesen gehört zunächst Max Weber, vor allem mit seiner Schrift »Wissenschaft als Beruf« (1919), die durch die vorangegangenen wissenschaftstheoretischen Schriften, vor allem seit der Abhandlung über »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« (1904) vorbereitet war. Aufzahlreiche Einzelstudien seit 1916 hatte der Theologe, Historiker und Philosoph E. Troeltsch sein monumentales Werk »Der Historismus und seine Probleme« begründet, das schließlich 1922 erschien. Auf dieses Buch antworteten - in sehr unterschiedlicher Weise - wiederum die beiden Historiker O. Hintze (mit der Abhandlung »Troeltsch und die Probleme des Historismus«, 1927) sowie E. Meinecke, dieser in mehreren Stellungnahmen seit 1923 und abschließend in seinem Hauptwerk »Die Entstehung des Historismus« von 1936. Diese Erörterungen bedeuteten den Höhepunkt der HistorismusDiskussion in Deutschland und brachten zugleich eine Wende, wie im folgenden eingehender dargestellt werden wird (Abschnitte IV und V). 63 An dieser Stelle sei nur knapp angedeutet, daß der in den Erörterungen der Historiker seit 1918 sich abzeichnende Gipfel der Auseinandersetzungen über Historismus seine Entsprechungen auch in anderen Fächern hatte.64 In diese Zeit fällt die Durchsetzung der sogenannten dialektischen Theologie und ihre Auseinandersetzung mit der historischen: K. Barths berühmter Kommentar zum Römerbrief erschien zuerst 1919. 65 Es ist 51 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
übrigens kein Zufall, daß Barth in der zweiten Auflage seines berühmten Buchs von 1922 sich explizit zu F. Overbeck bekannte, der 1873 den Angriff gegen die historische Theologie eröffnet hatte.66 Ebenfalls 1919 waren als posthume Veröffentlichung F. Overbecks Essais und Aphorismen über die »moderne Theologie« erschienen,67 eine Veröffentlichung, in deren Beurteilung die Auffassungen über Historismus sich aufs deutlichste schieden.68 K. Jaspers befaßte sich in seiner »Psychologie der Weltanschauungen« (1919) mit dem Historismus als der »Verabsolutierung des unendlichen Verstehens«, die den Menschen »zuletzt seiner persönlichen Existenz« beraube, weil ihm darin »alles und darum nichts wichtig« sei, ein Thema, das Jaspers in seiner Schrift über die »Die geistige Situation der Zeit« (1931) fortführte in der Reflexion über den Historismus »als eine falsche Geschichtlichkeit« und das er in seinem Hauptwerk (»Philosophie«, 1931) einmünden ließ in die umfassende Reflexion über Geschichtlichkeit und über die Unterscheidung von »historischem« und »geschichtlichem Bewußtsein«.69 Ebenso wie Jaspers an Nietzsches Fragen anknüpfend (auch wenn er sie anders beantwortete als dieser), hat auch M. Heidegger (»Sein und Zeit«, 1927) mit Blick auf Nietzsche dargelegt, daß die Historie »die Geschichtlichkeit des Daseins zur Voraussetzung« habe und daß das »Aufkommen eines Problems des ›Historismus‹ das deutlichste Anzeichen dafür« sei, »daß die Historie das Dasein seiner eigentlichen Geschichtlichkeit zu entfremden« trachte.70 Für Jaspers wie für Heidegger war also der ›Historismus‹ jener Ausgangspunkt, von dem aus beide - in allerdings fundamental verschiedener Weise71 - das Thema der ›Geschichtlichkeit‹ des Menschen entfalteten. Auf Heideggers Auseinandersetzung mit dem Historismus deuteten bereits 1926 die gleichartigen Ausführungen von R. Bultmann hin, der einer »objektiven Geschichtsbetrachtung« und einer »neutralen Orientierung über objektiv feststellbare Vorgänge in der Vergangenheit« jenen »Dialog mit der Geschichte« gegenüberstellte, der »von der Frage bewegt ist, wie wir selbst, die wir in der Bewegung der Geschichte stehen, zur Erfassung unserer eigenen Existenz gelangen können«.72 In denselben Kontext gehört die Konstituierung der Wissenssoziologie bei M. Scheler73 und bei K. Mannheim. Mannheims Abhandlung über »Historismus« aus dem Jahr 1924, die den Historismus als »eine geistige Macht von unübersehbarer Tragweite« charakterisierte, als den »wirklichen Träger unserer Weltanschauung«, als das »Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirklichkeit betrachten«,74 ging seinen berühmten wissenssoziologischen Arbeiten der Jahre 1925 (»Das Problem einer Soziologie des Wissens«) bis. 1929 (»Ideologie und Utopie«) unmittelbar vorauf.75 Und ungeachtet der seit 1933 grundlegend veränderten Verhältnisse in Deutschland ist schließlich auch der zweite Historismus-Streit der Nationalökonomie in die durch die Ereignisse von 1918 stark bestimmte 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Phase der Problem-Geschichte des Historismus einzuordnen. Das Manifest dieses Streits ist W. Euckens Schrift »Die Überwindung des Historismus« von 1938. Ebenso ist Euckens Hauptwerk (»Die Grundlagen der Nationalökonomie«, 1940) von seiner fundamentalen Kritik des Historismus durchzogen.76 (5) Über den Stand der Historismus-Erörterungen in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 wurde eingangs bereits berichtet. Im wesentlichen gingen sie von jener Prägung des Begriffs aus, die F. Meinecke mit seinem Historismus-Werk von 1936 durchgesetzt hatte und die nun im Für und Wider anhaltend erörtert wurde. Ob dieser Sachverhalt anzeigt, daß das Historismus-Problem seit 1945 nur noch ein historisches Problem darstellt, oder ob diese Situation nicht eher die bloße Konsequenz einer vergessenen oder unbegriffenen Geschichte ist, - diese Frage soll im letzten Abschnitt dieser Überlegungen (Abschnitt VI) erörtert werden.
III. Die Historismus-Kritik Friedrich Nietzsches In der Entfaltung der Historismus-Problematik, in der Prägung des Historismus-Begriffs und der Bestimmung seiner Dimensionen hat F. Nietzsche mit seiner Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« von 1874 eine geradezu konstitutive Bedeutung. Dies ist um so bedeutsamer, als Nietzsche hier den Begriff des ›Historismus‹ bestimmt und das Historismus-Problem erörtert, ohne das Wort ›Historismus‹ auch nur ein Mal zu verwenden.77 Vermutlich hat dies dazu geführt, daß man die konstitutive Bedeutung der Schrift vielfach übersah oder nur in Verkürzungen erfaßte.78 Das Problem ergibt sich für Nietzsche aus einer Kardinalfrage, der Frage nämlich nach dem Verhältnis von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹. Nietzsche erkannte das Lebensbedrohliche der modernen Wissenschaft und knüpfte daran sein Hauptfrage: ob wirklich die Wissenschaft, ob »das Erkennen über das Leben herrschen« solle, - oder nicht vielmehr »das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft«. »Welche von beiden Gewalten ist die höhere und entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt, denn ein Erkennen, welches das Leben vernichtete, würde sich selbst mit vernichtet haben. Das Erkennen setzt das Leben voraus, hat also an der Erhaltung des Lebens dasselbe Interesse, welches jedes Wesen an seiner eigenen Fortexistenz hat«.79 Nietzsche hat seine Grundfrage auch in Hinblick auf die Naturwissenschaft erörtert,80 zuerst aber in Hinblick auf die Geschichtswissenschaft. Im Vorwort der Schrift von 1874 erläutert Nietzsche, warum seine 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Betrachtung unzeitgemäß sei. Sie sei es, weil sie »etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, ... als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit« begreife, als ein »verzehrendes historisches Fieber«. »Gewiß, wir brauchen die Historie, aber wir brauchen sie anders, ... wir brauchen sie zum Leben und zur Tat ... . Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet«. So sei es in dieser Zeit, im Zeichen der »so mächtigen historischen Zeitrichtung«, wie sie »bekanntlich seit zwei Menschenaltern« (also seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts) »unter den Deutschen namentlich zu bemerken« sei.81 Der Nachteil dieser Historie für das Leben liege darin, daß sie Wissenschaft sei. Denn »die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluß und Abrechnung für die Menschheit«. Deshalb werde »die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens« als einer »unhistorischen Macht« stehe, »nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft ... werden können und sollen«.82 In dreierlei Hinsicht ist nach Nietzsches Auffassung Geschichte als Wissenschaft eine das Leben bedrohende »Krankheit«. (1) Sie ist es durch die rastlose und zugleich ganz und gar beliebige Anhäufung des historischen Wissens, das aus »unversiegbaren Quellen immer von Neuem« hinzuströmt, jedoch in keinen inneren Zusammenhang gebracht werden kann«: »... das Fremde und Zusammenhanglose drängt sich, das Gedächtnis öffnet alle seine Tore und ist doch nicht weit genug geöffnet, die Natur bemüht sich aufs Höchste, diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren, diese selbst aber sind im Kampfe miteinander, und es scheint nötig, sie alle zu bezwingen und zu bewältigen, um nicht selbst an ihrem Kampfe zu Grunde zu gehen«. Die Wissenschaft gewordene Historie beschwere den »modernen Menschen« mit einer »ungeheuren Menge von unverdaulichen Wissenssteinen«, die er mit sich herumschleppe und die ihm »dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln«.83 Diese Übersättigung mit Historie sei lebensfeindlich, weil sie zu dem Glauben führe, »Spätling und Epigone zu sein«; denn durch »dieses Übermaß gerät eine Zeit in die gefährliche Stimmung der Ironie über sich selbst und aus ihr in die noch gefährlichere des Cynismus«, wodurch »die Lebenskräfte gelähmt und zuletzt zerstört werden«, weil »der schaffende Instinkt entkräftet und entmutigt« und der Mensch dadurch seiner Zukunft beraubt wird. Was Nietzsche in einem ersten Aspekt des Problems erörtert, ist also der geschichtswissenschaftliche Trivialpositivismus, die Geschichtswissenschaft, die um ihrer selbst betrieben wird und in welcher »der historische Sinn ... ungebändigt waltet« und dadurch »das Lebendige untergräbt und zu Falle bringt«.84 (2) Damit ist ein zweites Moment verbunden: der fatale Irrglaube 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
nämlich, wahre oder ›objektive‹ historische Erkenntnis gewinnen zu können. Mit dem Glauben an die »historische ›Objektivität‹« hat sich Nietzsche vor allem im sechsten Abschnitt seiner Betrachtung auseinandergesetzt.85 Diese »vielgerühmte Stärke des modernen Menschen« sei doch nichts als »ewige Subjektlosigkeit«, nichts als eine »Wahrheit, bei der nichts herauskommt«. Deshalb die Attacken gegen die »fürchterliche Species von Historikern«, gegen die »ganzen Gelehrten- und Forscher-Cohorten«, gegen den Historiker als einen »kalten Dämon der Erkenntnis«, den das gar nicht berühre, was er erkenne, und der darüber hinaus sein Genügen meist schon finde in einem rein passivem Abzeichnen, Abkonterfeien und Abphotographieren. Man hat den Eindruck, daß Nietzsche sich hier gegen Ranke wendet, dessen immer wieder ausgesprochenes Erkenntnisideal und dessen Auffassung von der Aufgabe des Historikers es ja war, eine »objektive Darstellung« geben zu können, eine »Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit«, eine Erkenntnis des »Wesens« der Dinge,86 oder, wie Ranke 1824 und wieder 1874 in seinem berühmten Diktum es ausdrückte: zu »sagen« oder zu »zeigen«, »wie es eigentlich gewesen«.87 Auch an den berühmten Satz Rankes von 1860 mag hier erinnert sein: »Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen«.88 (3) Mit dem dritten Aspekt der Kritik Nietzsches erreichen wir den Kern seiner Kritik. Hier geht es um die Wertlosigkeit des geschichtlich-wissenschaftlichen Wissens, welche eine Folge ist der Unendlichkeit der geschichtlichen Erkenntnis. Die Geschichtswissenschaft habe Unendlichkeitscharakter. Denn sie zeige alles im Fluß des Werdens und Wachsens, als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen, im unendlichen Werden und Vergehen. Deshalb sei ihr alles in gleicher Weise gültig und also gleich-gültig. Die Geschichtswissenschaft ist, nach Nietzsches treffendem Wort, »die Wissenschaft des universalen Werdens« und deshalb erzeuge sie nichts anderes als eine »hoffnungslose skeptische Unendlichkeit«. Diese sei die notwendige Folge der »Forderung, daß die Historie Wissenschaft sein soll«.89 Die Geschichtswissenschaft sieht nach Nietzsche »überall ein Gewordenes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges« und wirft den Menschen deshalb »in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens« hinein.90 Wer aber überall »ein Werden« sieht, der »verliert sich in diesem Strome des Werdens«.91 Nietzsche erläutert dies am Beispiel der Theologie, in seiner ätzenden Kritik des »jetzigen theologus liberaus vulgaris«,92 dessen Dilemma Nietzsche hier schon charakterisiert, bevor er als historische und wissenschaftsgeschichtliche Figur eigentlich ganz und gar in Erscheinung getreten ist:93 A. v. Harnacks berühmtes Buch über »Das Wesen des Christentums« wird erst 1900 erscheinen. Gegen Harnacks (spätere) Maxime, das Wesen des Christentums zu bestimmen sei »eine 55 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
geschichtliche Aufgabe, da es sich in dieser Religion um eine Verkündigung handelt, die sich geschichtlich vollzogen hat«, und deshalb könne in der Bestimmung des Wesens des Christentums »weder der Antiquar noch der Philosoph, noch der Schwärmer ... das letzte Wort haben, sondern der Historiker, weil es eine rein historische Aufgabe ist, die wesentliche Eigentümlichkeit einer geschichtlichen Erscheinung festzustellen«,94 - gegen diese Maxime stellte Nietzsche schon 1874 seine Gegenthese, daß eine »historisierende« oder gar eine »vollkommen historische ... Behandlung« des Christentums dieses »in reines Wissen um das Christentum auflöst und dadurch vernichtet«.93 Für Nietzsche ergaben sich zwei Gegenmaßnahmen.96 Zum einen benannte er gegen die »historische Krankheit« zwei Gegenmittel: das Unhistorische und das Überhistorische. Das Unhistorische ist »die Kunst und Kraft vergessen zu können«; das Überhistorische aber sind »die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutende gibt, zu Kunst und Religion«.97 Zugleich bleibt aber - und dies war Nietzsches zweiter Gedanke - ein begrenzter Bereich für die Historie übrig, wo sie einen Nutzen für das Leben entfalten kann, - vorausgesetzt, sie hat aufgehört, eine Wissenschaft zu sein, um sich statt dessen in den Dienst des Lebens zu begeben. Sie kann dies als monumentalische, als antiquarische und als kritische Historie: in diesen drei Hinsichten gehöre die Historie »dem Lebendigen«. Als monumentalische Historie helfe sie dem, der Großes schaffen will, in seinem Kampf, indem sie ihm »Vorbilder, Lehrer, Tröster« zeige.98 Als antiquarische Historie gehöre sie »dem Bewahrenden und Verehrenden, dem, der mit Treue und Liebe dorthin zurückblickt, woher er kommt, worin er geworden ist«.99 Als kritische Historie aber verurteile sie; denn der Mensch müsse auch »die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können«; dies erreiche er dadurch, »daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert, und endlich verurteilt«; - denn: »jede Vergangenheit ... ist wert verurteilt zu werden«.100 Es hat also weder die monumentalische noch die antiquarische oder die kritische Historie im Sinne Nietzsches den Charakter einer Wissenschaft. Auch dies scheint sich gegen Ranke zu richten, der in seinem berühmten Diktum von 1824 (und 1874) das Aufweisen von Vorbildern (das »Belehren« der Mitwelt »zum Nutzen zukünftiger Jahre«) wie das Urteilen (»das Amt, die Vergangenheit zu richten«) ausdrücklich ablehnte, weil er vielmehr »bloß« zeigen oder sagen wolle, »wie es eigentlich gewesen«.101 Obwohl Nietzsche, wie erwähnt, in seiner Schrift das Wort ›Historismus‹ nicht verwendet, hat er den Begriff des Historismus in seinen wichtigsten Dimensionen geprägt und zugleich die Umrisse künftiger Historismus56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Diskussionen nachhaltig, ja sogar bleibend bestimmt. Denn neben der immer wieder auftauchenden Bestimmung des Historismus als einer das ›Leben‹ gefährdenden, lähmenden und erstickenden »Krankheit«102 werden sich alle künftigen Erörterungen über Historismus auf die drei von Nietzsche benannten Aspekte beziehen.103 Es geht von nun an (1) um die Geschichtswissenschaft als Selbstzweck, als ›Histoire pour l'histoire‹, es geht um das unaufhörliche, ›positivistische‹ Anhäufen historischer Fakten und Befunde um ihrer selbst willen.104 Es geht (2) um den Anspruch der historischen ›Objektivität‹, der dabei erhoben wird.105 Und es geht (3) um das Problem der Unendlichkeit geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis, um die Geschichtswissenschaft als »Wissenschaft des universalen Werdens«. Dies ist nach Nietzsche der Kern der Historismusfrage.106 Denn hierin stellt sich das Problem des historischen Relativismus. Es wurde, in unmittelbarem Rückgriff auf die Problemstellung Nietzsches, in Deutschland vor allem nach dem Zusammenbruch von 1918 erörtert. Diese Phase in der Geschichte des Nachdenkens über Historismus wird im folgenden Abschnitt eingehender beleuchtet werden.
IV. Das Historismus-Problem bei Ernst Troeltsch, Otto Hintze und Max Weber Dieser Höhepunkt der Erörterungen über Historismus in Deutschland ist bestimmt durch die Stellungnahmen von M. Weber, E. Troeltsch, O. Hintze und F. Meinecke. Max Weber und Ernst Troeltsch haben unmittelbar Nietzsches Fragen aufgegriffen, auch wenn ihre Antworten sich voneinander wie auch von der Antwort Nietzsches tiefgehend unterscheiden. Otto Hintze und Friedrich Meinecke nahmen - wiederum in sehr verschiedener Weise - Stellung zu Weber und Troeltsch. Meineckes Gedanken schließlich gaben dann der Historismus-Debatte eine ganz andere Richtung, was vor allem für die Erörterung des Historismus-Problems nach 1945 folgenreich geworden ist. An Nietzsche anknüpfend, hat Troeltsch schon um 1900 die Wirkungen des historischen Denkens beschrieben, welches »das Leben der Menschheit in einem rastlosen Strom geschichtlichen Werdens, beständiger Wandelungen auflöst« habe, und er hat die Wirkungen des »historischen Skeptizismus und Relativismus« beobachtet, »der vor lauter Anempfindung an tausend gewesene religiöse Gefühle und Meinungen keinen Mut mehr zu eigenem Standpunkt gewinnt«.107 1913 diagnostizierte Troeltsch die Umwandlung der »Historie zum reinen Historismus, zur völlig relativistischen Wiedererweckung beliebiger vergangener Bildungen mit dem lastenden und ermü57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
denden Eindruck historischer Aller-Welts-Kenntnis und skeptischer Unproduktivität für die Gegenwart«; dieser Historismus und die »nicht minder entnervenden Wirkungen des historischen Relativismus« gehörten »zu den wichtigen Zügen in der Seelenverfassung« des 19. Jahrhunderts.108 In mehreren Studien hat Troeltsch seit 1916 darüber gearbeitet und die Ergebnisse schließlich 1922 in dem mit Verve und Tiefe formulierten Essay »Die Krisis des Historismus« sowie in dem schon genannten monumentalen Werk »Der Historismus und seine Probleme« veröffentlicht.109 Der Historismus im Sinne der »Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist«, charakterisiert Troeltsch als »die erstliche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken und mittelalterlichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise sich grundsätzlich unterscheidet«.110 Der mit dem Historismus gesetzte historische Relativismus, die Zerstörung aller Wertsysteme und »Wert-Selbstverständlichkeiten« habe eine Krisis der Historie heraufgeführt, Sie liege »in den allgemeinen philosophischen Grundlagen und Elementen des historischen Denkens, in der Auffassung der historischen Werte, von denen aus wir den Zusammenhang der Geschichte zu denken und zu konstruieren haben«.111 Troeltsch erkannte darin drei Dimensionen. Erstens gehe es um die »Aufrollung der erkenntnistheoretisch-logischen Probleme der Historie«, d. h. um die (schon 1892 von G. Simmel explizit gestellte112) Frage: »wie verhält sich die vom denkenden Geiste nach seinen Gesetzen hervorgebrachte Ordnung zum wirklichen Wesen und Zusammenhang der Dinge selbst? ... Wie weit kann die Historie das reale Geschehen überhaupt erfassen und wiedergeben?« Es ist also eine Frage Nietzsches, die hier erneut gestellt wird, nämlich »die peinigende Frage nach der Objektivität solcher Historie, nach ihrer Entsprechung mit dem wirklichen Verlauf«.113 Zweitens gehe es um die »Einführung des soziologischen Elementes in die historische Forschung«. Das heißt: »Der einseitigen Geistes- oder Staats- und Rechtsgeschichte tritt die Auffassung entgegen, daß alle geistig-kulturellen und staatlich-organisatorischen Bildungen aufruhen auf den jeweiligen gesellschaftlichen Grundlagen des Lebens und daß diese wiederum zwar nicht allein, aber doch sehr stark durch den ökonomischen, technischen und dementsprechend in Sitte und Privatrecht bestimmten Stand der Gesellschaft bedingt sind«.114 Troeltsch formulierte hier also die Fragestellung einer neuen Kulturgeschichte und gleichzeitig die Grundlage der sich soeben durch M. Scheler und K. Mannheim konstituierenden Wissenssoziologie.115 Das dritte Moment sei die »aus alledem folgende und überdies eigene Gründe besitzende Erschütterung des ethischen Wertsystems so58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
wohl in der Begründung als im sachlichen Inhalt« mit der fatalen Folge jener »Anarchie der Werte«, - oder, wie Troeltsch mit Nietzsches Metapher sagte: »Alles kämpft gegen alles«.116 Troeltsch erkannte die Krise als eine geschichtlich gewordene, durch die Geschichte bedingte. Er verwies auf die fortschreitende Spezialisierung und Verästelung der fachmäßigen Historie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die zur »Zersplitterung und Entleerung des historischen Bildes« geführt habe, auf die Relativierung des konventionellen Bildes der Geschichte durch Marx, auf die Zertrümmerung der »Tafeln der bisherigen Werte« durch Nietzsche und schließlich auf die Folgen von Weltkrieg und Revolution: »Da schwankt der Boden unter den Füßen und tanzen rings um uns die verschiedensten Möglichkeiten weiteren Werdens«.117 In dieser geschichtlichen Situation sah Troeltsch seine Aufgabe in dem »zentralen Thema« des Verhältnisses »zwischen der endlosen Bewegtheit des geschichtlichen Lebensstromes und dem Bedürfnis des menschlichen Geistes, ihn durch feste Normen zu begrenzen und zu gestalten«118 und also zu zeigen, »wie von dem Historisch-Relativen der Weg zu geltenden Kulturwerten zu finden sei«.119 Das Ergebnis seiner Arbeit war die »Kultursynthese«, deren Grundzüge er am Ende seines großen Buches noch skizzieren konnte, deren (für den zweiten Band des Werks geplante) Ausführung ihm aber nicht mehr vergönnt war. Troeltschs Kultursynthese war der Versuch, »Geschichte durch Geschichte« zu überwinden,120 und zwar in Gestalt einer Universalgeschichte als »Universalgeschichte der europäischen Kultur«, als einer »universalen Entwicklungsgeschichte des Europäismus« im Hinblick auf seine »großen elementaren Grundgewalten« (sc. den hebräischen Prophetismus, das Griechentum der Polis, den antiken Imperialismus und das europäische Mittelalter) und in seiner »objektiven Periodisierung«.121 Troeltsch mußte auf die Objektivität und Apriorität seiner Kultursynthese größten Wert legen,122 lag und liegt doch in dieser Objektivität die unabdingbare Voraussetzung einer Überwindung der »Geschichte durch Geschichte«. Man könnte sagen: Troeltschs Kultursynthese ist ein Versuch (entsprechend der Forderung Nietzsches), die Geschichte in den Dienst des Lebens zu stellen, dabei aber (im Gegensatz zu Nietzsche) den Wissenschaftscharakter der Historie aufrechtzuerhalten, ja sogar die Objektivität ihrer Erkenntnis ausdrücklich zu behaupten. Dieses Kardinalproblem im Denken Troeltschs hat O. Hintze mit Schärfe und Kritik herausgestellt: die »Bürgschaft« der Objektivität von Troeltschs Ansatz liege »in dem Zusammenhang seiner Kultursynthese mit der universalen weltgeschichtlichen Entwicklung«.123 Troeltsch selbst war sich der Korrelation des Verhältnisses von gegenwärtiger Kultursynthese und Universalgeschichte durchaus bewußt, und er hat diese seinem Versuch zugrundeliegende Annahme selbst klar bezeichnet, nämlich: »die wesenhafte und 59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
individuelle Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste und eben damit die intuitive Partizipation an dessen konkretem Gehalt und bewegter Lebenseinheit ist der Schlüssel zur Lösung unseres Problems«.124 Dieser »den ganzen Gedankenzusammenhang beherrschenden metaphysischen Annahme der wurzelhaften Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen, der in dem Welt- und Geschichtslauf sich offenbare«, dieser Annahme einer »Objektivität der universalen Entwicklung«, die »geradezu als die Selbstbewegung des göttlichen Geistes ausgedeutet« werde, hat Hintze ausdrücklich seine Zustimmung verweigert: mit dieser »Identitätsphilosophie« erschien ihm Troeltsch als bloßer »Epigone des mit Leibniz anhebenden und in Hegel und Ranke gipfelnden deutschen Idealismus«.125 Hintze sah eine andere Lösung des Historismus-Problems, die er allerdings nur andeutete und nicht ausgeführt hat, nämlich in der klaren Unterscheidung von Historismus als einer »allgemeinen Welt- und Lebensanschauung«, und von Historismus als einer »bloßen Denkrichtung«, als einer »logischen Kategorialstruktur des Geistes«. Diese Unterscheidung sei notwendig, so erklärte Hintze, damit nicht, wie bei Troeltsch, das »emotionale Denken« das »kognitive« überwältige.126 Mit diesem Hinweis bezog sich Hintze auf Max Weber, freilich ohne diesen zu nennen. In dieser Unterscheidung der Bereiche sah Hintze eine Möglichkeit, der Überwältigung durch den Historismus zu entgehen, denn sie erlaube es, die »durchgängige, unbeschränkte Relativität aller historischen Erscheinungen« viel »rücksichtsloser und unumwundener« anzuerkennen, als dies Troeltsch überhaupt möglich war, - ohne deshalb der »Gefahr des ›Relativismus‹ zu erliegen«.127 Gerade die von Max Weber gegebene Antwort auf das Historismus-Problem, die O. Hintze seinerseits andeutete und übernahm, war für Troeltsch gänzlich unannehmbar. Troeltsch hat Max Webers kantianischen Grundgedanken »von der Erzeugung des Gegenstandes durch das Denken« als »in der Historie vollends unerträglich« empfunden; er zog es vor, sich an die »Praxis der Historiker zu halten, die im Verkehr mit dem Objekt und unter dem Zwang des Objekts die Anschmiegung der Erkenntnis und der Darstellungsform an den Fluß des Geschehens leichter findet als die logische Theorie«.128 Und die Weber'schen Vorschläge zur epistemologischen Erörterung des Wertproblems empfand er als einen »Polytheismus der Werte« und als »sehr heidnisch«.129 Wie Troeltsch, so hat auch Max Weber Nietzsches Frage nach dem Verhältnis von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ aufgegriffen. Er hat sie freilich anders beantwortet. Denn Weber bestimmte dieses Verhältnis nicht im Sinne einer Über- oder Unterordnung, sondern einer Nebeneinanderordnung, dergestalt, daß diese Bereiche im Sinne einer Mehrdimensionalität der Wirklichkeit sowohl unterschieden als auch zugleich in ihrer gegenseitigen Verknüpfung gesehen werden müssen.130 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Ausgangspunkt seiner Überlegungen war für Max Weber, wie er in seiner berühmten Abhandlung »Wissenschaft als Beruf« (1919) erläuterte, der Unendlichkeitscharakter der Wissenschaft.131 Wissenschaft biete nicht »Fortschritt«, sondern sie sei »Fortschritt in das Unendliche«, was in der Tat etwas grundsätzlich anderes ist. Die Wissenschaft ist ein »ins Unendliche laufender Betrieb«, und sie ist das »prinzipiell«. »Sinn« der Wissenschaft ist deshalb das Überbotenwerden, das Überholtwerden, das Veralten; dies aber nicht bloß im Sinne eines Schicksals, das der Forscher erdulden muß. Vielmehr ist das Veralten wissenschaftlicher Ergebnisse »unser aller Zweck«. Wissenschaft »will« veralten. Deshalb gibt die Wissenschaft auf Sinnfragen keine Antwort. »Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar«.132 Weber erläutert dies im Hinblick auf die Physik, die Medizin, die Rechtswissenschaft. Auch die historischen Wissenschaften machen keine Ausnahme. Denn »sie lehren politische, künstlerische, literarische und soziale Kulturerscheinungen aus den Bedingungen ihres Entstehens verstehen. Weder aber geben sie von sich aus Antwort auf die Frage: ob diese Kulturerscheinungen es wert waren und sind zu bestehen, noch antworten sie auf die andere Frage: ob es der Mühe wert ist, sie zu kennen«.133 Die historischen Wissenschaften können also weder den ›Sinn‹ ihrer Gegenstände begründen, noch können sie Aussagen machen über ihren ›Sinn‹ als Wissenschaft, noch können sie gar Lebens-Fragen nach dem ›Sinn‹ beantworten. Darin liegt ihre Begrenztheit. Diese Grenzen der Wissenschaft sind also eine Folge ihrer Unendlichkeit. Sinnfragen und Wertfragen sind deshalb keine wissenschaftlichen Fragen. Gleichwohl ist aber die Wissenschaft keineswegs ›wertfrei‹ oder ›voraussetzungslos‹, - im Gegenteil! Wissenschaftliche Erkenntnis bedarf nämlich der Wertsetzungen, um überhaupt konstituiert zu werden. Denn gerade weil Wissenschaft Unendlichkeitscharakter hat, ist ihre Erkenntnis stets eine Erkenntnis unter spezifisch gesonderten Gesichtspunkten und kann nur als solche eine wissenschaftliche Erkenntnis sein. Sie ist mithin bezogen auf universelle Kulturwerte, von denen ausgehend der Historiker jene Zusammenhänge heraushebt, die für ihn bedeutsam sind. »Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem ›Stoff selbst entnommen‹ werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt«.134 Mit dieser Feststellung hat Max Weber freilich die Möglichkeit jeglicher ›Kultursynthese‹ im Sinne von E. Troeltsch ausgeschlossen. Weber hat dies übrigens schon 1904 mit Deutlichkeit ausgesprochen mit seinem Hinweis auf die »Sinnlosigkeit« des »Gedankens, daß es das, wenn auch noch so ferne, Ziel der Kulturwissen61 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
schatten sein könne, ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte. Endlos wälzt sich der Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, ›historisches Individuum‹ wird. Es wechseln die Gedankenzusammenhänge, unter denen es betrachtet und wissenschaftlich erfaßt wird. Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein ... . Ein System der Kulturwissenschaften auch nur im Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn in sich«. »Denn keines jener Gedankensysteme, deren wir zur Erfassung der jeweils bedeutsamen Bestandteile der Wirklichkeit nicht entraten können, kann ja ihren unendlichen Reichtum erschöpfen«.135 Troeltschs Kultursynthese aber wollte nichts anderes und nichts Geringeres sein als ein solches »geschlossenes System von Begriffen«, in dem »die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden« sollte. Max Webers Erörterung des Historismus-Problems bot eine Antwort, die andere Wege beschritt. Er suchte sie in der Unterscheidung der Bereiche: dem Bereich des ›Lebens‹ und der Wertsetzungen, die Entscheiden und Handeln ermöglichen, und dem Bereich der unendlichen und gerade dadurch begrenzten Wissenschaft. Denn dieses Problem des Historismus und des Relativismus wird ja konstituiert durch den Unendlichkeitscharakter der Wissenschaft, dadurch, daß die moderne Geschichtswissenschaft tatsächlich eine »Wissenschaft des universalen Werdens« (F. Nietzsche) ist, und Werte im Bereich der Wissenschaft, also bei einer »vollkommen historischen Behandlung«, in der Tat in »reines Wissen« aufgelöst und »dadurch« vernichtet werden.136 Aber dies hat auf Grund der Begrenztheit wissenschaftlicher Erkenntnis für den Lebens-Wert solcher Werte keine Bedeutung. Denn, mit den Worten Max Webers: »die Geltung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft in dem Sinne, in welchem sie an dieser Stelle gepflegt werden soll«.137
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V. Friedrich Meineckes neue Definition des Historismus Max Webers Antwort auf das Historismus-Problem hat in der weiteren Erörterung des Historismus keine Rolle mehr gespielt. Und überhaupt ist alsbald die Erörterung der Historismusfrage von der durch Weber, Troeltsch und Hintze bestimmten Höhe der gedanklichen Entfaltung abgekommen, ging - zumindest in der Geschichtswissenschaft - die Vielschichtigkeit und Komplexität der von Nietzsches Fragen angestoßenen Reflexion verloren, wurden die Dimensionen des Problems und der Rang der Antworten reduziert. Diese Wendung vollzieht sich mit großer Deutlichkeit in den Stellungnahmen F. Meineckes zum Historismus, beginnend mit seiner Rezension des Buches von Troeltsch (»Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus«, 1923), fortgeführt in den Ausführungen über Historismus in dem 1924 erschienenen Werk über »Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte« und zum Abschluß gebracht in dem (unvollendeten) Werk über »Die Entstehung des Historismus« von 1936.138 Sogleich nach dem Erscheinen des Troeltsch'schen Werks kritisierte Meinecke Troeltschs Bedürfnis, in seiner mit den Mitteln der Wissenschaft erstellten Kultursynthcse ein »positives und kräftiges Kulturprogramm« in praktischer Absicht, also letztlich eine Anleitung zum sinnvollen und richtigen Handeln aufzustellen; er plädierte demgegenüber für eine »reine Kontemplation«, - nicht »aus passiver Gesinnung, sondern aus dem wissenschaftlichen Bedürfnis nach strenger, grundsätzlicher Scheidung von Schauen und Schaffen«. Stelle man nämlich »der historischen Wissenschaft unmittelbar, wie Troeltsch es will, die Aufgabe, ein praktisches Kulturprogramm aufzustellen, so belastet man sie vor der Zeit mit praktischen Tendenzen, die ihre reine Bemühung um Wahrheit zu trüben drohen. ... Nicht unmittelbar, sondern mittelbar hat die Wissenschaft dem Leben zu dienen und wird es oft um so wirksamer tun, je genauer und strenger sie sich in sich abschließt«. Und Meinecke schloß diese Überlegung mit der Feststellung, daß sich »hier allerdings eine Antinomie« entwickle »zwischen den Forderungen der Wissenschaft und denen des Gesamtlebens, die logisch nicht aufzulösen ist«.139 Wieder einmal stand hier also die Frage nach dem Verhältnis von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ zur Diskussion. Aber Meinecke beantwortet sie anders als Troeltsch und zugleich anders als Max Weber. Denn während Troeltsch den das Leben lähmenden Wirkungen des Historismus die mit den Mitteln der Wissenschaft erarbeitete Kultursynthese entgegenstellte, die Historie also als wissenschaftliche Historie in den Dienst des Lebens stellte, und während Max Weber (sowie ihm folgend O. 63 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Hintze) das Verhältnis von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ im Sinne einer Unterscheidung und Verknüpfung zugleich, also im Sinne einer fortwirkenden Polarität, einer polaren Spannung bestimmte, hat Meinecke dieses Verhältnis im Sinne der ausschließlichen Trennung, ja einer unauflösbaren »Antinomie« definiert. Die Grundeinstellungen haben die Definition des Historismus bei Meinecke tiefgehend verändert. Zwar übernahm Meinecke von Troeltsch die beiden Momente des Individualitäts- und Entwicklungsdenkens als Elemente des Historismus,140 wobei er vor allem den Individualitätsgedanken als das »eigentliche Herzstück« des Historismus herausstellte.141 Im übrigen aber wird der Historismus-Begriff grundlegend umgeformt, und zwar im Sinne einer weitgehenden Veränderung und einer Reduzierung der Begriffsinhalte. Dies läßt sich in fünf Punkten zusammenfassen. (1) Im Gegensatz zu Troeltsch ist bei Meinecke der Begriff des Historismus als einer umfassenden Historisierung der Welt und des Denkens aufgegeben. Meinecke wollte erklärtermaßen dem Begriff »einen großen positiven Inhalt ... geben« und verstand unter Historismus deshalb »nur (!) jenes Gesamtphänomen des ›historischen Sinnes‹ mit allen seinen Auswirkungen ..., das seit den Tagen Mösers, Herders und Goethes das Verhältnis zur geschichtlichen Welt innerlich umgestaltet und die in Ranke gipfelnde Art von Geschichtsschreibung geschaffen hat«, deren »Herzstück« eben der Individualitätsgedanke darstelle.142 (2) Der Begriff des Historismus wurde damit zugleich dahingehend reduziert, daß mit diesem Begriff nicht mehr jene von J . Burckhardt und J . G. Droysen, von Nietzsche und Troeltsch erfaßte Veränderung des Denkens im Sinne eines geschichtlich bedingten universalen Prozesses gemeint war, sondern nur noch eine von einzelnen Individuen hervorgebrachte Idee, deren »geistige Väter« denn auch benannt und vorgestellt werden können143 und deren Entwicklung mittels jener geistesgeschichtlichen »Gratwanderung durch das Gebirge« sichtbar wird, die »von einem der hohen Gipfel zum anderen« hinüberstrebt.144 Die gerade von Troeltsch im Zusammenhang seiner Forschungen über den Historismus akzentuierte Erkenntnis, daß auch alle geistigen Bildungen »aufruhen auf den jeweiligen gesellschaftlichen Grundlagen des Lebens«,145 daß also auch der Historismus nicht nur eine Idee, sondern in der Tat auch eine kultur- und sozialgeschichtliche »Bewegung« darstellt,146 diese Erkenntnis wurde von Meinecke konsequent eliminiert. (3) Der Historismus - von Troeltsch noch als ein europäisches Phänomen erfaßt, das mit der Heraufkunft der Moderne sich konstituiert habe - wurde bei Meinecke außerdem zu einem spezifisch deutschen Phänomen umgedeutet. Deutschland sei, wie Meinecke erklärte, »das Mutterland« des Historismus,147 dieser sei, »nächst der Reformation«, die »zweite« der 64 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
»Großtaten« des »deutschen Geistes«,148 er sei überhaupt - wie Meinecke 1934 in einer auch sprachlich fragwürdigen Wendung schrieb - eine der »deutschesten Leistungen« des »deutschen Geistes«.149 Der Historismus galt Meinecke geradezu als ein Ausdruck des deutschen »Andersseinwollens«,150 was er schon 1924 in der Verknüpfung des Historismus mit dem deutschen Staatsgedanken und mit der Idee der Staatsräson zu zeigen versuchte.151 Gegen diese Deutung des Historismus als »einer spezifisch deutschen Denkweise« hat O. Hintze bereits 1927 (vergeblichen) Einspruch erhoben und dies mit der kaustischen Bemerkung verknüpft, daß »dieser Unterschied zwischen dem deutschen und dem westlichen Denken« bei Meinecke »schärfer« herausgearbeitet sei, »als es ohne die Gegensätze der Kriegspropaganda geschehen sein würde«.152 (4) Ebenso hat Hintze auch gegen eine weitere Verengung des Historismusbegriffs durch Meinecke Einspruch erhoben, nämlich gegen die angeblich notwendige Verknüpfung des Historismus (als der durch den Individualitätsgedanken begründeten Denkweise) mit dem Idealismus eines Humboldt und Ranke. Diese »spezifisch deutsche idealistische Interpretation des Historismus« hielt Hintze »für allzu eng«. Er war der Auffassung, »daß man heute ganz wohl den Begriff des Historismus so ausweiten kann, daß er auch den Marxismus und den Positivismus mit einschließt. Man würde dann freilich den Schwerpunkt mehr von der Kategorie der Individualität in die der Entwicklung verlegen müssen«.153 (5) Die Beschränkung der Betrachtung des Historismus auf eine frühe Phase des geschichtlichen Denkens und der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert machte den Historismus zu etwas Gewesenem und Abgeschlossenem.154 Die Entfaltung der Dimensionen des Historismus seit der Mitte, vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts mitsamt der Reflexion darüber seit Nietzsche und Dilthey, seit Schmoller und Menger, wurde ausgeklammert und beiseitegeschoben. Der Historismus verlor dadurch seine Qualität als ein konstitutives Phänomen der Moderne. Damit verlor er gewiß auch das Bedrohende und das Beunruhigende, das seit Nietzsche an ihm gesehen wurde. Er wurde eine ferne Größe, welche die Gegenwart möglicherweise verpflichtete, eher aber nicht mehr betraf. Auch mit den geistigen Auseinandersetzungen der Zeit nach 1918, von der sich Weber, Troeltsch und Hintze herausgefordert sahen und in der auf je eigene Weise Barth und Bultmann, Scheler, Jaspers und Heidegger, K. Mannheim und W. Eucken wissenschaftliche Fragen vor dem Hintergrund bedrängender Lebensfragen erörterten und dadurch zu wissenschaftlich neuen Ergebnissen vorstießen,155 - mit alledem hatte Meineckes Historismus nichts mehr zu tun. Er trägt die Züge einer ›Beruhigungsphilosophie‹, er war in seiner Gegenwart unaktuell, war der Gegenwart entzogen. Die Erörterung dieses Historismus hatte der Gegenwart nichts mehr zu sagen. 65 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
In diesem Sachverhalt mochte man gewiß auch Vorzüge erkennen. Vor allem hatten die Umprägungen des Historismus-Begriffs durch Meinecke einen großen Vorzug: das Kernproblem, das seit Nietzsche im Mittelpunkt aller Erörterungen des Phänomens stand, das Problem des Relativismus und damit die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Leben, war bei Meinecke insofern ›gelöst‹, als es unausgesprochen eliminiert ist. Denn die idealistische Begründung historischer Erkenntnis bei Humboldt und Ranke ist mit dem Relativismus-Problem nicht befaßt, weil sie objektive Erkenntnis auf metaphysischer Grundlage zu geben verspricht.156 Meinecke entledigte sich des seit Nietzsche erörterten Historismus-Problems also dadurch, daß er gewissermaßen einen vor-nietzscheanischen Standpunkt einnahm. Beim Historismus im Sinne Meineckes geht es nicht mehr um den historischen Relativismus, dessen geradezu schneidende Gefährlichkeit schon Dilthey wie ein »Messer« erlebt hatte:157 Meinecke empfand den von ihm »nur« noch als das »Gesamtphänomen des ›historischen Sinnes‹« definierten Historismus, in einem höchst kennzeichnenden Wechsel der Metapher, als ein musikalisches Erlebnis. Er erlebte den Historismus »wie die feine Obermelodie einer ungeheuren Sinfonie, die wohl oft verschwinden kann im Tumult der Bläser und Pauken, dann aber wieder von einer vornehmen Geige vorgetragen ins Innerste des Herzens dringt«.158 Andererseits hat Meinecke für sich selbst das Problem des historischen Relativismus dahingehend gelöst, daß er in unausgesprochener, aber deutlicher Wendung gegen Weber (und den diesem folgenden Hintze) die Polarität von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ zugunsten eines lebensphilosophischen Ansatzes aufgab. Anders ausgedrückt: Meinecke stellte dem bei Weber (und in gewisser Weise auch bei Hintze) zugrundeliegenden, an Kant orientierten transzendentalphilosophischen Ansatz den lebensphilosophischen Ansatz Diltheys entgegen, wie schon W. Hofer treffend festgestellt hat: »Das letzte Ziel des Historismus Meineckes ist nicht die begriffliche Formulierung und wissenschaftliche Ordnung der geschichtlichen Geschehnisse, sondern die Wiedererweckung vergangenen Lebens und seine Fruchtbarmachung für das gegenwärtige und zukünftige Leben. Sein letztes Ziel ist nicht bestimmt durch die Kategorie Wissenschaft, sondern durch die Kategorie Leben«. Darin habe Meinecke »in den Spuren Diltheys« den »Kantischen Standpunkt« überwunden.159 Meineckes Umdeutungen des Historismus-Begriffs waren für die weiteren Erörterungen und Stellungnahmen außerordentlich folgenreich; denn sie haben sich weitgehend durchgesetzt, trotz oder vielleicht sogar: wegen dieser in wissenschaftsgeschichtlicher Beleuchtung deutlich sichtbaren Veränderungen und Verengungen, trotz, oder wohl richtiger: wegen der Reduzierung der Komplexität des Problems. Das war auch nach 1945 nicht anders, als sich, wie noch zu zeigen sein wird, Meineckes Historismus66 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Begriff geradezu als der allein ›richtige‹ behauptete und fast alle Erörterungen über Historismus ausschließlich von diesem Begriff Meineckes ausgingen. Daß nach 1945 die reiche und vielschichtige Historismus-Diskussion der Jahre nach 1918 nicht wieder aufgegriffen wurde, erscheint um so merkwürdiger, als doch schon 1938 W. Eucken ausdrücklich und ganz treffend festgestellt hatte, daß Meineckes ›Historismus‹ mit dem Historismus von Troeltsch (mit dem noch Eucken selbst sich intensiv auseinandersetzte) eigentlich nur den Namen gemeinsam habe: Meineckes Werk, so schrieb damals Eucken mit Recht, »leide« unter dem »unglücklichen Gebrauch des Wortes Historismus«, da Meinecke das Wort »zur Bezeichnung einer geistigen Bewegung« verwendet habe, »die dem heutigen Historismus ganz fern steht«. »Jede kritische Auseinandersetzung mit dem Historismus« sei aber »von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn die ältere Bewegung, die zur Erforschung der historischen Welt in ihrer Individualität führte, mit dem Historismus vermischt wird«.160
VI. Zum Stand der Auseinandersetzungen über Historismus Nach dem in seinen Dimensionen ungleich furchtbareren Zusammenbruch von 194S mochte es so scheinen, daß das Historismus-Problem in Deutschland nicht mehr zu den »Lebensproblemen der modernen Welt« zählt, wie E. Troeltsch nach 1918 formuliert hatte.161 Der Historismus galt als »vollendet« (R. Wittram, 1958)162 oder er galt, gerade im Gegenteil, wie Th. Schieder 1965 feststellte, als etwas Gewesenes und also Überholtes: »Der Historismus in seiner alten Form ist untergegangen«, was Schieder ebenso für den Historismus im Sinne Meineckes (die Entdeckung der Individualität) wie im Sinne Troeltschs (die Historisierung der Werte und ihre Folge, der Relativismus) konstatierte.163 Während in den Nachbarwissenschaften die Erinnerung an die Historismus-Erörterung der Zeit um 1918 und in den zwanziger Jahren auch nach 1945 lebendig blieb,164 gilt in der Geschichtswissenschaft eher die Ansicht, der Historismus sei eine »abgeschlossene Größe«, er gehöre »der Geschichte an«, eine »aktuelle Herausforderung« stelle er jedenfalls nicht mehr dar.165 Zwar hat es, wie eingangs erwähnt, in der deutschen Geschichtswissenschaft seit 1970 noch einmal einen Historismus-Streit gegeben, dem aber - im Für und Wider - nur noch der Historismus-Begriff Meineckes zugrundelag,166 was die Relevanz dieser Auseinandersetzung deutlich begrenzt. In genauer Umkehrung von Meineckes Definition und Beurteilung des 67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Historismus als eines Ausdrucks des deutschen »Andersseinwollens«,167 galt Historismus jetzt als ein Inbegriff deutschen Fehlverhaltens, »als besondere deutsche Fehlentwicklung«.168 Vor allem G. Iggers hat die »fatale Schwäche des klassischen deutschen Historismus« und ihre unheilvollen Konsequenzen herauszustellen versucht: nämlich seine »aristokratische Voreingenommenheit«, die das Interesse übermäßig auf die großen politischen Persönlichkeiten richtete, weshalb er »in einem von Technik und Wissenschaft bestimmten Zeitalter eine Gesellschartsvorstellung und eine Methode mit sich« schleppte, »die eher für gewisse Aspekte des politischen und geistigen Lebens in einer vordemokratischen Epoche geeignet gewesen wären«; ferner seine dem »Ideal der Objektivität« verpflichtete »methodische Einseitigkeit«; und schließlich seine »Wertphilosophie«, die »Idee nämlich, daß objektive Wahrheiten und Werte existieren«, weswegen der Historismus »im Grunde« eine »Ausprägung des Wertpositivismus«169 sei. Vor allem galt der Kampf dem »oft dogmatisierten Individualitätsprinzip des deutschen Historismus« und dem Verstehens-Begriff, »wie ihn der klassische deutsche Historismus als hermeneutisches Prinzip entwickelt und begründet« habe.170 Aus solchen Urteilen resultierte dann die Forderung nach einer »Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus«,171 also jenseits einer auf Individualität und Entwicklung fixierten Geschichte, die um ihrer selbst willen betrieben wird. Zwar wurden zur Verteidigung des Historismus dessen »revolutionäre Implikation« und »revolutionierende Leistung« evoziert, »die alle diejenigen verkennen, die den Historismus allein als eine Tradition stabilisierende oder dem Status quo verpflichtete Kraft ansehen, nämlich die Leistung, alles Seiende zu verflüssigen, als entstanden, sich wandelnd und darum auch als vergehend und veränderbar darzustellen«, wie Th. Nipperdey hervorhob, der 1975 einen systematischen Ansatz zu einer neuen Erörterung des Phänomens vorlegte.172 Doch fehlte es an einer umfassenden begriffs- und wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung des gesamten Zusammenhangs, welche auch dem Sachverhalt Rechnung getragen hätte, daß das Historismus-Problem eine Vielzahl verschiedener wissenschaftlicher Fächer betrifft. So blieb dieser Historismus-Streit unter Historikern, weil er die verengende Prägung des Begriffs durch Meinecke nicht zu erkennen und also auch nicht hinter sich zu lassen vermochte, ein Streit um Rankes Art der Geschichtsschreibung.173 Man könnte auch sagen: Die Forderung nach einer »Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus« kritisierte gewissermaßen noch einmal Rankes Standpunkt von der Position Nietzsches her, dessen ›Kritische Historie‹ denn auch immer wieder beschworen wurde.174 Dabei übersah man freilich, daß die von Nietzsche propagierte ›Kritische Historie‹ erklärtermaßen keinen Wissenschaftscharakter mehr haben sollte. Je nach dem wissenschaftsgeschichtlichen Blickpunkt kann deshalb die 68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Forderung nach einer »Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus« in merkwürdiger Weise unaktuell erscheinen. Denn wenn man Historismus nach Meinecke mit der Art der Geschichtsschreibung Rankes identifiziert, so ist die Forderung nach einer Position jenseits dieses Historismus eine Selbstverständlichkeit, über die zu streiten sich nicht lohnt, weil dieser Historismus doch wohl schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts obsolet geworden war und es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst recht ist: man erinnere sich an die »Historik« von J . G. Droysen, an die erkenntnistheoretischen Positionen Max Webers, an jene Art historischer Forschung, die in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in Frankreich vor allem Marc Bloch begründete und entwickelte und die sich seither vielfach durchgesetzt hat.175 Wenn man unter Historismus jedoch jenes von Nietzsche bis Weber, Troeltsch und Hintze erörterte Phänomen der universalen Historisierung versteht, so bleibt unklar, wie die moderne Geschichtswissenschaft sich jemals jenseits dieses Historismus wird stellen können, der doch offensichtlich ihre Bedingung darstellt, - es sei denn, die Geschichtswissenschaft geht den Weg, den ihr Nietzsche gewiesen hat, um sich in den Dienst des Lebens zu begeben. Eine solche Historie soll und wird aber nicht mehr Wissenschaft sein. So sehr man also davon ausgehen kann, daß der im Sinne Meineckes definierte Historismus in der Tat eine historisch »abgeschlossene Größe« ist, die keine »aktuelle Herausforderung« mehr darstellt, so fragwürdig erscheint dieses Urteil, wenn man den umfassenden Historismus-Begriff der Zeit vor und nach 1918 zugrundelegt, den E. Troeltsch erläutert hat. Es geht bei alledem um mehr als nur um die Kritik von Positionskämpfen zwischen sogenannter ›traditionellen und sogenannter ›neuer‹ Geschichtswissenschaft. Es geht um Grundfragen historischer Erkenntnis und darin auch um solche wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt. Am deutlichsten ist dies in Max Webers Position zu erkennen, weshalb auch dessen Darlegungen im Zusammenhang des Historismus-Problems größte Beachtung verdienen. Freilich muß auch heute festgestellt werden, daß das Historismus-Problem sich aus der Sicht mancher wissenschaftlicher Positionen nicht stellt, wie schon E. Troeltsch 1922 angedeutet hatte.176 (1) Einen Gedanken Nietzsches aufgreifend,177 hat M. Scheler 1925 auf die ›Relativierung‹ des alles relativierenden Historismus hingewiesen, ein »Wissensentfaltungsprozeß«, durch den »entgegen der positivistischen und historischen Lehre vom Absterben der Metaphysik« der »Weg zur Metaphysik« wieder frei werde, und zwar aufbauend auf wissenschaftlicher Erkenntnis.178 Schelers Ziel war es, mit den Mitteln der Wissenschaft, u. a. auch mittels einer Soziologie des Wissens, »eine von historischen und soziologischen Bedingungen unabhängige Wert- und Geistsphäre zu er69 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
weisen« und damit einen »archimedischen Punkt jenseits des historisch Wandelbaren« zu gewinnen.179 (2) Gegen die Kulmination des Historismus im »Nihilismus« hat L. Strauss (»Naturrecht und Geschichte«, 1956) die Position des Naturrechts erneut behauptet.180 In ähnlicher Weise vertrat in rechtsphilosophischer Absicht neuerdings A. Kaufmann einen »ontologischen Objektivismus«, um damit die »panhistorische Betrachtungsweise« einzuschränken, mit der der Historismus »das ganze Sein in der empirischen Faktizität der Geschichte auflöst und demgemäß überhaupt nichts Beharrendes, überhaupt keine überzeitlichen Gehalte mehr anerkennt«, »alle objektiven Maßstäbe und Werte in der empirischen Faktizität der Geschichte auflöst«.181 (3) Bei H.-G. Gadamer wird das Problem des Historismus im Licht einer historischen Hermeneutik erörtert, deren »Anfang« in der »Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr« gesehen wird.182 Dies wird mit dem Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaft begründet: jene erhalte ihr »Schrittgesetz« von dem »Gesetz der Sache, die sich ihren methodischen Bemühungen enthüllt«, diese hingegen sei vom Verstehen konstituiert, als einem »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln«.183 Dies aber bedeute nicht nur die Überwindung des naiven Historismus, der sich in den Geist der Zeiten versetzen zu können glaube, darin Objektivität vorgebe und dabei seine eigene Geschichtlichkeit vergesse,184 sondern auch eine Relativierung des alles relativierenden Historismus. Denn »der wahre historische Gegenstand« im Sinne der Hermeneutik »ist kein Gegenstand, sondern die Einheit dieses einen und anderen, ein Verhältnis, in dem die Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens besteht«. Die in der hermeneutischen ›Wirkungsgeschichte‹ sich vollziehende »Horizontverschmelzung« beziehe die Gegenwart stets ein, und zwar so, daß »ein wahrhaft historisches Bewußtsein ... sich selbst wie das geschichtliche Andere in den richtigen Verhältnissen sieht«.185 Damit ist in der Tat der Nachteil der Historie für das Leben aufgehoben, - um den Preis allerdings, daß diese Historie ihre »Sache« und damit ihren Charakter als eine empirisch vorgehende Wissenschaft aufgegeben hat.186 (4) Vom Standpunkt objektiver Erkenntnis im Sinne des Historischen Materialismus gibt es ebenfalls kein Historismus-Problem. Aus dieser Sicht ist Historismus mitsamt dem Relativismus nichts als der Subjektivismus der bürgerlichen Geschichtswissenschaft in der Epoche des Imperialismus,187 eine »Grundposition der ahistorischen und perspektivelosen spätbürgerlichen Ideologie«.188 Diesem bürgerlichen Historismus als einem historischen Subjektivismus kann dann aber auch der »materialistische Historismus« als der »wahre Historismus« gegenübergestellt werden: nämlich die 70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Aufdeckung objektiver Verläufe des geschichtlichen Prozesses im Sinne von Gesetzen der Geschichte.189 Historismus kann dann geradezu zum »wichtigsten methodologischen Prinzip aller marxistischen Gesellschaftswissenschaften und speziell der marxistischen Geschichtswissenschaft« erklärt werden.190 Hier wird also, bewußt oder unbewußt, die alte Verknüpfung von Historismus und Objektivismus in positiver Bewertung wiederaufgenommen. (5) Objektive Erkenntnis gilt aber auch außerhalb des Historischen Materialismus als Voraussetzung einer Überwindung der als Folge des Historismus empfundenen »Lähmung«. So wird auch jüngst wieder die Forderung erhoben, der im Historismus sich vollziehenden »Paralyse der Geschichte« mit einer »Enthistorisierung« zu begegnen und deshalb zum »klassischen Historismus« eines Ranke zurückkehren, der keinen Relativismus kannte.191 In der Tat: mit der Behauptung, es sei allgemeingültige, absolute Erkenntnis möglich, es könne der Historiker tatsächlich sagen, ›wie es eigentlich gewesen‹, kann man versuchen, die radikale Geschichtlichkeit des Menschen mitsamt seiner historischen und geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis aufzuheben.192 Die klassische Form derartiger Überlegungen gab W. Eucken in seiner hier bereits mehrfach zitierten Streitschrift von 1938 über »Die Überwindung des Historismus«. Eucken forderte dazu auf, der Relativierung der Wahrheitsidee im Zeichen des Historismus, welche die Basis aller Wissenschaften zerstört habe, eine neue Wissenschaft entgegenzustellen, die »dem wahren Zusammenhang der Geschehnisse und Dinge näher kommt«, an einem »einheitlichen wissenschaftlichen Weltbild« arbeitet und damit den Historismus in Wahrheit überwindet.193 Der Anspruch objektiver Erkenntnis im Sinne wahrer Erkenntnis läßt in der Tat, unabhängig von der Art seiner Begründung, das HistorismusProblem nicht aufkommen. Aber kann die moderne Wissenschaft, die sich als Forschung begreift,194 objektive Erkenntnis im Sinne ›wahrer‹ Erkenntnis in Anspruch nehmen? Oder geht sie, seit der Errichtung ihrer Fundamente in der Philosophie des Spätmittelalters und im Zuge ihrer Entfaltung in der Naturwissenschaft und der Erkenntnistheorie der Frühen Neuzeit nicht stets von dem Gedanken der Unendlichkeit der wissenschaftlich erfahrbaren Welt aus, der spätestens im 18. Jahrhundert auch die historische Erkenntnis ergreift?195 Darauf bezog sich Nietzsche und dies machte Max Weber zum Ausgangspunkt seiner epistemologischen Überlegungen. Könnte nicht der Zusammenhang zwischen der Entstehung des Historismus und der Entstehung von historischer Erkenntnis als Forschung darin zu erkennen sein,196 daß die Geschichtsforschung sich ausformte in dem Maße, wie sie den Gedanken der Unendlichkeit in sich aufnahm? Grundlage der Entstehung der Geschichtswissenschaft wäre dann der Gedanke, daß nicht 71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
nur die physikalische Welt eine grundsätzlich unendliche ist, sondern daß dies auch von der geschichtlichen Welt gilt; daß auch die Geschichte in wissenschaftlicher Betrachtung unendlich ist, insofern sie in wissenschaftlicher Betrachtung ein unendliches Werden und Vergehen immer neuer Formen und Werte ist; und daß aus der Unendlichkeit der geschichtlichen Welt in ihrem ständigen Sichwandeln sich die Unendlichkeit möglicher historischer Perspektiven und Fragestellungen ergibt, die ihrerseits dem steten Wandel und Vergehen, dem Überholtwerden und Veralten unterworfen sind. Wenn aber der Gedanke der Unendlichkeit der Welt und der Unendlichkeit der wissenschaftlich-historischen Erkenntnis das Historismus-Problem hervorbrachten, wie es im 19. Jahrhundert zum Durchbruch kam, so enthält andererseits die Reflexion über die Unendlichkeit auch den Hinweis zur Relativierung des Historismus als der universalen Historisierung alles Denkens, weil gerade in der Unendlichkeit dieser Erkenntnis ihre Begrenztheit sichtbar wird.
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3. Von Nietzsche zu Max Weber Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus
I Der Begriff des Historismus wird im folgenden nicht in dem Sinne verstanden, der durch Friedrich Meineckes Buch »Die Entstehung des Historismus« aus dem Jahr 1936 festgelegt wurde, wonach es sich bei Historismus um jene Art von Geschichtsdenken und Geschichtsschreibung handle, die in Ranke ihren Höhepunkt hatte und deren Wesen durch die Frage nach Individualität und Entwicklung bestimmt ist.1 Es geht somit auch nicht um jenen Historismusbegriff, der, in der Kritik an Meinecke, dessen Begriff von Historismus gewissermaßen umkehrt, wonach als Historismus dann eine Geschichtsauffassung gilt, die in individualisierendem Verfahren die einfühlende Nachzeichnung vergangenen Geschehens an und für sich selbst betreibt, dabei also die Beschäftigung mit der Vergangenheit von allen Bezügen zur Gegenwart freihält.2 Es ist auch nicht jener Historismusbegriff gemeint, der Historismus als eine Kulturphilosophie versteht, »die in engem Zusammenhang mit vitalistischen, antiaufklärerischen und irrationalen Tendenzen stand«, als eine »Methodologie, die ... als besondere Weise des Verstehens definiert wurde, und schließlich als eine Ideologie, in deren Zentrum die politische und moralische Entwicklung des Staates stand«.3 Der Begriff des Historismus wird im folgenden vielmehr in dem Sinne verwendet, den der Theologe, Philosoph, Soziologe und Historiker Ernst Troeltsch vor allem in seinem Buch »Der Historismus und seine Probleme« aus dem Jahre 1922 definierte, wobei die Frage nach dem Zusammenhang aller dieser verschiedenen Begriffe von Historismus hier außer acht bleibt.4 Historismus wird bei Troeltsch verstanden als »die grundsätzliche Historisierung unseres Wissens und Denkens«, als »die grundsätzliche Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte«.5 Das Problem der umfassenden Historisierung im Sinne von Troeltsch 73 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
wurde bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Karl Marx bezeichnet6 und seit den 1840er Jahren vor allem von Jacob Burckhardt eingehender beschrieben, auch im Hinblick auf die Entstehung des Problems durch den Traditionsbruch, aus dem die Moderne hervorging und der mit einem tiefgehenden Verlust der Wcrtselbstverständlichkeiten verknüpft war,7 mit einem umfassenden »Sturz von Moralen und Religionen«.8 Die Folgen des Vorgangs für die Theorie der historischen Erkenntnis hat dann seit der Mitte der 1850er Jahre Johann Gustav Droysen in seiner Historik immer wieder analysiert und zusammengefaßt in dem Satz: »Das historische Forschen setzt die Einsicht voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist«.9 Damit waren für die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus als der grundsätzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens zwei Probleme benannt, nämlich (1) das Wertproblem oder das Problem des Relativismus, und (2) das Objektivitätsproblem, d. h. die Frage nach den Bedingungen und der Möglichkeit historischer Erkenntnis und nach der Art dieser Erkenntnis. In ihrem Zusammenhang und ihrer Verknüpfung wurden die beiden Fragen zum erstenmal 1874 umfassend erörtert, von Friedrich Nietzsche in seiner Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«.10 Die Durchsetzung dieser Fragestellungen und ihre vielfältige Erörterung trat dann seit den 1880er Jahren deutlicher und in vielfältiger Hinsicht zutage.11 In allen diesen Diskussionen ging es immer um den zentralen Punkt der Bestimmung des Wissenschaftscharakters der Historie, um die Theorie der historischen Erkenntnis, um die Frage, wie historische Erkenntnis möglich sei. Es ging, mit den Worten Wilhelm Diltheys gesprochen, um die Kritik der historischen Vernunft.12 Diese Diskussionen und Debatten verliefen in zahlreichen Phasen und Schüben bis 1932 und hatten ihren unverkennbaren Höhepunkt gegen Ende des Ersten Weltkrieges, um 1918, und in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, und sie fanden ihre abruptes Finde mit dem Jahr 1933. Nach 1945 wurde diese Fragen in ihrer ursprünglichen Umfassendheit nicht mehr aufgegriffen. Die Theoriedebatten der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 haben offensichtlich den Rang und das Niveau jener Kontroversen des halben Jahrhunderts von etwa 1880 bis 1930 nicht mehr erreicht. Einige der Methodenstreite und Diskussionslinien jenes halben Jahrhunderts seien hier genannt. In den Zusammenhang gehört der erste Historismusstreit der Nationalökonomie zwischen Gustav Schmoller und Carl Menger (1883/84) sowie der sich daraus entwickelnde Werturteilstreit, in dem dann Max Weber seit 1904 Stellung bezog; hierher gehören die seit 1889 und vor allem seit 1893 ablaufenden Methodenstreite in der Geschichtswissenschaft, so die Auseinandersetzungen um Karl Lamprecht, die Auseinandersetzung also über politische Geschichte und Kulturgeschichte. Aus dem Bereich der Philoso74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
phie ist zu nennen die »Einleitung in die Geisteswissenschaften«, die Wilhelm Dilthey 1883 veröffentlichte, sowie die Auseinandersetzungen der sogenannten Neukantianer über die historische Erkenntnis, in denen die Trennungslinie zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft gezogen und der Begriff des Verstehens als zentraler Markierungspunkt dieser Trennungslinie etabliert wurde. Nach 1918 fanden diese Auseinandersetzungen ihre Fortführung im Angriff der sogenannten Dialektischen Theologie eines Karl Barth oder eines Rudolf Bultmann, u. a. gegen die liberale und historische Theologie, deren herausragender Vertreter Ernst Troeltsch gewesen war. In der Philosophie wurde der Streit fortgesetzt durch die gegensätzlichen Stellungnahmen von Karl Jaspers und Martin Heidegger über Geschichtlichkeit, sowie in der Begründung der Wissenssoziologie durch Max Scheler und Karl Mannheim. Es folgte schließlich der zweite Historismusstreit der Nationalökonomie, dessen Manifest Walter Euckens Streitschrift »Die Überwindung des Historismus« von 1938 darstellt. Die Initialzündung für alle diese Kontroversen liegt aber in Nietzsches Schrift von 1874. Das Thema dieser Überlegungen soll im folgenden in vier Gedankenschritten entfaltet werden, an die sich dann einige abschließende Bemerkungen anfügen. Erstens soll das Historismusproblem bei Nietzsche im Hinblick auf die Wertfrage und die Frage nach der Objektivität historischer Erkenntnis dargestellt werden. Dann werden die drei Antworten gezeigt, die auf dieses Problem gegeben wurden: (1) die Antwort, die Nietzsche selbst gegeben hat, (2) die Antwort von Ernst Troeltsch, und schließlich (3) jene Antwort auf Nietzsches Fragen, die Max Weber in mehreren Arbeiten zwischen 1904 und 1919 skizziert hat.
II In Nietzsches Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« findet sich die erste umfassende Erörterung des Themas des Historismus, obwohl der Begriff ›Historismus‹ in dieser Schrift nicht vorkommt. Die Pointe des Problems liegt für Nietzsche darin, daß die Historie Wissenschaft geworden ist. Daraus ergibt sich für ihn als zentrales Thema die Gegenüberstellung von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹, formuliert in der Frage, ob »das Erkennen über das Leben herrschen« solle, oder nicht vielmehr »das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft«. Nietzsche beantwortet seine Frage dahingegehend, daß das Leben über die Wissenschaft herrschen muß, denn »das Erkennen setzt das Leben voraus«.13 Daraus ergibt sich dann die Forderung, daß das Verhältnis der Historie zum 75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Leben sich verändern muß, da seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Historie Wissenschaft geworden sei. Eben dadurch aber sei sie zu einem »Schaden«, zu einem »Gebreste«, einem »Mangel« geworden, zu einem »verzehrenden historischen Fieber«, einer Krankheit also.14 Diese Krankheit habe den Charakter einer Bedrohung des Lebens. In der Historie, die Wissenschaft geworden ist, sah Nietzsche eine Art von »Lebens-Abschluß und Abrechnung für die Menschheit«.15 Dafür nannte er drei Gründe. Erstens schleppt Geschichte als Wissenschart unaufhörlich neue Erkenntnisse und Fakten herbei, die sie jedoch nicht mehr in einen Zusammenhang bringen kann. Dieses »ungebändigte Walten« des »historischen Sinnes« aber untergrabe »das Lebendige« und bringe es »zu Fall«; denn es erzeuge eine Stimmung der Ironie, des Zynismus, die schließlich zur Lähmung der Lebenskräfte führe.16 Deshalb sei Geschichte als Wissenschaft gefährlich. Eine zweite Gefahr liege in dem Anspruch dieser Wissenschaft auf Objektivität.17 Aber diese angebliche Objektivität sei doch in Wahrheit nichts als eine »ewige Subjektlosigkeit«, eine »Wahrheit, bei der nichts herauskommt«. Die Historiker, diese »fürchterliche Spezies«, seien nichts als »kalte Dämonen der Erkenntnis«, die ihr Genüge finden im passivem Abzeichnen, Abkonterfeien und Abfotografieren.18 Dieses seinem Anspruch nach objektive Wissen aber habe in Wirklichkeit keine Relevanz, es sei eine reine Erkenntnis um ihrer selbst willen. Der Anspruch der Objektivität gehe in Leere und darin sei Geschichte als Wissenschaft recht eigentlich fürchterlich und lächerlich zugleich. Die Gefährlichkeit der Historie als Wissenschaft aber liegt nach Nietzsche vor allem in einem dritten Moment, darin nämlich, daß die geschichtliche Erkenntnis Unendlichkeits-Charakter hat. Die Geschichtswissenschaft hat Unendlichkeits-Charakter, weil sie alles als Bestandteil geschichtlicher Entwicklung zeigt. Geschichte als Wissenschaft ist, mit Nietzsches treffenden Worten, die »Wissenschaft des universalen Werdens«, d. h. sie betrachtet schlechthin alles unter dem Aspekt des Werdens und damit also auch des Vergehens. Die notwendige Folge sei, daß diese Wissenschaft nichts erzeugt, ja, nichts anderes erzeugen kann, als »hoffnungslose, skeptische Unendlichkeit«. Dies sei die unausweichliche Folge der »Forderung, daß die Historie Wissenschaft sein soll«. Denn die Geschichtswissenschaft sieht »überall ein Gewordenes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges« und sie werfe den Menschen deshalb »in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens« hinein.19 Wer aber überall »ein Werden« sieht, der »verliert sich in diesem Strome des Werdens«.20 Das eklatante Beispiel dieses Sachverhalts liefere die Geschichte des Christentums und seiner historischen Erforschung. Denn der »theologus liberaus vulgaris«, der das Christentum einer historisierenden oder gar vollkommen historischen Behandlung unterwerfe, löse das Christentum 76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
auf »in reines Wissen um das Christentum« und vernichte es eben »dadurch«.21 Hier ist der Punkt, in dem für Nietzsche das Wertproblem unabweislich zutage tritt. Die Geschichtswissenschaft als »Wissenschaft des universalen Werdens« unterzieht alle Werte einer durchgängigen Historisierung und vernichtet sie dadurch.
III Nietzsches Antwort auf das von ihm erkannte Problem liegt darin, daß er zwei Maßnahmen gegen die »historische Krankheit«22 empfiehlt, nämlich erstens die strenge Begrenzung des Historischen und zweitens die Forderung, daß die Historie auch in den engen ihr zu setzenden Grenzen aufhören müsse, eine Wissenschaft zu sein. Die Begrenzung des Historischen habe dadurch zu geschehen, daß dem Historischen das Unhistorische ebensowohl wie das Überhistorische entgegengestellt werde. Das Unhistorische ist das Vergessen, »die Kunst und Kraft vergessen zu können«. Das Überhistorische aber sind jene »Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken« und hinlenken zum »Ewigen und Gleichbedeutenden«. Diese Mächte sind die Kunst und die Religion.23 Es bleibt also Historie, - aber, und dies ist Nietzsches zweite Forderung: sie muß aufhören, eine Wissenschaft zu sein, um dadurch in den Dienst des Lebens treten zu können. Als antiquarische Historie dient sie dem Bewahren und Verehren. Als monumentalische Historie dient sie, indem sie die »Vorbilder, Lehrer, Tröster« zeigt. Und schließlich dient sie dem Leben dadurch, daß sie als kritische Historie die Vergangenheit zerbricht und auflöst. Wichtig ist der meist übersehene Sachverhalt, daß Nietzsches antiquarische, monumentalische, kritische Historie ausdrücklich keinen Wissenschaftscharakter mehr haben soll. Das Problem von Objektivität und Wertsetzung soll also gelöst werden (1) durch den völligen Verzicht auf jegliche wissenschaftliche Objektivität und mehr noch, durch die Forderung, daß die Historie keine Wissenschaft mehr sein soll; und (2) durch eine Rettung der Werte, die das Leben konstituieren, weil sie das Handeln ermöglichen, indem diese Werte dem Zugriff der Historie als Wissenschaft ganz und gar entzogen werden.
IV Nietzsches bohrende Fragen und seine Antworten wurden von den Fachwissenschaften seiner Zeit bekanntlich nicht aufgegriffen. Aber auch wenn die Antworten abgelehnt wurden, so wirkten doch Nietzsches Fragen 77 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
weiter, vor allem, seit der Jahrhundertwende, bei Ernst Troeltsch und Max Weber. Ernst Troeltsch war neben Adolf von Harnack der herausragende Repräsentant der sogenannten liberalen historischen Theologie um 1900. Unter ausdrücklichem Hinweis auf Nietzsche, den »großen geisteswissenschaftlichen Revolutionär des Zeitalters«, der »die Tafeln der bisherigen Werte zertrümmert« habe,24 hat Troeltsch seit Anfang unseres Jahrhunderts mit zunehmender Intensität über die Wirkungen des historischen und des historisierenden Denkens nachgedacht, über jenen historischen Skeptizismus und Relativismus, der »vor lauter Anempfindung an tausend gewesene religiöse Gefühle und Meinungen keinen Mut mehr zu eigenem Standpunkt gewinnt«.25 Diese Reflexionen über die Umwandlung der »Historie zum reinen Historismus«, zur »völlig relativistischen Wiedererweckung beliebiger vergangener Bildungen mit dem lastenden und ermüdenden Eindruck historischer Aller-Welts-Kenntnis und skeptischer Unproduktivität für die Gegenwart«,26 wurde mehr und mehr zum zentralen Problem der historisch-philosophischen Reflexion bei Ernst Troeltsch, wobei auch in diesen Zitaten deutlich wird, in welchem Maß dieser sich Nietzsches Stichworte zu eigen gemacht hat. Vor allem seit seiner Übersiedlung nach Berlin 1915 und im bewußten Erleben der inneren Krise des deutschen Reiches und des Zusammenbruchs von 1918, hat Troeltsch das Thema des Historismus in die Mitte seiner Arbeit gestellt und in seinem monumentalen Werk über den Historismus und seine Probleme 1922 umfassend dargestellt. Es sei auch auf die im selben Jahr erschienene pointierte Zusammenfassung der Fragen und Antworten in dem Aufsatz »Die Krisis des Historismus« hingewiesen.27 Der Historismus als »die erstliche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken« ist, wie Troeltsch feststellt, die »eigentümliche Denkform« der Moderne.28 Ihre Folgen sind zum einen der generelle Relativismus als Zerstörung aller Wertsysteme und »Wert-Selbstverständlichkeiten«29 und insbesondere die Krise der Historie, der Geschichtswissenschaft, welche zwei Dimensionen hat.30 Zum einen nämlich »die Aufrollung der erkenntnistheoretisch-logischen Probleme der Historie«, die Frage nämlich, wie sich »die vom denkenden Geiste nach seinen Gesetzen hervorgebrachte Ordnung zum wirklichen Wesen und Zusammenhang der Dinge selbst« verhält, wie weit der Historiker »das reale Geschehen überhaupt erfassen und wiedergeben« kann. Es geht also um »die peinigende Frage nach der Objektivität« der Historie, »nach ihrer Entsprechung mit dem wirklichen Verlauf« der Dinge.31 Diese Frage ist aufs engste verwoben mit dem Problem der »Erschütterung des ethischen Wertsystems sowohl in der Begründung als im sachlichen Inhalt«. Das Zerbrechen der alten Wertord78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
nungen sah Troeltsch sowohl als ein allgemeines Problem der Gesellschaft der Moderne als auch als ein Problem der Geschichtswissenschaft, der mit diesem Zerbrechen »das Steuer« entfiel, »mit dem sie den ungeheuren Lebensstrom befahren konnte«. Die Historie habe durch die ihr eigene umfassende Historisierung die Erschütterung der Werte angebahnt und sich damit zugleich jenes Leitfadens beraubt, von dem aus sie den Zusammenhang der Geschichte allein zu erfassen vermöge.32 Die Aufgabe, die sich Troeltsch stellte, war also, vom »Historisch-Relativen den Weg zu geltenden Kulturwerten« wiederzufinden33 und damit zugleich die Objektivität geschichtlicher Erkenntnis neu zu sichern; - oder umgekehrt, durch wissenschaftlich gesicherte Werterkenntnis Werte neu zu begründen. Dieses Unternehmen34 geht also den »Weg von der empirischen Historie, von der Geschichtslogik der tatsächlichen Forschung« hin zum »materialgeschichtsphilosophischen Ziel einer gegenwärtigen Kultursynthese«: die »Geschichtslogik ohne Konstruktion des universalen Prozesses ist ein Torso, lediglich eine logische Theorie der empirischen Historie; die Konstruktion ohne logisch gesicherte Empirie ist ein Haus ohne Fundament«. Diese materiale Geschichtsphilosophie soll dann einmünden in eine Ethik, sie hat eine »Mittelstellung zwischen empirischer Historie und Ethik«. Infolge solchen »Fortschreitens der Historie zur Ethik durch dieses geschichtsphilosophische Mittelglied hindurch« ist die »in ethischer Zukunftsgestaltung auslaufende Geschichtsphilosophie« auf empirischer Historie begründet; es geht um »die Konstruktion eines gegenwärtigen und die nächste Zukunftssicherung bestimmenden Kultursystems aus der Historie heraus«. Die »Praxis der Historiker« und ihr »Verkehr mit dem Gegenstand« haben demnach eine grundsätzliche Bedeutung. Troeltsch definiert den historischen Gegenstand durch den Begriff der »individuellen Totalität«, die »wegen ihrer noch eben bestehenden Übersehbarkeit und relativen Geschlossenheit aus dem Fluß des Geschehens herausgeschnitten werden kann«. Der Historiker folge dabei »einer in der Sache selbst liegenden Gliederungsmöglichkeit«. Die Objektivität dieser Erkenntnis ist schließlich für Troeltsch in zwei Momenten begründet, »einmal in einer aufmerksamsten, vorurteilslosesten Versenkung in die Tatsachen, in den ganzen Wirkungszusammenhang, dem wir angehören, und sodann in einer Herausbildung von Idealen dieses Kulturkreises aus dem tatsächlichen Leben«. Die Maßstabbildung, ja sogar »alle Maßstabbildung gegenüber historischen Dingen« entspringt insofern »aus dem eigenen Lebenszusammenhang, ist dessen Kritik und Weiterbildung zugleich«. Von daher gesehen lehnt Troeltsch deshalb einerseits Objektivität im Sinne von »Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit des Geltens« ab, weil das Denken zwar »in irgendeinem geheimen Bunde mit dem Realen stehen« müsse, »Einheit und Sinn des Ganzen« sich aber »nur ahnen und fühlen, nicht wissenschaftlich ausdrük79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ken und konstruieren« lassen. Andererseits gilt ihm der »Gottesgedanke, der als irgendwie vorausgesetzte Grundvorstellung der Dinge hinter allem Denken liegt«, als die Gewähr für die »zeitlose Unveränderlichkeit« der Maßstäbe. Und zugleich liegt der kulturphilosophischen Maßstabbildung auch die vorurteilsfreie empirische Erfassung der geschichtlichen Gegenstände in ihrer Übersehbarkeit und relativen Geschlossenheit zugrunde, besteht Objektivität also in der immer besseren Erfassung der dem Historiker vorgegebenen individuellen Totalitäten, seinen Gegenständen. Das Mittel, mit dem Troeltsch sich den Weg zu bahnen versucht, war also die Überwindung der Geschichte durch Geschichte (»Die Idee des Aufbaues heißt Geschichte durch Geschichte überwinden«).35 In diesem Sinne skizzierte Troeltsch seine Kultursynthese, deren Grundzüge das monumentale Buch von 1922 noch andeutet, während die Durchführung des Gedankens in einem zweiten Band nicht mehr veröffentlicht werden konnte. Kultursynthese meint bei Troeltsch eine Darstellung der Universalgeschichte als Universalgeschichte der europäischen Kultur in der Erläuterung ihrer Grundgewalten, des hebräischen Prophetismus, des Griechentums der Polis, des römischen Imperialismus und des Mittelalters, - und in der Herausarbeitung ihrer objektiven Periodisierung. Entscheidend war für Troeltsch dabei die Objektivität und Apriorität seiner Kultursynthese. Beide sind in der Tat als Voraussetzung der Überwindung von Geschichte durch Geschichte unabdingbar. Die erkenntnistheoretischen und philosophischen Grundlagen einer solchen Kultursynthese versuchte sich Troeltsch letztlich in der Verknüpfung von Identitätsphilosophie und klassischer Metaphysik zu schaffen. Der »Schlüssel« zur Lösung des Problems sei, so schreibt er, »die wesenhafte und individuelle Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste und eben damit die intuitive Partizipation an dessen konkretem Gehalt und bewegter Lebenseinheit«, in der Verbindung von »Erkenntnistheorie und Metaphysik«, von »konstruktiver Zusammendrängung des Gegebenen« und einem »Zuschuß des Glaubens an eine im Gegebenen sich offenbarende göttliche Idee, die alle Universalgeschichte trotz fast unmerklicher Übergänge von der empirischen Entwicklungsforschung doch wesentlich und grundsätzlich unterscheidet«. Die Erkenntnis der Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste wurzelt bei Troeltsch letztlich also in religiösen Überzeugungen, in dem »Glauben an die im Wirklichen durchdringenden Ideengehalte«.36 Drückt man Troeltschs Absicht in Nietzsches Begriffen aus, so könnte man sagen, man finde bei Troeltsch den Versuch, die Historie in den Dienst des Lebens zu stellen, dabei aber den Wissenschaftscharakter der Historie aufrechtzuerhalten und die Objektivität ihrer Erkenntnisse ausdrücklich zu begründen und zu behaupten. Troeltschs Ziel ist eine durch objektive Wissenschaft gewonnene Begründung von Werten für das Leben. Der
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Gedanke der Unendlichkeit, Nietzsches Definition der Geschichtswissenschaft als »Wissenschaft des universalen Werdens«, wird dabei notwendigerweise aufgegeben. Eben dieser Gedanke ist es aber, dem wir bei Max Weber wiederbegegnen, wo er, wie schon bei Nietzsche, zum Ausgangspunkt der Reflexion über Objektivitätsfrage und Wertproblem wird.
V Eine Kultursynthese, wie sie Troeltsch 1922 skizzierte, hat Max Weber schon 1904 in seiner Abhandlung über »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« ausdrücklich abgelehnt. Der »Gedanke, daß es das, wenn auch noch so ferne, Ziel der Kulturwissenschaften sein könne, ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte«, so erklärte Max Weber hier, sei »sinnlos«: »Es gibt keine schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens«.37 Denn einerseits ist, wie Max Weber erläutert, der Strom des Geschehens »endlos« und »unermeßlich«, und andererseits sind die Betrachtungsweisen des Geschehens immer wieder neue und andere: »immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen«. Deshalb bleibt »der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, ›historisches Individuum‹ wird«, stets flüssig; denn »es wechseln die Gedankenzusammenhänge, unter denen es betrachtet und wissenschaftlich erfaßt wird«, und zwar wechseln sie in unendlicher Vielfalt. »Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein«. Deshalb wäre »ein System der Kulturwissenschaften« im Sinne einer »definitiven, objektiv gültigen systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete ... ein Unsinn in sich«.38 Wir finden also hier, wie bei Nietzsche, als grundlegende Charakterisierung der historischen Erkenntnis den Gedanken der Unendlichkeit. Unendlichkeits-Charakter hat die Geschichtswissenschaft aber in doppelter Hinsicht: einmal im Blick auf die nach allen Seiten ins Unendliche gehende geschichtliche Wirklichkeit, im Hinblick auf den »endlosen Strom des unermeßlichen Geschehens«; zum anderen im Blick auf die Unendlichkeit immer neuer Aspekte, begrifflicher Prägungen und Fragestellungen, die durch den ständigen Wandel der Geschichte in einer jeweiligen Gegenwart und in der Vielheit möglicher Gegenwarten entwickelt bzw. gestellt werden können. Anders ausgedrückt: die Bildung der Begriffe hängt von der Stellung der Probleme ab, die Probleme aber wandeln sich mit dem Inhalt
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der Kultur, so daß sich daraus ebensowohl die Vergänglichkeit aller Synthesen als auch zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer Synthesen und immer neuer idealtypischer Konstruktionen ergibt.39 Mit dieser Auffassung stellt sich Max Weber bewußt auf den Boden der »auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnislehre«, in einem ebenso ausdrücklichen Gegensatz zur antik-scholastischen Erkenntnislehre, die, wie er schreibt, »der Masse der Spezialarbeiter der historischen Schule noch tief im Blute« stecke. Begriffe sind für Max Weber deshalb nicht »Abbilder der ›objektivem Wirklichkeit«, sondern »gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen«, »Mittel zum Zweck der Erkenntnis der unter individuellen Gesichtspunkten bedeutsamen Zusammenhänge«.40 Gerade aus der Einsicht in »die intensive Unendlichkeit alles empirisch gegebenen Mannigfaltigen«, in die »Unendlichkeit jedes konkreten Mannigfaltigen« ergibt sich, wie Weber scharf akzentuiert, »die absolute Sinnlosigkeit des Gedankens einer ›Abbildung‹ der Wirklichkeit durch irgendeine Art von Wissenschaft«. Wissenschaftliche Erkenntnis ist vielmehr stets eine Auslese unter spezifisch gesonderten Gesichtspunkten, und nur ein »vorkritischer Standpunkt der Betrachtung« kann diesen Sachverhalt verkennen, daß nämlich »die intensive Unendlichkeit alles empirisch gegebenen Mannigfaltigen« die Voraussetzung der in jeder empirischen Wissenschaft vollzogenen Stoffauslese darstellt.41 Weber geht also wie Nietzsche vom Gedanken der Unendlichkeit der Wissenschaft aus, und er gibt wie Nietzsche die Annahme einer Übereinstimmung von Erkenntnis und Sache (adaequatio intellectus et rei) preis. Freilich folgt Max Weber in seiner Ablehnung der Idee der ›Objektivität‹ im Sinne wahrer Wiedergabe von historischer Wirklichkeit Nietzsche nicht auch darin, daß nun wissenschaftliche Erkenntnis beliebig sei, d. h. daß sie bedingungslos dem Leben zu dienen und dessen Impulsen zu folgen habe. Im Gegensatz zu Nietzsche bezieht Max Weber vielmehr einen genuin kantischen Standpunkt, im Nachvollzug von Kants »Revolution der Denkart« nämlich, daß nicht die Erkenntnis den Gegenständen folgt, sondern vielmehr die Gegenstände der Erkenntnis folgen, daß die Gegenstände also Hervorbringungen der Erkenntnis sind.42 Mit den Worten Max Webers: »Nicht die ›sachlichem Zusammenhänge der ›Dinge‹, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaft zugrunde«.43 Die von der Erkenntnis hervorgebrachten Gegenstände sind jedoch nicht beliebige, sie sind nicht willkürliche Hervorbringungen, sondern sie beruhen auf empirischer Arbeit, d. h. auf der Arbeit am historischen Material. Wissenschaftliche Erkenntnis ist also Hypothesenwissen, ist Entwurfswissen, aber es handelt sich dabei um ein empirisch vorgehendes und empirisch gestütztes Entwurfswissen, wie Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« von 82 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
1787 mit der Metapher der ›Zweihändigkeit‹ der Erkenntnis und mit seiner Metapher vom Richter und vom Zeugen ausgedrückt hat.44 An diesem Punkt wird sehr deutlich, in welch fundamentaler Weise sich Webers Antwort auf Nietzsches Problemstellung von der eigenen Antwort Nietzsches und zugleich von der Antwort Troeltschs unterscheidet. Troeltsch selbst hat übrigens diesen Unterschied hervorgehoben, indem er die Grundlage seiner Kultursynthese von einem dezidiert vorkantischen Standpunkt aus bestimmte, also genau jenen von Max Weber in Frage gestellten »vorkritischen Standpunkt der Betrachtung« einnahm.45 Nach Troeltsch ist eine »logisch-methodische Begründung der Geschichtserkenntnis und eine Zusammenfassung der historischen Wirklichkeit zu den aus ihr hervorgehenden Zielgedanken und Kultursynthesen« nur möglich durch »Erkenntnistheorie und Metaphysik«, und »erst mit diesen beiden Fragen zusammen wird auch die nach den letzten metalogischen Einheitsgrundlagen der getrennten realwissenschaftlichen, logischen und sachlichen Gebiete lösbar sein«.46 Die von Weber vertretene kantianische »Lehre von der Erzeugung des Gegenstandes erst und nur durch das Denken« hielt Troeltsch für eine »unglückselige Verwirrung«, ja, für »vollends unerträglich«.47 Er zog es vor, sich an das zu halten, was er (sicher mit Recht!) als die »Praxis der Historiker« ansah, nämlich »im Verkehr mit dem Objekt und unter dem Zwang des Objekts die Anschmiegung der Erkenntnis und der Darstellungsform an den Fluß des Geschehens«.48 Oder anders und noch einmal mit den Worten von Troeltsch in der Beschreibung seines eigenen Verfahrens ausgedrückt: »Der historische Gegenstand in seiner konkreten Anschaulichkeit und kritischen Begründetheit bleibt immer derselbe, und man kann nur glauben, tiefer oder von anderen Seiten her in ihn einzudringen. Er bleibt auch in seinem Sinngehalt immer zunächst ein Ding für sich«.49 Für Troeltsch also folgt die Erkenntnis den Gegenständen. Die Objektivität beruht im Abbilden des der Erkenntnis vorgegebenen Gegenstandes, der immer derselbe ist und dem sich die Erkenntnis mit dem Ziel immer besserer, immer genauerer und immer tiefer eindringender Wiedergabe nähert. VI Aus Max Webers Position in der Objektivitätsfrage ergibt sich seine Stellungnahme in der von Nietzsche vorgegebenen Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Leben und damit seine Antwort auf die Frage nach dem Wertproblem. Max Weber greift Nietzsches Frage auf, aber er beantwortet sie anders. Er beantwortet sie nämlich nicht im Sinne der Über- und
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Unterordnung von Leben und Wissenschaft, sondern im Sinne einer Nebeneinanderordnung, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, das Thema im Hinblick auf die Unterscheidung wie auch im Hinblick auf die Verknüpfung beider Bereiche zu erörtern. Darüber hat sich Weber abschließend in seinem Vortrag »Wissenschaft als Beruf« von 1917/19 geäußert.50 Wissenschaft wird hier abermals vom Unendlichkeitsgedanken her definiert. Das »Gesetz« der Wissenschaft ist nicht »der Fortschritt«, sondern der »Fortschritt in das Unendliche«, was etwas anderes ist. Die Wissenschaft ist ein »ins Unendliche laufender Betrieb«, ihr Zweck ist deshalb geradezu das Veralten und Überholtwerden. »Wissenschaftlich ... überholt zu werden, ist ... nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck«.51 Das ›Leben‹ hingegen wird definiert als der Bereich der Werte, der Bereich des Urteilens, des Entscheidens und des Handelns, dessen Kennzeichen die Irreversibilität darstellt. Auf die entscheidende Lebensfrage - Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben? - kann die Wissenschaft deshalb keine Antwort geben. »Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar«.52 In sich gesehen ist die Wissenschaft deshalb sinnlos. Sie kann, wie Weber gerade im Blick auf die »historischen Kulturwissenschaften« und die Geschichtswissenschaft darlegt, weder ihren eigenen Sinn aus sich begründen, noch kann sie den Sinn ihrer Gegenstände darlegen, noch kann sie aus sich heraus die Frage beantworten, ob es überhaupt sinnvoll sei, von diesen Gegenständen etwas zu wissen.53 Deshalb ist die Wissenschaft auf das Leben, d. h. auf den Bereich der Wertsetzungen, des Entscheidens und des Handelns angewiesen. Wertsetzungen konstituieren wissenschaftliche Fragen, wissenschaftliche Fragen können nur durch Wertsetzungen konstituiert werden. Denn, wie Weber schon 1904 in seinem Objektivitätsaufsatz darlegte, nur durch »die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen« ist es möglich, aus jener absoluten Unendlichkeit des Geschichtlichen überhaupt etwas herauszuheben und als eine »historische, d. h. eine in ihrer Eigenart bedeutungsvolle Erscheinung« zu erkennen.54 Die Erkenntnis der »Lebenserscheinungen in ihrer Kulturbedeutung« setzt die »Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen« voraus.55 Das Entscheidende dabei ist, daß »der Gedanke einer Erkenntnis individueller (d. h. historischer) Erscheinungen« nur durch die Voraussetzung überhaupt logisch sinnvoll wird, »daß ein endlicher Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen allein bedeutungsvoll sei«.56 Daraus folgt Webers abschließende Feststellung, die sich 1904 gewissermaßen vorwegnehmend gegen Troeltschs Kultursynthese wendet: »Es gibt keine schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder ... der sozialen Erscheinungen‹ unabhängig von speziellen und ›einseitigen‹ Gesichtspunkten, nach denen sie ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt - als Forschungsobjekt auswählt, analysiert und darstellend gegliedert werden«.s7 84 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Die Nebeneinanderordnung von Wissenschaft und Leben bedeutet also die Unterscheidung der Bereiche. Dabei aber bleibt es nicht. Vielmehr folgt der Feststellung der Unterscheidung sogleich die Frage nach ihrer Verknüpfung. Daraus ergeben sich zwei Richtungen der Argumentation, die sich mit »Stoffhubern« und mit »Sinnhubern« auseinandersetzt. Gegen die vorgeblich objektive Wissenschaft, die ihre Objektivität im Sinne des Abbild e n s oder im Sinne der Rekonstruktion von historischer Wirklichkeit nur behaupten kann, weil ihr noch nicht deutlich wurde, daß sie unbewußt und von stillschweigend vorausgesetzten Wertsetzungen her arbeitet und nur arbeiten kann, setzt Weber den Hinweis auf die Verknüpfung beider Bereiche, d. h. die These der Konstituierung wissenschaftlicher Erkenntnis durch Wertsetzungen. Den bloßen »Stoffhubern« mit ihrem »tatsachengierigen Schlund« hält Weber also die Desillusionierung der »naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten« entgegen, »der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt«.58 Gegen die »Sinnhuber« dagegen, die die Bereiche der Wissenschaft und des Lebens vermischen und die Wissenschaft mit Gesinnungen überschwemmen,59 akzentuiert Weber die Unterscheidung von Wissenschaft und Leben und betont die Bedeutsamkeit der oft nur »haarfeinen Linie«,60 die Wissenschaft und Wertsetzungen, Wissenschaft und Glauben scheidet. Daraus ergibt sich Webers neue Definition von ›Objektivität‹ im Sinne ihrer Konstituierung durch Werte, bei gleichzeitiger Beachtung der Grenze zwischen Werturteil und wissenschaftlichem, d. h. empirisch begründetem Urteil. »Die objektive Gültigkeit alles Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, daß die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzung unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes derjenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag«. Die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis erweist sich also in der intellektuellen Redlichkeit, mit der über die Wertsetzungen reflektiert wird, die der Konstituierung wissenschaftlicher Gegenstände zugrunde liegen. Und Max Weber fügt hinzu: »Wem diese Wahrheit nicht wertvoll ist, ... dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten«.61 Mit dieser Bestimmung seiner Position hat Max Weber auch einen Beitrag geleistet zur Lösung der zuerst von Nietzsche umfassend reflektierten, dann von Troeltsch historisch wie systematisch mit großer Intensität bearbeiteten Probleme des Historismus und des Relativismus. Die historische Wissenschaft ist auch nach Max Webers Auffassung in der Tat die 85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
»Wissenschaft des universalen Werden« und sie bleibt es. Sie soll aber, im Gegensatz zu Nietzsches Forderung, deshalb nicht eliminiert werden. Weber sucht die Lösung des Problems nicht in der Beseitigung der unendlichen Wissenschaft, sondern in der Begrenzung der Reichweite dieser Wissenschaft und damit in der Beschränkung der Tragfähigkeit ihrer Ergebnisse. Das Grundthema der Wissenschaftstheorie Webers ist deshalb die Feststellung der Grenze des wissenschaftlichen Wissens. Darin liegt die Bedeutung dieser Reflexion auch und gerade am Ende des 20. Jahrhunderts. Webers Reflexion über die Grenzen der Wissenschaft durch ihre Unterscheidung vom Bereich des Lebens hat gegenüber den Vorschlägen von Troeltsch und von Nietzsche große Vorzüge. Denn gegenüber Troeltsch behauptet Max Webers Begriff der Wissenschaft die Gültigkeit von Wissenschaft zwar in ihren Grenzen, aber auch in ihrer Autonomie, ohne die Bemühung von Metaphysik. Gegenüber Nietzsche betont Max Webers Bestimmung von Wissenschaft deren Recht auf Eigenständigkeit, deren Selbständigkeit ohne Unterwerfung unter die Bedingungen des Lebens. Indem Nietzsche von der Historie forderte, ihren Wissenschaftscharakter aufzugeben, suchte er eine Alternative zur ›objektiven Wissenschaft‹, um das Leben von deren Herrschaft zu befreien. Troeltsch hingegen ging es darum, eben diese ›objektive Wissenschaft‹ zu retten, indem er ihre Objektivität neu begründete und zugleich die Rettung der Werte durch diese Wissenschaft zu sichern vermeinte. Max Weber hingegen skizzierte eine alternative Wissenschaft, die sich ihrer Grenzen bewußt ist, weil sie den Objektivitätsanspruch im Sinne des Abbildens historischer Wirklichkeit aufgegeben hat und dadurch die Autonomie des Lebensbereiches wie der Wissenschaft selbst zu sichern und zugleich die Reflexion über die Verknüpfung beider aufzunehmen bereit ist. VII Erst in dem unmittelbar zurückliegenden Jahrfünft hat die Forschung näher erfaßt, in welchem Maße Max Weber sich Fragen Nietzsches zu eigen gemacht hat.62 Vor allem W. Hennis hat jüngst auf »die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers« aufmerksam gemacht,63 auf die Tatsache nämlich, daß es ausdrückliche Bezugnahmen oder gar Auseinandersetzungen mit Nietzsche im gesamten Werk Webers zwar nur wenige gebe, daß also Nietzsche hier im wesentlichen ein »stummer Gast« sei, daß es aber gleichwohl eine »ganz grundsätzliche ›Einstimmung‹, ›Inspirierung‹ Webers durch das Epochenbewußtsein und die Frageweise Nietzsches« gebe, daß es im ganzen Werk Webers »›Fragestellungen‹, Probleme, die ›feinen Gedanken‹ und ›Konstruktionen‹« gebe, die Weber von Nietzsche über86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
nahm und in die »für ihn brauchbaren Fragestellungen und Idealtypen umgoß«. Von den wichtigsten Prägungen durch Nietzsche, die sich im Werk Webers erkennen lassen, nannte Hennis u. a.64 Nietzsches NihilismusDiagnose, aus der Weber »die radikalsten wissenschaftlichen Konsequenzen« gezogen habe, ferner die »idealtypische Stilisierung des Christentums auf die akosmistische Liebes- und Brüderlichkeitsreligion der Bergpredigt«, die Auffassung des Lebens als Kampf und anderes. Man wird diesen Prägungen durch Nietzsche die (bei Hennis nicht genannte) Grundfrage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Leben an die Seite stellen dürfen. Diese Frage hatte freilich schon vor Nietzsche eine längere Tradition, die bis ins ausgehende 18. Jahrhundert reicht und von Lessing und Kierkegaard repräsentiert wird. Lessing erörterte sie 1777 in seiner Schrift »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« in der Unterscheidung von »zufälligen Geschichtswahrheiten« und »notwendigen Vernunftswahrheiten«, wobei jene niemals der Beweis für diese werden können. »Wenn keine historische Wahrheit demonstrieret werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriert werden«. Somit öffnet sich zwischen den historischen Wahrheiten und der »ganz anderen Klasse von Wahrheiten« der »garstige breite Graben«, den es im »Sprung« zu überwinden gilt, - oder auch nicht.65 Dasselbe Thema, und wiederum im Hinblick auf den »Sprung«, erörtert Kierkegaard 1844 in seinen »Philosophischen Brokken«. Dieser Schrift stellt Kierkegaard als Motto die Frage voran, ob es »einen historischen Ausgangspunkt für ein ewiges Bewußtsein geben«, ob man »eine ewige Seligkeit auf ein historisches Wissen bauen« könne. Kierkegaard verneinte diese Frage. Denn das Gewordene sei das NichtNotwendige: »Kein Werden ist notwendig, nicht ehe es wurde, denn dann kann es nicht werden; nicht nachdem es geworden ist, denn dann ist es nicht geworden«. Alles was geworden ist, ist aber »eo ipso historisch«. Das »entscheidende Prädikat des Historischen« ist für Kierkegaard also: »daß es geworden ist«. Alles Vergangene »ist nicht notwendig, da es geworden ist; es wurde nicht notwendig dadurch , daß es wurde (ein Widerspruch), und wird noch weniger notwendig durch das Verstehen von irgend jemand«.66 Von diesen Feststellungen Kierkegaards führt ein direkter Weg zu Nietzsches Definition der Geschichtswissenschaft als der Wissenschaft des universalen Werdens, die dem Leben keine festen Orientierungen bieten kann. Auch Ernst Troeltsch hat in seinem Historismus-Buch von 1922 unter wiederholtem Hinweis auf Kierkegaard das Thema des »Sprungs« erörtert, »durch den wir in eigener Entscheidung und Verantwortung aus der Vergangenheit in die Zukunft gelangen«; »der Sprung bleibt das Entscheidende«, wenn das Ziel darin besteht, eine »gewissenhaft erwogene, freie Synthese aller lebendigen Kulturkräfte« zu erstellen.67 In seinem Essay über
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»Die Wissenschaftskrisis. Zu den grundsätzlichen Schriften Max Webers und Ernst Troeltschs« von 1923 hat Siegfried Kracauer jedoch treffend bemerkt, daß Troeltsch »den Sprung in Wahrheit gar nicht vollführt. Kierkegaard, sein Kronzeuge, springt wirklich; ohne wie Troeltsch durch ›wissenschaftlich-historischc Selbstbesinnung‹ seiner Intuition ›innere objektive Notwendigkeit‹ sichern zu wollen, entschließt er sich dazu, die Paradoxie, daß das Ewige einmal in die Zeit eingetreten ist, gerade um ihrer Absurdität willen anzunehmen, und springt so freilich mitten in das Absolute hinein. Damit hat er aber den archimedischen Punkt außerhalb des historischen Prozesses gefunden, und nichts brächte ihn mehr dazu, gleich Troeltsch das ergriffene Absolute wieder in die Geschichte einzusenken, um es derart von neuem zu relativieren«.68 Troeltsch sei, wie Kracauer nicht ohne Ironie feststellt, gewissermaßen »nur so ein wenig« gesprungen, um dann »mit Hilfe der glücklich ersprungenen Wertmaßstäbe jene selbe geschichtsphilosophische Spekulation wieder aufzunehmen, der er gerade durch seinen Sprung entkommen wollte«. Troeltsch habe beides gewollt: »Aus dem Relativismus herausspringen und zugleich als Wissenschaftler im Bedingten verharren und Geschichte treiben«. Es sei ihm dabei aber entgangen, »daß mit dem Eintritt in die Beziehung zum Absoluten sofort der Historismus unmöglich wird, und daß umgekehrt dort, wo dieser statthat, sich unweigerlich der Zugang zum Absoluten verschließt«. Das habe Troeltsch schließlich zu dem »leidigen Kompromiß« geführt, »Wertmaßstäben und Kultursynthesen, die aus der Geschichte herausgeholt und in die Geschichte eingebettet werden, nur um ihres stattlicheren Aussehens willen hinterher noch eine absolute Bedeutung anzuschminken«.69 Eben diesen leidigen Kompromiß aber habe Max Weber abgelehnt: »Der Sprung zum Absoluten, so urteilt er (sc. Weber), hierin tiefer, weil radikaler als Troeltsch, ist ein Sprung, der über den Abgrund hinweg in den Bereich des Glaubens und damit aus dem Bereich der Wissenschaft herausführt«.70 Mit seiner in dem Vortrag »Wissenschaft als Beruf« getroffenen Feststellung, daß »die Spannung zwischen der Wertsphäre der ›Wissenschaft‹ und der des religiösen Heils unüberbrückbar« sei,71 sei Weber gewissermaßen ein »Kierkegaard mit umgekehrtem Vorzeichen«.72 In der Tat: Webers Thema ist gerade nicht die Reflexion über die Notwendigkeit des Sprungs, sein Thema ist vielmehr die Reflexion über die feine Linie, die Wissenschaft und Leben trennt und über die Grenzen der immanenten unendlichen Wissenschaften hinaus den Blick freigibt auf andere Bereiche außerhalb jenes Bereiches wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Erkenntnis der Grenzen der Wissenschaft beruht bei Max Weber, wie oben erörtert, auf der Einsicht in den Unendlichkeits-Charakter des wissenschaftlichen Denkens. In der immanenten Unendlichkeit der Wissenschaft liegen die Gründe für ihre Begrenztheit. Die Erkenntnis der Grenzen der 88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Wissenschaft gegenüber anderen Bereichen bedeutet aber zugleich auch die Einsicht in die Berechtigtheit jener anderen Bereiche, des ›Lebens‹ als dem Bereich des Entscheidens und Handelns, oder der Kunst und der Religion, gleichgültig, ob man diese nun betreten möchte oder nicht. Die Reflexion über alle diese Themen ist bei Max Weber in der Tradition der europäischen Wissenschaftsphilosophie und der Theorie wissenschaftlicher Erkenntnis verwurzelt, weit über den Beginn der Moderne zurück, in jener Tradition der Reflexion über Wissenschaft nämlich, die im Nominalismus des Spätmittelalters begründet ist und die in der Erkenntnistheorie Kants am Ende des 18. Jahrhunderts ihre für die Moderne repräsentative und konstitutive Zusammenfassung erfahren hat.73 Auf diese Wurzeln hat Max Weber selbst deutlich genug hingewiesen.74 Die Erkenntnis der Unendlichkeit der wissenschaftlich erfahrbaren Welt hat bereits in dieser älteren Tradition zur Reflexion über die Grenzen der Wissenschaft geführt, die sich in der Definition der Wissenschaft als einer ›docta ignorantia‹ (Nikolaus von Kues), als einer ›ignorance savante‹ (Pascal), d. h. einer wissenden Unwissenheit ausdrückt.75 Als unwissend erkennt sich diese Art von Wissenschaft, weil sie weiß, daß sie keine adäquate Wiedergabe der Wirklichkeit zu geben vermag. Zugleich aber darf sich diese Wissenschaft in ihrer Unwissenheit eine wissende nennen: einerseits weil sie ihre Grenze erkennt, andererseits weil sie sich in dem ihr zugänglichen unendlichen Bereich endlichen und regionalen Wissens systematisch bewegt und voranarbeitet. Im Zuge dieser Reflexion über die Grenzen der Wissenschaft taucht deshalb auch der für Max Weber zentrale Gedanke der Mehrheit der Bereiche auf, zuerst wohl im Nachweis Wilhelm von Ockhams, daß Theologie keine Wissenschaft sei, und in seiner Preisgabe der Metaphysik und der Abbildlehre,76 später abermals in Pascals Reflexion über die Ordnungen des ›Esprit de géométrie‹ und des ›Esprit de finesse‹, die ihrer Grundstruktur nach dem entsprechen, was Max Weber als ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ definiert und unterschieden hat.77 Max Webers Thema im Bereich der Theorie wissenschaftlicher Erkenntnis ist die polare Spannung zwischen Wissenschaft und Leben, wobei auf die Unterscheidung wie auf die Verknüpfung der beiden Bereiche geachtet wird. Die Definition von Wissenschaft und Leben im Sinne dieser polaren Spannung erlaubt es ihm, die von Nietzsche 1874 gebieterisch aufgeworfene Frage in einer Weise zu beantworten, deren große Vorzüge heute vielleicht noch viel stärker als zu Max Webers Zeit empfunden werden und deren Gehalt gleichwohl noch nicht ausgeschöpft ist. Denn dieser Ansatz Webers unterwirft weder die Wissenschaft dem Leben noch das Leben den Erkenntnissen der Wissenschaft. Die Unterordnung der Wissenschaft unter das Leben war Nietzsches Forderung. Sic ist aber auch impliziert in Diltheys Reflexion zur Kritik der historischen Vernunft und über das 89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Problem des Historismus und Relativismus. Denn für Dilthey war wie für Nietzsche das Leben selbst das Fundament der Erkenntnis, das jeglicher Erkenntnis vorausliege: »Leben ist das Erste und immer Gegenwärtige, die Abstraktionen des Erkennens sind das Zweite und beziehen sich nur auf das Leben«.78 Die Unterordnung des Lebens unter die Wissenschaft hingegen war das Ziel von Troeltschs Kultursynthese, insofern diese zwar einerseits ihre Maßstäbe aus den Lebenszusammenhängen bezog, andererseits aber auch dem Leben wissenschaftlich begründete Wertsetzungen vorlegte, um damit die Folgen des Historismus, nämlich den Relativismus und den Verlust aller »Wert-Selbstverständlichkeiten« zu überwinden. Der Forderung nach der Unterordnung des Lebens unter die Erkenntnisse der Wissenschaft begegnet man aber auch sonst und noch heute überall dort, wo der Anspruch auf absolute, objektive Erkenntnis behauptet wird, so etwa im »marxistisch-leninistischen Historismus«, der nach W. Küttler und G. Lozek »die konkrete geschichtliche Forschung, die Erforschung der vielfältigen, unwiederholbaren Ereignisse untrennbar verknüpft mit der Aufdeckung und Untersuchung der Struktur- und Entwicklungsgesetze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das ist nur möglich auf der Grundlage der materialistischen Dialektik als der umfassenden und universellen Methode der Erkenntnis der objektiven Realität, in der die historische und die logisch-systematische Analyse von Natur und Gesellschaft eine untrennbare Einheit bilden«.79 Auf der Grundlage dieses »wissenschaftlich begründeten materialistischen Historismus«80 wird Kritik geübt am sogenannten »bürgerlichen Historismus« gleich welcher Prägung, an dessen theoretisch-weltanschaulicher Grundposition, vor allem aber an dessen »Subjektivismus«, der »den gesetzmäßigen Charakter des geschichtlichen Gesamtprozesses« leugne.81 Auch gegen Max Weber richtet sich diese Kritik; etwa gegen seinen Begriff der Objektivität, der in der Tat ausdrücklich auf den Anspruch absoluter Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit verzichtet und die Existenz objektiv erkennbarer Realität leugnet, was zum Vorwurf gemacht wird.82 Ein anderer Punkt der Kritik ist, daß Weber im Unterschied zu Marx »über keinen zufriedenstellenden Rahmen für eine Analyse der Weltgeschichte« verfügt habe,83 daß seine Wissenschaft überhaupt »das Ganze« nicht zu erkennen erlaube und er somit »nicht nur hinter Marx, sondern auch hinter Hegel« zurückgefallen sei.84 Diese Feststellung ist richtig, als Vorwurf geht sie jedoch ins Leere, weil Max Weber den Anspruch auf objektive Erkenntnis im Sinne der Abbildung historischer Realität nie erhoben sondern vielmehr ausdrücklich zurückgewiesen hat, und weil er den Rahmen einer Analyse der Weltgeschichte im Sinne umfassender universeller und objektiver Realität nicht erstellen wollte. So unverkennbar die ideologischen oder historischen Bedingtheiten der Arbeiten Max Webers auch sein mögen, so sehr er auch 90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
wie übrigens jeder Forscher - an die »Voraussetzungen seiner Zeit und seiner Klasse«85 gebunden gewesen sein mag, sein Verzicht auf absolute Erkenntnis und sein Hinweis auf die Grenzen der Wissenschaft resultieren nicht aus solchen ideologischen und historischen Bedingungen der Zeit um 1900, sondern aus wissenschaftsphilosophischen Erwägungen, die in der Tradition des europäischen Rationalismus ihre Wurzeln haben und deshalb über die Objektivismen des 19. Jahrhunderts, seien sie nun positivistisch, idealistisch oder materialistisch begründet,86 weit hinausgreifen. Von der Grundlage dieses Weberschen Kritizismus87 her wird man allerdings fragen müssen, welches denn die erkenntnistheoretischen Prämissen jenes »marxistisch-leninistischen Historismus« sind, der mit »vertrauensvoller Sicherheit«88 absolute und universell gültige wissenschaftliche Erkenntnis geben zu können behauptet. VIII Auf die von Nietzsche aufgeworfenen Fragen nach dem Wertproblem und der Objektivitätsforderung historischer Erkenntnis im Zeichen des Historismus als der universalen Historisierung, im Zeichen der modernen Geschichtswissenschaft als der »Wissenschaft des universalen Werdens«, liegen also drei typische Antworten vor. Nietzsche selbst forderte die Unterwerfung der Historie unter das Leben, den Verzicht auf den Wissenschaftscharakter der Historie und damit die Bestimmung der Historie ausschließlich durch lebensmäßige Wertsetzungen, über die keine Rechenschaft abzulegen ist. Das hat zur Folge, daß jegliches historisches Urteil dieser Art einem totalen Ideologieverdacht ausgesetzt sein muß. Troeltsch versuchte im Rekurs auf vorkritische philosophische Positionen und mit Hilfe metaphysischen Denkens, die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis im Sinne der immer besseren Abbildung eines ›Gegenstandes‹, im Sinne von adäquater Wiedergabe historischer Wirklichkeit neu zu begründen, eine wissenschaftliche Erkenntnis zugleich, die ihrerseits Werte zu begründen und dadurch dem Leben zu dienen imstande sein sollte. Das Problem einer solchen Unternehmung lag allerdings in der Tragfähigkeit dieser Wissenschaft, die zwar als eine empirische verstanden wird, zugleich aber die grundsätzliche Behauptung des von Kant zusammengefaßten älteren Rationalismus beiseiteschiebt,89 daß »die Gegenstände der Erfahrung niemals an sich selbst, sondern nur in der Erfahrung gegeben« sind und »außer derselben gar nicht« existieren.90 Gegen Troeltschs auf Empirie und Metaphysik zugleich gestützte objektive Wissenschaft mußte deshalb der ideologiekritische Einwand laut werden, nichts zu sein als ein »Ausläu91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
fer, oder vielmehr Abhub säkularisierter theologischer Begriffe und traditioneller Metaphysik mit der Evolutionsidee als Dreingabe«.91 Max Webers Ansatz der Unterscheidung und zugleich der Verknüpfung von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ definiert die historische Erkenntnis von der Unendlichkeit ihres Beobachtungsfeldes und von der Unendlichkeit möglicher Fragestellungen. Dies nötigt ihn zur Preisgabe der Annahme von Objektivität im Sinne von absoluter Erkenntnis oder Abbildung der Wirklichkeit und zwingt ihn zu der Feststellung, daß lebensmäßige Wertsetzungen für die Konstituierung wissenschaftlicher Erkenntnis unabdingbar sind, weil nur durch sie ein Ausschnitt aus der Unendlichkeit möglicher Gegenstände erzielt werden kann. Wissenschaftliche Erkenntnis ist also notwendig ausschnitthaft und niemals universal oder absolut. Objektivität muß deshalb anders bestimmt werden. Max Weber bestimmt sie als Reflexion über jene die Erkenntnis konstituierenden Wertsetzungen, er definiert sie als reflektierte, als bewußte Subjektivität. Es geht darum, in »intellektueller Rechtschaffenheit« sich und anderen Klarheit zu verschaffen und Rechenschaft zu geben über das eigene Tun.92 »Selbstbesinnung« und »Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge« sind aufeinander zugeordnet und bedingen einander wechselseitig.93 Diese Definition wissenschaftlicher Objektivität schließt zwar eine universale Kompetenz der Wissenschaft aus; diese wird der von ihr oft behaupteten Allmacht entkleidet; die berühmte Devise ›Scientia est potentia‹ wird verworfen. Dies bedeutet aber nicht den Verlust der Eigenständigkeit der Wissenschaft und ihrer Dignität. Gerade diese Erkenntnis der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis soll vielmehr zur Wahrnehmung ihrer Dignität führen. Die Tragweite der Wissenschaft ist zwar begrenzt, darin aber begründet sie ihre Eigenständigkeit. Mit dieser Definition des Charakters moderner Wissenschaft hat Max Weber den wohl entscheidenden Beitrag zur Theorie der modernen Wissenschaft als Forschung geleistet.94 Es ist eine Theorie der Forschung, die es erlaubt, die großen Fragen der Geschichtswissenschaft zu diskutieren, »ohne von der Empirie einfach abzuheben, intellektuell spannend und empirisch diszipliniert zugleich, über weltanschauliche und politische Grenzen hinweg, aber ohne diese einzuebnen oder zu leugnen«.95 Weber hat damit zugleich auch einen entscheidenden Beitrag geleistet zur Auseinandersetzung mit den Problemen des modernen Historismus und seiner Folgelast, dem Relativismus, - im allgemeinen ebensowohl wie im Hinblick auf die Wissenschaft selbst. Der Historismus der Moderne entspricht der Struktur moderner Wissenschaft, so wie sie Weber skizziert hat. Die universale Historisierung repräsentiert die Unendlichkeit der Wissenschaft, die eben dieser ihrer Unendlichkeit wegen der Wertsetzungen des ›Lebens‹ bedarf. Aber die Geschichtswissenschaft als »Wissenschaft des universalen 92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Werdens« vernichtet diese Werte nicht, weil diese jenseits der durch ihre Unendlichkeit begrenzten Wissenschaft liegen. Freilich kann man fragen, ob der Historismus heute überhaupt noch ein Problem darstellt. Th. Schieder hat diese Frage verneint: »Der Historismus in seiner alten Form ist untergegangen«,96 stellte Schieder 1965 fest. Ebenso äußerte sich unlängst H. Gollwitzer: der Historismus sei eine »abgeschlossene Größe«, er gehöre »der Geschichte an«; eine »aktuelle Herausforderung« stelle er jedoch nicht mehr dar.97 Diese These kann durch einen Blick auf gegenwärtige Befunde und Kontroversen leicht in Frage gestellt werden.98 »Die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend«, - so hat W. Dilthey 1903 das Grundthema des modernen Historismus benannt,99 und sein Denken kreiste immer wieder um das Problem des Historismus und bedachte seine Konsequenz, metaphorisch ausgedrückt: »das Messer des historischen Relativismus, welches alle Metaphysik und Religion gleichsam zerschnitten hat«.100 Dieses Gefühl des unendlichen ›Fließens‹, der »moderne Heraklitismus« (G. Simmel),101 hat die Frage nach dem Sinn der Wissenschaft, nach den Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis, nach der Objektivität, nach der Vermittlung von Werturteil und Erkenntnisurteil, von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ zu einer Grundfrage gemacht, die vor allem in jener Zeit der Krise der historischen Erkenntnis in den Jahren von 1880 bis 1930 aufs intensivste erörtert wurde.102 Die Antworten auf das Problem sind noch immer die gleichen. Man kann, wie Kierkegaard, im »Sprung« dem unendlichen Fluß des Werdens sich zu entziehen, im »Sprung« einen »archimedischen Punkt« zu erreichen suchen,103 wie immer er im einzelnen auch beschaffen sein mag. Man kann auch, Nietzsche und Dilthey folgend, davon ausgehen, daß das Leben der Erkenntnis vorausgeht und deshalb auch ihr Fundament sein müsse. Man kann, wie E. Troeltsch oder wie Max Scheler104 versuchen, mit den Mitteln der Wissenschaft objektive Erkenntnis zu begründen und durch Wissenschaft einen »archimedischen Punkt« zu gewinnen,105 was allerdings ohne die Hilfe von Metaphysik nicht zu gelingen scheint. Man kann mit den Mitteln des sog. »marxistisch-leninistischen Historismus«106 universale und absolut gültige historische Erkenntnis behaupten, ohne daß diese im einzelnen begründet wird. Man kann aber auch, im Sinne von Max Webers Kritizismus,107 die polare Spannung zwischen Wissenschaft und Leben, zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Werterkenntnis im Zeichen der Vielheit der Bereiche und im Verzicht auf die Unterwerfung des einen unter den anderen aufrechterhalten und darin die Kriterien für die Arbeit an diesem Problem suchen. Webers Standpunkt des Kritizismus verzichtet auf den Allmachts-Gestus 93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
der Wissenschaft, ohne deshalb die Würde der Wissenschaft preiszugeben. In der Vielzahl möglicher Standpunkte gewinnt Webers Kritizismus sein ihm eigenes Gewicht daraus, daß er sich auf die Tradition des europäischen Rationalismus bezieht, den er in der Anknüpfung an Kants Wissenschaftsphilosophie erreicht. Er überspringt damit die Objektivismen des 19. Jahrhunderts, den Positivismus ebenso wie den Materialismus und den von Humboldt und Ranke begründeten Idealismus.108 Die Bedeutung dieses Rückgriffs und diese Erneuerung des Kritizismus in der Theorie der historischen Erkenntnis durch Max Weber wird auch daran sichtbar, daß diese Ablehnung des Objektivismus und aller Abbildungstheorien im Bereich der sozialwissenschaftlichen und der historischen Erkenntnis ihre überaus deutliche Entsprechung in der Theorie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gehabt hat,109 deren Wirkung offenkundig ist und unvermindert anhält.110
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4. Meineckes Historismus Über Kontext und Folgen einer Definition
Im Folgenden geht es nicht nur um Friedrich Meineckes Begriff von ›Historismus‹. Vielmehr stehen im Hintergrund dieser Überlegungen zugleich zwei Fragen grundsätzlicher Art, nämlich erstens die Frage, was Historismus ist. Und zweitens die Frage, ob es sich lohnt, zu wissen, was Historismus ist.1 Ich erörtere diese Fragen in einem wissenschaftsgeschichtlichen Vorgehen, das freilich auch die Gegenwart im Blick hat. Dabei betreibe ich nicht Begriffs- oder Wortgeschichte. Dies ist ja schon gemacht worden.2 Was mich interessiert, ist die spätestens seit den 1880er Jahren auch von dem Wort ›Historismus‹ repräsentierte Problem-Geschichte, die eine zentrale und signifikante Problem-Geschichte der Moderne ist. Sie hat vom Beginn des 19. Jahrhunderts an wohl zuerst die Kunst-Theorie und dann zunehmend alle Kulturwissenschaften - freilich in sehr unterschiedlicher Weise affiziert. Problem-Geschichten dieser Art sind niemals bloß wissenschaftsimmanent zu begreifen. Vielmehr sind sie vor allem in lebensweltlichen Kontexten verankert und haben dort ihren Ursprung. Deshalb lassen sie sich auch nicht als bloße Fortschrittsgeschichten darstellen, als lineare Verläufe vom Unzulänglichen zum immer Besseren. Vielmehr weisen solche Problemgeschichten auch Verluste an wissenschaftlicher Erkenntnis auf, sie zeigen wissenschaftliche Umwege oder gar Abwege, die geschichtlich bedingt und geschichtlich vermittelt sind. Meine These ist, vorweg und in Kürze gesagt, daß die deutschen Historiker aus der Problem-Geschichte des Historismus in der Moderne längst ausgestiegen sind, daß der Historismus der deutschen Historiker von heute deshalb mit dieser Problem-Geschichte nichts oder nur noch wenig zu tun hat, obwohl diese Problem-Geschichte keineswegs beendet ist - im Gegenteil. Dieser Ausstieg ist eine Folge der Neudefinition des Historismus durch Friedrich Meinecke, seit dem Beginn der zwanziger Jahre und vor allem dann mit seinem großen Buch über »Die Entstehung des Historismus« von 1936.3 Dieser Neudefinition bleibt man auch dann verpflichtet, wenn man ihre Ergebnisse, für sich genommen, negativ beurteilt. Auch die seit 1968,
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nämlich seit Georg Iggers' Buch »The German Conception of History«, und dann rasch zunehmend vorgenommene negative Bewertung von Meineckes Historismus4 hat nicht zur Aufhebung des von Meinecke beschrittenen Sonderwegs geführt, sondern hat diesen vielmehr bestätigt. Es kam zur Bildung eines epistemologischen Paars streitiger Positionen. Solche epistemologischen Paare im Streit bleiben ja, obwohl sie sich wechselseitig kontradiktorisch verstehen und wechselseitig ausschließen wollen, immer auf etwas Gemeinsames bezogen, das sie im Streit ständig neu affirmieren. Wenn man aus einer solchen Lage herauskommen will, dann hilft nur eine konsequente Historisierung. Ich werde also Meineckes Historismus historisieren. Anlaß dazu gibt es um so mehr, als die Historiker in ihrem Pro und Contra zu Meineckes Historismus schon längst in einen seltsamen Gegensatz geraten sind zu den Historismus-Debatten anderer Kulturwissenschaften, was die Historiker, wie es scheint, bisher noch nicht wahrgenommen oder zumindest noch immer nicht reflektiert haben. Diese Überlegungen beginnen also zunächst, in den beiden ersten Abschnitten, mit einigen Blicken auf die gegenwärtigen Diskussionen in den Kulturwissenschaften: bei Historikern einerseits, bei Philosophen und Theologen, bei Literaturwissenschaftlern und Kunsthistorikern andererseits. Sehr schnell ist dabei zu erkennen, daß es in den Kulturwissenschaften im ganzen heute zwei Diskussionen über Historismus gibt, die zwar in manchem interferieren, aber doch sehr distinkt geführt werden und sich nur scheinbar auf einen Gegenstand beziehen. Vielmehr geht es hier um sehr verschiedene Gegenstände, die freilich beide ›Historismus‹ genannt werden.
I. Historikerstreit über Historismus Bei Historikern begegnet man der Auffassung, daß es sich bei ›Historismus‹ um eine Form von Geschichtswissenschaft und Geschichtserkenntnis handelt, die um 1800 und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. So definierten Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen jüngst Historismus als »eine bestimmte Weise des historischen Denkens und eine ihr entsprechende Konzeption von Geschichtswissenschaft«, nämlich ein Denken, »dem es um die Erkenntnis der Eigenart vergangener Zeiten im Unterschied zur Gegenwart und dem es zugleich um einen übergreifenden Zusammenhang verschiedener Zeiten geht«, deren Aufeinanderfolge als eine »einheitliche und durchgängige Entwicklung eigentümlicher menschlicher Lebensformen« aufgefaßt werde. Die leitenden Kategorien des Historismus seien deshalb »Individualität« und »Entwicklung«, womit die beiden Autoren 96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
auf Meineckes Buch über die Entstehung des Historismus von 1936 verweisen. 5 Denn eben dies war Meineckes These in diesem Buch: »Der Kern des Historismus besteht in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung«, wobei »entwickelnde und individualisierende Denkweise ... unmittelbar« zusammengehören. 6 Deshalb sei — so wieder Jaeger und Rüsen - Historismus Geschichtswissenschaft »in der Form einer verstehenden Geisteswissenschaft:«.7 Dieser Historismus sei zwar Teil jenes »umfassenden Prozesses der Modernisierung, in dem unsere heutigen Lebensund Denkformen entstanden sind«, bedeute in seinem Kern jedoch »die Art und Weise des historischen Denkens, die die historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert charakterisiert«, die »in den historischen Fachwissenschaften sich ausprägende spezifisch moderne Art des historischen Denkens«. 8 Friedrich Meinecke habe den Historismus deshalb treffend als »eine der größten geistigen Revolutionen« gefeiert, die »das abendländische Denken erlebt hat«, 9 nämlich als die Überwindung der Aufklärung. Ähnlich auch Jörn Rüsens Definition in seinem jüngsten Buch: 10 »Historistisch« sei vor allem ein Denken, das »durch einen bestimmten Typ von Geschichtswissenschaft geprägt« sei, »wie er durch die verstehenden Geisteswissenschaften seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts repräsentiert wird«. Vor allem diese Bedeutung »dominiere« heute. Historismus sei also »zumeist die historische Denkform, die für die zweite Großepoche der Wissenschaftsentwicklung der Geschichtswissenschaft und der ihr entsprechenden Entwicklung der Geschichtsschreibung maßgeblich geworden ist«, nämlich für jene Epoche, »die zwischen derjenigen der Aufklärung und derjenigen der (im engeren Sinne des Wortes) modernen Geschichtswissenschaft liegt«, also im wesentlichen das 19. Jahrhundert, wobei aber fundamentale Elemente dieses Historismus schon in der Aufklärung vorgebildet worden seien. In diesem Sinne definiert auch Georg Iggers in seinem 1993 erschienenen Buch über »Geschichtswissenschaft: im 20. Jahrhundert« den Historismus als »eine Weltanschauung und eine Wissenschaftskonzeption«, welche »die spontanen, unberechenbaren Elemente der menschlichen Freiheit und Kreativität betonte« und insbesondere durch die »Betonung der Eigenständigkeit des historischen Denkens« und durch die Zuversicht geprägt werde, »daß die historische Welt sinnvoll sei«; und: »Als Prototyp und bedeutendster Vertreter des klassischen Historismus gilt Leopold von Ranke«. 11 Ähnlich hatte es schon Meinecke formuliert, in seiner Gedächtnisrede auf Leopold von Ranke vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften vom Januar 1936: Individualität und individuelle Entwicklung seien »die beiden polar wieder zusammengehörenden Grundbegriffe« des Historismus, der »in Rankes Leistung gipfelt«, 12 obwohl Meinecke in seinem Buch von 1936 nur Mösers, Herders und Goethes Beitrag zur
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Entstehung des Historismus darstellte und zum Oeuvre Rankes nicht mehr gelangt ist. Horst Walter Blanke hat in seinem großen Werk »Historiographiegeschichte als Historik« von 1991 temporale Präzisierungen für die von Rüsen benannten Großepochen der Geschichtswissenschaft, von Aufklärung und Historismus, vorgeschlagen.13 Danach dauerte der auf die Aufklärung folgende Historismus von Ranke bis in die 1960er Jahre14 an und sei dann von der modernen Geschichtswissenschaft in Gestalt der Bielefelder ›Historischen Sozial\vissenschaft‹ abgelöst worden.15 Bei alledem gibt es freilich zwischen den genannten Autoren auch gewisse Unterschiede, in der Frage nämlich, ob die Konstituierung einer modernen Geschichtswissenschaft im wesentlichen in der Aufklärung erfolgte16 oder ob ›Aufklärung‹ und ›Historismus‹ als Paradigmata jeweils eigene Elemente beigesteuert haben.17 In jedem Fall aber ist Historismus etwas Überholtes, dessen Geltung problematisiert oder gar bestritten wird. Eine gleichartige, in der Wertung jedoch entgegengesetzte Auffassung von ›Historismus‹ vertrat Thomas Nipperdey in seinem Buch »Deutsche Geschichte, 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat«.18 Für Nipperdey, der auch seinerseits an Meineckes Historismus anknüpfte, ist ›Historisnuis‹ (a) »eine neue Methode im erkennenden Umgang mit Vergangenem, die das Eigenrecht und die tiefe Andersartigkeit des Vergangenen, seine ›Individualität‹, seine ›Entwicklung‹, seine wechselseitige Bedingtheit ans Licht stellt und sich dazu der Quellenkritik und des Zugriffs des ›Verstehens‹ bedient«. ›Historismus‹ sei sodann, so Nipperdey, (b) die »Interpretation der Welt als Geschichte«, die »geschichtliche Auffassung der menschlichen Welt und Gegenwart«, etwas »revolutionär Neues«, eine »neue Weltansicht«, die (c) »ganz unmittelbar« mit »neuen Wertungen und Normen« verbunden sei: es ist nicht mehr Gott, oder die Natur, oder die Vernunft, welche die Normen des Handelns und den Sinn von Institutionen begründen, sondern: die Geschichte ist es. ›Historismus‹ bedeute also, daß die Geschichte der Rechtfertigung der Normen dient, daß »ohne Geschichte ... niemand mehr die Ziele des Handelns begründen« kann. Im Anschluß an Nipperdey wird ›Historismus‹ auch in neueren Arbeiten definiert als »der um 1800 einsetzende Versuch, die Geschichte in den Rang einer autonomen, systematischen Wissenschaft zu erheben«.19 Die Entstehung des Historismus ist also die Entstehung moderner Geschichtswissenschaft überhaupt; er ist nicht bloß ein historischer Durchbruch am Beginn der Moderne um 1800 in einer Sequenz anderer und andersgearteter Durchbrüche, er ist vielmehr das Neue schlechthin, das nicht überholt werden kann. In diesem Sinne verfährt auch Ulrich Muhlack in seinem Buch »Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus«.20 Historismus ist auch hier (wie bei Nipperdey 98 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
und zuvor schon bei Meinecke) ein »revolutionärer« Durchbruch, der sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vollzog. Dieser Durchbruch konstituierte in Deutschland die moderne Geschichtswissenschaft überhaupt.21 Historismus ist der »Gegenschlag« zur Aufklärung.22 An die Stelle eines ›dualistischen‹ Denkens, das stets zwischen historischer und überhistorischer Wirklichkeit unterschied und das von der Aufklärungshistorie noch einmal »zum äußersten Punkt« getrieben worden sei, bedeute Historismus eine radikal »immanente Geschichtsbetrachtung«. Eben darin sei die »totale Historisierung der Wirklichkeit« begründet, die den Historismus auszeichne.23 Historismus sei die Auffassung, »daß das Leben und die Wirklichkeit Geschichte sind und nichts anderes als Geschichte«, wie Muhlack im Anschluß an Benedetto Croce (»La storia come pensiero e come azione«, 1938; dt. 1944) definiert, was freilich etwas überraschend wirkt und auch nicht weiter begründet wird.24 Zwar sei es, so Muhlack, »durchaus nicht abwegig«, vom Historismus »als einer allgemeinen kulturellen Erscheinung« zu sprechen, also mehr darunter zu verstehen, als nur eine »Revolution« der Geschichtsschreibung. Doch betont Muhlack zugleich, daß für ihn Historismus im wesentlichen doch »immer historistische Geschichtswissenschaft« heiße.25 Das verbindet Muhlack mit Meineckes Historismus, obwohl er andererseits, im Gegensatz zu Meinecke, diesen Historismus nicht nur als einen geistigen Durchbruch bei wenigen großen Denkern (Herder, Goethe, Ranke) versteht, sondern als einen Durchbruch, der sich in einer Vielzahl von Richtungen und Fächern manifestiert hat:26 in der Philosophie des deutschen Idealismus; in der neuhumanistischen Altertumswissenschaft (Wilhelm von Humboldt, Friedrich August Wolf, August Boeckh, Otfried Müller) und der »Schule Niebuhrs«; in der Romantik (Novalis); in der germanistischen Philologie (Jacob Grimm) und der historischen Schule der Rechtswissenschaft (Eichhorn, Savigny); in der Mittelalterhistorie des frühen 19. Jahrhunderts; in der Schule Rankes und weiter bis zu den Neo-Rankeanern des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Max Lenz, Erich Marcks); in der liberalen Historie (Gervinus, Droysen, Sybel, Treitschke) und der älteren historischen Schule der Nationalökonomie (Roscher, Knies). Die systematische Zusammenfassung aller dieser Richtungen schließlich sei geleistet worden von Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift »Über die Aufgabe des Geschichtschreibers« von 1821 und von Johann Gustav Droysen in seiner »Historik«, die er seit 1857 ausarbeitete. Mehrfach betont Muhlack, daß die Entstehung des Historismus eine Entwicklung war, die sich »primär innerhalb« der Geschichtswissenschaft und der historischen Disziplinen vollzog,27 auch wenn sie von historischen Erfahrungen angestoßen worden sei, zum Beispiel: von der Erfahrung des Traditionsbruchs, der Dynamisierung historischer Prozesse und des politisch-sozialen Wandels und des Wandels aller Lebensverhältnisse in der 99 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
werdenden Moderne seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die »totale Historisierung« habe diesen Wandel der »Realitätserfahrung« zur Voraussetzung, der sich vor allem in der Französischen Revolution materialisiert habe. Denn die »Revolutionserfahrung fördert(e) ... in allen ihren Hinsichten die Überwindung dualistischen und den Durchbruch immanenten Geschichtsdenkens«.28 Dazu komme, spezifisch Deutschland betreffend, die Entstehung einer »kulturnationalen Öffentlichkeit unter den deutschen Intelligenz- und Bildungsschichten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts«, in der auch politische Probleme als Kulturprobleme erörtert wurden, wobei die »Grundlegung historistischen Geschichtsdenkens« das »Kernstück« jener »Umwälzung des Denkens« gebildet habe, »das die deutschen Intellektuellen der politisch-sozialen Umwälzung in Frankreich entgegensetzten«.29 Dementsprechend formuliert Muhlack eine Reihe von »Prinzipien historistischen Geschichtsdenkens«,30 in denen sich die Unüberholbarkeit dieses Denkens in der Moderne ausdrücke: Die Autonomie historischer Erkenntnis und ihr Hinweis auf die Gewordenheit alles dessen, was ist; die Einebnung der Unterscheidung von allgemeiner und Einzelerkenntnis; die Auffassung der historischen Erkenntnis als einer Hervorbringung des erkennenden Subjekts; der »Durchbruch zur Immanenz«; die restlose Verlagerung der Verursachung von Geschichte in die historische Realität selbst; die »Methodologie der historischen Quellenforschung«. Wie Muhlack, so betont - auf der anderen Seite des Meinungsspektrums der Historiker - auch Horst Walter Blanke in seinem Buch von 1991 die »Geschlossenheit« und die »Einheitlichkeit« des Historismus in Deutschland, sieht diese Einheitlichkeit aber zeitlich völlig anders dimensioniert und bewertet sie demzufolge auch diametral entgegengesetzt. Für Blanke ist Historismus nämlich konstituiert durch:31 (a) individualisierendes Erkenntnis-Verfahren (anstelle des begrifflich-typologischen Denkens der Aufklärung), also eine Erkenntnis, die sich bevorzugt auf menschliche Individuen und kollektive Individuen, wie vor allem Staaten und Nationen richtet; (b) durch individualisierendes ›Verstehen‹ (im Gegensatz zum ›Erklären‹); (c) durch ein vorrangiges Interesse an Ideen (die Quellen würden im Historismus »als Sinnsprache eines in ihnen manifesten Geistes entziffert«; und schließlich sei (d) Historismus konstituiert durch die Auffassung von Staat und Nation als den wichtigsten Bezugsgrößen historischer Forschung, das heißt als jene historischen Größen, in denen sich ›Ideen‹ vor allem konkretisieren. In der Kritik am Historismus noch weiter gehend, haben 1986 H. E. Bödeker, G. G. Iggers, J. B. Knudsen und Ρ. Η. Reill die historische Differenz von ›Aufklärung‹ und ›Historismus‹ eingeebnet; die entscheidenden Durchbrüche moderner Geschichtswissenschaft seien der Aufklärung (d.h. der deutschen Spätaufklärung, vor allem in Göttingen) zu verdanken: der »Beginn der Autonomisierung der Historie 100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
zur Wissenschaft«, das historische Methodenbewußtsein, die Ausweitung der Erkenntnisinteressen; und sogar ›Individualität‹ und ›Entwicklung‹, die Schlüsselbegriffe des ›Historismus‹, hätten »nicht erst durch ihn ihre Bedeutung erhalten«.32 Kurzum: »Man kann sagen, daß die Geschichtswissenschaft im modernen Sinne in den Reflexionen der Aufklärungshistoriker ihre Grundlagen erhalten hat«; deshalb erscheine es »sinnvoll, die traditionelle Entgegensetzung von Aufklärungshistorie und Historismus aufzugeben, ihre Unterschiede nicht als Bruch, sondern als Akzentverlagerung zu interpretieren«.33
II. Historismus in den anderen Kulturwissenschaften heute Über diese in ihren Wertungen diametral entgegengesetzten und in ihren Inhalten doch zugleich weitgehend übereinstimmenden Definitionen und Beurteilungen von Historismus - gleichartig, insofern sie Historismus als einen rein oder vorwiegend (»primär«) geschichtswissenschaftlichen Gegenstand definieren, nämlich als die auf Individualität und Entwicklung ausgerichtete Geschichtserkenntnis - gelangen wir hinaus, wenn wir uns anderen Kulturwissenschaften zuwenden. Jaeger und Rüsen haben 1992 im Zusammenhang ihrer Definition des Historismus-Begriffs mit Entschiedenheit erklärt, daß »die anderen Bedeutungen« des gleichen Worts ›Historismus‹ »zwar auf die gleiche Sache zielen, sie jedoch nur verkürzt oder irreführend ansprechen«.34 Schon der erste Teil dieser Bemerkung erweist sich jedoch als problematisch, sobald man einbezieht, in welcher Weise Philosophen und Theologen, Kunsthistoriker und Literaturhistoriker heute über Historismus sprechen. In diesen Wissenschaften nämlich wird das von den Historikern erörterte Historismus-Phänomen keineswegs ausgeblendet, wohl aber in größere Kontexte eingegliedert, die sich dann im ganzen auf weitgehend andere Gegebenheiten beziehen. Hier werden andere Problem-Geschichten referiert und reflektiert. (1) In der Philosophie hat Herbert Schnädelbach in seinem Buch »Philosophie in Deutschland 1831-1933« Historismus in drei Hinsichten definiert.35 Historismus sei (a) der Objektivismus und der »Positivismus der Geisteswissenschaften: die wertfreie Stoff- und Faktenhuberei ohne Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, die aber gleichwohl mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität auftritt«, also eine »bestimmte Wissenschaftspraxis, für die eine rein kontemplative Haltung und Praxisabstinenz kennzeichnend sind«. Historismus ist sodann, nach Schnädelbach, (b) der historische Relativismus, als eine »philosophische Position, die mit dem Hinweis auf das historische Bedingtsein und die Variabilität 101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
aller kulturellen Phänomene absolute Geltungsansprüche - seien sie wissenschaftlicher, normativer oder ästhetischer Art - zurückweist«, eine »philosophische Position« also, die auf dem Positivismus und Objektivismus der Geisteswissenschaften beruhe und das »Dilemma von Bildimg durch Wissenschaft in einem nachidealistischen Zeitalter« sichtbar mache. Historismus sei demnach schließlich (c) auch ein Problem, dessen »›Überwindung‹ immer noch auf der Tagesordnung« stehe, eine »Krise«, die auf etwas Umfassenderes verweise: nämlich eine Position des Denkens der Moderne, die »Geschichte zum Prinzip« mache; dieser Historismus vertrete die Auffassung, daß »alle kulturellen Phänomene als historische zu sehen, zu verstehen und zu erklären seien«, eine »wesentlich kulturalistische Position«, die sich dem Naturalismus entgegenstelle, insofern sie die menschliche Lebenswelt als etwas vom Menschen handelnd Geschaffenes begreife. Die Leidenschaftlichkeit der Kontroversen über Historismus erkläre sich daraus, daß Historismus als Positivismus und Historismus als Relativismus »in Wahrheit Verfalls- oder Degenerationsformen« dieser grundlegenden Position des modernen Denkens seien, »die aber mit einer eigentümlichen Folgerichtigkeit« aus dieser hervorgingen.36 Ähnlich definiert Gunter Scholtz in seinem Buch »Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften« von 1991 Historismus als »das geschichtliche Denken insgesamt, das sich in Absetzung von der rational-konstruierenden Denkweise der Aufklärung ausbildete«.37 Im Rückblick auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert beschreibt Scholtz mit etwas anderen Akzenten das auch von Schnädelbach skizzierte Problemfeld, nämlich fünf »Grundbedeutungen« dieses Historismus, als da sind: (a) eine Ausweitung der geschichtlichen Betrachtungsweise auf alle Phänomene der Kultur, die »universelle geschichtliche Betrachtung der menschlichen Welt«; - (b) eine Geschichtsphilosophie, die die »Ordnung und Vernünftigkeit der ganzen Geschichte und ihren Ablauf meint begreifen oder zumindest ahnen zu können«; - (c) der »verklärende Rückblick in die Vergangenheit«, also Romantizismus und Traditionalismus; - (d) die »Beschränkung der historischen Forschung auf das Ansammeln und Sichern historischer Daten«, also der »historische Positivismus und Objektivismus«; - und schließlich (e) die »Relativierung aller Wert- und Orientierungssysteme«, also der »historische Relativismus«. Und vor allem dies sei das »beunruhigende Problem« des Historismus heute in den Geisteswissenschaften: »der Positivismus und Relativismus, die wissenschaftliche Faktenhuberei bei gleichzeitiger Wertrelativität, d.h. theoretischer und lebensweltlich-praktischer Orientierungslosigkeit«;38 »historischer Positivismus und Relativismus bilden ... das Historismus-Problem«, um dessen »Fortleben oder Auflösung« es heute noch immer gehe.39 102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Noch umfassender hat Hermann Lübbe das Historismus-Problem der Gegenwart angesetzt. Auch er versteht unter Historismus eine konstitutive kulturelle Prägung der gesamten Moderne, bedingt durch das, was Lübbe die »Aufdringlichkeit der Geschichte« nennt,40 die auch zu dem »expansiven Historismus unserer Gegenwartskultur« geführt habe; »noch nie« sei »eine kulturelle Gegenwart vergangenheitsbezogener (gewesen) als unsere eigene«.41 Lübbe verdeutlicht das am Beispiel des Denkmalschutzes und der ständig zunehmenden Zahl von Museumsgründungen und historischen Ausstellungen. Er deutet das Phänomen im Sinne des bekannten Kompensations-Theorems seines Lehrers Joachim Ritter: »Unsere Vergangenheitszugewandtheit, unsere blühende historische Kultur erfüllt Funktionen der Kompensation der belastenden Erfahrungen eines änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwundes«; denn mit der »Dynamik zivilisatorischer Modernisierungsprozesse« (wie sie die okzidentale Moderne seit 1800 kennzeichnen) wachse »zugleich komplementär die Nötigkeit von Anstrengungen zur Vergangenheitsgegemvärtigune an«.42 Auch Volker Steenblock sieht im Historismus ein bestimmtes »menschliches Weltverhältnis«, vergleichbar mit anderen und anders gearteten derartigen Weltverhältnissen, wie zum Beispiel der Auffassung der geschichtlichen Welt als ›Heilsgeschichte‹ oder als ›Geschichtsphilosophie‹. Historismus sei also sehr viel mehr als nur irgendein fachdisziplinäres, zum Beispiel geschichtswissenschaftliches Grund-Ereignis oder gar nur ein epochenbezogenes, fachdisziplinäres ›Paradigma‹.43 Die Bedeutung einer neuen Beschäftigung mit dem Historismus wird nach Steenblock in den »gegenwärtigen Rationalitätsdebatten« erkennbar, in denen es um die Erkenntnis der »historischen Verfaßtheit der Vernunft« gehe, im Sinne eines »Reflexionsfortschritts gegenüber statischen und unhistorischen Rationalitätsbegriffen«, vor allem auch in der Stellungnahme gegen die (falsche) Alternative von »Letztbegründung« oder »Relativismus«.44 Deshalb sei Historismus »nichts zu Überwindendes und schon gar nichts Überwundenes«.45 (2) Diese Formulierung erinnert unmittelbar an die Analysen des Phänomens des modernen Historismus und der mit ihm gesetzten Problemlagen durch den Theologen Ernst Troeltsch (1865-1923), in seinem großen Werk »Der Historismus und seine Probleme« von 1922, und - fast noch eindrucksvoller - in dem im gleichen Jahr erschienenen Essay über »Die Krisis des Historismus«.46 Die Krisis des Historismus ist nicht nur »eine innere Krise der Historie«, sondern eine vom Historismus ausgelöste »allgemeine Erschütterung der Geister«, die »aus dem inneren Gang und Wesen der Historie selbst entspringt«. Denn Historismus ist die irreversible »Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Wir 103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in den Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich. Das festigt auf der einen Seite den Sinn für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten überindividuellen Zusammenhängen und führt jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit zu. Aber es erschüttert auf der anderen Seite alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und darum von der höchsten autoritativen Art, seien es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit, seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre herrschende Form beziehen. Der Historismus in diesem Sinne ist die erstliche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken und mittelalterlichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise sich grundsätzlich unterscheidet«.47 Troeltsch weist auf die Verschärfung dieser modernen Problemlage durch den Weltkrieg und den Zusammenbruch von 1918 hin, akzentuiert aber den Historismus und seine Probleme wesentlich als »Konsequenzen des Entwicklungsbegriffes, der den alten stolzen Fortschritts- und Menschheitsbegriff zum Begriff endloser Bewegung und der Bildung bloß vorübergehender, relativ dauernder Sinn- und Kulturzusammenhänge gemacht« habe, deshalb alles wesentlich vergleichend behandle und somit »die Einheitlichkeit des Zieles verschwinden« lasse.48 Damit sei auch »eine ganze Reihe weiterer Schwierigkeiten« konstituiert, z.B. »die Aufrollung der erkenntnistheoretisch-logischen Probleme« der Geschichtswissenschaft, etwa in der Frage, wie sich »die vom denkenden Geiste nach seinen Gesetzen hervorgebrachte Ordnung zum wirklichen Wesen und Zusammenhang der Dinge selbst« verhalte, inwieweit »die Historie das reale Geschehen überhaupt erfassen und wiedergeben« könne; denn alle Historie sei doch nur »Auslese und Umformung eines ungeheuren Materials, das seinerseits aus einer unendlich breit und tief strömenden Masse bewegten Lebens hervorragt oder herausgezogen werden kann«; Historie sei also nur »ein winziger Ausschnitt der völlig unerreichbaren und unzählbaren tatsächlichen Vorgänge«.49 Ein anderes Problem sei die »Erschütterung des ethischen Wertsystems sowohl in der Begründung als im sachlichen Inhalt«. Sie ist wiederum durch Weltkrieg und Zusammenbruch verschärft, im Grunde aber eine Konsequenz des modernen Historismus selbst. Denn der Historismus als »die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt« habe die »Begründungsmöglichkeit für Werte« zerstört oder richti104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ger: einen »Polytheismus der Werte«, eine »Anarchie der Werte« geschaffen und jedenfalls alle »Wert-Selbstverständlichkeiten« vernichtet: »Alles kämpft gegen alles«.50 Die Neuaneignung des Historismus-Problems als Grundproblem der Moderne in der Theologie manifestiert sich konsequenterweise zuerst in einer erneuten Beschäftigung mit dem Werk von Ernst Troeltsch, vor allem in den seit 1982 erscheinenden, von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf herausgegebenen »Troeltsch-Studien«,51 von denen im Kontext des Historismus-Problems vor allem die Beiträge des vierten Bandes, »Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs« (1987) hervorgehoben seien.52 Inzwischen wurde im Rahmen einer Theologiegeschichte als Wissenschaftsgeschichte die »Eroberung« der Theologie durch den Historismus erörtert.53 Eine jüngst erschienene Biographie des im protestantischen wie im katholischen Bereich gleichermaßen bedeutenden Theologen Erik Peterson (1890-1960) spiegelt die Relevanz des von Troeltsch bezeichneten und sogar definierten Historismusproblems in dessen Oeuvre.54 (3) In der Kunstgeschichte ist Historismus zunächst einmal die Bezeichnung für einen Stil zwischen Biedermeier und Jugendstil, also für die Zeit von 1840 bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus, zugleich aber auch mehr, nämlich die Bezeichnung für die grundlegende Eigenart einer Epoche, die sich »zur Selbstdarstellung historischer Formen« bediente, für eine historisierende Kunst also, »die Stile der Vergangenheit aufgreift und verarbeitet«:55 zum Beispiel bei den deutschen Nazarenern und den englischen Präraffaeliten, bei Ingres, Böcklin und Makart. Sein Zentrum hatte dieser Historismus in der Kunst und Architektur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Zu erinnern ist an die Rekonstruktionen und Fortführungen von mittelalterlichen Dombauten, etwa in Köln;56 an die Repräsentationen des neuen Hohenzollern-Kaisertums von 1871 in Bildern und Bauten, z.B. in der mittelalterlichen Kaiserpfalz zu Goslar57 oder in der Historienmalerei eines Anton von Werner;58 an die historistischen Bahnhöfe,59 Postämter und Gefängnisse; an die Rathäuser der Zeit von 1850 bis 1914 als Denkmale des Bürgertums und Symbole seines Selbstbewußtseins; an die repräsentativen Stiftungen von Ratssilber seit den 1870er Jahren; aber auch an bürgerliche Privathäuser und Villen, z.B. die Villa des Eisenbahnkönigs Rudolf Pringsheim in Berlin und die seines Sohnes Alfred Pringsheim, des Schwiegervaters von Thomas Mann, in München,60 sowie an andere Formen einer leidenschaftlichen Aneignung der Vergangenheit, mit der die Gegenwart überhöht oder aber eine als defizient empfundene Gegenwart mit Hilfe der Vergangenheit kritisiert werden sollte.61 Die politischen Kontroversen der Zeit des Kulturkampfs wurden auch von einem »Bilderkampf« begleitet, in dem der Historismus eine bedeutende Rolle spielte.62 Eine gesonderte aber 105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
markante Stellung nimmt in solchen Kontexten auch der »metaphysische Historismus« des wieder-geholten Gottesgnadentums eines Ludwig II. von Bayern ein, dem der Kunsthistoriker Hans Gerhard Evers eine bemerkenswerte Darstellung gewidmet hat.63 Noch der Expressionismus des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde - ganz historistisch - als eine neue Gotik definiert und dementsprechend historisch gedeutet,64 ein Deutungsschema, das sich noch bei den Vertretern des Bauhauses am Anfang der 1920er Jahre findet.65 In seinem vor fünfunddreißig Jahren erschienenen und noch immer herausragenden Buch »Das Irdische Paradies« hat Werner Hofmann die Kunst des 19. Jahrhunderts als eines in sich »entzweiten« Jahrhunderts dargestellt.66 Gemeint ist die Entzweiung zwischen der Überfülle historischer Formen, die zur Verfügung stehen einerseits, dem »großzügigen laisser faire des Historismus«, wie Hofmann sagt, »dem zu jeglicher Verneinung das Rückgrat fehlt, da er für alles ein Verstehen haben will«, - und, auf der anderen Seite, der »Forderung an die jeweilige Gegenwart, nichts anderes als sie selbst zu sein«.67 Hofmann erläutert das Problem anhand von Nietzsches Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« aus dem Jahr 1874. Der »gemeinsame Nenner« der Kunst des 19. Jahrhunderts werde erst dann sichtbar, so Hofmann, wenn beides in seinem Zusammenhang gesehen werde: das Historisch-Historistische und das A-Historische, das nur dem Leben der Gegenwart dienen will und deshalb nichts entschiedener ablehnt, als die Aneignung historisch vermittelter Ausdrucksformen. Von gleichartigen Problemen waren um 1900 die Kontroversen der Kunsthistoriker über Denkmalkult, Denkmalschutz und Denkmalpflege bestimmt.68 Ein Blick in die derzeit aktuellen Kontroversen von Kunsthistorikern über Denkmäler heute, mit ihren vielen bewußten und beabsichtigten Bezugnahmen auf die gleichartigen Debatten der Kunsthistoriker um 1900, bei Alois Riegl, Georg Dehio und Max Dvorak, zeigt, wie gegenwärtig jene Debatten hier immer noch sind und auch, warum sie es sind.69 In seinem Buch über »Das sentimentalische Bild« hat der Kunsthistoriker Werner Busch soeben die Genese der Grundmomente des Historismus anhand der Kunst des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts dargelegt.70 (4) Auch in der Literaturwissenschaft wurde gerade neuerdings die Reflexion über den Historismus als die universale Historisierung und ihre Folgen in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zum Beispiel bei Schnitzler und Hofmannsthal, bei Musil und E. Canetti, aufgearbeitet71 und im Blick auf das 19. Jahrhundert dabei die wechselseitige Durchdringung von Literatur und Kunst beobachtet.72 Ein Zentrum des Historismus war Wien, wo die berühmte Ringstraße mit ihren bedeutenden Repräsentationsbauten des liberalen Bürgertums eine der eindrucksvollsten Manifesta106 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
tionen des Historismus darstellt und zugleich, am Ende des 19. Jahrhunderts, die Reflexion über den Historismus (Hofmannsthal) und die Suche nach seiner Überwindung in Kunst und Musik (G. Klimt, A. Schönberg) stimulierte, wie vor allem Carl E. Schorske zeigte.73 Noch umfassender sind die Fragestellungen angelegt, die der Erforschung der Wiener Moderne in der Literatur gewidmet sind.74 Hier geht es um die Wahrnehmung des Zusammenbruchs der überkommenen Ordnung, die der Historismus der Ringstraßenbauten noch einmal darzustellen versucht hatte, die Wahrnehmung der zunehmenden Partikularisierung, Dezentrierung und Minimalisierung, der Vereinzelung und Diskontinuität, und um die Versuche, neue ›ganzheitliche‹ Deutungen und Entwürfe hervorzubringen.75 Die wahrgenommene und neu konstituierte Moderne setzt dabei den Historismus voraus. Als etwas Spezifisches erscheint bei alledem die wechselseitige Interferenz von Lebenswelt, Literatur, Kunst und Wissenschaft. Dirk Niefanger hat dargestellt, wie aus der Erfassung der Moderne im Zeichen des Historismus und seiner Folgelasten, von zusammenhangloser Vereinzelung der Dinge und Wertverfall, in ästhetizistischen Verfahren, etwa bei Hofmannsthal, ein ›produktiver Historismus‹ entsteht,76 der den vorgegebenen Historismus nicht »überwinden« will (da er als Signatur der Moderne nicht zu überwinden ist), sondern ihn vielmehr nutzt: »indem er das mit allem Ernst und allem optimistischen Pathos vorgetragene Interesse am historischen Stoff, wie es der traditionelle Historismus favorisiert, in ein Spiel mit historischen Partikeln unwandelt, das von dem fast pessimistischen Gedanken getragen wird, ›nichts als ein sentimentales Gedächtnis‹ (Hofmannsthal) zu haben«.77 Dieser ›produktive‹ Historismus ist also ein »ästhetizistisches Verfahren, das mit dem Bezug auf das vertraute Fremde einer unvertrauten Moderne begegnet«.78 Die Überwindung der Folgen des Historismus als Modernität steht auf der Basis des tradierten Historismus selbst, - mit den Worten Hofmannsthals aus seinem d'Annunzio-Essay von 1893, einer Analyse der Moderne im Zeichen des Historismus: »Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten«.79 In einer Perspektive auf die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts wurde ein solcher Ansatz auch von Gotthart Wunberg entfaltet.80 Er zeigte, wie die Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit historischen Stoffen und in der Aneignung von Methoden der wissenschaftlichen Historie ein sprachliches Verfahren entwickelt, eine »eigene Lexik, die erst in der Erledigung der Geschichte als ihres Gegenstandes zu sich selbst kommt«.81 Aus dem Historismus als Positivismus wird die Fähigkeit genauer Faktenwahrnehmung und Faktenbeschreibung übernommen, die Beschreibung von Einzelfakten, die in keinem Kontext mehr stehen, aus dem Historismus als Relativismus wiederum die Subjektivierung des erkennenden oder literarischen Subjekts. Aus 107 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
beidem entsteht »Historismus als (literarisches) Verfahren«, das sich in der Literatur des ›Symbolismus‹ (›Fin de siècle‹, ›Décadence‹) ausprägt. Diese »Autonomie der Lexeme« bezeichnet den »Tatbestand der Moderne«; sie konstituierte die »Unverständlichkeit« als den gemeinsamen Befund der literarischen Moderne. Auch hier scheint übrigens die Kunst der Literatur vorangegangen zu sein.82
III. Das Historismusproblem der Moderne bis 1933 Wir sahen bisher, im Blick auf die derzeitigen Erörterungen von ›Historismus‹, ein breites Feld von Zuschreibungen und Definitionen, mit einigen Verknüpfungen und Interferenzen und mit gemeinsamen Problemkonstellationen (zum Beispiel in der Frage des Verhältnisses von Aufklärung und Historismus) sowie mit bestimmten Schlüsselautoren wie Friedrich Meinecke, Ernst Troeltsch und Friedrich Nietzsche, - aber auch und vor allem: mit deutlich unterschiedlichen und meist gegensätzlichen Aussagen. Bei den Historikern ist Historismus eine bestimmte Art von Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung, die entweder, positiv, als die nicht überholbare Grundlage aller modernen historischen Erkenntnis, oder aber, negativ, als etwas Überholtes, als etwas jedenfalls am Ende des 20. Jahrhunderts unter allen Umständen Obsoletes bezeichnet wird. In den Äußerungen aus allen anderen Kulturwissenschaften hingegen ist Historismus eine Grundgegebenheit und ein Grundproblem der modernen Welt, das sich im 19. Jahrhundert ausformte, das aber nach wie vor eine Gegebenheit und ein Problem auch der Gegenwartskultur darstellt: ein bestimmtes, historisch gewordenes »Weltverhältnis« (V. Steenblock), das die Moderne charakterisiere und das auf der Grundannahme der Historizität, der Gewordenheit alles dessen, was ist, beruhe; dazu gehören auch historischer Positivismus und historischer Relativismus als Konsequenzen des Historismus. Dieser impliziert deshalb auch immer die Überwältigung durch Geschichte bei gleichzeitig notwendiger ständiger Kompensation von Geschichtsverlusten, er impliziert die unaufhörliche Überflutung durch historische Erkenntnisse, Befunde und ›Fakten‹ bei gleichzeitiger Relativierung aller Normen durch deren unaufhörliche und unaufhaltsame Historisierung. Wie kam es zu dieser Situation, die wir in den heutigen Diskussionen der Kulturwissenschaften vorfinden, und wie ist sie zu beurteilen? Offenbar verhält es sich so, daß in allen anderen Kulturwissenschaften mit dem Wort ›Historismus‹ noch immer aktuelle Probleme der modernen Welt aufgerufen sind und diskutiert werden, während - im Gegensatz dazu - die Historiker einer Weichenstellung gefolgt sind, die sie aus dieser 108 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
allgemeinen Erörterung des Historismus-Problems in der Moderne und demzufolge auch aus dem Gespräch mit den anderen Kulturwissenschaften hinausgeführt hat. Diese Weichenstellung wird repräsentiert von Friedrich Meineckes Buch »Die Entstehung des Historismus« aus dem Jahr 1936. Im dritten Abschnitt dieser Überlegungen soll nun zunächst eine Analyse des Historismus-Problems seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angedeutet werden, und zwar in fünf chronologisch geordneten Hinsichten. (1) Zuerst ein Blick auf Nietzsches Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« von 1874. Es ist die erste und die bis heute grundlegende Analyse des Historismus-Problems als eines Grundproblems der Moderne.83 Die Schrift enthält eine Analyse des »verzehrenden historischen Fiebers«, jener Historie nämlich, die Wissenschaft geworden ist, und jener historischen Bildung, die durch diese Art von Historie konstituiert wird, welche beide zusammen, nach Nietzsche, eine Art von »LebensAbschluß und Abrechnung für die Menschheit« darstellen. Denn diese Historie bringt (a) unaufhörlich historische Fakten hervor, die sie nicht mehr in einen Zusammenhang einordnen kann. Und dabei erhebt sie (b) einen Geltungsanspruch, einen Objektivitätsanspruch, den zu begründen sie nicht in der Lage ist. Vor allem aber ist (c) diese Historie eine »Wissenschaft des universalen Werdens«: sie zeigt alles unter dem Aspekt des Werdens und eben deshalb auch unter dem des Vergehens. Diese Wissenschaft kann daher nichts anderes erzeugen als »hoffnungslose, skeptische Unendlichkeit«. Nietzsche zeigt also die Grundprobleme des modernen Historismus (ohne übrigens diesen Begriff schon zu verwenden), nämlich den Positivismus, den Objektivismus und vor allem den Relativismus: die Geschichtswissenschaft als »Wissenschaft des universalen Werdens« unterzieht alle Werte einer durchgängigen Historisierung und vernichtet sie dadurch. Damit wird die Fähigkeit zum Handeln gelähmt. Zwanzig Jahre danach hat Hugo von Hofmannsthal in seinen Essays Nietzsches Analyse wiederholt. »Uns, den Spätgeborenen« - so heißt es in dem oben bereits zitierten Essay über Gabriele d'Annunzio von 1893 bleiben »nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven. Die Poesie dieser Möbel erscheint uns als das Vergangene, das Spiel dieser Nerven als das Gegenwärtige«.84 Die »alten Möbel« sind die Metapher für die unendliche Zahl historischer Gegenstände und Befunde, die zumal das 19., das »feinfühlige, eklektische Jahrhundert« präsentiert und dabei den »vergangenen Dingen« ein »unheimliches Eigenleben« eingeflößt hat: »Jetzt umflattern sie uns, Vampire, lebendige Leichen, beseelte Besen des unglücklichen Zauberlehrlings! Wir haben aus den Toten unsere Abgötter gemacht; alles, was sie haben, haben sie von uns; ... Bei uns aber ist nichts zurückgeblieben als frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit, 109 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
flügellahme Entsagung. Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung. Wir schauen unserem Leben zu«.85 Es sind, so Hofmannsthal erneut 1902, »die Geister der Einzelnen, die Geister der Völker, die Geister der Zeiten, die uns umwölkend in uns niedertauchen, um von unserem Blut zu trinken«; dem modernen Menschen sei es versagt, »den Geist der Zeiten betrachtend zu erkennen«, dafür sei es ihm gegeben, »ihn zu fühlen, wenn er fordernd uns überfällt, mit dem Anhauch des Anders-Seins uns verlokkend und quälend, beklemmend und bezaubernd«; und so trete denn eine »unendliche Forderung« an den modernen Menschen heran, die dem »inneren Gleichgewicht höchst bedrohlich« sei: »die Forderung, mit tausendfachen Phantomen der Vergangenheit uns abzufinden, die von uns genährt sein wollen«.86 In dem berühmten Chandos-Brief, ebenfalls aus dem Jahr 1902, hat Hofmannsthal die Konsequenzen des Historismus für den modernen Historiker beschrieben: diesem sei »völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen«; es zerfalle ihm »alles in Teile, die Teile wieder in Teile«, und nichts mehr ließe sich »mit einem Begriff umspannen«.87 (2) Seit den 1880er Jahren haben sich - und zwar jetzt auch im Zeichen des Begriffs des ›Historismus‹ - in vielen Kulturwissenschaften Historismus-Streite entwickelt, in denen es um die Frage des Verhältnisses von handlungsleitenden Wertsetzungen und wissenschaftlicher historischer Erkenntnis ging. Es ging um das Problem der Historisierung (oder deren Vermeidung) und um die Folgelasten dieser Historisierung: um Positivismus, Objektivismus und Relativismus. Was sind wissenschaftliche Tatsachen im Bereich der historischen Erkenntnis? Was ist überhaupt eine wissenschaftliche historische Erkenntnis? Welche Bedeutung hat sie? Welche Konsequenzen hat sie? Gibt es im Bereich historischer Erkenntnis ›exakte‹ Wissenschaften? Kann Wissenschaft Maximen politischen oder sozialen Handelns begründen? Das waren damals die zentralen Fragen, vor allem in jenen Wissenschaften, welche Maximen des individuellen oder kollektiven Handelns entwickeln wollten: die Nationalökonomie, die Rechtswissenschaft, die Theologie, die Philosophie. Diese Erörterungen hat Annette Wittkau 1992 in ihrem Buch »Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems« systematisch und diachronisch dargestellt,88 so auch am Beispiel des Historismusstreits zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller in der Nationalökonomie (1883/84), dem andere, weniger bekannte, aber nicht weniger bedeutsame Historismusstreite folgten, zum Beispiel in der Rechtswissenschaft zwischen Rudolf Stammler und Ernst Immanuel Bekker (1888). 89 (3) Von Interesse sind im Zusammenhang der hier zu erörternden Fragen auch jene Vorschläge, die damals zur Lösung des von Nietzsche dargelegten 110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Problems der universalen Historisierung und seiner Folgelasten erarbeitet wurden. Die Vorschläge lassen sich auf drei Alternativen fokussieren, die von Nietzsche selbst, von Ernst Troeltsch und von Max Weber dargelegt wurden.90 Für Nietzsche bestand die Lösung des Problems zum einen darin, daß das Historische begrenzt wird durch das Unhistorische und das Überhistorische, nämlich durch das Vergessen und durch die normsetzenden Lebensmächte der Kunst und der Religion. Zum anderen müsse die Geschichtswissenschaft aufhören, eine Wissenschaft zu sein, um dadurch wieder in den Dienst des Lebens treten zu können. Sie dient dem Leben als bewahrende (»antiquarische«), als Vorbilder zeigende (»monumentalische«) und als verurteilende (»kritische«) Historie. In ähnlicher Absicht optierte nach Nietzsche auch Wilhelm Dilthey mit seiner lebensphilosophischen Begründung des Verstehens.91 Der Theologe, Historiker und Kulturwissenschaftler Ernst Troeltsch hingegen hat - in der Erfassung und Analyse des Problems durchaus Nietzsche folgend - die Lasten des Historismus ebenfalls als das Problem von Wissenschaft und Leben definiert, die Lösung aber in der genau entgegengesetzten Weise gesucht.92 Denn Troeltschs Lösungsvorschlag bestand darin, »Geschichte durch Geschichte (zu) überwinden«,93 das heißt: den Relativismus (als Folge des Historismus) durch die Kraft des Historismus selbst zu überwinden. Die Geschichtswissenschaft und alle historischen Wissenschaften sollen nach Troeltsch dem Leben dadurch dienen, daß sie - gerade im Zeichen der universalen Historisierung - mit ihren wissenschaftlichen Mitteln Werte begründen und damit Handeln ermöglichen. Dafür muß freilich die historische Erkenntnis als eine objektive Erkenntnis gesichert werden, was Troeltsch erreicht zu haben behauptet hat. Objektive Erkenntnis von Geschichte aber kann handlungsleitende Maximen begründen und damit den Relativismus wissenschaftlich und lebensweltlich überwinden. Hierfür mußte Troeltsch freilich auf vor-moderne, nämlich vor-kantische Begründungen wissenschaftlicher Erkenntnis rekurrieren. Diesem Unternehmen diente auch die von Troeltsch angestrebte europäische »Kultursynthese«, deren Vollendung (in einem zweiten Band seines großen Werks »Der Historismus und seine Probleme«) ihm freilich versagt blieb. Die im ersten Band gegebene Skizze enthält einen Aufriß der europäischen Geschichte von den Griechen bis zur Frühen Neuzeit und den Vorschlag, aus eben dieser Geschichte alle jene Werte zu entnehmen, mit deren Hilfe auch in der Gegenwart politisch-soziales Handeln begründet werden kann. Max Weber wiederum hielt die Kultursynthese Troeltschs für ein sinnloses und obendrein wissenschaftlich unseriöses Unternehmen.94 Er versuchte, von einem kantischen Standpunkt her, das Problem von Wissenschaft 111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
und Leben und damit die mit dem Historismus gesetzten Probleme in anderer Weise zu lösen, nämlich in der Unterscheidung und Verknüpfung der beiden Bereiche zugleich.98 Wissenschaft kann demnach keine Werte begründen, kann richtiges Handeln nicht anleiten, weil ihre Erkenntnisgrundlagen nicht absolut gesichert sind, weil Wissenschaft immer nur empirisch gestütztes (d.h. materialbezogenes) Hypothesenwissen hervorbringt; und: weil sie zudem ihrerseits durch lebensweltliche Wertsetzungen überhaupt erst konstituiert wird. Denn Erkenntnis ist nur möglich aufgrund einer Auswahl. Diese wird konstituiert durch die »Lebenswelt« (E. Husserl), durch die »Erfahrungswelt« (A. Schütz) des erkennenden Subjekts. Deshalb kann Wissenschaft für die Klärung von Wert- und Lebensfragen nicht mehr sein als ein Ort rationalen Diskurses, auch und gerade bei divergierenden Werthorizonten.96 Wissenschaft ermöglicht also einen »regelgeleiteten Konfliktaustrag«,97 aber eben nicht mehr. Das involviert auch die Notwendigkeit eines Verzichts auf absolut gesetzte praktische Werturteile im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses, das heißt die »Abstinenz von schein-wissenschaftlichen Legitimationen in der sozialen Praxis«.98 Dies ist Webers Theorie der sogenannten »Wertfreiheit« bei gleichzeitiger Wertbezogenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis, mit ihrer unabweislichen Konsequenz, daß handlungsleitende Normen und Werte nur lebensweltlich, niemals aber wissenschaftlich begründet werden können. Es ist dies der m.E. nach wie vor plausibelste Versuch einer Lösung der Probleme des Historismus, soweit sie die Wissenschaft betreffen.99 (4) Nach dem Zusammenbruch von 1918 schlossen sich neue Historismus-Debatten an. In der Theologie zum Beispiel konstituierte sich die sogenannte Dialektische Theologie, vor allem mit Karl Barths Kommentar zum Römerbrief (1919), im Angriff gegen die historische Theologie eines Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch. Hier wurde mit Nietzsche gegen Troeltsch argumentiert.100 In der Philosophie der zwanziger Jahre hingegen spiegelt sich der Gegensatz von Nietzsche und Max Weber, nämlich als Gegensatz zwischen Martin Heidegger und Karl Jaspers. Während Heidegger in »Sein und Zeit« (1927) Nietzsches Vorschlag zur Lösung des Historismus-Problems aufgriff, mit der erneuten Empfehlung nämlich, daß die Wissenschaft sich in den Dienst des Lebens begeben müsse, lehnte Karl Jaspers (»Die geistige Situation der Zeit«, 1931; »Philosophie«, 1931) gerade dies ab.101 Jaspers orientierte sich an Webers Differenzierung von Wissenschaft und Leben in Unterscheidung und Verknüpfung zugleich, in der Unterscheidung nämlich von historischem und geschichtlichem Bewußtsein, in Unterscheidung des bloß wissenschaftlichen »Wissens von Vergangenem« im Gegensatz zum »geschichtlichen Wissen« als einer »gegenwärtigen Lebensmacht«. In Kontroversen über das Historismus-Problem konstituierte sich am Anfang der zwanziger Jahre auch die Wissensso112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ziologie, mit jeweils unterschiedlichen Lösungsversuchen und Zielsetzungen bei Karl Mannheim und Max Scheler, während noch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten der sogenannte zweite HistorismusStreit der Nationalökonomie erneut die seit Nietzsche konstituierte Problemlage abarbeitete, unter anderem mit Walther Euckens Schrift »Die Überwindung des Historismus« aus dem Jahr 1938.102 Hier wurde mit den Thesen eines wissenschaftlichen Objektivismus gegen Max Weber argumentiert.103 (5) Als ein überaus relevanter Sachverhalt erscheint in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung des Historismus-Problems, das heißt: des Leidens am Historismus als Teil des Leidens an der Moderne überhaupt, für die Entscheidung zahlreicher und prominenter Kulturwissenschaftler für den Nationalsozialismus im Jahr 1933.104 Bei herausragenden Vertretern ihrer Wissenschaft, wie dem Historiker Rudolf Stadelmann, dem Kunsthistoriker Wilhelm Pinder, den Theologen Friedrich Gogarten und Emmanuel Hirsch, dem Philosophen Martin Heidegger, dem Rechtshistoriker K. G. Schmelzeisen und anderen Rechtswissenschaftlern wird - anhand öffentlicher Äußerungen und Erklärungen sowie zahlreicher und expliziter wissenschaftlicher Begründungen aus dem Jahr 1933/34 - sehr deutlich, welche Glücks-Verheißungen für Wissenschaft und Leben sie alle im Nationalsozialismus zu erkennen glaubten: zum einen das Ende des lebensweltlichen und des wissenschaftlichen Relativismus durch die Setzung neuer Werte in der sogenannten »deutschen Revolution« des Jahres 1933, wobei diese neuen Werte als ›Volk‹ und als ›Gemeinschaft‹ definiert wurden.105 Und zum anderen, daß die Wissenschaft im Ganzen jetzt wieder als sinnhaft erlebt werden kann, weil sie dem Leben diene. Der Rekurs auf Nietzsches Problemanalysen und Lösungsvorschläge bei alledem ist unverkennbar und wurde oft auch explizit ausgesprochen.106 Allein Helmuth Plessner hat bisher in seinem Buch »Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche« von 1935 (später, 1959, unter dem eher irreführenden Titel »Die verspätete Nation« abermals publiziert)107 den Zusammenhang zwischen dem quälenden Erlebnis des Historismus und seiner Folgen und der fatalen »Resonanzfähigkeit für die nationalsozialistische Politik und Ideologie« bei führenden Vertretern der Bildung und Wissenschaft in Deutschland während der 1930er Jahre analysiert.108
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IV. Meineckes Historismus - ein Sonderweg Damit sind diese Überlegungen wieder bei Friedrich Meinecke und seinem Buch »Die Entstehung des Historismus« von 1936 angekommen, bei der Weichenstellung, die dieses Buch repräsentiert und bewirkt hat, und bei der Frage nach der Bedeutung und Gültigkeit seiner Thesen heute. Es ist eigentümlich, daß Meineckes Buch von 1936 schon mit seinen ersten Sätzen gewissermaßen sich selbst historisiert, mit der Feststellung nämlich, daß »geistige Revolutionen« wie der Historismus (im Sinne Meineckes) »nicht ungeschehen und fürder unwirksam gemacht werden« können, da jede »in den Tiefen« fortwirke, »auch wenn sie von einer neuen Revolution, wie sie heute wieder im Gange ist, abgelöst« werden.109 Diese Bemerkung ist zutiefst zweideutig: sie stellt den Historismus als »eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat« gegen die »neue Revolution« von 1933, und konzediert dieser doch eben damit zugleich, wie auch viele andere Kulturwissenschaftler 1933/34 feststellten, daß sie den Historismus »abgelöst« habe. So hat Meinecke auch später noch (»Von der Krisis des Historismus«, 1942) 110 bemerkt, daß die im Zeichen des Historismus verbreitete »Krisenstimmung« schon vor 1932 sich beruhigt habe; daß »dann seit 1933« der »mit ungeheurer Energie unternommene Neuaufbau unseres ganzen nationalen Lebens« gewisse »bis dahin noch als flüssig und diskutabel geltende Auffassungen der Vergangenheit über die Bedeutung von Volkstum und Rasse für die Geschichte zur festen Richtschnur historischen Denkens und Verstehens zu erheben versucht« habe; und daß nun, »seit dem Ausbruch des neuen großen Krieges«, sich »noch ein weiterer Horizont« öffne, weil »mit dem Idealbild einer neuen europäischen Ordnung, um die jetzt der Kampf geht«, auch der »Reichsgedanke des Mittelalters in ein neues Licht« getreten sei,111 so wie auch die »alten Maßstäbe für die Beurteilung der abendländischen Völker- und Staatenentwicklung« nun nicht mehr ausreichten: »Der Fortgang unserer Schicksale wird darüber entscheiden, in welchem Umfange diese neuen Momente auch in Zukunft das geschichtliche Denken und Forschen beherrschen werden. Zurück zur alten Zeit geht hier der Weg nimmermehr«. Gleichwohl sei aber der Historismus nicht wertlos, vielmehr lasse er sich in das Neue einbeziehen: »... so machtvoll auch diese neuen Momente zu wirken vermögen, so berühren sie doch nicht den Kern dessen, was wir unter Historismus verstehen, lassen sieh vielmehr auch mit ihm zwanglos und organisch verbinden«. Denn »die aus der geistigen Revolution der Goethezeit stammenden neuen Prinzipien des Lebens- und Geschichtsverständnisses« verbinden den Entwicklungs-Gedanken mit der Auffassung von dem »individuellen, unwiederholbaren 114 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Charakter« dieser Entwicklungen; und dazu komme »die weitere Einsicht«, daß »alle diese individuellen Hergänge und Gebilde im geschichtlichen Leben wieder unter sich zusammenhängen und stufenweise zu immer größeren und umfassenderen Individualitäten« führten. Mit dem Problem des »Relativismus« aber habe dies alles eigentlich nichts zu tun. Zwar könne der »Anblick der unzähligen individuellen Lebensmächte« das »Leben« »schwächen«; er könne aber auch das »Leben« »steigern«, dann nämlich, »wenn er das Lebensrecht sowohl der eigenen Innerlichkeit wie der ihn umgebenden und nährenden Lebensmächte - Religion und Vaterland vor allem - bewußt und tief« empfinde und »aus ihm heraus« auch handle. Ob die eine oder die andere Wirkung eintrete, sei aber eine »Sache des Charakters«. Für ein »ganzes und vollkräftiges Menschentum« jedenfalls gehe es vom Historismus aus »auch noch höher hinauf ins Religiöse und Metaphysische«. Nichts könnte deutlicher zeigen als dieser Essay Meinekkes aus dem Jahr 1942, wie sehr er sich in seinem Verständnis von ›Historismus‹ von dem entfernt hatte, was vor und bis 1933 in den Kulturwissenschaften als Historismus erörtert worden war: Dem modernen Historismus und Relativismus wird Historismus als »Geschichtsreligion« (W. Hardtwig) entgegengestellt.112 Meinecke vollzog den Ausstieg aus dem seit Nietzsche und auch von Troeltsch und Max Weber erörterten Thema des Historismus und seiner Folgelasten, indem er »eine in bejahender Gesinnung gehaltene Entstehungsgeschichte des Historismus« verfaßte.113 Ich realisiere meine Absicht, diese folgenreiche Neudefinition des Historismus zu historisieren, indem ich in diesem und im folgenden Abschnitt meiner Überlegungen zu zeigen versuche, (1) wie Meinecke, sich in der bisherigen Historismus-Diskussion der Kulturwissenschaften bewegend, in systematischer Hinsicht den bis dahin erörterten Historismus umdefiniert und welche Verluste an Erkenntnis dabei auftraten (Abschnitt IV); und indem ich (2) zeige, wo Meinecke im einzelnen die Elemente dessen, was er nun seinerseits ›Historismus‹ nannte, hergeholt hat (aus einer anderen Problem-Geschichte nämlich), auf wen er sich dabei - unausgesprochen - bezog und wen er dabei - unausgesprochen - beiseite ließ (Abschnitt V). Meinecke hat seine Umdefinition des Historismus in Stufen seit Anfang der 1920er Jahre vollzogen: zunächst in seiner Rezension des HistorismusBuchs von Troeltsch (»Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus«, 1923); dann mit seinen Ausführungen über Historismus in seinem Buch »Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte« (1924) sowie in weiteren Aufsätzen (»Kausalitäten und Werte in der Geschichte«, 1928; »Geschichte und Gegenwart«, 1933); und schließlich im Historismus-Buch von 1936 selbst.114 Den Ausgangspunkt dieses Weges und zugleich den Wendepunkt (im Verhältnis zu den vorangegangenen und zu den bis 1933 115 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
weitergehenden Erörterungen über Historismus) bezeichnet Meineckes Schrift über »Die Bedeutung der geschichtlichen Welt und des Geschichtsunterrichts für die Bildung der Einzelpersönlichkeit« aus dem Jahr 1918, und zwar in drei Hinsichten. Zum einen setzt sich Meinecke hier ausführlich mit Nietzsches Historismus-Analyse von 1874 auseinander, also mit dem »sogenannten Historismus, der uns plagt und schwach macht«. Zum anderen wird dagegen eingewendet, daß Nietzsche übersehen habe, »daß der Historismus, der nach seiner Meinung die schöpferischen Instinkte ertötet, in letzter Wurzel eben aus solchem schöpferischen Instinkte, wie er ihn forderte, hervorgegangen war«, nämlich der »geschichtlichen Bildung«. Die von Nietzsche bezeichnete Gefahr des alles relativierenden Historismus sei nicht zu leugnen, aber nun gehe es demgegenüber darum, ein »Doppelproblem« geltend zu machen: nämlich die Bedeutung des Individuums für die Geschichte und die »Bedeutung der geschichtlichen Welt für den Autbau der Persönlichkeit« zu erkennen und darzustellen. Der Weg zur Persönlichkeit führe »durch die historische Bildung«; denn »der geschichtliche Gesamtprozeß« sei »selber das große Vorbild und Schatzhaus der Individualität«. Und schließlich weist Meinecke bereits hier auf den Gegensatz seiner Überlegungen zum »Kollektivismus« und zum »Positivismus« hin und markiert damit den Gegensatz zum ›westlichen Denken‹; denn »die moderne westliche Demokratie« beruhe »in größtem Umfange auf positivistischen und kollektivistischen Voraussetzungen«.115 Für Meinecke war Historismus nicht nur »eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat«, sondern vor allem eine »Großtat« des »deutschen Geistes«: nämlich die »zweite seiner Großtaten nächst der Reformation«.116 1934 stellte Meinecke fest: dieser Historismus sei eine der »deutschesten Leistungen« des »deutschen Geistes«; und schon 1923 hatte Meinecke den Historismus als einen Ausdruck des deutschen »Andersseinwollens« bezeichnet.117 Diese »Großtat« ist wie oben bereits zitiert - die »Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung«;118 statt der Erfahrung von Gesetzmäßigkeit und typisierendem Denken der Aufklärung jetzt das Individuelle, die Geltendmachung der Kategorien »Individualität« und »Entwicklung« und damit des historischen Sinnes überhaupt: Historismus ist »das Gesamtphänomen des ›historischen Sinnes‹ ..., das seit den Tagen Mösers, Herders und Goethes das Verhältnis zur geschichtlichen Welt innerlich umgestaltet und die in Ranke gipfelnde Art von Geschichtsschreibung geschaffen hat«. Während in dem 1936 erschienenen Band des Werks die Vorstufen (u.a. Voltaire und Montesquieu) und dann die Genese »der großen deutschen Bewegung«119 von Möser über Herder zu Goethe dargestellt wird, ist der geplante zweite 116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Band, für den vor allem die Darstellung Rankes vorgesehen war, bekanntlich nicht mehr erschienen. Auch hier geht es natürlich um das von Nietzsche, Troeltsch, Weber und vielen anderen erörterte Problem von Wissenschaft und Leben im Zeichen des Historismus, was Meinecke schon 1923 in seiner Auseinandersetzung mit Ernst Troeltschs großem Buch vorgeführt hat. Bereits 1923 hatte Meinecke Troeltschs Bedürfnis kritisiert, in seiner mit den Mitteln der Wissenschaft erstellten Kultursynthese ein »positives und kräftiges Kulturprogramm« in praktischer Absicht, also im Sinne einer Anleitung zum richtigen Handeln zu geben, um damit, nämlich durch ein »Purgatorio umfassender geistesgeschichtlicher Arbeiten«, aus dem »Inferno der Wertanarchie« herauszukommen.120 Meineckes Kritik an Troeltsch ist aber ganz anders geartet als die Kritik Max Webers. Zwar teilt Meinecke die Analyse des Problems durch Troeltsch: das Leiden am »unendlichen Pluralismus der individuellen Werte, den wir überall entdecken«, und die »Zentralfrage«, wie man »wieder zu einer Wertlehre« kommen könne. Aber die Lösung liegt für ihn in der Rückkehr zum »freudigen Weltbild« des Historismus (d.h. des »individualisierenden Historismus«). Der »unendliche Pluralismus« sei zu »ertragen, wofern nur der Historismus fortführe, uns das Gefühl einer inneren Überlegenheit zu geben und einen ganz festen Halt für alle Grundfragen des Lebens uns böte«.121 Deshalb plädierte Meinecke in der Auseinandersetzung mit Troeltsch für eine »reine Kontemplation«, nicht »aus passiver Gesinnung, sondern aus dem wissenschaftlichen Bedürfnis nach strenger, grundsätzlicher Scheidung von Schauen und Schaffen«. Stelle man nämlich »der historischen Wissenschaft unmittelbar, wie Troeltsch es will, die Aufgabe, ein praktisches Kulturprogramm aufzustellen, so belastet man sie vor der Zeit mit praktischen Tendenzen, die ihre reine Bemühung um Wahrheit zu trüben drohen. ... Nicht unmittelbar, sondern mittelbar hat die Wissenschaft dem Leben zu dienen und wird es oft um so wirksamer tun, je genauer und strenger sie sich in sich abschließt«. Und Meinecke schloß diese Überlegung mit der Feststellung, daß sich »hier allerdings eine Antinomie« entwickle, nämlich »zwischen den Forderungen der Wissenschaft und denen des Gesamtlebens, die logisch nicht aufzulösen ist«. Meinecke beantwortete also die von Nietzsche gestellte Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Leben anders als Troeltsch und anders als Max Weber. Während Troeltsch den das Handeln lähmenden Wirkungen des Historismus die mit den Mitteln der Wissenschaft erarbeitete, Werte und somit Maximen des Handelns vermittelnde Kultursynthese entgegenstellte, die Historie also als wissenschaftliche Historie in den Dienst des Lebens stellte, und während Max Weber (und, diesem folgend, übrigens auch Otto Hintze122) das Verhältnis von Wissenschaft und Leben im Sinne einer Unterscheidung und Verknüpfung zugleich, also im Sinne 117 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
einer fortwirkenden Polarität, einer polaren Spannung bestimmte, hat Meinecke dieses Verhältnis im Sinne der ausschließlichen Trennung, ja einer unauflösbaren »Antinomie« definiert. ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ werden dissoziiert. Der Aufgabe zum unmittelbaren Dienst der Wissenschaft am Leben (im Sinne Nietzsches) wird zwar eine Absage erteilt, - ebenso wie Troeltschs Programm einer Anleitung des ›Lebens‹ durch Wissenschaft; zugleich aber wird auch das Problem der Verknüpfung und zugleich der Unterscheidung von Wissenschaft und ›Leben‹ (im Sinne Max Webers) beiseitegeschoben. Stattdessen empfiehlt Meinecke als Begründung und zugleich als Konsequenz seines Historismus einen individuellen und quasireligiösen Glauben, der auf Erkenntnis von Kultur und Geschichte gegründet ist, wie noch zu zeigen sein wird.123 Im Zusammenhang mit dieser Grund-Entscheidung hat Meinecke den Historismus-Begriff umdefiniert und zwar im Sinne einer weitgehenden Veränderung und zugleich Reduzierung der Begriffsinhalte, obwohl er die beiden Hauptelemente seines Historismus, ›Individualität‹ und ›Entwicklung‹, von Troeltsch übernahm.124 Meineckes Umdefinition wird bereits auf der ersten Seite des Buches auch darin sichtbar, daß der schon damals vorliegende Versuch einer Darstellung der bisherigen Geschichte von Wort und Begriff des Historismus (von K. Heussi, 1932)125 außer Acht bleibt.126 Die Veränderung und Reduzierung, die Um-Definition also, läßt sich in fünf Punkten bezeichnen, die hier noch einmal angedeutet seien.127 (1) Der Begriff des Historismus als einer umfassenden Historisierung der Welt und des Denkens wird aufgegeben. Auch Meinecke hat zwar durchaus anerkannt, daß ›Historismus‹ zunächst ein »Lebensprinzip« war, eine »neue Schau menschlichen Lebens überhaupt«, aus dem dann ›Historismus‹ als »Wissenschaftsprinzip« entsprang.128 Aber in dem Bemühen, dem Begriff »einen großen positiven Inhalt« zu geben, verstand er unter Historismus »nur jenes Gesamtphänomen des ›historischen Sinnes‹« und die »in Ranke gipfelnde Art der Geschichtsschreibung«, deren »eigentliches Herzstück« der Individualitätsgedanke darstelle.129 (2) Historismus ist nun nicht mehr, wie bei Troeltsch,130 ein die Moderne mit konstituierendes Phänomen, sondern nur noch eine von einzelnen Individuen (Möser, Herder, Goethe) hervorgebrachte Idee, die in »einer Art Gratwanderung durch das Gebirge ... von einem der hohen Gipfel zum anderen« erarbeitet wird.131 (3) Der Historismus, von Troeltsch noch als ein europäisches Phänomen erfaßt, wurde bei Meinecke außerdem zu einem spezifisch deutschen Gegenstand umgedeutet: der Historismus sei eine der »deutschesten Leistungen des deutschen Geistes«; und er sei zudem Ausdruck des deutschen »Andersseinwollens«.132 (4) Historismus wird reduziert auf die Denkformen des deutschen Idealismus, eines Wilhelm von Humboldt und Leopold von Ranke, was bereits Otto Hintze für »allzu eng« hielt und darauf 118 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
hinwies, daß der Historismus auch Positivismus und Marxismus »mit einschließt«.133 (5) Mit Meineckes Reduzierungen wird der Historismus zugleich beschränkt auf eine frühe Phase des geschichtlichen Denkens und der Geschichtsschreibung im 19, Jahrhundert. Er wird dadurch zu etwas Gewesenem und Abgeschlossenem. Die Entfaltung der Dimensionen des Historismus seit der Mitte und vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts mitsamt der Reflexion darüber seit Nietzsche und Dilthey und in vielen einzelnen Kulturwissenschaften wird ausgeklammert und beiseitegeschoben. Verlor der Historismus seine Qualität als ein konstitutives Phänomen und Problem der Moderne, dann verlor er auch das Bedrohliche und das Beunruhigende, das vor allem seit Nietzsche darin gesehen wurde. Mit den geistigen Auseinandersetzungen über die Moderne in der Zeit nach 1880 und über die Grundfragen von Wissenschaft in der Moderne (der sogenannten »Krise des Historismus«), von denen sich Weber, Troeltsch, Hintze und viele andere herausgefordert sahen, hatte Meineckes Historismus nichts mehr zu tun. Er war in seiner Gegenwart unaktuell, möglicherweise sogar »abgelöst« durch die »neue Revolution« von 1933, wie Meinecke 1936 andeutete. Aber gerade hierin ist ja der eigentümliche Vorteil des Vorgehens von Meinecke zu erkennen. Das Kernproblem nämlich, das seit Nietzsche im Mittelpunkt aller Erörterungen des Phänomens stand und das nach Aussage der Gegenwartsphilosophie auch unserer Tage noch immer eine Mitte philosophischer Bemühungen darstellt, das Problem des Relativismus nämlich und damit die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Leben, war bei Meinecke insofern ›gelöst‹, als es völlig eliminiert ist, ohne daß dies auch nur andeutungsweise erwähnt würde. Denn die idealistische Begründung historischer Erkenntnis bei Humboldt und Ranke (als Hauptvertretern des Historismus im Sinne von Meinecke) ist mit dem Relativismusproblem historisch noch nicht befaßt, weil sich dieses Folge-Problem des Historismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Historikern noch gar nicht gestellt hatte. Und sie ist systematisch damit nicht befaßt, weil der »Historismus« eines Humboldt und Ranke objektive Erkenntnis auf metaphysischer Grundlage zu geben versprach,134 also gerade jene später als ›objektivistisch‹ empfundene Begründung von historischer Erkenntnis gab (das berühmte ›Wie es eigentlich gewesen‹), die Nietzsche bei den NeoRankeanern seiner Zeit als eine leere Prätention verhöhnt hat. Meinecke entledigte sich des seit Nietzsche erörterten Historismus-Problems also dadurch, daß er den Historismus material umdefiniert und damit zugleich in eine vor-nietzscheanische Phase transferiert. Der Historismus, »den der deutsche Geist als eine seiner höchsten und deutschesten Leistungen« einst hervorgebracht habe, könne - so Meinecke 1934 - »ebensowenig untergehen, wie die Ideen Piatons und des Neuplatonismus, die als seine Vorstufen 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
gelten können, jemals ganz untergehen konnten und werden«.135 Beim Historismus im Sinne Meineckes geht es deshalb auch nicht mehr um den historischen Relativismus, dessen schneidende Gefährlichkeit Dilthey wie ein »Messer« empfunden hatte.136 Meinecke empfand den von ihm »nur« noch als das »Gesamtphänomen des historischen Sinnes« definierten Historismus, in einem kennzeichnenden Wechsel der Metapher, als ein musikalisches Erlebnis, ein beseligendes Kulturerlebnis also.137 Andererseits hat Meinecke das Problem des historischen Relativismus dahingehend eliminiert, daß er in unausgesprochener, aber deutlicher Wendung gegen Troeltsch einerseits, gegen Weber (und den diesem folgenden Hintze) andererseits, die polare Spannung von Wissenschaft und Leben zugunsten eines lebensphilosophischen Ansatzes aufgab. Hierin orientierte Meinecke sich, in einer zeitgemäßen Umorientierung, an Diltheys Lebensphilosophie. Damit habe Meinecke »in den Spuren Diltheys« den »kantischen Standpunkt« überwunden.138 Diese Art der Überwindung des Historismus war für Meinecke individuell, subjektiv und letztlich religiös begründet. Allein auf diese Weise sei es möglich, das »korrosive Gift« des »alles relativierenden Historismus« zu überwinden, »dessen Wirkung nur durch andere starke Ingredienzien überwirkt werden kann«,139 wie Meinecke 1933 schrieb. Dazu tauge weder die romantische Flucht in eine idealistische Vergangenheit, noch die geschichtsphilosophische Idee des Fortschritts. Hilfreich sei allein »das universale Geschichtsgefühl Goethes ..., das Vergangenheit und Gegenwart in Eins empfand«, und vor allem die »Weisheit Rankes«, sein Gedanke von der Unmittelbarkeit jeder Epoche »zu Gott«. Das einzige »Gegengift gegen das Gift des Relativismus« liege also darin, »das Gottverwandte in der Geschichte im Augenblicke zu suchen, in dem jeweiligen Exzelsiordrange des einzelnen Menschen, der einzelnen Völker und Staaten in ihren jeweiligen Epochen und Momenten«.140 Dies ist der Sinn von Meineckes Verankerung von Individuum und Entwicklung als Mitte des Historismus: »... im vollen Bewußtsein des unendlichen Werdestromes ... siegt ein Ewigkeitsgedanke über das bloß zeitlich Unendliche - und kein nur transzendenter und spekulativer Ewigkeitsgedanke, sondern ein im Herzen der Wirklichkeit und des Erlebnisses selbst wurzelnder«; denn »der Augenblick ist Ewigkeit«, wie Meinecke mit Goethe sagt. Das »Geistige« sei »nicht etwas Allgemeingültiges im Sinne mathematischer Wahrheiten«, vielmehr konkretisiere es sich »immer und immer nur in Individualitäten«.141 Das einzelne Individuum aber folge seinem Gewissen, dem einzig »absolut Gewissen« (J. G. Droysen), in dessen Stimme »mit einem Male alles Fließende und Relative der Form nach fest und absolut« werde. »Durch den Mund des Gewissens« jedoch sprächen »nun aber auch die höheren geschichtlichen Mächte, Volk, Vaterland, Staat, Religion usw. zu dem 120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Einzelnen, und dem, was sie ihm sagen, wohnt wieder, trotz des individuellen Wesens dieser Mächte, jener wunderbare absolute und schlechthin verpflichtende Charakter bei, der so auch das Gemeinschaftsleben vor dem Zerfließen in die Anarchie des Einzelwollens schützt«. Deshalb ist das Gewissen der »eigentliche metaphysische Quellpunkt« des Individuums und zugleich »das mächtige Bindemittel« der menschlichen Gesellschaft; es ist das individuelle Gewissen, welches Kultur und Geschichte deutet und daraus bindende Maximen des richtigen Handelns gewinnt: das Gewissen »als das Gottverwandteste in uns« zeige uns zwar nicht den »Sinn der Geschichte im Ganzen des Universums«, wohl aber »eine goldene Umrandung, innerhalb deren er liegen muß«; es ermöglicht es dem Historiker, »die Offenbarung des Gottverwandten in der Menschheit verstehend in uns aufzunehmen und nachzuerleben«. Anders gewendet: »Alle Ewigkeitswerte der Geschichte stammen letzten Endes aus den Gewissensentscheidungen der handelnden Menschen«.142 Dies ist der individuelle, religiöse und doch wesentlich auf die Erkenntnis von Kultur und Geschichte gegründete Glaube, die »Geschichtsreligion« (W. Hardtwig), welche Meineckes Erörterung des Historismus und seiner Probleme zugrundeliegt. »Geschichtsreligion« solcher Art hat Meinecke auch veranlaßt, nach dem Zusammenbruch von 1945 dieser »deutschen Katastrophe« mit dem absurden Vorschlag der Gründung von »Goethegemeinden« entgegenzutreten.143
V. Meineckes »Historismus« und Belows »Romantik«: Definitionen von »deutscher Bewegung« gegen »westliches Denken« Diesen Hinweisen zum systematischen Umgang Meineckes mit Begriff und Phänomen des ›Historismus‹ folgt nun, im fünften Abschnitt dieser Überlegungen, eine fachliche, nämlich auf das Fach Geschichte bezogene Historisierung. Hieran wird sichtbar, wie der Ausstieg Meineckes aus den Historismus-Debatten der Kulturwissenschaften seit den 1880er Jahren und vor allem nach 1918 durch den Einstieg in eine ganz andere Problem-Geschichte seiner Zeit ermöglicht und kompensiert wird, die deutschen Historikern damals überaus nahelag. Es ist dies die Problem-Geschichte des Verhältnisses von ›deutschem‹ und ›westlichem Geist‹. Eine solche Historisierung erscheint um so notwendiger, als erst neuerdings - im Zusammenhang mit aktuellen Kontroversen über Historismus - die Kunde von der unüberholbaren und nach wie vor orientierenden Kraft des Meineckeschen Historismus noch heute und erst recht heute lanciert wurde, Meinecke 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
mitsamt seinem Historismus gar als ein »Denkmal« gewürdigt wurde, das nicht »gestürzt« werden dürfe.144 Eine solche zweite Ebene der Historisierung von Meineckes Historismus läßt sich in drei Hinsichten bezeichnen. (1) Erstens sei an die Bemerkung Otto Hintzes von 1927 erinnert, daß in Meineckes Historismus (als einer »spezifisch deutschen Denkweise«) der Unterschied von deutschem und westlichem Denken (also von Historismus und Autldärung) »allzu scharf« und jedenfalls »schärfer« herausgearbeitet sei, »als es ohne die Gegensätze der Kriegspropaganda geschehen sein würde«.145 In der Tat: Meinecke partizipiert deutlich an jener seit 1914 und dann vor allem seit 1918 so überaus virulenten Produktion sogenannten deutschen Denkens, das sich vor allem von Frankreich als dem Herkunftsland von ›Aufklärung‹ und ›Republik‹ absetzt. Der Romanist Karl Vossler sprach damals, 1926, vom »Haßgesicht nach Westen«, das fast das einzige Moment sei, welches die Deutschen in ihrer hoffnungslosen Zersplitterung der »Meinungen, Interessen, Parteien, Klassen und Stände« noch verbinde.146 Und Thomas Mann hat 1926, in ähnlicher Absicht, ganz spezitisch gespottet über den »Glauben an Geschichtswiederholungen ... in deutschen Köpfen, nicht nur in Professorenköpfen, und zwar namentlich den (Glauben) an geistesgeschichtliche Wiederholungen«, wobei er vor allem den Glauben an die Wiederkehr der »deutsch-romantischen Revolution vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Autklärung, den Idealismus und die Klassik des achtzehnten, die Antithese von Humanität und Nationalität« im Visier hatte, die »Gelehrtenfiktion, als gehöre der geistesgeschichtliche Augenblick einem rein romantischen Rückschlag gegen den Idealismus und Rationalismus, gegen die Autldärung abgelaufener Jahrzehnte«.147 (2) Zweitens: Es war Meinecke, der diesen Gegensatz von deutschem und westlichem Denken in spezifischer Weise mit der Gegenüberstellung von Autklärung und Historismus als der »großen deutschen Bewegung« historisch gefüllt hat. Dieser durch Meineckes Historismus-Buch von 1936 definitiv zum wissenschaftlichen Thema erhobene Gegensatz von Historismus und Aufklärung ist noch immer Anlaß zu wissenschaftlichen Kontroversen, ja, er hat nach 1945 solche geradezu konstituiert. In diesem Zusammenhang darfein bisher nicht zur Kenntnis genommenes Eaktum nicht unerwähnt bleiben, daß nämlich Meinecke damals einen Autor und ein Buch durch Nicht-Erwägung ausgeklammert hat, ein Buch, das - schon 1932 erschienen - bereits ausdrücklich die Gegenthese zu seiner eigenen formuliert hatte. Es ist dies Ernst Cassirers Buch über »Die Philosophie der Aufklärung«.148 Das fünfte Kapitel dieses Buches, über »Die Eroberung der geschichtlichen Welt«, vertrat und vertritt hier aber nicht nur material die 122 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Gegenthese zu Meinecke, sondern mehr noch: Cassirer hat 1932 Meinekkes Buch von 1936 schon im vorhinein historisiert. »Die landläufige Ansicht«, so Cassirer, »daß das achtzehnte Jahrhundert ein spezifisch›unhistorisches‹ Jahrhundert gewesen sei, ist selbst keine geschichtlichbegründete und begründbare Auffassung: sie ist vielmehr ein Kampfwort und ein Schlagwort, das die Romantik geprägt hat, um in seinem Zeichen gegen die Philosophie der Aufklärung zu Felde zu ziehen«. Aber wenn man den Verlauf dieses Feldzugs näher betrachte, so Cassirer weiter, dann ergebe sich alsbald, »daß die Aufklärung selbst es gewesen ist, die die Waffen für ihn geschmiedet hat. Die historische Bildungswelt, die von seiten der Romantik gegen die Aufklärung aufgerufen wird, und in deren Namen ihre intellektuellen Voraussetzungen bestreitet, ist erst auf Grund der Wirksamkeit dieser Voraussetzungen, auf Grund der Ideen und Ideale der Aufklärung entdeckt worden. Ohne die Hilfe der Aufklärungsphilosophie und ohne ihr geistiges Erbe anzutreten, hätte die Romantik ihre eigene Position nicht erringen und nicht behaupten können«.149 Die Romantik sei zwar »in der Weite des geschichtlichen Horizonts und in der Gabe der historischen Einfühlung dem achtzehnten Jahrhundert unvergleichlich überlegen« gewesen, doch habe sie »diesen Vorzug in dem Augenblick (verloren), da es (galt), dieses Jahrhundert selbst in den rechten historischen Blickpunkt zu stellen«. Die Romantik habe also »versagt vor jener Vergangenheit, zu der sie sich selbst noch in einem unmittelbaren Verhältnis« befand. Sie sei gegenüber der Generation ihrer eigenen Väter »geschichtsblind« gewesen und habe insbesondere das »Bild der geschichtlichen Welt, das die letztere sich erarbeitet hat, nicht anders als polemisch zu sehen und zu behandeln vermocht«.150 Cassirers Sichtweise von Aufklärung und Romantik ist Teil einer Auffassung der europäischen Geschichte und Geistesgeschichte, die sich nicht, wie in der Folge dann bei Meinecke, für eine Gegenüberstellung nationaler Kulturen interessiert, sondern vielmehr den »eigentlichen Wert« nationaler Kulturen in Europa dadurch zu erkennen sucht, daß sie das jeweils »Eigene« und »Unvertauschbare« nicht absolut, nicht für sich, nicht im Gegensatz zu anderem betrachtet, sondern als spezifischen Beitrag zu einem Ganzen, als Teil eines Ganzen, das nur im Zusammenhang und gegenseitigen Bezug dieser Teile sich manifestiert. Französische, englische und deutsche Kultur sollen nach Cassirer durchaus als eine jeweils »in sich gegründete Einheit« verstanden werden, aber so, daß diese Einheiten im Blick auf ihren Zusammenhang und ihre Polyphonie im Ganzen erkannt werden, »die erst den Einklang der modernen Kultur hervorbringt und auf der ihre Kraft und ihre Eigenart wesentlich beruht«, wie Cassirer in seinem Aufsatz »Deutschland und Westeuropa im Spiegel der Geistesgeschichte« von 1931 notiert hat.151 Aufmerksamkeit dafür hat er nicht mehr gefunden. Ähnlich äußerte sich 1926 auch Karl Vossler, und ähnlich hat schon zuvor 123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Ernst Troeltsch in seinem Essay über »Deutsche Bildung« (1919) das Spezifische der »geistigen Grundlagen des heutigen Deutschland« nicht gegen den ›Westen‹, sondern vielmehr im Kontext der europäischen Kultur und mit besonderer Berücksichtigung der westeuropäischen und demokratischen Elemente zu bestimmen versucht.152 Natürlich hat Meinecke Cassirers »Philosophie der Aufklärung« gekannt, hat er das Buch doch 1934 in der Historischen Zeitschrift ausführlich besprochen.153 Er hat hier Cassirers »Schutzrede für die Aufklärung«, wie er das Buch nannte, als »lichtvoll und anmutig« gerühmt; und: »diesem ausgezeichneten Buche« müsse »sich fortan jeder, der sich mit geistesgeschichtlichen Problemen des 18. Jahrhunderts« beschäftige, »aufs tiefste verpflichtet fühlen«. Denn Cassirers Grundgedanke sei jener der »Kontinuität zwischen den Zeiten«, vor allem der Kontinuität der Aufklärung mit der »folgenden Epoche des Idealismus«, die so oft unterschätzt werde. Es gehe hier um die »Revision jenes großen Prozesses, den die Romantik gegen die Aufklärung angestrengt« habe; denn durch Cassirer werde der »das 18. vom 19. Jahrhundert trennende Graben bedeutend eingeebnet«. Aber gerade darin wollte der Historiker Meinecke dem Philosophen Cassirer letztlich keineswegs folgen, gerade hierin machte er gegen Cassirers Darlegungen »starke Einschränkungen« geltend.154 Und überhaupt sei Cassirers Buch doch mehr »mit den Mitteln und Erkenntniszielen ... des Philosophen als des Historikers geschrieben«. Und obwohl Meinecke erklärte, daß künftig »die Kontinuität zwischen Aufklärung, Idealismus und Romantik ... viel unbefangener und weitherziger anerkannt werden« müsse, hat er sein eigenes Buch über dieses Thema recht eigentlich im entgegengesetzten Sinne ausgerichtet. Und dadurch, in dem hiermit sich eröffnenden Gegensatz zwischen Cassirers Aufklärungs-Buch von 1932 und Meineckes Historismus-Buch von 1936, zwischen einer europäischen Aufklärung und einem genuin deutschen Historismus, war jener Antagonismus der Auseinandersetzungen über ›Aufklärung‹ und ›Historismus‹ konstituiert, der noch heute die deutsche und dadurch zum Teil sogar die internationale Diskussion der Historiker über ›Historismus‹ unaufhörlich und zugleich unausgesprochen in Gang hält. (3) Dieser Sachverhalt ist bedeutsamer, als es zunächst den Anschein hat. Denn Cassirer nahm mit seinen Formulierungen von 1932 bereits sehr dezidiert Stellung in einer damals in der deutschen Geschichtswissenschaft wie auch in anderen Kulturwissenschaften heftig geführten Kontroverse, einer Kontroverse nämlich über Aufklärung und »Romantik«, in die auch Meineckes Historismus hineingehört - obwohl Meineckes Verwendung des Wortes Historismus gerade diese Zugehörigkeit verschleiert. Denn um das, was Meinecke als »die große deutsche Bewegung« bezeichnete, ging es damals auch anderen.155 Es ging nämlich, vor allem seit 124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
1918, um das ›Wesen‹ der deutschen Geschichtsschreibung in ihrer Unterscheidung von der des ›Westens‹. Die Katastrophe von 1918 und die Notwendigkeit ihrer geistigen wie politischen Bewältigung hat auf diesem Feld die Federn zahlreicher Kulturwissenschaftler, vor allem aber zahlreicher Historiker in Gang gesetzt. Ernst Troeltsch freilich warnte gerade in diesem Zusammenhang vor einer allzu ausgeprägten Fixierung auf die Zeit des deutschen Idealismus und der Romantik: dies kam ihm als »Biedermeiertum« vor, und die »Zurückwendung« zu »jener alten Zeit« erschien ihm »ein bißchen ähnlich wie unsere heutige Schätzung des Biedermeierstils und seiner Möbel: Bedürfnis nach Beruhigung und nach Kontinuität mit dem letzten Stil, den es gegeben hat«. Das aber sei »ein verdammt schwacher Zusammenhang«.156 Deshalb betonte Troeltsch in seinem Historismus-Buch von 1922 eher die Widersprüche und Ungereimtheiten der einzelnen Positionen seiner Fachkollegen über die »Organologie der deutschen historischen Schule«.157 Im Gegensatz dazu verfolgte der Philosoph Erich Rothacker in seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (zuerst 1920) das Ziel, den »Geist« der deutschen Historischen Schule (das ist: »Herder, Goethe und Hegel, Savigny, Grimm und Ranke«) darzustellen und diese »Blüte unserer Geisteswissenschaften als selbständiges ebenbürtiges Glied eines Triumvirats neben unserer klassischen und romantischen Dichtung und der idealistischen Philosophie der ›Deutschen Bewegung‹ einzuordnen«.158 Rothakker ließ den »mächtigen Organismus der historischen Schule« mit Savigny beginnen; diese ›Schule‹ habe von der »Kritik des Rationalismus« ihren Ausgang genommen und ein »System letzter Werthaltungen des Lebendigen und Eigentümlichen, des Organischen und Mannigfaltigen, Naturgemäßen und Echten, Ursprünglichen und Sittlich-Beharrlichen, des Altertümlichen und Ehrwürdigen, Freigewachsenen und Historisch Gewordenen, Volkstümlichen, Nationalen, Sinnlich Kräftigen und Anschaulichen, Besonnenen und Unwirren, einer Harmonie der Teile mit dem Ganzen, des Gehaltes mit der Form usw.« vertreten.159 Der Historiker Moriz Ritter hingegen ließ die »Erhebung des deutschen Geistes« mit Niebuhr beginnen.160 Von besonderem Gewicht in diesen von einem spezifischen Erleben des Zusammenbruchs von 1918 angestoßenen und geprägten Fragestellungen und Thesen war jenes Buch, das der politisch so überaus streitbare und auch sonst keine sich bietende wissenschaftliche Kontroverse vermeidende Georg von Below161 unter dem Titel »Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unsern Tagen« in erster Autlage 1916, in zweiter und wesentlich erweiterter Auflage 1924 veröffentlicht hat.162 Die zweite Auflage erschien in der von Below und Meinecke gemeinsam herausgegebenen Reihe des »Handbuchs der Mittelalterlichen und Neue125 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ren Geschichte«. Ziel des Buches war es, in ausdrücklicher Anlehnung an Erich Rothacker zu zeigen, daß die »Einheit, von der die Entwicklung der deutschen Historiographie im letzten Jahrhundert umfaßt wird, ... wesentlich darin (liegt), daß sie in der romantischen Bewegung ihren Ausgangspunkt hat«;163 diese »romantische Bewegung« sei aber nicht bloß die romantische »Dichterschule«, keine bloß ästhetische oder literarische Bewegung, sie bedeute vielmehr eine »kulturelle Revolution«; denn sie habe »alle Gebiete der geistigen Tätigkeit und des öffentlichen Lebens« ergriffen; sie sei zudem »eine Schöpfung zwar nicht des protestantischen Geistes, aber des protestantischen Bodens und seines Staates, des preußischen«; ihr Ziel sei, seit Möser und Herder, »die Beseitigung des Rationalismus«164 gewesen. In Anknüpfung an Rothackers Beschreibung des »Organismus der historischen Schule«165 gab dann auch Below seine Definition der »romantischen Bewegung«: »Während die Rationalisten die historischen Vorgänge, die Handlungen der Menschen vorzugsweise aus Einzelursachen, und zwar mit Vorliebe aus bewußter Berechnung herleiteten, während sie alles rationalisieren wollten und rationalisieren zu können glaubten, betonten die Romantiker die Abhängigkeit des Menschen von allgemeinen Kräften, das Unbewußte, das Unerklärliche, das Geschichtliche, das Gegebene«. Von hier aus begreife sich ihre »gesamte Auffassung: ihre Stellung zu den religiösen Problemen, ihre Theorien über die Entstehung der Werke der Dichtkunst, ihre allgemeine Stimmung gegenüber der Vergangenheit: sie wollten die Dinge schlicht nehmen, wie sie sind, sich liebevoll in die früheren Jahrhunderte vertiefen«; und dadurch habe sich auch ein »dem Rationalismus entgegengesetztes Verhältnis zu Staat und Nation« ergeben; »das Volk wurde nicht als eine augenblickliche Personenzahl angesehen, sondern als eine Gemeinschaft, die ihre Wurzeln in ferner Vergangenheit hat ...«; deshalb mußten der »Individualismus und Kosmopolitismus« der Aufklärung »zurücktreten, und dafür gelangten der vorhandene Staat und die Nation zu ihrem Recht«.166 Aber gerade darin habe die Romantik zugleich die »Persönlichkeit als Individualität« verstanden und den »Begriff der Totalität« zur Geltung gebracht, nämlich die Erfassung des »Lebens« in seiner »Einheit und Ganzheit«.167 Vor allem aber verdanke die Geschichtswissenschaft der Romantik »eine Methode von außerordentlicher Bedeutung: die Pflicht und Kunst, den Menschen, die Menschen, die Vorgänge und Erscheinungen der Vergangenheit aus ihrem Kreis, ihrem Zusammenhang zu verstehen. Die Ausbildung dieser Methode ist eine Ausprägung der allgemeinen romantischen Anschauung von der Abhängigkeit des Menschen von allgemeinen Mächten«, nämlich von denjenigen Mächten, »die zeitweilig auf ihn wirkten, die natürlich auch ewige Mächte sein konnten und tatsächlich auch gewesen sind«.168 Und natürlich ist, so Below, auch Ranke ein Romantiker. Denn er verband »die 126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
durch die romantische Bewegung begründete neue Auffassung mit der durch die klassische Philologie ... geschaffenen methodischen Technik unter spezieller Anwendung auf das Studium des Mittelalters und der Neuzeit«.169 Zugleich aber habe die »Romantik« durchaus »sämtliche Disziplinen«, die man als historische bezeichnen könne, erfaßt und geprägt: die historische Rechtsschule (Savigny, Puchta, Eichhorn), die germanische Philologie (Jacob Grimm), die allgemeine Literaturgeschichte, die Theologie (Schleiermacher), die historische Schule der Nationalökonomie (Roscher), die Kunstgeschichte (Winckelmann).170 Und auch Goethe ist »Romantiker«. Denn die Bezeichnung ›Romantik‹ sei »vorzüglich geeignet«, weil sie eine »Bewegung« bezeichne, die der ›Aufklärung‹ in allem sich entgegensetzte, und: »Goethesches Wesen und die Goethezeit bedeuten Widerspruch gegen die Aufklärung«.171 Im übrigen solle man nicht kleinlich sein: es genüge »für unseren Zweck«, zu sagen, daß Goethe »zum guten Teil romantisch dichtet«; denn die »Hauptsache« bleibe »eben doch immer die Erkenntnis, daß mit der Jahrhundertwende (gemeint ist: um 1800) eine umfassende Bewegung einsetzt, daß diese im entschiedenen Gegensatz zur Aufklärung steht und daß dieser die im engsten Sinn sogenannten Romantiker ebenso angehören wie die spekulativen Philosophen«.172 In alledem wird sichtbar, welche zentralen Thesen und Deutungen Belows in Meineckes Auffassung von ›Historismus‹ wiederkehren: die Wahrnehmung einer Linie von Möser und Herder zu Ranke und Goethe sowie die Antithese von Aufklärung und ›Romantik‹ bzw. ›Historismus‹, welcher die ›rationalistische‹ Auffassung der Geschichte überwunden habe. Und von Below stammt offenbar auch der Begriff der »Bewegung«, der »deutschen Bewegung«, ja, der »großen deutschen Bewegung« als einer »kulturellen Revolution«, der sich bei Meinecke wiederfindet, wodurch wie Below sich ausdrückte - die Romantik »die Bewegung für die Begründung der geschichtlichen Auffassung« schlechthin geworden sei und womit auch »der Betrieb der kulturgeschichtlichen Studien ... eine ganz neue Gestalt« angenommen habe.173 Denn »durch die Entdeckung der geschichtlichen Welt« habe »die Romantik jene neue Gesamtauffassung des geistigen Lebens zur Verfügung gestellt, die ein unverlierbares Eigentum (auch) unserer Zeit« darstelle.174 Und so bedeute denn auch die »romantische Wissenschaft« nichts anderes als eine »Anerkennung der gewaltigen Bedeutung von Nation und Staat«,175 was bekanntlich das zentrale Thema von Belows Geschichtsforschung wie auch seiner Wirkungen auf die deutsche Geschichtswissenschaft war.176 Dementsprechend heißt es dann bei Meinecke, daß das »historisch-genetische Denken« des Historismus eine »Waffe« gewesen sei »vor allem für die Schöpfer des deutschen Nationalstaats«: »Von Dahlmann und Droysen bis zu Treitschke waren es die 127 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
politischen Historiker, die ihm den Weg bereiteten, und Bismarck war voll von historischen Anschauungen, die an Rankes Weisheit erinnern«.177 Und von Below kommt auch Meineckes Bewertung dieser »Bewegung« als einer »Großtat des deutschen Geistes«, und zwar als der »zweiten Großtat des deutschen Geistes nächst der Reformation«.178 Vor allem sah Below diese »kulturelle Revolution« der Romantik in unmittelbarer Verbindung mit der Beseitigung der »vollkommenen Herrschaft Frankreichs« und auch der »Vorherrschaft« der französischen Kultur: »Die Zeit der Befreiungskriege ist die der romantischen Bewegung, in der die Deutschen sich der Werte ihres eigenen Volkstums bewußt wurden. An den namhaften Romantikern läßt es sich beobachten, wie sie doppelte Arbeit taten, das Volkstum wissenschaftlich zu erfassen und national selbständig zu stellen. Historisches und Nationalgefühl sind von der Romantik gleichermaßen angeregt und mächtig gefördert worden. Man wollte wieder ein kräftiges und großes Volk und Reich, wie man es als ideal verklärtes Vorbild aus der Vergangenheit entnahm«. Mit dieser »Arbeit, die die Deutschen jetzt zu leisten wußten«, hätten sie sich zugleich »über die anderen Nationen« erhoben: »Jetzt wurden auch die Selbständigkeit und die Überlegenheit der deutschen Wissenschaft erkämpft, der Wissenschaft auf allen Gebieten, nicht in letzter Linie der vom Staat, der Rechts- und der Geschichtswissenschaft«.179 Die fundamentalen Schwächen, die enormen Defizite, überhaupt das Gewollte und Gekünstelte von Belows Darlegungen brauchen hier nicht weiter erörtert zu werden.180 Dazu haben bereits Zeitgenossen wie Karl Brandi und Fritz Hartung das Nötige gesagt,181 - Fritz Hartung mit der kurz angebundenen Bemerkung, Belows ›Deutsche Geschichtschreibung‹ sei »als Ganzes verfehlt«. Und man wird ihnen um so mehr Glauben schenken dürfen, als sie doch gleichzeitig betonten, daß sie (unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Fundamentalkritik an Below) diesem in seinen politischen Standpunkten durchaus sehr nahestünden.182 Heftig kritisiert wurde damals auch, daß Below die »große deutsche Bewegung«, in der sich die moderne Geschichtswissenschaft in Deutschland und auch anderswo konstituiert habe, mit dem Begriff der ›Romantik‹ bezeichnete. Dieser Streit war aber eigentlich nicht nötig, da Below die Frage, wie diese »Bewegung« zu benennen sei, selbst problematisiert hat. »Es stehen uns«, so Below in seiner letzten (erst nach seinem Tod von Othmar Spann veröffentlichten) Schrift über »Das Wesen der Romantik«, »folgende Bezeichnungen zur Verfügung: Deutscher Idealismus, Romantik, Historische Schule, Irrationalismus oder deutscher Idealismus und Romantik«.183 Below erklärte, daß er sich für die, wie er schreibt, »viel angefochtene Bezeichnung Romantik« entschieden habe, daß er aber gleichwohl diese Entscheidung für revidierbar halte. Denn, wie bereits oben zitiert: die »Hauptsache« bleibe doch »immer die Erkenntnis, daß mit 128 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
der Jahrhundertwende (sc. der Wende zum 19. Jahrhundert) eine umfassende Bewegung einsetzt«, und: »daß diese im entschiedenen Gegensatz zur Aufklärung steht«.184 Entscheidend sei nämlich, »daß alle großen Geister jener Zeit mehr oder weniger von einer die Aufklärung ablehnenden Bewegung erfaßt worden sind«. Deshalb stünden »Goethe, Savigny, J . Grimm, Ranke, ebenso Herder, Goethe, Ranke in einer Reihe«. Die Frage der Bezeichnung der von diesen Namen repräsentierten »Bewegung« erschien Below demgegenüber weniger wichtig. »Ich gestehe«, so schrieb er zuletzt, »lebhaft zu wünschen, daß für diese umfassende Bewegung eine vollkommen zutreffende Bezeichnung entdeckt würde«.185 Dieser Wunsch, so könnte man sagen, wurde Below von Meinecke in gewisser Weise erfüllt. Das ist nicht überraschend, da auch Meinecke schon zuvor, von Below alsbald beifällig zitiert, in seiner Schrift über »Die Bedeutung der geschichtlichen Welt und des Geschichtsunterrichts für die Bildung der Einzelpersönlichkeit« aus dem Jahr 1918 die »neue Geschichtsauffassung und Geschichtsforschung ..., die in Ranke gipfelte,« durchaus, wie Below, »aus der Gedankenbewegung des deutschen Idealismus und der sich anschließenden Romantik« hatte hervorgehen sehen.186 Meineckes Historismus beruht also auf zwei Entscheidungen seines Urhebers. Einerseits hat Meinecke im Kontext der damaligen HistorikerDiskussion über die »große deutsche Bewegung« in der Geschichtsschreibung, die sich gegen die Aufklärung gerichtet habe, und in engstem Zusammenhang mit dieser Diskussion, mit der Verwendung des Wortes ›Historismus‹ zur Bezeichnung dieser »großen deutschen Bewegung« die auch von Below als unbefriedigend empfundene terminologische Situation gewissermaßen geklärt. Historismus ist jetzt die »große deutsche Bewegung« in der Geschichtsschreibung, die sich von der Aufklärung absetzt. Im Blick auf die damaligen und seit den 1880er Jahren dauernden Historismus-Diskussionen in allen Kulturwissenschaften hingegen hat Meinecke andererseits eben dadurch dem Begriff ›Historismus‹ einen weitgehend neuen Inhalt untergeschoben. Damit hat er die Teilnahme der Historiker an diesen kulturwissenschaftlichen Debatten über Historismus sistiert. Seltsamerweise ist es bis heute dabei geblieben.
VI. Meinecke und die Folgen Denn die deutschen Historiker sind Meinecke auch nach 1945 auf seinen Wegen gefolgt, auch und gerade dann, wenn sie Meineckes Historismus negativ beurteilten. Dieser Sachverhalt erscheint um so seltsamer, als doch gerade Vertreter anderer Kulturwissenschaften, damals wie heute, sehr deutlich ihre Ablehnung von Meineckes Historismus ausgesprochen haben. 129 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
So hat der Nationalökonorn Walther Eucken schon 1938 (in seiner Schrift »Die Überwindung des Historismus«, welche nach Inhalt und Tendenz in die Geschichte der Historismus-Debatten vor 1933 gehört) völlig zutreffend festgestellt, daß Meineckes Historismus mit dem von Troeltsch als ›Historismus‹ bezeichneten Phänomen und Problem (mit dem sich Eucken wiederum intensiv auseinandersetzte), also mit der universalen Historisierung und ihren Konsequenzen, eigentlich nur den Namen gemeinsam habe: Meineckes Werk, so damals Eucken, »leide« unter dem »unglücklichen Gebrauch des Wortes Historismus«, da Meinecke das Wort »zur Bezeichnung einer geistigen Bewegung« verwendet habe, »die dem heutigen Historismus ganz fern steht«. »Jede kritische Auseinandersetzung mit dem Historismus« (wie sie Eucken führte) sei aber »von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn die ältere Bewegung, die zur Erforschung der historischen Welt in ihrer Individualität führte, mit dem Historismus vermischt wird«. Die »individualisierende Betrachtung der Kulturen, Staaten, Völker und Persönlichkeiten«, durchaus eine »große Leistung des deutschen Geistes«, dürfe keineswegs vermengt werden mit der ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammenden »Denkhaltung« des Historismus, der »alle Werte - der Religion, des Rechts, der Moral, der Wissenschaft« in Frage stelle.187 Analoge Kritik, wie sie 1938 Walther Eucken notierte, äußerte jüngst der Philosoph und Historiker Horst Günther188 im Blick auf die Darstellung Goethes im Rahmen von Meineckes Historismus-Buch. Nämlich: sie sei »absurd«; und: es lohne sich nicht einmal, »sie Stück für Stück zu widerlegen«. Denn: »die Begriffe und Kategorien Meineckes haben sich als verfehlt erwiesen, dieser Historismus war ein Irrtum, und die Geschichte historischer Erkenntnis muß ... neu erarbeitet werden«. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang - auch heute noch die Stimme eines ausländischen Historikers, nämlich die Kritik, die der französische Mediävist Marc Bloch 1939 an Meineckes Buch übte.189 Er verstand es als Beitrag zu einer Mentalitätengeschichte der Wissenschaft (»Ce qu'il entend par Historismus est, foncièrement, une attitude mentale«) und hielt mit dem Ausdruck seiner Bewunderung nicht zurück (»Un ouvrage de M. Meinecke n'est jamais indifférent«). Zugleich aber war er von diesem Buch zutiefst irritiert (»Et cependant, il taut bien l'avouer, pour un historien formé à d'autres écoles, qu'un pareil livre est donc déconcertant!«). Erstaunlich sei die »Individualisierung«, ja fast »Vergöttlichung« des Staates; - die Vorstellung eines historischen Denkens, das zwischen Goethe und Ranke seinen Höhepunkt erreicht und sich seither nicht weiterentwickelt haben soll; - die Verneinung aller seitherigen Anstrengungen der Geschichtswissenschaft, »de tous les efforts tentés, au cours de ce siècle précisément, pour integrer la connaissance des événements particu130 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
liers dans une science humaine plus vaste: efforts bien timides encore, assurément, et bien incertains, mais dont nul n'a le droit de dire par avance qu'ils doivent être définitivement vains, ni, moins encore, qu'ils soient sans beauté«. Hier hat Marc Bloch also sehr präzise die fundamentale Differenz zwischen französischer und deutscher Geschichtswissenschaft am Ende der 1930er Jahre bezeichnet und zugleich die Gründe angedeutet, die zur Verspätung der deutschen Geschichtswissenschaft noch und erst recht nach 1945 führen sollten.190 Die deutschen Historiker sind jedenfalls auch nach 1945 ohne Bedenken der Suggestion Meineckes erlegen und haben sich damit auch des Historismus als eines Grundproblems der Moderne entledigt. Bei Historikern galt nach 1945 der Historismus als »vollendet«, oder er galt als etwas Gewesenes und Überholtes: »der Historismus in seiner alten Form ist untergegangen«.191 Und während in anderen Kulturwissenschaften die Auseinandersetzung über Historismus als die universale Historisierung und über deren Folgen virulent blieb, galt in der Geschichtswissenschaft die Ansicht, der Historismus sei »eine abgeschlossene Größe« und gehöre »der Geschichte an«; eine »aktuelle Herausforderung« stelle er jedenfalls nicht mehr dar.192 Deshalb überrascht auch nicht, daß auch die Kritik an Meineckes Historismus, so wie sie insbesondere seit Ende der 1960er Jahre laut wurde, Meineckes Historismus verpflichtet blieb und sich von ihm nicht lösen konnte. Damit entstand das eingangs bereits erwähnte epistemologische Paar, das heißt: eine Auseinandersetzung von Auffassungen, die sich explizit gegenseitig als konträr verstehen und die doch zugleich in unausgesprochenen, aber entscheidenden Grundannahmen übereinstimmen. Das heißt: man stritt über Meineckes Historismus und war sich dabei doch unausgesprochen darüber einig, daß die Frage, was Historismus sei und wie er zu beurteilen sei, an Meineckes Historismus und an nichts sonst entschieden werden müsse. Wenn Meinecke schon 1923 den von ihm bezeichneten Historismus als Ausdruck eines deutschen »Andersseinwollens« und 1934 als eine der »deutschesten Leistungen des deutschen Geistes« deutete, so wurde dieses Denkmuster nicht aufgegeben, sondern - im Gegenteil geradezu bestätigt, wenn man jetzt Historismus als Inbegriff deutschen Fehlverhaltens, als eine »besondere deutsche Fehlentwicklung«193 beschrieb und die »fatale Schwäche des klassischen deutschen Historismus« und ihre unheilvollen Konsequenzen herausstellte:194 seine »aristokratische Voreingenommenheit«, seine dem »Ideal der Objektivität« verpflichtete »methodische Einseitigkeit« und seine »Wertphilosophie«: die Idee nämlich, »daß objektive Wahrheiten und Werte existierten«. Vor allem galt der Kampf dem »oft dogmatisierten Individualitätsprinzip des deutschen Historismus« und seiner am Verstehens-Begriff orientierten Hermeneutik,195 131 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
woraus die Forderung nach einer »Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus« resultierte. Der Suggestivität von Meineckes Historismus erlag schließlich auch Thomas Nipperdey, der zunächst 1975 in seiner Abhandlung über »Historismus und Historismuskritik heute« eine neue Diskussion über Historismus in Gang zu bringen versuchte, um aus dem Dilemma des Pro und Contra zu Meineckes Historismus herauszugelangen. Nipperdey versuchte hier einerseits, gegen die neue, gegen Meineckes Historismus gerichtete Historismuskritik (Historismus sei kontemplativ, objektivistisch, individualitätszentriert, deskriptiv, an den Verstehensbegriff gebunden, subjektivistisch, auf politische Geschichte und Geistesgeschichte fixiert) erneut und durchaus im Sinne Meineckes die »revolutionäre Implikation«, die »revolutionierende Leistung« des Historismus zu beschwören, die »alle diejenigen verkennen, die den Historismus allein als eine Tradition stabilisierende oder dem Status quo verpflichtete Kraft ansehen«, nämlich: »die Leistung, alles Seiende zu verflüssigen, als entstanden, sich wandelnd und darum auch als vergehend und veränderbar darzustellen«.196 Nipperdey übte aber auch zugleich selbst Kritik an Meineckes Historismus, indem er ein Plädoyer u.a. für die Enttraditionalisierung, EntSpezialisierung und Entnationalisierung der Erörterung von Historismus forderte. Dies blieb freilich ohne Konsequenzen, vielleicht auch deshalb, weil Nipperdey selbst in der Darstellung des ›Historismus‹ in seiner »Deutschen Geschichte 1800-1866« - wie oben bereits erwähnt197 - im ganzen wieder zu Meineckes Historismus zurückgekehrt ist.
VII. Resümee Ich plädiere also nicht nur für die Historisierung von Meineckes Historismus, sondern auch für eine Historisierung der aktuellen HistorismusDiskussion der Historiker. Gerade dies aber wurde jüngst ausdrücklich abgelehnt:198 »Spätestens mit Meineckes Historismus-Buch« - man möge das bedauern, an der Tatsache selbst komme man aber nicht vorbei »wurde diese Begriffsverwendung (nämlich die der Historismus-Diskussionen vor Meinecke) ... verdrängt«; und, noch einmal: »In den letzten 25 Jahren, seit der Darstellung von Iggers« (gemeint ist Iggers' Buch von 1968 bzw. 1971), 199 habe sich eine andere Konzeption »durchgesetzt«: Historismus sei deshalb »nach heutigem Sprachgebrauch weithin identisch« mit jener Konzeption des historischen Denkens, »wie sie sich für die verstehenden Geisteswissenschaften mit Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland herausgebildet« habe und schließlich »typisch geworden« sei. Das heißt: Historismus sei eben, so oder so, identisch mit Meineckes Historismus. 132 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Diese Argumentation uberzeugt nicht. Denn die Behauptung uber den »heutigen Sprachgebrauch« trifft nicht zu, wie wir gesehen haben: dieser Sprachgebrauch ist ganz und gar auf die Zunft der Historiker beschränkt. Und außerdem können Historisierungsverbote unter Historikern wohl nicht als plausibel gelten, schon gar nicht, wenn es um Historismus geht. Kurzum: ich bin der Auffassung, daß die deutschen Historiker gut daran täten, ihren von Meinecke gewiesenen und seither im Pro wie im Contra verfolgten ›Sonderweg‹ der Wahrnehmung von Historismus endlich abzubrechen, um sich wieder in die allgemeinen Diskussionen der Kulturwissenschaften über Historismus zu integrieren. Es könnte ja durchaus ein Gewinn sein, wenn die Historiker ihre Kompetenz für den Historismus und seine Probleme wiedergewinnen würden. Denn: der Historismus im älteren und umfassenden Sinn eines Grundproblems der Moderne bleibt. Darin liegt, so denke ich, auch eine Antwort auf die Frage, ob es sich lohnt, zu wissen, was Historismus ist. VIII. Historismus und Kultur der Gegenwart Weitere und konkretere Antworten ergeben sich, wenn man sich aktuelle Diskussionen der Gegenwart ansieht, in denen eben dieses HistorismusProblem als konstitutives Problem der modernen Welt, in der wir leben, erörtert wird. Dies sei abschließend an vier Beispielen verdeutlicht. (1) Die »Aufdringlichkeit der Geschichte«, der »expansive Historismus unserer Gegenwartskultur«, von dem Hermann Lübbe gesprochen hat,200 bleibt. Von einem »Ende« oder einer »Vollendung« des Historismus kann gar keine Rede sein. Dieser Sachverhalt tritt derzeit immer mehr und in den verschiedensten Zusammenhängen zutage, die untereinander verknüpft sind. Zu erinnern wäre hier an das Problem der fortschreitenden Musealisierung der Lebenswelt.201 Es ist verknüpft mit den Grundproblemen der Denkmalpflege und Stadterneuerung, die in der Weise, wie sie sich heute stellen, schon in den älteren Historismus-Diskussionen um 1900 erörtert wurden: von Georg Dehio, Alois Riegl, Max Dvorák, worauf oben bereits hingewiesen wurde.202 Und seit 1989 hat die Fülle der hier einschlägigen Probleme noch erheblich zugenommen; es genügt, im Blick auf Berlin die Stichworte Reichstag, Berliner Stadtschloß, Potsdamer Platz zu nennen,203 von gleichartigen Fragen anderswo ganz abgesehen.204 Aber alles dies gilt auch für die Debatten über Denkmäler im engeren Sinn, zum Beispiel über Schinkels Neue Wache und ihre Neugestaltung,205 über den Umgang mit den Denkmälern der DDR sowie mit neuen Funden von NS-Relikten und zum Beispiel auch für die inzwischen entschiedene Frage des Umgangs mit dem sogenannten ›Kapitulationsmuseum‹ der Roten Armee in Berlin133 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Karlshorst. Hier stellten und stellen sich die Grundprobleme des Historismus (freilich nicht von Meineckes Historismus) im Kontext neuer Situationen immer wieder aufs Neue. (2) Unverkennbar ist derzeit auch die »Wiederkehr des Historismus in der Gegenwartsphilosophie«.206 »In vielen wichtigen philosophischen Strömungen der Gegenwart finden sich«, so wurde jüngst festgestellt, ›erneut grundlegende historistische Vorstellungen und Theorieelemente«.207 Die »Geschichtlichkeit der Vernunft« wird wiederentdeckt,208 Plurahliät als unabweisliche Folge von Historizität erkannt. Im Zeichen (nicht einer epochal definierten ›Postmoderne‹, sondern) einer ›postmodernen Moderne‹209 wird »radikale Pluralität« als Grundverfassung moderner Gesellschaften erkannt, nämlich das »unüberschreitbare Recht hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster«.210 Für die modernen Gesellschaften, »in denen die Pluralität der Lebensformen und die soziale Relativität des eigenen Bekenntnisses und Interesses nicht nur Gegenstand intellektueller Reflexion, sondern alltäglicher Erfahrung geworden sind«, sei, so wurde jüngst festgestellt, der »Fundamentalismus der Moderne« zu entdecken, der nicht mehr auf die Integration durch Ähnlichkeiten (religiöse Bekenntnisse, ethnische Merkmale, nationale Traditionen) setzt, sondern einzig auf das »historische Kapital ertragener Divergenz«: es sind die »gemeinsam durchgestandenen«, die »erfolgreich gelösten oder besser: gehegten Konflikte«, die ein »fragiles symbolisches Kapital« bilden, welches »quer liegt zu konsensuell fixierten Traditionen«.211 Juristen sprechen von der »immer neuen Last« und zugleich der »immer neuen Notwendigkeit« des Pluralismus.212 Soll man die Anstrengungen noch und immer wieder darauf richten, »wieder in einer Welt« zu leben, ist es also »die eigentliche Herausforderung des modernen Menschen«, die »Einheit seiner Welt und seiner Existenz« zurückzugewinnen (J. Mittelstraß),213 - oder beruht »die philosophische Erregung dieses Jahrhunderts« nicht vielmehr gerade in der »Entdeckung«, »daß wir in mehr als einer Welt leben« (Hans Blumenberg)?214 Soll die »Makroethik« einer »planetarischen Einheitszivilisation« angestrebt werden (K. O. Apel), die universal und für alle Menschen verbindlich und »letztbegründend« ist; müssen unausweichlich »überzeitliche materielle Normen« (V. Hösle) erstellt werden - oder ist gerade dies und die damit absolut gesetzte Alternative von ›Letztbegründung‹ oder ›Anything goes‹ und Relativismus der falsche Weg in eine Normenbegründung der Zukunftsgesellschaft?215 Geht es also nicht tatsächlich um »Transformationen des Historismus« im Sinn einer Erkenntnis der historischen Verfaßtheit der Vernunft gegenüber universalen, statischen und unhistorischen Begriffen von Rationalität?216 Jedenfalls stellt Volker Steenblock fest, daß »entscheidende in der Entwicklung des Historismus formulierte Einsichten von so grundlegender Bedeutung sind, daß es sich lohnt, heute 134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
wieder auf diesen Begriff und seine Sache einzugehen«,217 wobei er natürlich weder Meineckes Historismus noch den Historismus der Historikerzunft vor Augen hat. (3) Drittens: nochmals zum Stichwort ›Postmoderne‹. Der Glaube an die zukunftsweisende Kraft dieses Stichworts in einem epochalen Verständnis hat inzwischen abgenommen, und das zu Recht. Denn vieles von der Erregung, die unter diesem Begriff empfunden wurde und z.T. noch immer empfunden wird, relativiert sich, wenn man die weitgehende Traditionsbestimmtheit vieler hierzu geäußerter Gedanken und Deutungen erkennt, was freilich oft nicht oder jedenfalls nicht ausreichend der Fall ist.218 Dazu ein Beispiel: es ist nicht sehr sinnvoll, die sogenannte »Postmoderne« als etwas geschichtlich und epochal Neues zu definieren, insofern sie ein »Produkt« sei »aus Akzeptanzüberschuß und Normendefizit«.219 Denn eben dies ist ja gerade nichts Neues, sondern nur einc terminologisch neue Fassung des seit Ende des 19. Jahrhunderts oft genug beschriebenen und analysierten Historismus-Problems. (4) Auch die in der Bundesrepublik unlängst - nämlich im sogenannten Historikerstreit 1986/87 - von Historikern geführten Kontroversen über die Beurteilung des Nationalsozialismus haben offensichtlich mit dem Problem des Historismus im Sinne der universalen Historisierung zu tun, ohne daß dieses Problem erkannt worden wäre, - weil es nämlich im Feld des Pro und Contra zu Meineckes Historismus gar nicht erkannt werden konnte. In einem schon 1985 veröffentlichten »Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus« hat Martin Broszat das Thema deutlich angeschlagen220 und die Frage gestellt, »wie es mit der Historizität des Nationalsozialismus selbst steht, ob das geschichtliche Verstehen vor ihm haltmachen kann«. Broszat warf diese Frage auf in der ausdrücklich erklärten Absicht einer »Hinwendung zu Authentizität und Konkretheit auch des Moralischen in der Geschichte«. Den Sinn seines Plädoyers für eine umfassende, ja grenzenlose Historisierung des Nationalsozialismus sah Broszat nämlich gerade in einer »moralischen Sensibilisierung der Historie«. Damit griff Broszat, ein Jahr vor dem Beginn des sogenannten Historikerstreits, das Grundproblem aller Historismuskontroversen in den Kulturwissenschaften um 1900 und danach wieder auf und evozierte zugleich jene Lösung, die Max Weber in der »haarfeinen« Unterscheidung und der Verknüpfung von Werturteil und Erkenntnisurteil vorgeschlagen hatte. Aber gerade diese Lösung, die Webersche Lösung des HistorismusProblems nämlich, hat in der peinlichen und auch im Ausland nur mit größtem Unbehagen registrierten deutschen Historikerkontroverse der Jahre 1986/87 merkwürdigerweise keine Rolle gespielt, obwohl doch in dem Beitrag von Broszat gerade jene Grundsatzfrage angesprochen worden war, die allen Erörterungen hätte zugrunde liegen müssen. Stattdessen war 135 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
festzustellen, daß jene Reflexion nicht zustande kam, welche die Unterscheidung und Verknüpfung von Werturteilen einerseits, wissenschaftlichen Tatsachen-Feststellungen und Tatsachen-Urteilen andererseits bedacht hätte, um damit die unbegrenzte Historisierung und die moralische Sensibilisierung zugleich voranzubringen. Stattdessen wurden einerseits dezidierte Werturteile geäußert, die sich um Tatsachen zum Teil recht wenig kümmerten, von der Anerkennung unbequemer Tatsachen ganz zu schweigen (und es gibt immer und für jede Auffassung unbequeme Tatsachen). Und andererseits wurden Tatsachen-Urteile vorgetragen, ohne daß die (immer, und so auch hier) den Tatsachen-Urteilen zugrundeliegenden Werturteile und Wertstandpunkte wirklich offengelegt und expliziert worden wären. Und deshalb ist dieser Historikerstreit entgleist, er war und er bleibt - ich wiederhole das - eine peinliche Fehlleistung. Ich führe diese Fehlleistung auch darauf zurück, daß der deutschen Geschichtswissenschaft der Historismus als Grundgegebenheit und Problem der modernen Welt abhanden gekommen ist. Das könnte vielleicht korrigiert werden. Und dazu ist wohl um so mehr Anlaß, als ein neuer deutscher Historiker-Streit bevorsteht und wohl schon begonnen hat.221 Diesmal geht es um »Die DDR als Geschichte«.222 Man darf gespannt sein.
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5. Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne Mittdalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach*
Die dominanten Theorien historischer Erkenntnis im 19. Jahrhundert versprachen - auf metaphysischer und idealistischer, auf positivistischer oder materialistischer Grundlage - objektive Erkenntnis. Sie gingen aus von der Annahme einer steten Gleichartigkeit des Erkenntnisgegenstandes, den der Historiker immer besser, immer genauer erfasse.1 Die um 1900 im Rahmen einer epochalen Neudefinition der Kulturwissenschaften sich durchsetzende neue Theorie der wissenschaftlichen und der historischen Erkenntnis2 machte demgegenüber deutlich, daß der Gegenstand der historischen Erkenntnis dieser keineswegs vorangeht, sondern daß er vielmehr durch sie konstituiert wird.3 Dies gründete auf der Einsicht, daß der Strom des geschichtlichen Geschehens für den Betrachter »endlos« und »unermeßlich« ist, so daß nur die Auswahl des erkennenden Historikers einen Gegenstand schaffen kann, und daß deshalb zugleich die Betrachtungsweisen dieses Geschehens sich unaufhörlich wandeln. Denn »immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen«. Deshalb »wechseln die Gedankenzusammenhänge«, unter denen das historische Geschehen »betrachtet und wissenschaftlich erfaßt wird« in unendlicher Vielfalt. »Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein«.4 Dies bedeutet zugleich, daß auch diese sich ständig wandelnden Fragestellungen, daß die Denkformen und Wahrnehmungsweisen der historischen Wissenschaften ihrerseits historische Gegenstände sind, ja, Gegenstände historischer Forschung sein müssen. Mit entschieden antipositivistischer Ausrichtung hat auch František Graus in seinem Buch »Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter« (1975) darauf aufmerksam gemacht, daß »die Vergangenheit selbst zwar abgeschlossen, das Ver* Dieser Text wurde verfaßt für die Gedenkschrift für František Graus.
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gangenheitsbild dagegen nie endgültig und eindeutig sein kann, schon deswegen nicht, weil der Betrachter mit seiner Sehweise für sein Entstehen unabdingbar ist«.5 Und er erinnerte daran, »wie verhängnisvoll mitschuldig die Geschichtswissenschaft an den kulturellen ›Sündenfällen‹ der letzten zwei Jahrhunderte wurde - bis hin zu dem abstrusen Geschichtsbild des Nationalsozialismus«. Was die Geschichtswissenschaft heute benötige, sei deshalb »die Ausarbeitung einer eigenen Ideologiekritik, die - der Lage der Dinge nach - nicht anders als historisch ausgerichtet sein kann. Dadurch rücken nicht nur die Rekonstruktion der Ereignisse, sondern auch die zeitlich unterschiedlichen Betrachtungsweisen von Geschehnissen in das Blickfeld des Historikers«. Es muß uns also nicht nur interessieren, »wie die einzelnen Ereignisse geschehen sind, sondern auch wie sie jeweils gesehen wurden«. Die Erforschung der verschiedenen Betrachtungsweisen von Geschichte müsse deshalb »zu einem integralen Bestandteil der historischen Forschung werden, weil die Vergangenheit die Folgezeiten nicht nur durch geschaffene konkrete Bedingungen mitbestimmt ..., sondern auch durch überlieferte Vorstellungen, die außer bewußten Traditionen, in überlieferten Stereotypen, sogar im emotional verfärbten Wortschatz der gesprochenen Sprache zum Ausdruck kommen und Denkweisen bestimmen«. Solche Sichtweisen haben oft eine weit über die Situation ihrer Genese hinausreichende Wirkung, die, je länger sie andauert, desto weniger durchschaut wird, wie Graus selbst am Beispiel der deutschen Mediävistik gezeigt hat.6 Die Problematisierung und Auflösung solcher Wahrnehmungsweisen wird bewirkt durch ihre Historisierung. Ein Beitrag zur Geschichte von Vergangenheitsbildern sind auch die folgenden Überlegungen. Sie sind dem Gedenken an František Graus gewidmet und der dankbaren Aneignung seines Oeuvres, eines Oeuvres von emotionsloser und strenger Sachlichkeit - hervorgebracht in einem Leben, das weitgehend von Mißhandlung, Verfolgung und Vertreibung geprägt war. Es geht um die Deutungen des Mittelalters, um die Bilder vom Mittelalter in der Moderne, um den konstitutiven Zusammenhang, der seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen der Wahrnehmung der Moderne und der Deutung des Mittelalters besteht.7 Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts fand dieser Zusammenhang seinen Ausdruck in eigentümlichen Zuspitzungen8 und dies in besonderem Maß in Deutschland.
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Ι »Die We lt de s Mitte lalte rs und wir«, so lautete de r Titel e ine s Buche s, das Paul Ludwig Landsbe rg, ein Schüler Max Schelers, im Jahr 1922 veröffentlichte,9 dem Untertitel zufolge »ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn eines Zeitalters«. Der Verfasser des Buches war damals gerade einundzwanzig Jahre alt.10 In kurzer Zeit erlebte das Buch mehrere Auflagen und fand vielfache Zustimmung.11 Mit Emphase wird gleich in den ersten Sätzen das Hauptthema angeschlagen: es geht um eine »neue Liebe zum Mittelalter, die als ungestümer Sturm durch unsere Herzen geht, Bedingung und Forderung einer historischen Wesensschau, einer Synopsis all der Tatsachen, einer Deutung all der Lebensäußerungen, die mit dem Liebeswort Mittelalter in geahnter Verbindung stehen«.12 Das Wort Mittelalter« sollte dabei »weniger einen bestimmten Zeitraum bezeichnen ..., als eine menschliche Grund- und Wesensmöglichkeit, die in einem bestimmten Zeitraum am sichtbarsten in Erscheinung trat und in einem bestimmten Sinne die vorherrschende, die vorbildhaft organisierende war, irgendwie aber immer und nie verwirklicht ist«. Damit sei auch schon ausgedrückt, »daß nicht als unverbindliches Fernsein, sondern als verwirklichbare Maßgestalt uns das Mittelalter erscheinen darf und kann«.13 Den Sinn von geschichtlichen Zeitaltern bestimmte Landsberg aus dem Verhältnis zwischen Positionen und Antipositionen, »welch letztere eben als Antipositionen mit den Positionen inhaltlich zusammenhängen«.14 Das Mittelalter ist dadurch »mitbestimmt, daß einer im höchsten Grade festen, in sich gefügten und durch eine allgemein anerkannte Autorität gesicherten Stellung zur Welt eine Reihe von anderen feindlich aber völlig machtlos gegenüberstand«. Es geht um den Gegensatz zwischen der Kirche und den Häresien, der das Mittelalter prägte, als »Gegensatz zweier formaler Grundtypen geistiger Bewegung«, nämlich eines Bewegungstypus des ›Ja‹ und eines Bewegungstypus des ›Nein‹. In ihrem Verhältnis wird für Landsberg der Gegensatz von Mittelalter und Neuzeit deutlich. Denn im Mittelalter gab es außerhalb der Kirche nur solche Häresien, »die gegen das gewaltige, positive Gefüge der Weltkirche vergeblich anrannten« und nur eine »untergeordnete Rolle spielten«. Die Neuzeit aber »beginnt durch den Sieg einiger Häresien« und deshalb steht sie »überhaupt im Zeichen der Negativität«. Die Neuzeit hat das »Gepräge der Negativität«. Diese »Negativität« der Neuzeit begann mit dem Protestantismus, fand ihre Fortsetzung in der Gegenreformation, in der Aufklärung, in der Romantik und im Sozialismus und Liberalismus. Mit seinem Buch wollte Landsberg die »positiven« Kräfte des Mittelalters den »negativen« Kräften der Neuzeit gegenüberstellen, - freilich nicht im Sinne des »Vorschlags einer unmögli139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
chen und unerfreulichen ›Rückkehr‹ zum Mittelalter«, sondern, damit wir »von einem anderen Zeitalter lernen, wo es mehr ist als es selbst, wo es in das Ewige ragt«. Denn die Mächte der Neuzeit und der Moderne seien von Grund auf negativ, ja, »was an Positivem sich im Lebensgefüge, in der Weltanschauung und im Denken der Neuzeit findet«, sei nichts als ein »mittelalterlicher Rest ..., der durch das Gesetz der Trägheit in der Kulturgeschichte und die ewigen Bedürfnisse geistigen, seelischen und gesellschaftlichen Lebens noch als vereinzelte Säule eines zerstörten Tempels stehenblieb«.15 Was aber ist es, was die Gegenwart Landsbergs vom Mittelalter lernen soll? Es ist die Auffassung der Welt als eines Kosmos, die Überzeugung, daß die Welt ein »sinnvoll und ziervoll geordnetes Ganzes sei, das sich ruhig bewege nach ewigen Gesetzen und Ordnungen, die, aus Gott ersten Anfanges entsprungen, auch auf Gott letzten Endes Beziehung hätten«. Die »teleologische Ordnung« der Welt ist es, der darauf gründen de »großartige metaphysische Optimismus«, das »apriorische Vertrauen, daß in der allseits begrenzten Welt die gute Ordnung herrsche«, die Landsberg das Mittelalter als die exemplarische »Maßgestalt« der Moderne erscheinen läßt. Es geht also darum, der Gegenwart das »mittelalterliche Ordnungsvertrauen« mit seinen metaphysischen Voraussetzungen entgegenzuhalten.16 ›Ordnung‹ ist dabei in einem zweifachen Sinn zu verstehen: als geistige und als soziale Ordnung. Die geistige Ordnung ist der Grund der sozialen, diese ist die großartigste Verwirklichung jener: »Nirgends hat sich die Idee der Ordnung ... so sehr verwirklicht, als in der Gesellschaft des Mittelalters, nirgends war sie so selbstverständlich, als in seinen sozialen Ideen«.17 Die ständische Ordnung der Gesellschaft, so wie sie dem Mittelalter eignete, ihre »Statik«, sei der Grund gewesen einer »gesellschaftlichen Zufriedenheit, die wir nur sehnsüchtig ahnen können«. Im Mittelalter war »die beste Gesellschaftsordnung erreicht«. Sie habe dem mittelalterlichen Menschen »eine ihm ganz sichere Ansicht über den Sinn des Lebens« vermittelt. Und ist es nicht, so fragte Landsberg, »die eigentliche Qual des modernen Menschen, daß er sich von diesem Lebenssinn keine Vorstellung mehr machen kann, daß dieser Lebenssinn eigentlich gar nicht mehr in den Kreis seines Denkens gerückt ist?« Es sei der Verlust dieser Bindungen, der die geistige und soziale Unordnung der nach-mittelalterlichen Welt bis zur Gegenwart kennzeichne, die »geordnete Unordnung«, der »verfestigte Umsturz, der mit dem Alter keine Sanktion empfangen hat«. Daraus ergibt sich Landsbergs Forderung nach dem »Tod« der neuzeitlichen und der modernen Gesellschaft: »Erst wenn neuer Glaube an die alten Wahrheiten und kraftvolle Aktivität in der Beseitigung der feste Form gewordenen Unordnung zusammenwirkend den Tod der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft herbeigeführt haben, können wir wieder auf eine soziale Gesundheit hoffen«. 140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Den Höhepunkt mittelalterlicher Ordnung bezeichnet für Landsberg das Werk Dantes und vor allem das Werk des Thomas von Aquin.18 Nach Thomas aber habe eingesetzt, was Landsberg den »Selbstmord der Scholastik« nennt, die »Zersetzung der mittelalterlichen Gedankengefüge, die, wie wohl stets, der Zersetzung der Lebensgefüge selbst vorangeht«.19 Diese »Zersetzung« vollzog sich im Nominalismus, der »Quelle aller Übel«. Gegenstand dieser zersetzenden Wirkungen des Nominalismus sei eben »die Idee der Ordnung«. Sie wurde in doppelter Hinsicht aufgelöst: denn das Universalienproblem (d.h. die Frage, ob den Allgemeinbegriffen Realität eignet oder ob sie nur willkürliche Setzungen des Verstandes sind) ist nicht nur ein erkenntnistheoretisches, sondern auch ein metaphysisches Problem. Die erkenntnistheoretische Frage implizierte das »in seinen Besonderungen eine ganze Welt umfassende Problem der Ordnung. In ihm stellte der mittelalterliche Mensch sich selbst als mittelalterlichen Menschen in Frage«. Der »mittelalterlichen Ordnungswelt« mußte somit der Realismus entsprechen. Ebenso zerstörerisch habe die nominalistische Theologie gewirkt, indem sie Gott als den Schöpfer eines guten und erkennbaren Kosmos ersetzte durch einen Gott, der »bei seinem Handeln an keinerlei in sich ruhende Ordnung der Ideen und der Werte gebunden sei«. Diese »Überspannung« der Autorität und Allmacht des göttlichen Willens aber »war der langsame Tod des Theismus«. Nicht die Reformation, sondern der Nominalismus habe deshalb das Ende des Mittelalters bewirkt: »Scotus und Occam, nicht Luther und Calvin, sind die in der Tiefe entscheidungsvollen, wirksamen Zerstörer des mittelalterlichen Religionssystems«. Und es war deshalb auch der Nominalismus und nicht der Aufstieg der modernen Naturwissenschaft, welcher den »Umsturz in der abendländischen Weltanschauung« bewirkte.20 Nicht Kopernikus, sondern wiederum Ockham ist es, in dessen Denken sich »der Sieg des der sogenannten ›Realität‹ zugewandten Geistes« ausdrückt, »lange bevor er sich in dieser Realität selbst ausdrückte«. Mit Ockham begann jener »Abwärtsweg«, der bei der »ganz entgötterten und entordneten Welt des Positivismus« endete.21 Eine Hervorbringung des nominalistischen Umsturzes ist aber auch die Historisierung der Welt, ein besonderes Kennzeichen des modernen Denkens, jener »allgemeine moderne Fehler«, primär »nach Geschichte statt nach Sein« zu fragen. »Modernes Denken ist historisch, mittelalterliches Denken ist metaphysisch«. Eben deshalb fehle dem modernen Denken jene »glühende Kettung an das Ewige, die dem mittelalterlichen Menschen eigen war und uns so bitter nottut«.22 So ist also seit Jahrhunderten die »geordnete Unordnung« Zustand der Welt und der Gesellschaft, ja, dieser Zustand ist längst in »Anarchie« übergegangen. Gerade deshalb stehe jetzt unmittelbar ein neuer Umsturz bevor. Denn »die Geschichte des Abendlandes verwirklicht klar eine Abfol141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ge von menschlichen Wesensmöglichkeiten überhaupt, indem sie von der Ordnung zur Gewohnheit und von der Gewohnheit zur Anarchie hinabsteigt, um dann von der Anarchie wieder zur Ordnung zu gelangen«. Diese »Bewegungsgestalt« habe sich in der Geschichte des Abendlandes zweimal wiederholt: »Von der Ordnung der Hochantike führt der Weg zur Gewohnheit der Spätantike und der Anarchie der Übergangszeit. Aus dieser Anarchie dann wieder zur Ordnung des Mittelalters. Von der Ordnung des Mittelalters führt er zur bürgerlichen Gewohnheit und zu jener Anarchie, die sich in den Gegenbewegungen gegen sie anmeldet, um in der heutigen Jugendbewegung, das Wort in ganz wörtlichem und doch weitem Sinne genommen, siegreich zu werden. Es ist die Zukunft, daß aus dieser Anarchie eine neue Ordnung geboren werden wird«.23 Und darin manifestiert sich der tiefere Sinn des Titels, den Landsberg seinem Buch gegeben hat: »Die Welt des Mittelalters und wir«. Denn wenn das Mittelalter in der Idee der Ordnung der Gegenwart die »Maßgestalt« ihres eigenen Seins vorhalte (»wahre Ordnung ist da, wo ein Teil der objektiven, göttlichen Weltordnung zum Denkbild und zur Lebensform von Menschen geworden ist, wo der Mensch Gott gehorsam ist«), so bezeichne das ›Wir‹ jene, die diese Neuordnung herbeiführen, die »echten, jungen und schöpferischen Menschen«, die in der heute herrschenden »Gewohnheit« alles vermissen: »Sinn, Richtigkeit und Leben«, und aus deren Not »in der Tiefe ein Umsturz« kommt. »Sie zerbrechen die Gewohnheit und werfen sich als kühne Schwimmer in das stürmische Meer der Anarchie«. In der Erfahrung der »hohen und heilenden Freude eines neuen ›Wir‹« sind sie zugleich von dem Glauben durchdrungen, »daß in diesem ›Wir‹ die Gewähr des Vorstoßes zur ewigen Ordnung, die Gewähr der guten Zukunft liegt«. Der bürgerliche Gebrauch des Begriffs der Ordnung sei ein »lächerlicher und schmählicher Mißbrauch«. Der Ordnungsbegriff sei vielmehr der »revolutionärste« aller Begriffe. Der Umsturz, die Revolution ist, so Landsberg, das »Werdende und schon Seiende der gegenwärtigen Stunde«, und diese Revolution ist eine »konservative Revolution«, ja, sie ist »die Revolution des Ewigen«.24 II Die hochgestimmten Darlegungen Landsbergs in ihrer eigentümlichen Mischung von Mittelalter-Begeisterung und revolutionärer Attitüde sind trotz oder gerade wegen des noch jugendlichen Alters ihres Urhebers repräsentativ. Sie repräsentieren jenen »Hunger nach Ganzheit«, der in Deutschland vor allem nach dem Zusammenbruch von 1918 aus dem Leiden an der Moderne und an ihren Zumutungen resultierte, aus den 142 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
»verzweifelten Verlangen nach Verwurzelung und Gemeinschaft«. Dies war eine »mächtige Regression«, die »einer großen Angst entsprang: der Angst vor Modernität«.25 Es war die Suche nach der »Erlösung von den Übeln der Modernisierung«,26 der »Auszug« aus der (im Sinne Max Webers) »entzauberten Welt«,27 es war die Flucht aus der rationalen und technisierten Welt, die sich hier manifestierten, die Ablehnung von Rationalismus und Individualismus, von Demokratie und Parlamentarismus, von kapitalistischer Wirtschaft und industrieller Klassengesellschaft, der Haß auf bürokratische Staatsorganisation und auf die anonyme Disziplinierung aller Lebensbereiche.28 Die Verknüpfung dieser Haltungen mit der Reflexion über das Mittelalter ist dabei grundlegend. Sie geht weit über das Aufkommen von Mittelalter-Topik im antidemokratischen Denken der Weimarer Republik hinaus, so wie sie sich in den antiliberalen ständestaatlichen Wendungen nach rückwärts, im neuen Korporatismus oder in den Schwärmereien vom ›Reich‹ zeigte.29 Der Gegensatz von Mittelalter und Moderne, wie er bei dem jungen Landsberg zutage tritt, war - weit über die eben genannten Phänomene hinaus - einerseits grundsätzlicher angelegt und war andererseits mehr als ein bloßes Element journalistischer oder publizistischer Arbeit: er war ein konstitutives Moment des wissenschaftlichen Denkens, wie noch zu zeigen sein wird. Am treffendsten hat das Thomas Mann erfaßt, der in seinem »Doktor Faustus« (1947) 30 - durch den Berichterstatter Serenus Zeitblom - an solche Mittelalterbeschwörungen bei Vertretern der Bildung und des Unterrichts, bei Wissenschaftlern, Gelehrten und Hochschullehrern erinnert. Es lag ihnen zugrunde »die Erschütterung und Zerstörung scheinbar gefestigter Lebenswerte durch den Krieg«, die Auffassung vom Wertverlust des Individuums, auch die Verachtung für die »durch die Niederlage zuteilgewordene Staatsform, die uns in den Schoß gefallene Freiheit, mit einem Wort: die demokratische Republik«, die »auch nicht einen Augenblick als ernstzunehmender Rahmen für das visierte Neue anerkannt, sondern mit einmütiger Selbstverständlichkeit als ephemer und für den Sachverhalt von vornherein bedeutungslos, ja als ein schlechter Spaß über die Achsel geworfen wurde«. Es war ein Denken, das nicht die Wahrheit, sondern die Gemeinschaft zum Ziele hatte, den »gemeinschaftsbildenden Glauben«, und dabei die Vision einer »kommenden, unterderhand schon in der Entstehung begriffenen Welt« entwarf. Die Rolle des Mittelalters dabei hat Thomas Mann prägnant gekennzeichnet und damit gewissermaßen auf das Buch des jungen Landsberg gewiesen:31 »Es war eine alt-neue, eine revolutionär rückschlägige Welt, in welcher die an die Idee des Individuums gebundenen Werte, sagen wir also: Wahrheit, Freiheit, Recht, Vernunft, völlig entkräftet und verworfen waren oder doch einen von dem der letzten Jahrhunderte ganz verschiedenen Sinn angenommen hatten, indem sie nämlich der bleichen Theorie entrissen und 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
blutvoll relativiert, auf die weit höhere Instanz der Gewalt, der Autorität, der Glaubensdiktatur bezogen waren, - nicht etwa auf eine reaktionäre, gestrige oder vorgestrige Weise, sondern so, daß es der neuigkeitsvollen Rückversetzung der Menschheit in theokratisch-mittelalterliche Zustände und Bedingungen gleichkam. Das war sowenig reaktionär, wie man den Weg um eine Kugel, der natürlich herum-, das heißt zurückführt, als rückschrittlich bezeichnen kann. Da hatte man es: Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft wurden eins, und das politische Rechts fiel mehr und mehr mit dem Links zusammen«.32 Es sind, wie bereits erwähnt, zwei Hauptmotive, mit denen Landsberg den »Vorstoß zur ewigen Ordnung«, die »Revolution des Ewigen« mit dem »Tod der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft« forderte: das Problem der geistigen und sozialen Bindungen des Individuums (1) und das Problem der alles in ihren Sog ziehenden Historisierung der Welt (2). (1) Das Problem der Bindungen des Individuums wurde im Blick auf den Gegensatz von Mittelalter und Moderne schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zwei unterschiedlichen, entgegengesetzten Haltungen erörtert, die in zwei Schlüsselwerken der Kulturwissenschaften ihren Ausdruck fanden, auf die sich auch Landsberg ausdrücklich bezog. Es sind dies: Jacob Burckhardts Buch über »Die Kultur der Renaissance in Italien« von 1860 und Ferdinand Tönnies' erstes Werk, das 1887 unter dem Titel »Gemeinschaft und Gesellschaft« erschien. Burckhardt hatte 1860 die »Ausbildung« des »modernen Menschen« mit der Zertrümmerung der mittelalterlichen Bindungen des Individuums an Gruppen und Gemeinschaften (»Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie«) und an geistige und geistliche Autoritäten, an »Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn« begründet.33 Burckhardts These von der Befreiung des Individuums aus geistigen und sozialen Bindungen als Beginn der Moderne und als deren Grundtatsache hat in der Folge eine große Wirkung entfaltet.34 Landsberg mußte diese These deshalb eingehend widerlegen. Er bestritt die Legitimität von Burckhardts Bild der europäischen Geschichte, weil darin jede Kenntnis der religiösen Eigenart und der Philosophie des Mittelalters fehle und weil Burckhardt die mittelalterlichen Elemente in der Renaissance »sehr stark« unterschätzt habe: Der »eigentliche Adel der Renaissance« sei nicht die Absage an das Mittelalter, sondern »das quellerfrischte Mittelalter in der Renaissance«.35 Den Thesen Burckhardts von 1860 über Individualismus, Mittelalter und Moderne diametral entgegengesetzt waren die Auffassungen von Ferdinand Tönnies über »Gemeinschaft und Gesellschaft«, die in Deutschland vor allem nach dem Zusammenbruch von 1918 zu einer kaum zu überschätzenden Breitenwirkung gelangten.36 Tönnies unterschied ›Gemeinschaft als »organische« Bindung des Menschen im »vertrauten Zusammen144 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
leben«, in Familie und Verwandtschaft, in Nachbarschaft und Freundschaft, in Dorf und Stadt, - im Gegensatz zu ›Gesellschaft‹ als dem Inbegriff von »mechanischen« Beziehungen unter den Menschen im Zeichen von Interessenkonflikten und Kontraktverhältnissen, von mechanischer Produktion und ökonomischem Tausch, von Individualismus und Rationalismus, bei Verlust aller Bindungen, Solidaritäten und Werte.37 Tönnies' Buch von 1887 hatte seine Voraussetzungen im Zusammenbruch des Fortschrittsglaubens um 188038 und es hat in den folgenden Jahrzehnten seinerseits dem Fortschrittspessimismus nachdrückliche Argumente geliefert. Die »gesamte Kultur«, so Tönnies schon 1887, sei »in gesellschaftliche und staariiche Zivilisation umgeschlagen« und so gehe »in dieser ihrer verwandelten Gestalt die Kultur selber zu Ende«. Es gebe somit »in den großen Kulturentwicklungen« der Geschichte zwei »Zeitalter«, die »einander gegenüberstehen«: »ein Zeitalter der Gesellschaft folgt einem Zeitalter der Gemeinschaft«,39 die Moderne folge dem Mittelalter, dieses aber sei das höherwertigere Zeitalter. Denn ›Gesellschaft‹ ist für Tönnies das »gesetzmäßige« Ergebnis des »Verfalls aller ›Gemeinschaft‹«.40 Eignet nach Tönnies dem Mittelalter eine »positive und organische Ordnung«, so eignet der Neuzeit, und das heißt: der Moderne, ein »wesentlich negativer und revolutionärer Gharakter«.41 Die Moderne ist »Revolution« in jeglicher Hinsicht; deshalb »tragen alle Gebilde der Neuzeit« nach Tönnies »mehr oder minder und je neuer desto mehr ... die Züge des Unlebendigen in und an sich. Es sind mechanische Gebilde: sie haben keinen Wert, außer in Bezug auf ihren Zweck, den äußeren Vorteil, den sie gewähren; sie entspringen der kalten kalkulierenden Vernunft ... Eben darin liegt auch die überwältigende Größe dieser Gebilde; sie stellen in der Tat Triumphe des menschlichen Geistes dar. Nicht ohne Grund sind wir stolz auf diese mächtige europäische Zivilisation des 19. und 20. Jahrhunderts, unter der wir doch leiden und seufzen«, - so Tönnies 1913 und wieder 1926, mit dem abschließenden Urteil: »Die moderne Kultur ist in einem unaufhaltsamen Zersetzungsprozeß begriffen. Ihr Fortschritt ist ihr Untergang«.42 Deshalb forderte Tönnies schon in seinem Plädoyer für ›Gemeinschaft‹ von 1887 die »Vernichtung« der modernen Gesellschaft,43 eine Parole, die auch Landsberg mit denselben Motiven in seiner Forderung nach dem »Tod der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft« wieder aufgriff. (2) Das zweite Problem der Moderne, das in Landsbergs Buch von 1922 eine zentrale Position einnimmt, ist - wie bereits angedeutet - der »moderne Fehler«, primär »nach Geschichte statt nach Sein« zu fragen, ist die Tatsache, daß modernes Denken »historisch« ist und nicht »metaphysisch«, so wie das Denken des Mittelalters es war.44 Hier geht es um das Leiden am Wertverlust durch die Historisierung aller Werte, um das Leiden an der Orientierungslosigkeit der Erkenntnis, gerade auch der wissenschaftlichen. 145 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Es geht um den modernen ›Historismus‹ als die »grundsätzliche Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte« (E. Troeltsch).45 Diesen durch die historische Wissenschaft und die historische Bildung ständig weiter ausgreifenden ›Historismus‹ hat Friedrich Nietzsehe 1874 wohl als Erster einer grundsätzlichen Kritik unterzogen und als zerstörerisches Element der modernen Kultur bezeichnet.46 Die »Übersättigung« mit Historie sei mit schuld an der »Not«, an dem »inneren Elend« des modernen Menschen, an der »Schwäche der modernen Persönlichkeit« und ihrer »Lebenskräfte«, weil die historische Bildung den Menschen »zaghaft und unsicher« mache: Das Individuum »darf sich nicht mehr glauben«. Denn die Geschichtswissenschaft ist die »Wissenschaft des universalen Werdens«, die alle Sicherheit zerstöre, weil sie »überall ein Gewordenes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges« sehe und deshalb alles in seinem Werden und also auch in seinem Vergehen zeige. »Das rasend-unbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, ihre Auflösung in ein immer fließendes und zerfließendes Werden, das unermüdliche Zerspinnen und Historisieren alles Gewordenen«, - das ist nach Nietzsche der Habitus des »modernen Menschen«.47 Wilhelm Dilthey sprach vom »Messer des historischen Relativismus, welches alle Metaphysik und Religion gleichsam zerschnitten hat«, vom »Schmerz der Leere«, vom »Bewußtsein der Anarchie in allen tieferen Überzeugungen« und von der »Unsicherheit über die Werte und Ziele des Lebens« als Folge der Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins; denn: »die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend«.48 In seinem Essay über die »Krisis der Kultur« (1917) beschrieb Georg Simmel seinerseits die »quantitative Unbeschränktheit, mit der sich Buch an Buch, Erfindung an Erfindung, Kunstwerk an Kunstwerk reiht eine sozusagen formlose Unendlichkeit, die mit dem Anspruch, aufgenommen zu werden, an den Einzelnen herantritt«, was die »typische und problematische Lage des modernen Menschen« erzeugt, nämlich »das Gefühl, von dieser Unzahl von Kulturelementen wie erdrückt zu sein«.49 Die umfassendste Analyse des Historismus als eines konstitutiven Kennzeichens der Moderne hat Ernst Troeltsch 1922 in seinem umfangreichen Buch »Der Historismus und seine Probleme« vorgelegt.50 In der Literatur klingt das Thema am eindrucksvollsten an bei Robert Musil in seinem seit 1920 allmählich entstehenden und 1930 erscheinenden Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, einem Schlüsselwerk der Moderne in Deutschland, - hier in ironischer Brechung: es gehe um eine »Bestandsaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats«, der »aus lauter Gegensätzen bestehe«, freilich so, »daß diese Gegensätze bei genauerer Beschäftigung mit 146 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ihnen ineinander überzugehen anfangen«; und: »es gibt so viele Gedanken, und einer muß schließlich der erlösende sein!«51 Landsbergs Buch mit seiner Forderung nach dem »Tod« der Moderne und mit seiner Verheißung einer »Revolution des Ewigen« sieht diese Erlösung als eine bereits werdende. Rationalismus und Individualismus sind darin überwunden, ein neuer ›Realismus‹ bindet den Menschen in seinen Ordnungen und begründet zugleich neue Werte und eine neue Erkenntnis, die der Korrosion durch den Historismus und den ihm folgenden Relativismus nicht mehr ausgesetzt sind. Landsbergs Verheißung und Programm, die erlösende Überwindung von Individualismus, Rationalismus, Kantianismus, Positivismus und Historismus, wurzelt in seiner Gegenüberstellung von Nominalismus und Realismus. Es war sein Lehrer Max Scheler, dem Landsberg diese Gegenüberstellung verdankte. III Max Scheler arbeitete seit 1919 an dem damals neugegründeten Institut für Sozialwissenschaften in Köln und war zugleich Professor für Soziologie und Philosophie an der ebenfalls neugegründeten Universität Köln.52 Seine Arbeiten richteten sich damals darauf, im Gegensatz zum Positivismus und Marxismus die Existenz einer von historischen und sozialen Bedingungen unabhängigen Wert-Sphäre zu erweisen,53 das heißt: Religion, Metaphysik und Wissenschaft als jeweils eigene, »völlig verschiedene Gruppen von Akten des erkennenden Geistes« mit jeweils eigenen, »wesenverschiedenen«, »historischen Bewegungsformen« darzustellen.54 Diesem Ziel diente die von Scheler mit begründete ›Soziologie der Erkenntnis‹ oder ›‹Soziologie des Wissens‹,55 die der Frage nach dem Ursprung und der Geschichte der drei Wissensformen sowie ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Gegebenheiten nachging.56 In dem von Scheler herausgegebenen Band »Versuche zu einer Soziologie des Wissens« (1924) hat der Soziologe und Philosoph Paul Honigsheim eine Schelers Grundgedanken vom Gegensatz zwischen ›Realismus‹ und ›Nominalismus‹ aufgreifende und weiterführende Soziologie der Scholastik und des realistischen und nominalistischen Denkens dargelegt.57 Es kam dem Verfasser darauf an, zu zeigen, welche gesellschaftlichen Verhältnisse jeweils mit einem ›Scholastik‹ genannten (und nicht auf das okzidentale Mittelalter beschränkten) Denksystem des Realismus verbunden sind,58 vor allem aber: wie die okzidentale Scholastik und deren »Dekomposition«, der Nominalismus, mit bestimmten gesellschaftlichen Zuständen verknüpft waren und zugleich die Ausgestaltung spezifischer »Gesellschaftsformen« bewirkt haben. Denn mit dem ›Realismus‹ wie mit dem ›Nominalismus‹ 147 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
sind jeweils »sehr verschiedene Einstellungen gesellschaftlicher Natur« und verschiedene Auffassungen der Welt verbunden. Dem ›Realismus‹ liege nämlich die Auffassung zugrunde, daß »das Ganze ... im Vergleich zu den einzelnen Teilen in stärkerem Maße seiend (ist) als diese«, also mehr Realität habe als die Teile, die ihm in vielfältigen Gradabstufungen angehören, daß also das Einzelne nur ist durch Teilhabe am Ganzen. Dies gelte auch im Blick auf die Gesellschaft: die »gesellschaftliche Ganzheit« ist »das eigentlich Realitäthabende«; sie entsteht nicht durch den Zusammentritt der Individuen, weil diese »als isolierte Wesen außerhalb ihrer und vor ihr gar nicht bestehen«. Dieses »Gefühl« sei, so Honigsheim, der »Ausdruck jener Form von Verbundenheit, die man in der Sprache von Ferdinand Tönnies als ›Gemeinschaft‹ bezeichnet. Realismus ist dementsprechend der Beweis dafür, daß die ihn vertretenden Menschen in einer Gemeinschaft leben, und daß Gemeinschaftsgeist bei ihnen wirksam ist«. Daraus ergibt sich die Frage, ob dann der Nominalismus »auch der Ausdruck der dem Gemeinschaftsdasein entgegengesetzten Form menschlicher Verbundenheit« sei, also »Ausdruck des Gesellschaftsdaseins«. Honigsheim bejaht dies. ›Nominalistisch‹ ist demnach die Auffassung, daß Menschen wesentlich als Einzelwesen existieren, die nur aus »Praktischkeitsgründen« zu »zweckrationalen Verbänden« sich zusammenfinden, in Bindungen, »die gar keine Realität mehr haben, wenn es jenen Individuen passen sollte, wieder aus ihnen auszutreten«. Honigsheim zeigt, wie seit dem Hochmittelalter in einer Reihe von sozialen Bewegungen (Pataria, Sekten, franziskanische Bewegung) die Idee der universalistischen Kirche zugunsten »selbstherrlicher Individuen« unterging und wie gleichzeitig die Naturwissenschaft und die empirische Betrachtung der Welt, die sich dem Einzelnen widmet, aufkam. So könne »wohl nicht bezweifelt werden«, daß »der Nominalismus genau so sehr ein Ausdruck der ›Gesellschaft‹ im engeren Sinne des Wortes ist, wie der Realismus es in bezug auf die Gemeinschaft ist«.59 Konsequent ordnete Honigsheim alle gegen die universale Kirche und gegen die gemeinschaftliche Einheit gerichteten Strömungen den soziologischen Auswirkungen des Nominalismus zu: die Reformation und die Gegenreformation, die Aufklärung und die kantische Philosophie, den Liberalismus und den Sozialismus. Dem Nominalismus eigne also in der Tat ein »revolutionäres Moment«.60 Damit sah Honigsheim gleichzeitig die Frage aufgeworfen nach der »Gegenwartsbedeutung des Nominalismus«, nach dem Zusammenhang von Realismus, Nominalismus und »Gegenwartskrise«. Zwar sei wegen des ihm innewohnenden »revolutionären Moments« der Nominalismus ein »immer wieder notwendig werdendes Gegenstück« zum Realismus, »insbesondere auch unsere Zeit bedarf solchen Geistes dringend«. Andererseits aber sei der Nominalismus »allein und seine gesellschaftliche Einstellung 148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
insbesondere nicht das Heilmittel ... . Fehlt doch den von ihm erfaßten Menschen die Ganzheitsbezogenheit ihres Tuns«. Diese aber sei unabdingbar. Denn wenn »das Werk des Tages nicht durch die zweckrationale Bezogenheit entweiht« werden soll, »so muß neben einer Umgestaltung dessen, was jene Mechanisierung der Welt immer wieder verursacht, nämlich der Wirtschaft, auch wiederum Weltanschauung werden, Weltanschauung, vielleicht inhaltlich jenem Realismus des Mittelalters sternenfern; dadurch aber ihm kongenial, daß sie alle Handlungen eines jeden Einzelnen und einer jeden Gemeinschaft durch Eingliederung in einen sinnbehafteten Zusammenhang heiligt und aus den Niederungen des Zufälligen und des Alltäglichen emporhebt in die reine Luft der Ganzheitsbezogenheit«. Honigsheim plädierte also wie Landsberg für »Gemeinschaft« und für »Ganzheitsbezogenheit«, auch wenn er die Notwendigkeit ›nominalistischen‹ Denkens und des »Gesellschaftsdaseins« anerkannte.61 Auch der Philosoph und Soziologe Herman Schmalenbach stellte sich in seinem Buch »Das Mittelalter. Sein Begriff und Wesen« von 1926 die Aufgabe einer »philosophischen Konstruktion« des Mittelalters - und löste sie mit denselben Formeln.62 Die Grundannahme, von der aus das Mittelalter (wiederum in einem ebensowohl universalen Sinne wie im Sinne einer Epoche der Geschichte des Okzidents) begriffen werden müsse, sei das ›Organische‹ und das ›Vorhergehen des Ganzen vor den Teilen‹. Das Mittelalter ist für Schmalenbach das ›organische Zeitalter‹ schlechthin: »Die Menschen sind hier nicht - auch nicht ihrem Bewußtsein nach zunächst einzelne und getrennte, ›substanzial‹ erst ›nachträglich‹ zu nur ›äußeren‹ und ›äußerlichen‹ Gesamteinheiten verbundene. Sondern sie gehören ›von vornherein‹ und ›wesenhaft‹ einer durchaus ›wirklichen‹ ›feudalistischen‹ und ›föderalistischen‹ oder ›ständischen‹ Ordnung an«; »›organisch‹ ist die gesamte mittelalterliche Sozialität«.63 Dies erfordert auch bei Schmalenbach eine längere Auseinandersetzung mit Jacob Burckhardts anders gerichteten Thesen64 und mit der aus ihnen resultierenden negativen Bewertung des mittelalterlichen Gemeinschaftsdenkens. Der Gegensatz zu Burckhardt wird aufgehoben in der Annahme »eines besonderen Reichtums qualititativer Differenziertheit«, die dem Mittelalter eigne, einer »enormen Qualitativität des Mittelalters«, im Gegensatz zum »entqualifizierenden, uniformierenden, quantifizierenden Geiste der Neuzeit«: »Qualitativität und Anti-Individualismus« sind in gleicher Weise »Wesensbestimmungen des Mittelalters«. Sie sind vermittelt in dem Prinzip der »Immanenz des Geistes«, das bedeutet: daß »der ›Geist‹ der Ganzheit und Einheit allen Gliedern immanent gegenwärtig ist«, - im Gegensatz zum »Mechanistisch-Rationalistischen« der Neuzeit und Moderne, wo »die Teile sich gegenseitig und ihrer Ganzheit und Einheit so distanziert gegenüber (stehen) wie die ... doch immer auseinandernehmbaren und 149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
wieder zusammensetzbaren, ja auswechselbaren Stücke einer Maschine, denen der ›Geist‹ von außen, durch den Erbauer, auferlegt ist«.65 Gegenüber einer aus der Romantik oder aus romantischem Empfinden resultierenden »Gefahr einer Verweichlichung des Mittelalters« will Schmalenbach zeigen, wie das »›organische‹, lebensartige, vitale, biomorphc In- und Durcheinander von Geist und Sein« im Mittelalter seinen Grund hat im Universalien-Realismus: Universalien-Realismus und ›Vorhergehen der Verbände‹ oder ›Vorgehen des Ganzen‹ gehören ebenso wie auf der anderen Seite Individualismus und Nominalismus zusammen, ja, sie sind »identisch«.66 Ausdruck dieses Universalien-Realismus ist der mittelalterliche ›Gradualismus‹, die Auffassung der Stände, die »pyramidische Struktur des europäischen Mittelalters«, die jedem Stand seinen Rang und seine Ehre zuweist. Dieser »Stufengedanke« sei es, »der zentral als das Wesen des Mittelalters in Anspruch genommen werden muß«. Schmalenbachs »philosophische Konstruktion« des Mittelalters ist eine eigentümliche Mischung von Philosophie und Soziologie, von Historie, Gegenwartskritik und heimlicher Zukunftserwartung. Der rückblickenden Beurteilung erscheint sie ebenso obsolet wie die gleichartigen Reflexionen von P. L. Landsberg oder von P. Honigsheim. Denn hier wird die Gesellschaft der Moderne »nicht als das betrachtet, was sie ist, sondern ihr Dasein wird durch Begriffe verdrängt«, wie Rene König einmal treffend feststellte: diese Reflexion war »ohne adäquates Bewußtsein« der »tatsächlichen gesellschaftlichen Lage«, sie hat die Wirklichkeit durch »Begriffsdestillate« ersetzt, »an deren negativem Sinn sich die Kritik entzündet«; das wirkliche Geschehen wurde durch Konzepte und Begriffe »theoretisch verschüttet«.67 Eigentümlicherweise war es, in der Auffassung jener Zeit von den Aufgaben der Soziologie, gerade dies, was die Soziologie als »Wirklichkeitswissenschaft« begründete: »die philosophische Grundlage«. Denn, so Hans Freyer in seinem Buch »Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft« (1930): die Soziologie müsse »das wissenschaftliche Selbstbewußtsein einer gesellschaftlichen Wirklichkeit« sein und »auf die Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsordnung« zielen, deren »Werden« und Entwicklungstendenzen sie darzustellen habe.68 Die Soziologie sei deshalb »unweigerlich auf den Willensgehalt der Gegenwart« verwiesen: »nur wer gesellschaftlich etwas will, sieht soziologisch etwas«; und: »Wahres Wollen fundiert wahre Erkenntnis«. Im Dienst solcher »Willensgehalte« stand auch die »philosophische Konstruktion« des Mittelalters. Der Protest vor allem gegen Individualismus und Rationalismus und die Entschlossenheit, diese Grundlagen der Kultur der Moderne zu überwinden, äußerte sich hier als Vergangenheitsideologie, die sich zugleich zu einer fragwürdigen und »nebulosen Zukunftsprophetie umstülpte«:69 in die Erwartung nämlich einer neuen Epo150 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
che der ›Ganzheit‹, der ›Gemeinschaft‹, des ›Realismus‹, der Gewißheit fraglos gültiger Werte und wahrer Erkenntnis. Überlegungen solcher Art begegnen bei prominenten Vertretern der Kulturwissenschaften in den zwanziger Jahren allerorten. Hans Freyer definierte damals die »ständische Gesellschaft« (des Mittelalters) als »das Urbild einer positiven Epoche«, als die »objektivste, gestalthafteste Epoche der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ihre wahre Mitte, ihre Akme und zugleich ihre Peripetie«.70 Zur gleichen Zeit formulierte Othmar Spann das Dogma des Anti-Individualismus: »Das Geistige im Menschen ist nur in Gemeinschaft«. Er sah in dieser Sentenz das Leitwort für den »Umsturz«, für die »weltgeschichtliche Wendezeit, in der wir leben«, die eine Krise des ganzen Zeitgeistes enthalte. Ihr Sinn sei, daß der Individualismus absterbe »und von innen her eine neue Denkweise anhebt, ein neuer, anderer Weg des Lebens gesucht wird«. So wie Renaissance und Humanismus eine »Abkehr vom christlichen Mittelalter« bedeuteten, eine Abkehr »von der Philosophie und Lebensauffassung der Scholastik, von den ständisch-zünftigen Bindungen und eine Hinwendung zum Individualismus auf der Grundlage der klassischen Bildung«, so sei »die heutige Krise ... die Gegenrenaissance, die auf eine Abwendung vom Individualismus hinzielt, auf eine Umwendung des Weltgeistes«.71 Wer eine anschauliche literarische Darstellung aller dieser Mittelalterbeschwörungen gegen die Moderne wünscht, findet sie in Hermann Hesses Roman »Das Glasperlenspiel«, der 1931 begonnen und 1943 veröffentlicht wurde. Im Gegensatz zu Franz Kafka, dessen große, ebenfalls in den zwanziger Jahren erschienene Romane (»Der Prozeß«, 1925; »Das Schloß«, 1926; »Amerika«, 1927) deutbar sind als Auseinandersetzungen mit den Zumutungen der modernen Welt,72 hat Hesse zur selben Zeit die innere Flucht aus der Moderne literarisch ausgedrückt.73 Sein Hauptwerk beschreibt, als eine inzwischen eingetretene geschichtliche Wirklichkeit, eben jenes ›neue Mittelalten, von dem aus auf die Moderne der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgeblickt wird. In diesem neuen Mittelalter ist, realisiert in einem ›Orden‹, die Einheit der Wissenschaft und der Deutung der Welt wieder hergestellt. Sie hat ihr Symbol im ›Glaspcrlenspiel‹, einem »Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur«, das mit einer »kaum auszudenkenden Vollkommenheit ... den ganzen geistigen Kosmos« erfaßt,74 in einer Art des Umgangs mit diesem Kosmos also, die Gedanken und Werte nicht in ihrer Gegensätzlichkeit isoliert und dadurch wechselseitig vernichtet, sondern vielmehr allem seinen Ort im Ganzen zuweist. Die Mitglieder dieses neuen Ordens bilden eine Hierarchie. Sie ist keine »Maschinerie« aus toten Teilen, sondern ein »lebendiger Körper«, »aus Teilen gebildet und von Organen belebt, deren jedes seine Art und seine Freiheit besitzt«, eine Hierarchie also, die dem Einzelnen seinen Platz im Ganzen zuweist und dadurch zugleich seine Individualität 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
wahrt. Die Anfange dieses neuen Mittelalters vollzogen sich, so will es der Autor des »Glasperlenspiels«, in einer Epoche, die hier »das feuilletonistische Zeitalter« heißt, weil es »genau wie im Feuilleton der Zeitungen« den Menschen »durch eine Sintflut von vereinzelten, ihres Sinnes berauhten Bildungswerten und Wissensbruchstücken« überwältigt. Dies war die Hoch-Zeit des »neuzeitlichen Individualismus«. Sie stand als Epoche zwischen dem Mittelalter und dem (inzwischen eingetretenen) neuen Mittelalter und war gekennzeichnet von einer »Befreiung des Denkens und Glaubens von jeglicher autoritativen Beeinflussung« und von dem gleichzeitigen »leidenschaftlichen Suchen nach einer Legitimierung dieser seiner Freiheit, nach einer neuen, aus ihm selbst kommenden, ihm adäquaten Autorität«, die freilich vergeblich blieb. Eben deshalb hätten sich die Anfänge des neuen Mittelalters »schon bald nach 1900, noch mitten in der Hochblüte des Feuilletons« gezeigt. Es sei angemerkt, daß Hermann Hesse 1923 P.L. Landsbergs Mittelalterbuch rezensierte75 und es »allen jungen Menschen« empfahl, »welchen der heutige Zustand einer hinsterbenden Epoche unerträglich ist, und welche ja zum größten Teil sich mit flammender Ablehnung und dem Willen zur völligen Zertrümmerung des Absterbenden begnügen«; dieses Buch sei »die stärkste Leistung ..., welche die heutige deutsche Jugend zu zeigen hat«, und es werde »in Bälde als Fahne über einer großen Anhängerschar stehen«. Die Beschwörungen des kommenden, im Werden begriffenen ›neuen Mittelalters‹ im Zeichen von ›Ganzheit‹ und ›Gemeinschaft‹ blieben freilich nicht ohne Widerspruch. Zugleich aber wurden sie in fataler Weise inhaltlich gefüllt und in andere Zusammenhänge überführt. Widerspruch wurde einerseits - mit religiöser wie mit profaner Begründung - auf der Grundlage des europäischen Humanismus geäußert. Man stellte sich der Deutung des Mittelalters als einer Epoche der ›Gemeinschaft ‹ entgegen mit der These, daß sich gerade im Humanismus, in der Beachtung von Würde und Wert des einzelnen Menschen, das Wesen des Mittelalters erfüllt habe. So hat der Theologe und Philosoph Theodor Steinbüchel, ebenfalls stark (obwohl in anderer Weise als Landsberg) von Max Scheler beeinflußt,76 in seinem Buch »Christliches Mittelalter« von 1935 zwar ebenfalls den Umbruch vom Realismus zum Nominalismus eingehend beschrieben. Er hat zugleich aber deutlich ausgesprochen, daß diese Auflösung der »mittelalterlichen Bindung und Einung« und des Denkens in der ›Gemeinschaft‹ und im ›Ganzen‹ nicht nur einen »Partikularismus und Individualismus« hervorgebracht habe, sondern daß dies auch »eine neue und andere Selbständigkeit des geistigen Lebens der abendländischen Menschheit«, eine »neue Persönlichkeitswertung« und die Führung des »neuen, demokratischen Stadtbürgertums« im wirtschaftlichen und geistigen Leben bedeutete: »Das konservative Moment des Bewahrens 152 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
schwindet vor dem fortschrittlichen und revolutionären des Selbstverfügens und -gestaltens«.77 Im Gegensatz zu Landsberg, Honigsheim und Schmalenbach betonte Steinbüchel, daß die Entdeckung der mittelalterlichen ›Einheit‹, der »mittelalterlichen Gemeinschaftsidee«, des »Organischen« der mittelalterlichen Welt vor allem eine Sichtweise der Romantik war;78 er versuchte also, diese Mittelalterdeutung zu historisieren und damit in ihrer Tragweite einzuschränken.79 Außerdem machte er auf die Widersprüche und Brüche des Mittelalters aufmerksam. Mit alledem ist für Steinbüchel die Erklärungskrart der »modernen Bestimmung des mittelalterlichen Gemeinschaftslebens« im Sinne von Einheit und Ganzheit deutlich begrenzt.80 Stattdessen plädierte er für eine Wahrnehmung des Mittelalters, die den mittelalterlichen »Humanismus« akzentuiert, nämlich die christliche Prägung und Bewahrung der humanistischen Idee als dem »Traggrund der geistigen Einheit ›Abendland‹ von den Griechen bis zu Nietzsche«.81 Eben dieses Bild des Mittelalters hat zur gleichen Zeit - nicht in christlicher, sondern in profaner Auffassung - der Romanist Ernst Robert Curtius in seiner Streitschrift »Deutscher Geist in Gefahr« (1932) vertreten und zwar in ausdrücklicher Distanz zu allen Verherrlichungen eines ›neuen Mittelalters‹. Curtius bedauerte es, daß im Gegensatz zu Frankreich, England und Italien in der deutschen Bildungstradition »die nationale und die humanistische Idee« nicht zu einer Verschmelzung gelangt sind: »Bei uns ist das leider ganz anders. Weit verbreitet ist bei uns heute noch eine romantische Auffassung vom deutschen Volkstum und vom deutschen Mittelalter, die sich gegen die humanistische Prägung unserer Geschichte wendet«. Gerade deshalb bedürfe der Humanismus einer »totalen Erneuerung« und diese könne sich »sinnvoll nur in einer Wiederbegegnung mit dem Mittelalter« vollziehen, einem Mittelalter freilich, das nicht von der Idee der ›Gemeinschaft‹, sondern von der des Individuums bestimmt war.82 Aus solchen Intentionen hat Curtius dann in der Zeit des Nationalsozialismus sein berühmtes Buch über »Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter« niedergeschrieben und nach 1945 veröffentlicht.83 Eine andere Art des Widerspruchs gegen die von Landsberg, Schmalenbach und anderen propagierte »Gegenrenaissance« der Gegenwart und ihre »Abwendung vom Individualismus« (O. Spann)84 repräsentieren die beiden großen Abhandlungen über die Kultursoziologie des Mittelalters und der Renaissance, die der Philosoph und Soziologe Alfred von Martin 1931 in A. Vierkandts »Handwörterbuch der Soziologie« veröffentlichte.85 Dieser Widerspruch gegen ›Gemeinschaft‹ und ›Ganzheit‹ im Namen von Humanismus, Individualismus und Rationalismus beruft sich auf J. Burckhardts Deutungen von Mittelalter und Renaissance von 1860 und bringt sie erneut zur Geltung. Natürlich habe sich der »mittelalterliche Mensch ... noch auf jener Stufe eines (vorindividualistischen) Gemeinschaftbewußt153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
seins« befunden, »auf der die Gemeinschaft, die Gruppe - aufsteigend von der nächsten und kleinsten zu immer größeren und höheren Kreisen der Gesamtordnung - Trägerin des realen und geistigen Lebens ist und der Einzelne sich in dieses eingebettet fühlt«. Aber dennoch unterscheide sich das christlich-europäische Mittelalter von der Ungebrochenheit anderer ›Mittelalter‹ durch eine schon von Anfang an gegebene »Gespaltenheit seiner Kultur«: sie sei darin begründet, »daß jene Gemeinschaft, welche dem Mittelalter seine Religion brachte, die Kirche, nicht mit dieser Zeit geboren, sondern das Ergebnis und Erbe der Endstufe der vorausgegangenen, der antiken Kultur war Dieses Produkt einer kulturellen Spätzeit ragt also in die Frühzeit einer neuen Kultur herein und wird nun zu ihrem eigentlichen Träger und Mittelpunkt«. Die Renaissance aber sei der Beginn der »ersten bürgerlichen Kulturepoche der Neuzeit«: »Gegen die bisher privilegierten Stände des Klerus und der Feudalität erhebt sich, auf die neuen Mächte des Geldes und des Intellekts gestützt, das aus den traditionellen Bindungen heraustretende, von ihnen sich emanzipierende Bürger tum ›liberalen‹ Gepräges«. In der Auflehnung gegen die alten Herrschaftsformen, in der Lösung von den Gemeinschafts-Bindungen, habe sich der »städtisch-demokratische Gedanke« gezeigt, sei an die Stelle einer »objektiv gegebenen und als gegeben hinzunehmenden, ›natürlichen‹, ›göttlichen‹ Ordnung« die Aufgabe getreten, »vom Menschen, vom Individuum her selbst diese Welt zu ordnen, sie zu gestalten gleich einem ›Kunstwerk‹: gemäß den freien Zwecken, die der konstruktive Sinn des bürgerlichen Menschen sich setzt. So entsteht, statt ›Gemeinschaft‹, ›Gesellschaft‹«.86 Der Widerspruch des Soziologen A. von Martin gegen das Gemeinschaftsdenken im Zeichen eines ›neuenMittelalters‹fand deshalb nach 1933 seine Entsprechung in einer kompromißlosen Ablehnung des Nationalsozialismus.87 In einem fatalen Gegensatz zu solchem Widerspruch gegen das ›Gemeinschaft^-Denken standen schon vor 1933 alle Versuche, die ›Gemeinschaft‹ und ›Ganzheit‹ des kommenden neuen Mittelalters im Sinne einer völkischen Ideologie zu interpretieren. Den Schritt zu dieser Umdeutung vollzog 1930 auch der Mediävist Hans Hirsch mit einem Essay über »Das Mittelalter und wir«.88 Schon in der Titelformulierung verweist er auf P. L. Landsberg, dessen Gedanken doch zugleich in einem entscheidenden Punkt verändert werden. »Niemandem von denen«, so Hirsch, »die den Kulturwerten des Mittelalters einen Platz in unserer Geistigkeit und im Bildungsideal unserer Zeit sichern wollen, fallt es ein, die geistige Gebundenheit als einen solchen Wert hinstellen zu wollen. Die geistige und persönliche, die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist von den Völkern Europas zu teuer erkauft worden, als daß die Bedeutung dieser Errungenschaften je wieder auch nur vorübergehend verdunkelt werden könnre. 154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Dies sei ... deutlich gesagt! Freilich gibt es heute Gebundenheiten, die wir gerne auf uns nehmen und sogar freudig anerkennen, nämlich die an das eigene Volk und an den völkischen Staat. Diese Gebundenheit gleicht in vielem der religiösen, die das Mittelalter gekannt hat«. Die in diesen Sätzen zutagetretende, umstandslose Mischung von aufklärerischem Pathos und völkischer Ideologie ist bemerkenswert. Hier manifestiert sich jene verhängnisvolle Umdeutung der ›Gemeinschafts‹-Ideologie, mit der im Nationalsozialismus die ›Gemeinschafts‹-Bildung nach innen »hochgradig ›emotional‹« gesteuert wurde, nach außen aber zugleich »tödliche Grenzen der ›Gemeinschaft‹« gezogen wurden.89
IV Viele und gerade prominente Vertreter der Kulturwissenschaften in Deutschland sahen sich von den Ereignissen des Jahres 1933 zu positiven, ja begeisterten Stellungnahmen veranlaßt. Dabei konnten sie jene Gedanken-Elaborate nutzen, die in der Weimarer Republik mit der Idee des werdenden ›neuenMittelalters‹vorgebracht worden waren. Der Nationalsozialismus schien die neue ›Gemeinschaft‹ herbeizuführen und damit die Erlösung vom Unbehagen an der Moderne, von den Leiden des Individualismus, Rationalismus und Historismus. Freilich blieb es nun nicht mehr beim bloßen Denken und Deuten. Vielmehr wandelte sich jetzt - nach einem treffenden Diktum Thomas Manns - die »Autorität« der ›Gemeinschaft‹ über das Denken um in eine wirkliche »Gewalt« der Gemeinschaft.90 Der Theologe Friedrich Gogarten begrüßte den Nationalsozialismus, weil dieser den Humanismus - von Gogarten verstanden als Autonomie der menschlichen Vernunft - und sein Endstadium, den modernen Historismus, das heißt die unendliche Vielfalt absolut gesetzter Subjektivität, weil er den Individualismus und den Liberalismus im Zeichen einer neuen Gemeinschaft überwunden habe.91 Der Philosoph Martin Heidegger definierte in seiner Freiburger Rektoratsrede vom Mai 1933 den »Willen zum Wesen der deutschen Universität« als »Willen zum geschichtlichen geistigen Auftrag des deutschen Volkes« und er »verstieß« deshalb die »vielbesungene ›akademische Freiheit‹« ausdrücklich aus der deutschen Universität: »denn diese Freiheit war unecht, weil nur verneinend«. Stattdessen solle der Begriff der Freiheit »zurückgebracht« werden zu seiner »Wahrheit«, nämlich zu »Bindung und Dienst«, als »Arbeitsdienst«, »Wehrdienst« und »Wissendienst«, als Bindung »in die Volksgemeinschaft«, als Bindung »an die Ehre und das Geschick der Nation«und »an den geistigen Auftrag des deutschen Volkes«.92 Mit Genugtuung nutzte der Historiker 155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Rudolf Stadelmann die »Wucht der Ereignisse« in der deutschen »Revolution« von 1933, um die Geschichtswissenschaft gegenüber den Angriffen Nietzsches zu verteidigen,93 mit dem Nachweis nämlich, daß die Wissenschaft jetzt wieder dem Leben und der Gemeinschaft diene und also ihre »Notwendigkeit« wieder nachweisen könne: sie diene dem »völkischen Selbstbewußtsein« und damit der Erkenntnis der »Normen der Deutschheit«.94 In seiner Rede über »Die bildende Kunst im neuen deutschen Staat« konstatierte der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder im August 1933 ein Ende der »Krisis der heutigen Kunst«, dadurch nämlich, daß nunmehr Kunst und Volk ihrer »unlöslichen und unaufhebbaren« Zusammengehörigkeit innegeworden seien.95 In scharfer Wendung gegen den Historismus, den Pinder als »ungesund« und »nicht normal« verwarf und den er kennzeichnete als die »Wahlfreiheit gegenüber Stilen« und als die »Vogelfreiheit der Stile gegenüber politischen Weltanschauungen«, forderte Pinder die Überwindung dieses »Erbes des stilunsicheren 19. Jahrhunderts« in einer neuen Kunst, die »gesund und normal« sei, weil sie wieder genieinschaftsgebunden sei, so wie die Kunst vor Beginn der Moderne: »Bis vor fast noch 100 Jahren, bis an das Ende des 18. Jahrhunderts, ja noch bis in die Frühzeit des 19. Jahrhunderts hinein gab es zwar, wie immer, ein Nebeneinander von alternden und aufkommenden Stilen, aber jeder dieser Stile vertrat eine eindeutige Richtung des Lebens. Die Gemeinschaft prägte diese Stile! Wir aber sind erst auf dem Wege zu einer neuen Gemeinschaft. Sie wird, sie wird sicher! Aber sie wird erst!« Dann werde es statt »Stilproblemen« wieder einen »Stil« geben; denn »Stil ist Glaube und Gemeinschaft und gemeinschaftlicher Glaube«. Diese neue Kunst sei als Ausdruck einer neuen ›Gemeinschaft‹ auch Manifestation eines neuen »Ganzheitsgefühls« und bedeute ein ›neues Mittelalten: »Das wird einst der geschichtliche Ruhm des neuen Deutschland und seines Führers sein: einen vielhundertjährigen Ablauf, der mit schweren Verlusten sehr Großes erkauft hat, in einer gesunden Weise so reguliert zu haben, daß ein neues Mittelalter kommen wird!« Vielleicht ist nach 1933 die Überwindung der Krisen der Moderne im Zeichen eines ›neuen Mittelalters‹ in keiner anderen Wissenschaft so emphatisch begrüßt worden, wie in der Kunstgeschichte. Und gewiß wurde die vermeintliche Überwindung der Moderne in keiner anderen Wissenschaft in so verhängnisvoller Weise betrieben wie in der Rechtswissenschaft. Das mag seinen Grund darin haben, daß gerade in diesen beiden Wissenschaften das Wertproblem und die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und ›Leben‹, und das heißt: nach dem Sinn der Wissenschaft, mit besonderer Deutlichkeit und Schärfe empfunden wurde.96 Hinter den vermeintlichen Lösungen dieses Problems nach 1933 stehen unverkennbar jene Orientierungen des kommenden ›neuen Mittelalters‹, in denen wäh156 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
rend der Weimarer Republik das Unbehagen an der Moderne seine Zuflucht gesucht hatte. In der Kunstgeschichte ging es jetzt um die Begründung einer »notwendigen« Kunst und einer ihr gemäßen Kunstgeschichte, welche in gleicher Weise die »Krise« der Moderne beenden. Die »Notwendigkeit« der Kunst, so erklärte der Kunsthistoriker H. Schrade, beruhe jedoch keineswegs in ihrer Freiheit oder Schönheit, sie resultiere vielmehr aus ihrer Bindung an »Rasse, Volk und Staat«. Diese neue »Notwendigkeit« habe die Krise der Kunst beendet, die mit dem Ende des Mittelalters begann und mit dem Beginn der Moderne um 1800, in Historismus und »potenziertem Individualismus«, auf ihren Höhepunkt gelangte, und sie habe auch der herrschenden Kunstgeschichte mit ihrer »ganzen positivistisch-objektivistischen Wertefeindlichkeit« ein Ende gesetzt.97 In der Orientierung an »völkisch-politischen Werten« erreiche die neue Kunst wieder den Rang der Kunst des Mittelalters, weil sie, wie diese, »Kennzeichen einer echten Gemeinschaft« sei. Schrade sah diese neue Kunst mit den Bauten der NSPartei in Nürnberg verwirklicht, in der alten Reichsstadt, in der einst die Insignien des mittelalterlichen Kaisertums aufbewahrt wurden.98 Was die mittelalterliche Kunst, die wesentlich deutsche Kunst sei, für die Gegenwart bedeute, hat dann wiederum der hoch angesehene W. Pinder in seinem dreibändigen Werk über »Wesen und Werden deutscher Formen« demonstrieren wollen. Die »Wesenszüge der deutschen Kunst« hätten sich vor allem in der Kunst des Mittelalters und der »Dürerzeit« gezeigt. Diese Kunst sei »besonders wenig museumsmäßig«, sie sei »keine Museumskunst« gewesen, vielmehr ein Ausdruck des ›Lebens‹ und des ›Ganzen‹: »Es sind die Dörfer, es sind die alten Städte als Ganzes, die Kirchen mit ihrer Plastik und ihren Wandgemälden«.99 Und so bestimmte Pinder seinerseits jene mittelalterlichen Kunstwerke, die auch dadurch zu Kunst-Ikonen des Nationalsozialismus erniedrigt wurden:100 der Braunschweiger Löwe, »Wahrzeichen und Verkünder deutscher Größe und Besonderheit«; der ›Bamberger Reiten (»das heldische Wunschbild«); die Stifterfiguren von Naumburg (»eine deutsche Kühnheit, eine deutsche Ungewöhnlichkeit«, die »erste Selbstdarstellung eines Volkes«),101 denen dann noch Dürers Kupferstich ›Ritter, Tod und Teufel· an die Seite zu treten hatte.102 Der ›ganzheitliche‹ Charakter der deutschen Kunst des Mittelalters liege darin, daß sie nicht frei sein, sondern dienen wollte, und darin sei auch ihre Zukunft begründet: Der »mittelalterliche Charakter« der deutschen Kunst sei »genau der, den die Zukunft braucht. Denn im Mittelalter diente die Kunst, wie sie einst wieder wird dienen müssen«.103 So wie die Wissenschaft nach Heidegger ihre wahre Freiheit nur in der »Bindung« und im »Dienst« an der »Volksgemeinschaft« erfährt,104 so erweist sich wahre, nämlich »gesunde und normale« Kunst nach Pinder durch ihren »Dienst« an der 157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
›Gemeinschaft‹. Diese Definition »gesunder und normaler« Kunst eröffnete ihrerseits den Weg zur Ausgrenzung und Vernichtung jener Kunstwerke der Moderne, die einer solchen Definition nicht zu entsprechen schienen. Konsequent folgte denn auch dem sogenannten »Tag der Deutschen Kunst«, der am 18. Juli 1937 in München u.a. mit einem Festzug »Zweitausend Jahre deutscher Kultur« gefeiert wurde, am 19. Juli, ebenfalls in München, die Eröffnung der Ausstellung »Entartete Kunst«.105 In der Rechtswissenschaft setzte man darauf, für das nationalsozialistische Deutschland mit einem neuen ›Gemeinschafts‹-Bewußtsein neue Rechtsnormen zu entwickeln. Eine fundamentale und wahrhaft vernichtende Kritik galt dabei vor allem dem Begriff des Individuums und dem daraus abgeleiteten Begriff der subjektiven Rechte, also der Freiheitsrechte und der Gleichheit des Individuums. Sie sollten überwunden werden, zugunsten der Rechtsnormen »konkreter« und »echter geführter Gemeinschaften«,106 deren Gehalt »völkisch« und »rassisch« definiert wurde.107 Als entscheidend für die Rechtsstellung des Einzelnen galt nun nicht mehr sein »Personsein überhaupt, sondern sein konkretes Gliedsein« (K. Larenz), denn »an die Stelle der bloßen Koexistenz der Individuen« setze »die deutsche Rechtsidee ... die Gemeinschaft und an die Stelle der abstrakten Gleichheit die Gliedhaftigkeit des Einzelnen in der Gemeinschaft«. Nicht die Person als Träger von Rechten und Pflichten sei deshalb »der Grundbegriff der künftigen Privatrechtsordnung«, sondern der »Rechtsgenosse ..., der als Glied der Gemeinschaft eine ganz bestimmte Rechts- und PflichtenStellung hat«.108 Die »Idee des Menschen als sittlich freier Person« müsse als Grundlage des Rechts somit aufgegeben werden. Die rechtliche Stellung des Einzelnen wurzele nicht in seiner Individualität, sondern darin, daß er »Glied der Gemeinschaft und damit art- und gemeinschaftsbedingte Persönlichkeit« sei,109 wie jetzt immer wieder dargelegt wurde.110 »Als Glied der Gemeinschaft hat er in ihr seine bestimmte Stellung, die einerseits seinen Dienst für das Ganze, ... ebenso aber auch seine persönliche Ehre, seinen Wert in der Gemeinschaft bezeichnet«.111 Als entscheidend wurde dabei angesehen, daß die ›gemeinschaftliche‹ Rechtsordnung nicht eine rationale Hervorbringung der ›Gemeinschaft‹ ist, sondern mit dieser selbst gesetzt sei: »Die Lebensverhältnisse sind ..., sofern sie Gemeinschaftscharakter tragen, schon mehr als ›bloße Faktizität‹«, sie enthalten vielmehr unmittelbar »einen Maßstab für das Verhalten des Einzelnen, der sich in diesen Lebensverhältnissen befindet«;112 jede »konkrete Gemeinschaft« habe also schon »vor jeder Normierung oder abstrakten Gemeinsamkeit der Vorstellungen ... ihr Recht«.113 Als Recht galt also die »wirklich seiende Lebensform der Gemeinschaft«, die dieser »nicht nur von außen her gewissermaßen übergeworfen wird, sondern die von ihr gelebt wird und in der sie sich selbst immer erneut manifestiert«.114 Und so wie der Definition 158 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
der ›gemeinschaftsbezogenen‹ Kunst des »neuen Mittelalters« als der »gesunden und normalen« Kunst (W. Pinder) die Eliminierung »entarteter« Kunst folgte, so eröffnete diese Begründung der Rechte des Menschen allein aus seiner Zugehörigkeit zur ›Gemeinschaft‹ und zum ›Ganzen‹ (im Sinne des »Volksganzen«) und diese Definition der »art- und gemeinschaftsbedingten Persönlichkeit« (K. Larenz) schließlich ihrerseits den Weg zur Ausgrenzung von Menschen, die damit der Verfolgung und Mißhandlung und schließlich der Vernichtung preisgegeben waren. V Man sollte annehmen, daß die Ideen vom ›neuen Mittelalter im Zeichen von ›Ganzheit‹ und ›Gemeinschaft‹ nach 1945 in Deutschland restlos diskreditiert waren. Dies ist indessen nicht der Fall. Nach wie vor artikuliert sich das Unbehagen an der Moderne in den Kulturwissenschaften mithilfe der wenigen und immer gleichen Ideen aus jenem Fundus, den F. Tönnies 1887 durch seine Reflexionen über ›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ mit begründet hatte. Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, der schon in den dreißiger Jahren seine Auffassungen von der ›Ganzheit‹ mittelalterlicher Kunst im Gegensatz zur Entfremdung und Zerrissenheit der nach-mittelalterlichen, insbesondere der modernen Kunst zum Ausdruck brachte,115 veröffentlichte 1948 ein damals wie auch später vielzitiertes und vieldiskutiertes Buch über den »Verlust der Mitte« und 1950, als ein geradezu notwendiges Pendant dazu, ein Buch über »Die Entstehung der Kathedrale«.116 Grundfigur aller Interpretationen und Deutungen ist hier erneut der zum ontischen Gegensatz stilisierte Kontrast von Moderne und Mittelalter in den noch immer gleichen, auch hier ständig wiederholten Behauptungen über die geistige und soziale Bindungslosigkeit des Individuums als dem grundlegenden Defekt der Moderne. Mit dem Beginn der Moderne, seit 1770, »diesem tiefsten Einschnitt nach dem Übergang von der Alt- zur Jungsteinzeit«, sei »das Zeitalter der Hochkulturen« definitiv zu Ende gegangen: jetzt zum ersten Mal »setzt sich die Kunst ganz autonom, sieht sich als Höchstes an keine Seins- und Wertordnung gebunden (Ästhetizismus) ... Die antikchristliche Tradition des Menschen- und Kreaturbildes wird abgebrochen. Der Ästhetizismus erfindet die Kunst als Geistspiel des autonomen Künstlers mit nur von ihm selbst gesetzten Spielregeln, ohne Rücksicht auf moralische und soziale Bindungen, ohne Kreatur und ohne ›Du‹ im hermetischen ästhetischen Raum und stellt seinen ›elfenbeinernen Turm‹ neben den ›Babelturm‹ des wissenschaftlichen Technizismus«.117 Die Kritik der modernen Kunst wird bei Sedlmayr zum Kompendium unablässig repetier159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ter negativer Urteile über die Moderne vor dem Hintergrund eines Mittelalters, das noch immer als »verwirklichbare Maßgestalt« (P.L. Landsberg) ausgegeben wird. Die Kennzeichen der modernen Kunst, die zugleich »analoge Zustände und Tendenzen in Bereichen außerhalb der Kunst« verdeutlichen, sind noch immer die Negationen des ›Ganzheitlichen‹ und ›Organischen‹, nämlich: »Neigung zum Anorganischen«, »Zug zum Unteren«, »Herabsetzung des Menschen«, »Aufhebung des Unterschieds von ›Oben‹ und ›Unten‹«, »Antihumanismus«, »Verlust des Menschenbildes«, »Deshumanisierung, Anorganisierung, Chaotisierung« und so weiter. Als Hauptursache »dieses gestörten Zustandes« habe der »autonome Mensch« zu gelten,118 die Ursprünge der »Krankheit« aber seien nicht in der deutschen Kunst zu suchen, sondern in der anderer Länder, in der »Spätromanik« z.B., »vor allem der Frankreichs«, im Werk Hieronymus Boschs und bei Pieter Brueghel d.Ä., im Manierismus und in der »englischen Kunst« der Vormoderne.119 Der Destruktivität der gesamten Moderne in der Kunst stellte Sedlmayr dann abermals die mittelalterliche Kathedrale als Gesamtkunstwerk gegenüber, als »Inbegriff und Quellpunkt aller Künste«.120 Gewiß zeigt sich bei alledem auch die nach 1945 in Deutschland vielfach anzutreffende »restaurative Abendlandsideologie«,121 noch mehr aber ein seiner selbst wohl nicht bewußtes Zurückgreifen auf die älteren Denkfiguren von der ›Gemeinschaft‹ und vom ›neuen Mittelalter‹, die in der Weimarer Republik so dominant waren und deren bedenkenlose Nutzung in der Zeit des Nationalsozialismus die erneute Aneignung und Propagierung nach 1945 offensichtlich nicht verhindert hat. Solche Kontinuitäten zeigen sich auch in einer anderen Schrift, die im selben Jahr wie Sedlmayrs Kathedralen-Buch erschien, nämlich in einem Buch des Philosophen und Theologen Romano Guardini. Schon in seinem Titel, »Das Ende der Neuzeit«, signalisiert es die Anknüpfung an Landsbergs These vom »Tod der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft«, womit auch Guardini einen »Versuch zur Orientierung« zu leisten hoffte.122 Abermals wird das »Daseinsgefühl und Weltbild des Mittelalters« der Neuzeit und insbesondere der Moderne gegenübergestellt. Erneut wird der »mittelalterliche Wille«, nämlich »die Welt als Ganzes durchzukonstruieren und darin dem einzelnen einen irgendwie notwendigen Ort anzuweisen«, als die exemplarische Norm für die Moderne propagiert. Wiederum geht es um die Vereinheitlichung »irdischer Gemeinschafts- bzw. Ganzheitsordnungen« nach mittelalterlichem Vorbild und abermals beginnt die Destruktivität der Neuzeit im 14. Jahrhundert, mit dem Nominalismus. Und auch Guardini findet, das neuzeitliche Weltbild sei nunmehr in Auflösung begriffen und es zeige sich etwas Neues: »die Neuzeit geht zu Ende«, es rege sich ein »Kommendes«, eine »kommende, von der Historie noch nicht benannte Epoche« beginne zu »werden«. Das manifestiere sich 160 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
im Heraufkommen einer neuen Beurteilung der Autonomie des Individuums, in dem Ende der »Persönlichkeitskultur«.123 Und das zeige sich auch in der Notwendigkeit eines »Umdenkens« der »so viel beredeten demokratischen Werte«, weil diese »ihre geschichtliche Prägung in der Atmosphäre der Persönlichkeitskultur empfangen haben«.124 Guardini hatte die Absicht, mit seinem Buch einer geistigen Neuorientierung gerade nach dem Ende des Nationalsozialismus zu dienen.125 Peinigend ist deshalb, daß die Motive und Elemente seiner Reflexion dieselben sind, die schon in der Weimarer Republik zur Kritik an der Moderne verwendet wurden und die deshalb auch dazu verwendet werden konnten, um Wissenschaft, Kunst und Recht dem Nationalsozialismus dienstbar zu machen. Guardinis »kommende, von der Historie noch nicht benannte Epoche« von 1950 hat inzwischen einen Namen erhalten. Sie heißt: die ›Postmoderne‹. Was in Deutschland im Jahr 1989 als Reflexion über diese ›Postmoderne‹ zutagetritt, entspricht jedoch im Wesentlichen dem, was genau hundert Jahre zuvor F. Tönnies als die mittelalterliche ›Gemeinschaft‹ der modernen ›Gesellschaft‹ gegenüberstellte und was P. L. Landsberg 1922 als ein ›neues Mittelalter‹ im Zeichen der »Revolution des Ewigen« propagierte. »›Die Moderne‹«, so heißt es jetzt erneut, »als philosophisches, künstlerisches und wissenschaftliches Leitbild und der Modernismus als Weltanschauung besitzen nicht mehr selbstverständliche Gültigkeit«. Denn: »Die postmoderne Philosophie stellt die Modernität und Zeitgemäßheit des Denkens der Moderne« in Frage, jenes Denkens nämlich, »das auf der Autonomie des denkenden Subjekts und der Zerstörung der Metaphysik beruht«. Und: »In der Kritik der Moderne und des Modernismus, in den Prüfungen der Neuzeit, werden die Umrisse einer neuen Einstellung zum Absoluten, zur Natur und zum Personzentrum des menschlichen Selbst, das nicht im Subjekt aufgeht, erkennbar«. Dies ist die Hauptthese eines jüngst erschienenen und sich repräsentativ verstehenden Buches,126 das übrigens schon in seinem Titel (»Die Prüfungen der Neuzeit«) Überlegungen ankündigt, die in historischer Perspektive kaum als neu erscheinen können, obwohl auch dieser Autor von der eigentümlichen Herkunft und von der zum Teil fatalen Geschichte seines Gedankens nichts zu wissen scheint.127 »Postmodernität« sei »das neue Selbst- und Weltverhältnis des Menschen nach der Vorherrschaft der Moderne«.128 Ausdrücklich wird auch diese Postmoderne und die Reflexion darüber als »Flucht aus dem stählernen Gehäuse der Moderne«129 bezeichnet, womit der Autor an die gleichartigen Unternehmungen der zwanziger und der frühen dreißiger Jahre anknüpft. Und wiederum wird ein neues Zeitalter angekündigt: was in den zwanziger und dreißiger Jahren als ›neues Mittelalter‹ galt, soll auch jetzt, unter der Bezeichnung ›Postmoderne‹, ein »viertes Zeitalter« sein,130 wobei Unklarheit offensichtlich nur noch darüber besteht, »ob die Postmo161 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
derne eine Epoche vom Rang der Neuzeit sein wird oder nur eine Übergangsphase«.131 In solchen Erörterungen über ›Postmoderne‹ am Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts manifestiert sich erneut eine Grundfigur des Nachdenkens über die Moderne,132 die spezifisch deutsch erscheint, als eine deutsche ›Mentalität‹ also, als ein »gemeinsamer Tonus längerfristiger Verhaltensformen und Meinungen von Individuen innerhalb von Gruppen« (F. Graus),133 - eine Mentalität, die das Unbehagen an der Moderne zum Ausdruck bringt. Nach ersten Andeutungen in der deutschen Romantik um 1800134 tritt sie während der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, nach dem Verlust des Fortschrittsglaubens, mit dem Theorem von ›Gemeinschaft und ›Gesellschaft‹ deutlicher zutage und erfährt nach dem Zusammenbruch von 1918, in der Zeit der Weimarer Republik, eine umfassende Pointierung in der Idee des kommenden ›neuen Mittelalters«, das im Zeichen von Gemeinschaft‹ und ›Ganzheit‹ die Erlösung bringt vom Leiden am Individualismus, Rationalismus und Historismus der modernen Kultur. Streit um die Deutung der Moderne gab es freilich nicht nur in Deutschland.135 Es ist deshalb von Interesse, die Motive und die Formen solcher Gegenüberstellungen von Mittelalter und Moderne, solcher Aktualisierungen des Mittelalters in der Moderne vergleichend zu untersuchen.136 Erst dann ist das Spezifische und das Singuläre jener Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik genauer zu bestimmen, die Faszination durch ›Ganzheit‹ und Gemeinschaft‹. Sie erweist sich freilich gerade auch dadurch als singulär, daß sie den Schritt von der bloßen Autorität einer gedachten Gemeinschaft‹ zur Gewalt der Gemeinschaft‹ und ihrer Anwendung ermöglichte.137 Dieser Schritt und seine Folgen bedeuten eine singulare, immer gegenwärtige und nicht aufzuhebende Last der deutschen Geschichte.138
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6. Das Mittelalter als Waffe Ernst H. Kantorowicz' »Kaiser Friedrich der Zweite« in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik
Im Sommer 1924 veröffentlicht Friedrich Gundolf, herausragendes Mitglied des George-Kreises und prominenter Deuter des Meisters selbst, ein Buch mit dem Titel »Caesar. Geschichte seines Ruhms«.1 Es handelt sich, wie Gundolf schreibt, um eine Geschichte des »Gangs« Cäsars »durch das Gedächtnis der Völker«, wobei bekanntermaßen Gundolfs Cäsar viele Züge Stefan Georges aufweist. Ich zitiere die ersten Sätze dieses Buches: »Heute«, so lesen wir hier, »da das Bedürfnis nach dem starken Mann laut wird, da man der Mäkler und Schwätzer müd sich mit Feldwebeln begnügt statt der Führer, ... möchten wir ... an den großen Menschen erinnern, dem die oberste Macht ihren Namen und Jahrhunderte hindurch ihre Idee verdankt: Cäsar. Nicht als könnte solche Beschwörung einen Cäsar zeitigen. Nie wiederholt die Geschichte die Erscheinung ihrer immer gleichen Ideen, und kein Wissen um Gewesenes erschafft das notwendig Neue. Nachahmungen aus politischer Gelehrtheit sind immer falsch und fruchtlos. Wie der künftige Herr oder Heiland aussieht, weiß man erst, wenn er waltet. Seine Stunde und sein Werk weiß nur er selbst. Doch wie er nicht aussieht, das kann Kenntnis lehren, und nicht um der Politik, sondern um der Bildung willen, das heißt um der Menschenwürde und der Scheu willen, müssen die ewigen Gestalten wach bleiben, geschützt vor den Ansprüchen des dumpfen und gierigen Tags. Der Historiker, der Hüter der Bildung (das ist sein Hauptamt), kann nicht gute Politik machen, nicht die fruchtbaren Entschlüsse fassen im werdenden Schicksal von Stunde zu Stunde. Doch die Luft kann er regen helfen, worin einsichtige Taten gedeihen, und Geister werben für kommende Helden. In diesem Sinn ruft er die Geschichtskräfte und ihre Leiber, die Völker und die Führer«. Gundolfs Buch bewegt sich, wie deutlich erkennbar wird, in einer »politischen Gefahrenzone«,2 obwohl Gundolf, das ist schon aus den wenigen soeben zitierten Zeilen deutlich, nicht »starke Männer herbeireden«, sondern, wie Ulrich Raulff treffend notierte, »durch einen merkwürdigen Akt gegenaufklärerischer Autklärung« diese gerade verhindern will:
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»vor dem Bild der wahren Größe soll sich ihre Niedrigkeit erweisen«, soll der »Cäsarismus der Straße« gebannt werden.3 Gundolfs Buch von 1924 bahnt in vielen, freilich nicht in allen Hinsichten den Weg zu Ernst Kantorowicz' ebenso berühmtem Werk »Kaiser Friedrich der Zweite« von 1927: - in der Deutung des Kaisers selbst, des mit den Worten Gundolfs - »reichsten, geschmeidigsten und kühnsten Herrschergenies, das die Welt seit Cäsar gesehen«;4 - sodann in der Bestimmung der Aufgabe einer Historie, die - wie Friedrich Nietzsche es gefordert hatte - dem ›Leben‹ dienen will; - und schließlich in der Benennung jener Pflichten, die dem Historiker bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe in seiner Zeit im einzelnen zugewiesen sind. Wir werden freilich auch sehen, worin sich in alledem Kantorowicz' »Friedrich« von Gundolfs »Caesar« unterscheidet. Aber es geht im folgenden nicht nur um diese wissenschaftliche und persönliche Konstellation, um die historischen Imaginationen Gundolfs und Kantorowicz' und ihre Positionen im George-Kreis. Es geht - wie schon Gundolfs Sätze über die »Völker« und ihre »Führer« und über den »künftigen Herrn oder Heiland« andeuten - auch um ein grundsätzlicheres Problem: nämlich um die Denkformen und Haltungen von Historikern und überhaupt von Kulturwissenschaftlern, von Theologen, Philosophen, Soziologen, Literaturwissenschaftlern und Juristen in den politisch-sozialen Kontroversen der Weimarer Republik, - unter Einbeziehung auch jener Entscheidungen, die dann im Unheilsjahr 1933 getroffen wurden. Diese interessieren nicht nur den Zeithistoriker, sondern auch den Mittelalterhistoriker, weil in allen diesen Erörterungen nach dem Zusammenbruch von 1918 und hin zur Katastrophe von 1933, im Kampf um die Weimarer Republik also, das Mittelalter als eine Waffe verwendet wurde. Das war sogar vor allem im Blick auf das Mittelalter, ein imaginiertes Mittelalter der Fall, das in seinem Verhältnis zur Moderne reflektiert wurde, um zur Widerlegung der Moderne eingesetzt zu werden.5 Hier wurde der Gedanke eines kommenden ›Neuen Mittelalters‹ konzipiert und propagiert. Es geht bei alledem also nicht nur um politisch motivierte Einstellungen, sondern um fundamentale Problem-Geschichten der Moderne, um jene Problem-Geschichte vor allem, die man mit dem Stichwort des Historismus und seiner Folgen und mit dem Stichwort einer vom Historismus ausgelösten ›Krise‹ der Kulturwissenschaften bezeichnen kann. Es ist dies ein Problem, das zum einen alle Bereiche der modernen Kultur: Kunst und Literatur, Wissenschaft und Lebenswelt erfaßte, das in der zweiten Hälfte und zum Finde des 19. Jahrhunderts hin sich immer deutlicher manifestierte, und das schließlich überall in Europa relevant wurde, freilich nirgendwo sonst so spezifisch und so bedrängend wie gerade in Deutschland in Erscheinung trat. Dabei ist entscheidend, daß der Historismus eine Ge164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
schichte historischer Epochen-Imaginationen erzeugte, die sich auf die Moderne beziehen. Sie waren teils affirmativ gemeint, teils aber und zwar zunehmend waren sie eine Ablehnung und Verurteilung der Moderne und standen als ein Heilmittel gegen die Zumutungen der eigenen Zeit und also auch gegen die Leiden am Historismus zur Verfügung. Gerade dazu haben Stefan George und die Georgeaner, unter ihnen Kantorowicz, ihre ganz spezifischen Beiträge geleistet. Den Darlegungen über Kantorowicz und sein Buch von 1927 (Abschnitt V) sowie über George und die Georgeaner (Abschnitt IV) gehen deshalb drei Abschnitte über das Problem des Historismus und die von ihm erzeugten Epochen-Imaginationen (I), insbesondere nach 1918 und in der Zeit der Weimarer Republik (II), sowie über die wissenschaftliche Reflexion darüber und die hier versuchten Antworten auf die Herausforderungen des Historismus, über die sogenannte ›Krise des Historismus‹, voran (Abschnitt III). Am Schluß (Abschnitt VI) sei dann die Frage gestellt nach dem, was bleibt.
I. Epochen-Imaginationen im Zeichen des Historismus ›Historismus‹ meint die für die Moderne konstitutive, sie vom historischen Denken aller anderen Kulturen unterscheidende Auffassung, daß alles, was ist, historisch geworden und historisch vermittelt und dadurch wesentlich bestimmt ist. Es sei erneut an die treffende Definition von Ernst Troeltsch erinnert: Historismus ist »die grundsätzliche Historisierung unseres Wissens und Denkens«, die grundsätzliche Historisierung »alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte«.6 Dies ist eine Form der Reflexion über Gegenwart und Vergangenheit der eigenen Kultur und aller anderen Kulturen, die erst mit dem Beginn der okzidentalen Moderne und nur in dieser in Erscheinung trat. Sie hat ihre Wurzeln in einer geschichtlich neuen Erfahrung: in der Erfahrung des permanenten, raschen und irreversiblen Wandels der politisch-sozialen Welt, wie sie erstmals von der Französischen Revolution und ihren Konsequenzen sichtbar gemacht wurde. Zu den Folgen gehörte auch die Expansion des geschichtlichen Denkens in der Konstituierung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, also die Genese der Geschichtswissenschaft als der unbestrittenen Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Zu den Folgelasten gehört aber auch der Relativismus, der »Zerfall der Werte«, wie man später sagte, das große Thema in Wissenschaft und Lebenswelt seit den 1870er Jahren. Diesen vom Historismus geprägten Denkformen des 19. Jahrhunderts entspricht, daß die Reflexion über die eigene Gegenwart und über die 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
moderne Kultur sich ausdrückt als Reflexion über andere, vergangene Epochen in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu dieser Moderne. Hier geht es also um die Beschreibung und Analyse der Gegenwart mit Hilfe von Imaginationen und Beschwörungen vergangener Zeiten, deren Bestimmung sich deshalb als ein Derivat von Gegenwartsdeutungen erweist. Darin kann sich ebensowohl Zustimmung zur Gegenwart wie Kritik an dieser aussprechen, die Bestätigung und Feier des Bestehenden ebenso wie dessen Ablehnung und Verurteilung. Die präferierten Epochen, die in solchen Kontexten immer wieder imaginiert und reflektiert wurden, waren: die Renaissance und das Mittelalter. Als imaginierte Epochen wurden Mittelalter und Renaissance dabei zunehmend kontradiktorisch gedacht. Die Renaissance galt als die Überwindung des Mittelalters und eben dadurch zugleich als der Beginn der Moderne. In der Renaissance habe die Moderne das Mittelalter überwunden - das ist der eine Kerngedanke. Der andere, entgegengesetzte, ist die Kritik der durch die Renaissance ausgelösten Moderne mithilfe eines imaginierten Mittelalters. In diesen beiden konträren Imaginationen ging es letztlich also um die Frage der Beurteilung des Fortschritts. Es ging darum, ob die Überwindung des Mittelalters durch die Renaissance zur Moderne hin einen Fortschritt darstellt - oder ob nicht vielmehr der Fortschritt der Moderne, gemessen am Mittelalter, sich als ein Unglück erweist.7 Diese zunächst nur abstrakt benannten Denkmuster sollen in drei Überlegungen veranschaulicht werden. (1) In der Kunsttheorie schon des frühen 19. Jahrhunderts wurde der Historismus mitsamt seinen Folgen analysiert. Friedrich Theodor Vischer benennt 1844 das Thema treffend mit den Worten: »Wir malen Götter und Madonnen, Heroen und Bauern, so wie wir griechisch, byzantinisch, maurisch, gotisch, florentinisch, à la Renaissance, Rococo bauen und nur in keinem Stil, der unser wäre. Wir malen, was der Welt Brief ausweist; wir sind der Herr Überall und Nirgends ... Reflektierend und wählend steht jetzt der Künstler über allen Stoffen, die jemals vorhanden waren, und sieht den Wald vor Bäumen nicht«.8 Die frühe Analyse des Problems gerade in der Kunsttheorie überrascht nicht, denn wohl nirgends sonst ist das Historismus-Problem so früh manifest geworden wie in Kunst und Literatur. Überzeugend hat der Kunsthistoriker Werner Hofmann in seinem Buch »Das irdische Paradies« (zuerst 1960) gezeigt, daß es im 19. Jahrhundert nicht nur eine der Gegenwart zugewandte, eine sogenannte ›moderne‹ Kunst gibt, sondern, daß die Kunst des 19. Jahrhunderts im ganzen »entzweit« ist. Sie ist nämlich historistisch und a-historisch zugleich, sie manifestiert sich in der »Entzweiung« zwischen der Aneignung einer Überfülle historischer Formen, die jetzt zur Verfügung stehen einerseits, dem »großzügigen Laisser faire des Historismus, dem zu jeglicher Vernei166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
nung das Rückgrat fehlt, da er für alles ein Verstehen haben will« - und, auf der anderen Seite: der »Forderung an die jeweilige Gegenwart, nichts anderes als sie selbst zu sein«.9 Dabei repräsentiert die historistische Kunst die Eigenart einer Epoche, die sich zur Selbstdarstellung in größtem Umfang historischer Formen bediente und deshalb die Stile der Vergangenheit aufgriff und verarbeitete, die aber ebenso die historische Erinnerung zur Infragestellung der Gegenwart verwendete. Man erinnere sich an die deutschen Nazarener und an die englischen Präraffaeliten, an Ingres, Böcklin und Makart. Doch liegen Anfänge schon im 18. Jahrhundert. Bereits mit der »Wiedergeburt der Gotik«, dem »Gothic revival«, hat um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Baukunst jene »Bifokalität« eingesetzt, welche kühne Wahlmöglichkeiten und »Kontrastkoppelungen« eröffnete.10 Bauherren wie Horace Walpole ließen ihre Architekten Inspirationen von Antike und Gotik zugleich verwirklichen, gotische Ruinen und griechische Tempel nebeneinander. Fürst Leopold von Anhalt-Dessau ließ seit 1768 in seinem Park zu Wörlitz ein Schloß im Stil des Palladio und zugleich ein ›Gotisches Haus‹ erbauen,11 in denen sich »Fortschrittsoptimismus« und »träumerische Regression« gegenüberstehen:12 »Antike und Gotik sind Wunschbilder, denen die Menschen des 18. Jahrhunderts zwei verschiedene Vorstellungen von Ganzheit und Harmonie entnahmen. Doch diese Sehnsucht verfolgte nicht bloß restaurative Ziele. Wahlfreiheit manifestierte sich nicht nur als Stilmischung und -konfrontation; sie bedeutete, daß die alten Muster als Ganzes und in ihren Elementen zum verfügbaren Formenvorrat wurden. Wahlfreiheit und Verfügbarkeit gaben somit der Architektur des Zeitraumes die Merkmale ... Ihr Gesamtnenner heißt Desintegration«.13 Die freie Wahl zwischen Antike und Gotik als »Symptom der bifokalen Desintegration« (W. Hofmann) zeigt sich nach 1800 bei Friedrich Schinkel (1781-1841), dessen imaginäre mittelalterliche Städte und gotische Kathedralen ihr Pendant in dem großen Gemälde ›Blick in Griechenlands Blüte‹ (1825) finden; beides sind Entwürfe idealer Gesellschaften, »in denen alle schöpferischen Kräfte harmonisch zusammenwirken«; ebenso hat Schinkel 1824 für die Wiederherstellung der Friedrichswerderschen Kirche zu Berlin einen ›antiken‹ und einen ›gotischen‹ Entwurf als gleichwertige Alternativen vorgelegt.14 In dieser Gegenüberstellung von ›Gotik‹ und ›Klassik‹ ist ein Grundmotiv kontroverser Epochenimaginationen der Moderne vorgezeichnet, wie wir noch sehen werden. Gleichzeitig beginnen in Deutschland die Restaurierungen, Wiederherstellungen, Ergänzungen und Fortführungen gotischer Dome.15 Es folgten die in historischen Stilen gehaltenen Bahnhöfe16 und Bierbrauereien, Postämter und Gefängnisse und vor allem die Rathäuser, in denen das deutsche Bürgertum von der Mitte des 19. Jahrhunderts an und bis zum Ausbruch 167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
des Ersten Weltkriegs Denkmale seiner selbst und Symbole seines Selbstbewußtseins setzte und seinen geschichtlichen Orientierungen Ausdruck verlieh.17 Zu erinnern ist auch an den »metaphysischen Historismus« der von König Ludwig II. von Bayern imaginierten und verwirklichten, das Gottesgnadentum in der Moderne repräsentierenden Burgen und Schlösser,18 oder an die Repräsentationen des neuen Hohenzollern-Kaisertums seit 1871, zum Beispiel den Bilderzyklus in der ehemaligen salischen Kaiserpfalz zu Goslar oder die Historienmalerei eines Anton von Werner.19 Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin, auf Wunsch des Auftraggebers im romanischen Stil der Stauferzeit gehalten, evozierte die staufische Kaiserherrlichkeit.20 Manifestationen dieser Art bieten in Fülle auch die Privatbauten bürgerlicher oder adliger Auftraggeber.21 Die Rolle kontrastiver und konkurrierender Epochenimaginationen im späten 19. Jahrhundert, zum Beispiel im sogenannten ›Kulturkampf‹,22 ist noch nicht dargestellt. Im Feld der Literatur dominieren Historienromane (Willibald Alexis, Joseph Victor von Scheffel, Felix Dahn, Gustav Freytag, Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm Raabe) und Historienschauspiele (Martin Greif, Ernst von Wildenbruch).23 Dies alles bedeutet eine im Sinne Friedrich Nietzsches »monumentalische«, das heißt auf die großen Exempla der Geschichte bezogene Kunst, in deren Erinnerung man sich selbst feiert. Die umfassende kritische Auseinandersetzung mit diesem Historismus hat Friedrich Nietzsche in der zweiten seiner »Unzeitgemäßen Betrachtungen«, »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« von 1874 aufgenommen.24 Sie analysiert den Historismus und seine Folgelasten und verknüpft dies mit einer Fundamentalkritik und mit Vorschlägen zu einer Lösung der Probleme, nämlich in der Trennung und Gegenüberstellung zweier Bereiche: ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹.25 Nietzsches Analyse und seine Lösungsvorschläge spielen von nun an eine zentrale Rolle in allen Erörterungen über Historismus, gerade auch bei Stefan George und den Georgeanern, wie wir noch sehen werden.26 In der Wiener Moderne, bei Hofmannsthal zum Beispiel, ist dann um 1900 die Analyse des Historismus als Grundphänomen der Moderne mit vergleichbarer Intensität wieder aufgenommen worden.27 Eine Nietzsches Analyse aufnehmende, zugleich aber kritische und als Alternative ebenso fundamentale Antwort auf Nietzsche war Max Webers Theorie der wissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und historischen Erkenntnis. Sie löste eine große Kontroverse aus, in der zuerst die Georgeaner das Wort ergriffen und den Ton angaben.28 In seiner Schrift von 1874 hatte Nietzsche nicht nur das Phänomen der Historisierung der Welt ins Visier genommen, sondern auch die Geschichtswissenschaft, jene Historie nämlich, die Wissenschaft geworden ist, die im Zeichen des Historismus sogar zur Leitwissenschaft der Epoche wurde und deshalb ihre zerstörerischen Wirkungen ungehindert entfalten kann.29 Die 168 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Übersättigung mit Historie sei mit Schuld an der Not, an dem »inneren Elend« des modernen Menschen, an der »Schwäche der modernen Persönlichkeit« und ihrer »Lebenskräfte«, weil die historische Bildung und vor allem die ihr zugrundeliegende historische Wissenschaft den Menschen »zaghaft und unsicher« machen. Die Historie, die Wissenschaft geworden ist, sei deshalb zu einem Schaden geworden, zu einem »verzehrenden historischen Fieber«, einer Krankheit also. Die Geschichtswissenschaft sei deshalb »eine Art von Lebens-Abschluß und Abrechnung für die Menschheit«. Dafür gebe es, so Nietzsche, drei Gründe. Erstens schleppe Geschichte als Wissenschaft unaufhörlich immer neue Erkenntnisse und Fakten herbei, die sie jedoch nicht mehr in einen Zusammenhang bringen könne. Dies ist also das Problem des historischen Positivismus, der das unaufhörlich hervorgebrachte und geltend gemachte Viele nicht mehr zu einer Einheit bringen kann. Die zweite Gefahr der Historie, die Wissenschaft geworden ist, liege in dem Anspruch dieser Wissenschaft auf Objektivität. Denn diese angebliche Objektivität sei in Wahrheit nichts als eine »ewige Subjektlosigkeit«, eine »Wahrheit, bei der nichts herauskommt«. Der Anspruch der Objektivität sei indessen gar nicht begründbar und deshalb sei Geschichte als Wissenschaft fürchterlich und lächerlich zugleich. Vor allem aber beruhe die Gefährlichkeit der Historie als Wissenschaft in einem dritten Moment: darin nämlich, daß geschichtliche Erkenntnis alles unter dem Aspekt seines Gewordenseins und deshalb auch seines Vergehens betrachte. Hier geht es also um das Problem des Relativismus. Die Geschichtswissenschaft sei »die Wissenschaft des universalen Werdens«, die den Menschen »in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens« hineinwerfe und ihm damit »das Fundament aller seiner Sicherheit und Ruhe, den Glauben an das Beharrliche und Ewige« raube.30 Die historische Wissenschaft unterziehe alle das Handeln leitenden Werte einer durchgängigen Historisierung und vernichte sie dadurch. Sie sehe »überall ein Gewordenes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges«.31 »Das rasendunbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, ihre Auflösung in ein immer fließendes und zerfließendes Werden, das unermüdliche Zerspinnen und Historisieren alles Gewordenen« - das ist nach Nietzsche der Habitus des »modernen Menschen«.32 Die Hoffnung auf einen Ausweg verknüpfte Nietzsche mit der Leitidee einer neuen Erziehung und mit einem Appell an die Jugend. Für sie entwickelte er seine »Gesundheitslehre des Lebens«, die gegen die »historische Krankheit« die Gegenmittel des »Unhistorischen« und des »Überhistorischen« beschwört.33 Auch diese beiden Parolen werden - und gerade wieder bei den Georgeanern - ihre Wirkungen haben. Gegen die »Gefahren der Historie«, in der Klage über »jene Leiden, die in Folge eines 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Übermaßes von Historie über die Menschen der neueren Zeit gekommen sind«, vertraute Nietzsche der Jugend, deren Forderung er in seinem »Protest gegen die historische Jugenderziehung des modernen Menschen« vortrug, mit dem Postulat, »daß der Mensch vor allem zu leben lerne, und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche«; man müsse »jung sein, um diesen Protest zu verstehen«.34 Es bedürfe einer neuen Erziehung, aber so, daß die Jugend »sich selbst erziehe« und damit ein neues »Fundament« für Staat und Kultur schaffe - nicht »zerbröckelt und auseinandergefallen, im Ganzen in ein Inneres und ein Äußeres halb mechanisch zerlegt, mit Begriffen wie mit Drachenzähnen übersäet, Begriffs-Drachen erzeugend«, nicht im Sinne der »unlebendigen und doch unheimlich regsamen Begriffs- und Wort-Fabrik«, sondern vielmehr im »Vertrauen zu jeder eigenen Empfindung, die noch nicht mit Worten abgestempelt ist«.35 Und das sei der Ruf der Jungen, »jedes Einzelnen dieser ersten Generation«: »Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Kultur daraus schaffen!« - und alle diese Einzelnen »werden sich untereinander an diesem Rufe erkennen«. Wer aber wird ihnen dieses Leben schenken? »Kein Gott und kein Mensch: nur ihre eigene Jugend: entfesselt diese und ihr werdet mit ihr das Leben befreit haben«.36 (2) Unter den im 19. Jahrhundert entfalteten historischen Imaginationen stand, trotz ›Neugotik‹ und ›Neuromanik‹, in Deutschland seit der Mitte des Jahrhunderts zunächst die Renaissance im Vordergrund, wie noch in den 1880er Jahren die heftigen Auseinandersetzungen um den Stil des neuen Kölner Hauptbahnhofs zeigen.37 Die Begründung für diese Favorisierimg der Renaissance hatte am deutlichsten 1860 Jacob Burckhardt in seinem Buch über »Die Kultur der Renaissance in Italien« ausgesprochen - einem Schlüsselwerk der Zeit.38 Wie kurz zuvor in Frankreich bereits Jules Michelet, so entfaltete auch Burckhardt hier die Deutung der Renaissance als der Geburtsstunde der Moderne in der Entdeckung der Welt und des Menschen, wie die berühmte Formulierung heißt. Der Mensch der Renaissance ist in Burckhardts Auffassung zugleich der erste moderne Mensch. Denn der Mensch der Renaissance habe sich zuerst jener doppelten Bindung entledigt, in welcher der Mensch des Mittelalters immer gefangen geblieben sei: die Bindung an die Gemeinschaft, an Haus, Familie, Korporation, und die Bindung an die Autoritäten des Glaubens. Die Erinnerung an diese zweifache Emanzipation des Renaissance-Menschen aus vorgegebenen Bindungen gab dem Fortschrittsoptimismus im Europa des 19. Jahrhunderts seine historische Dignität. Deshalb repräsentiert Burckhardts imaginierte Renaissance diesen Fortschrittsglauben. Nicht weniger bedeutsam ist aber, daß Burckhardt am Beginn der 1880er Jahre seine Thesen von 1860 über Mittelalter und Renaissance völlig revidiert hat.39 Jetzt galt ihm nicht mehr die Renaissance, sondern vielmehr 170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
das Mittelalter als eine exemplarische Epoche, insofern er nunmehr im Zeichen des Mittelalters den Zivilisationsprozeß der Moderne einer umfassenden Kritik unterzog. Jetzt, am Anfang der 1880er Jahre, erschien Burckhardt das Mittelalter als die unwiederbringlich verlorene »Jugend der heutigen Welt«. Denn die Moderne sei im »Niedergang« begriffen, und deshalb gehöre die »Kunde vom Mittelalter« nunmehr »mit zum Teuersten ..., was wir besitzen«. Das Mittelalter wird also zum Inbegriff alles dessen, was an der Moderne vermißt werden muß und deshalb kritisch gegen sie eingewendet werden kann, wie Burckhardt in Gegensatzpaaren verdeutlicht: »selbstverständliche Autoritäten« statt »Majoritäten von unten«; geistige Bindung statt Relativismus; soziale Bindung des Einzelnen in Gemeinschaften statt Massengescllschaft und »nivellierender Gleichheit«, und so fort. Burckhardts Mittelalter-Reflexionen aus den frühen 1880er Jahren, mit denen er selbst sein Urteil über Mittelalter und Renaissance von 1860 völlig revidierte, verweisen auf ein zentrales Ereignis der 1870er Jahre in Deutschland: auf den allmählichen Zusammenbruch des Fortschrittsglaubens. Ein in seinen Wirkungen wohl kaum zu überschätzendes Ereignis war dabei die sogenannte Gründerkrise, die Große Depression von 1873 bis 1896, die sogleich nach der Gründung des neuen Reiches einsetzte und deren Auswirkungen auf die Mentalitäten »ungeheuer« waren, weil das bisher »grenzenlose Vertrauen« in eine anhaltende günstige Wirtschaftsentwicklung erschüttert wurde.40 Die daraus sich ergebenden, außerordentlich folgenreichen mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen hat Hans Rosenberg in seinem Buch »Große Depression und Bismarckzeit« bezeichnet:41 »In recht weitgehendem Maße war die Trendperiode von 1873 bis 1896 ein zu Wahnvorstellungen neigendes Zeitalter der Neurose. Zu seinen hervorstechenden Merkmalen gehören die groteske Angst vor den ›Roten‹ und dem ›Umsturz‹, der Klassen- und der Judenhaß, die leidenschaftliche Verschärfung der konfessionellen Gegensätze, die wüste Hetze gegen ›das mobile Kapital‹ und den ›kosmopolitischen‹ Handel, die zunehmende Lautstärke des nationalistischen Gebrülls, die weitverzweigte Tendenz zur Radikalisierung, selbst bei den Konservativen, die Diskreditierung und das Zurückweichen der gemäßigten Mittelgruppen«. Im Zeichen der nach 1873 einsetzenden großen wirtschaftlichen Wende trat »an die Stelle der Begeisterung die Ernüchterung. Nunmehr waren es die rasch wachsende Unzufriedenheit, Existenzangst und Erbitterung und das Aufeinanderprallen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gruppeninteressen, Gefühlskomplexe und Ideologien, welche der Steigerung der politischen Aktivität und der Verschärfung des politischen Konkurrenzkampfes einen neuen, nachhaltigen Impuls gaben« und welche auch das kulturelle 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
und geistige Leben immer deutlicher bestimmten. In der Universitätsphilosophie zum Beispiel manifestiert sich schon seit der Mitte der 1870er Jahre ein philosophisch-weltanschaulicher Pessimismus, der »weit über den wissenschaftsinternen Bereich hinausreicht« und auch »weniger durch theoretische Begründungen getragen ist, sondern sich vielmehr ganz direkt auf Zeitfragen bezieht«: Kritik am »Hedonismus« und »Materialismus« der Zeit, an der Geldwirtschaft, an den sich verändernden Formen des Umgangs, an der zunehmenden Technisierung, und so fort.42 Noch symptomatischer und vor allem folgenreicher waren die aus einem ›Kulturpessimismus‹ resultierenden neuen Mythologien. 1878 veröffentlichte der Göttinger Theologe und Orientalist Paul de Lagarde seine »Deutschen Schriften«, in denen er den Gegenentwurf einer »neuen Gemeinschaft«, einer neuen ›nationalen‹ Religion und eines neuen Staates auf germanischer und aristokratischer Grundlage propagierte.43 Dazu wünschte sich Lagarde »Verschworene« und »einen heimlich offenen Bund, der für das große Morgen sänne und schaffte«, und konzipierte den Gedanken eines ›Geheimen Deutschland‹:44 »Das Deutschland, welches wir lieben und zu sehen begehren, hat nie existiert, und wird vielleicht nie existieren. Das Ideal ist eben etwas, welches zugleich ist und nicht ist. Es ist die im tiefsten Herzen der Menschen leuchtende Sonne, um welche sich unsere Gedanken und Kräfte, um welche sich auch alle die Mittelpunkte schwingen, welche unser Leben umkreist ... Die deutsche Nationalität ist wie jede andere Nationalität eine Kraft, welche nicht gewogen, geschaut, geleitet, beschrieben werden kann, welche da ist, wann sie wirkt, welche überall da ist, wo in Deutschland etwas wächst und gedeiht«.45 Eben deshalb bedürfe es eines »offenen Bundes ..., welcher der äußerlichen Kennzeichen und Symbole so wenig entbehren dürfte wie der strengsten Zucht«, um dieses Deutschland einmal zu »gründen«.46 Gegen den »demokratisierenden, nivellierenden, atomisierenden Geist« der Gegenwart plädierte wenig später auf den Spuren Nietzsches47 auch Julius Langbehn mit seinem wirren und eben deshalb so erfolgreichen Buch »Rembrandt als Erzieher« (1890), das den Deutschen eine neue Auflassung von Individualität in der Gemeinschaft empfahl und damit so viel Resonanz fand, daß schon im ersten Jahr sechzigtausend Exemplare gedruckt wurden.48 Langbehn sprach für Monarchie und Aristokratie und nahm Friedrich Hebbels Gedanken vom »verborgenen Kaiser«49 hinein in seine Erwartung eines »heimlichen Kaisers«, der - wie auf der letzten Seite des Buches erklärt wird - die »geistige Misere der Gegenwart« beende, indem er »aus alten Volksanschauungen die besten Geisteswaffen« schmiede. Das »neue geistige Leben der Deutschen« aber sei »keine Sache für Professoren; es ist eine Sache der deutschen Jugend. ... Sie hat das Recht«. Es gehe also um einen Kampfund insbesondere um den Kampf zwischen »Kunst« und »Wissen172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
schalt«: diese werden »sich darüber auseinandersetzen müssen, welcher von ihnen die Herrschaft im deutschen Geistesleben zukommt«.50 Wir werden den Parolen Lagardes und Langbehns vom »heimlichen Bund« und vom »heimlichen Kaiser« bei den Georgeanern wiederbegegnen, ebenso wie der Propagierung des »Kampfes« zwischen »Kunst« und »Wissenschaft«. Wie sich bei Lagarde (1878) und bei Langbehn (1890) bereits deutlich erkennen läßt, trat im Zeichen des Zusammenbruchs des Fortschrittsglaubens und der sich rasch verschärfenden Kritik an der Gegenwart immer mehr das Mittelalter als die imaginierte Gegen-Epoche zur Moderne in den Vordergrund, als die Leitepoche politisch-sozialer Imagination überhaupt, die nun nicht mehr nur der festlichen Überhöhung der Gegenwart zu dienen hatte, sondern mehr und mehr der fundamentalen Kritik an dieser. Das herausragende und zugleich folgenreichste Produkt wissenschaftlichen Denkens in diesem Zusammenhang ist ohne Zweifel das Buch des Soziologen Ferdinand Tönnies mit dem fulminanten Titel »Gemeinschaft und Gesellschaft« von 1887.51 Es handelt sich dabei um eine modernitätskritische Gegenüberstellung von Mittelalter und Moderne. Der modernen »Gesellschaft«, die im Zeichen von Vertragsverhältnissen und »Mechanisierung«, von Auflösung und Zersetzung stehe, weil sie alle sozialen Bindungen »mechanisiere«, und deren »Vernichtung« Tönnies deshalb fordert, stellt er die mittelalterliche »Gemeinschaft« gegenüber, in der das Individuum »natürlich« und »organisch« in Pfarrei, Haus, Korporation und Familie, in Dorf und Stadt gehalten und damit geborgen war. ›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ gelten somit als die spezifischen historischen Signaturen zweier Zeitalter, die aufeinander folgen und einander ablösen, was einen geschichtlichen Prozeß, nämlich den des Verfalls bezeichnet. Der große Erfolg dieses Buches und vor allem der Parolen, die an seine Grundthese geknüpft werden konnten, zeigte sich voll und ganz dann erst nach 1918. Um diesen Erfolg zu verstehen, ist es erforderlich, sich darüber klarzuwerden, daß der Begriff der ›Gemeinschaft‹ durch den Autor selbst wesentlich mit den Inhalten eines imaginierten Mittelalters besetzt wurde, was in der Regel übersehen wird.52 Nur so konnte ›Gemeinschaft‹ in der Folge mehr und mehr zum Losungswort einer Überwindung der schlechten Gegenwart und zum Verheißungswort eines ›NeuenMittelalters‹werden.53 Der Gegensatz von ›Mittelalter‹ und ›Renaissance‹, die (bei Tönnies zunächst noch implizite) Propagierung eines Neuen Mittelalters bei dessen gleichzeitiger Nationalisierung im Sinne der Deutschheit nehmen seit der Jahrhundertwende immer mehr Raum in den Erörterungen der Intellektuellen, der Professoren, der Schriftsteller und der Publizisten ein. Ein bezeichnender Indikator ist, daß der Renaissancekult in der Literatur nach der Jahrhundertwende allmählich zu Ende geht.54 Gleichzeitig brechen große Debatten um Definition und Deutung der Renaissance und ihr 173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Verhältnis zum Mittelalter auf, Kontroversen, die alle Kulturwissenschaften, Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte, Germanistik und Romanistik betreffen und die sich bis weit in die 1930er Jahre hinein erstrecken werden. Ihre Geschichte wäre, als eine der fundamentalen Problem Geschichten der Kulturwissenschaften, einer eingehenderen Analyse wert.55 Neben die inzwischen ›klassisch‹ gewordene Renaissance-Deutung Jacob Burckhardts treten jetzt zwei neue Deutungsmuster: die völlige Abstoßung der Renaissance zum einen, ihre Mediävalisierung zum anderen. Dafür zwei Beispiele. Die Abstoßung vollzieht pathetisch und schon im Zeichen der Weltkriegspropaganda der Germanist Richard Benz (1884-1966) in seinem Manifest »Die Renaissance, das Verhängnis der deutschen Kultur« aus dem Jahr 1915. 56 Es gehe darum, so Benz, ein neues »geistiges Deutschland« aufzubauen; denn Deutschland stehe »seit vierhundert Jahren unter der Herrschaft fremder Kulturen« und habe den »Zusammenhang mit der eigenen nationalen Vergangenheit, wie sie vor dieser Zeit war«, also mit dem Mittelalter, verloren. Mittelalter und Neuzeit seien »die Namen für zwei tief getrennte, unüberbrückbare Welten«, die von der Renaissance geschieden würden. Die Renaissance aber sei, in allen ihren Wirkungen, das schlechthin »Fremde«. Nunmehr gehe es darum, das »falsche humanistische Streben nach Weltliteratur und Menschheitskultur« abzutun. Denn eine »Selbstentfremdung des deutschen Geistes«, der seit vier Jahrhunderten dauernde »Mißbrauch« der Kunst für »fremde Zwecke« müsse aufgehoben werden in der Frage, »was nun eigentlich deutsch sei«, welche in der neuen Aneignung der »Grundlagen der deutschen Kunst und Kultur in früheren Jahrhunderten« ihre Antwort finde: »Statt aller Renaissance romanischen und antiken Wesens: Wiedergeburt der alten deutschen Kunst und Kultur«. Schon ein Jahrzehnt zuvor hatte der Kunsthistoriker Carl Neumann (1860-1934) sich des Themas angenommen. In seinem auf dem Historikertag in Heidelberg 1903 gehaltenen Vortrag »Byzantinische Kultur und Renaissancekultur«57 bestritt er die These, daß »die Renaissance die Mutter der modernen Kultur sei« und schlug stattdessen die Mediävalisierung der Renaissance vor, genauer gesagt: er plädierte für eine Spaltung der Renaissance, deren eine Hälfte, die italienische, als eine unheilvolle Grundlegung von Modernität verurteilt, deren andere Hälfte aber, die deutsche, mediävalisiert und damit als Exempel für die Gegenwart kanonisiert wurde. Sie repräsentiere die wahre Moderne. Die neuere Geschichte beginne nicht mit der Renaissance, sondern mit dem Mittelalter, das sich zusammensetze »aus jugendkräftigem Barbarentum, antiker politischer und literarisch-künstlenscher Überlieferung und der christlichen Religion«. Was man ›Renaissance‹ nenne, sei in Wahrheit nichts als »die letzten Jahrhunderte des Mittelal174 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ters«, und sie beruhe auf eben »den ungeheuren neuen Mächten, die die christliche Erziehung des Mittelalters geschaffen hat«. Das wird an Dante erläutert, aus dem »die Seele eines neuen, geistigen Menschen«, ja, eine »neue Menschheit« spreche. Kurzum: nicht das »Erwecken der Antike« sei das Entscheidende, sondern das »Reifwerden mittelalterlicher Kultur«. Die Verwerfung des Mittelalters bei den »verblendeten Italienern« in ihrer im Geist der Antike »umgeschaffenen Renaissancekultur« aber habe dann, »kosmopolitisch höchst anpassungsfähig«, wie diese »italienische Renaissancekultur« nun einmal gewesen sei, auch nördlich der Alpen ihre geistigen und kulturellen Verheerungen angerichtet: »Machiavellismus«, »skrupelloses Heidentum in der Politik«, eine vom »nationalen Gesamtempfinden abgelöste, konventionelle, sogenannte Schönheitskunst«. Statt dieser »irregeleiteten Renaissance« mitsamt »ihrer falschen Freiheit« plädierte Neumann für eine neue und »wahre Freiheit« und einen »wahrhaft modernen Individualismus«. Woher dieser seine Wurzeln gezogen habe, könne keinem Zweifel unterliegen: »aus Barbarenkraft, aus Barbarenrealismus und aus dem christlichen Mittelalter«. Ebenfalls im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kommt eine gleichartige Diskussion über Gegenwart und Gotik auf. Das Thema wird zuerst von dem Kunsthistoriker Wilhelm Worringer (1881-1965) in seinem Buch über Lukas Cranach von 1908 angeschlagen. Die »psychische Verfassung« des modernen Menschen bringe diesen »gotischen Werten« wieder näher, so erklärte Worringer: »Denn wir sprechen allmählich das Wort Persönlichkeit mit einer gewissen Müdigkeit aus«. Das Pathos des Individualismus sei zusammengebrochen. Stattdessen rege sich »etwas wie Sehnsucht nach großen, notwendigen Werten, die über all das individuelle Lärmen hinausheben«, ein neues »Begreifen der erhabenen Unpersönlichkeit der großen alten Stile«. Die Gotik aber »war der letzte Stil«.58 In dem folgenden Buch »Formprobleme der Gotik« von 1911 entdeckte Worringer dann vor und nach der »eigentlichen Gotik« eine »geheime Gotik«, die »bis hinauf in unsere Zeit hinein« festzustellen sei.59 Worringers »geheime Gotik« von 1911 ist ein wirkliches Pendant zum »Geheimen Deutschland« der Georgeaner, das Karl Wolfskehl ein Jahr zuvor im ersten Band des von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters herausgegebenen »Jahrbuchs für die Geistige Bewegung« proklamiert hat, jenes »geheime Deutschland«, das »unter dem wüsten Oberflächenschorf noch halb im Traume sich zu regen beginnt, ... das einzig Lebendige in dieser Zeit«, das nun »herauf will ans Licht«.60 Für Worringer ist die »geheime Gotik« die »unvereinbare Gegensatzerscheinung zur Klassik«, die auch ihrerseits nicht an irgendeine einzelne ›reale‹ Stilepoche gebunden sei. Die »geheime Gotik« aber, die »durch all die Jahrhunderte hindurchgehend in immer neuen Verkleidungen sich offenbart«, wird von Worringer schließlich als eine »zeitlose Rassenerschei175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
nung« bezeichnet, die »in der innersten Konstitution der nordischen Menschheit verwurzelt ist« und die deshalb auch »durch die nivellierende europäische Renaissance nicht entwurzelt werden konnte«.61 Aus Worringers Proklamationen ergaben sich in der Folge, wie Magdalena Bushart gezeigt hat, überaus vehement geführte und umfangreiche öffentliche Debatten von Kunsthistorikern, Publizisten und Künstlern über Gemeinschaft, neue Werte und eine neue Kunst (der Expressionismus als die ›neue Gotik‹), die sich bis in die zwanziger Jahre hinein erstrecken62 und noch die Proklamationen des Bauhauses und einer neuen Architektur (Walter Gropius, Bruno Taut) bestimmten: in der Beschwörung der mittelalterlichen Bauhütten und Kathedralen werde eine »neue Zunft der Handwerker«, in neuen Kathedralen ein neues Mittelalter Wirklichkeit.63 Es gehe um den Zusammenschluß der Künste und um die Einheit von Künstlern und Handwerkern, um ›Ganzheit‹ und ›Gemeinschaft‹ für eine neue Gesellschaft. Darin liege die Exemplarität des Mittelalters, jener »Zeit der stärksten europäischen Kultur« (Bruno Taut).64
II. »Zerfall der Werte«, Neues Mittelalter und Republik, 1918-1933 Der Zusammenbruch von 1918 hat die Reflexionen über das Neue Mittelalter mächtig stimuliert und in beschleunigte Bewegung versetzt. Dies dokumentiert ein Schlüsselwerk der Epoche, das der damals erst 21 Jahre alte Philosoph Paul Ludwig Landsberg (1901-1944) im Jahr 1922 veröffentlichte, ein Mittelalter-Buch nämlich mit dem Titel »Die Welt des Mittelalters und wir«, welches nach der Absicht des Verfassers eine »historische Wesensschau« bieten sollte und rasch mehrere Auflagen erreichte.65 Hier meldete sich also die von Nietzsche beschworene junge Generation zu Wort, in der erklärten Absicht, eine neue Kultur zu schaffen. Sie entspringe einer »neuen Ordnung«, welche aus einer »schöpferischen Anarchie« hervorgehe und die neuzeitliche »Gewohnheit« beseitige; dies bewirken nach Landsberg die »echten, jungen und schöpferischen Menschen«, das »neue Wir«, aus deren Not »in der Tiefe ein Umsturz« komme.66 »Das Mittelalter war Ordnung«,67 im Sinne geistiger und sozialer Bindungen. Daran fehle es heute, weil der moderne Historismus solche Bindungen zerstöre: »Modernes Denken ist historisch, mittelalterliches Denken ist metaphysisch«.68 Deshalb forderte Landsberg, wie vor ihm bereits Ferdinand Tönnies, den »Tod der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft«.69 In ausführlicher und umfassender Revision der von Jacob Burckhardt 1860 vorgeschlagenen Deutung der Renaissance als des Beginns der Moderne durch die doppelte Emanzipation des Individuums von den 176 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Mächten des Glaubens und der Gemeinschaft forderte Landsberg zugleich eine neue Epoche des Geschichtsprozesses selbst, nämlich eine Revision eben jener realgeschichtlichen epochalen Schwelle, die zu überschreiten die Unheils-Geschichte der Neuzeit und der Moderne eröffnet und begründet habe: die Schwelle des spätmittelalterlichen Nominalismus. Der Nominalismus sei Auflösung schlechthin: er habe die geistige und soziale Ordnung der Welt zerstört, nämlich die Auffassung der Welt als Kosmos, das heißt als »sinnvolles Ganzes«, das auch die Bindungen der Menschen untereinander ordnete und überhaupt schuf, in einer »Statik«, die »gesellschaftliche Zufriedenheit« erzeugte und »die wir nur sehnsüchtig ahnen können«: die »beste Gesellschaftsordnung« überhaupt, die »eine ganz sichere Ansicht über den Sinn des Lebens« vermittelt habe.70 Demgegenüber sei der Nominalismus mitsamt Descartes und Kant71 die epochale Ursache allen kommenden Unheils, dessen fortschreitende Durchbrüche und Schübe Landsberg alle benennt: Reformation und Gegenreformation, Aufklärung und Französische Revolution, Romantik, Sozialismus und Liberalismus, deren sich ständig akkumulierende Folgelasten immer wieder aufs Neue beklagt und angeklagt werden: Individualismus, Partikularismus, Rationalismus, Positivismus, Historismus, Relativismus, Materialismus, Technisierung und Vermassung. Neuzeit und Moderne stünden mit alledem im »Zeichen der Negativität«. Der Nominalismus aber sei die »Quelle aller Übel«, mit ihm habe der »Abwärtsweg«, die »Sklaverei des jahrhundertelangen Wahns« begonnen.72 Das vor-nominalistische, das hoch-mittelalterliche Ordo-Denken hingegen (für Landsberg repräsentiert in Thomas von Aquin und in Dante) habe begründet, was der Moderne am meisten fehle: Ganzheit und Gemeinschaft. Dieses Mittelalter dürfe aber nicht (wie bei den meisten Romantikern) im Sinne eines »unverbindlichen Fernseins« gedacht werden, sondern als eine »verwirklichbare Maßgestalt«.73 Und nicht um eine rückwärtsgewandte Erinnerung an das Mittelalter gehe es, sondern um eine neue, kommende Epoche, die den Historismus und alle Historisierung überwinden und neue Werte setzen werde, weil dann nicht mehr, wie in der Moderne, nach »Geschichte« gefragt werde, sondern nach »Sein«.74 Dieser Umsturz, herbeigeführt vom »neuen Wir«, sei »das Werdende und schon Seiende der gegenwärtigen Stunde«, ist die »konservative Revolution«, die für Landsberg eine »Revolution des Ewigen« ist.75 Damit beginne ein Neues Mittelalter. Mehrfach erinnert Landsberg deshalb in seinem Buch an Novalis und dessen Schrift »Die Christenheit oder Europa« von 1799, in der der Gedanke des Neuen Mittelalters zum ersten Mal explizit beschworen wurde. Novalis evozierte das Mittelalter als die große Zeit von Einheit und Ganzheit, skizzierte die mit der Reformation einsetzende Neuzeit als Verfallsgeschichte und ließ am Ende die Verheißung eines Neuen Mittelal177 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
ters aufscheinen: »Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen, die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt sein wird« - eine Zeit von »Europas Versöhnung und Auferstehung« mit einer »neuen, dauerhafteren Kirche«, eine »neue Welt«, deren »Spuren« gerade in Deutschland »schon mit voller Gewißheit« sichtbar seien.76 In dieser »transzendentalphilosophischen Utopie« des Novalis,77 in seiner vorwärtsweisenden triadischen Geschichtsdeutung78 tritt an die Stelle des von der Aufklärung konzipierten Deutungsschemas von Antike, Mittelalter und Neuzeit als Perioden einer Fortschrittsgeschichte79 nun eine Verfallsgeschichte, die vom Mittelalter zur Neuzeit als der zerfallenen Gegenwart führte, dann aber in einer neuen, kommenden und schon werdenden Heilsepoche aufgehoben wird, deren baldige Ankunft an ihren Vorzeichen bereits unzweifelhaft erkannt werden könne. Es ist dies die auch bei anderen Autoren der Zeit um 1800 geforderte »Neue Mythologie«,80 deren eigentliche Wirkungsgeschichte freilich erst am Ende des 19. Jahrhunderts allmählich einsetzt, nämlich in F. Tönnies' Gegenüberstellung von ›organischer‹ Gemeinschaft und ›mechanischer‹ Gesellschaft. Die für die Philosophie des Neuen Mittelalters konstitutive Forderung nach der »Vernichtung« der modernen Gesellschaft (so schon F. Tönnies 1887) 81 oder nach deren »Tod« (so P. L. Landsberg) geht übrigens ebenfalls auf Novalis zurück, der als erster die Forderung nach der »Annihilation des Jetzigen« im Zeichen einer »Apotheose der Zukunft« als der Ahnung einer »besseren Welt« erhoben hat.82 Dieses geschichtsphilosophische, triadische Deutungsmuster mit seiner ultimativen Epoche des Neuen Mittelalters unterscheidet diesen deutschen Mediävalismus der 1920er Jahre im übrigen sehr signifikant von den in vieler Hinsicht (zum Beispiel in der Propagierung des Kosmos-Denkens nach mittelalterlichem Vorbild oder einer ständischen Gesellschaftsordnung oder von mittelalterlichen ›Gemeinschaften‹ nach Art der Zünfte) gleichartigen Gedankenspielen, wie sie etwa von der »Defense de l'Occident« des Franzosen Henri Massis (1927), von der Schrift »Die Ständeordnung des Alls« des Österreichers Leopold von Andrian (1930) oder von der »Defensa de la Hispanidad« eines Ramiro de Maeztu (1934) repräsentiert werden.83 Im Deutschland der Zwischenkriegszeit wurde die Schrift des Novalis von 1799 schließlich zu einem Manifest der ›Konservativen Revolution‹, auch in den Geisteswissenschaften, vor allem in der Germanistik.84 Der uns bereits bekannte Germanist Richard Benz hat in seinem Buch »Geist und Reich. Um die Bestimmung des Deutschen« von 1933 die Schrift des Novalis als »die deutsche Gegenerklärung gegen die Menschenrechte der Französischen Revolution« gefeiert (»nicht Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sondern Herrschaft des Heiligen in einer neuen Hierarchie«), den 178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
nahenden Beginn des Neuen Mittelalters in der Verwirklichung der »Sehnsucht nach etwas Uraltem, das seit dem Ende des Mittelalters verlorenging« proklamiert85 und dabei keinen Zweifel daran gelassen, daß es in all dem kulturellen Verfall der Moderne (»Fortschritt, Technik, Umsatz von uniformen Werten aller Welt«) die braunen Bataillone sind, die den Vortrupp des Neuen Mittelalters darstellen (»ihre Gewalttat gilt nur Volksfremden, Andersdenkenden - Deutschland erwache‹ singen sie im Chor«). 86 Paul Ludwig Landsbergs Mittelalter-Buch von 1922 eröffnete die großen politisch und gesellschaftlich motivierten Debatten über Mittelalter, Renaissance und Neues Mittelalter während der Weimarer Republik, die in den Kulturwissenschaften wie in der Literatur geführt wurden87 und an denen sich auch die Georgeaner maßgeblich beteiligt haben. In ihrem Buch über den historischen Roman in der Weimarer Republik hat Bettina Hey'l gezeigt, wie die Literatur der zwanziger Jahre auf die Krise des Historismus antwortete88 und ihre spezifischen Ansätze zur Analyse, zur Aufnahme und zur »Überwindung« des Historismus entwikkelte:89 in der Demontage der Illusion von einer Vollständigkeit der Ereignisse und von der Autonomie des darstellenden Subjekts (Alfred Döblin) oder in der Evokation der Undurchschaubarkeit historischen Geschehens und der »Unterwanderung des teleologischen Momentes historischer Entwicklungen«; sodann in der Aneignung von Systematisierungen der auf Historisches gerichteten Wissenschaften (Alfred Döblin: »Der Autor ist eine besondere Art Wissenschaftler«), zum Beispiel der Psychoanalyse (Leo Perutz); ferner in der kritischen Beleuchtung übernommener, historisch legitimierter Werthaltungen; oder aber schließlich, im Gegensatz dazu, in der Orientierung an neuen ›Ganzheiten‹, die dem Relativismus entgegengestellt werden, allerdings nicht im Sinne garantierter Realität, sondern als »Interpretationsstruktur einer als widerständig erfahrenen Welt«, wie in den Mittelalter-Romanen von Max Brod (»Rëubeni Eürst der Juden«, 1925), Gertrud von Le Fort (»Der Papst aus dem Ghetto«, 1930), Werner Bergengruen (»Herzog Karl der Kühne oder Gemüt und Schicksal«, 1930) oder Wilhelm von Scholz (»Der Weg nach Ilok«, 1930, die Metapher einer Biographie des Predigers Johannes von Capistrano). Die fundamentalste Auseinandersetzung mit dem Historismus und der von ihm ausgelösten »Krise« bietet indessen zweifellos Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«, dessen erster Teil ebenfalls 1930 erschien, eine Auseinandersetzung, die auch durch eine Reihe von während der Niederschrift verfaßter Essays (»Das hilflose Europa oder die Reise vom Hundertsten ins Tausendste«, 1922; »Der deutsche Mensch als Symptom«, 1923) als Analyse der Gegenwart im Zeichen der Historismus dokumentiert ist.90 Nachdem schon das erste Kapitel des großen Werks (»Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht«) das Thema von ›Wissenschaft‹ und 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
›Leben‹ intoniert, geht es dann um den Historismus in der Reflexion darüber, daß »dem gegenwärtigen Zeitalter ... eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden (sind) und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee«, so daß Individualismus und Kollektivismus, Sozialismus und Kapitalismus und so weiter gegeneinander wirken (so wie es »zu jedem Beugemuskel im menschlichen Körper den widersprechend gesinnten Streckmuskel gibt«), »wozu sich noch die unverbrauchten Reste unzähliger anderer Gegensätze von gleichem oder geringerem Gegenwartswert gesellen«.91 Es ist kein Zufall, daß in Musils Figur des Industriellen Arnheim, einem Mann von universeller »Ausbreitung und Aufnahmefähigkeit«,92 eben jener »deutsche Mensch« dargestellt ist, der seinen Mitlebenden als Inkarnation des Strebens nach ›Ganzheit‹ bei völliger Divergenz der einzelnen Absichten und Orientierungen erschien: Walther Rathenau.93 Aber nicht nur in den eigentlich historischen Romanen werden das Mittelalter und die Probleme des Historismus verknüpft. Erinnert sei an Hermann Hesses Darstellung des modernen Individualismus (»Der Steppenwolf«, 1927) mitsamt dem in der Erzählung »Narziß und Goldmund« (1930) entworfenen Gegenbild einer mittelalterlichen Welt, die durch »Einheit« und »Ordnung« sinnhaftes Handeln, Individualität und Bindungen zugleich ermöglicht: ein ›modernes‹ Mittelalter also. Hesses Hauptwerk, »Das Glasperlenspiel«, 1931 begonnen und 1943 veröffentlicht, ist unmittelbar von Landsbergs Mittelalterbuch inspiriert und beschreibt eben jenes ›Neue Mittelalter‹ der geistigen und sozialen Bindungen und einer neuen Metaphysik, von dem her auf die Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts, auf diese »Hochblüte des Feuilletonismus«, der geistigen und sozialen Bindungslosigkeit, zurückgeblickt wird.94 Die ebenfalls um 1930 verfaßte und dem Thema des »Zerfalls der Werte« in der modernen Welt gewidmete Roman-Trilogie »Die Schlafwandler« (1931/32) von Hermann Broch enthält systematische Reflexionen über den »Zerfall der Werte« und seine geschichtlichen Gründe und deshalb auch über Mittelalter, Renaissance und Moderne; denn es war die Renaissance, »jene verbrecherische und rebellische Zeit, ... in der mit dem Auseinanderfallen des mittelalterlichen Organons der Prozeß der fünfhundertjährigen Wertautlösung eingeleitet und der Samen der Moderne gelegt wurde«.93 Auch zahlreiche Wissenschaftler haben sich damals für, zuweilen aber auch gegen das Neue Mittelalter engagiert: vor allem Philosophen und Soziologen, Kunsthistoriker und Juristen, Theologen und Literaturwissenschaftler.96 Theologie und Staatsrechtswissenschaft wurden von Auseinandersetzungen über ›Historismus‹ und ›Gemeinschaft‹ durchzogen.97 immer geht es hier um Ganzheit und Gemeinschaft und die Proklamation einer »Abwendung vom Individualismus« als einer »Gegenrenaissance«, 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
was eine sieh jetzt vollziehende »Umwendung des Weltgeistes« bedeute.98 Widerspruch dagegen wurde dort laut, wo man (wie der Theologe und Philosoph Theodor Steinbüchel) auf der Grundlage eines europäischen Humanismus der Deutung des Mittelalters im Sinne von ›Ganzheit‹ und ›Gemeinschaft‹ ein humanistisches und also persönlichkeitsbezogenes Mittelalter entgegenstellte, oder (wie der Soziologe Alfred von Martin) auf der historischen Begründung der Moderne durch Humanismus, Individualismus und Rationalismus beharrte,99 oder, wie der Romanist Ernst Robert Curtius, den Verherrlichungen des Neuen Mittelalters mit dem Hinweis darauf entgegentrat (»Deutscher Geist in Gefahr«, 1932), daß im Gegensatz zu Frankreich und England hierzulande die Verbindung der »nationalen« und der »humanistischen« Idee noch nicht gelungen sei, weshalb der Humanismus einer »totalen Erneuerung« bedürfe, die sich freilich »sinnvoll nur in der Wiederbegegnung mit dem Mittelalter« vollziehen könne.100 Von den dem Kreis um George nahestehenden Kulturwissenschaftlern hat der Soziologe und Philosoph Herman Schmalenbach (1885-1950) ein Mittelalter-Buch beigesteuert (»Das Mittelalter. Sein Begriff und Wesen«, 1926), das auf den Spuren P. L. Landsbergs ausschreitet.101 Bereits zuvor, in der Abhandlung »Die soziologische Kategorie des Bundes« von 1922, hatte Schmalenbach die Tönnies'sche Dichotomie von ›Gemeinschaft‹ und ›Gcsellschaft‹ um den Begriff des ›Bundes‹ als einer durch »Gefühlserlebnisse« konstituierten, aber nicht dauernden Art der Verbindung von Individuen erweitert.102 Die Untersuchung beginnt mit dem Hinweis auf die Romantik und auf die »neue ›Gemeinschaft‹« Stefan Georges und seiner Jünger und endet mit einem Überblick über Altertum, Mittelalter und Neuzeit und jene Übergangszeiten, die jeweils vom einen zum andern führten und von »Bünden« geprägt waren. »Die Notwendigkeiten, die von der ›Gemeinschaft‹ des ›Mittelalters‹ über die ›Bund‹-Kultur dessen, was bei uns ›Renaissance‹ heißt, zu der ›Gesellschaft‹ der ›Neuzeit‹ geführt haben«, seien, so heißt es hier, noch immer ein »großes Rätsel«. Und wieder gebe es »früheste Zeichen« eines Neuen, Kommenden. Denn seit der Romantik gebe es die »Auflehnung« gegen die »neuzeitliche Gesellschaft«. Und nun beginne sich die Neuzeit umzuwandeln in eine »Spätzeit«. Was es damit auf sich habe, darüber »belehre« der Rückblick auf die Antike. In neuen »Bünden« schmölzen jetzt »die Herzen in seligem Erlösungsschluchzen zu Brüderschaften und kultischen Gemeinden aller Art ineinander« und erneut brächen, »in geschlossenen Massen«, die Barbaren herein. Und so mischten sich auch jetzt wieder »›bund‹-hafte ›Spätzeit‹ und ›bund‹-haftes ›Altertum‹«: noch seien »zwei Kulturen« getrennt, von denen »die neue aber doch auf dem Grunde der alten aufbaut, langsam zum ›Mittelalter‹ heranwächst«.103 In den »Bünden« der Gegenwart kündige 181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
sich also das Neue Mittelalter an, ein Gedanke, der dann sogleich in den Synkretismus des politischen Mediävalismus Eingang fand.104 Ergänzend sei auch an dieser Stelle darauf hingewiesen, weiche Bedeutung die Deutungsschemata des Neuen Mittelalters bei zahlreichen, zum Teil prominenten Kulturwissenschaftlern in ihrer Entscheidung für den Nationalsozialismus im Jahr 1933 gespielt hat.105
III. Die ›Krise des Historismus‹ in den Kulturwissenschaften Das von Nietzsche 1874 erstmals benannte Problem des Historismus und die von ihm gegebenen Antworten lösten umfassende Debatten in allen Kulturwissenschaften aus, die man mit Ernst Troeltsch unter dem Stichwort ›Krise des Historismus‹ zusammenfassen kann.106 Es sind ebensowohl generelle, d.h. alle Kulturwissenschaften betreffende, wie auch einzelne Wissenschaften betreffende und in einzelnen Wissenschaften geführte Debatten. Sie kennzeichnen die Situation der Kulturwissenschaften in dem halben Jahrhundert von den achtziger Jahren des 19. bis zum Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, eine Epoche, die unlängst treffend als eine »Achsenzeit« moderner Wissenschaft gekennzeichnet wurde.107 ›Krise des Historismus‹ meint, im Sinne von Troeltsch, jene Krise, in die die Kulturwissenschaften, allen voran die Historie und die historischen Disziplinen, durch den Historismus gekommen sind.108 Troeltsch hat die durch den Historismus als der »Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt« ausgelöste »Krise« in mehreren Hinsichten bezeichnet:109 zum einen die neue »Aufrollung der erkenntnistheoretischlogischen Probleme« der historischen Erkenntnis, insbesondere die Frage nach der Objektivität historischer Erkenntnis (»wie verhält sich die vom denkenden Geiste nach seinen Gesetzen hervorgebrachte Ordnung zum wirklichen Wesen und Zusammenhang der Dinge selbst?«); sodann die Frage nach den gesellschaftlichen, also auch den ökonomischen und technischen Bedingungen historischer Prozesse und die hierin implizierte Infragestellung einer »einseitigen Geistes- oder Staats- und Rechtsgeschichte«; und schließlich, drittens, die aus dem Historismus resultierende »Erschütterung des ethischen Wertsystems sowohl in der Begründung als im sachlichen Inhalt«, was nicht nur eine Frage des praktischen Lebens (»Relativismus«) ist, sondern auch ein wissenschaftliches Problem darstellt, weil nämlich durch den vom Historismus erzeugten Wertrelativismus auch die Frage nach den konstituierenden Bedingungen historischer Erkenntnis aufgeworfen wird, nämlich: wie »historische Gegenstände aus dem flüssigen Kontinuum des Lebens« herausgelöst werden können. 182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
S-eit den 1880er Jahren brachen deshalb in zahlreichen Einzelwissenschaften zahlreiche Historismus-Streite auf, zuerst in der Nationalökonomie und der Rechtswissenschaft,110 dann in der protestantischen Theologie,111 wo sich nach 1918 die sogenannte Dialektische Theologie gegen die historisch orientierte Theologie durchsetzte,112 und in der Konstituierung der Wissenssoziologie durch Max Scheler und vor allem durch Karl Mannheim sowie, erneut, in der Nationalökonomie.113 Jenseits dieser Auseinandersetzungen in einzelnen Fächern gibt es eine generelle kulturwissenschaftliche Historismus-Debatte, in der auf die Krise des Historismus einige jeweils deutlich umgrenzbare und voneinander klar unterscheidbare, grundsätzliche Positionen bezogen wurden. Es waren dies die Positionen Nietzsches von 1874, die in den zwanziger Jahren Martin Heidegger wieder aufgenommen hat, und die Positionen Ernst Troeltschs und Max Webers. Nietzsches Antwort auf das von ihm in der zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« erkannte und bezeichnete Problem des Historismus lag - wie bereits oben angedeutet - darin, daß er zwei Maßnahmen gegen die »historische Krankheit« empfahl, nämlich erstens die strenge Begrenzung des Historischen und zweitens die Forderung, daß die Historie, auch in den engen ihr zu setzenden Grenzen, aufhören müsse, eine Wissenschaft zu sein.114 Begrenzt werden müsse das Historische durch das »Unhistorische« einerseits, durch das »Überhistorische« andererseits.115 Das »Unhistorische« ist das Vergessen, für Nietzsche die wichtigste Lebensmacht überhaupt (»Es ist ... ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben« 116 ). Das »Überhistorische« aber sind jene Mächte, die den Blick vom Werden und Vergehen ablenken und hinlenken zum »Ewigen und Gleichbedeutenden«, nämlich zur Kunst und zur Religion. Es bleibt also Historie, aber, und dies ist Nietzsches zweite Forderung: sie muß aufhören, eine Wissenschaft zu sein, um dadurch in den Dienst des »Lebens« treten zu können. Es bleiben somit die bekannten und vielzitierten drei Formen von Historie: die »monumentalische« (die dem »Leben« dient, indem sie »Vorbilder, Lehrer, Tröster« zeigt), die »antiquarische« (die das Bewahren und Verehren pflegt) und die »kritische« (welche eine Vergangenheit »zerbricht« und »auflöst«, »um leben zu können«).117 Aber, noch einmal: diese Formen von Historie stehen im »Dienst des Lebens« und können nur deshalb dem »Leben« - »jener dunklen, treibenden, unersättlich sich selbst begehrenden Macht«118 - dienen, weil sie aufgehört haben, Wissenschaft zu sein. Nietzsches Antwort auf das Problem des Historismus hat sich Martin Heidegger zu eigen gemacht und in »Sein und Zeit« (1927) erneut propagiert, indem er Nietzsches Betrachtung von 1874 (die vermuten lasse, daß ihr Verfasser »mehr verstand, als er kundgab«) in seine Analyse des 183 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
»existenzialen Ursprungs der Historie aus der Geschichtlichkeit des Daseins« einfügte.119 Denn »das Dasein existiert als zukünftiges eigentlich im entschlossenen Erschließen einer gewählten Möglichkeit« und sei deshalb offen für das ›Monumentalische‹ (als der »Möglichkeit der verehrenden Bewahrung der dagewesenen Existenz, an der die ergriffene Möglichkeit offenbar geworden«), welches zugleich ›antiquarisch‹ ist. Diese monumentalisch-antiquarische Historie sei notwendig und unabdingbar für die »Entgegenwärtigung des Heute« in der Kritik der Gegenwart. Sie sei die »eigentliche Historie«. Nietzsches »drei Weisen der Historie« wiesen deshalb hin auf »die eigentliche Geschichtlichkeit« als das »Fundament« ihrer möglichen Einheit. »Der Grund des Fundaments der eigentlichen Historie aber ist die Zeitlichkeit als der existenziale Seinssinn der Sorge«. Die in der »Sorge« wurzelnde Geschichtlichkeit des Daseins ist die Voraussetzung aller Historie, auch der »Historie als Wissenschaft«. Diese hat sich hieran also zu bewähren. Heidegger konstatierte ihr völliges Versagen. Denn die »Herrschaft eines differenzierten historischen Interesses bis zu den entferntesten und primitivsten Kulturen« an und für sich sei eben »noch kein Beweis für die eigentliche Geschichtlichkeit einer ›Zeit‹«, und am Ende sei gar »das Aufkommen eines Problems des ›Historismus‹ das deutlichste Anzeichen dafür, daß die Historie das Dasein seiner eigentlichen Geschichtlichkeit zu entfremden« beabsichtige. Eben dies war auch der Standpunkt der Georgeaner, die - wie noch zu zeigen sein wird - in allem Nietzsches Positionen vertraten und deshalb auch mit ihren Geschichtswerken dem ›Leben‹ mit einer ›monumentalischen‹ Historie zu dienen trachteten. Dies hat auch Kantorowicz mit seinem Buch über Friedrich II. gewollt, dies hat er 1930 auf dem Historikertag in Halle den hier versammelten deutschen Historikern programmatisch dargelegt. Damit bewegten sich Kantorowicz und die Georgeaner insgesamt in einem kontradiktorischen Gegensatz zu den beiden anderen ›Lösungen‹ für die Probleme des Historismus, die von Ernst Troeltsch und von Max Weber geltend gemacht worden waren, welche freilich ihrerseits zueinander wiederum in einem kontradiktorischen Verhältnis standen. Der Theologe, Kirchenhistoriker und Soziologe Ernst Troeltsch hat in seiner Analyse des Verhältnisses von Wissenschaft und Leben im Zeichen des Historismus dafür optiert, »Geschichte durch Geschichte (zu) überwinden«.120 Das bedeutete für ihn: die Historie sollte nicht etwa begrenzt werden, sie sollte auch nicht aufhören, eine Wissenschaft zu sein, um dadurch in den »Dienst des Lebens« treten zu können. Im Gegenteil: sie sollte vielmehr die Potentiale wissenschaftlicher Erkenntnis voll entfalten. Gerade darin diene sie dem ›Leben‹ am besten, daß sie mit wissenschaftlicher Erkenntnis Werte begründet und damit Handeln ermöglicht. Die von 184 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Nietzsche beschworenen Gefahren des Positivismus und Relativismus seien damit zu bannen. Troeltsch beabsichtigte deshalb die Schaffung einer weitausgreifenden, diachronisch angelegten Geschichte des Okzidents, einer »Kultursynthese«, die er freilich nur noch in Ansätzen verwirklichen konnte.121 Es ging also darum, so hat Troeltsch sein Unternehmen selbst beschrieben, ausgehend von »empirischer Historie« weiterzuschreiten zu einer materialen Geschichtsphilosophie, die dann die Grundlage einer historisch begründeten Ethik sein könne. Ob dieses Ziel erreicht werden könne, hänge freilich - wie Troeltsch wohl wußte - von der Möglichkeit ab, zu wahrer Erkenntnis zu gelangen.122 Allerdings vermochte Troeltsch die von ihm angestrebte Apriorität und Objektivität der »Kultursynthese« nur mit Hilfe einer vorkritischen, also vormodernen Begründung, in der Verknüpfung von Identitätsphilosophie und klassischer Metaphysik zu erreichen.123 Dieser Widerspruch war nicht zu lösen, wie Siegfried Kracauer in seinem Essay »Die Wissenschaftskrisis« (1923) sogleich feststellte: Troeltsch habe unvereinbar Gegensätzliches gewollt - »aus dem Relativismus herausspringen und zugleich als Wissenschaftler im Bedingten verharren und Geschichte treiben«.124 Auch Max Weber hielt Troeltschs Lösung des Historismus-Problems durch eine »Kultursynthese« für ein sinnloses und obendrein wissenschaftlich unseriöses Unternehmen. Stattdessen versuchte Weber, ausgehend von Kants Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis als einem Fortschreiten ins Indefinite125 und als einer empirisch gestützten Hypothesen-Erkenntnis, das Problem von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ und damit auch die mit dem Historismus konstituierten Probleme in anderer Weise zu lösen, nämlich in der Unterscheidung und Verknüpfung der beiden Bereiche zugleich.126 Wissenschaft kann demnach keine Werte begründen, zum richtigen Handeln also nicht anleiten, weil ihre Erkenntnisgrundlagen nicht absolut, sondern nur relational gesichert sind, weil sie immer nur Hypothesenwissen zur Verfügung hat, und außerdem, weil sie durch vorausgehende Wertsetzungen überhaupt erst konstituiert wird. Es gibt also auch keine durch Wissenschaft gesicherte Kulturwerte. Dies wird gegen Troeltsch festgestellt. Auf der anderen Seite, und dies wird gegen Nietzsche gesagt, muß sich Wissenschaft auch im Zeichen des Historismus nicht notwendig in das ›Leben‹ hinein auflösen. Sie ist vielmehr ein eigener Bereich von Erkenntnis und ein Ort rationalen Diskurses, auch zur Klärung von Wert- und Lebensfragen, und zwar gerade bei »divergierenden Werthorizonten«.127 Wissenschaft ermöglicht also auch einen von Regeln geleiteten Konfliktaustrag,128 und darin vermag sie durchaus auch dem ›Leben‹ zu dienen. Die im kantischen Sinn neu definierte ›Objektivität‹ der Wissenschaft, die deren Dignität und Leistungskraft zugleich mit der Frage nach ihren Grenzen erörtert, zeigt also Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis, die den von 185 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Nietzsche als unausweichlich beschworenen Konsequenzen des Historismus standzuhalten vermögen. Max Weber hat seine Definition und Theorie kulturwissenschaftlicher Erkenntnis zuerst 1904 in seiner Abhandlung über »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« formuliert und stellte sie noch einmal in dem 1917 vor Studenten gehaltenen Vortrag »Wissenschaft als Beruf« dar, der 1919 im Druck erschien.129 In der Auseinandersetzung mit dieser Schrift Webers ergab sich ein grundsätzlicher und weitreichender Wissenschaftsstreit, der eigentümlicherweise in Deutschland heute in Vergessenheit geraten zu sein scheint,130 während er anderswo unlängst erneute Beachtung gefunden hat.131 Mit Recht: denn einerseits haben sich in diesem Streit, der sich bis in die dreißiger Jahre hinein erstreckte, bedeutende Kulturwissenschaftler aller Fächer engagiert, unter ihnen Rudolf Bultmann, Ernst Cassirer, Ernst Robert Curtius, Hans Freyer, Martin Heidegger, Siegfried Kracauer, Siegfried Landshut, Karl Löwith, Theodor Litt, Karl Mannheim, Friedrich Meinecke, Heinrich Rickert, Max Scheler, Eduard Spranger, Ernst Troeltsch, Erik Wolf und andere. Hinzu kommt andererseits, daß in diesem Streit sich sehr deutlich abzeichnet, in welcher Weise sich die Grundsatzpositionen in der Epistemologie und in den Hauptorientierungen der Kulturwissenschaften in Deutschland, im Lauf der zwanziger Jahre und im Hinblick auf 1933 entwickeln würden, was auch den Neubeginn nach 1945 tiefgehend geprägt hat. Es verdient deshalb besondere Beachtung, daß die ersten Angriffe gegen Webers »Wissenschaft als Beruf«, die sofort nach Erscheinen von Webers Schrift erfolgten, von Wissenschaftlern kamen, die Stefan George und den Georgeanern nahestanden.
IV. Krise des Historismus und Neues Mittelalter im George-Kreis An allen diesen Kontroversen über den Historismus und die von ihm ausgelöste Krise, über ›Wissenschaft und Leben‹, über historische Erkenntnis, über Renaissance und Mittelalter, haben die Mitglieder des Kreises um Stefan George Anteil genommen. Sie taten dies in grundsätzlicher Ausrichtung an den Analysen und Lösungen Friedrich Nietzsches (1). Auf dieser Linie lassen sich ihre Positionen in den Problemfeldern vielfältig bestimmen: in der Propagierung einer Geschichtschreibung, die dem ›Lebern dient (2), in der Definition des Verhältnisses von Wissenschaft und ›Leben‹ überhaupt (3) sowie schließlich in der Kritik an der Moderne im Zeichen des Mittelalters und eines im Werden befindlichen Neuen Mittelalters 4), 186 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
in dem dann auch die Beschwörung Kaiser Friedrichs II. - nicht nur durch E. Kantorowicz - ihren Rahmen finden sollte. (1) Friedrich Nietzsche ist- selbstverständlich nach dem »Meister« selbst - der zentrale Bezugspunkt des George-Kreises,132 insbesondere mit seinen Äußerungen in der zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« von 1874. Nietzsche ist für die Georgeaner »der Lebendig-Ewige«, wie Friedrich Wolters 1930 formulierte, »dessen Mythus wie der aller Großen nicht stirbt, sondern in uns und mit uns weiterwächst«.133 Friedrich Gundolf hat in seinem 1920 veröffentlichten Buch über George diesen als den neuen Heiland (»er selbst ist der Weg, die Wahrheit und das Leben«), Nietzsche aber als dessen Vorläufer und Johannes (»An der Wüste wuchs die Stimme des Predigers«) dargestellt,134 was Georges eigener Selbstdeutung seit etwa 1912/14 entspricht, also seit er beschlossen hatte, Politiker zu werden oder besser: »Herrscher«, und sein eigenes »Reich«, seinen »Staat« zu gründen,135 während zuvor Nietzsche im Denken Georges und der Seinen eher die Bedeutung eines großen Vorbilds, eines Paradigmas hatte.136 Zu Lebzeiten Georges erschienen aus dem Kreis oder von diesem nahestehenden Autoren fünf Werke über Nietzsche, neben zehn über Plato, vier über Shakespeare und jeweils drei über Goethe und Hölderlin.137 Drei dieser Nietzsche-Bücher erhielten das Imprimatur des Meisters und tragen als Symbol der Approbation das Zeichen der »Blätter für die Kunst«, die Swastika, auf dem Titelblatt:138 Ernst Bertrams »Nietzsche. Versuch einer Mythologie« (1918), Ernst Gundolfs und Kurt Hildebrandts »Nietzsche als Richter unserer Zeit« (1923) und Kurt Hildebrandts »Wagner und Nietzsche. Ihr Kampf gegen das 19. Jahrhundert« (1924). Nietzsche ist für Ernst Gundolf und Kurt Hildebrandt der Richter über die »Widerweit« der Moderne (das ist: »nationales und internationales Geschäft, Diktatur des Bürgers oder des Proletariates, Gleichstellung der Weiber, allgemeine Bildung u.ä.«), denn er spricht »gegen die nihilistischen Staatsmänner sein vernichtendes Urteil über den modernen Staat, ja über die moderne Gesellschaft überhaupt, die jene wiederaufzubauen vermeinen, nachdem sie alles verspielten was die Vorfahren erworben, alles verfälschten was sie noch bewahrten, alles verdarben was von ihnen noch nicht in den zerlösenden Strudel geschäftlicher Praktik gezogen war«. Sie beschwören Nietzsche, um »wieder und wieder Stimme und Gestalt des Richters zu berufen, der über die Widerweit das Urteil sprach«, um damit »unsere unverdorbene Jugend vom Verderben zurückzureißen«.139 Bedeutender und folgenreicher ist das Nietzsche-Buch des Germanisten Ernst Bertram (1884-1957), der zwar dem ›Bund‹ der George-Jünger nicht eigentlich angehörte und dessen Beziehungen zu George und zum George-Kreis sehr komplex waren,140 der sich aber gezwungen sah, sein Buch den Korrekturen, Eingriffen und Überarbeitungen Stefan Georges zu 187 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
unterwerfen,141 so daß es »bis in die Details hinein ein georgesches Nietzsche-Bild« vermittelt.142 Die Zuwendung Bertrams zu seinem Thema und zugleich sein Eintritt in den Einflußbereich Georges erfolgten unter dem Einfluß seines Lebensgefährten Ernst Glöckner, der 1913 George kennengelernt und dabei die Überzeugung gewonnen hatte, daß George der Größte der Lebenden sei (»Er weiß alles; ... er ist ein Seher«) und daß mit seinem Namen einmal »der größte Umschwung der Menschheitsgeschichte verknüpft« sein werde, wie er Bertram mitteilte.143 Das Buch erlebte von 1918 bis 1927 sieben Auflagen. Eine konkrete Darstellung von Leben und Werk Nietzsches bietet es nicht, sondern vielmehr - wie schon der Titel sagt - eine Mythologie.144 Und so ist gegen Ende des Buches denn auch Nietzsche mehr und mehr hinter George zurückgetreten, der in den letzten Kapiteln Nietzsches Gestalt geradezu verdeckt und dessen eigenes »Erlösungswerk« das Wirken des Vorläufers verblassen läßt.145 Bertram hat schließlich selbst erkannt, daß »zuviel George in das Buch geraten ist«, wie er im Frühjahr 1918 an Glöckner schrieb: daß er sich »das Problem Nietzsche durch Hineingeheimnissen von zu viel George verfälscht« habe, was ihm seinen »Nietzsche« gar als ein »fragwürdiges Buch« erscheinen ließ.146 Glöckner freilich hat Bertrams Buch aufgefaßt als einen Dienst an dem »großen Gott, der unter uns getreten ist«.147 Von alledem ist hier zu sprechen, weil Bertram mit seinem »Nietzsche« auf Kantorowicz' Friedrich-Buch einen außerordentlichem Einfluß ausgeübt hat.148 In der Nietzsche-Forschung und Nietzsche-Deutung waren die Folgen des Bertram'schen Buches fatal. Wenn man Elisabeth Förster-Nietzsche und Stefan George als die beiden »Quellen« der berüchtigten, verfälschenden Nietzsche-Legende ansieht, dann ist Ernst Bertram derjenige, der mit seiner Nietzsche-«Mythologie« diesen Unideutungen weiteste Resonanz verschafft hat.149 (2) Inspiriert von Nietzsches Kritik an der Historie, die Wissenschaft geworden ist, und von seiner »Gesundheitslehre des Lebens« gegen die »historische Krankheit«, wandten sich die Georgeaner der »monumentalischen Historie« zu,150 der Geschichte der »Tätigen«, der »Vorbilder, Lehrer, Tröster«, des »Großen, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird«.151 Ihm galt religiöse Verehrung.152 Biographie wird zur »Mythographie« (H. Scheuer). Gefordert wurde deshalb auch, daß der Betrachter der Würde des Gegenstandes gemäß sei. Nicht jeder dürfe beliebig reden und schreiben,153 weil man nur das erkennen und darstellen könne, was man selbst sei. Wie diese monumentalische Historie sich zur Geschichtswissenschaft und Geschichtsforschung verhalte, wurde dabei früh ausgesprochen, von Ernst Bertram und Friedrich Gundolf zum Beispiel, in Positionen, wie sie dann auch Kantorowicz 1930 in Halle vertreten hat. Einem Gegner der George 188 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
aner wie dem Romanisten Karl Vossler erschienen diese »denkmalartigen Monographien«, gerade in ihrem Gegensatz zur »strengen Geschichtswissenschaft«, als Zeugnisse einer »ästhetischen Menschen- und Übermenschenreligion« und - gemessen am kritischen Bewußtsein der modernen Philosophie - als »eine reaktionäre Fehlform von Humanismus«.154 Gleich mit den ersten Sätzen seines Nietzsche-Buches hat Bertram die monumentalische Historie im Gegensatz zur wissenschaftlichen definiert: »Keine historische Methode verhilft uns - wie ein naiver historischer Realismus des 19. Jahrhunderts so oft zu glauben scheint - zum Anblick leibhaftiger Wirklichkeit, ›wie sie eigentlich gewesen‹. Geschichte, zuletzt doch Seelenwissenschaft und Seelenkündung, ist niemals gleichbedeutend mit Rekonstruktion irgendeines Gewesenen, mit der möglichsten Annäherung auch nur an eine gewesene Wirklichkeit. Sie ist vielmehr gerade die Entwirklichung dieser ehemaligen Wirklichkeit, ihre Überführung in eine ganz andere Kategorie des Seins; ist eine Wertsetzung, nicht eine Wirklichkeitsherstellung«; denn: »Wir vergegenwärtigen uns ein vergangenes Leben nicht, wir entgegenwärtigen es, indem wir es historisch betrachten«.155 In Anknüpfung an ein Dictum Nietzsches von 1874 - »Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten«156 - stellte Bertram der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem wissenschaftlichen Wissen die ›Schau‹ gegenüber: »Allem gehäuften Wissen, allen Methoden, aller Objektivität zum Trotz: wir wissen nur, was wir schauen, und wir schauen nur, was wir sind und weil wir es sind«.157 Ähnlich Friedrich Gundolf, der in seinem Buch »Caesar im neunzehnten Jahrhundert« (1926) Nietzsche als den großen »Geschichts- und Werdenspropheten« feierte und gerade in der Betrachtung der Gestalt Cäsars jenes Prophetentum pries, das die »historistische Lähmung« überwinden sollte, um die Historie als eine »seelenkünderische Wissenschaft« wieder »aus dem Wissen zum Wirken zu wecken«, allerdings nicht in romantischer Erinnerung, sondern vielmehr »aus seherischem Eifer, der die Kräfteströme der Vorwelt mitnimmt in die Zukunft«.158 Konsequent endet auch Gundolfs Cäsar-Buch von 1924 mit einer Reflexion über das Historismus-Problem. Erst Nietzsche habe, so Gundolf, die Historie wieder als »Bildnerin des Lebens« berufen und die »Wucht der Aufgabe« erkannt, »abgeschiedene Geister zu wecken«; erst Nietzsche habe wieder »Völker und Führer der Zeiten als gegenwärtige und als ewige Mächte« gesehen. Erst durch ihn - so Gundolf- »wissen wir wieder, daß wir unser eigenes Schicksal entscheiden mit jedem Ja und Nein zu den jahrtausendalten Bildern«; denn erst er »beschwor wieder die großen Wesen der Vorwelt mit Blut«. Den »Übermenschen«, den Nietzsche forderte, »damit die Untermenschen auch nur erst Menschen würden«, habe er geformt »nach Gestalten, die waren«.159 Auf solchen Urteilen gründete Gundolfs ebenfalls im Sinne Nietzsches 189 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
gehaltene Auffassung von der Geschichtsforschung, der er zwar durchaus »Ernst« vor dem Gegenstand und Pflichtgefühl gegenüber dem Leser zuerkannte, die er zugleich aber mit Nietzsche beschuldigte, den »Ernst des zu Erforschenden« und die Verpflichtung gegenüber »ihren Helden«, die sie schildert, aus den Augen verloren zu haben. Diese Wissenschaft erzeuge deshalb eine nur noch »wahllose Wahrheit, nicht die wesensvolle Wirklichkeit«, wie sie das »Leben« fordere. Diese »objektive Wissenschaft«, die »stoffsammelnde Fachforschung« also, stehe zwar in einem Gegensatz zur wertlosen »Parteischreiberei« und zur »beziehungslosen Belletristik«, doch gleiche sie dieser auch durchaus, weil nämlich beide »in den Jahrzehnten des Historismus gleicherweise die seelische Bindung zur Geschichte verloren, die sie behandelten«.160 Diese Position wird Kantorowicz auf dem Historikertag in Halle vertreten, allerdings in einer entschieden verschärften Weise. (3) Hinter diesen Äußerungen stehen die Stellungnahmen der Georgeaner in der Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und ›Leben‹ und der des Historismus. Für George und die Georgeaner war die Gegenwart eine Verfallsepoche, als deren Vorstufen sie Reformation, Aufklärung und Romantik ansahen.161 Die griechische Klassik galt ihnen, wie schon Nietzsche, als exemplarische Epoche.162 Doch trat daneben, seit 1914 und vor allem nach 1918, mehr und mehr das Mittelalter, wie noch zu zeigen sein wird. Ein Hauptsymptom und eine grundsätzliche Ursache des Verfalls ist der Historismus, ist die Wissenschaft im Zeichen des Historismus. Dem Kampf dagegen sollte die Gründung des von Gundolf und Wolters herausgegebenen »Jahrbuches für die Geistige Bewegung« dienen, dessen erster Band 1910 erschien. Das Vorwort der beiden Herausgeber benennt das Ziel: »die vielfachen, zerspaltenen, verwirrten Tendenzen der Zeit auf ihre Berechtigungen hin« zu prüfen; denn der »wahllos zusammengetragene Bildungsstoff« habe sich »derart angehäuft, daß er Geist und Kultur nicht mehr fördert, sondern zu ersticken droht«; demgegenüber sei ihr Unternehmen einem »Gesamtwillen«, einer »Idee« untergeordnet, ihre »Andacht und glühende Teilnahme« gelte allem, »wo Leben sich unmittelbar, unabgeleitet« zeige.163 In den Beiträgen des Bandes definierte dann Karl Wolfskehl das »geheime Deutschland«,164 während Gundolf das »Bild Georges« als »des wichtigsten Mannes des gegenwärtigen Deutschland« zeichnete, indem er es zugleich gegen die Fehldeutungen verwandter Geister (Ludwig Klages, Rudolf Borchardt) wahrte,165 und Berthold Vallentin in einem vehementen Artikel »Zur Kritik des Fortschritts« gegen die Zersplitterungen der Moderne »das bildlos unaussagbare Geistganze« und die ›Gemeinschaft‹ aufrief (»Nur in gewachsener Gemeinschaft wächst das Einzle!«).166 Den Kampf gegen die moderne Wissenschaft eröffnete dann der Beitrag des 190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Psychiaters und Philosophen Kurt Hildebrandt über die Übersetzungen griechischer Tragödien durch Wilamowitz, die Hildebrandt zwischen »Kunstfremdheit« und »Frivolität« angesiedelt sah, weshalb er den »Zeitengeist« anklagte, der »sich in diesem Gelehrten emporreckt und die erhabensten Güter umklammert, um sie mit sich in den Abgrund zu reißen«.167 Es war dies der erste große Wissenschaftsstreit, in dem die Georgeaner den Kampf gegen die als ›lebensfeindlich‹ und als unpolitisch gescholtene Wissenschaft ihrer Zeit aufnahmen.168 Grundsatzerklärungen boten dann, ebenfalls im ersten Band des »Jahrbuches«, die unter dem Namen von F. Wolters veröffentlichten »Richtlinien«. Hier wurde die »Schaffende Kraft« (»der Leben verströmende, Leben formende Quell«) mit ihren Betätigungsarten von Handeln, Gestalten und Schauen gegen die Wissenschaft als eine bloß »Ordnende Kraft« geltend gemacht, mit ihren Betätigungsarten des Forsehens, des technischen Anwendens und des System-Wissens. Forschung bedeute soviel wie Beliebigkeit der Gegenstände, bedeute Zerlegung, Zergliederung, ein »Netz der Begriffe«, ein »Zehren« von »historischen Erkenntnisformen« und den »großen Systemen der Vergangenheit«. Das »Leben« komme aber »nicht aus der Ordnung, sondern aus der Schöpfung«. Wissenschaft als Natur- wie als Geistes- und Geschichtswissenschaft sei nicht »Zeugung«, sondern »Selbstbefleckung des Geistes«, untauglich für eine »neue Gesellschaft«, unbrauchbar, ja gefährlich für die Jugend, da sie die »handelnden, gestaltenden, schauenden Wollensinstinkte« eher schwäche als stärke und somit »den blühenden Körper eines Volkes langsam« abtöte. Indessen: »Die Zeit des logischen Turnens ist vorbei und das Ringen mit dem Engel des Lebens hat wieder begonnen. Kritik will nur noch verstanden werden als Förderung der Krise: nicht mehr als Scheidung der erstarrten Dinge, sondern als Entscheidung für das Lebendige«.169 Von einer solchen Stellungnahme ausgehend wurde dann ein Jahrzehnt später auch der zweite große Wissenschaftsstreit begonnen, in dem es um Max Webers Definition von »Wissenschaft als Beruf« ging. Weber erschien den Georgeanern als eine bedeutende, zugleich aber als eine negativ aufzufassende Größe, das Gegenbild, der Gegentypus zu George schlechthin, eine außergewöhnliche Persönlichkeit zwar, und »an Wucht der Person« unter den Deutschen nur von George überragt, aber doch »freudlos und glücklos«, gequält und von »düsteren Gedanken« besessen, »tief amusisch«, der Repräsentant »tötender ›Objektivität‹«, in »›objektiven‹ Wähnen« befangen, ohne unmittelbaren Zugang zur Kunst, die er nur für seine Soziologie benutzt habe, »um mittelbar durch begriffliche Erkenntnis die Gebilde zu fassen, zu denen ihm der Erlebnis-Weg versagt war«. So die rückblickende Schau von Eidgar Salin:170 der Abgrund zwischen Weber und George sei »unüberbrückbar«, beider Haltungen und 191 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Wertungen »letztlich unvereinbar« gewesen, hätten doch beide »im andren die vollkommene Verkörperung der ihm fremdesten Wesensart erkannt«.171 Trotz persönlicher Sympathie für Stefan George, trotz starker Bewunderung seiner Dichtung172 und trotz seiner Freundschaft mit Friedrich Gundolf hat Weber das epochale Unternehmen der Georgeaner kompromißlos abgelehnt. Die »verneinende Haltung« Georges »zu den Formkräften der modernen Kultur«, die »von George geforderte Verfluchung alles Gegenwärtigen«, so »scharf« er auch selbst die Übel der Moderne erkannte, erschien Weber »fremd und unfruchtbar«, wie Marianne Weber nach seinem Tod feststellte.173 Das, wie Weber 1910 an Dora Jellinek schrieb, »orgiastische Dröhnen« Georges, sein »wildes Harfengetön«, hielt Weber für hohle Pseudo-Ethik, hinter der sich ein »Streben nach Selbstvergottung« verbarg: »Em Versprechen eines ungeheuren, Erlösung garantierenden Erlebnisses wird durch ein anderes, noch größeres übertrumpft, immer werden neue Wechsel auf das was kommen soll gezogen, obwohl die Uneinlöslichkeit offen zutage liegt«.174 Auch die von George geforderte rigorose Unterordnung unter die Autorität, ja Gewalt eines Dichters, Deuters, Führers (wie sie sich auch in den von George ausgeübten Eingriffen in die ihm vorgelegten Manuskripte äußerte175) lehnte Weber für andere und erst recht für sich selbst ab. Die »Religionsstiftung auf George« und die »Vergottung irdischer Menschen« erschienen ihm als »Selbsttäuschung von Menschen, die dem Gegenwartsleben nicht ganz gewachsen sind«, wie Marianne Weber berichtete.176 George und seine Jünger wurden ihm zum Anschauungsobjekt »charismatischer Herrschaft« und zu einer der für die Moderne so typischen »emotionalen Vergemeinschaftungen« von Menschen, die »auf neue Propheten und Heilande harren«.177 Schließlich irritierte Weber, wie immer, so auch hier, die Vermischung aller Bereiche: von Kunst, Religion, Ethik und Wissenschaft, was seinen Grundsätzen der Auffassung von Wissenschaft und Leben, ihrer rationalen Unterscheidung und rational begründeten Verknüpfung fundamental zuwiderlief.178 Darin wurzelt seine in »Wissenschaft als Beruf« vorgetragene scharfe Polemik gegen »Führer« und »Propheten« in der Wissenschaft und für eine Wissenschaft »im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge«, für »intellektuelle Rechtschaffenheit« und für die Anerkennung »unbequemer Tatsachen«.179 Dazu kam noch etwas anderes. Gewiß: Weber teilte in vielem die Kritik der Georgeaner an der modernen Kultur.180 Aber er unterschied sich von ihnen wesentlich darin, daß er »den Gefahren der Moderne mit den Mitteln der Moderne« entgegentreten wollte181 und damit zugleich ein tiefgehendes Interesse an der Kultur der Moderne selbst verband, zum Beispiel auch an der »modernen künstlerischen Kultur«, an Literatur, Kunst und Musik seiner Gegenwart.182 Statt einfache Verneinungen und Gegenpositionen einzunehmen, war er an der 192 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Geschichte und am Vergleich der Kulturen, an den unendlich vielfältigen Formen der Rationalität interessiert. Nicht nur auf seiten der Georgeaner hat man die daraus sich ergebenden fundamentalen Differenzen zu George und den Georgeanern wie auch zu einem (diesen durch die gemeinsame Orientierung an Nietzsche eng verwandten) Philosophen wie Martin Heidegger deutlich wahrgenommen.183 In dem Streit um Max Webers »Wissenschaft als Beruf« ging es eigentlich um den Gegensatz von Kant und Nietzsche. Das hat bereits 1920 wiederum Kurt Hildebrandt ausgesprochen: Die Natur, die Kant »mechanisch« begriffen habe, sei in Wirklichkeit selbst »produktiv«, die Vernunft stehe der Natur nicht (im Sinne des Subjekt-Objekt-Verhältnisses) gegenüber, sondern sei »die verdichtete Natur selbst«; die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt sei also überholt: »Gerade im wesentlichen, im lebendigen Wachstum verfährt die Natur nicht nach dem Schema der Kantischen Begriffe«. Deshalb sei Kant »widerlegt«, wenn er »die Wirklichkeit an sich für unerkennbar hält«. Denn: »Wieweit sie erkennbar ist, bleibe dahingestellt, aber es gibt Erlebnisse, in denen wir bis in ihre Mitte schauen«.184 ›Schau‹ also auch in der Naturerkenntnis. Den eigentlichen Angriff gegen Weber eröffnete dann der Privatgelehrte und Germanist Erich von Kahler (1885-1970) mit seiner ebenfalls 1920 erschienen Schrift »Der Beruf der Wissenschaft«, die sich schon durch ihren Titel als eine Replik auf Max Webers »Wissenschaft als Beruf« zu erkennen gibt.185 Kahler, der an seiner Streitschrift zehn Jahre gearbeitet hatte,186 profilierte sich wie 1922 Paul Ludwig Landsberg als ein Sprecher der Jungen. Mit ihm teilte er (wie auch mit Kantorowicz) später das Schicksal der erzwungenen Emigration. Wie Ernst Bertram gehörte Kahler nicht eigentlich zum George-Kreis, wie bei diesem war auch seine Haltung von Faszination und Distanz gleichzeitig bestimmt.187 Die Bindung zum Georgekreis wurde hier durch die Freundschaft mit Friedrich Gundolf geschaffen. Kahler hat die für Webers ›Wissenschaftslehre‹ konstitutive Unterscheidung von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ bei gleichzeitiger Verknüpfung beider - also Webers Thematik von »Wertfreiheit« bei gleichzeitiger »Wertbezogenheit« - verkannt, obwohl dieses Thema in Webers Text deutlich genug ausgesprochen war (»Keine Wissenschaft ist absolut voraussetzungslos, und keine kann für den, der diese Voraussetzungen ablehnt, ihren eigenen Wert begründen«188). Er hat Weber auf eine ›positivistische‹ Position reduziert,189 ein Fehlurteil, das seine Wirksamkeit lange behalten sollte.190 Auf diese Weise wurde es Kahler möglich, den Gegensatz zu Weber zu einem »Kampf zwischen letzten Wesensgründen«, ja »zwischen Zeitaltern« hochzustilisieren. Auch Kahler gab sich als Sprecher eines neuen »Wir«, das sich jetzt im Zeichen eines »neuen Menschen« gegen die »alte Wissenschaft« eines Max Weber erhebe, die sowohl in ihren »Grundlagen« als auch 193 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
in ihrem »menschlichen Sinn« sichtbar »erschüttert« sei, obwohl dieser Mann »ganz persönlich hoch über demjenigen« stehe, »was er noch vertritt«. Wir fragen nicht, was diese Wissenschaft sei, so erläuterte von Kahler, sondern gehen »von unserem Gesamtleben und seinen Forderungen aus« und fragen, ob das, »was sich Wissenschaft nennt«, geeignet ist, »diesen unseren Bedürfnissen zu genügen und in welchem Grade«.191 Die Wissenschaft wird also erneut im Sinne Nietzsches an den Forderungen des ›Lebens‹ gemessen. Auch Kahler forderte die Beseitigung der »Kantischen Tat« und alles dessen, was seit dem Nominalismus zu dieser geführt habe, und er verlangte an ihrer Stelle die Wiedergewinnung der Welt als Kosmos, in der wechselseitigen Erhellung von »organischer Einheit« und »organischer Mannigfalt«. Statt der Subjekt-Objekt-Spaltung wollte er - in einer »vollendeten Umkehrung aller vorigen Arbeit« - ›Schau‹, nämlich das »gesamtintuitive, tief zusammenschauendc, d.h. überhaupt schauende Element«, eine »Schau des Ganzen«. Anstelle des Wissenschaftlers als »Spezialisten« forderte er den Wissenschaftler als »Führer«, der nicht »fragwürdige Objektivität« vermittelt, sondern »das Leben« des Einzelnen und der »Gemeinschaft« »gestaltet« und zugleich der nationalen Gemeinschaft dient: der »Güte des Deutschen und des heutigen Deutschen als einer besonderen Form des Menschen«.192 Erich von Kahlers Absage an die »alte Wissenschaft« und ihren Exponenten Max Weber wurde im Jahr darauf von dem Nationalökonomen Arthur Salz (1881-1963), dem Schwager von Ernst Kantorowiez,193 in seiner Schrift »Für die Wissenschaft, gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1921) ihrerseits kritisiert: Kahler sei Weber nicht gerecht geworden und seine »neue Wissenschaft« sei in ihrer Gegnerschaft gegen den Rationalismus »anti-individualistisch«, sie sei »dogmatisch, hierarchisch, esoterisch« und bedeute eine »Rückkehr ins Mittelalter« oder, was auf dasselbe hinauskomme, eine Rückkehr zur »Weisheit des Orients«; sie sei »bestenfalls der Versuch einer Synthese zwischen mittelalterlichem und renaissancemäßigem Lebensgefühl und darum im letzten Sinne romantisch«.194 Gleichwohl hat Salz, wie Ernst Troeltsch in seinem Kommentar zu diesem Streit von 1921 ganz treffend feststellte, die Positionen Kahlers erneut bezogen, »nur vorsichtiger und gereifter«.195 Man begreift nach alledem, was die fulminanten Wirkungen Georges gerade auf junge Wissenschaftler ausgemacht hat. (4) Deutlich prägte sich auch im George-Kreis seit etwa 1910 eine zunehmende Mediävalisierung des politischen Denkens aus, und George selbst hat sie, mit der Veröffentlichung des Gedicht-Zyklus »Der Sterr. des Bundes« (1914) ausgesprochen und gefördert. Hier wird der »Neue Adel« des ›Bundes‹ beschworen (»Neuen adel den ihr suchet / Führt nicht her von schild und krone!«) wie auch das Neue Reich (»Dies ist reich des 194 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Geistes: abglanz / Meines reiches, hof und hain«) und die neue Herrschaft Georges und der Seinen: »Durch die sendung durch den segen / Tauscht ihr sippe stand und namen / Väter mütter sind nicht mehr .. / Aus der sohnschaft, der erlosten, / Kür ich meine herrn der welt«.196 Es erscheint als sehr bezeichnend, daß die Politisierung Georges, der Übergang von der Dichtung zur ›Tat‹, von George dem »Dichter« zu George dem »Herrscher«,197 die sich seit 1906 abzeichnet, auch als Mediävalisierung zum Ausdruck kommt: der »Stern des Bundes« bezeichnet eine Wendung zum Staatlichen und Politischen,198 aber mit den spezifischen Ausdrucksmitteln der Mittelalter-Imagination. In den seit 1914 entstandenen Gedichten, die dann (1928) in der Sammlung »Das Neue Reich« erscheinen, wird dies noch deutlicher: »Die alte bahn führt nicht zum ziel. Versuchen wir! / Eins, zwei schlug fehl! Nun laßt uns noch ein Drittes sehn!«199 In dieser Sammlung bilden die beiden Gedichte »Burg Falkenstein« und »Geheimes Deutschland« »nicht nur äußerlich die Mitte des Werkes«.200 »Burg Falkenstein« beschwört die Erinnerung an das historische Mittelalter und an seinen »Zauber«, die übergeht in die Wahrnehmung eines Neuen, Kommenden: »Aber schon deutlichen klang wittr' ich durch schläfrige luft, / Eh eine saite zerriß war schon die neue gespannt. / Ungewohnt noch dem ohr schwingt sich der goldene ton: / Frühester ahnen geheiß unseres gottes verspruch ... / A b von dem schillernden sund über der täler gewell / Dunstiger städte betrieb zuckt er durchs alternde herz«.201 Kaiser Friedrich II., schon im KaiserGedicht (»Die Gräber in Speier«) des »Siebenten Rings« beschworen (»Der Größte Friedrich, wahren volkes sehnen«202), ist es, der die verderbte Gegenwart und ihr »vielstimmig Gewirr« überwindet und gegen die »unersättliche Gierde« und »unerbittliche Grelle«203 der Gegenwart das Neue herbeiführt: »Hallend von reinerm metall dringt der gewaltige hauch .. / Mit der gestalten zug flutet zum norden zurück / Mär von blut und von lust mär von glut und von glanz: / Unserer kaiser gepräng unserer kämpfer gedröhn«.204 In den »Sprüchen an die Toten« derselben Sammlung evoziert das Gedicht »Wenn einst dies Geschlecht« abermals die Wiederkunft Friedrichs205 und die neue Zeit: »Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande / Vom nacken geschleudert die fessel des fröners«, wenn es »den Hunger nach Ehre« wieder spürt, »... dann jagen auf wolken / Lautdröhnende heere dann braust durchs gefilde / Der schrecklichste schrecken der dritte der stürme: / Der toten zurückkunft!« Und weiter: »Wenn je dieses volk sich aus feigem erschlaffen / Sein selber erinnert der kür und der sende: / Wird sich ihm eröffnen die göttliche deutung / Unsagbaren grauens / Dann flattert im frühwind mit wahrhaftem zeichen / Die königsstandarte und grüßt sich verneigend / Die Hehren, die Helden!«206 195 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
So ist es nicht erstaunlich, daß es George selbst war, der dem jungen Historiker Ernst Kantorowicz den Impuls zur Abfassung seines Buches über Friedrich II. gegeben hat.207 Kurz zuvor waren die drei Brüder Stauffenberg zu Mitgliedern des Kreises geworden, was hier erhebliche Aufregung auslöste und dazu führte, daß die Drei sogleich von Max Kommereil als »königlich« und »Königssprossen«, als Nachkommen und Erben der Staufer bedichtet wurden: »Der beziehungsreiche Name, die gleichzeitigen Staufer-Studien des Historikers Ernst Kantorowicz und Georges heimlicher Anspruch auf die geistige Führung Deutschlands tauchten alles in einen mythischen hellen Nebel«, den die »darin Befangenen ... für ›Schau‹ von großer Klarheit« hielten.208 Und hierher gehört dann auch die von Kantorowicz in der Vorbemerkung zu seinem Buch von 1927 geheimnisvollbedeutsam berichtete Niederlegung eines Kranzes in Palermo, am Sarkophag Friedrichs II., im Mai 1924, mit der Inschrift »Seinen Kaisern und Helden das Geheime Deutschland«, wobei nicht zu ermitteln ist, wer von den zahlreichen Mitgliedern des Kreises, die sich damals in Palermo authielten (darunter auch Kantorowicz), den Kranz niedergelegt hat.209 Auch bei einzelnen Mitgliedern des Kreises begann um 1910 die Verwendung ›mittelalterlich‹ besetzter und aufgeladener Schlüsselwörter in bedeutsamem Zusammenhang. Dazu gehören ›Gefolgschaft‹ und ›Dienst‹. Über »Gefolgschaft und Jüngertum« äußerte sich Friedrich Gundolf 1909 210, 1910 folgte der Historiker Friedrich Wolters mit »Herrschaft und Dienst« (eine zweite Auflage erschien 1920). Wolters beschwor hier die formende Kraft des Mittelalters, welche vor allem die Erinnerung an Herrschaft neu stifte, im Kampf gegen die »verpestete Freiheit« der Moderne und ihre »zersetzende Kraft«, welche »seit einem halben Jahrtausend«, seit der Reformation also, mit »Hekatomben ... zerbröckelnder Körper den Acker des Geistes düngen mußte«.211 Es folgte Kurt Hildebrandts Bekenntnis zu »lebendig-geschlossener Gemeinschaft« und zu »Vasallentreue, auf der sich die germanische Kultur des Mittelalters aufbaute« und die »eine neue Jugend« sich durch »die Übersteigerung eines abstrakten Protestantismus nicht zerstören lassen« werde.212 Eigentümlich wirkt auch die Mediävalisierung Platos, wie sie sich in den mit Plato und seiner »Politeia« befaßten Werken der Georgeaner aus den zwanziger Jahren ausspricht. Plato wird hier als Gründer eines »Reiches«, einer »reichischen Utopie« (E. Salin), einer »Gemeinschaft« im Gefüge von Herrschaft und Dienst dargestellt.213 Wolters' von George selbst Zeile für Zeile redigiertes und autorisiertes Geschichtswerk über den George-Kreis, »Stefan George und die Blätter für die Kunst«, das 1930 erschien, propagierte dann das von George gegründete »gelebte Reich«, die von ihm gegründete »neue Gemeinschaft von deutschen Menschen« und das »heimliche Kaisertum« des Meisters »unter den Deutschen«, das nunmehr sichtbar geworden sei und George 196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
bereits »zum Herrn der Gegenwart« gemacht habe.214 Auf »George den Dichter« sei also »George der Herrscher« gefolgt: »George ist der Herrscher«, so heißt es hier, er ist »zutiefst ein staatlicher Mensch ..., der irdische Herrschaft will und formt«, und die Annahme, daß er sich nur um Ästhetisches und um Kunst kümmere, sei eine seltsame Verkennung seines »geistigen, ... alle Seelenkräfte umfassenden und bewegenden Herrschertums«. George habe die »Kunst als Macht« betrieben (wie einst Napoleon die »Macht als Kunst«) und damit als »treuester Bewahrer und kühnster Neuerer zugleich den neuen Anfang menschlicher Gesittung und menschlicher Gemeinschaft (gesetzt) - die Keime seines Volkes und seines Staates«.215 Es geht hier also nicht mehr bloß um Wissenschaftsfeindschaft und Dichtungsglauben216 und um die Unterordnung der Wissenschaft unter die Kunst, es geht nicht bloß um einen »ästhetischen Fundamentalismus«,217 es geht um viel mehr, und man kann das ridikülisieren, - bagatellisieren sollte man es nicht, um so weniger, als George gerade in diesem Buch seine Zensur und Korrektur ausübte, weil er sich selbst und sein Wirken hier gültig dargestellt sehen wollte. Teile dieses Werkes wie das Kapitel »Der Herrscher« stammen überhaupt von ihm selbst.218 Recht übergangslos ließ sich dann 1933 für manche Georgeaner und solche, die diesen nahestanden, die »Herrschaft« Georges mit jener der Nationalsozialisten verbinden. Ohne Schwierigkeit hat Kurt Hildebrandt in seiner 1933 erschienenen Einleitung zu einer Taschenausgabe von Platos »Politeia« die Darstellung des Weges Platos und seiner ›Machtergreifung‹ mit der Hitlers verknüpft.219 Ähnliche Leistungen vollbrachte Ernst Bertram in seinen Reden des Sommers 1933 an der Universität Köln, so am 3. Mai zur Eröffnung des Sommersemesters (»Deutscher Aufbruch. Eine Rede vor studentischer Jugend«): »die zweite große Tannenbergschlacht gegen Asien« sei geschlagen, die »höchsten germanisch-deutschen Werte« und die »deutsche Humanität« seien gerettet. Diese Feststellung verband er mit der Erinnerung an George als den Dichter, der schon »lange vor dem Krieg in bedeutsamem Vorgefühl das alte germanische und vorgermanische Heilsinnbild des drehenden Sonnenkranzes zum Sinnbild seiner Hoffnungen wählte«.220 Ähnliche Töne auch in Bertrams Rede zum 65. Geburtstag Georges im Juli 1933 (»Möglichkeiten deutscher Klassik«): »Es ist Wendezeit und Völkerwanderungstag«, so ließ sich Bertram hier vernehmen, mit einer Absage an den »verhängnisvollen Mißbrauch humanistischer Werte« und an einen »Humanismus«, in dessen »Masken ... sich allzuoft der Todfeind germanischen und deutschen Wesens verlarvt« habe und mit dem es keine Versöhnung geben könne; darin aber liege die »Zukunftsbürgschaft des georgeschen Werkes«, daß es die Möglichkeit einer klassischen Dichtung eröffne, die »auf germanische wie auf griechische Weise seherische Dichtung ist; die das Germanische mit dem dorisch Griechischen 197 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
vermählt; die ein neues staatliches, ein platonisches wie germanisch deutsches Ideal von Herrschaft und Dienst, von Führertum und Gefolgschaft schaut und zu ihrem Teil verwirklicht«.221 Aus demselben Anlaß und mit derselben Intonation hielt Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband - dem Kantorowiez 1927 sein Friedrich-Buch gewidmet hatte - den Studenten der Universität Tübingen eine Rede über »Das revolutionäre Ethos bei Stefan George«, auch er mit deutlicher Bezugnahme auf die neue deutsche ›Revolution‹.222 Im Rückblick auf das »verruchte Erbe des 19. Jahrhunderts«, nämlich Positivismus, Rationalismus, Kapitalismus und Sozialismus, pries der Redner den Vorläufer Georges, Friedrich Nietzsche, der »wie kein anderer den Wahnsinn dieser Zeit gebrandmarkt« habe und doch wegen seiner Vereinsamung223 nur eine »Zwischenlösung« bieten konnte. In der »völlig anderen Lebensgestaltung« Stefan Georges hingegen »drängte das Lebensgefuhl zu dem in der Gemeinschaft gebundenen Menschen«, weil nur dieser, wie alle Geschichte lehre, zur Entfaltung der »höchsten staatlichen und somit kulturellen Kräfte« komme: »Nur innerhalb der Gefolgschaft als höchstem Ausdruck des Gemeinschaftswillens kann die heroische Weltauffassung wiedergeboren und gegen die Zersetzung des Individualistischen erfolgreich gekämpft werden, weil die überragende Person als Führer die Gemeinschaft erneuert und prägt«.224
V. »Kaiser Friedrich der Zweite« Geschichtsschreibung als ›Neue Mythologie‹ im Dienst des ›Lebens‹ In diesen Positionsbestimmungen der Georgeaner, in ihren Auseinandersetzungen über Historismus und Kultur, über Wissenschaft und Leben, über Mittelalter, Renaissance und Moderne lassen sich nun auch die Positionen von Ernst Kantorowicz bestimmen, läßt sich auch sein Buch »Kaiser Friedrich der Zweite« einordnen. (1) Die Probleme des Historismus hat Kantorowicz in seinem Vortrag über »Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte« erörtert, den er im April 1930 anläßlich des deutschen Historikertags in Halle gehalten hat.225 Auch dieser Vortrag war, wie so viele andere Stellungnahmen und Veröffentlichungen, im Kreis diskutiert und wohl auch mit George selbst abgestimmt worden.226 Es handelt sich also im eine »offiziöse Proklamation der Prinzipien einer neuen Art von Geschichtsschreibung«.227 Die mediävistische, fachliche Forschung war danuf weder vorbereitet, noch hatte sie dazu eigentlich etwas zu sagen, es sei denn mit den Mitteln der fachlichen Forschung selbst, die hier aber gerade in 198 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Zweifel gezogen worden waren. Nietzsches Herausforderungen waren von Historikern so gut wie gar nicht wahrgenommen worden,228 den Historismus und seine Folgelasten zu erörtern hatte man weitgehend den Vertretern anderer kulturwissenschaftlicher Fächer überlassen,229 die »Revolution in der Wissenschaft« (E. Troeltsch) war unbemerkt oder zumindest unkommentiert geblieben. Man kann also durchaus von einem »Versagen der Fachhistorie« sprechen,230 so wie es Ernst Troeltsch schon 1922, in seiner Abhandlung über »Die Krisis des Historismus« bedauernd angedeutet hatte: »die fachmäßige Forschung (hält) sich von alledem grundsätzlich zurück« und sie hält an »ihren alten Problemstellungen und Interessen«, an »ihrem alten Objektivitätsstandpunkt«, an ihren »alten Wertmaßstäben« fest.231 Eben dies zeigt auch die Diskussion um Kantorowicz' Friedrich-Buch, die 1929 einsetzte, also gleichzeitig mit dem Historikertag in Halle ablief232 Albert Brackmann (1871-1952) wies in seiner Rezension (»Kaiser Friedrich II. in ›mythischer Schau‹«, 1929) zwar hin auf Bertrams Nietzsche-Buch und Kahlers Streitschrift, beließ es aber dabei, mit der Feststellung, daß Kantorowicz, der Historiker, eben von George, dem »Dichter«, überwältigt worden sei, der sich schließlich als der Stärkere erwiesen habe. Im wesentlichen stritt Brackmann über Quelleninterpretationen und erteilte dem Versuch, »unsere Wissenschaft statt auf Arbeitshypothesen auf Dogmen zu gründen«, eine Absage, konnte aber gegen Kantorowicz' - wie er es sah - Absicht, »der Phantasie, der Ästhetik oder dem religiösen Empfinden« Raum zu geben, nur das »reine positivistische Wissenschaftsideal« stellen, nämlich: »daß man Geschichte weder als George-Schüler noch als Katholik oder als Protestant oder als Marxist schreiben kann, sondern nur als wahrheitssuchender Mensch«.233 Dies hat ihm von seiten von Kantorowicz in Halle eine öffentliche höhnische Replik eingetragen.234 Brackmann habe einen Grundsatzstreit zu einem »Methodenstreit« verharmlost , wie Kantorowicz seinem Gegner zu Recht vorwerfen konnte. Eine Verständigung sei nicht möglich, da Brackmann die Diskussion nicht auf einer Ebene geführt habe, die der Bedeutung der Fragen entspreche, um die es gehe, jener Fragen nämlich, »welche etwa die Hauptprobleme des heutigen gebildeten Deutschen in sich schließen«.235 Die Rezension des wie Kantorowicz ebenfalls einer jüngeren Historikergeneration angehörenden Friedrich Baethgen (1890-1972) teilte die wichtigsten Grundauffassungen des Autors und würdigte auch den »allgemein geistigen Typus«, den Kantorowicz repräsentiere, distanzierte sich vom »erstarrten Zunftgeist« des Faches und dem ihm eigenen Positivismus, der »den Zusammenhang mit dem allgemeinen Interesse der Gebildeten so weitgehend verloren« habe. Im übrigen erschien das Buch Baethgen als das Ergebnis der Anwendung einer »phänomenologischen Betrachtungsweise«.236 Der wie Brack199 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
mann um eine Generation ältere Karl Hampe (1868-1936) wiederum lobte 1932 wohlwollend die »besonders originelle Leistung ... von ungewöhnlichem Ausmaß« und attestierte (nach eingehender Benutzung des inzwischen erschienenen Ergänzungsbandes mit den Quellennachweisen) eine »vorbildliche« Quellenbeherrschung.237 Allein Herbert Grundmann (1903-1972) verwies 1933 - in kritischem Rückblick auf die bisherige Kritik des Buches, die noch gar nicht zur Diskussion der wirklich zentralen Fragen vorgedrungen sei - auf die eigentümlichen Mittel der Darstellung, die hier eingesetzt wurden, zum Beispiel in Sprache und Stil (»eher teleologisch als genetisch«), und hat auch auf die eigenartige Betonung des »Fatums« aufmerksam gemacht, wodurch nicht Motive des Handelns und Kausalitäten sichtbar würden, sondern schicksalhafte Bestimmungen, »das Geschick, dem sich der Kaiser fügte, das unserem politisch räsonierenden Besserwissen völlig entzogen ist«. Eben dadurch, und dies sei auch die leitende Absicht des Autors, werde der Leser selbst zum »mythengläubigen Zeitgenossen« gemacht.238 In Halle also gab dann Kantorowicz seine Grundsatzerklärung ab, deren Text erst seit 1994 vollständig vorliegt.239 Kantorowicz trat der »Zunft« der Historiker als Sprecher der »George-Schule« entgegen, und auch ihm ging es zunächst, wie schon Gundolf in seinem Cäsar-Buch,240 um die Unterscheidung von Geschichtsschreibung, Geschichtsforschung und historischer »Belletristik«,241 genauer gesagt: um die Gegenüberstellung von »positivistischer Geschichtsforschung« und »historischer Belletristik« einerseits - im Gegensatz beider zur »Geschichtsschreibung«, welche »Bilder gibt und erzählt« und »der Kunst dient, die ihrerseits immer einem Äußersten, einem Glauben, einem Lieben geweiht ist«. Geschichtsschreibung sei damit der Epik und Dramatik »nächstverwandt« und fordere den »ganzen aktiven Menschen«, während die »materialsammelnde und -ordnende oder tatsachenfeststellende Forschung« stets nur »eine von der inneren Verwur zelung der Forscherpersönlichkeit nahezu abgelöste wissenschaftliche Tätigkeit« sei.242 Die »philologisch-historische Forschung«, mit ihrer Fixierung auf »Quellen und Quellesquellen«, auf Tatsachenfeststellung und Kausalitätsprinzip, mit ihrem »konturenverwischenden« und »relativierenden«, »haltlosen Woherfragen«, dieser ganze »sich voraussetzungslos oder gar wertfrei nennende Positivismus«, verfehle die Wahrheit, weil er das »Lebensgesamt« auf das Rationale einenge und deshalb unfähig sei, »ille lebensbedingenden Mächte« anzuerkennen.243 Deshalb sei die übliche »Gleichsetzung von Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung« schlechthin »verhängnisvoll«. Nicht zwischen Forschung und Geschichtsschreibung, sondern zwischen Forschung und historischer Belletristik bestehe eine »tiefe Wesensverwandtschaft« - darin nämlich, daß sie beide auf »Wahrheit« verzichten. Der »Literat« tue es zugunsten seiner »Pamphl^ti200 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
stik«, der Forscher tue es »entsagend«, weil er Wahrheit gar nicht erlangen könne.244 Albert Brackmanns Einwand gegen das Friedrich-Buch, daß man nämlich Geschichte »weder als George-Schüler noch als Katholik oder als Protestant oder als Marxist schreiben (könne), sondern nur als wahrheitssuchender Mensch«, wird zitiert und dem höhnischen Verdikt unterzogen, daß hiermit der »Positivismus« einen Typus von Historiker und eine »Menschengattung« fordere, für die »Überzeugung, Partei, Nationalität eigentlich nur wissenschaftliche Verunreinigung, Befleckung und Belastung (darstellten), unaustilgbare Übel, von denen nur außerwissenschaftliche Einflüsse in die Geschichtsschreibung gelangen - ein farblos indifferenter Typ also, der eigentlich nur eine Art von historischem Reporter darstellt, der jedem Thema vom Standpunkt jeder Partei, jeder Nationalität, jeder Weltanschauung gerecht werden kann - ein höchst suspekter Typ, den indessen eigens zu fordern heute als überflüssig erscheint, da es an ihm im kosmopolitischen Ullstein-Deutschland wahrlich nicht gebricht«.245 Demgegenüber forderte Kantorowicz immer wieder auch für die Historie den »ganzen aktiven Menschen«, den »Einsatz des ganzen Menschen«, der »zwar der Idee der Wahrheit bis zum letzten Meilenstein des Wissens nachkommt«, der aber dennoch der Kunst, dem Leben, »einem Glauben« dient; denn das ›Ganze‹ und die »Totalität« werde nur dort »erkannt und vergegenwärtigt ..., wo man ein Ganzes eingesetzt« habe. Das aber fordere »die Kunst«. Der Geschichtsschreibung als einer Kunst aber könne »nur der Glaube die Aufgaben stellen«.246 Kantorowicz berief sich an dieser Stelle seines Textes auf Wilhelm von Humboldt (»Über die Aufgabe des Geschichtschreibers«, 1821) und dessen Darlegungen, daß die Erfassung des ›Ganzen‹ von der umfassenden Entfaltung der »Menschlichkeit« bedingt ist. Ungesagt blieb hierbei allerdings, daß Humboldts Begründung von historischer Erkenntnis als Ideenerkenntnis an eine metaphysische, an eine religiöse Grundlage gebunden ist.247 Bei dem rein immanenten »Glauben« im Sinne der »George-Schule« kann davon keine Rede mehr sein. Welcher Art sollte dieser »Glaube« sein? In der Antwort auf diese Frage ergibt sich ein zweites entscheidendes Moment, um das es Kantorowicz ging, mit dem er sich aber von Gundolfs Positionen deutlich trennte, nämlich in der Bestimmung dessen, was der Inhalt dieses »Glaubens« sein müsse. Auch Gundolf hat gefordert, daß die Geschichtschreibung ein Teil der Literatur sein müsse, und er hat ihre »bildschaffende Kraft«, ihr »gesamtmenschliches Sehertum« beschworen, »wovon das wissenschaftliche Merken, Sammeln und Ordnen nur eine Einzelfunktion ist«, ihre Gabe, »Gesichte und Wahrnehmungen sprachlich kund zu machen«.248 Kantorowicz ging hier sehr viel weiter. Das wird sogleich daran sichtbar, daß er historische Forschung und historische Belletristik als in gleicher, und zwar 201 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
in gleich unerfreulicher Weise als »kosmopolitisch« bestimmt sah und mit diesem Wort diffamierte.249 An dem Diffamierungscharakter des Wortes ist kein Zweifel möglich,250 wie auch der Seitenhieb gegen das »kosmopolitische Ullstein-Deutschland«251 zeigt, also gegen die Meinungsmacht der liberalen, für Toleranz und Rationalität, für Republik und Demokratie eintretenden Zeitungen und Zeitschriften des Berliner Verlagshauses.252 Das »Kosmopolitische« sei, neben der Gesinnungslosigkeit, ein zweites Merkmal, in dem historische Forschung und historische Belletristik übereinstimmten, auch wenn natürlich ein Unterschied bestehe zwischen dem Forscher, der sich »an das Gelehrtenforum der ganzen Welt wendet«, und dem »Literaten«, der »zu den internationalen Massen und dem internationalen Halbbildungspöbel spricht«.233 Die Internationalität der Forschung ist für Kantorowicz geradezu der Nachweis ihrer Gesinnungslosigkeit. Der Forschung und der ebenso gesinnungslosen Belletristik stehe die Geschichtsschreibung »allein gegenüber, ihnen das Gegengewicht zu halten«. Denn die Geschichtsschreibung gehöre »ihrem Wesen nach und als Kunst durchaus zur Nationalliteratur«, sie sei »vom Standpunkt des Deutschen her konzipiert und begriffen, gleichgültig, ob der Stoff selbst die vaterländische Geschichte betrifft oder nicht«, und sie wende sich an die »stets kleine Zahl der wirklich Gebildeten und geistig Führenden der Nation«. Hierin aber habe gerade die Mittelalterhistorie in Deutschland »seit Generationen« und vor allem seit der Reichsgründung von 1870/71 »völlig versagt«. Sie habe sich »den nationalen Aufgaben und Pflichten völlig entzogen«, was »heute eine allbekannte Tatsache« sei. Und es sei deshalb »eine durchaus offene Frage, ob dieses totale Verbrachen eines der nationalen Geschichte so eng angehörenden Gebietes nicht zu teuer erkauft (sei) mit der wenn auch noch so gesteigerten deutschen Wertschätzung auf dem internationalen Wissenschaftsmarkt«.254 Gegen den »heutigen Rekordeifer plattester Internationalität« machte Kantorowicz den »harten nüchternen Nationalstaatsgedanken« geltend,255 und deshalb forderte er auch, gegen den Trend zur Intcrnationalisicrung der Forschung, die Nationalisierung der Historie und ihre Verpflichtung auf die Werte der ›Deutschheit‹. Gerade darin liege - so erklärte er - auch der »wissenschaftliche Wert der historischen Werke aus der George-Schule«. Denn gerade sie schlössen in ihrem Einsatz für die »würdige Zukunft der Nation und ihre Ehre« und durch ihren »Glauben an das echtere Deutschland« die »Kluft zwischen Wahrheit und Nation«. Und was sie von anderen Richtungen der Historie unterscheide, sei nicht irgendein ästhetisches oder sonstiges Dogma, sondern »lediglich das Dogma von der würdigen Zukunft der Nation und ihrer Ehre« und allein die Tatsache, daß sie »diesem Glauben an den Tag des Deutschen, an den Genius der Nation« dienten.256 Dem entspreche auch die Devise der George-Schule: ›Fiat veritas in vita‹, - was als eine knappe 202 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Zusammenfassung von Nietzsches Wissenschaft im Dienst des ›Lebens‹ aufgefaßt werden kann. Erneut wird hier also mit Nietzsche gefordert, daß die Wissenschaft dem ›Leben‹ dient und damit dann letztlich aufhört, Wissenschaft zu sein. Kantorowicz vertritt diese Forderung 1930 in der Form der »Glorifizierung eines deutschen Sonderwegs und zur Verherrlichung deutschen Wesens«.287 Er bediente sich dabei einer Denkform, die man mit Aleida Assmann als einen ›radikalen Denkstil‹ bezeichnen kann, nämlich als ein Bündel von ›fundamentalistischen‹ Denkoperationen wie: »die Aufgipfelung von Werten zu absoluten Werten«; »die Konstruktion von Zwangsalternativen« mit ihrer Betonung der Notwendigkeit einer Entscheidung zwischen ihnen; »die Rückführung von Komplexität auf letzte Eindeutigkeiten«.258 Kantorowicz ist damit auch ein herausragendes Beispiel für das, was zu jener Zeit der Franzose Julien Benda den »Verrat der Intellektuellen«, »La trahison des clercs« (1927) genannt hat, nämlich: den Verrat der universalen Werte - Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit, Vernunft - zugunsten des Engagements für partikulare, also gemeinschaftsbezogene.259 (2) Die Historie hat also dem ›Leben‹ zu dienen und sie tut dies hier mit einem nationalen »Glauben« und mit dem »Glauben an den Tag des Deutschen«. ›Wahrheit‹ wird durch ›Nation‹, ja durch ›Deutschheit‹ geschaffen. Diesem Ziel ist auch »Kaiser Friedrich der Zweite« gewidmet. Niemand anders als Armin Mohler, der Propagator der Idee der ›Konservativen Revolution‹ in Deutschland noch nach 1945, hat dieses Buch zu den »entscheidenden Werken« des George-Kreises gezählt, in einem Atemzug mit dem Nietzsche-Buch Ernst Bertrams und mit den rassistischen Publikationen eines Kurt Hildebrandt,260 der schon früh (»Norm und Entartung des Menschen«, 1920) für die »gewaltsame Ausmerze« von Geisteskranken und »Minderwertigen« plädierte, weil »Humanität« zwar eine große Tugend sei, aber eben »nicht die größte«, und weil »die ›Menschenrechte‹ ... nicht durch Geburt erworben« würden, »sondern durch biologische Vollwertigkeit«.261 Die Feststellung solcher Nähe ist keine Empfehlung für »Friedrich der Zweite«. Hier mag noch einmal eine Erinnerung an Gundolfs Cäsar-Buch erlaubt sein, das Friedrich II. und Cäsar in eine spezifische Konstellation bringt und dabei auch zum Thema Mittelalter, Renaissance und Moderne Position bezieht. Friedrich IL sei der erste Herrscher gewesen, der Cäsar als »ein persönliches Vorbild (erfaßte), dem er sich durch Ton, Tun und Haltung gleichstellt«. Friedrich, »der letzte Träger der vollen mittelalterlichen Cäsarenweihe«, sei auch der Erste gewesen, der dem personalen Ruhm Cäsars nacheiferte, »mit einem ganz neuen Ton persönlicher Teilnahme«. Seit Friedrich beginne deshalb »der Ruhm Cäsars ... aus dem magischen Dämmer sich zu lösen und mit Vorstellungen seines Wesens und seiner Taten, 203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
nicht nur seines Rangs und fabelhafter Einzelzüge zu füllen«. Durch Friedrich erst sei Cäsar zur »historischen Person« geworden. Ganz im Sinne der Renaissance-Auffassung Jacob Burckhardts von 1860 ist für Gundolf Friedrich II. »das einmalige Ingenium des allseitig regsamen und begabten Ich«, das »erste selbstige Staatsgenie«, die erste Ausprägung moderner Individualität. Eben dies zeige sich in seiner neuen Auffassung Cäsars. Und eben deshalb beginnt für Gundolf (wie für Burckhardt) mit Friedrich I I .die »Wende zur Renaissance«.262 Die Person des Staufers, von Gundolf 1924 als der personifizierte Aufbruch der Renaissance charakterisiert und von dem ebenfalls dem GeorgeKreis nahestehenden Wolfram von den Steinen (»Das Kaisertum Friedrichs des Zweiten«, 1922) immerhin noch als eine »einsame, unfaßliche Gestalt zwischen den Zeiten« bezeichnet,263 wird von Kantorowicz - ganz im Sinne seiner dann 1930 in Halle vorgetragenen Auffassungen - ›nationalisiert‹, zugleich im Sinne eines Inbegriffs spezifisch deutscher Werte umstilisiert und im Sinne von Ganzheit und Gemeinschaft ›mediävalisiert‹. Zwar weist Kantorowicz darauf hin, daß Friedrich »den festen Zusammenschluß der Deutschen zu einem ›deutschen Staat‹ ... endgültig verhindert« habe, - gleichwohl aber habe er »in einem höheren Sinne das deutsche Einreich vollendet und zu Ende geführt« und in »Gleichnis und Abbild der großen Idee des alle Völker und Stämme der Welt einenden Römerreiches« das »Bild des vollkommenen Deutschland« gedacht, nicht in der Unterjochung der Völker, sondern in der »Gemeinschaft aller Könige und Fürsten, Länder und Völker« - in »jenem Einen: dem weltenfassenden Deutschen«.264 Deswegen ist Friedrich Kaiser in der »Zeitenfülle«, in einer Epoche des »erwachenden jungen Deutschland«,265 einer Zeit, in der wenigstens ein Mal in der deutschen Geschichte alle Gegensätze aufgehoben waren: das Deutsche und das Antike; das Deutsche und das »Römische« als »die tiefste damals mögliche Erfüllung auch des Nationalen«;266 das Deutsche und das »Oberdeutsche«;267 die »deutschen Sonderheiten« und die »deutschen Weltkräfte«, die deutsche »Welthaltigkeit«;268 Germanisches und Mittelmeerisches; Bindung und Freiheit; »schwärmerische Hingabe und strenge Nüchternheit«.269 Eine zentrale Denkfigur ist bei alledem die von ›Nord‹ und ›Süd‹: »Deutschland selbst konnte südlich werden bis hinauf zur baltischen Küste allein durch das römische Reich und die römische Kirche. Nicht daß um ihretwillen die Germanen ihr Eigenstes hergeben oder einbüßen sollten: ihr eigenstes Bestes schlossen jene Mächte eher ein als aus, wie das dreizehnte - römischste - Jahrhundert der Deutschen für einmal bewies«. Friedrich II. habe »in jenen deutschen Jahren ganz triebhaft das (aufgegriffen), was dem Römerimperium unmittelbar frommte, was er in Deutschland an Weltweitem und Welthaltigem vorfand, alles das also, was nicht nur innerhalb der deutschen Grenzen, 204 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
sondern in der ganzen römischen Welt Gewicht und Geltung hatte. Nicht die deutschen Sonderheiten gingen Friedrich an, sondern nur die deutschen Weltkräfte .. und diese wieder dienten nicht nur dem Gesamt-Reich, sondern leiteten auch Substanzen nach dem allzu lockeren und weitmaschigen Deutschland zurück .. ja um ›dicht‹ zu werden, mußte Deutschland damals ›weit‹ sein und es mußte weit reichen, um genügend Stoff in sich autzunehmen und zu einem überdeutschen Ganzen zu ballen«.270 Und immer wieder wird sichtbar, was Kantorowicz beim Schreiben dieses Buch letzlich bewegt hat: »Zum einzigen Mal in der Geschichte« sei eben damals »für das ganze große vielspältige Deutschland die Lösung des so nie wieder gelösten deutschen Problems geglückt«.271 Dies alles wird nun in immer wieder neuen Anläufen erläutert, am Beispiel der Kunst etwa, der Plastik von Bamberg (Bamberger Reiter) oder Naumburg (Westchor), wo sich »jenes römisch-antike Deutsche« zeigte, »da sich als ein ›Fremdester‹ zum erstenmal ein echter Deutscher im Bild zeigte« und die Möglichkeit »eines zugleich weltweiten und dennoch deutschen Wesens« geoffenbart habe, »ein bei aller Gebundenheit freier und gelöster, fast mittelmeerischer Germanentyp«.272 Oder am Beispiel der Schilderung des physischen Körpers Friedrichs mit seinen »geheimnislosunheimlichen Augen«, an dem »bei aller breitnackigen Festigkeit und stählernen Härte ein Schwingendes Liedhaftes (eigenartig bleibe), das selbst die halb-römischen Augustalen noch zeigen .. ein deutsches Erbe wohl, das einem Caesar so wenig eignete wie einem Napoleon«.273 Kennzeichnend auch die Reflexionen über Ritter und Mönch.274 »Beides waren Weltformen und beides deutsche Formen, ja dieses Letzte in so gefährlicher Ausschließlichkeit, daß daneben ein anderer ebenbürtiger und eigenbürtiger Typ in Deutschland gar nicht hervorgebracht wurde, wie etwa in Frankreich der des Gelehrten und in Italien der des Kaufherrn«. Für Deutschland seien damals »die Weiten erschlossen (gewesen) vornehmlich durch Ritter und Mönch«; und eben dadurch hätten »die Deutschen wirklich etwas im besten Sinn ›Weltmännisches‹« gehabt, bevor dann »mit dem Sturze des Reiches (auch) das Rittertum, von der Welt abgeschnitten, in bürgerlicher Enge verdumpfte oder aber Deutschland verlassend in fremdem Sold kämpfte«. Das wird nun am Beispiel des Zisterzienserordens und des Deutschen Ordens dargelegt, wobei gerade der Zisterzienserorden, mit seiner »monarchischen Gliederung«, mit seiner »strengen Verfassung und seiner ungeheuren Weitläufigkeit durchaus der adlige Mönchsorden« schlechthin, von Kantorowicz seltsamerweise als ein deutsches Phänomen dargestellt wird - im Gegensatz zu den »damals gerade aufkommenden plebejischen Bettelmönchen, die sich ja nur in den Städten wohlfühlten«. Und die Ritterorden bildeten zuerst »jenes merkwürdige ritterliche männlich-strenge Staatswesen, an das in der Folgezeit wissentlich oder 205 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
unwissentlich jeder Staatsmann auf seine Weise mit Notwendigkeit anknüpfen mußte«. Aber im Gegensatz zu den französischen Templern, die umwittert waren von der »raumentrückten Ferne und Sagenluft des Orients«, umwittert von Mythen, »die geheimen Hüter des Grals« und zugleich doch »so verderbt«, sei der Deutsche Orden »durchaus national gebunden« gewesen, und deshalb habe er »eine wirkliche Geschichte (gehabt), weil Anfang und Ende kein Mythos und kein Geheimnis verschleiert und sein Kämpfen in faßbar nahen Räumen« sich abspielte. Die Abgrenzung des deutschen Wesens vom Französischen und Westlichen, das große Thema der deutschen Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit, spielt also auch hier kräftig herein. Es lohnt sich, hier einen Moment innezuhalten, und die Art dieser Begriffsbildung, die darin sich aussprechende Denkweise zu prüfen. Man kann auch hier eine Denkform feststellen, die unlängst im Blick auf die begriffliche Arbeit der Rechtswissenschaft in der Weimarer Republik als die »gegensatzaufhebende Begriffsbildung« gekennzeichnet wurde:275 solche Begriffe dienten dazu, traditionelle Gegensätze zu überwinden, heterogene und antagonistische Elemente zusammenzuführen und dadurch im Sinne von ›Ganzheit‹ »werthafte Wirklichkeiten« zu schaffen. Dabei wird vor allem im Blick auf das Nord/Süd-Thema und die Frage nach der »Deutschheit« eine besondere Inspirationsquelle von Kantorowicz' Darlegungen erkennbar: die Schriften von Ernst Bertram, insbesondere sein Nietzsche-Buch von 1918. »Wie deuten wir uns?«, so ist ein Essay überschrieben, den Bertram 1915 veröffentlichte, im Jahr des Beginns seiner Arbeit am Nietzsche-Buch.276 Es gehe um das »deutsche Wesen«, um »Deutschheit«, es gehe für die Deutschen darum, in der Krise, im Chaos »deutscher zu werden« und so endlich »zu sich selber zu gelangen«, was diesem »unselig reichen und wundervoll verworrenen Volke der tausend Seelen erschwert« sei wie sonst keinem: »Zuviel widersprechende, einander widerwärtige Elemente bekämpfen sich darin, zu vielfältig und vielspältig kommt jedes einzelne zum Ausdruck«. Vor allem sind es »drei große zeitlose Gefahren«, die »vor den allzu gastlichen Toren der deutschen Seele« lauern: der »Süden« mit Romanentum und Hellenismus, »magisch überredend zu Form und Formkultus«; sodann der »Osten«, »Asien«, das »Chaos ohne Bildnerkraft«, der »lustvoll quälende Hang zur intellektuellen Selbstzersetzung und zur Moskowiterskepsis«; und schließlich der »Westen«, der »Amerikanismus«, das »britisch-merkantilische Verhältnis zur Welt« als »Mechanismus« und als »Zivilisation« mit den »Idolen eines weltverwüstenden ›Fortschritts‹«. Der »Süden« aber sei die »älteste und edelste« Gefahr, »Symbol und Traumbild aller Form, aller klaren Helle, aller edlen Deutlichkeit« für das »nordisch umfangene« deutsche Volk. 206 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Diese Themen kehren in Bertrams Nietzsche-Buch wieder. In dem Kapitel »Das deutsche Werden« geht es wieder um die Deutschheit (»deutsch sein heißt im Werden sein«), die in der »Steigerung« ihre »Verwandlung« erfahre.277 Und gerade Nietzsche habe dies im »Südglück« und »Südweh« erlebt, auch in der »Südgefahr«, dem »Gotenschicksal«, das aber doch auf sich genommen werden müsse, um dem »Nurdeutschtum« zu entrinnen und durch das südliche »Gegendeutschtum« in einer »Selbstentdeutschung« das »Überdeutschtum« zu erreichen. Denn der ›Süden‹ ist ein »Zustand der deutschen Seele, und vielleicht ihr geheimnisvoll fruchtbarster, tragisch adligster«. »Süden« sei für Nietzsche »geradezu die Formel und das magische Schlüsselwort für alles Überdeutsche (geworden), für die Entwicklung zu höherer Wirklichkeit, für die Erfüllung auch innerster deutscher Natur«.278 Und schon Bertram erinnerte hier an Friedrich II., den er mit Nietzsches Äußerungen qualifizierte279 und dabei insbesondere auf einen Passus aus dem Nachlaß über den »geheimnisvollen Hohenstaufen« verwies, den er im Sinne der, wie er sagte, »typischen Gleichung von ›sehr deutsch‹ gleich südlich-überdeutsch« deutete.280 Eben diese Deutungsschemata vom »Deutschen« und vom »Überdeutschen«, in dem das »Deutsche« zu seiner eigentlichen Bestimmung finde, ist dann auch ein zentrales Thema Kantorowicz' in seiner Darstellung Friedrichs IL, wie wir gesehen haben. Und es ist deshalb Kantorowicz' Thema geworden, weil George nicht nur Friedrich IL als den bedeutendsten der mittelalterlichen deutschen Kaiser, sondern auch eben dies als die richtige Art der Erörterung dieser geschichtlichen Gestalt ansah: Friedrichs II. Geschichte »als Mythos vom Sehnen des ganzen Volkes nach Einung von Nord und Süd neu« zu schreiben, wie Ernst Morwitz berichtet.281 Die Berufung auf das »Überdeutsche«, die sich in »Friedrich der Zweite« geltend macht, bedeutet denn auch keineswegs (wie jüngst mehrfach behauptet wurde282), daß Kantorowicz' »Friedrich« zugleich »national und übernational« sei. Kantorowicz hat ja, wie sein Vortrag in Halle bezeugt, das »Kosmopolitische« und die Internationalität der Forschung als Ausdruck ihrer Gesinnungslosigkeit verachtet und abgelehnt. Die Rede vom »Überdeutschen« bezieht sich vielmehr, wie Bertram in seinem Nietzsche-Buch darlegte, auf Nietzsches Dictum »Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen« (»Menschliches, Allzumenschliches« II, 323): Das »Über« bedeute ein »Hinüber«, eine »Steigerung des eigenen Wesens« und so zugleich eine »Verwandlung«: »deutscher werden« sei eine »ganz nur deutsche Vervollkommnungsidee«; »außer und über sich« hinauszugehen, sei »deutsche Vorherbestimmung« und »deutsche Metaphysik«,283 und Nietzsche sei es gewesen, der »aus dem Erlebnis des deutschen Werdens den Willen zur Kritik deutscher Wirklichkeit, aber auch den Mut zur Hoffnung aufs Unwirkliche, unverwirklicht Überdeutsche gesogen« habe.284 207 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Die Nähe, ja Identität von Bertrams Nietzsche mit George285 wirft schließlich im Blick auf Kantorowicz' Friedrich eine gleichgerichtete Frage auf: was hat »George der Herrscher« (F. Wolters) mit Friedrich zu tun, der »das gottunmittelbare Davidkönigtum des Ostens« auf »germanische Lehenshoheit und römische Princepswürde getürmt« und damit »das mittelalterlich-christliche Caesarentum zu einer ganz einmaligen Steilheit emporgeführt« habe?286 Was hat Friedrich, der »Tyrann von Sizilien«, mit George dem »Diktator« zu tun, dem »Gegner des bürgerlichen Staates um einer höheren Form«, dem »Gegner ... des Massenmenschen um des vollkommen staatlichen Menschen willen«, der »seine Herrschaft tiefer, umfassender und dauernder als heute die kühnen staatlichen Spieler im Osten und Süden Europas« gegründet habe?287 Was verknüpft das »heimliche Kaisertum« Georges »unter den Deutschen«288 mit der Herrschaft des Stauferkaisers, der »lebt« und »nicht lebt«, wie Kantorowicz, den »Spruch der Sibylle« zitierend, am Ende seines Buches schreibt und diesen Spruch auf »des Kaisers Volk« umdeutet? Zieht man Wolters' George-Buch von 1930 heran, so liegt die Antwort auf der Hand: beide, George wie Friedrich II., sind Gründer eines »Staates« und eines »Volkes«. George habe, als »treuester Bewahrer und kühnster Neuerer zugleich den neuen Anfang menschlicher Gesittung und menschlicher Gemeinschaft - die Keime seines Volkes und seines Staates« gesetzt (Wolters),284 und auch für Friedrich sei »Volk und Staat insbesondere ein Fordernis« gewesen: er sei der »Begründer eines eigenen Staates«, eines »solch selbstgeschaffenen Körpers«, weil er »zum Schaffen und Wirken ... der denkbar festesten und straffesten Bindung in Form des selbstgeschaffenen staatlichen Fuges« bedurft habe (Kantorowicz).290 Nach denselben Deutungsschemata hat Kurt Hildebrandt sein im Oktober 1932 abgeschlossenes Buch über Plato als »Staatsgründer« und »Bildner eines Neuen Adels« ausgerichtet (»Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht«).291 Und auch Friedrich war (nach Kantorowicz) »die wunderbarste Aufgabe« gestellt, »die einem Schöpfer überhaupt gegeben sein« konnte: »Erschaffung des Volks, das heißt: Erschaffung des Menschen«; mit dem »Volk« Friedrichs sind die »Sizilier« gemeint, mit denen sich Friedrich »ganz und gar eines« gefühlt habe.292 »Solchen Grund« aber brauche »jeder Herrscher«, in dem er »wurzelt« und der auch die Männer hervorbringt, »die er sich angleichen und zu Herren der Welt machen kann« (was wiederum an Georges »Bund« und an sein »Kür ich meine herrn der weit« erinnert).293 Friedrich benötigte »unbedingte und willige Hingabe, Gehorsam und versammelte Kraft eines Volks ..., um das Reich mit neuem Blut zu durchsetzen«.294 Und so auch George in der Interpretation von Wolters, die, wie wir bereits wissen,295 eine Selbststilisierung aus Georges eigener Feder darstellt: George habe die »Macht erhalten, die durch sein Werk 208 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
gebildeten Menschen zu Trägern seines Reiches zu machen: ... er lehrte sie führen und dienen zugleich«,296 er habe den »festeren Kreis von Freunden und Folgern« geschaffen, die »dichte Gemeinschaft der durch ihn verwandelten Menschen seiner Art«, die »begeisterte Gefolgschaft der Gefährten und Jünger«.297 Entscheidend ist dann freilich, ob auch das »Volk« die Sendung des Herrschers begreift: es »kennzeichnet (so Wolters) ein Volk, wie weit es diese Würde begreift und dem göttlichen Führer folgt«.298 Friedrichs »Sizilier« waren hierin vorbildlich: nur hier (so Kantorowicz) war die »Einheit des Volkes« als »Einheit von Sprache und Blut, Glauben und Fest, Geschichte und Recht« möglich, weil sie dem »Tyrannen« »glaubten«,299 So auch, wiederum nach Wolters' Buch, Georges »herrscherliche Sendung unter den Deutschen«, die erfüllte, was schon immer das »Sehnen« der Deutschen war: »Die Deutschen waren nach den Römern die Träger der staatlichen Ökumene gewesen, des heiligen Reiches«, doch blieb ihre Sehnsucht nach »einem Menschtum, das beide Gewalten umfaßte«, unerfüllt, da die Kaiser sich an »solcher Einheit, die im christlichen Weltkörper unmöglich war, schon müde gerungen hatten«, der Traum eines »harmonisch geschlossenen Menschtums im freien Besitz aller staatlichgeistigen, leiblich-göttlichen Kräfte«, die Verbindung von »Geist und Tat« an ihrem »Widerstreit« scheiterte.300 Aber gerade das ist die exemplarische Tat Friedrichs, des »End- und Erfüllungskaisers der deutschen Träume«. Er verband für ein einziges Mal in der deutschen Geschichte Geist und Tat. Denn nur er verstand es, »zu den natürlichen Kräften der Erde immer wieder und immer tiefer hinabzustoßen, seinen Flug auf ein Volk hinabzusenken, um durch dieses gesichert desto höher zu steigen und wiederum aus den Äthern des Alls vom ewigen Feuer zu holen«,301 auch wenn »der Deutschen Einheit als Volk ... stets nur ein Leuchten weniger Stunden« war.302 George als neuer und wahrer Friedrich, Friedrich II. als ein Vorläufer Georges? Wir wissen bereits, daß George das 1924 begonnene Friedrich-Buch unmittelbar angeregt hat,303 wir wissen auch, daß er - wie im Fall der Bücher von Bertram und von Wolters - die ihm von Kantorowicz fortlaufend vorgelegten Kapitel kontrollierte und redigierte.304 Die Identifikation von George und Friedrich IL scheint manchen im Kreis damals sehr nahegelegen zu haben. Claus von Stauffenberg hat die Trennung Max Kommerells von George 1929 mit dem Verrat des Petrus de Vinea an Friedrich II. verglichen, dem »Judasverrat« des »vertrautesten Freundes« (Kantorowicz).305 Als Erika Wolters, die Frau von Friedrich Wolters, die zu den Palermo-Pilgern des Mai 1924 gehörte, am Sarkophag Friedrichs geweilt hatte, schrieb sie an George, man habe zwar in Deutschland alles in den Gedichten des Meisters, doch habe sie erst Sizilien sehen müssen, um ganz verstehen zu können, »daß dieser Zauber wieder gebannt« sei - im 209 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
»Wort« Georges nämlich. Und: »Ich suchte Friedrich II. und fand den Meister«.306 Schon 1929 wurde - durchaus mit Zustimmung - festgestellt, dais in den Plato gewidmeten Werken aus dem Georgekreis sich zweierlei abzeichne: die »Georgisierung Piatons« und die »Platonisierung Georges«.307 Bertrams Nietzsche und Gundolfs Cäsar tragen die Züge Georges. Dies gilt auch für Friedrich II. Nietzsche ist der »Lebendig-Ewige« (F. Wolters).308 Plato ist der »Lebendig-Ewige«309 und Friedrich II. ist, so Kantorowiez in den letzten Sätzen seines Buches, der »Ewig-junge«.310 Alle sind sie aber nur Vorläufer des ›Einzigen‹, der als »heimlicher Kaiser« und »Herrscher« der Deutschen nicht nur den Kampf von »Kunst« und »Wissenschaft« über die »Herrschaft im deutschen Geistesleben« (J. Langbehn)311 entscheiden wollte, sondern der als »Herrscher« seines »Reiches« die letzte erstrebte und auch von seinen Jüngern, von seinem »Volk«, zugewiesene Gestalt erreicht und angenommen hat.
VI. Was bleibt? Man wird abschließend die Frage stellen müssen, was und wem diese Historie heute nütze, die zwar durchaus auf Forschung gegründet ist, die aber nicht Wissenschaft sein will. Unlängst ist im Blick auf Friedrich Gundolf gesagt worden, es sei nunmehr »vielleicht« die »Zeit reif für einen neuen Versuch mit diesem wunderlichen Historiker und gedankenreichen Mann«. Denn wie wenige andere habe Gundolf »ein Gespür für die ›Realitäten‹ entwickelt, welche zwischen den Subjekten und Objekten der historischen Erkenntnis, zwischen den Forschern der Gegenwart und den Menschen und Dingen der Vergangenheit stehen, sprachliche und ikonische Prägungen, Gedächtnis und Überlieferung«. Nicht ein Feind der Historie spreche aus seinen Texten, »sondern ein Feind jenes Positivismus der Historiker, der nicht sehen wollte, daß die ›Fakten‹ nicht diesseits der Überlieferung zu haben waren und die Historiographie nicht das Ganze des in den Sprachen lebendigen Gedächtnisses der Völker« repräsentiere, »sondern nur einen Teil davon«.312 Auch für Kantorowiez ist jüngst gesagt worden, wir müßten uns seiner »stärker annehmen«.313 Dem kann man zustimmen. Allerdings ist es wichtig, zuvor zu klären, welcher Kantorowiez es denn nun ist, dessen wir uns »annehmen« sollen. Gewiß ist es absurd, Kantorowiez als »the ideal Nazi scholar and intellectual« und sein Buch von 1927 als »the most brilliant and fortunate piece of propaganda that Hitler's cloddish and violent followers could imagine« zu bezeichnen, wie es unlängst der amerikanische Mittelalterhistoriker Nor210 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
man F. Cantor getan hat.314 Aber ebenso fragwürdig und zudem ganz unhistorisch erscheint es, das Friedrich-Buch von 1927 gewissermaßen im Licht von Kantorowicz' Frankfurter Vorlesung vom November 1933 über das ›Geheime Deutschland‹ zu lesen. Ohne Zweifel war diese Vorlesung »ein ergreifendes Bekenntnis zu der Georgeschen Vision eines ... ›Neuen Reiches‹, das keineswegs mit dem neuesten ›Dritten Reich‹ zu verwechseln sei«, und sie war gewiß auch ein Versuch, »durch die Gewalt der Rede und die Macht der beschworenen Bilder Studenten gegen die Verführungen nationalistischer und völkisch-rassistischer Wahnvorstellungen zu immunisieren« - eine damals in Deutschland sicherlich »einzigartige« und mutige Tat.315 Aber eliminiert dies das Problem, das in den politischen Zielen Georges und der Georgeaner vor 1933 impliziert ist und das auch in den Stellungnahmen Kantorowicz' von 1927 und 1930 erscheint? Man muß sich darüber im klaren sein, daß die ›gegenwärtige Zukunft‹ der Jahre 1927 und 1930 nicht identisch ist mit jener ›zukünftigen Gegenwart‹, die dann 1933 eintrat; man wird sich also darüber Rechenschaft zu geben haben, daß der offene Zeit-Horizont der ausgehenden zwanziger Jahre jenes Wissen gerade nicht enthielt, das dann bereits im Herbst des Jahres 1933 zur Verfügung stand: jetzt erst war unterscheidbar, was zuvor ungeschieden war und noch offen stand. Die Äußerungen Kantorowicz' vom Herbst 1933 können demnach die von 1927 und 1930 nicht rechtfertigen. Gerade im Blick auf Ernst Kantorowicz ist es deshalb aufschlußreich, an Person und Werk des um sechs Jahre jüngeren Paul Ludwig Landsberg zu erinnern, des Propagators der ›Konservativen Revolution‹ und eines ›NeuenMittelalters‹- gerade auch deshalb, weil Landsberg, der sich 1928 in Bonn für Philosophie habilitiert hatte, 1933 als Jude und entschiedener Gegner des Nationalsozialismus Deutschland verlassen mußte. Er lebte und lehrte zuerst in Paris, dann in Barcelona, bis er 1937 durch den spanischen Bürgerkrieg erneut vertrieben wurde. In Südfrankreich konnte er unter einem Pseudonym die deutsche Okkupation überleben, wurde aber 1943 von der Gestapo verhaftet und starb am 2. April 1944 im Konzentrationslager Sachsenhausen (Oranienburg).316 Man wird Paul Ludwig Landsberg gewiß nicht in die Nähe derer rücken, die ihn aus Deutschland vertrieben und schließlich getötet haben. Aber es ist auch von der Tragik zu sprechen, die darin liegt, daß er in der Zeit der Weimarer Republik Positionen vertreten hat, die der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht nur nicht entgegenwirken konnten, sondern diese schließlich sogar befördert haben.317 Ähnliches gilt für Kantorowicz: er hat sich 1933 dem Nationalsozialismus eindeutig und mutig verweigert, aber der von ihm vertretene »Heroismus und Messianismus sind in den ideologischen Synkretismus des Nationalsozialismus eingeflossen«.318 Oder wie Karl Löwith in seinem bereits im Exil, 1940, geschriebenen Rückblick »Mein Leben in Deutsch211 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
land vor und nach 1933« von den Georgeanern treffend bemerkte: »Sie haben dem Nationalsozialismus Wege bereitet, die sie dann selber nicht gingen«.319 Einige freilich gab es schon, die, wie wir gesehen haben, Georges ›Neues Reich‹ mit dem ›Dritten Reich‹ verwechselten.320 Gewiß kann über die These von den Georgeanern als »Vorläufern« des Nationalsozialismus oder gar als »Proto-Nazis«321 nicht sinnvoll diskutiert werden. Unbestreitbar ist aber die Tatsache, daß auch von den Georgeanern politisch-historische Deutungen entwickelt und gehegt worden waren, die zwar nicht zwangsläufig zum Nationalsozialismus führten, wohl aber in ihn einmünden konnten, nachdem die Nationalsozialisten die Macht ergriffen hatten.322 Es ist deshalb kein Zufall, daß Göring und Himmler »Friedrich den Zweiten« schätzten, daß Hitler dieses Buch zwei Mal gelesen hat,323 in dem er ein frühes Vorbild für den ›totalen‹ Staat erkennen konnte - ist doch Friedrichs II. »Staat« in der Darstellung von Kantorowicz »auch ein Bild für die Gewaltsamkeit politischer und ästhetischer Utopien in der Moderne«.324 Wilhelm Canaris, eine der herausragenden, freilich zutiefst zwiespältigen Persönlichkeiten des Widerstands gegen Hitler, hatte sich Kantorowicz' Friedrich-Buch als seine letzte Lektüre gewählt, noch im Konzentrationslager Flossenbürg, wo er im April 1945 von der SS ermordet wurde. Man kann diese Wahl in der Tat als eine »bittere Selbstvergewisserung« deuten (G. Seibt), die ebenso gescheitert war wie das heroische Selbstopfer eines Claus von Stauffenberg: »Das geheime Deutschland der Verschwörer hatte das öffentliche Deutschland Hitlers ... nicht aus den Angeln heben können«. Deshalb endet mit dem Tod von Canaris auch »die zweideutige Karriere« des Friedrich-Buches von Kantorowicz in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, wie Gustav Seibt treffend festgestellt hat.325 Darüber war sich offenbar auch Kantorowicz selbst im Klaren, der sich 1957 in den ersten Sätzen von »The King's Two Bodies« von »politischer Mystik« verabschiedete und konstatierte, daß von ihr nicht viel übrigbleibe, »wenn sie aus dem warmen Dämmerlicht des Mythos und der Fiktionen hervorgeholt und das kühle Scheinwerferlicht der Tatsachen und der Vernunft auf sie gerichtet wird«,326 wie denn überhaupt »The King's Two Bodies« Herrscher-Mythen historisiert und als »Fiktionen« darstellt. Man kann demzufolge »The King's Two Bodies« als »Replik, Kritik und Widerruf« von »Kaiser Friedrich der Zweite« verstehen.327 Denn Kantorowicz hat aus den Erfahrungen des Exils und der neuen Welt der Vereinigten Staaten gelernt.328 Im Gegensatz zu einem Erich von Kahler, der noch im amerikanischen Exil und bis zu seinem Tode nach historischen Begründungen der ›Deutschheit‹ suchte,324 hat sich Kantorowicz von alledem definitiv verabschiedet. Er hat sich deshalb nach 1945 zwar nicht von George, wohl aber 212 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
- wie er selbst sagte - von »bestimmten Versteinerungen«, von der »verklungenen Orthodoxie« des George-Kreises - insbesondere von der »Wolters'schen Pfafferei« - distanziert330 und sich den Bitten und Angeboten mehrerer deutscher Verleger (u.a. mit der Begründung, »Friedrich« »würde insonderheit dem Wunsche einer durch schwere Schicksale innerlich geläuterten deutschen Jugend entgegenkommen«331) lange aufs Entschiedenste verweigert. Durch die Resonanz, die der 1963 schließlich doch erschienene Nachdruck auslöste, sah Kantorowicz sich in seinen Befürchtungen bestätigt und bereute es, daß er sich die Zustimmung hatte abgewinnen lassen: »Man sollte halt ein Buch, das bei Himmler auf dem Nachttisch lag und das Göring an Mussolini mit Widmung verschenkte, in völlige Vergessenheit geraten lassen. ... Wahrscheinlich hätte sich der mittlerweile zum Glück gehängte Herr Eichmann genauso gefreut«,332 so äußerte er sich über die »Freude und Beruhigung«, die ihm der General Hans Speidel, seinerseits ebenfalls dem militärischen Widerstand gegen Hitler zugehörend (was Kantorowicz aber offenbar nicht wußte), anläßlich des Neuerscheinens des Buches zum Ausdruck brachte. Historiker unserer Tage nehmen diese Äußerungen Kantorowicz' nicht ernst. Inzwischen, seit den 1980er Jahren, gibt es nämlich - vor allem in Frankreich, aber auch in Italien, in den USA und in Deutschland - eine förmliche Kantorowicz-Renaissance,333 die auch das Friedrich-Buch nicht ausnimmt, ja sogar Kantorowicz selbst mit diesem Buch zum Gegenstand einer ›mythisierenden‹ Betrachtung macht.334 Offensichtlich hat diese Kantorowicz-Renaissance auch etwas damit zu tun, daß Michel Foucault in »Surveiller et punir« (1975) auf sein Oeuvre hingewiesen hat.335 Trifft es aber denn wirklich zu, daß »Stefan George eine der faszinierenden charismatischen Gestalten der deutschen Geistesgeschichte« war, »deren historischer und kulturpolitischer Bedeutung noch keine angemessen inspirierte und zugleich kritische Würdigung zuteil geworden ist«, wie unlängst behauptet wurde?336 Und genügt es, die Prägungen des FriedrichBuches durch den George-Kreis auf gewisse elitäre Gesinnungen zu reduzieren, auf »leidenschaftlichen Nationalismus und selbstgefälligen Ästhetizismus«?337 Sind diese Prägungen nur erlittener ›Zeitgeist‹, dem eben alles historische Arbeiten ausgesetzt ist?338 Ist »Kaiser Friedrich der Zweite« wirklich bloß ein »nationales« Buch, das aber doch zugleich »übernational«, ja geradezu »antinationalistisch« sei?339 Ein solches Urteil läßt die scharfen Polemiken Kantorowicz' gegen Internationalität und »Kosmopolitentum« ebenso außer Acht wie den Sachverhalt, daß der von Kantorowicz verwendete Begriff des »Überdeutschen« sich, wie oben bereits gezeigt, nicht auf Internationalität, sondern - im genauen Gegenteil - auf das ›Deutscherwerden‹ bezieht.340 Ist also dieses Buch wirklich ein epochales Dokument, in dem ein ›Historikerstreit‹ aufbrach, ein Kampf um die 213 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Erneuerung der ›Zunft‹ autgenommen341 und dem gedankenarmen historischen Positivismus eine Absage erteilt wurde,342 in dem ein Vorkämpfer für Neues sich gegen die »geistige Erstarrung«, in der er sich die damalige deutsche Geschichtswissenschaft befand,343 zu Wort meldete? Und steht »Friedrich der Zweite« wirklich in jener »komplexen geistigen Tradition«, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus »auf unselige Weise geschwächt und zum Teil zerstört wurde«, einer Tradition, die von Namen wie Jacob Burckhardt, Wilhelm Dilthey und Max Weber repräsentiert wird?344 Handelt es sich bei »Friedrich der Zweite« wirklich um eine Untersuchung über »charismatische Herrschaft« im Sinne Max Webers, und ist dies gar der »beherrschende Zug« dieses Buches, hat Kantorowicz am Ende »von Weber gelernt«?345 Eine solche These hat freilich die völlige Ausblendung des von den Georgeanern so tief empfundenen Gegensatzes zu Weber und seiner Wissenschaft zur Voraussetzung: war doch Weber für sie - wie wir gesehen haben - der Inbegriff der »alten«, überholten, positivistischen Wissenschaft, gegen die sie ihren Kampf führten; und so enthält auch Kantorowicz' Vortrag in Halle eine Attacke gegen Max Weber, im Sinne der Interpretation, die die Georgeaner seiner Wissenschaftsauffassung zukommen ließen.346 Es erscheint wenig sinnvoll, künstliche Verknüpfungen dieser Art zu postulieren und dabei die wirklichen Kontexte zu ignorieren und jene Bücher, die sie repräsentieren - Bertrams »Nietzsche« (1918), Wolters' Darstellung Georges und des Kreises (1930), oder auch Hildebrandts »Platon« (1933) - und in denen jene historischen und gegenwartsbezogenen Deutungen begegnen, die auch Kantorowicz' »Friedrich« zutiefst geprägt haben. Und weiter: Ist das Friedrich-Buch wirklich - wie jüngst gesagt wurde - ein Musterbeispiel für historisches Erzählen, ein »Glanzstück« moderner Historiographie und »narrative history«?347 Ist Kantorowicz mit diesem Buch gar als der deutsche Marc Bloch anzusehen,348 der hier eine Art Mentalitäten-Geschichte geschrieben hat,349 ja, geradezu zum Begründer der Mentalitäten-Geschichte wurde, von dem dann die Erfinder der französischen Histoire Nouvelle zu lernen hatten?350 Alle diese Fragen sind zu verneinen, jedenfalls dann, wenn man »Kaiser Friedrich den Zweiten« in jenem intellektuellen und politisch-sozialen historischen Kontext wahrnimmt, in dem dieses Buch entstanden ist. Gewiß: das Problem von Wissenschaft und ›Leben‹ bleibt. Es ist eine Grundfrage der modernen Welt, weshalb sich das Problem des Historismus und seiner Folgelasten, Positivismus, Objektivismus, Relativismus, nach wie vor und gerade in Deutschland stellt. Deshalb lohnt es sich, die von diesem Problem erzeugte Problem-Geschichte, über die auch hier zu sprechen war, zu vergegenwärtigen. Die Lösungen, die Kantorowicz auf der Grundlage der Kritik Nietzsches an der Moderne und an der modernen Wissenschaft sich damals zu eigen machte und vertrat, können heute nicht mehr als 214 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
plausibel gelten. Diese Feststellung trifft auch auf das Friedrich-Buch von 1927 zu, das von diesen Orientierungen nicht nur äußerlich benetzt ist, sondern das durch sie in seinem Kern konstituiert wird. Auch dieses Buch ist ein Versuch, eine »Neue Mythologie« zu gründen, wie sie seit dem Beginn der Moderne, um 1800, in Deutschland gefordert wurde.351 Man könnte es auch als Versuch bezeichnen, eine »profane Religion« zu stiften, wie ihn George und die Georgeaner immer wieder unternahmen und wie er am Ende der Weimarer Republik auch in anderen Wissenschaften unternommen wurde.352 Ernst Kantorowicz' »Friedrich der Zweite« und das darin propagierte Mittelalter war eine Waffe im politischen Kampf gegen die Weimarer Republik. Natürlich ist es noch immer möglich, den Absichten des Autors folgend, die ästhetisch-literarische Formung des Buches zu bewundern, oder aber es - dann freilich schon gegen die erklärten Absichten des Autors - als Fachbuch zur Geschichte des 13. Jahrhunderts zu rühmen. Nimmt man freilich die Intentionen des Autors ernst, so wird man sagen müssen, daß dieses Buch von Kantorowicz uns - so denke ich - nichts mehr zu sagen hat. Und ich füge den Wunsch hinzu: daß in Deutschland auch keine politisch-soziale Gegenwart mehr denkbar sein oder gar wirklich werden möge, der ein Buch dieser Art etwas zu sagen hätte.
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7. ›Der Teil und das Ganze‹ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis Ein historisch-typologischer Versuch
Ist diese Welt in ihrer zeitlichen Dimension, ist die »Reihe aller vergangenen Weltzustände«1 als ein Ganzes und sind die einzelnen Teile dieses Ganzen erkennbar? Diese Frage steht - in historischer und zugleich in typologischer Absicht - im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Es geht um die Feststellung von Typen der Erörterung dieses Problems historischer Erkenntnis, und diese Typologie soll eine historische sein: es wird nach den historischen Orten, nach dem Auftreten und der Realisierung dieser Typen gefragt. Um die im folgenden erörterten Typen der Reflexion über das Ganze und seine Teile überhaupt erst einmal zu ermitteln, sei ein Verfahren vorgeschlagen, das nicht nur Umwege erspart, sondern zugleich von der Sache her naheliegt. Es soll die Typologie eines anderen, aber durchaus gleichartigen Problems und damit eines anderen Faches übernommen werden, nämlich die der Physik. Darum geht es im ersten Abschnitt dieser Überlegungen. Bedarf es dafür einer zusätzlichen Begründung, so wäre darauf hinzuweisen, daß die Formulierung ›Der Teil und das Ganze‹ nicht ohne Grund der Titel eines vielgelesenen Buches eines bekannten Physikers ist.2
I Unter der Überschrift »Neuere Entwicklungen in der Hochenergiephysik das Ende des Reduktionismus?« veröffentlichte der Physiker Hans-Peter Dürr 1986 einen Beitrag,3 in dem er zwei grundsätzliche Vorgehensweisen und zugleich zwei verschiedene Weltauffassungen der neuzeitlichen Physik einander gegenüberstellte: nämlich (1) die klassische Physik der frühen Neuzeit mit ihrem »mechanistischen Weltbild«4 und (2) die Entwicklung der Mikrophysik seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, die jenes Weltbild der klassischen frühneuzeitlichen Physik tiefgehend verändert und eigentlich vollkommen umgestaltet hat.
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Dem Weltbild der klassischen Physik liege die »Vorstellung von der Welt als einem grandiosen Uhrwerk« zugrunde. Etwas verstehen zu wollen sei demnach gleichbedeutend damit, »es in seine Teile zerlegen ... zu wollen«. Kenntnis der Teile galt also demnach als die Voraussetzung für die Erkenntnis des Ganzen, die angestrebt wird. Das Ganze sollte aus seinen Teilen erkannt werden. Nach dieser Vorstellung hatte die Materie »die Eigenschaft, daß sie sich ... vernünftig in Teile zerlegen läßt«. Daran habe sich die »Vorstellung des aus kleineren Einheiten zusammengesetzten Gesamtsystems entwickelt«, die Vorstellung vom Autbau des Ganzen aus seinen Teilen, das »Bausteindenken«.5 Im Gegensatz dazu habe die in der Entwicklung der Quantentheorie vollzogene Revolution der wissenschaftlichen Denkart deutlich gemacht, »daß beim Hinabsteigen zu immer kleineren Dimensionen die Objekte nicht nur immer weiter in ihren Eigenschaften verarmen, sondern schließlich grundlegend auch ihren Charakter verändern«. Die makroskopische Alltagserfahrung erweise sich hier als unzulänglich, genauso wie die an der Alltagserrahrung entwickelte Wissenschaftssprache: »Der Begriff eines ›Teils‹ verliert, bezogen auf ein größeres Ganzes, zunächst seine ursprüngliche Bedeutung und schließlich sogar jeglichen Sinn«.6 Die Vorstellung, ein Ganzes als Summe von Teilen zu betrachten, eine Vorstellung, die »überhaupt zum Begriff eines Teilchens geführt hat«, müsse also »bei kleinsten Abständen prinzipiell versagen«. Die »Reduktion eines Systems auf Elementarteilchen-Konfigurationen« sei somit gescheitert. Das sei darin begründet, daß die bei Beobachtungen im Mikrobereich beobachtbaren Bruchstücke von Elementarteilchen »selbst wieder Elementarteilchen der gleichen und anderen Art sind«. Denn sie werden durch den Akt der Beobachtung selbst, aus der Bewegungsenergie des hochenergetischen Strahls, mit dessen Hilfe sie beobachtet werden, zuallererst hervorgebracht. Im unendlich Kleinen zeige die Welt also keine distinkten Einheiten mehr. Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich, daß in der quantentheoretischen Revolution der Denkart sich auch eine erkenntnistheoretische Revolution der Denkart vollzogen hat. Im Mikrobereich können Systeme nicht mehr als aus einfacheren Teilen zusammengesetzte Systeme aufgefaßt werden, weil der Akt der Beobachtung das Beobachtete verändert oder besser: erst hervorbringt. Mit den berühmten Worten von Werner Heisenberg: »Die ›Bahn‹ [sc. eines Teilchens] entsteht erst dadurch, daß wir sie beobachten«.7 Genereller ausgedrückt: »Die Natur entzieht sich ... der genauen Festlegung in unseren anschaulichen Begriffen durch die unvermeidliche Störung, die mit jeder Beobachtung verbunden ist ... Durch die Art der Beobachtung erst wird entschieden, welche Züge der Natur bestimmt werden und welche wir durch unsere Beobachtung verwischen«,8 Denselben Vorgang tiefgreifender Veränderungen von der klassischen 217 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Physik zur Quantentheorie hat Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Buch »Aufbau der Physik« (1985) beschrieben und dabei zugleich noch einen dritten Typus der Reflexionen über den Teil und das Ganze hinzugestellt, welcher von allen dreien der älteste ist. Er taucht nämlich schon in der Wissenschaft und Philosophie der Griechen auf, die davon ausgeht, »nicht bloß Teile der Wirklichkeit, sondern das Ganze denken zu wollen«. Deshalb verband sich hier, wie Weizsäcker sagt, der »Begriff des Seins mit dem religiösen Blick aufs Ganze«,9 wobei das Ganze, der Hintergrund des religiös erfaßten Ganzen es erlaubt, das Einzelne zu erfassen. In seiner »Psychologie der Weltanschauungen« (1919) hat Karl Jaspers dieses, wie er sagt, »metaphysische Weltbild« in derselben Weise gekennzeichnet. Es ist bestimmt von der Erfahrung des Ganzen, die dem Einzelnen seine Bedeutung anweist: »Weil alles Teil im Ganzen ist, hat alles eine Bedeutung«.10 Anhand der Physik und ihrer Geschichte haben wir für unsere Typologie somit drei Typen ermittelt, nämlich, in der historischen Reihenfolge ihres Auftretens: (1) Das Ganze ist Ausgangspunkt. Vom Ganzen her ist der Teil erkennbar, kann dem Teil sein Platz zugewiesen werden. Vom Einen und Ganzen her bestimmt sich der Ort und der Rang der Teile in ihrer Vielheit und jedes einzelnen Teils für sich. (2) Ausgangspunkt ist der Teil. Von der Erkenntnis der Teile her soll und kann, aufbauend, das Ganze schließlich einmal als das Ganze bestimmt werden. (3) Weder Ganzes noch Teile können wirklich bestimmt werden. Es gibt kein erkennbares Ganzes, von dem her den Teilen ihr Platz zugewiesen werden kann. Es gibt auch keine erkennbaren Teile, aus denen, als den Bausteinen, ein Ganzes erkannt werden könnte. Es gibt gewissermaßen immer nur eine Mitte, von der die Erkenntnis nach allen Seiten auszugreifen versucht. Es gibt nur ein Feld, in dem sich die Erkenntnis nach allen Seiten vorantastet. Mit den Worten Werner Heisenbergs: wir müssen »stets irgendwo in der Mitte anfangen ..., über die Wirklichkeit zu sprechen«, in »tastenden Versuchen«, um sich in »begrenzten Bereichen der Wirklichkeit zurechtzufinden«.11 Lassen sich diese drei Typen der Reflexion über den Teil und das Ganze auch im Bereich historischer Erkenntnis feststellen? Und in welchen Zusammenhängen treten sie hier auf} Das sind die Fragen, die in den nächsten drei Schritten dieses Gedankengangs (Abschnitt II bis IV) beantwortet werden sollen.
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II Im zweiten Abschnitt geht es somit um den ersten Typus, um jenes Denken also, das davon ausgeht, die Erkenntnis des Ganzen der Geschichte sei möglich und führe zu einer wahren Erkenntnis der Teile. Als Inbegriff dieses Denkens im Bereich der Erkenntnis der Geschichte mag auch hier das mittelalterliche Geschichtsdenken gelten.12 Und als ein herausragender Zeuge dieser Denkform kann auch hier der vielzitierte Otto von Freising mit seiner Chronik (erste Fassung von 1143 bis 1146) herangezogen werden.13 Otto von Freising ist es denn auch, der das erwünschte Stichwort liefert, das Stichwort nämlich von der lex totius, vom »Gesetz des Ganzen«, Otto erläutert es 1157 in seinem Begleitbrief an Rainald von Dassel, in dem er den ordo seiner historia darlegt; es ist die seit den Kirchenvätern in der Auslegung der Vision Daniels (von dem vierteiligen Standbild, Dan. 2,29 ff.) erstellte Abfolge der vier Weltreiche, die einander »nach dem Gesetz des Ganzen« (secundum legem totius) ablösen,14 und deren letztes, das Römische Reich, nach der Auffassung des 12. Jahrhunderts noch immer besteht und bis zum Ende der Zeit bestehen wird. Die Lehre von den vier Weltreichen wird von Otto weiter expliziert durch die Lehre von der translatio imperii im Blick auf jenes vierte, das Römische Reich nämlich, das von den Römern auf Byzanz, von Byzanz auf die Franken usw. übertragen wurde.15 Otto von Freising hat übrigens als erster die Lehre von den vier Weltreichen in dieser Weise mit dem Translationsgedanken verbunden.16 Parallel dazu erläutert Otto die translatio scientiae oder sapientiae, die Übertragung der Wissenschaft von Babylon nach Ägypten, von dort auf die Griechen, von diesen auf die Römer und weiter auf die Gallier und Spanier, dergestalt, daß omnis humana potentia seu scientia ab Oriente cepit et in oeeidente terminaturr.17 Dies ist gewissermaßen eine weitere, eine explizitere Formulierung der lex totius, die Otto schließlich an der Geschichte der religiösen Bewegungen und des Mönchtums, an der translatio religionis nämlich, ein drittes Mal ablesen kann.18 Man sieht hier, was es heißt, vom Wissen des Ganzen her die Bedeutung der Teile zu bestimmen. Die Dreiheit von potentia, sapientia und religio bei Otto von Freising präfiguriert übrigens nicht nur die Dreiheit von Imperium, Studium und sacerdotium bei Alexander von Roes (13. Jahrhundert), sondern tritt noch bei Jacob Burckhardt in seiner Lehre von den drei Potenzen von Staat, Religion und Kultur19 auf, ebenso wie Ottos Satz vom Aufbruch der pofentia, scientia und religio im Osten mit ihrem Ende im Westen in Hegels These wieder anklingt, daß »die Weltgeschichte ... von Osten nach Westen [geht], denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang«.20 219 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Es finden sich bei Otto von Freising noch andere Momente, in denen gewissermaßen jene lex totius im Verlauf der Geschichte sichtbar wird: so die sechs Weltalter (aetates) und die drei Zeiten (status, tempora) der civitas Dei bzw. die drei Epochen ante gratia, sub gratia und post presentem vitam als Entwicklungsphasen der Gottesstadt und Niedergangsphasen der civitas mundi.21 Eine bedeutsame Form der Erkenntnis des Ganzen der Geschichte bei Otto von Freising ist ferner das »typologische« oder »figurale« Denken;22 damit wird ein historisches Ereignis als Figur oder Präfiguration oder Typus eines anderen Ereignisses (Antitypus) erkannt und damit gedeutet,23 eine geschichtliche Denkform, die auf »produktiver Einbildungskraft« beruht.24 Sie war übrigens von der Patristik bis weit in die Neuzeit hinein wirksam, und erst das Aufkommen des modernen Historismus hat ihr den Boden entzogen.25 So lassen sich die mit dem Gedanken einer lex totius aller Geschichte verbundenen und ihn tragenden Denkformen weit über das Mittelalter hinaus weiterverfolgen. Sie sind charakteristisch für jede auf ein Wissen vom Ganzen zielende und davon ausgehende Geschichtserkenntnis. Noch Bossuet hat 1681 in seinem »Discours sur l'histoire universelle« dargelegt, wie das Universum von Gott so geordnet wurde, daß auch »die Teile eines so großen Ganzen« (»les parties d'un si grand tout«) voneinander abhängen, dergestalt, daß der »Verlauf der menschlichen Dinge« (also die »Teile«) dadurch seinen Fortgang und seine Verhältnisse hat.26 Ausdrücklich erklärt Bossuet, daß der Blick aufs Ganze über Sinn und Gestalt der Teile belehrt; wenn man das Ganze betrachtet, sieht man die Angemessenheit der Teile (»à regarder le total, rien n'est plus grand ni plus petit qu'il ne faut« usw.).27 Aber diese Art der Geschichtsbetrachtung ist durchaus nicht auf die Epoche der Vormoderne beschränkt. Sie begegnet uns auch bei Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift »Über die Aufgabe des Geschichtschreibers« aus dem Jahr 1821. 28 Humboldt zeigt hier, daß der Historiker zur Lösung seiner Aufgabe »zwei Wege« gleichzeitig beschreiten müsse. Der eine Weg ist die Arbeit an den Quellen. Sie führt dazu, den »Stoff« der Geschichte zu gewinnen, der aber »nicht die Geschichte selbst« ist. Wichtiger ist deshalb der zweite Weg, »das Verbinden des Erforschten« nämlich und »das Ahnden des durch jene Mittel nicht Erreichbaren« mit »Ahndungsvermögen und Verknüpfungsgabe«. Diese richten sich auf die Ideen. Denn die Ideen sind es, »die, ihrer Natur nach, außer dem Kreise der Endlichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in allen ihren Teilen durchwalten und beherrschen«. »Alle Geschichte« ist für Humboldt deshalb »nur Verwirklichung einer Idee«. Die Aufgabe des Geschichtsschreibers in ihrer »letzten, aber einfachsten Auflösung« ist deshalb die »Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen«. Dabei dürfen die Ideen freilich »nur an den Begebenheiten selbst erkannt werden«. An 220 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
den aus den geschichtlichen Ereignissen erkannten Ideen aber kann der Historiker »die Plane der Weltregierung ... erahnden«, also den »Zusammenhang des Ganzen« fassen, ohne etwas »von dem lebendigen Reichtum des Einzelnen aufzuopfern«, er kann also »das zerstreut Gesammelte in sich zu einem Ganzen verarbeiten« und »jede Begebenheit als Teil eines Ganzen« erkennen. Die Ahndung der Ideen also stellt »das Einzelne in sein wahres Licht« und gibt »dem Ganzen Gestalt«. Gleichartige Reflexionen liegen dem Werk Rankes zugrunde, der »eigentlich nie etwas anderes zu schreiben beabsichtigte als Universalgeschichte«.29 Auch ihm geht es um die Erkenntnis des »Zusammenhangs des Ganzen«, darum, »die Dinge zugleich in dem Grunde ihres Daseins und in der Fülle ihrer eigentümlichen Erscheinung zu begreifen«.30 Auf derselben Linie wie Humboldt, freilich mit deutlich größerer Zurückhaltung im Hinblick auf die Erkennbarkeit eines teleologischen Sinnes hat Ranke schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts seine Idee der Universalhistorie erläutert.31 Ranke sah die Voraussetzung universalgeschichtlicher Erkenntnis (ähnlich wie Humboldt) darin, daß »die Historie in jeder Existenz ein Unendliches« anerkenne, »in jedem Zustand, jedem Wesen ein Ewiges, aus Gott kommendes«, also in jedem Einzelnen und Partikularen »das Inwohnen des Ewigen«, - »dies ist der religiöse Grund, auf welchem unser Bemühen beruht«. Zugleich aber sah Ranke - nicht zuletzt deshalb, weil er jegliche Kontamination der Geschichtserkenntnis mit Philosophie oder Theologie, etwa mit der alten Weltreichelehre vermeiden wollte32 sehr deutlich auch die Schwierigkeit, zu einer »Totalität« zu gelangen: »Man sieht, wie unendlich schwer es mit der Universalhistorie wird. Welch unendliche Masse!«; und er stellte schließlich fest: »Die Weltgeschichte weiß allein Gott«. Freilich wurde sogar zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Typus des historischen Wissens als Wissen vom Ganzen der Geschichte noch einmal wissenschaftlich begründet und mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft dargeboten, nämlich von dem Theologen, Philosophen, Historiker und Soziologen Ernst Troeltsch. In die Mitte seines Spätwerks stellte Troeltsch die Aufgabe, »Geschichte durch Geschichte [zu] überwinden«,33 d.h. der durchgängigen Historisierung und Relativierung aller Werte im Zeichen des modernen Historismus eine Begründung neuer Werte mit den Mitteln der historischen Wissenschaft selbst entgegenzustellen. Troeltsch ging dabei von der Überzeugung aus, wie er schon 1898 schrieb, »daß jeder Moment und jedes Gebilde der Geschichte nur ... mit dem Ganzen gedacht werden kann, daß jede Bildung von Wertmaßstäben deshalb nicht vom isolierten Einzelnen, sondern nur von der Überschau des Ganzen ausgehen kann«.34 Wie aber soll das Ganze erfaßt werden? Die Antwort auf diese Frage versuchte Troeltsch in seinem letzten großen Werk »Der Historismus 221 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
und seine Probleme« von 1922: »Das Denken muß ... in irgendeinem geheimen Bunde mit dem Realen stehen, mit ihm irgendwie durch einen gemeinsamen Grund beider verbunden sein«, so daß sich dadurch »Einheit und Sinn des Ganzen« erschließen. Dies läßt sich freilich »nur ahnen und fühlen, nicht wissenschaftlich ausdrücken und konstruieren«; denn »nicht aus dem All können wir den einzelnen Moment befestigen, sondern aus den Festigkeiten der einzelnen Momente können wir das All in seinem Gesamtsinn als ein immer lebendiges und tätiges ahnen«. Doch sah Troeltsch zugleich die auf die Erkenntnis des Ganzen gerichtete Anstrengung sicher begründet in der Annahme einer »Identität des endlichen und unendlichen Geistes«, in der »wesenhaften und individuellen Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste«, welche »die intuitive Partizipation an dessen konkretem Gehalt und bewegter Lebenseinheit« ermöglicht; dies war für Troeltsch »der Schlüssel zur Lösung unseres Problems«.35 III Im nächsten Abschnitt dieser Überlegungen geht es um jenen zweiten Typus von Reflexion über den Teil und das Ganze, die das Ziel hat, das Ganze der Geschichte zu erkennen, indem sie es sich aus den Teilen allmählich autbaut. In Entsprechung zu Newtons gleichartigem Versuch einer empiristischen Grundlegung der Physik hat David Hume in seiner »Untersuchung über den menschlichen Verstand« (»An Enquiry Concerning Human Understanding«, so der Titel des Werks seit 1758) für die Entfaltung geschichtlicher Erkenntnis den Aufbau des Ganzen aus den Teilen als Programm formuliert: Die »Beziehung von Ursache und Wirkung« sei es, welche die Voraussetzung schaffe, daß »in der Geschichte die Verknüpfung der einzelnen Ereignisse« möglich sei, »wodurch sie zu einem Ganzen (into one body) vereinigt werden«,36 sei doch die Verknüpfung von Ursache und Wirkung »die gebräuchlichste Art der Verknüpfung zwischen verschiedenen Ereignissen«. Der Historiker »zeichnet ... den Ablauf der Handlungen nach ihrer natürlichen Ordnung, steigt zu ihren geheimen Quellen und Prinzipien auf und beschreibt ihre letzten Folgen. Er wählt als Gegenstand einen bestimmten Teil jener großen Kette von Ereignissen, die die Menschheitsgeschichte ausmachen. Jedes Glied dieser Kette sucht er in seiner Erzählung zu berühren. Manchmal vereitelt unvermeidliche Unwissenheit all seine Bemühungen; manchmal ersetzt er durch Vermutung, was an Wissen fehlt; und immer ist er sich bewußt: je lückenloser die Kette ist, die er seinen Lesern bietet, um so vollkommener ist seine Arbeit.« Und dieser »Aufstieg« zu den »geheimen Quellen und Prinzipien« der Geschichte 222 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
führt wirklich zum Ganzen der Menschheitsgeschichte, weil dieses Wissen »uns befähigt, über die Ereignisse Gewalt zu haben und die Zukunft zu beherrschen« (»we are enabled to control events, and govern futurity«). 37 Der empiristischen Begründung Humes in vielem durchaus vergleichbar ist Friedrich Schillers Begründung einer Universalgeschichte, die er in seiner berühmten Antrittsvorlesung 1789 vortrug. Die Weltgeschichte könne nie etwas anderes sein als ein »Aggregat von Bruchstücken«, wenn ihr nicht der philosophische Verstand zu Hilfe käme: »Indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen«. Die dem zugrundeliegende Methode ist die des Analogieschlusses, welche wiederum durch die geschichtliche Wirklichkeit selbst begründet werde, nämlich durch die »Gleichförmigkeit und unveränderliche Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts, welche Einheit Ursache ist, daß die Ereignisse des entferntesten Altertums, unter dem Zusammenfluß ähnlicher Umstände von außen, in den neuesten Zeitläufen wiederkehren; daß also von den neuesten Erscheinungen, die im Kreis unserer Beobachtung liegen, auf diejenigen, welche sich in geschichtslosen Zeiten verlieren, rückwärts ein Schluß gezogen und einiges Licht verbreitet werden kann«.38 Neue Bemühungen, von den Teilen her das Ganze der Geschichte zu erfassen, wurden dann im 19. Jahrhundert im Zeichen des Positivismus begründet. Während Humboldt und Ranke, wie wir sahen, die konkrete Beobachtung des Einzelnen verbanden mit der über die Erfassung der Ideen sich erschließenden Kenntnis des Ganzen, will die positivistische Historie allein aus der Erkenntnis des Einzelnen, allein aus der Erkenntnis der Fakten, durch deren Vergleich und wechselseitige Beleuchtung, diese schließlich zum Ganzen zusammenfügen, indem sie, auf der Grundlage genauester Kenntnis dieser Fakten jene allgemeinen Gesetze entdeckt, denen sie gehorchen. »Diese Erwartung, Gesetzmäßigkeit in der Unordnung zu finden«, so schrieb Henry Thomas Buckle in seiner »History of Civilization in England« (1857-1861), »ist den Naturwissenschaftlern so vertraut, daß sie bei den hervorragendsten unter ihnen zu einem Glaubenssatz geworden ist; wenn sich die gleiche Erwartung bei den Historikern noch nicht allgemein finden läßt, so ist das zum Teil der Tatsache zuzuschreiben, daß sie in ihren Fähigkeiten den Naturforschern unterlegen sind, und zum Teil der größeren Vielschichtigkeit jener sozialen Erscheinungen, mit denen sich ihre Studien befassen. Diese beiden Gründe haben das Entstehen einer Geschichtswissenschaft hinausgezögert.« Doch da »die Fakten« nunmehr »gesammelt und methodisch zusammengestellt ... und reif für die Auswertung« seien, war Buckle der festen Überzeugung, daß die Wissenschaft rasch und stetig fortschreiten werde, so daß noch vor Ablauf 223 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
eines weiteren Jahrhunderts »die Beweiskette vollkommen«, das »große Schema allgemeiner Ordnung (vast scheme of universal order), von der wir vom augenblicklichen Wissensstand aus kaum die Umrisse erkennen können«, begreifbar sein werde, daß man in der Lage sein werde, die einzelnen Abschnitte der Geschichte »zu einem Ganzen zusammenzusetzen und zu ermitteln, auf weiche Weise sie miteinander verbunden sind«, kurzum, daß man, auch im Blick auf die Geschichte, »von einzelnen Fakten ausgehend die Gesetze entdecken« könne, »denen diese Fakten unterworfen sind«.39 Ebenso hat in Frankreich Hippolyte Taine (1828-1893) in der vollkommenen Erfassung aller Tatsachen und der darauf autbauenden Erforschung der Ursachen (»apres la collection des faits la recherche des causes«) jene wenigen allgemeinen Prinzipien zu finden gehofft, welche die unübersehbare Vielheit des geschichtlichen Geschehens beherrschen, bilden doch seiner Auffassung nach allein schon die Fakten »ein in sich geschlossenes Ganzes, das erst nachträglich der theoretischen Bearbeitung und der theoretischen Deutung unterworfen wird«.40 Bei allen diesen Annahmen bildete die positivistische Naturwissenschaft das Modell des Verfahrens und der Erkenntnisgewinnung.41 Am Ende des 19. Jahrhunderts freilich hat sie bei den ihrem Vorbild nacheifernden Historikern eine vorwiegend resignative Haltung erzeugt. Denn während der Naturwissenschaftler immerhin seine Fakten selbst beobachte, so wurde jetzt festgestellt, sei der Historiker ihm unendlich unterlegen und bleibe es auch, weil er seine Fakten kaum einmal selbst und direkt beobachten könne, sondern sich in der Regel nur auf mittelbare Beobachtung stützen könne, sei er doch stets auf das angewiesen, was ihm als Spuren der Ereignisse in der historischen Uberlieferung zugänglich sei und allein zugänglich sein könne.42 Entscheidend sei deshalb die historische Kritik, die in der Überlieferung, im historischen Material das Wahre vom Falschen zu unterscheiden vermöge. Der Historiker sei also, wie Marc Bloch, damals selbst noch ein entschiedener Positivist, 1914 aussprach, vergleichbar mit einem »armen, blinden und lahmen Physiker, der über seine Experimente nur durch die Berichte seines Laborgehilfen Kenntnis haben kann«.43 Die Hoffnung, in der Erkenntnis aller Fakten dereinst einmal das Ganze zu erkennen, ist hier also schon aufgegeben. »Der Staub der Fakten ist nichts«, so formulierte zur gleichen Zeit Henri Berr provozierend in seiner programmatischen Eröffnung der im Jahr 1900 gegründeten »Revue de synthèse historique«.44 Doch sah sich der Positivismus noch in der Gewißheit, so abermals Bloch 1914, daß immerhin die »kritische Methode« zur Wahrheit führe (»une des routes qui mènent vers le vrai«), auch wenn es nicht mehr die Wahrheit des Ganzen sei.45 Von einem ganz anderen Standpunkt aus hat zur selben Zeit in Deutschland Wilhelm Dilthey seinerseits noch einmal das Problem des Teils und des 224 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Ganzen im Sinne des Aufbaus von den Teilen her erörtert, dabei aber zugleich die Aporien dieses Vorhabens demonstriert. In dem nachgelassenen Fragment »Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft« (um 1910) befaßte sich Dilthey auch mit der Frage nach der »Erkenntnis des universalhistorischen Zusammenhangs«.46 »Wir müssen«, so schrieb er hier, »aus den Teilen das Ganze aufbauen« und zugleich muß »in dem Ganzen ... doch das Moment liegen, durch welches Bedeutung zugeteilt wird und das sonach dem Teil seine Stellung zuweist«. Die geschichtliche Arbeit hat demnach »in der gegenseitigen Abhängigkeit der gewonnenen Bestimmungen, ... also des Ganzen und des Teiles« zu verlaufen. Ja, es ist sogar »die Objektivität der Geschichte« für Dilthey daran geknüpft und überhaupt »nur dann möglich, wenn unter den mannigfaltigen Gesichtspunkten, unter denen der Zusammenhang ihres Ganzen vollzogen und die für ihn erforderlichen Glieder ausgesondert werden können, ein Standpunkt diesen Zusammenhang selbst erfaßt, wie er stattgefunden hat«.47 Welches aber ist dieser Standpunkt und dieser Zusammenhang? Dies ist, wie Dilthey wohl weiß, die entscheidende Frage, so wie sie es auch für Troeltsch war. Die Antwort Diltheys auf diese Frage ist freilich eine andere als die von Troeltsch. Dilthey begründet seine Antwort mit einer Lebensphilosophie. »Der Zusammenhang der Geschichte ist der des Lebens selber, sofern dieses unter den Bedingungen seines natürlichen Milieus Zusammenhang hervorbringt.« Oder anders gesagt: »Was das Leben sei, soll die Geschichte lehren. Und diese ist auf das Leben angewiesen«.48 Das Ganze erscheint somit als eine »Objektivation des Lebens«.49 Deshalb liegt hier, wie Dilthey selbst ausdrücklich feststellt, ein »Zirkel« vor. »Aus diesem Zirkel gäbe es einen einfachen Ausweg, wenn es unbedingte Normen, Zwecke oder Werte gäbe, an denen die geschichtliche Betrachtung, Auffassung einen Maßstab hätte«.50 Von der geschichtlichen Existenz solcher unbedingter Zwecke und Werte ging noch Humboldt aus, wie wir gesehen haben; und Troeltsch versuchte, sie mit den Mitteln der Wissenschaft selbst wiederzugewinnen.81 Solche Annahmen teilte Dilthey nicht, denn für ihn war der Relativismus des modernen Denkens universal. Grundgegebenheit und Grundproblem war für ihn »das Messer des historischen Relativismus, welches alle Metaphysik und Religion gleichsam zerschnitten hat«.52 Es gab für Dilthey deshalb nur die »von der Geschichte selbst« realisierten Werte,53 und deshalb kann die Geschichte niemals als ein Ganzes erkannt werden, sondern nur »als ein Ganzes, das nie vollendbar ist«,54 - was etwas anderes ist. Es gibt also kein Ganzes, das zur Bestimmung der Teile führen könnte, und es kann deshalb auch keinen Aufbau des Ganzen aus den Teilen geben. Die von Dilthey gestellte Aufgabe erweist sich somit als unlösbar. Oder, in 225 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Diltheys eigenen Worten: die Beziehung vom Teil zum Ganzen ist, wie auch im Leben, »eine Beziehung, die niemals ganz vollzogen wird. Man müßte das Ende des Lebenslaufes abwarten und könnte in der Todesstunde erst das Ganze überschauen, von dem aus die Beziehung seiner Teile feststellbar wäre. Man müßte das Ende der Geschichte erst abwarten um für die Bestimmung ihrer Bedeutung das vollständige Material zu besitzen.« Und Dilthey fährt fort: »Andererseits ist das Ganze doch nur für uns da, sofern es aus den Teilen verständlich wird. Immer schwebt das Verstehen zwischen beiden Betrachtungsweisen«.55 Die ursprüngliche Problemstellung, das Ganze aus den Teilen aufzubauen, wird also, nachdem sie aufgegeben werden mußte, überführt in die Aufgabe, ein jeweils unvollendetes und unvollendbares Ganzes im Hin und Her zwischen diesem Ganzen und seinen Teilen zu reflektieren. Die von Dilthey formulierte Aporie des Problems, aus den Teilen das Ganze aufbauen zu wollen, ist von seiten der Historiker allerdings nicht immer so klar erkannt worden, vielmehr ist die Annahme, man könne das Ganze der Geschichte aus den Teilen aufbauen, durchaus verbreitet. Hier liegt die vielfach unausgesprochene Grundannahme aller Weltgeschichten und Universalgeschichten. Diese gehören freilich, wie schon Troeltsch kritisch anmerkte, in Wahrheit meist nur in das Gebiet der »Buchbindersynthese« oder der »gelehrten Fabrik«.56 Mit Joseph Vogt könnte man auch von einem Aufbau der »Weltgeschichte durch eine levee en masse der Spezialisten« sprechen.57 Gleichwohl haben einzelne Historiker ihre Überzeugung, aus den Teilen das Ganze aufbauen zu können, immer wieder ausgesprochen. So schreibt Gerhard Ritter am 7. Oktober 1936 an Friedrich Meinecke (es ist Ritters Antwort auf die Übersendung seines Historismus-Buches): Er finde seinen Beruf als Historiker nur deshalb sinnvoll, weil er überzeugt sei »von der Kraft der menschlichen Vernunft, das Objektive der Welt zu erfassen ..., und zwar vermöge einer Erkenntnis, die ... zu jeder Zeit ein Stück bleibender Wahrheit erfaßt und die so erfaßten Teilwahrheiten von Epoche zu Epoche zu einem geschlossenen zeitlosen Ganzen zusammenfügt«.58 IV In diesem Abschnitt meiner Überlegungen wird nun vom dritten Typus der Reflexion über den Teil und das Ganze die Rede sein, der zufolge weder Teile noch Ganzes der Geschichte ein Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein können. Die entschiedensten Äußerungen dazu - außerhalb der Geschichtswissenschaft - kamen im 19. Jahrhundert zuerst von Schopenhauer und von 226 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Nietzsche. Seit der 1874 veröffentlichten zweiten unzeitgemäßen Betrachtung »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« hat Nietzsche den Wert der historischen Erkenntnis und die Möglichkeit objektiver Erkenntnis der Geschichte grundsätzlich bestritten,59 den »historischen Sinn« seines Jahrhunderts als »unterwürfige Plebejer-Neugierde« sowie die ganze Historie als »Vorratskammer der Kostüme«, d. h. der »Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen« verspottet,60 seinen Hohn über Weltgeschichte als einen »lächerlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins« geäußert61 sowie die tiefe Überzeugung, »daß es kein ›Ganzes‹ gibt« und »daß die Notwendigkeit, die Ursächlichkeit, Zweckmäßigkeit nützliche Scheinbarkeiten sind«.62 Schopenhauer hatte schon im ersten Band seines Hauptwerks (1819) deutlich ausgesprochen, daß allein die Dichtung das Ganze, nämlich das »innere Wesen« und die »Idee« der Geschichte zu erfassen vermöge, »die adäquate Objektivität des Dinges an sich auf ihrer höchsten Stufe«, die »Darstellung des Menschen in der zusammenhängenden Reihe seiner Bestrebungen und Handlungen«; Geschichte als Wissenschaft hingegen gebe nicht mehr als bloße »empirische Notizen vom Benehmen der Menschen gegeneinander«; der Historiker zeige »die Begebenheiten und die Personen nicht nach ihrer innern, echten, die Idee ausdrückenden Bedeutsamkeit, ... sondern nach der äußern, scheinbaren, relativen, in Beziehung auf die Verknüpfung, auf die Folgen wichtigen Bedeutsamkeit«. Eigentlich sollte der Historiker ja das Ganze erfassen, er sollte eigentlich zeigen, wie die »vielfach verschlungenen Ketten der Gründe und Folgen« beschaffen sind; »aber unmöglich kann er hierzu alle Data besitzen, alles gesehen oder alles erkundet haben«.63 In dem berühmten 38. Kapitel des zweiten Bandes (Über Geschichte, 1844) wendet sich Schopenhauer dann in schärfster Polemik gegen »das besonders durch die überall so geistesverderbliche und verdummende Hegeische Afterphilosophie aufgekommene Bestreben, die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen« und gegen den darin liegenden »rohen und platten Realismus«, sei doch die Historie »zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft. Denn nirgends erkennt sie das Einzelne mittelst des Aligemeinen, sondern muß das Einzelne unmittelbar fassen und so gleichsam auf dem Boden der Erfahrung fortkriechen«, so daß das Bestreben, die Geschichte »als ein Ganzes mit Anfang, Mitte und Ende nebst sinnvollem Zusammenhang zu konstruieren, ein eitles, auf Mißverstand beruhendes« sei.64 Gewiß haben sich die herausragenden Historiker des 19. Jahrhunderts deutlich von Hegels Geschichtsphilosophie abgegrenzt, so Ferdinand Gregorovius65 oder Jacob Burckhardt (»dieses kecke Anticipieren eines Weltplans«).66 Doch ist eine neue Theorie der historischen Erkenntnis, welche einerseits die Abgrenzung vom Anspruch auf Erkenntnis des Ganzen 227 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
vollzieht und andererseits doch zugleich die Möglichkeiten und die Kraft der historischen Erkenntnis als einer wissenschaftlichen Erkenntnis demonstriert und behauptet, nur langsam und zögernd als Aufgabe der Geschichtswissenschaft selbst erkannt worden. Als erster hat sich J . G. Droysen dieser Aufgabe angenommen: in jenen Vorlesungen über die »Wissenschaftslehre der Geschichte«, die er Historik nannte, und die er seit 1857 regelmäßig gehalten hat.67 Sein Ziel war es, geschichtswissenschaftliche Erkenntnis als Forschung, d.h. als ein empirisch vorgehendes und empirisch gestütztes Hypothesen- und Entwurfswissen zu begründen, welches durch seinen Gegenstand, die Hervorbringungen und Äußerungen des Menschen, verstehenden Charakter hat, also verstehende Forschung oder »forschendes Verstehen« ist.68 Daraus ergibt sich, daß nach Droysen das Problem von Teil und Ganzem nicht in einem absoluten, sondern nur in einem relationalen Sinn überhaupt begriffen und erörtert werden kann, wie er in der Historik-Vorlesung von 1857 darlegt: »Nur aus den Teilen verstehen wir das Ganze, und wieder, erst aus dem Ganzen die Teile«, wobei eine absolute und vollkommene Totalität freilich nie erreichbar sein kann. »Denn das Begreifen des Menschen faßt nur die Mitte, nicht den Anfang, nicht das Ende«. Somit ist der Ausgangspunkt, ist »die Grundlage des ganzen Verfahrens ... nur ein relatives Allgemeines, ... nicht das Allgemeine selbst, ... nur ein relativ Eines, nicht das Eine selbst. Der Geist hat erkannt, wieviel er denn jetzt erkannt hat; stückweise verstehend ergänzt er das stückweis Erfaßte zu einer Totalität, und aus dieser versteht er sich und das Viele«.69 Aber Droysens Historik blieb lange ohne jede Wirkung auf die Erörterungen zur Theorie der geschichtlichen Erkenntnis, da die erste gedruckte (und noch recht unvollkommene) Ausgabe der Historik erst 1937 erschien.70 So konnte die Arbeit an einer umfassenden Theorie der historischen Erkenntnis gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer noch als eine erst zu leistende Aufgabe erscheinen. Nunmehr war es Dilthey, der sich ihr unterzog: mit seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (1883) als einer »Kritik der historischen Vernunft«, als »Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte«.71 Dilthey zeigte hier, daß eine »inhaltliche Vorstellung des Weltzusammenhangs« nicht erwiesen werden könne, weil eine »einheitliche Vorstellung vom Subjekte des Weltlaufs ... nur durch die Vermittlung dessen, was das Seelenleben hineingibt«, zustandekomme, dieses aber sich in ständiger geschichtlicher Veränderung befinde.72 War hiermit zwar die Grenze historischer Erkenntnis bezeichnet, so blieb doch die Bedingung ihrer Möglichkeit, blieb der Erweis ihrer Kraft und ihrer Tragweite unerörtert und ungeklärt, nämlich die Begründung geschichtlicher Erkenntnis auf die Durchdringung des historischen Materials, 228 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
die Berufung auf ihre empirische Seite also. Mit anderen Worten: es blieb bei Dilthey unberücksichtigt, was Droysen schon 1857 definiert hatte, daß nämlich historische Erkenntnis den Charakter von Forschung hat, weil Empirie die Grundlage der geschichtlichen Methode ist, daß die historische Erkenntnis also nicht bloß versteht, sondern daß sie »forschend« versteht.73 Dieser Gedanke gelangte erst dann zum Durchbruch, als gegen Ende des Jahrhunderts in der Verabschiedung vom Fortschrittsgedanken sich die moderne Kulturwissenschaft und Sozialwissenschaft konstituierte, ihre zentralen Themen fand, dabei eine neue Theorie der historischen Erkenntnis auf den Weg brachte74 und darin wiederum sich erneut des Themas vom Teil und vom Ganzen annahm. Eine grundsätzliche Äußerung dazu hat Georg Simmel in der zweiten Auflage seines Buches über »Die Probleme der Geschichtsphilosophie« von 1905 getan: »Man kann das Einzelne nicht beschreiben, wie es wirklich war, weil man das Ganze nicht beschreiben kann. Eine Wissenschaft von der Totalität des Geschehens ist nicht nur wegen ihrer nicht zu bewältigenden Quantität ausgeschlossen, sondern weil es ihr an einem Gesichtspunkt fehlen würde, den unser Erkennen braucht, um ein Bild, das ihm genüge, zu formen, an einer Kategorie, unter der die Elemente zusammengehören und die bestimmte derselben mit einer bestimmten Forderung ergreifen muß. Es gibt kein Erkennen überhaupt, sondern immer nur eines, das durch qualitativ determinierte, also unvermeidlich einseitige Einheitsbegriffe geleitet und zusammengehalten wird ... Dies ist der tiefere Grund, weshalb es nur Spezialgeschichten gibt und alles, was sich allgemeine oder Weltgeschichte nennt, bestenfalls eine Mehrzahl solcher differentieller Gesichtspunkte nebeneinander wirken läßt oder eine Heraushebung des nach unseren Wertgefühlen Bedeutsamsten innerhalb des Geschehenen darstellt«.75 Die hier angedeutete Grundauffassung Simmeis, daß jede Erkenntnis notwendigerweise spezialistisch ist, weil sie nur einen Ausschnitt darstellt aus einer unendlichen Vielfalt erkenntnismöglicher Gegebenheiten, weil sie nur eine Auswahl trifft unter Gesichtspunkten, die für bedeutsam gehalten werden, begegnet dann in systematischer Fassung wieder in Max Webers Theorie der wissenschaftlichen, der kulturwissenschaftlichen und der historischen Erkenntnis, wie sie Weber seit 1904 ausgesprochen hat.76 Weber definierte den Prozeß der modernen Wissenschaft nicht als Fortschritt, sondern vielmehr als »Fortschritt in das Unendliche«,77 was etwas grundsätzlich anderes ist. Weber zeigte, daß diese Unendlichkeit der modernen Wissenschaft in zweierlei Hinsichten konstituiert ist. Einmal nämlich im Hinblick auf die »unendliche Fülle der Erscheinungen«, im Hinblick auf den »endlosen«, den unüberschaubaren »Strom des unermeßlichen Geschehens«,78 im Hinblick auf die »intensive Unendlichkeit alles empirisch 229 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
gegebenen Mannigfaltigen«.79 Wissenschaft als ein ständiger »Fortsehritt in das Unendliche« wird aber zum anderen konstituiert durch die Unendlichkeit möglicher Fragen, welche an das historische Material gestellt werden können und welche immerfort mit bedingt sind durch die Gegenwart einer Kultur, in die der seine Fragen stellende Historiker eingebunden ist. Weil, wie Weber mit Hinweis auf Kants Begründung der modernen Erkenntnislehre feststellt, die Gegenstände der Wissenschaft durch die Fragestellung, durch die Stellung der Probleme konstituiert werden, und weil zugleich diese Problemstellungen sich »mit dem Inhalt der Kultur selbst« unaufhörlich wandeln,80 so ergibt sich daraus die Unmöglichkeit eines absoluten und geschlossenen Systems von Begriffen, in dem die historische Wirklichkeit im Ganzen »in einer in irgendeinem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte«.81 Damit entfällt aber für Weber, im Gegensatz zu Troeltsch, jegliche Möglichkeit, über das Ganze und seine Teile sinnvoll zu sprechen. Die Gegensätzlichkeit der Auffassungen darüber ist übrigens von Weber wie von Troeltsch selbst in aller Klarheit erkannt und auch ausgesprochen worden.82 In der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts hat eine mit den Auffassungen Max Webers ganz und gar übereinstimmende Position der französische Historiker Marc Bloch vertreten, der ohne Zweifel einer der zwei oder drei bedeutendsten Historiker dieses Jahrhunderts ist. Man vergleiche dazu Blochs während des Zweiten Weltkriegs in der Resistance geschriebene und erst nach seiner Ermordung durch die Deutschen veröffentlichte »Apologie pour l'histoire«.83 Zu den Grundannahmen der Reflexionen Marc Blochs über die Arbeit des Historikers gehört die Unendlichkeit der historischen Wirklichkeit, die den Historiker ständig dazu zwingt, eine Auswahl zu treffen, »un choix«; das Thema der Auswahl unter Gesichtspunkten, die dem Historiker jeweils bedeutsam erscheinen, ist ein zentrales Thema der Blochschen Historik. Auch für Bloch kann sich die historische Erkenntnis weder auf das Ganze noch auf Teile in einem Ganzen richten, weil historische Erkenntnis immer nur eine Auswahl unter bestimmten Gesichtspunkten in einem unendlichen Feld ist. Deshalb betont Bloch auch die Sinnlosigkeit der bei Historikern so beliebten Suche nach absoluten »Anfängen« oder »Ursprüngen« irgendeines historischen Phänomens. Und auch für Bloch ergibt sich, wie für Max Weber, die Einheit oder »das Ganze« nicht von den Sachen her, sondern allein durch die Problemstellung,84 oder, wie Bloch in der »Apologie« pointiert sagt: »Au commencement est l'esprit« - »am Anfang ist der Geist«.85
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V An dieser Stelle der vorliegenden Überlegungen sei eine kleine Zwischenbemerkung eingefügt. Es wäre von hier aus möglich, die Frage nach dem Zusammenhang der Reflexion über Teil und Ganzes im Hinblick auf eine vergleichende Betrachtung von Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft weiterzuverfolgen, besonders im Hinblick auf den dritten Typus, der ja, wie wir gesehen haben, seit 1900 und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeitgleich in beiden Wissenschaftsbereichen auftrat;86 dies ist ein hochinteressanter Sachverhalt, der wissenschaftsgeschichtlich wohl noch nicht recht erkannt und in seiner Bedeutung gewürdigt worden ist und der deshalb auch noch keine Erklärung gefunden hat.87 Man könnte diese Frage sogar von den Überlegungen Marc Blochs her in Angriff nehmen, der in seiner »Apologie« auf Zusammenhänge hinweist zwischen den Relativitätstheorien und der Quantentheorie und der dadurch bewirkten Revolution der naturwissenschaftlichen Denkart einerseits, und jener Form des historischen Denkens andererseits, die er für die allein begründbare hielt.88 Bloch war übrigens der einzige Historiker in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, der diese Übereinstimmung gesehen und ihre Bedeutung zumindest angedeutet hat. Indessen soll der Gedankengang dieser Untersuchung in einer anderen Richtung fortgesetzt werden. Denn während wir den ersten Typus (die Erkenntnis des Ganzen führt zur Erkenntnis der Teile) von seinen mittelalterlichen, vormodernen und modernen Erscheinungsformen her betrachtet haben und auch der zweite Typus (das Ganze kann von den Teilen her, aufbauend, erkannt werden) in verschiedenen Erscheinungsformen seit dem 18. Jahrhundert sichtbar wurde, sind wir im Hinblick auf den dritten Typus, als dessen Zeugen bisher vor allem Georg Simmel, Max Weber und Marc Bloch benannt wurden - wenn man von J. G. Droysen absieht -, über die Zeit um 1900 nicht zurückgelangt. Aber auch dieser Typus hat durchaus eine längere Geschichte, von der man freilich eher wenig weiß. Es soll im folgenden diese Geschichte etwas beleuchtet werden. Dies geschieht in zwei Betrachtungen. Die eine davon wird diesen Typus des Denkens über den Teil und das Ganze anhand eines Autors des 17. Jahrhunderts noch einmal zeigen. Die andere soll zeigen, wie diese Art zu denken in den Bereich der historischen Erkenntnis eingeführt wurde, was uns zu einem Autor des 18. Jahrhunderts führt. Es geht um Pascal (Abschnitt VI) und um Montesquieu (Abschnitt VII).
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VI Gegenstand der folgenden Überlegungen ist also Pascal (1623-1662), der hier freilich nicht als der bedeutende Mathematiker, Physiker und Ingenieur interessiert, sondern vielmehr als der profunde Theoretiker der modernen Wissenschaft, der alle für unseren Zusammenhang notwendigen Stichworte gibt.89 Dies kann im einzelnen nicht entwickelt, sondern nur von einigen zentralen Momenten her angedeutet werden: nämlich 1. im Hinblick auf die Situation der Wissenschaft, 2. im Hinblick auf deren Verfahren und Vorgehen und 3. im Hinblick auf die Grenzen dieser Wissenschaft. (1) Pascals Begriff der Wissenschaft. Für Pascal ist Wissenschaft stets eine Mitte, eignet ihr doch eine Mittellage zwischen »zwei Unendlichkeiten«.90 Dies ist das wesentliche Moment von Pascals Wissenschaftsbegriff, dem wir übrigens im Rahmen dieser Untersuchung bereits an anderer Stelle, bei Heisenberg und bei Droysen, begegnet sind.91 Pascals Definition der Wissenschaft ist eingebettet in die Reflexion über die »doppelte Unendlichkeit« der immanenten, wissenschaftlich erfahrbaren Welt. Diese beiden Unendlichkeiten der Wissenschaft sind jene der Größe, also der Makrobereich, und jene der Kleinheit, also der Mikrobereich. Das bedeutet für die Wissenschaft, daß sie in sich notwendig unabgeschlossen und unabschlicßbar ist, einerseits im Hinblick auf ihr Ziel, ihr Ende, und ebensowohl im Hinblick auf ihren Anfang und ihre Begründung. Sie ist nichts als eine Mitte, »un milieu«, was überhaupt der Situation des Menschen in der Welt entspricht. Deshalb kann man in der Wissenschaft nichts wahrhaft wissen. Wahrheit ist der Wissenschaft nicht zugänglich. Im Hinblick auf diese Mittellage der Wissenschaft zwischen zwei Unendlichkeiten (»ces deux infinis de sciences«) erweist sich die Frage nach dem Teil und dem Ganzen, wie Pascal ausführt, als sinnlos. Diese Frage ist überhaupt gegenstandslos, weil es nämlich kein Ganzes und keine Teile als Teile dieses Ganzen gibt, die mit den Mitteln der Wissenschaft erfaßbar wären. Gleichwohl gibt es die Wissenschaft, die nach strengen Regeln vorgeht. Denn was es durchaus gibt, sind Beziehungen der immanenten Dinge untereinander. Hieraus entwickelt Pascal die Idee eines Funktionalismus, oder besser: Relationalismus, die Auffassung der Welt als eines wissenschaftlich erfahrbaren Beziehungsgeflechts, das in seinen wahren Dimensionen freilich unbestimmt ist und unbestimmbar bleibt, weil es immer nur ausschnitthaft erfaßt werden kann. »Dans la vue des ces infinis, tous les finis sont égaux«.92 Die Frage nach dem Ganzen und seinen Teilen ist also keine wissenschaftlich sinnvolle Frage mehr. »Da also alle Dinge verursacht und verursachend sind, der Hilfe bedürfend und helfend, vermittelt und unmit232 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
telbar und da alle durch ein natürliches und unmerkliches Band verknüpft sind, das die entferntesten und verschiedensten Dinge verbindet, halte ich es für unmöglich, die Teile zu erkennen, ohne das Ganze zu kennen, noch das Ganze zu erkennen, ohne im Einzelnen die Teile zu kennen.«93 (2) Was ist das Verfahren dieser Wissenschaft? Diese Wissenschaft schreitet voran in der Weise der Annahme, des Entwurfs, der Hypothese. Dieses Entwurfswissen der Wissenschaft ist freilich nicht willkürlich und beliebig, es ist vielmehr durch »experience«, d.h. durch die Erfahrung des Experiments gestützt.94 Das Experiment hat nach Pascal für die Wissenschaft eine fundamentale Bedeutung.95 Bei Pascal wird zum ersten Mal der Begriff der modernen Erfahrungswissenschaft als Forschung definiert, jener Typus moderner Wissenschaft, der in Hypothesen fortschreitet, diese Hypothesen aber durch Experimente stützt. Es ist jenes wissenschaftliche Verfahren, das später von Kant, in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner »Kritik der reinen Vernunft« von 1787, mit der Metapher der Zweihändigkeit der Erkenntnis näher bezeichnet wird, wonach die Vernunft mit ihren Prinzipien »in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen« soll.96 Vernunftentwurf und Experiment stehen also in einem ständigen Wechselverhältnis. Wissenschaft ist deshalb dahingehend zu beurteilen, daß sie als empirische Wissenschaft durchaus etwas weiß, aber nichts in Wahrheit weiß; daß sie in sich durchaus sicher, schlüssig, zusammenhängend ist, im ganzen jedoch unsicher. Wissenschaftliche Fragen beleuchten welthafte Dinge in ihrem Verhältnis zueinander, aber immer nur in der Weise des Ausschnitts. Wir können die Dinge nicht im Ganzen, wir können sie nicht absolut und wir können sie nicht einmal als Teile eines Ganzen erkennen. Pascal nennt diese Wissenschaft deshalb eine wissende Unwissenheit, eine »ignorance savante«.97 Sie ist wissend, weil sie von ihren Gegenständen etwas weiß, vor allem aber weil sie über sich selbst, d.h. über Bedingungen, Tragweite und Grenzen ihres Wissens Bescheid weiß; sie ist eine »ignorance savante qui se connaît«,98 die sich über sich selbst im klaren ist. Die »ignorance savante« ist aber zugleich Unwissenheit, weil sie über die Stellung und Bedeutung ihrer Gegenstände im Ganzen nichts weiß. (3) Gerade dadurch wird nun aber, und das ist der dritte Aspekt dieser Reflexionen zu Pascal, die Frage aufgeworfen, was denn dann jenseits der von ihr selbst sichtbar gemachten Grenzen dieser Wissenschaft steht, und vor allem: was denn dann die Prinzipien menschlichen Handelns sein sollen, zu denen die Wissenschaft offenbar nichts beizutragen hat und auch nichts beitragen kann, eben weil sie über das Ganze nichts zu sagen hat. Diese Fragen werden von Pascal in grundsätzlicher Weise erörtert, was hier aber nur noch angedeutet werden kann. Wichtig ist die knappe Feststellung, daß schon bei Pascal, wie später bei Max Weber, sichtbar wird, wie die Reflexion 233 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
über die Grenzen der Wissenschaft die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Leben unabweislich erzwingt. Pascal freilich unterscheidet nicht Wissenschaft und Leben, das ist Max Webers (von Nietzsche übernommene) Begrifflichkeit.99 Pascal unterscheidet Wissenschart und »usage commun«, was man mit »Alltäglichkeit« oder »Jedermannsart« übersetzen könnte.100 Und auch Pascal geht es, wie später Max Weber, um die Frage sowohl der Unterscheidung dieser beiden Bereiche wie auch zugleich um die Frage ihrer Verknüpfung. VII Es ist nunmehr die Frage zu erörtern, wo der Ansatz zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt als einer unendlichen in der Form des empirisch gestützten Entwurfs- und Hypothesenwissens zum ersten Mal im Bereich der historischen Erkenntnis erscheint. Diese Frage führt zu Montesquieu (1689-1755). Und eben weil Montesquieu auf diese Frage eine Antwort darstellt, ist er auch derjenige, der als erster eine neue Art demonstrierte, das »Ganze« der Geschichte in seiner Totalität in den Blick zu nehmen. Diesen Aspekt des Montesquieuschen Denkens, wie er vor allem in seinem berühmten Werk »De l'esprit des lois« von 1748 zutage tritt, hat bereits Hegel gekennzeichnet mit der Bemerkung, Montesquieu habe »die wahrhafte historische Ansicht, den echt philosophischen Standpunkt angegeben, die Gesetzgebung überhaupt und ihre besonderen Bestimmungen nicht isoliert und abstrakt zu betrachten, sondern vielmehr als abhängiges Moment einer Totalität, im Zusammenhange mit allen übrigen Bestimmungen, welche den Charakter einer Nation und seiner Zeit ausmachen«.101 Ebenso hat Émile Durkheim in seinem 1892 veröffentlichten Buch über Montesquieu (»Quid Secundatus politicae scientiae instituendae contulerit«) als spezifische Leistung Montesquieus herausgestellt, daß er nicht die geschichtlichen Phänomene nach verschiedenen Kategorien, im Blick auf Religion, Recht, Verhalten, Wirtschaft, Verwaltung usw. trennte, sondern vielmehr erkannt habe, daß dies alles untereinander zusammenhänge und jeweils Teil eines Ganzen sei: Montesquieu habe die wechselseitigen Beziehungen der sozialen Phänomene herausgestellt und als Teile eines Ganzen ermittelt.102 In derselben Weise rühmte neuerdings noch einmal Raymond Aron in Montesquieus Werk die synthetische Interpretation der Gesellschaft, »die als ein Ganzes betrachtet wird«.103 Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen, seine ursprüngliche Problemstellung, hat Montesquieu selbst im Vorwort zum »Esprit des lois« von 1748 aufs deutlichste bezeichnet. Es ist dies die Erkenntnis der unendlichen Verschiedenheit, die in der historisch-politisch-sozialen Welt begegnet, die 234 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
»infinie diversité de lois et de moeurs«, »le nombre infini de choses«.104 Angesichts dieser unendlichen Verschiedenheit der Phänomene ergab sich für ihn die Frage, ob in dieser Verschiedenheit eine Ordnung, eine Einheit (»uniformité«) festgestellt werden könne, - diese herauszustellen, ist das Ziel seines Werks.105 Aber, und das ist die entscheidende Frage: welcher Art ist diese Einheit? In der Auffassung von Montesquieu ist sie und kann sie nur eine gedachte, eine erkannte Einheit sein. Die von ihm ermittelte Ordnung der unendlichen Verschiedenheit ist eine Hervorbringung der Erkenntnis. Als Ziel des »Esprit des lois« kann man deshalb, mit Raymond Aron, feststellen: »Substituer un ordre pensé à une diversité incohérente«.106 Das Ergebnis dieser Arbeit des Historikers Montesquieu ist nämlich die Ermittlung von gedanklichen Typen, in denen die unendliche Vielheit der historischen, politischen und sozialen Phänomene erfaßt wird. Damit war zugleich eine praktische Absicht des Juristen Montesquieu verknüpft, nämlich: eine Antwort zu finden auf die Frage, wie Gesetze gemacht werden müssen, damit sie tauglich sind. Das Verfahren der Gewinnung seiner Erkenntnis hat Montesquieu selbst im Vorwort des Buches ausführlich beschrieben. Es ist ein Verfahren, das wir von Pascal bereits kennen, nämlich das Hin- und Herschreiten des erkennenden Geistes zwischen seinen Entwürfen und der Überprüfung dieser Entwürfe am Material, hier: am historischen Material, an dem, was die Historiker ihre Quellen nennen. Es geht also auch hier um eine durch Material gestützte und anhand des Materials fortschreitende Hypothesenerkenntnis. In seinem Vorwort zum »Esprit des lois« hat Montesquieu die beiden Aspekte dieses Erkenntnisprozesses in aller Klarheit benannt: einmal nämlich, daß er seine Entwürfe (er nennt sie, wie später Kant, »Prinzipien«, »principes«)107 ermittelt hat und dann erfahren konnte, daß die Einzelfälle, die Einzelheiten, sich »wie von selbst« diesen unterordnen (»j'ai posé des principes, et j'ai vu les cas particuliers s'y plier comme d'eux-mêmes«);108 gleichzeitig stellte Montesquieu heraus, daß er diese seine Entwürfe nicht aus beliebigen, nicht aus willkürlichen Urteilen (»préjugés«) gewonnen hat, sondern daß sie durch die »Natur der Dinge« bestätigt werden: »Je n'ai point tiré mes principes de mes préjugés, mais de la nature des choses. Ici, bien des vérités ne se feront sentir qu'après qu'on aura vu la chaîne qui les lie à d'autres. Plus on réfléchira sur les détails, plus on sentira le certitude des principes«.109 Diese Seite des Erkenntnisprozesses verweist auf die Grundlage der Arbeit, auf das historische Material. Wer die letzten beiden Bücher des »Esprit des lois« mit ihren historischen Darlegungen z.B. über die Entstehung des mittelalterlichen Feudalismus (»Theorie des lois féodales chez les Francs«) gelesen hat, weiß, welch umfassende Kenntnis des historischen Materials Montesquieu diesen Darlegungen zugrunde gelegt hat, in der Benutzung von Annalen, Chroniken, Biographien, von Kapitularien, 235 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Volksrechten, sogar von Hagiographie.110 Immer wieder wird im Vorwort auf das Hin und Her des Denkens zwischen den Entwürfen und deren Überprüfung hingewiesen, ein Arbeitsvorgang, der nach Montesquieus eigener Aussage zwanzig Jahre in Anspruch genommen hat; wir finden liier den Hinweis darauf, wie Erkenntnisse gefunden wurden, die dann doch wieder aufgegeben werden mußten; wie eine zunächst absichtslos, ja spielerisch verfolgte These sich dann doch bewährte; wie schließlich die für ihn endgültigen Entwürfe oder »Prinzipien« gefunden wurden, denen sich dann alles fügte: »Quand j'ai découvert mes prineipes, tout ce que je cherchais est venu à moi«.111 Der Begriff, in dem Montesquieu die unendliche Vielheit gedanklich zur Einheit bringt, ist der der Verfassungsform (»gouvernement«), die einem »Volk« (»peuple«) oder einer »Nation« zugeordnet ist. Montesquieu unterscheidet bekanntlich drei solche Verfassungsformen: die Republik, die Monarchie, die Despotie.112 Ganz zutreffend hat Raymond Aron, wie vor ihm bereits Ernst Cassirer, den Begriff des »gouvernement« bei Montesquieu mit Max Webers Idealtypen verglichen.113 Wie diese dient er in der Tat dazu, eine Vielheit von Gegebenheiten untereinander in eine gedankliche Beziehung zu bringen und damit zu ordnen. Diese Gegebenheiten sind bei Montesquieu: die »Natur« einer Verfassungsform, von Montesquieu als deren besondere Struktur (»structure particulière«) definiert, sowie ihr »Prinzip«, d.h.: »les passions humaines qui le font mouvoir«, also die Triebkräfte menschlichen Handelns, die eine solche bestimmte Verfassungsform entstehen lassen und sie aufrechterhalten.114 Dazu gehören ferner die physischen Bedingungen eines Landes, also sein Klima, seine Größe und die Beschaffenheit des Bodens. Dazu gehören u. a. die Lebensweise seiner Bewohner, die Wirtschaft, nämlich Handel und Geldwesen, die Bevölkerungszahl, die Religion und die Geschichte (»les exemples des choses passées«),115 ferner die »moeurs« und »manières«, worunter Montesquieu einerseits die inneren Einstellungen der Menschen (»les moeurs«), andererseits ihr äußerliches Verhalten (»les manières«) versteht.116 Alle diese verfassungsmäßigen, politischen, wirtschaftlichen, geistigen, religiösen, sozialen und mentalen Gegebenheiten stehen miteinander in Beziehungen, welche Montesquieu in ihrer Gesamtheit als den »esprit general« bezeichnet.117 Die positiven Gesetze, die Gesetzgebung also, muß sich, wenn sie gut sein soll, mit all diesen Gegebenheiten in einem Verhältnis der Beziehung und Übereinstimmung befinden. Die Beziehungen dieser positiven Gesetze mit allen diesen genannten Gegebenheiten nennt Montesquieu den »esprit des lois«.118 Am Ende des Werkes werden dem systematischen Entwurf schließlich historische und rechtshistorische Überlegungen angefügt. Sie behandeln (in den Büchern XXVII und XXVIII) Entstehung und Wandel des Rechts 236 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
bei den Römern und bei den Franken bzw. den Franzosen, sowie (in den Büchern XXX und XXXI) eine »théorie des lois féodales« im Blick auf die Entstehung der Monarchie in Frankreich und ihre geschichtliche Entwicklung. Hier tritt also zur systematischen Betrachtung jener Verflechtung und wechselseitigen Abhängigkeit religiöser, wirtschaftlicher, politischer, rechtlicher und sozialer Gegebenheiten die historische; mit Montesquieus eigenen, in der Geschichte der Geschichtswissenschaft etwas völlig Neues bezeichnenden Worten ausgedrückt: »Il faut éclairer l'histoire par les lois, et les lois par l'histoire«.119 In diesem Sinne konnte Montesquieu auch sagen, daß seine Ordnung der unendlichen Verschiedenheit der Dinge durch das Ganze der Geschichte bestätigt wird: »Ce que je dis est confirmé par le corps entier de l'histoire«.120 Die von ihm erstellte Ordnung und Einheit der unendlichen Verschiedenheit als gedachte, als erkannte Ordnung ist also in einem umfassenden Sinne historisch begründet. Montesquieu hat somit als erster in die Geschichtswissenschaft eine strukturelle Betrachtung eingeführt, die systematisch und zugleich historisch ist und die in der unendlichen Vielfalt u. a. politischer, sozialer, rechtlicher, ökonomischer und religiöser Gegebenheiten und ihrer Wechselbeziehungen einen neuen Begriff des Ganzen einführt und einführen kann, weil es sich hierbei um ein gedachtes, um ein erkanntes Ganzes handelt. VIII Am Ende dieser Überlegungen ergibt sich nunmehr die Notwendigkeit, einige Verknüpfungen zu schaffen zwischen den hier erörterten einzelnen Phasen und Momenten in der Geschichte jenes dritten Typus der Reflexion über den Teil und das Ganze, der schließlich in den Mittelpunkt der Überlegungen gerückt ist. Diese Verknüpfungen könnten von Pascal und Montesquieu aus in eine ältere Zeit zurückreichen, sie müssen vor allem aber wieder zu unserer eigenen Gegenwart hinlenken, vom 17. und 18. Jahrhundert also wieder zu Georg Simmel, Max Weber und Marc Bloch führen. Für die zeitlich zurückschreitend ausgerichtete Verknüpfung weist Pascals Begriff der »ignorance savante« den Weg. Dieser Begriff entspricht in seiner formalen Prägung wie nach seinem Inhalt dem Begriff der »doeta ignorantia«, in dem im 15. Jahrhundert Nikolaus von Kues seine Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis zusammengefaßt hat.121 Darüber hinaus wird in Umrissen die im 14. Jahrhundert begründete Erkenntnistheorie Wilhelms von Ockham erkennbar, deren Grundannahme, daß der Intellekt nur das Einzelne erkennen könne (singulare intelligitur),122 eine fundamentale Revolution der Denkart bedeutete, weil hiermit dem älteren Kosmos237 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Denken als einem auf das Ganze der Welt im ontischen Sinne gerichteten Denken der Boden entzogen123 und also jener Prozeß in Gang gesetzt wurde, in dem u.a. auch Pascal und Montesquieu und ebenso Max Weber stehen. Wenn wir von den beiden Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts, von Pascal und Montesquieu aus ins 20. Jahrhundert weiterzuschreiten versuchen, so läßt sich von Montesquieu her eine direkte Linie über Emile Durkheim zu Marc Bloch ziehen. Auf die enge Verbindung zwischen dem Denken Montesquieus und dem Denken Emile Durkheims, eines der Begründer der modernen Sozial- und Kulturwissenschaften, weist Durkheim selbst hin, der, wie bereits angedeutet, sein erstes Buch 1892 über Montesquieus Beitrag zur modernen Wissenschaft geschrieben hat.124 In unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Buch über Montesquieu von 1892 steht Durkheims berühmtes Buch über die Grundfragen der Erkenntnis in den modernen Sozialwissenschaften und über ihre methodischen Zugriffe (»Les règies de la méthode sociologique«) von 1895.125 Man kann mit Rene König sagen, daß Durkheims »Regeln« »in mancher Hinsicht« geradezu in »doppelter Weise« existieren, nämlich »einmal als Interpretation von Montesquieu« aus dem Jahr 1892 und »ein zweites Mal« in dem Buch über die »Regeln« von 1895. 126 Was die Bedeutung Durkheims für Marc Bloch und damit für die gesamte französische Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag betrifft, so ist sie bekannt und braucht hier nicht erneut erörtert zu werden.127 Und bei Bloch ist dann ja auch der Ansatzpunkt zu finden für das in Frankreich entwickelte Konzept einer »histoire totale«,128 deren Grundannahmen in Deutschland freilich oft mißverstanden worden sind und noch immer mißverstanden werden, weil ihre Geschichte und Genese hier weitgehend unbekannt sind.129 Wie man an Simmel und Weber ablesen kann, gibt es aber auch in Deutschland eine ausgearbeitete Tradition des wissenschaftlichen, kulturwisscnschaftlichen und geschichtswisscnschaftlichen Denkens, mit denselben Grundannahmen, wie sie jener Art des Denkens eigen sind, das in Frankreich durch Durkheim und Bloch repräsentiert wird. Freilich ist diese deutsche Tradition von der deutschen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert nicht rezipiert worden.130 Die Geschichte der Kulturwissenschaften in Deutschland um 1900 und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat deshalb zwar, so könnte man sagen, ihre Durkheims gehabt, aber sie hat keinen Marc Bloch gefunden. Fragen wir nach der Genese des Standpunkts von Georg Simmel und von Max Weber in ihrer Reflexion über die Erkenntnis oder vielmehr über die Nichterkennbarkeit des geschichtlichen Ganzen und seiner Teile, so zeigt sich freilich sogleich, daß auch diese beiden Autoren einen gemeinsamen Bezugspunkt haben, der wiederum, 238 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
wie im Fall von Durkheim und Bloch, im 18. Jahrhundert liegt: es ist die Erkenntnistheorie Kants. Dazu können am Ende dieser Überlegungen nur noch einige knappe Hinweise gegeben werden, mit denen Kantsche Positionen angedeutet seien, die von Simmel131 wie von Max Weber132 für ihre Theorien der historischen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnis genutzt worden sind. Zum einen gehört dazu die bereits erwähnte Definition der wissenschaftlichen Erkenntnis als einer empirisch gestützten Hypothesenerkenntnis im Sinne der Zweihändigkeit der Vernunft, die ihre Prinzipien setzt und das nach diesen ausgedachte Experiment verwirklicht, d.h. empirisch arbeitet.153 Kant hat dabei keineswegs nur die naturwissenschaftliche Erkenntnis vor Augen, sondern auch die Arbeit des Historikers, wie seine in demselben Text verwendete Metapher vom Zeugenverhör deutlich macht, mit der er den Vorgang wissenschaftlicher Erkenntnis beschreibt. Ein anderer Anknüpfungspunkt sind Kants Ausführungen zur ersten Antinomie der reinen Vernunft. Hier geht es um die Frage, ob die Welt ein endliches Ganzes oder ob sie unendlich sei. Kants Lösung dieser Antinomie wurzelt bekanntlich in der Einsicht in den Erscheinungscharakter der Dinge. Alles was vorkommt, ist Erscheinung, ist Phänomen, ist etwas, das im Licht einer Frage zum Vorschein kommt. Demnach kann die Welt an sich weder als endliches noch als unendliches Ganzes bezeichnet werden; denn alles, was im Raume oder in der Zeit erkannt wird, »mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung«, sind »nichts als Erscheinungen«. Es sind also »die Gegenstände der Erfahrung niemals an sich selbst, sondern nur in der Erfahrung gegeben, und existieren außer derselben gar nicht«, was auch für die »Dinge der vergangenen Zeit« gilt.134 Es gibt demnach auch kein an sich gegebenes und erkennbares Ganzes der Welt als Geschichte, als Gesamtheit der »Reihe aller vergangenen Weltzustände«.135 Die Welt, die »weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich endliches Ganzes« existiert, ist »nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und für sich selbst gar nicht anzutreffen«. Was bleibt, ist also der Begriff der Welt als ein regulatives Prinzip der Vernunft zur Lenkung unseres Fortschreitens durch Erfahrung ins Unabsehbare, als ein »Prinzipium der Vernunft, welches, als Regel, postuliert, was von uns im Regressus geschehen soll«, nicht aber »antizipiert, was im Objekte vor allem Regressus an sich gegeben ist«, als ein »Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung, nach welchem keine empirische Grenze für [eine] absolute Grenze gelten muß«.136 Hieraus ergibt sich Kants Klärung des Begriffs der Unendlichkeit des wissenschaftlichen Fragens. Er definiert ihn im Sinne eines Regressus in indefinitum, d. h. »in unbestimmbare Weite«, weil »niemals ein empirischer Grund angetroffen« wird, »die Reihe irgendwo für begrenzt zu halten«: »So weit wir 239 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
auch in der Reihe der empirischen Bedingungen gekommen sein mögen«, es gibt »nirgend eine absolute Grenze«, sondern wir müssen »jede Erscheinung, als bedingt, einer anderen, als ihrer Bedingung, unterordnen, zu dieser also ferner fortschreiten«.137 In eben diesem kantischen Sinne des Indefiniten, d.h. der »unbestimmbaren Weite«, im Sinne dieser kantischen Bestimmung der Erkenntnis als eines Fortschreitens ins Unabsehbare spricht auch Max Weber von der kulturwissenschaftlichen und historischen Erkenntnis als einem Fortschreiten »in das Unendliche«.138 Er meint damit die prinzipielle Möglichkeit der unablässigen Vermehrung und Erweiterung des Wissens und die sich daraus ergebende prinzipielle Unübersehbarkeit der empirisch erforschbaren Welt auch in ihren geschichtlichen Dimensionen, wobei diese Wissenschaft gerade wegen dieser prinzipiellen Unübersehbarkeit immer spezialistisch bleiben muß. Diese Präzisierung des Begriffs der modernen Wissenschaft als einer ins Indefinite, in eine unbestimmbare Weite fortschreitenden, empirisch vorgehenden Hypothesenerkenntnis mag manchen enttäuschen, der gerade von der Wissenschaft erwartet, daß sie das Ganze der Welt als Geschichte, daß sie die absoluten Gesetze dieser Geschichte in ihrer Totalität absolut und d. h. in Wahrheit zu erkennen vermöge. Dieser Behauptung oder auch nur Forderung absoluter Erkenntnis der Geschichte als Ganzes wird man freilich entgegenhalten müssen, daß sie den Nachweis solcher Fähigkeiten in der Regel schuldig bleiben muß, es sei denn, sie erklärt die Frage nach der »Wirklichkeit oder NichtWirklichkeit des Denkens« zu einer »scholastischen« Frage und schiebt sie damit als unnütz und irrelevant beiseite,139 oder sie stellt sich bewußt wieder auf den vorkritischen Standort einer Begründung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis durch Metaphysik oder Religion.140 Damit freilich wäre jener Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis negiert, in dessen Folge jene Form moderner Wissenschaft entstanden ist, die man Forschung nennt.
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Anmerkungen
Es werden folgende Abkürzungen verwendet: HZ = Historische Zeitschrift; GG = Geschichte und Gesellschaft.
Einleitung 1 W. Lepenies, Wissenschaftsgeschichte und Disziplingeschichte, in: GG 4, 1978, S. 437—451; Ders., Vergangenheit und Zukunft der Wissenschaftsgeschichte - Das Werk Gaston Bachelards, in: G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1978, S. 7-34; Ders., Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung, in: C. Burrichter (Hg.), Grundlegung der historischen Wissenschaftsforschung, Basel 1979, S. 23-47. 2 Vgl. W. Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985. 3 Lepenies, Vergangenheit und Zukunft der Wissenschaftsgeschichte (wie Anm. 1), S. 30f. 4 Vgl. J. Bollack, Die kritische Potenz der Wissenschaftsgeschichte, in: Ch. König u. E. Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910-1925, Frankfurt a.M. 1993, S. 111-120. 5 Dazu F. Tenbruck, Wie kann man die Geschichte der Sozialwissenschaft in den 20er Jahren schreiben?, in: K. W. Nörr u.a. (Hg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 23-46. 6 Dazu in diesem Band der Beitrag »Der Teil und das Ganze«, S. 238ff. 7 Vgl. O. G. Oexle, Memoria als Kultur, in: Ders. (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 9-78, S. 9ff. und 69ff. 8 O. G. Oexle, Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Kulturgeschichte Heute, hg. v. W. Hardtwig u. H.-U. Wehler (= GG, Sonderheft 16, 1996), S. 14-40. 9 S. dazu in diesem Band den Beitrag »Das Mittelalter als Waffe«, S. 163ff. 10 Darüber U. Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a.M. 1995; O. G. Oexle, Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß, in: M. Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, München 1995, S. 89-127. 11 R. Chartier, L'Histoire Culturelle entre »Linguistic Turn« et Retour au Sujet, in: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf Vierhaus und Roger Chartier, hg. v. H. Lehmann, Göttingen 1995, S. 29-58, S. 49. 12 Darüber auch A. Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 19942. Von Seiten der Literaturwissenschaft zuletzt M. Baßler u.a. (Hg.), Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996. 13 Dazu der Beitrag »Der Teil und das Ganze«, in diesem Band, S. 216ff.
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Anmerkungen zu S. 11-15 14 E. Troeltsch, Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau 1, 1922, S. 572-590. Dazu in diesem Band der Beitrag »Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivieätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus«, S. 78ff. 15 Dazu jetzt A. Germer, Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches, Göttingen 1994. 16 Vgl. in diesem Band den Beitrag »Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus«, S. 17ff. 17 R. Kany, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, S. 4. 18 Vgl. den Beitrag »Das Mittelalter als Waffe«, in diesem Band, S. 186, 191ff. S. auch K. Lichtblau, Auf der Suche nach einer neuen Kultursynthese. Zur Genealogie der Wissenssoziologie Max Schelers und Karl Mannheims, in: Sociologia Internationalis 30, 1992, S. 1-33. 19 Dazu in diesem Band der Beitrag »Das Mittelalter als Waffe«, Abschnitt I, und O. G. Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte (im Druck; erscheint 1997). 20 Dazu M. Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a.M. 1982, S. 153ff. und 188ff. 21 S. in diesem Band bes. die Beiträge »Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne« und »Das Mittelalter als Waffe«. 22 S. den Beitrag »Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne«, Abschnitt IV. 23 S. den Beitrag »Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus«. 24 Dazu jetzt Germer, Wissenschaft und Leben (wie Anm. 15). 25 M. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a.M. 1984. 26 So M. Frank, Conditio moderna. Essays, Reden, Programm, Leipzig 1993, S. 13, vgl. ebd., S. 119-139, den Essay »Politische Aspekte des neufranzösischen Denkens«. 27 Dazu in diesem Band, S. 34ff. 28 Dazu Oexle, Geschichte als Historische Kulturwissenschaft (wie Anm. 8), S. 39ff. Vgl. Ders., Sehnsucht nach Klio. Hayden Whites ›Metahistory‹ - und wie man darüber hinweg kommt, in: Rechtshistorisches Journal 11, 1992, S. 1-18, S. 10ff. 29 Vgl. den Beitrag »Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus«, in diesem Band, S. 34ff. 30 Dazu Oexle, Geschichte als Historische Kulturwissenschaft (wie Anm. 8), S. 37ff. 31 M. Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19825, S. 166, 184 und 206. 32 Vgl. D. van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993. 33 Dazu B. Rüthers, Kontinuitäten. Zur Wirkungsgeschichte von Carl Schmitt in der Bundesrepublik Deutschland, in: Rechtshistorisches Journal 13, 1994, S. 142-164. 34 Dazu auch die Befunde, Fragen und Anregungen von O. Lepsius, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisverfahren in den Geisteswissenschaften der Weimarer Republik, in: Ius Commune 22, 1995, S. 283-310.
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Anmerkungen zu S. 17-20
1. Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung 1 Vgl. H. Rombach, Wissenschaft und Wissenschaftstheorie, in: Ders. (Hg.), Wisscnschaftstheorie 1, Freiburg 1974, S. 9ff. 2 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (Gesammelte Schriften 3) (1922), Nachdruck Aalen 1961, S. 9; vgl. S.102. 3 B. Croce, Der Historismus und seine Geschichte, in: Ders., Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Bern 1944, S. 107. 4 K. Mannheim, Historismus (1924), wieder abgedruckt in: Ders., Wissenssoziologie, hg. v. K. H. Wolff, Berlin 1964, S. 246. 5 Zu diesem Begriff des ›Wissens‹ vgl. P. L. Berger u. Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1969. 6 Über diese »Zweiseitigkeit« oder »Zweidimensionalität« des Erkenntnisprozesses, durch die »erst Wissenschaft zu Wissenschaft wird«, vgl. Rombach, Wissenschaft (wie Anm. 1), S. 9f. 7 Zu diesem Begriff von ›Forschung‹ H. Rombach, Wissenschaft, Forschung, Theorie, in: Ders. (Hg.), Wissenschaftstheoric 2, Freiburg 1974, S. 13ff. - Der Begriff der Unendlichkeit wird im Folgenden nicht im mathematischen Sinne verwendet, also nicht im Sinne der notwendigen Unendlichkeit (Unabschließbarkeit) des Zahlenkontinuums. Er meint vielmehr die Fakten-Unendlichkeit des welthaften Seienden, d.h. die prinzipielle Möglichkeit seiner unendlichen Vermehrung und Erweiterung, aus der sich seine prinzipielle Unübersehbarkeit ergibt. 8 Vgl. die Zusammenfassung von F. Krafft, Die Stellung des Menschen im Universum. Ein Kapitel aus der Geschichte der abendländischen Kosmologie, in: Die Technikgeschichte als Vorbild moderner Technik, Füssen 1979, S. 11ff. 9 Dieser Prozeß wurde dargestellt unter dem Aspekt der Erkenntnistheorie von E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906ff., 1922 3 ), 4 Bde., Nachdruck Darmstadt 1973/74, und unter dem Aspekt der Ontologie von H. Rombach, Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Freiburg 1965/66, 19812. 10 Die Begriffsgeschichte des Wortes ›Forschung« zeigt, daß dieser Kollektivsingular an der Wende vom 18. zum 19. Jh. in Erschcinung tritt: W. Hardtwig, Konzeption und Begriff der Forschung in der deutschen Historie des 19. Jahrhunderts, in: A. Diemer (Hg.), Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Meisenheim a.G. 1978, S. 11ff. Allerdings gewinnt in der Geschichtswissenschaft der Begriff erst bei J . G. Droysen eine zentrale Bedeutung (ebd., S. 19ff.). Vgl. dazu unten nach Anm. 94. 11 Ein repräsentativer Zeuge jener Zeitstimmung ist die in traditioneller Weise positivistisch orientierte Schrift von K. Steinbuch, Falsch programmiert, Stuttgart 1968 (auch als Taschenbuch, München 1969). Vor dem Hintergrund einer Diffamierung der geisteswissenschaftlichen sog. »Hinterwelt« wird für die Zukunft das Modell eines »Kybernetischen Staates« propagiert. 12 Zum Problem der Geschichtlichkeit der Wissenschaft und seiner Interpretation vgl. H. Rombach, Die Geschichtlichkeit der Wissenschaft, in: Ders. (Hg.), Wissenschaftstheorie 1 (wie Anm. 1), S. 114ff.; W. Lepenies, Wissenschaftsgeschichte und Disziplingeschichte, in: GG 4, 1978, S. 437ff. 13 Vgl. H. Schipperges, Utopien der Medizin. Geschichte und Kritik der ärztlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts, Salzburg 1968, S. 31ff.
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Anmerkungen zu S. 20-23 14 Ebd., S. 34. 15 Vgl. M. Riedel, Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 7: 19. Jahrhundert. Positivismus, Historismus, Hermeneutik, Stuttgart 1981, S. 266ff. 16 H. van den Boom, Logischer Positivismus und Wiener Kreis, in: Rombach (Hg.), Wissenschartstheorie 1 (wie Anm. 1), S. 56f. Von dieser Position ist es nur ein Schritt zu der »naiven Auffassung«, der sich »das Erkennen als ein Prozeß« darstellt, »in dem wir uns eine an sich vorhandene, geordnete und gegliederte Wirklichkeit nachbildend zum Bewußtsein bringen« (Cassirer, Das Erkenntnisproblem, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 1). Vgl. auch H. Rombach, Wissenschaftstheorie und Philosophie, in: Ders. (Hg.), Wissenschartstheorie 1 (wie Anm. 1), S. 17. Zu diesem ›Trivialpositivismus‹ oder ›Trivialobiektivismus‹ vgl. auch unten, Anm. 70. 17 Die Kontroverse von ›Empirismus« und ›Rationalismus‹ in der frühen Neuzeit ist einer der drei großen ›Methodenstreite‹ der europäischen Wissenschartsgeschichte, neben dem mittelalterlichen ›Universalienstreit‹ und dem modernen ›Positivismusstreit‹ in seinen verschiedenen Phasen und Ausformungen. Vgl. J. Mittelstraß, Rationalismus - Empirismus (Leibniz - Clarke), in: Rombach (Hg.), Wissenschaftstheorie 1 (wie Anm. 1), S. 29ff., mit der Feststellung: »Keine erkenntnistheoretische Kontroverse hat sich so bestimmend auf die Methodendiskussion des neuzeitlichen Denkens ausgewirkt wie die zwischen Rationalismus und Empirismus« (S. 29). Vgl. Ders., Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin 1970, S. 287ff. und 460ff. 18 Zitiert bei Schipperges, Utopien der Medizin (wie Anm. 13), S. 36. 19 Zum Begriff des ›Objektivismus‹ als der ›naiven‹ Auffassung von der Erkenntnis als einer Wiedergabe realer Gegebenheiten vgl. die oben, Anm. 16, gegebenen Hinweise von E. Cassirer und H. Rombach. Zum Begriff des ›Objektivismus‹ bei E. Husserl s. unten, Anm. 52. 20 Der »Cours de philosophie positive« von A. Comte erschien in den Jahren 1830/42. 21 R. Koselleck, Art. »Fortschritt«, in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe 2, Stuttgart 1975, S. 407f. 22 Über A. Comte als »Sozialreformer« und »Religionsgründer« R. Aron, Les étapes de la pensée sociologique, Paris 1967, S. 79ff., bes. S. 166ff. Über Wissenschaftsglauben und »Fortschritt als Entzauberung« bei Comte vgl. O. Massing, Auguste Comte, in: D. Käster (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens 1, München 1976, S. 37ff. 23 Zitiert bei Schipperges, Utopien der Medizin (wie Anm. 13), S. 107. 24 Ebd., S. 114. 25 S. unten, Abschnitt III. Zum Ranke-Zitat unten, Anm. 48. 26 F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 3. Aufl. 1886, in: Werkein drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. 1, München 1966, S. 10. 27 Ebd., S. 95 und 101. 28 »Götzen-Dämmerung«, Werke, Bd. 2, München 1966, S. 988. 29 »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, Werke, Bd. 3, München 1966, S. 319. 30 »Jenseits von Gut und Böse«, Werke, Bd. 2, S. 665; »Zur Genealogie der Moral«, ebd., S. 854. 31 Vgl. Schipperges, Utopien der Medizin (wie Anm. 13), S. 146. 32 »Die fröhliche Wissenschaft«, Werke, Bd. 2, S. 222. 33 »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, Werke, Bd. 1, S. 282. 34 Ebd., S. 209. 35 Ebd., S. 210. 36 H. Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg 1974, S. 19ff., traf die Unterscheidung von ›Historismus 1‹, = das Betreiben der
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Anmerkungen zu S. 23-24 Geschichtswissenschaft um ihrer selbst willen, d.h. als »praktischer geisteswissenschaftlicher Positivismus in der historischen Forschung« (S. 20); ›Historismus 2‹, = »historischer Relativismus« (S. 21); ›Historismus 3‹, = der »Prozeß der ›grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens‹« im Sinne von E. Troeltsch (S. 22; s. oben, Anm. 2). Nietzsche habe sich nur mit ›Historismus 1‹ auseinandergesetzt (S. 20). Dies trifft nicht zu. Vielmehr umfaßt Nietzsches Kritik bereits alle drei Aspekte des Historismusproblems. 37 Eine sehr treffende Beschreibung des Historismus und des Historismusproblems gab bereits 1844 F. Th. Vischer: »Wir malen Götter und Madonnen, Heroen und Bauern, so wie wir griechisch, byzantinisch, maurisch, gotisch, florentinisch, à la Renaissance, Rococo bauen und nur in keinem Stil, der unser wäre. Wir malen, was der Welt Brief ausweist; wir sind der Herr Überall und Nirgends ... Reflektierend und wählend steht jetzt der Künstler über allen Stoffen, die jemals vorhanden waren, und sieht den Wald vor Bäumen nicht« (Kritische Gänge 1, Tübingen 1844, S. 210). Eine meisterhafte Beschreibung und Analyse des Kunst-Historismus des 19. Jahrhunderts bietet W. Hofmarin, Das Irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, München 19742. Zum Architekturhistorismus H. Gollwitzer, Zum Fragenkreis Architckturhistorismus und politische Ideologie, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 42, 1979, S. 1ff 38 »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (wie Anm. 33), S. 232. 39 Ebd., S. 231. 40 Ebd., S. 231; die Historie zeige ein »unüberschaubares Schauspiel«, das »noch kein Geschlecht« gesehen habe, und sie zeige es »mit der gefährlichen Kühnheit ihres Wahlspruches: fiat Veritas pereat vita« (ebd.). 41 E. Troeltsch, Das Neunzehnte Jahrhundert (1913), in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie (Gesammelte Schriften 4), Tübingen 1925, S. 628: über die Historie, die durch den »Wegfall aller festen Normen und Ideale« zum »reinen Historismus« wird, »zur völlig relativistischen Wiedererweckung beliebiger vergangener Bildungen mit dem lastenden und ermüdenden Eindruck historischer Aller-Welts-Kenntnis und skeptischer Unproduktivität für die Gegenwart. Dann vereinigen sich die lähmenden Wirkungen des naturalistischen Determinismus mit den nicht minder entnervenden Wirkungen des historischen Relativismus«. 42 S. oben, Anm. 2 und 41. 43 Vgl. die Beschreibung des Historismus und des Historismusproblems bei F. Th. Vischer (1844), oben Anm. 37. 44 »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (wie Anm. 33), S. 237. 45 Ebd., S. 219. 46 Ebd., S. 231 und 218. 47 Ebd., S. 219 und 229. 48 L. von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514 (1824), hier zitiert nach den »Sämtlichen Werken«, Zweite Gesamtausgabe, Bd. 33/34, Leipzig 1874, S. VII. 49 F. H. Tenbruck, Wahrheit und Mission, in: H. Baier (Hg.), Freiheit und Sachzwang. Beiträge zu Ehren Helmut Schelskys, Opladen 1977, S. 49ff; über »Wissenschaft als Mission«(!) hier S. 62ff. 50 Die Auseinandersetzung über das Verhältnis von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ wurde bereits im frühen 19. Jh. geführt, vor allem in der Theologie (›Leben-Jesu-Forschung«). 51 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Philosophische Bibliothek 292), Hamburg 1977. 52 Zum ›Objcktivismus‹-Begriff Husserls vgl. ebd., S. 75: »Das Charakteristische des
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Anmerkungen zu S. 24-28 Objektivismus ist, daß er sich auf dem Boden der durch Erfahrung selbstverständlich vorgegebenen Welt bewegt und nach ihrer ›objektiven Wahrheit‹ fragt, nach dem für sie unbedingt, für jeden Vernünftigen Gültigen, nach dem, was sie an sich ist«. 53 Ebd., S. 3f. 54 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg.v.J. Winckelmann, Tübingen 19683, S. 582ff. Zum Zeit- und Lebenshintergrund M. R. Lepsius, Max Weber in München, in: Zeitschrift für Soziologie 6, 1977, S. 103ff. Zur Interpretation von Max Webers Wissenschafts- und Erkenntnistheorie die treffende, ältere und neuere Mißverständnisse zurechtrückende Zusammenfassung von J. Kocka, Kontroversen über Max Weber, in: Neue politische Literatur 2 1, 1976, S. 288ff. 55 »Wissenschaft als Beruf« (wie Anm. 54), S. 592. Vgl. auch Max Weber, Die ›Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 146ff., hier S. 206: »Es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe«. 56 »Wissenschaft als Beruf« (wie Anm. 54), S. 593. 57 Ebd., S. 588f. 58 Ebd., S. 607. 59 Ebd., S. 598. 60 Ebd., S. 599f. 61 Vgl. die Bemerkungen Webers über »den Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkenntnislehre, daß die Begriffe ... gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können«, im Gegensatz zur »antik-scholastischen Erkenntnislehre, welche denn auch der Masse der Spezialarbeiter der historischen Schule noch tief im Blute steckt«, wonach der »Zweck der Begriffe« sei, »vorstellungsmäßige Abbilder der ›objektiven‹ Wirklichkeit zu sein« (in: Die ›Objektivität‹, wie Anm. 55, S. 208). Von dieser erkenntnistheoretischen Grundlage aus hat Max Weber sein Konzept des ›Idealtypus‹ entwickelt, der nicht die empirische Wirklichkeit ist, diese auch nicht abbildet, sondern sie »denkend ordnen« läßt (S. 213), d.h. der Hypothesenbildung »die Richtung weist« (S. 190). Zur Genese dieses Konzepts idealtypischen Vorgehens schon seit 1891 D. Käsler, Max Weber, in: Ders. (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens 2, München 1978, S. 147ff. 62 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Philosophische Bibliothek 37a), Hamburg 1976, S. 17ff. Vgl. Rombach, Substanz, System, Struktur (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 395ff., bes. S. 405. 63 Vgl. die Feststellung von Rombach, Wissenschaft, Forschung, Theorie (wie Anm. 7), S. 15: »Forschung ist daher identisch mit Hypothesenlehre, denn Hypothesenlehre ist identisch mit Experimentaterkenntnis«. 64 S. oben, bei Anm. 13. 65 Dies ist die Position des ›empirischen Rationalismus‹ (Rombach, Wissenschaft, Forschung, Theorie, wie Anm. 7, S. 14) oder ›hypothetischen Realismus‹ (G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1975, S. 34ff. und 118ff.). In derselben Richtung liegen die Orientierungen von K. Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg 19792. 66 Wissenschaft als Forschung ist also nicht ›subjektivistisch‹, wie der von allen ›objektivistischen‹ Positionen aus (s. unten, Abschnitt III) übereinstimmend erhobene Vorwurf lautet. Wissenschaft als Forschung steht jenseits der ›objektivistischem Objektivismus/Subjektivismus-Alternative. Vgl. dazu auch unten, Anm. 112, und vor allem die klärenden Hinweise zum
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Anmerkungen zu S. 28-29 angeblichen »Subjektivismus« und »Objekt-Verlust« Max Webers bei Kocka, Kontroversen über Max Weber (wie Anm. 54), S. 288ff. (u.a. gegen die Interpretationen W. J . Mommsens). 67 Vgl. da/u die Bemerkungen Max Webers über ›Bescheidenheit«, d.h. »schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit«, als wissenschaftliche Haltung: Wissenschaft als Beruf (wie Anm. 54), S. 607ff., das Zitat S. 613. 68 Dazu bereits Cassirer, Das Erkenntnisproblem (wie Anm. 9), Bd. 4, S. 238f., der im Blick auf Kants »Revolution der Denkart« (s. oben im Text, nach Anm. 61) feststellte: »Wenn dies für die Physik gilt, so gilt es in noch weit höherem Maße für die Geschichte« (S. 239). 69 Vgl. Troeltsch, Der Historismus (wie Anm. 2), S. 371ff., und Cassirer, Das Erkenntnisproblem (wie Anm. 9), Bd. 4, S. 250ff. Außerdem H.-I. Marrou, De la connaissance historique (1954); deutsch unter dem Titel »Über die historische Erkenntnis«, Freiburg 1973, S. 63ff. 70 Zum Positivismus Karl Lamprechts bereits Troeltsch, Der Historismus (wie Anm. 2), S. 459ff. (mit der Parallele zu Hippolyte Taine). Neuerdings K. H. Metz, Grundformen historiographischen Denkens, München 1979, S. 424ff. Verbreiteter als der explizite Positivismus ist der ›Trivialpositivismus‹, dessen Grundannahme E. Cassirer treffend charakterisiert hat, s. oben, Anm. 16. Zum ›Trivialpositivismus‹ vgl. auch F. Graus, Die Einheit der Geschichte, in: HZ 231, 1980, S. 631ff., bes. S. 635. 71 K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 5. 72 Dasselbe ergibt sich aus der Begründung der historischen Erkenntnis durch Unterscheidung der »realen Existenz«, der »innern, wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt« der Geschichte, des »Wesens der Dinge«, von der »Erscheinungsform«, d.h. der »Oberfläche«: Das Kapital, 3. Band, K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 25, Berlin 1964, S. 219 und 825. Hier wird mit der aus der klassischen Metaphysik stammenden Unterscheidung von ›Wesen‹ und ›Akzidens‹ gearbeitet (vgl. auch unten, Anm. 86), wobei diese Begründung von ›Substanz‹oder ›Wesens‹-Erkenntnis natürlich ohne metaphysische Begründung verstanden sein will. Von hier aus zeigen sich deutlich die Grenzen aller Versuche, die Wissenschaftsauffassung von Karl Marx und die von Max Weber zu vermitteln: Substanz-Erkenntnis und PhänomenErkenntnis sind nicht vermittelbar, weil sich historisch diese im Gegensatz zu jener ausgeformt hat (s. oben im Text, nach Anm. 7). Zum Problem vgl. J. Kocka, Karl Marx und Max Weber im Vergleich. Sozialwissenschaften zwischen Dogmatismus und Dezisionismus, in: H.-U. Wehler (Hg.), Geschichte und Ökonomie, Köln 1973, S. 54ff. 73 Vgl. die traditionellen Darstellungen von T. Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie, Berlin 1973; S. L. Rubinstein, Sein und Bewußtsein, Berlin 19663; H. Crüger, Der Verlust des Objektiven. Zum Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart in der historischen Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1975. 74 P. Bollhagen, in: W. Eckermann u. H. Mohr (Hg.), Einführung in das Studium der Geschichte, Berlin 19692, S. 243. In der Neubearbeitung dieses Werks (Berlin 19793) behandelt H.-P. Jaeck (S. 215ff.) die Problematik sehr viel differenzierter, indem er in einer an Max Weber und J. G. Droysen erinnernden Weise »das Problem als Ausgangspunkt geschichtswissenschaftlicher Forschung« darstellt, d.h. Wissenschaft zunächst als empirisch vorgehendes Hypothesenwissen erörtert (die Berufung auf Droysen S. 223f.), das auch aus ›Lebens‹Zusammenhängen resultiert. Gleichwohl wird dann S. 227 erklärt, daß wissenschaftliche Erkenntnis »nur auf der Grundlage erkannter Gesetze« möglich sei, also »allgemein-notwendiger, d.h. wiederholbarer und wesentlicher, d.h. den Charakter der Erscheinung bestimmender Zusammenhänge«, welche »objektiv existieren«. 75 Der Begriff des ›erkenntnistheoretischen Paars‹ stammt von G. Bachelard, vgl. P. Bourdieu u. J.-Cl. Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit, Stuttgart 1971, S. 13.
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Anmerkungen zu S. 29-31 76 S. oben, Anm. 48. 77 L. von Ranke, Englische Geschichte, Bd. 2, 1860, hier zitiert nach den »Sämtlichen Werken«, Zweite Gesamtausgabe, Bd. 15, Leipzig 1877, S. 103. 78 L. von Ranke, Einleitung zu den »Analecten der englischen Geschichte«, Sämtliche Werke, Zweite Gesamtausgabe, Bd. 21, Leipzig 1877, S. 114. 79 L. von Ranke, Idee der Universalhistorie, hg. v. E. Kessel, in: HZ 178, 1954, S. 296. Vgl. ebd., S. 300: »Es erhebt sich nur Gestalt neben Gestalt, Leben neben Leben, Wirkung und Gegenwirkung. Unsre Aufgabe ist es, sie bis auf den Grund ihrer Existenz zu durchdringen und mit völliger Objektivität darzustellen.« Vgl. Cassirer, Das Erkenntnisproblem (wie Anm. 9), Bd. 4, S. 238ff., und R. Vierhaus, Rankes Begriff der historischen Objektivität, in: R. Koselleck u.a. (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, S. 63ff. 80 W. von Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers, in: Ders., Werke, hg. v. A. Flitner u. K. Giel, Bd. 1, Darmstadt 19692, S. 585ff. 81 Ebd., S. 585. 82 Ebd., S. 586. 83 Ebd., S. 586f. 84 Ebd., S. 587. 85 Ebd., S. 603ff. 86 Ebd., S. 590. Auch hier begegnet also die Unterscheidung des ›Wesens‹ (der »wahren Gestalt«) von der »oberflächlichen Erscheinung« (S. 590f.); s. oben, Anm. 72. 87 Ebd., S. 605. 88 L. von Ranke, Politisches Gespräch (1836), in: Ders., Die großen Mächte, Politisches Gespräch, hg. v. Th. Schieder, Göttingen 1958, S. 61. 89 Idee der Universalhistorie (wie Anm. 79), S. 295. Vgl. Vierhaus, Rankes Begriff der historischen Objektivität (wie Anm. 79), S. 69f. 90 F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus (1936), in: Ders., Werke, Bd. 3, hg. v. C. Hinrichs, München 19654. Danach ebenso G. G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, S. 43ff., 62ff., 86ff., sowie W. J . Mommsen (s. unten, Anm. 129). 91 Th. Nipperdey, Historismus und Historismuskritik heute (1975), wieder abgedruckt in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 59ff. Zu den neueren Diskussionen über den Begriff des ›Historismus‹ vgl. U. Muhlack, Empirisch-rationaler Historismus, in: HZ 232, 1981, S. 605ff. 92 S. unten, S. 49f. 93 J. G. Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), hg. v. P. Leyh, Stuttgart 1977. Die Charakterisierung der »Historik« als »Wissenschaftslehre der Geschichte« ebd., S. 44. 94 Im folgenden wird die »Historik« Droysens einerseits von deren erstem Teil, der ›Methodik‹ her erläutert, nicht von der ›Systematik des zweiten Teils her; umgekehrt verfährt J. Kohlstrunk, Logik und Historie in Droysens Geschichtstheorie. Eine Analyse von Genese und Konstitutionsprinzipten seiner »Historik«, Wiesbaden 1980. Andererseits wird Droysens »Historik« hier transzendentalphilosophisch und nicht hermeneutisch (vom ›Vcrstehens‹Begriff her) interpretiert. Vgl. dazu auch die treffenden Bemerkungen von Hardtwig, Konzeption und Begriff der Forschung (wie Anm. 10), S. 20f. mit Anm. 40. Eine von der ›Systematik‹ her konzipierte und auf den ›Verstehens‹-Begriff der Hermeneutik abhebende DroysenInterpretation bei J. Rüsen, Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J . G. Droysens, Paderborn 1969, bes. S. 117ff., und ebenso bei H.-G. Gadamer,
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Anmerkungen zu S. 31-34 Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 19652, S. 199ff. 95 Vorlesungen von 1857 (wie Anm. 93), S. 8. 96 Ebd. 97 Ebd., S. 9. 98 Grundriß der Historik von 1857/58, § 1, S. 379. 99 Grundriß der Historik von 1882, § 15, S. 425. 100 Grundriß der Historik von 1857/58, § 2, S. 397. 101 Ebd., § 3, S. 397. 102 Zu Droysens Begriff der Forschung vgl. Hardtwig, Konzeption und Begriff der Forschung (wie Anm. 10), S. 19ff. 103 Vgl. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (Philosophische Bibliothek 40), Hamburg 1976, S. 77f. § 36. Zum Bezug Droysens auf Kant vgl. die Vorlesungen von 1857, S. 53. 104 Grundriß von 1857/58, § 6, S. 398. 105 Vorlesungen von 1857, S. 14. 106 Ebd. 107 Grundriß von 1882, § 9, S. 423. 108 Grundriß von 1857/58, § 15, S. 399. 109 Vorlesungen von 1857, S. 10. 110 Dazu G. Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland, in: HZ 208, 1969, S. 320ff.; M. Viikari, Die Krise der »historistischen« Geschichtsschreibung und die Geschichtsmethodologie Karl Lamprechts, Helsinki 1977, S. 217ff.; R. vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890-1914), Husum 1980, S. 367ff. Eine merkwürdige Analogie zum Lamprecht-Streit, in dem es um den Gegensatz von ›idealistischem‹ und ›positivistischen‹ Objektivismus ging, bildet Lenins Auseinandersetzung mit dem Empiriokritizismus, d.h. der positivistischen Theorie von E. Mach: W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus (1909), Werke, Bd. 14, Berlin 1968. 111 Auch in Frankreich gab es um 1900 einen ›Methodenstreit‹, der allerdings einen anderen Charakter hatte und zu anderen Ergebnissen führte, weil es sich um eine Auseinandersetzung zwischen dem damals in der Geschichtswissenschaft herrschenden Positivismus (s. oben, Anm. 69) und der von E. Durkheim vertretenen epistemologischen Richtung (s. unten, Anm. 114 und 115) handelte. 112 Wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswert ist die Übereinstimmung der materialistischen (marxistischen) und der idealistischen Kritik an Max Weber (z.B. durch H. Freyer) im Vorwurf des Subjektivismus« (vgl. oben, Anm. 66). Dazu A. Zingerle, Max Webers historische Soziologie, Darmstadt 1981, S. 31, 35 mit Anm. 13. Vgl. auch J. Weiss, Das Werk Max Webers in der marxistischen Rezeption und Kritik, Opladen 1981. 113 G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie (1892), hier zitiert nach der 4. Aufl., München 1922. Simmel beabsichtigt eine »Kritik des historischen Realismus, für den die Geschichtswissenschaft ein Spiegelbild des Geschehenen ›wie es wirklich war‹ bedeutet« (S. V), und zwar in Parallele zu Kants Frage, wie ›Natur‹ möglich sei (S. VI). Dazu H.-J. Dahme, Soziologie als exakte Wissenschaft. Georg Simmeis Ansatz und seine Bedeutung in der gegenwärtigen Soziologie, Bd. 2, Stuttgart 1981, S. 303ff; hier bes. die Ausführungen über ›Relativismus‹ und ›Relationalismus‹, S. 316ff. 114 É. Durkheim, Les règies de la méthode sociologique (1894/95), hier zitiert nach der
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Anmerkungen zu S. 34-35 Ausgabe Paris 198120, S. 34f.: »La premiere demarche du sociologue doit done être de définir les choses dont il traite, ... C'est la premiere et la plus indispensable condition de toute preuve et de toute verification; une théorie, en effet, ne peut être contrôlée que si l'on sait reconnaitre les faits dont elle doit rendre compte. De plus, puisque e'est par cette definition initiale qu'est constitué l'objet mème de la science, celui-ei sera une chose on non, suivant la manière dont cette définition sera faite ... D'où la règle suivante: Ne jamais prendre pour objet de recherches qu'un groupe de phénomènes préalablement définis par certains caractères extérieurs qui leur sont communs et comprendre dans la meine recherche tons ceux qui répondent à cette définition.« Dazu Aron, Les étapes de la pensée sociologique (wie Anm. 22), S. 362ff., und R. König, Emile Durkheim zur Diskussion. Jenseits von Dogmatismus und Skepsis, München 1978, S. 140ff. 115 Durkheims erstes Buch ist seine lateinisch geschriebene These über den Beitrag Montesquieus zur Begründung der Sozialwissenschaft und Politikwissenschaft (»Quid Secundatus Politicae Scientiae Instituendae Contulerit«, Bordeaux 1892). »Man könnte also in mancher Hinsicht sagen, daß die ›Regeln‹ in doppelter Weise existieren, einmal als Interpretation von Montesquieu und ein zweites Mal in dem gemeinhin allein zitierten Buche von 1894/95« (König, Emile Durkheim zur Diskussion, wie Anm. 114, S. 142). Zu Montesquieu s. unten, Anm. 137. 116 Vgl. W. Heisenberg, Die Relativitätstheorie, in: Ders., Physik und Philosophie, Stuttgart 19783, S. 99ff., bes. S. 103ff. Über die relationale Auffassung von Raum und Zeit bei Leibniz (bes. in seiner Kontroverse mit Clarke über Newtons These des ›absoluten‹ Raums): Rombach, Substanz, System, Struktur (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 325ff. (›Raum‹ nur »das Beziehungsgeflecht aller räumlichen Dinge«, S. 326) sowie M. Jammer, Das Problem des Raumes, Darmstadt 1960, S. 126ff. Über ›Raum‹ und ›Zeit‹ als Anschauungsformen bei Kant vgl. Cassirer, Das Erkenntnisproblem (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 683ff., und Rombach, Bd. 2, S. 415ff. und 423ff. 117 W. Heisenberg, Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, in: Ders., Physik und Philosophie (wie Anm. 116), S. 27ff. Vgl. M. Jammer, The Conceptual Development of Quantum Mechanics, New York 1974, S. 55ff., 85ff., 1 59ff.; B. Kanitscheider, Philosophie und moderne Physik, Darmstadt 1979, S. 203ff. und 238ff. 118 W. Heisenberg, Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik, in: Zeitschritt für Physik 43, 1927, S. 172ff., das Zitat S. 185. Vgl. G. Rasche, Werner Heisenberg und die moderne Physik, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 30, 1977, bes. S. 2f. Über die Beziehung zu Kants Erkenntnistheorie W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1969, S. 163ff. 119 W. Heisenberg, Die Entwicklung der philosophischen Ideen seit Descartes im Vergleich zu der neuen Lage in der Quantentheorie, in: Ders., Physik und Philosophie (wie Anm. 116), S. 66. 120 Als Äußerung berichtet von Heisenberg, Der Teil und das Ganze (wie Anm. 118), S. 92. Vgl. auch Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft (wie Anm. 65), S. 189ff. und 241f. 121 N. Bohr, Erkenntnistheoretische Fragen in der Physik und die menschlichen Kulturen (1939), in: Ders., Atomphysik und menschliche Erkenntnis, Braunschweig 1958, S. 23ff. Dazu außer den oben, Anm. 117, genannten Titeln auch B. Kanitscheider, Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft, Berlin 1981, S. 169ff. 122 Heisenberg, Der Teil und das Ganze (wie Anm. 118), S. 113. Vgl. ebd., S. 119 mit der treffenden Feststellung: »Der Begriff der Komplementarität ..., den Niels Bohr ... bei der Deutung der Quantentheorie so sehr in den Vordergrund stellt(e), war ja in den Geisteswis-
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Anmerkungen zu S. 35-38 sens-chaften, in der Philosophie keineswegs unbekannt, selbst wenn er nicht so ausdrücklich formuliert worden ist. Daß er in der exakten Naturwissenschaft auftritt, bedeutet aber doch eine entscheidende Veränderung«. 123 Koselleck u.a., Objektivität und Parteilichkeit (wie Anm. 7 9 ) ; J. Kocka u. Th. Nipperdey ( H g . ) , Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979. 124 Die Obsoletheit des Gegensatzes von ›Objektivität‹ und ›Parteilichkeit‹ wird bei Max Weber (in Anlehnung an F. Th. Vischer) reflektiert in der Unterscheidung von »Stoffhuber« und »Sinnhuber« (Die ›Objektivität‹, wie Anm. 55, S. 2 1 4 ) : im einen Fall »die naive Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt« (S. 181); im anderen Fall die Vermischung von wissenschaftlicher Erkenntnis und weltanschaulichem Urteil. Max Webers Position ist - ungeachtet entgegengesetzter Behauptungen - nicht die der sogenannten ›Wertfreiheit‹ schlechthin (»Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche ›Objektivität‹ haben keinerlei innere Verwandtschaft«, S. 157), sondern die der Unterscheidung der Bereiche; er wendet sich gegen die Vermischung der Bereiche und betont die Pflicht zur Deutlichkeit (S. 157f.). 125 Ebenso und mit Hinweis auf Droysen W. Hardtwig, Theorie oder Erzählung - eine falsche Alternative, in: Kocka u. Nipperdey, Theorie und Erzählung (wie Anm. 123), S. 290ff. 126 Dazu R. Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Koselleck u.a., Objektivität und Parteilichkeit (wie Anm. 7 9 ) , S. 39ff. 127 J. G. Droysen, Vorlesungen zur Historik von 1857 (wie Anm. 9 3 ) , S. 3f. 128 S. oben, nach Anm. 89. 129 W. J . Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971. Die Definition von ›Historismus 1‹ hier S. 5; die Identifizierung der beiden ›Historismen‹ mit Berufung auf F. Meinecke hier S. 6f. 130 Davon geht auch Mommsen, ebd., S. 5, aus. 131 Dazu neuerdings auch Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit (wie Anm. 126); E. Hassinger, Empirisch-rationaler Historismus. Seine Ausbildung in der Literatur Westeuropas von Guicciardini bis Saint-Evremond, Bern 1978; F. Wagner, Die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft im 17. Jahrhundert (Bayer. Akad. der Wiss., Phil.-hist. Kl. Sitzungsberichte, Jahrgang 1979 Nr. 2 ) , München 1979. Zu den Veröffentlichungen von Hassinger und Wagner die Besprechung von Muhlack (s. oben, Anm. 9 1 ) . 132 S. oben im Text, nach Anm. 7 mit Anm. 9. 133 S. oben im Text, nach Anm. 1. 134 Damit ergibt sich auch ein anderer Weg als der von E. Troeltsch und F. Meinecke eingeschlagene, welche die ›Krise‹ des Historismus »mit den Mitteln des Historismus« beilegen wollten, nämlich im »Rekurs auf seine metaphysischen und religiösen Grundlagen«: W. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt: Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974, S. 201ff., das Zitat S. 202f. 135 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 263ff. (»Die Eroberung der geschichtlichen Welt«). 136 P. Hazard, La crise de la conscience européenne 1680-1715 ( 1 9 3 5 ) ; deutsch unter dem Titel »Die Krise des europäischen Geistes« ( 1 9 3 9 ) , Hamburg 1965 s . 137 Der ›Relativismus‹ ist grundlegend ausgeprägt in den »Lettres persanes« von 1721. Vgl. B. Falk, Montesquieu, in: H. Maier u.a. ( H g . ) , Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2, München 1968, S. 58 mit Anm. 24. Zum kulturellen Zeithintergrund Hazard, Die Krise (wie
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Anmerkungen zu S. 38-40 Anm. 136), S. 42ff. Zum ›Relationalismus‹ Montesquieus, vor allem im »Esprit des lois« von 1748, bes. Aron, Les étapes de la pensée sociologique (wie Anm. 22), S. 27ff. 138 Vgl. W. Conze, Leibniz als Historiker (Leibniz. Zu seinem 300. Geburtstag. 1646-1946, Lief. 6), Berlin 1951; Wagner, Die Anfange der modernen Geschichtswissenschaft (wie Anm. 131), S. 30ff. 139 D. von Engethardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus, Freiburg 1979. 140 Ebd., S. 223. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 159ff. 143 Ebd., S. 163. 144 Aus dieser Feststellung ergeben sich die Grenzen aller jener Auseinandersetzungen mit dem Positivismus, die trotz der Berechtigtheit ihres Ziels dieses verfehlen, weil sie ihn in seiner Geschichtlichkeit nicht einzuordnen vermögen, deshalb gezwungen werden, ihn so ernst zu nehmen, wie er sich selbst nimmt, die also das Problem spiegeln, das sie zu beheben versuchen und deshalb sogar in die Gefahr einer uneingestandenen Komplizenschaft mit dem Positivismus geraten. Ein Beispiel dafür ist die Positivismus-Kritik der ›Kritischen Theorie‹ bei J. Habermas. Habermas entwirft (Erkenntnis und Interesse, in: Ders., Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a.M. 1968, S. 146ff.) als System der Wissenschaften eine dreistufige Pyramide; zuunterst die empirisch-analytischen (Natur-) Wissenschaften mit ihrem »technischen Interesse«, darüber die historisch-hermeneutischen (Geistes-)Wisscnschaften mit ihrem »praktischen Interesse«, an der Spitze schließlich die »kritischen« Wissenschaften (u.a. die ›Kritische Theorie‹ selbst) mit ihrem »emanzipatorischen Interesse«. Die Erstellung einer solchen Wissenschaftshierarchie ist ihrerseits jedoch ein genuin positivistisches Unternehmen. Vgl. dazu Rombach, Wissenschaft, Forschung, Theorie (wie Anm. 7), S. 25ff. Die auch bei Habermas wieder begegnende Dichotomie von (positivistischer) Naturwissenschaft und (hermeneutischer) Geisteswissenschaft stammt bekanntlich aus der Positivismus-Kritik des 19. Jahrhunderts. Sie wird heute z.B. auch von H.-G. Gadamer vertreten; Ders., Wahrheit und Methode (wie Anm. 94); hier S. 427 die Behauptung, das Wissen »der modernen Naturwissenschaften insgesamt« sei »›Herrsehaftswissen‹«. Es ist jedoch zu fragen, wie lange die Geisteswissenschaften sich noch ›hermeneutisch‹ im Sinne der genannten Dichotomie definieren wollen, nachdem die Naturwissenschaft sich inzwischen weitgehend nicht mehr ›positivistisch‹ definiert. 145 Vgl. K. Hühner, Wandel in der Deutung der Wissenschaft heute, in: Uni Hannover. Zeitschrift der Universität Hannover 8, 1981, S. 9f. 146 Dazu D. Beetham, Max Weber and the Theory of Modern Politics, London 1974, S. 113ff.; Kocka, Kontroversen über Max Weber (wie Anm. 54), S. 292ff.; Lepsius, Max Weber in München (wie Anm. 54), S. 114. 147 Dazu A. Hermann, Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor. Macht und Mißbrauch der Forscher, Stuttgart 1982, bes. S. 142ff. und 188ff. Vgl. auch £. Heisenberg, Das politische Leben eines Unpolitischen. Erinnerungen an Werner Heisenberg, München 1980. Zum Gesamtzusammenhang A. D. Beyerchen, Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1982.
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Anmerkungen zu S. 41-42
2. »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs 1 Zur Geschichte des Begriffs vgl. G. Scholtz, Art. »Historismus, Historizismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3, 1974, Sp. 1141ff.; M. Riedel, Art. »Historismus«, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 2, 1984, S. 113ff.; J. Rüsen, Historismus, in: K. Bergmann u.a. (Hg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, 19853, S. 102ff. Reiches Material zur Begriffsgeschichte bietet auch K. Heussi, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932. Zum Thema vgl. O.G. Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: HZ 238, 1984, S. 17ff., wieder abgedruckt in diesem Band S. 17ff. - Zur Geschichte des Historismus-Begriffs im Marxismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts H. Schleier, Zum idealistischen Historismus in der bürgerlichen deutschen Geschichtswissenschaft, in: Jahrbuch für Geschichte 28, 1983, S. 133ff. 2 R. Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung (1924), wieder abgedruckt in: Ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 19614, S. 5. 3 B. Croce, Der Historismus und seine Geschichte, in: Ders., Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Bern 1944, S. 105ff. - P. Rossi, Lo storicismo tedesco contemporaneo, Milano 19712; F. Tessitore, Dimensioni dello storicismo, Milano 1971; F. Bianco, Lo storicismo tedesco, in: A. Bausola (Hg.), Question! di storiografia filosofica. Il pensiero contemporaneo, Bd. 2, 1978, S. 495ff. 4 M. Mandelbaum, Art. »Historicism«, in: The Encyclopedia of Philosophy 4, 1967, S. 22ff. (mit weiteren Titeln); Ders., The Anatomy of Historical Knowledge, 1977; H. Stuart Hughes, Consciousness and Society, Brighton 1979, bes. S. 183ff., sowie die »Essays on Historism« in: History and Theory. Beiheft 14, 1975, S. 1ff. 5 Vgl. K. D. Erdmann, Das Problem des Historismus in der neueren englischen Geschichtswissenschaft, in: HZ 170, 1950, S. 73ff.; F. Wagner, Moderne Geschichtsschreibung, Berlin 1960, S. 43ff. 6 Vgl. vor allem R. Aron, Introduction a la philosophic de l'histoire. Essai sur les limites de l'objectivité historique, Paris 1938, Nouvelle édition Paris 1986. 7 Siehe unten, Anm. 8, 9 und 13, sowie oben, Anm. 1. 8 Der Titel des postum erschienenen Buches von E. Troeltsch, Der Historismus und seine Überwindung (Berlin 1924, Neudruck 1966) stammt nicht von Troeltsch selbst, der vielmehr ausdrücklich erklärt (ebd., S. 44), daß es ihm um die Überwindung des Relativismus als einer nur »scheinbar notwendigen Folge ... des Historismus« gehe. Demgegenüber beabsichtigte -. Eucken (siehe unten, Anm. 20) eine wirkliche Überwindung des Historismus in der Behauptung der Möglichkeit objektiver, d. h. wahrer Erkenntnis mit den Mitteln der Wissenschaft. 9 W. J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971; vgl. Ders., Die Geschichtswissenschaft in der modernen Industriegesellschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 22, 1974, S. 1ff. Ebenso auch die Historismus-Definition von G. G. Iggers (siehe unten, Anm. 169 und 171)und von W. Weher (unten, Anm. 173).-Anders G. Schmidt, Deutscher Historismus und der Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Untersuchungen zu den politischen Gedanken von Meinecke, Troeltsch, Max Weber, Lübeck 1964, S. 23 und 313, wo völlig zutreffend das Gegenwartsinteresse im ›Historismus‹ von E. Troeltsch und F. Meinecke betont wird. 10 Vgl. O. G. Oexle, Sozialgeschichte - Begriffsgeschichte - Wissenschaftsgeschichte.
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Anmerkungen zu S. 42-44 Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 71, 1984, S. 324f. 11 F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus (Friedrich Meinecke, Werke 3), München 19652. Die folgenden Zitate ebd., S. 2 und 5. 12 H. W. Blanke u. J. Rüsew (Hg.), Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel historischen Denkens, Paderborn 1984, S. 9 (Vorwort der Herausgeber). 13 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (Gesammelte Schriften 3) (1922) Nachdruck Aalen 19772. Die Zitate S. 9 und 102. 14 H. Gollwitzer, Historismus als kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 10, 1982, S. 5ff., die Zitate S. 5f. Vgl. Ders., Zum Fragenkreis Architekturhistorismus und politische Ideologie, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 42, 1979, S. 1ff. 15 Vgl. z. B. die oben, Anm. 1, genannten Veröffentlichungen von M. Riedel und J. Rüsen. 16 E.-W. Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976, S. 9ff., und A. Kaufmann (siehe unten, Anm. 181) verwenden den Begriff im Sinne von Troeltsch; M. Senn, Rechtshistorisches Selbstverständnis im Wandel. FJII Beitrag zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Rechtsgeschichte, Zürich 1982, schließt sich mit seinem Plädoyer für eine ›Rechtsgeschichte jenseits des Historismus‹ an W. J . Mommsen (und damit an F. Meinecke) an. 17 M. Riedel, Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart 1978, S. 20f. bezieht sich auf Meinecke; W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1984, S.492f.u. ö. orientiert sich an Troeltsch. J. Habermas (siehe unten, Anm. 104) repräsentiert die in der Geschichtswissenschaft von W. I. Mommsen vertretene Linie. 18 C. Menger, Die Irrtümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie, Wien 1884. 19 J. Schumpeter, Gustav v. Schmoller und die Probleme von heute, in: Schmollers Jahrbuch 50, 1926, S. 46. 20 W. Eucken, Die Überwindung des Historismus, in: Schmollers Jahrbuch 62, 1938, S. 63ff. Die Zitate ebd., S. 65, 68. 21 H. Beenken, Der Historismus in der Baukunst, in: HZ 157, 1938, S. 27ff. Die Zitate ebd., S. 27. 22 N. Pevsner, Moderne Architektur und der Historiker oder die Wiederkehr des Historizismus, in: Deutsche Bauzeitung 66, 1961, S. 757ff. Das Zitat S. 757. - An dieser Stelle sei angemerkt, daß im Englischen (wie auch im Französischen) die Formen »historism« (»historisme«) und »historicism« (»historicisme«) meist ohne Unterscheidung zur Bezeichnung des »Historismus« verwendet werden. Deshalb erscheint auch im Deutschen gelegentlich die Form »Historizismus« im Sinne von »Historismus«, kann dann aber nicht verwechselt werden mit dem, was K. Popper (»Das Elend des Historizismus«, Tübingen 1965) unter Historizismus versteht, nämlich eine auf behaupteter objektiver Erkenntnis der Geschichte begründete Prognose, vgl. H. R. Ganslandt, Art. »Historizismus«, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 2, 1984, S. 116f. 23 N. Pevsner, Möglichkeiten und Aspekte des Historismus, in: L. Grote (Hg.), Historismus und bildende Kunst, München 1965, S. 13ff., hier S. 13. Dieser Begriff von Historismus begegnet wieder in den aktuellen Debatten über Denkmalpflege und Stadterneuerung: D. Bartetzko, Verbaute Geschichte, Darmstadt 1986.
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Anmerkungen zu S. 44-49 24 P Frankl, Das System der Kunstwissenschaft, Brünn 1938, S. 1008f. 25 W. Götz, Historismus. Hin Versuch zur Definition des Begriffes, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 24, 1970, S. 196ff. Die Zitate ebd., S. 211f. 26 W. Hardtwig, Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft, in: Archiv für Kulturgeschichte 61, 1979, S. 1 66f. 27 W. Hofmann, Das Irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, München 19742. Die Zitate ebd., S. 48, 68 und 254. 28 Siehe unten, Abschnitt III. Auf der Linie Hofmanns bewegt sich auch N. Huse, Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, München 1984. 29 Da/u jetzt A. Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 19942. 30 Zur Geschichte des Begriffs »Historismus« s. oben, Anm. 1 und 29. 31 Gollwitzer, Architekturhistorismus (wie Anm. 14), S. 1. 32 O. Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken (1954), wieder abgedruckt in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 19682, S. 26. 33 Gollwitzer, Architekturhistorismus (wie Anm. 14), S. 1. 34 R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979. 35 Hardtwig (wie Anm. 26), S. 172. 36 Hardtwig (wie Anm. 26), S. 172ff. Vgl. Ders., Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttineen 1974. 37 Zitiert nach Hardtwig (wie Anm. 26), S. 173. 38 J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, hg. v. P. Ganz, München 1982, S. 229. 39 Ebd., S. 229. 40 J. G. Droysen, Grundriß der Historik (1857/58), in: Ders., Historik, hg. v. P. Leyh, Stuttgart 1977, S. 403 und 399. 41 K. Mannheim, Historismus (1924), wieder abgedruckt in: Ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. K. H. Wolff, Neuwied 19702, S. 247f. 42 Novalis, Das allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99), in: Ders., Schriften, Bd. 3, hg. v. R. Samuel, Stuttgart 1968, S. 446. 43 L. Feuerbach, Über das Wunder (1839), und: Philosophie und Christentum in Beziehung auf den der Hegeischen Philosophie gemachten Vorwurf der Unchristlichkeit (1839), in: Ders., Erläuterungen und Ergänzungen zum Wesen des Christentums, hg. v. W. Bolin (Ludwig Feuerbachs Sämtliche Werke 7), Stuttgart 1903, S. 1f., 43ff., 77f. 44 G. Scholtz, »Historismus« als spekulative Geschichtsphilosophie: Christlieb Julius Braniß (1792-1873), Frankfurt a.M. 1973, S. 125ff. 45 C. Prantl, Die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, München 1852, S. 31. 46 F. Dahn, Philosophische Studien, Berlin 1883, S. 98ff 47 Scholtz (wie Anm. 44), S. 129f. 48 Für die Erhellung der Geschichte des Historismus-Problems wäre näher zu erörtern die Verbindung zwischen Nietzsche und J . Burckhardt (vgl. A. v. Martin, Nietzsche und Burckhardt, München 1941) und die zwischen Nietzsche und F. Overbeck (vgl. A. Pfeiffer, Franz Ovcrbecks Kritik des Christentums, Göttingen 1975, S. 202ff). Auch R. Eucken (siehe unten, Anm. 60) lehrte zu jener Zeit (1871-1874) in Basel. 49 Siehe unten, S. 53ff 50 F. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (1873, 19032, Neudruck Darmstadt 1963). Über Overbeck neuerdings Pfeiffer (wie Anm. 48). Ovcrbecks Kritik
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Anmerkungen zu S. 49-52 richtete sich gegen »den fast unbegreiflichen Wahn« der »heutigen« Theologie, »daß sie des Christentums auf historischem Wege wieder gewiß werden könne, was jedoch, wenn es gelänge, höchstens eine Gelehrtenreligion ergäbe, d. h. nichts, was mit einer wirklichen Religion sich ernstlich vergleichen läßt« (S. 36). 51 W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (Gesammelte Schriften 1), Göttingen 19798. Die Zitate ebd., S. IX, XV, 4 und 21. 52 Die Zitate finden sich in: W. Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie (Gesammelte Schriften 8), Leipzig 1931, S. 121, 198 und 232. 53 W. Dilthey, Rede zum 70. Geburtstag (1903), in: Ders., Die geistige Welt. Hinleitung in die Philosophie des Lebens (Gesammelte Schriften 5), Leipzig 1924, S. 9. 54 Dilthey, Hinleitung (wie Anm. 51), S. 148. Vgl. Riedel (wie Anm. 17), S. 57ff. 55 G. Schmoller, Zur Methodologie der Staats- und Sozial-Wissenschaften, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 7, 1883, S. 239ff. 56 Siehe oben, Anm. 18. 57 M. Kahler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, Leipzig 1892, Nachdruck München 1961, S. 16. 58 F. J. Schmidt, Der Niedergang des Protestantismus. Eine religionsphilosophische Studie, Berlin 1904, S. 24. 59 G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, Leipzig 1892. Die Zitate nach der vierten Auflage von 1922, S. V und VII. 60 R. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 1904, S. 252ff. 61 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft (1910/I 1), Buchausgabe hg. v. W. Szilasi, Frankfurt a.M. 1981, S. 49ff. 62 Die Schrift ist auszugsweise abgedruckt bei Huse (wie Anm. 28), S. 139ff., das Zitat S. 141. Zum Kontext ebd., S. 124ff. 63 Den Bezug zur politischen Situation hat besonders G. Schmidt (wie Anm. 9) herausgearbeitet. 64 Besonders dringlich erscheint eine genauere Untersuchung der Auseinandersetzung über das Problem des Historismus als Auseinandersetzung mit dem Liberalismus und der liberalen (historischen) Theologie bei K. Barth, E. Brunner, R. Bultmann, F. Gogarten, P. Tillich u.a. Dazu A. Schwan, Zeitgenössische Philosophie und Theologie in ihrem Verhältnis zur Weimarer Republik, in: K. D. Erdmann u. H. Schulze (Hg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1984, S. 259ff., und F. W. Graf, »Der Götze wackelt«? Erste Überlegungen zu Karl Barths Liberalismuskritik, in: Evangelische Theologie 46, 1986, S. 422ff. 65 K. Barth, Der Römerbrief, Bern 1919, Nachdruck Zürich 1963, hier bes. die Ausführungen über »Die Historie« (S. 100ff.), mit der von Nietzsche inspirierten Bemerkung: »Beim bloßen ›Interesse‹ für das einmal Gewesene wird die Geschichte zu einem wirren Chaos sinnloser Beziehungen und Begebenheiten, die Historie trotz aller Kunst der Verknüpfung zu einer triumphierenden Entfaltung und Beschreibung dieses Chaos, bei dem das, was wirklich war, sicher verborgen bleibt«, - im Gegensatz zu jener anderen »Art der Historie«, »die darin ihr Wesen hat, die Geschichte mit uns und uns mit der Geschichte reden zu lassen von dem einzigen Thema des kommenden Gottesreiches« (S. 102). Im Vorwort erklärte Barth, seine »ganze Aufmerksamkeit« sei daraufgerichtet gewesen, »durch das Historische hindurch zu sehen« (ebd., S. V). 66 Siehe oben, Anm. 50. In der zweiten Auflage des »Römerbriefs« von 1922 weist K. Barth ausdrücklich auf die in dieser Neubearbeitung »versuchte Auseinandersetzung mit
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Anmerkungen zu S. 52-54 diesem überaus merkwürdigen und selten frommen Mann« hin (Nachdruck Zürich 1984, S. VII). Vgl. auch K. Barth u. E. Thurneysen, Zur inneren Lage des Christentums, München 1920, S. 3ff. 67 F. Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie. Aus dem Nachlaß herausgegeben von C. A. Bernoulli, Basel 1919. 68 Man vergleiche dazu die konträren Stellungnahmen von K. Barth in: Barth u. Thurneysen (wie Anm. 66) und von E. Troeltsch, in: HZ 122, 1920, S. 279ff. 69 K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919, 1971 6 , Nachdruck München 1985, S. 182ff.; Ders., Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931, 1932s, Nachdruck 1979, S. 110ff. (Historismus als Gegensatz zu jener »Weise geschichtlicher Erinnerung, welche als solche nicht ein bloßes Wissen von Vergangenem, sondern gegenwärtige Lebensmacht ist«, S. 111); Ders., Philosophie, Bd. 2 , Berlin 1931, Berlin 19734, S. 118ff. 70 M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 198415 S. 392ff. Die Zitate S. 392 und 396. 71 Schulz (wie Anm. 17), S. 523ff. 72 R. Bultmann, Jesus, Berlin 1926, Nachdruck Tübingen 1958, S. 7ff. Die Zitate S. 7f. und 12. 73 A4. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, 1925, Bern 19602 (= Gesammelte Werke Bd. 8), bes. S. 149ff. Zu diesem Thema der Wissenssoziologie Schelers: H.-J. Lieber, Ideologie. Eine historisch-systematische Einführung, Paderborn 1985, S. 76ff. 74 Mannheim (wie Anm. 41), S. 246. 75 K. Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens (1925), wieder abgedruckt in: Ders., Wissenssoziologie (wie Anm. 41), S. 308ff.; Ders., Ideologie und Utopie (1929), Frankfurt a.M. 19695; dazu Lieber (wie Anm. 73), S. 87ff. 76 W. Eucken, Die Überwindung des Historismus (wie Anm. 20); Ders., Die Grundlagen der Nationalökonomie (1940), Berlin 1965 s , bes. S. 205ff., 231f. und 271. Vgl. auch F. Böhm u.a., Unsere Aufgabe, in: F. Böhm, Die Ordnung der Wirtschaftals geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Stuttgart 1937, S. VIIff. - Die Gegenposition vertrat B. Laum, Methodenstreit oder Zusammenarbeit? Randbemerkungen zu einem Angriff auf die historische Nationalökonomie, in: Schmollers Jahrbuch 61, 1937, S. 1ff., und Ders., Entgegnung zu Euckens Aufsatz, ebd. 62, 1938, S. 87ff. 77 Nietzsche verwendet 1885/86 das Wort »Historizismus« (= »die Hegel'sche Manier«) im Gegensatz zu »Kritizismus« (= »die Kantische Manier«): F. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 12, München 1980, S. 163. 78 Nach H. Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg 1974, S. 20, richtete sich Nietzsches Kritik nur gegen den Historismus im Sinne des »praktischen geisteswissenschaftlichen Positivismus«, gegen die »wertfreie Stoff- und Faktenhuberei« (Ders., Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt a.M. 1983, S. 51), nicht aber bereits auch gegen die grundsätzliche Historisierung alles Denkens und gegen den Relativismus. Doch zielt bereits Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Phänomen auf alle seine Dimensionen. 79 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), in: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe III/1, hg. v. G. Colli u. M. Montinari , Berlin 1972, S. 239ff. Das Zitat ebd., S. 326f. 80 Vgl. H. Schipperges, Utopien der Medizin. Geschichte und Kritik der ärztlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts, Salzburg 1968, S. 139ff. 81 Vom Nutzen und Nachteil (wie Anm. 79), S. 241f. 82 Ebd., S. 253.
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Anmerkungen zu S. 54-57 83 Ebd., S. 268. 84 Ebd., S. 275 und 291f. 85 Die folgenden Zitate ebd., S. 281ff. und 280. 86 R. Vierhaus, Rankes Begriff der historischen Objektivität, in: R. Koselleck u.a. (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, S. 63ff.; Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 29ff. 87 Vgl. M.-J. Zemlin, »Zeigen, wie es eigentlich gewesen«. Zur Deutung eines berühmten Rankewortes, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37, 1986, S. 333ff. 88 L. von Ranke, Englische Geschichte, Bd. 2 (1860), hier zitiert nach »Sämtliche Werke«, Zweite Gesamtausgabe, Bd. 15, Leipzig 1877, S. 103. 89 Vom Nutzen und Nachteil (wie Anm. 79), S. 267f., 320. 90 Ebd., S. 326. 91 Ebd., S. 246. 92 Ebd., S. 293. 93 Vgl. auch die Polemik gegen D. Er. Strauß in der ersten der »Unzeitgemäßen Betrachtungen« (»David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller«). 94 Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums (1900), Neuautlage Stuttgart 1950, S. XXII (Vorwort von 1925) und S. XIX (Vorwort von 1903). 95 Vom Nutzen und Nachteil (wie Anm. 79), S. 293. 96 Im 8. Abschnitt seiner »Betrachtung« hat Nietzsche das »Übermaß von Historie« abgeleitet »aus dem mittelalterlichen memento mori und aus der Hoffnungslosigkeit, die das Christentum gegen alle kommenden Zeiten des irdischen Daseins im Herzen trägt« (wie Anm. 79, S. 301f.), und daraus die Folgerung eines »dreifachen Muß« gezogen: »dieser Ursprung muß selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie muß das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muß seinen Stachel gegen sich selbst kehren« (S. 302). Dieser Gedanke wird nicht mehr ausgeführt. Er kehrt in völlig anderer Fassung bei E. Troeltsch und bei M. Scheler wieder (siehe unten bei Anm. 120 und Anm. 178). 97 Vom Nutzen und Nachteil (wie Anm. 79), S. 326f. 98 Ebd., S. 254. 99 Ebd., S. 261. 100 Ebd., S. 265. 101 Siehe oben, Anm. 87. 102 Vgl. die Historismus-Definitionen von H. Beenken und von N. Pevsner, oben, Anm. 21 und 22, sowie die Feststellungen von W. Eucken (wie Anm. 20) über das Zerstörerische des Historismus und über den Zusammenhang von Relativismus und Fatalismus (S. 68ff.). 103 Vgl. die drei Dimensionen des Historismus (1. der »Positivismus der Geisteswissenschaften: die wertfreie Stoff- und Faktenhuberei ohne Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, die aber gleichwohl mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität auftritt«; 2. Historismus als »historischer Relativismus«; 3. Historismus im Sinne der durchgängigen Historisierung, als Position, welche »die Geschichte zum Prinzip« macht) bei Schnädelbach, Philosophie in Deutschland (wie Anm. 78), S. 51ff., sowie Ders., Geschichtsphilosophie nach Hegel (wie Anm. 78), S. 19ff. - Vgl. ferner die drei »Bedeutungsgruppen« des Historismus-Begriffs, die K. Heussi (wie Anm. 1) 1932 zusammengefaßt hat: (1) Historismus als »der Betrieb der Historie um ihrer selbst willen«, als »bloßes Anhäufen und Durchstöbern immer neuer Stoffmassen« (S. 6); (2) Historismus als polemischer Kampfbegriff, der sich sowohl gegen den Glauben an die Möglichkeit objektiver Erkenntnis der Geschichte richtet als auch zugleich gegen relativistisches Denken (S. 7ff.); (3) Historismus im Sinne von E. Troeltsch (siehe oben, Anm. 13), also im »sachlich-charaktcrisierenden« Sinne (S. 12ff.).
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Anmerkungen zu S. 57 Es sei hier angemerkt, daß Heussis eigene Stellungnahmen und Verwendungen des Begriffs inkonsequent und verwirrend sind. Denn während Heussi im Vorwort seiner Studie (S. IV) erklärt, er selbst werde das Wort Historismus »im Sinne der dritten ... Bedeutungsgruppe« verwenden, begründet er später (S. 18ff., bes. S. 20) den Entschluß, den Begriff »auf die Phase der Geschichtschreibung anzuwenden, die unserer gegenwärtigen Phase unmittelbar vorangegangen ist, also auf die Phase der Geschichtschreibung von 1900«: Historismus war für Heussi also »die Geschichtschreibung der Zeit um 1900« (S. 2 0 ) . Für sie seien vier Momente charakteristisch (S. 38ff.), vor allem: (1) die erkenntnistheoretische Annahme eines ein für allemal feststehenden ›Objekts‹ der Geschichtschreibung, (3) »die Lehre von der historischen Entwicklung und dem historischen Forschritt« und (4) »die positivistische Beschränkung der historischen Aussagen auf das Gebiet möglicher menschlicher Erfahrung, also Ausschluß der Metaphysik, insbesondere der Geschichtsphilosophie« (S. 39f.). Unter der »Krisis des Historismus« verstand Heussi demnach die Infragestellung dieser Annahmen »in den Jahren nach dem Weltkriege« (S. 2 1 , vgl. S. 103f.). Der Begriff der ›Krise des Historismus‹ hat bei Heussi deshalb einen völlig anderen Sinn als bei E. Troeltsch (vgl. dessen unten, Anm. 109, genannten Aufsatz von 1922). Heussi versteht unter Krisis des Historismus jene Krise, in die der Historismus (= die objektivistische und positivistische Wissenschaft der Zeit um 1900) gekommen ist. Troeltsch versteht darunter jene Krise, die der Historismus (= die universale Historisierung des Denkens) ausgelöst hat, nämlich »die heutige Krisis der Historie« (Der Historismus, wie Anm. 13, S. 1ff.). 104 Dazu die Nachweise bei Heussi (wie Anm. 1), S. 2ff. und 6f., und Heussis eigener Gebrauch des Begriffs (siehe oben, Anm. 103). Neuerdings ebenso wieder J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Ders., Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a.M. 1968, S. 149: »Der Historismus ist zum Positivismus der Geisteswissenschaften geworden«. Positivismus ist die Verweigerung der Reflexion: »Daß wir Reflexion verleugnen, ist der Positivismus« (Ders., Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1968, S. 9 ) . Ferner Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus (wie Anm. 9 ) , S. 14f., über den »pseudopositivistisch verdünnten Historismus« des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Vgl. als eine frühe Äußerung Schmidt (wie oben, Anm. 58) und Husserl (wie Anm. 6 1 ) , S. 4 9 : »Der Historizismus nimmt seine Position in der Tatsachensphäre des empirischen Geisteslebens« und setzt es »absolut«. Ebenso der Historismus-Begriff bei M. Scheler, G. Iggers und H.-G. Gadamer, s. im Text bei Anm. 169, 178 und 182. 105 In diesem Sinne, und zwar in negativer Bewertung: Simmel (wie oben, Anm. 59) und Heussi (siehe oben, Anm. 103). Ebd., S. 37, zitiert Heussi ein Diktum von C. H. Becker von 1927: »Das Zeitalter des Historismus ist vorüber. Der Glaube an die objektive Geschichtsbetrachtung ist verschwunden«. - In einem positiven Sinn wird noch heute von marxistischer Seite der »wahre Historismus« in Anspruch genommen als die objektive Erkenntnis der absolut geltenden Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, siehe im Text bei Anm. 187. 106 Diese Frage wird vor allem von Max Weber wieder aufgegriffen, siehe im Text nach Anm. 131. 107 E. Troeltsch, Christentum und Religionsgeschichte ( 1 8 9 7 ) , wieder in: Ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften 2) (1922 2 ), Nachdruck Aalen 1981 2 , S. 335, und Ders., Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart (1903), wieder in: Zur religiösen Lage, ebd., S. 11. Über Nietzsche als den »großen geisteswissenschaftlichen Revolutionär des Zeitalters«, der »die Tafeln der bisherigen Werte zertrümmert« habe: Ders., Der Historismus (wie Anm. 13), S. 5 und 26. - E i n e ausgezeichnete Darstellung der Erörterung des Historismus-Problems bei Troeltsch bieten neuerdings: T. Rendtorff u. F. W. Graf, Ernst Troeltsch, in: N. Smart u.a. ( H g . ) , Nineteenth Century
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Anmerkungen zu S. 58-60 Religious Thought in the West, Bd. 3, Cambridge 1985, S. 305ff., und F. W. Graf u. H. Ruddies, Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen, Philosophie der Neuzeit IV, Göttingen 1985, S. 128ff. 108 E. Troeltsch, Das Neunzehnte Jahrhundert (1913), wieder abgedruckt in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie (Gesammelte Schriften 4) (1925), Nachdruck Aalen 1981 2 , S. 628. 109 Zuerst wurde das Thema zusammenfassend erörtert in: E. Troeltsch, Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge. Rede zur Kaisergeburtstagsfeier der Berliner Universität, in: HZ 116, 1916, S. 1ff. Im Jahre 1922 erschienen dann das große Historismus-Werk (siehe oben, Anm. 13) und der Essay »Die Krisis des Historismus« in: Die Neue Rundschau 1, 1922, S. 572ff. 110 Die Krisis des Historismus, S. 573. 111 Der Historismus und seine Probleme, S. 4. 112 Siehe oben, Anm. 59. 113 Die Krisis, S. 577f. 114 Die Krisis, S. 579f. Vgl. Der Historismus und seine Probleme, S. 756. 115 Siehe oben, Anm. 73 und 75. 116 Die Krisis, S. 582f. 117 Der Historismus und seine Probleme, S. 5f. 118 E. Troeltsch, Die Persönlichkeits- und Gewissensmoral, veröffentlicht in: Ders., Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 1. 119 E. Troeltsch, Meine Bücher (1922), wieder abgedruckt in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte (wie Anm. 108), S. 14. 120 Der Historismus und seine Probleme, S. 772. 121 Ebd., S. 710 und 730, ferner 730ff. und 765ff. 122 Ebd., S. 179ff. 123 O. Hintze, Troeltsch und die Probleme des Historismus. Kritische Studien (1927), wieder abgedruckt in: Ders., Soziologie und Geschichte (Gesammelte Abhandlungen 2), Göttingen 19642, S. 232ff. Das Zitat S. 366. 124 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 677. Vgl. ebd., S. 675ff. 125 Hintze, Troeltsch und die Probleme des Historismus, S. 324, 336 und 367. 126 Ebd., S. 325 und 327. 127 Ebd., S. 365f. 128 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 660, 669 129 Troeltsch, Die Krisis des Historismus (wie Anm. 109), S. 583. Zur Unterscheidung von Max Weber vor allem: Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 160f., 367ff., 565ff. 130 Zum folgenden bereits Oexle (wie Anm. 1), in diesem Band S. 21ff. und 25ff. Mit Recht hat neuerdings W. Hennis, Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1985 (1986), S. 44ff., hingewiesen auf den bedeutenden Sachverhalt »einer ganz grundsätzlichen ›Einstimmung‹, ›Inspirierung‹ Webers durch das Epochenbewußtsein und die Frageweise Nietzsches« (S. 47), auf den Sachverhalt, daß Weber Nietzsches Fragen »in die fur ihn brauchbaren Fragestellungen und Idealtypen umgoß« (S. 56). Den auf S. 63ff. von Hennis aufgerührten »wichtigsten Prägungen, die das Werk Webers durch Nietzsche erfährt«, ist die (von Hennis nicht genannte) Frage nach dem Verhältnis von ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹ an die Seite zu stellen. Über das HistorismusProblem bei Nietzsche und Weber auch R. Eden, Political Leadership and Nihilism. A Study of Weber and Nietzsche, Tampa 1984.
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Anmerkungen zu S. 61-65 131 Max Weber, Wissenschaft als Beruf ( 1 9 1 9 ) , wieder abgedruckt in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1982 5 , S. 582ff., bes. S. 592f. Vgl. bereits die fundamentalen Feststellungen von 1903/06 in: Ders., Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, ebd., S. 7 5 , Anm. 1, und S. 92, Anm. 1: »Die Verkennung der intensiven Unendlichkeit alles empirisch gegebenen Mannigfaltigen« sei »nur möglich infolge Festhaltung des vorkritischen Standpunktes der Betrachtung, der die Gesamtheit des jeweils Gegebenen mit demjenigen an und in ihm, worauf es für uns ›ankommt‹ - also eben mit dem Produkt jener Auslese - ›identifiziert‹«. Und: es sei nicht zu verkennen, daß die »Unendlichkeit und absolute Irrationalität jedes konkreten Mannigfaltigen die absolute Sinnlosigkeit des Gedankens einer ›Abbildung‹ der Wirklichkeit durch irgendeine Art von Wissenschaft wirklich zwingend erkenntnistheoretisch erweist«. 132 Ebd., S. 598. 133 Ebd., S. 600. 134 Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis ( 1 9 0 4 ) , wieder abgedruckt in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (wie Anm. 131), S. 146ff., hier S. 181. 135 Ebd., S. 184 und 207. 136 Siehe oben, Anm. 9 5 . 137 Weber, Die »Objektivität«, S. 152. 138 F. Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus ( 1 9 2 3 ) , wieder abgedruckt in: Ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (Friedrich Meinecke, Werke 4 ) , Stuttgart 1959, S. 367ff.; Ders., Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (Friedrich Meinecke, Werke 1), Stuttgart 1957, S. 22ff. und 424ff.; Ders., Die Entstehung des Historismus (wie oben, Anm. 11). 139 Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, S. 377f. 140 Vgl. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 111ff. 141 So F. Meinecke in seiner Besprechung des Buches von K. Heussi (siehe oben, Anm. 1), in: HZ 149, 1934, S. 304. 142 Ebd., S. 303f. Es sei angemerkt, daß Meineckes Begriff des ›Historismus‹ inhaltlich aufs deutlichste an das anknüpft, was zuvor Georg von Below als ›Romantik‹ bezeichnet hat, nämlich die im Gegensatz zur Autklärung sich entwickelnde große deutsche »Bewegung« von Moser und Herder bis zu ihrem Höhepunkt bei Goethe und Ranke. Dazu O.G. Oexle, Ein politischer Historiker: Georg von Below ( 1 8 5 8 - 1 9 2 7 ) , in: N. Hammerstein ( H g . ) , Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 311f., und Ders., Meineckes Historismus, in diesem Band, Abschnitt V. Zum gemeinsamen Hintergrund und zur Verknüpfung von Below und Meinecke auch Faulenbach (wie unten, Anm. 150), S. 134ff. 143 Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, S. 374. 144 Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 6. 145 Siehe oben, Anm. 114. 146 Siehe oben, bei Anm. 14. 147 Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, S. 373. 148 Die Entstehung des Historismus, S. 2. 149 So in der oben, Anm. 141, genannten Besprechung, S. 305. 150 Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, S. 375. Vgl. B. Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, S. 122ff. und 131ff. 151 Meinecke, Die Idee der Staatsräson, S. 22ff. und 424ff. 152 Hintze (wie Anm. 123), S. 329.
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Anmerkungen zu S. 65-68 153 Ebd. - Eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Historismus (als Kulturphilosophie, Methodologie und Ideologie) und Aufklärungshistorie beabsichtigen die Beiträge in H. E. Bödeker u.a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986. 154 Dies und ebenso die »Vergöttlichung« des Staates bemängelte M. Bloch in seiner eindrucksvollen Rezension des Meineckeschen Historismus-Werks: »Historismen ou travail d'Historiens?, in: Annales d'Histoire Sociale 1, 1939, S. 429f.: »... cette individualisation et, presque, cette deification de l'Etat, ...; - cette notion d'une pensée historique qui semble culminer entre Goethe et Ranke et, par consequent, s'arrèter, dans ses progrès, avec eux ...; cette negation ... de tous les efforts tentés, au cours de ce siècle précisément, pour integrer la connaissance des événements particuliers dans une science humaine plus vaste«, dies alles empfand Bloch als höchst befremdlich »pour un historien formé à d'autres écoles«. 155 Vgl. H. Schulze, Weimar. Deutschland 1917-1933, Berlin 1982, S. 123ff., und die oben, Anm. 64, genannten Beiträge von A. Schwan und EW. Graf. 156 Siehe oben, Anm. 86 und 87. Über den (gleichgearteten) »metaphysischen, objektiven Idealismus« F.C. von Savignys jetzt J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, S. 232ff., bes. S. 240f., 241ff. und 292ff. 157 Siehe oben, bei Anm. 52. 158 F. Meinecke, Geschichte und Gegenwart (1933), wieder abgedruckt in: Ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (wie Anm. 138), S. 92. 159 W. Hofer, Geschichtsschreibung und Weltanschauung. Betrachtungen zum Werk Friedrich Meineckes, München 1950, S. 408f. 160 Eucken, Die Überwindung des Historismus (wie Anm. 20), S. 66, Anm. 1, und S. 70. 161 E. Troeltsch, Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen, in: Ders., Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 8), S. 64. 162 R. Wittram, Das Interesse an der Geschichte, Göttingen 1958, S. 58ff. 163 Th. Schieder, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München 1965, 19682, S. 151ff. 164 Dazu Oexle (wie Anm. 10), S. 333ff., mit dem Hinweis auf die Romanistik (E. Auerbach, E.R. Curtius), und Ders., Meineckes Historismus, in diesem Band, Abschnitt II. 165 Gollwitzer, Historismus als kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung (wie Anm. 14), S. 14. 166 Vgl. oben in Abschnitt I. 167 Dieses Urteil Meineckes oben, Anm. 150. 168 So Nipperdey, Historismus (wie unten, Anm. 172), S. 65. 169 G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichts auffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971, S. 365ff. und S. 376ff. Die Zitate ebd., S. 365f. und 377. 170 H.-U. Wehler, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 88f. Man vergleiche damit die Historismus-Kritik von W. Benjamin (»Über den Begriff der Geschichte«, 1940). Sie richtet sich (1) gegen das bloß »additive« Verfahren der Akkumulation von Fakten und gegen die Etablierung eines Kausalnexus in universalgeschichtlicher Absicht ohne »theoretische Armatur«; (2) gegen das bloße Erzählen und den Entwurf eines »›ewigen‹ Bildes der Vergangenheit«; (3) gegen die Einfühlung »in den Sieger« und in die »Herrschenden« (Ders., Gesammelte Schriften 1/2, hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 19782, S. 691ff). 171 Siehe oben, Anm. 9. Neuerdings G. G. Iggers, Historicism (A Comment), in: Storia della Storiografia. Rivista Internazionale 10, 1986, S. 131ff.
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Anmerkungen zu S. 68-71 172 Th. Nipperdey, Über Relevanz (1972), wieder abgedruckt in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 26f. Vgl. Nipperdeys knappen, aber fundamentalen Versuch einer Neu-Strukturierung der Historismusdiskussion: Historismus und Historismuskritik heute (1975), wieder abgedruckt ebd., S. 59ff. In Nipperdeys Darstellung des Historismus in seinem Buch »Deutsche Geschichte 1800-1866«, München 1983, S. 498ff., hat sich dieser Neuansatz allerdings nicht niedergeschlagen. 173 Die Fesselung an Meineckes Historismus-Begriff manifestiert sich auch und gerade dort, wo erklärtermaßen Meineckes Historismus-Begriff überwunden werden soll, z. B. bei H.W. Blanke und J . Rüsen (wie oben, Anm. 12). Wie sehr die von der Absolutsetzung des Meineckeschen Historismus-Begriffs bestimmte Diskussion Pro und Contra sich inzwischen verdinglicht hat, demonstriert unabsichtlich W. Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800-1970, Frankfurt a.M. 1984, S. 13ff. Anders J. Meran, Theorien in der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1985, S. 46ff., der seinen Historismus-Begriff im Anschluß an H. Schnädelbach definiert (siehe oben, Anm. 78). 174 H.-U. Wehler, Geschichtswissenschaft heute, in: J. Habermas (Hg.), Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1979, S. 726f. 175 Über M. Bloch und seine Position in den epistemologischen Bestimmungen der historischen Erkenntnis des 20. Jahrhunderts: O. G. Oexle, Marc Bloch et la critique de la raison historique, in: H. Atsma u. A. Burguière (Hg.), Marc Bloch aujourd'hui, Paris 1990, S. 419-433. 176 Troeltsch, Die Krisis des Historismus (wie Anm. 109), S. 584ff. 177 Siehe oben bei Anm. 96. 178 Scheler (wie Anm. 73), S. 149f. 179 So Lieber (wie Anm. 73), S. 76 und 84. 180 L. Strauss, Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956, bes. S. 10ff. 181 A. Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges, Köln 19842, S. 118 und 9. Zur Definition des ›ontologischen Objektivismus« ebd., S. VII. 182 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 19652, S. 267. Vgl. auch das Kapitel ›Hermeneutik und Historismus«, S. 477ff. 183 Ebd., S. 268 und 275. 184 Ebd., S. 281, 283. 185 Bes. S. 284ff. Die Zitate ebd., S. 283 und 289. 186 Vgl. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt (wie Anm. 17), S. 618f. 187 Diese Position findet sich bei G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Bd. 2, Darmstadt 19833, und Bd. 3, 19843, sowie bei I. S. Kon, Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Berlin 1964, S. 7ff. 188 G. Klaus u. M. Buhr (Hg.), Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1, Berlin 197511, S. 522 (Art. »Historismus«). Vgl. H. Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1975, S. 215ff. 189 W. Eckermann u. H. Mohr (Hg.), Einführung in das Studium der Geschichte, Berlin 1969, S. 37f: »Das marxistische Prinzip des Historismus hat nichts gemein mit den gerade in Deutschland weit verbreiteten irrationalistischen Theorien des Historismus (Dilthey, Jaspers u.a..!, die die Existenz von Gesetzen in der Geschichte leugnen, die Geschichte in einen irrationalen, wissenschaftlich nicht erfaßbaren, sondern nur erlebbaren ›Fluß‹ verwandeln usw. Dieser ›Historismus‹ ist ein typischer Pseudo-Historismus, der im schärfsten Gegensatz zum Prinzip des marxistischen, wissenschaftlichen Historismus steht«.
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Anmerkungen zu S. 71-74 190 So in: Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 1, 1979, S. 793 (Art. »Historismus«). Zur Unterscheidung des »idealistischen« (»bürgerlichen«) Historismus vom »materialistischen« (d. h. der marxistischen historischen Methode und des materialistischen Geschichtsdenkens) sowie zur Geschichte der marxistischen Historismus-Begriffe Schleier (wie Anm. 1) und Ders., Narrative Geschichte und strukturgeschichtliche Analyse im traditionellen Historismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 34, 1986, S. 99ff. 191 So A. Nabrings, Historismus als Paralyse der Geschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 65, 1983, S. 157ff., bes. S. 205, 211ff. 192 Diese Position vertritt konsequent H.-W. Hedinger, Subjektivität und Geschichtswissenschaft. Grundzüge einer Historik, Berlin 1969, S. 7 und 662f. 193 Eucken, Die Überwindung des Historismus (wie Anm. 20), S. 68f. und 76f. 194 Dazu Oexle (wie Anm. 1), in diesem Band S. 18f. u.ö.. 195 Dazu ebd., S. 18f. mit der Bestimmung des Begriffs der ›Unendlichkeit‹, S. 18, Anm. 7. 196 Das Folgende wird wiederholt aus Oexle (wie Anm. 1), in diesem Band S. 36ff.
3. Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus 1 F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus (Friedrich Meinecke, Werke 3), München 19652. 2 W. J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971. 3 H. E. Bödeker u.a., Einleitung: Aufklärung und Geschichtswissenschaft, in: Dies. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, S. 9. 4 Dazu O. G. Oexle, »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in diesem Band, bes. Abschnitt V, sowie jetzt A. Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 19942. 5 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (Gesammelte Schriften 3) (1922), Nachdruck Aalen 19772, S. 9 u. 102. 6 K. Marx, Thesen über Feuerbach, These 6 und 7, in: H.-J. Lieber u. P. Furth (Hg.), Karl Marx, Frühe Schriften 2, Darmstadt 1971, S. 2f. 7 Dazu W. Hardtwig, Kunst und Gschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft, in: Archiv für Kulturgeschichte 61, 1979, S. 154ff., hier S. 172ff. 8 J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, hg. v. P Ganz, München 1982, S. 229. 9 J. G. Droysen, Grundriß der Historik (1857/58), in: Ders., Historik, hg. v. P. Leyh, Stuttgart 1977, S. 399. 10 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), in: Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe III/l, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin 1972, S. 239ff. 11 Zum folgenden eingehender Oexle, »Historismus«, in diesem Band, Abschnitt II. 12 W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften 1), Göttingen 19798, S. IX.
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Anmerkungen zu S. 75-83 13 Nietzsche (wie Anm. 10), S. 326f. 14 Ebd., S. 242. 15 Ebd., S. 253. 16 Ebd., S. 268, 275, 291f. 17 Dazu vor allem der 6. Abschnitt, S. 281ff. 18 Ebd., S. 280 und S. 283ff. 19 Ebd., S. 267f., 320, 326. 20 Ebd., S. 246. 21 Ebd., S. 293. 22 Ebd., S. 325. 23 Ebd., S. 326. Die folgenden Zitate ebd., S. 254. 24 Troeltsch, Historismus (wie Anm. 5), S. 5 und 26. 25 E. Troeltsch, Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart (1903), wieder abgedruckt in: Ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften 2) (19222), Nachdruck Aalen 19812,S. 11. 26 E. Troeltsch, Das Neunzehnte Jahrhundert (1913), wieder abgedruckt in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie (Gesammelte Schriften 4) (1925), Nachdruck Aalen 19812, S. 628. 27 E. Troeltsch, Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau 1, 1922, S. 572-590. 28 Ebd., S. 573. 29 Ebd., S. 584. 30 Einen weiteren Aspekt des Problems sah Troeltsch in der Einführung des soziologischen Elements in die historische Forschung, ebd., S. 579ff. 31 Ebd., S. 577ff. 32 Ebd., S. 582ff. 33 E. Troeltsch, Meine Bücher (1922), wieder abgedruckt in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte (wie Anm. 26), S. 14. 34 Die folgenden Zitate: Troeltsch, Historismus, S. 29, 31, 34, 70f., 79f., 82f., 116, 169, 181ff. 35 Ebd., S. 772. 36 Ebd., S. 677, 107, 692f. S. unten, Anm. 45. 37 M. Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19825, S. 184 und 170. 38 Ebd., S. 184. 39 Ebd., S. 206f. 40 Ebd., S. 208f. 41 M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903/06), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 75, Anm. 1, und S. 92, Anm. 1. 42 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage (1787), B XIII-B XVII. 43 Weber, Objektivität, S. 166. 44 S. oben, Anm. 42. 45 S. oben, Anm. 41. Troeltsch stützte sich insbesondere auf die »Leibnizische Monadenund die Malebranchesche Partizipationslehre« (Historismus, S. 684), mit folgenden Erläuterungen: »Die Monade ... bedeutet die Identität des endlichen und unendlichen Geistes bei Aufrechterhaltung der Endlichkeit und Individualität des letzteren« (ebd., S. 675). Und: »... aus dem gleichen Motiv hat Malebranche die inneren Verbindungen des Werdens durch das 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 83-89 Kausalprinzip nicht den empirischen Reihenbildungen, sondern nur durch Partizipation des endlichen Geistes an der inneren Lebenseinheit und -bewegung des absoluten Geistes finden können« (ebd., S. 676). 46 Troeltsch, Historismus, S. 107. 47 Ebd., S. 660, 673. 48 Ebd., S. 669. 49 Ebd., S. 43. 50 M. Weber, Wissenschaft als Beruf (1919), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftsichre, S. 582ff. 51 Ebd., S. 592f. 52 Ebd., S. 598. 53 Ebd., S. 600. 54 Weber, Objektivität, S. 176f. 55 Ebd., S. 175. 56 Ebd., S. 177. 57 Ebd., S. 170. 58 Ebd., S. 214, 181. 59 Ebd., S. 157. 60 Ebd., S. 212. 61 Ebd., S. 212f. 62 W. J. Mommsen, Die antinomische Struktur des politischen Denkens Max Webers, in: HZ 233, 1981, S. 35ff., bes. S. 39ff.; R. Eden, Political Leadership and Nihilism. A Study of Weber and Nietzsche, Tampa 1984; O. G. Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 21ff. und S. 25ff; D. J. K. Peukert, Die »letzten Menschen«. Beobachtungen zur Kulturkritik im Geschichtsbild Max Webers, in: GG 12, 1986, S. 425ff.; W. Hennis, Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1985 (1986), S. 40ff. Vorangegangen war:E.Fleischmann, De Weber à Nietzsche, in: Archives Européennes de Socioloeie 5, 1964, S. 190ff. 63 biennis (wie Anm. 62); die folgenden Zitate ebd., S. 47, 53, 56. 64 Ebd., S. 63ff. 65 G. E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: Lessings Werke 3, hg. v. K. Wölfel, Frankfurt a.M. 1967, S. 307ff.; die Zitate S. 309 und 311. 66 S. Kierkegaard, Philosophische Brocken (1844), hg. v. L. Richter, o.O. 1964, S. 5, 68f., 72. 67 Troeltsch, Historismus, S. 178f. 68 S. Kracauer, Die Wissenschaftskrisis. Zu den grundsätzlichen Schriften Max Webers und Ernst Troeltschs (1923), in: Ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1977, S. 197ff., hier S. 202. 69 Ebd., S. 202f. 70 Ebd., S. 204. 71 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 611. 72 Kracauer, S. 204. 73 Dazu vor allem E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 4 Bde., 1922, 1923, 1957, Nachdruck Darmstadt 1973/74, und H. Rombach, Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Freiburg 19812, bes. Bd. 2, S. 395ff. 74 S. das Zitat oben bei Anm. 40. 266 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 89-93 75 Rombach, Bd. 1, S. 150ff. und 206ff., sowie Bd. 2, S. 111ff. und 147ff., mit der Feststellung: »Auch Kants ›Kritizismus‹ lebt aus der Idee der doeta ignorantia«, und: »Pascal steht in der Mitte zwischen Cusanus und Kant. Diese beiden markieren die Endpunkte einer Entwicklung, die einen großen Atemzug der Geistesgeschichte darstellt« (S. 146, Anm. 49). 76 Dazu Rombach, Bd. 1, S. 78ff., und R. Imbach (Hg.), Wilhelm von Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, Stuttgart 1984, S. 168ff. und 180ff. 77 Vgl. Rombach, Bd. 2, S. 111ff. und 147ff. 78 Dilthey (wie Anm. 12), S. 148. 79 W. Küttter u. G. Lozek, Marxistisch-leninistischer Historismus und Gesellschaftsanalyse. Die historische Gesetzmäßigkeit der Gesellschaftsformationen als Dialektik von Ereignis, Struktur und Entwicklung, in: E. Engelberg (Hg.), Probleme der Geschichtsmethodologie, Köln 1972, S. 33ff., S. 34. 80 Ebd., S. 33. 81 Ebd., S. 34. 82 W. Küttler u. G. Lozek, Der Klassenbegriff im Marxismus und in der idealtypischen Methode Max Webers, in: J. Kocka (Hg.), Max Weber, der Historiker, Göttingen 1986, S. 173ff. 83 E. J. Hobsbawm, Weber und Marx. Ein Kommentar, in: Kocka (Hg.), Max Weber, der Historiker, S. 84ff., hier S. 87. 84 Küttter u. Lozek, Der Klassenbegriff im Marxismus, S. 189. 85 Hobsbawm, S. 88. 86 Oexle (wie Anm. 62), in diesem Band S. 28ff. 87 Die Definition des ›Kritizismus‹ (im Sinne Kants oder Pascals) als der »Auflassung, nach der das über die Erfahrungen Hinausgehende prinzipiell offengelassen und aus den Forschungen herausgehalten wird, nach der also Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung nur den Charakter von Phänomenen beanspruchen« (Rombach, Bd. 2, S. 386), definiert auch Max Webers Wissenschaftstheorie. 88 J. Kocka, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Max Weber, der Historiker, S. 7ff., hier S. 10. 89 S. oben, Abschnitt IV. 90 Kant (wie Anm. 42), B 521. 91 S. Kracauer, Geschichte -Vor den letzten Dingen, Frankfurt a.M. 1969, S. 223 (gegen E. Troeltsch und gegen H. Rickert gerichtet, vgl. ebd., S. 281f.). 92 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 608 und 613. 93 Ebd., S. 609. 94 Vgl. Oexle (wie Anm. 62), in diesem Band S. 25ff. und 34ff. Zu Webers Wissenschaftstheorie zuletzt P. Rossi, Max Weber und die Methodologie der Geschichts- und Sozialwissenschaften, in: Kocka (Hg.), Max Weber, der Historiker, S. 28ff. 95 Kocka (wie Anm. 88), S. 10. Vgl. Ders., Max Webers Bedeutung für die Geschichtswissenschaft, ebd., S. 13ff. 96 Th. Schieder, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München 1965 und 19682, S. 151f. 97 H. Gollwitzer, Historismus als kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 10, 1982, S. 5ff., hier S. 14. 98 Die an dieser Stelle eingefügten Überlegungen zum »expansiven Historismus unserer Gegenwartskultur« (H. Lübbe), über die aktuellen Probleme von Denkmalpflege und Stadterneuerung sowie über den sogenannten »Historikerstreit« der 1980er Jahre wurden im Wiederabdruck gestrichen, da sie in dem Text »Meineckes Historismus« noch einmal aufgegriffen wurden, s. in diesem Band S. 133ff. 267 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 93-95 99 W. Dilthey, Rede zum 70. Geburtstag (1903), in: Ders., Die geistige Welt.Einleitungin die Philosophie des Lebens (Gesammelte Schriften 5), Leipzig 1924, S. 9. 100 W. Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie (Gesammelte Schriften 8), Leipzig 1931, S. 232. 101 G. Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch (1916), Nachdruck München 1985, S. 134, und die weiteren Äußerungen über die »Unendlichkeit von Entstehung und Vernichtung«, von »Werden und Untergehen«. Dazu J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Simmel und Rodin, in: Ders., Epochengrenzen und Kontinuität. Studien zur Kunstgeschichte, München 1985, S. 289ff., bes. S. 298ff. 102 S. oben, Abschnitt I. 103 Kracauer (wie Anm. 68), S. 202. 104 Zu Troeltsch s. oben, Abschnitt IV. Auch Max Schelers Ziel war es, mit den Mitteln der Wissenschaft, u.a. auch mittels einer Soziologie des Wissens, »eine von historischen und soziologischen Bedingungen unabhängige Wert- und Geistsphäre zu erweisen« und damit einen »archimedischen Punkt jenseits des historisch Wandelbaren« zu ermitteln, vgl. H.-J. Lieber, Ideologie. Eine historisch-systematische Einführung, Paderborn 1985, S. 76ff.; die Zitate ebd., S. 76 und 84. 105 Vgl. M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft (1925), Bern 19602, bes. S. 149ff. 106 S. oben S. 90f. 107 S. oben, Anm. 87. 108 Zur gleichzeitigen und gleichartigen Position des »metaphysischen, objektiven Idealismus« bei Savigny jetzt J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelbach 1984, S. 232ff. 109 Oexle (wie Anm. 62), in diesem Band S. 34ff. 110 C. F. von Weizsäcker, Aufbau der Physik, München 1985, S. 489ff.
4. Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition 1 Dazu und zum folgenden O. G. Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, wiederabgedruckt in diesem Band S. 17ff.; Ders., »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, wiederabgedruckt in diesem Band S. 41ff.; Ders., Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 73ff.; A. Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems (1992), Göttingen 19942. 2 K. Heussi, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932; Oexle, »Historismus« (wie Anm. 1). 3 F. Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus (1923), wiederabgedruckt in: Ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (Friedrich Meinecke, Werke 4) Stuttgart 1959, S. 367-378; Ders., Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (1924) (Friedrich Meinecke, Werke 1) München 1957, S. 22ff., 424ff.; Ders., Die Entstehung des Historismus (1936) (Friedrich Meinecke, Werke 3), München 19652. 268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 96-100 4 G. G. Iggers, The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, 1968, und Ders., Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971; auf dieser Linie dann auch W. J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971, und viele andere. 5 F. Jaeger u. J. Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, S. 1. 6 Meinecke, Historismus (wie Anm. 3), S. 2 und 5. 7 Jaeger u. Rüsen, Geschichte des Historismus (wie Anm. 5), S. 1. 8 Ebd., S. 7. 9 Meinecke, Historismus (wie Anm. 3), S. 1. 10 J. Rüsen, Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt a.M. 1993, S. 17f. 11 G. G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 19f. 12 Abgedruckt in: Meinecke, Historismus, S. 585-602, das Zitat hier S. 595. 13 H. W. Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart 1991, S. 47ff. 14 Blanke, Historiographiegeschichte, S. 60ff. und 76ff. Ebenso Jaeger u. Rüsen, Geschichte des Historismus, S. 1. 15 Zu dieser Konzeption der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft vgl. O. G. Oexle, Einmal Göttingen - Bielefeld einfach: Auch eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 11, 1992, S. 54-66. 16 So z.B. die Autoren des unten, Anm. 32, genannten Sammelbandes. Zum Problem vgl. auch E. Schulin, Vom Beruf des Jahrhunderts für die Geschichte: Das 19. Jahrhundert als Epoche des Historismus, in: A. Esch u. J. Petersen (Hg.), Geschichte und Geschichtswissenschaft in der Kultur Italiens und Deutschlands. Wissenschaftliches Kolloquium zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Historischen Instituts in Rom (24. - 25. Mai 1988), Tübingen 1989, S. 11-38. 17 So J. Rüsen und H. W. Blanke in ihren oben genannten Veröffentlichungen. 18 Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 498ff.; die Zitate S. 498f. Vgl. auch den in Anm. 16 genannten Aufsatz von E. Schulin. 19 G. Walther, Niebuhrs Forschung, Stuttgart 1993, S. 12, Anm. 8, mit der Behauptung, es sei »bislang nicht gelungen«, den Begriff des ›Historismus‹ »aus seiner Rolle eines vagen, emphatisch oder polemisch aufladbaren Schlagworts zu befreien«. Selbstverständlich ist nicht ausgeschlossen, daß der Begriff noch und immer wieder als ein solches Schlagwort verwendet wird. 20 U. Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991; vgl. auch Ders., Bildung zwischen Neuhumanismus und Historismus, in: R. Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 80-105. 21 Muhlack, Geschichtswissenschaft, S. 7 und 27. 22 Ebd., S. 28. 23 Ebd., S. 20 und 28. 24 Ebd., S. 19. Muhlack gibt eine Begründung per auctoritatem, nämlich mit einem Hinweis auf die hohe Schätzung Croces von Seiten seines Lehrers Otto Vossler. 25 Muhlack, Geschichtswissenschaft, S. 22. 26 Ebd., S. 412f. 27 Ebd., S. 414. 28 Ebd., S. 417.
269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 100-105 29 Ebd., S. 417f. 30 Ebd., S. 419ff. 31 Blanke, Historiographiegeschichte (wie Anm. 13), S. 61ff. 32 H. E. Bödeker u.a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, S. 15ff. 33 Ebd., S. 20. 34 Jaeger u. Rüsen, Geschichte des Historismus (wie Anm. 5), S. 5. 35 H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt a.M. 1983, S. 51ff. Vgl. bereits Ders., Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg 1974. 36 Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 54. 57 G. Scholtz, Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1991, S. 131f. 38 Ebd., S. 133. 39 Ebd., S. 134. 40 H. Lübbe, Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus, Graz 1989. 41 H. Lübbe, Die Gegenwart der Vergangenheit. Kulturelle und politische Funktionen des historischen Bewußtseins, Oldenburg 1985, S. 11. 42 Ebd., S. 13. 43 V. Steenblock, Transformationen des Historismus, München 1991, S. 12. 44 Ebd., S. 7. 45 Ebd., S. 182. 46 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (Gesammelte Schriften 3) (1922), Nachdruck Aalen 19772; Ders., Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau 1, 1922, S. 572-590. Der Titel des postum erschienenen Buches von E. Troeltsch, Der Historismus und seine Überwindung (1924, Neudruck Aalen 1966) stammt nicht von Troeltsch selbst und ist im Hinblick auf dessen eigenste Intentionen irreführend, da es Troeltsch nicht um die Überwindung des Historismus, sondern um die Überwindung des Relativismus als einer nur »scheinbar notwendigen Folge ... des Historismus« ging (ebd., S. 44). Zur Genese dieses Titels vgl. M. D. Chapman, The »sad story« of Ernst Troeltsch's Proposed British Lectures of 1923, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 1, 1994, S. 97-122. 47 Troeltsch, Krisis, S. 573. 48 Ebd., S. 577. 49 Ebd., S. 577f. 50 Ebd., S. 583f. 51 Der erste Band (»Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte«) erschien 1982. 52 H. Renz u. F. W.Graf(Hg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien 4), Gütersloh 1987. 53 M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880-1920, Gütersloh 1992. 54 B. Nichtweiß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg 1992. 55 W. Kemp, in: W. Busch u. P. Schmoock (Hg.), Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen, Weinheim 1987, S. 163; vgl. B. Mundt, Historismus. Kunstgewerbe zwischen Biedermeier und Jugendstil, München 1981; J. Bahns, Zwischen Biedermeier und Jugendstil. Möbel des Historismus, München 1987. 56 N. Borger-Keweloh, Die mittelalterlichen Dome im 19. Jahrhundert, München 1986. 270 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 105-107 57 M. Arndt, Die Goslarer Kaiserpfalz als Nationaldenkmal. Eine ikonographische Untersuchung, Hildesheim 1976. 58 D. Bartmann, Anton von Werner. Zur Kunst und Kunstpolitik im Deutschen Kaiserreich, Berlin 1985; Ders. (Hg.), Anton von Werner. Geschichte in Bildern (Ausstellungskatalog, München 1993). 59 U. Krings, Bahnhofsarchitektur. Deutsche Großstadtbahnhöfe des Historismus, München 1985. 60 H.-W. Kruft, Alfred Pringsheim, Hans Thoma, Thomas Mann. Eine Münchner Konstellation, München 1993. 61 H. Westermann-Angerhausen (Hg.), Alexander Schnütgen. Colligite fragmenta ne pereant. Gedenkschritt des Kölner Schnütgen-Museums zum 150. Geburtstag seines Gründers, Köln 1993. 62 F. Gross, Jesus, Luther und der Papst im Bilderkampf 1871 bis 1918. Zur Malereigeschichte der Kaiserzeit, Marburg 1989. 63 H. G. Evers, Ludwig II. von Bayern. Theaterfürst - König - Bauherr. Gedanken zum Selbstverständnis, München 1986. 64 Dazu M. Bushart, Der Geist der Gotik und die expressionistische Kunst. Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911-1925, München 1990. 65 Ebd., S. 135ff. 66 W. Hofmann, Das Irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, 1960 und München 19742, S. 254ff. 67 Ebd., S. 254. 68 Vgl. N. Huse (Hg.), Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, München 1984. 69 Dazu die bei W. Lipp (Hg.), Denkmal - Werte - Gesellschaft. Zur Plurahtät des Denkmal be griffs, Frankfurt a.M. 1993, abgedruckten Texte. 70 W. Busch, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993. 71 F. Aspetsberger, Der Historismus und die Folgen. Studien zur Literatur in unserem Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1987. 72 P. Paret, Kunst als Geschichte. Kultur und Politik von Menzel bis Fontane, München 1990. 73 C. E. Schorske, Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1980. 74 H. Bachmaier (Hg.), Paradigmen der Moderne, Amsterdam 1990. Ferner die unten, Anm. 76 und Anm. 80, genannten Arbeiten von D. Niefanger und G. Wunberg. 75 H. Bachmaier, Einleitung: Die Signaturen der Wiener Moderne, in: Ders. (Hg.), Paradigmen der Moderne, S. VII-XXIII. 76 D. Niefanger, Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne, Tübingen 1993. 77 Ebd., S. 169f. 78 Ebd., S. 164. 79 H. von Hofmannsthal, Gabriele d'Annunzio (1893), in: Ders., Erzählungen und Aufsätze, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1957, S. 291-301, S. 293. Den Hinweis auf dieses fundamentale Diktum gibt Niefanger, Produktiver Historismus, S. 160ff. 80 G. Wunberg, Historismus und Fin de siècle. Zum Décadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende, in: Actes du Colloque International »La littérature de Fin de siècle, une littérature décadente?«. Numero special de la Revue luxembourgeoise de littérature generale et comparée, Luxembourg 1990, S. 13-47; Ders., Unverständlichkeit: Historismus 271 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 107-113 und literarische Moderne, in: Hofmannsthal-Jahrbuch für europäische Moderne 1, 1993, S. 309-350. 81 Wunberg, Historismus und Fin de siècle, S. 13f. Vgl. Ders., Unverständlichkeit, bes. S. 314ff. 82 Dazu einige Hinweise bei W. Hofmann, Spielkartenästhetik. Das Kombinatorische in der modernen Kunst, in: Ders., Tag- und Nachtträumer. Von der Kunst, die wir noch nicht haben, München 1994, S. 95-106. 83 Dazu jetzt auch die gründliche Darstellung von Nietzsches Wissenschartskritik bei A. Germer, Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches, Göttingen 1994. 84 Hofmannsthal (wie oben, Anm. 79), S. 291. 85 Ebd., S. 292. 86 H. von Hofmannsthal, Ansprache im Hause des Grafen Karl Lanckoronski, in: Ders., Erzählungen und Aufsätze, Bd. 2 (wie Anm. 79), S. 332-337, S. 336. 87 H. von Hofmannsthal, Ein Brief, in: Ders., Erzählungen und Aufsätze, S. 337-348, S. 341f. 88 Wittkau, Historismus (wie Anm. 1), S. 57ff. 89 Ebd., S. 61ff. und 80ff. 90 Zum Folgenden Oexle, »Historismus«, in diesem Band, Abschnitte III und IV. 91 Wittkau, Historismus, S. 96ff. 92 Dazu Oexle, Von Nietzsche zu Max Weber, in diesem Band S. 78ff. 93 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 46), S. 772. 94 Vgl. Oexle, Von Nietzsche zu Max Weber, in diesem Band S. 81ff. 95 O. G. Oexle, ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹. Historische Reflexionen über Tragweite und Grenzen der modernen Wissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 41, 1990, S. 145-161; A. Germer, Wissenschaft und Leben (wie Anm. 83). 96 D. J. K. Peukert, »Der Tag klingt ab, allen Dingen kommt nun der Abend ...« - Max Webers »unzeitgemäße« Begründung der Kulturwissenschaften, in: R. vom Bruch u.a. (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 155-173. 97 Ebd., S. 170. 98 Ebd., S. 171. 99 Vgl. Wittkau, Historismus (wie Anm. 1), S. 131ff.; Germer, Wissenschaft und Leben (wie Anm. 83), S. 89ff. 100 Dazu auch Nichtweiß, Erik Peterson (wie Anm. 54), S. 296ff. und 457ff. 101 Die wissenschaftlichen wie die lebensweltlichen Distanzen zwischen Max Weber, Edmund Husserl und Karl Jaspers auf der einen, Martin Heidegger auf der anderen Seite sind klar erfaßt und charakterisiert bei K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986 (dieser Text wurde 1940 niedergeschrieben). 102 W. Eucken, Die Überwindung des Historismus, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 62/I, 1938, S. 63-92. 103 Ebd., S. 72: Die »Zeitbedingtheit« wissenschaftlicher Fragestellungen und der »Problembehandlung« besage »nicht im mindesten, daß die Gültigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse von den historischen Daseinsbedingungen« abhänge. Denn die »ganze Hypothese von der Wandelbarkeit der menschlichen Vernunft« gehöre zu den »etwas leichtfertigen, ungeschichtlichen und mythischen Entwicklungsideologien des 19. Jahrhunderts« (S. 74), von denen sich die Wissenschaft »baldigst freizumachen« habe. Denn es verhalte sich so, daß der »Gang des Weltablaufs ... wahre Erkenntnisse« bestätige. Es sei deshalb das »Ziel der 272 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 113-117 Erfahrungswissenschaften ..., die wechselnden und subjektiven Oberflächenansichten beiseite zuschieben« und somit »dem wahren Zusammenhang der Geschehnisse und Dinge näher« zu kommen, also ein »einheitliches wissenschaftliches Weltbild« zu erarbeiten (S. 76). 104 Dazu O. C. Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach, wieder abgedruckt in diesem Band S. 137ff., bes. S. 155ff. 105 Es bleibt bemerkenswert, daß die Zerstörung der Idee der individuellen Rechtspersönlichkeit in der Rechtswissenschaft seit 1933 im Zeichen der Idee eines allein gemeinschaftsgebundenen Rechts das Werk »fast ausschließlich« der Rechtswissenschaft war, wie B. Rüthers, Immer auf der Höhe des Zeitgeistes? Wissenschaft im Wandel der politischen Systeme am Beispiel der Jurisprudenz, Konstanz 1993, bes. S. 30ff. festgestellt hat. 106 Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 155f. 107 H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959. 108 Ebd., S. 11. 109 Meinecke, Historismus (wie Anm. 3), S. 1. 110 F. Meinecke, Von der Krisis des Historismus (1942), in: Ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (wie Anm. 3), S. 196-204, die folgenden Zitate hier S. 201ff. 111 Über die Benutzung des mittelalterlichen Reichsgedankens durch den Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs und die positive Aneignung dieser Mythologie durch deutsche Historiker: K. Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1992, S. 61f. u.ö., bes. S. 178ff. 112 W. Hardtwig, Geschichtsreligion - Wissenschaft als Arbeit - Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht, in: HZ 252, 1991, S. 1-32; zu Meinecke ebd., S. 6ff. u.ö. Treffend hier auch die Darlegung des Sachverhalts, daß »den Geschichtsreligionen idealistischen wie materialistischen Zuschnitts ... in Deutschland erst die Wissenschaftstheorie Max Webers die Grundlage entzogen (hat)-was keineswegs ausschloß, daß deren Erbe noch lange nachwirkte; in der Bundesrepublik bis in die 50er Jahre hinein, in der DDR ... bis zum Ende der 80er Jahre« (S. 15). Zum Bruch Webers mit dieser Tradition ebd., S. 15ff. 113 Meinecke, Historismus, S. 1. 114 Vgl. die Angaben oben, Anm. 3, sowieF.Meinecke, Kausalitäten und Werte in der Geschichte (1928), in: Ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (wie Anm. 3), S. 61-89; Ders., Geschichte und Gegenwart (1933), in: ebd., S. 90-101 (1939 in veränderter Fassung erneut veröffentlicht unter dem Titel »Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte«). 115 F. Meinecke, Die Bedeutung der geschichtlichen Welt und des Geschichtsunterrichts für die Bildung der Einzelpersönlichkeit (1918), zweite Auflage (1922) unter dem Titel »Persönlichkeit und geschichtliche Welt«, wiederabgedruckt in: Ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (wie Anm. 3), S. 30-60. Die Zitate hier S. 34, 37, 50f. und 53. 116 Meinecke, Historismus, S. 2. 117 So in der Rezension des Buches von K. Heussi (wie oben, Anm. 2), in: HZ 149, 1934, S. 303-305, S. 305, sowie in der Abhandlung über »Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus« (wie Anm. 3), S. 375. 118 Meinecke, Historismus, S. 2. Das folgende Zitat in: HZ 149, 1934, S. 304 (wie Anm. 117). 119 Meinecke, Historismus, S. 2. 120 Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, S. 370 und 377f. 121 Ebd., S. 375. Die folgenden Zitate ebd., S. 378. 273 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 117-123 122 O. Hintze, Troeltsch und die Probleme des Historismus. Kritische Studien (1927), in: Ders., Soziologie und Geschichte (Gesammelte Abhandlungen 2), Göttingen 19642, S. 323-373. 123 S. unten, S. 120f. 124 Dazu Hintze, Troeltsch und die Probleme des Historismus, S. 334ff. 125 S. oben, Anm. 2. 126 Vgl. Meinecke, Historismus, S. 1f. Seine Ablehnung des Buches von Heussi hat Meinecke in einer Rezension (wie oben, Anm. 117) ausgesprochen. 127 Die folgenden Überlegungen werden wiederholt aus Oexle, »Historismus«, s. in diesem Band S. 64f. 128 F. Meinecke, Zur Entstehungsgeschichte des Historismus und des Schleiermacherschen Individualitätsgedankens, in: Ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (wie Anm. 3), S. 341-357, S. 341. 129 So in der Rezension des Buches von Karl Heussi (wie oben, Anm. 117), S. 303f. 130 Troeltsch, Krisis (wie Anm. 46), S. 579f. Grundsätzlich darüber Ders., Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 46), S. 754ff. 131 Meinecke, Historismus, S. 6. 132 S. oben, Anm. 117. 133 Hintze, Troeltsch und die Probleme des Historismus (wie Anm. 122), S. 329t. 134 Vgl. Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 29f. 135 So Meinecke in seiner Rezension des Buches von Heussi (wie Anm. 117), S. 305. 136 Vgl. Wittkau, Historismus, S. 96ff. 137 Meinecke, Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 114), S. 92. 138 W. Hofer, Geschichtsschreibung und Weltanschauung. Betrachtungen zum Werk Friedrich Meineckes, München 1950, S. 408f. 139 Meinecke, Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 114), S. 94ff. 140 Ebd., S. 99. 141 Ebd., S. 98f. 142 Ebd., S. 100f. 143 F. Meinecke, Die deutsche Katastrophe (1946), wieder abgedruckt in: Ders., Autobiographische Schriften (Friedrich Meinecke, Werke 8), Stuttgart 1969, S. 323-445, hier S. 442ff. Zur »Geschichtsreligion« Meineckes vgl. den oben, Anm. 112, genannten Aufsatz von W. Hardrwig. 144 P. Bahners, Literaturkenntnis schützt vor Denkmalssturz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Mai 1993. 145 S. oben, Anm. 133. 146 K. Vossler, Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist, München 1926, S. 45. Dieses Zitat sowie das unten, Anm. 147, nachgewiesene von Thomas Mann verdanke ich der Abhandlung von M. Nerlich, Aufklärung und Republik. Zum deutsch-französischen Verhältnis, zur Frankreich-Forschung und zu Werner Krauss, in: Lendemains 18, 1993, No. 69/70, S. 8-87, S. 28f. und S. 36. 147 Th. Mann, Pariser Rechenschaft, in: Ders., Reden und Aufsätze, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1965, S. 470f. und 473. Die Polemik Thomas Manns scheint auf Georg von Belows Raisonnements über Aufklärung und »Romantik« gemünzt gewesen zu sein; s. im Text unten, S. 125ff. 148 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (1932), unveränderter Nachdruck Tübin gen 19733. 274 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 123-127 149 Ebd., S. 263. 150 Ebd., S. 264f. 151 E. Cassirer, Deutschland und Westeuropa im Spiegel der Geistesgeschichte, in: Ders., Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hg. von E. W. Orth, Leipzig 1993, S. 218-234, S. 218f. 152 Vossler (wie oben, Anm. 146); E. Troeltsch, Deutsche Bildung, in: Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung, Darmstadt 1919, S. 191-240. 153 HZ 149, 1934, S. 582-586; hier die folgenden Zitate. Vgl. J. B. Knudsen, Friedrich Meinecke (1862-1954), in: H. Lehmann u. J. van Horn Melton (Hg.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Washington, D.C. 1994, S. 49-71. 154 A. a. O. S. 585. 155 Vgl. bereits H. Nohl, Die Deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 2, 1911/12, S. 350-359, mit der programmatischen These: »Die neue Epoche gegenüber dem Zeitalter der Aufklärung beginnt überall da, wo der ›Reflexion‹ des Verstandes als der alle Gewißheit begründenden Macht, der Abstraktion und Demonstration des Rationalismus einerseits, der psychologischen und kulturwissenschaftlichen Analyse andererseits das ›Leben‹ als ein von Grund aus individuelles, irrationales und als Totalität, die nur der Totalität des Erlebens zugänglich ist, entgegengehalten wird« (S. 350), u.a. mit der Erläuterung: »Schiller und Eichte waren die ersten Führer der Deutschen Bewegung« (S. 356). 156 Troeltsch, Deutsche Bildung (wie Anm. 152), S. 193. 157 Troeltsch, Historismus, S. 277ff. 158 E. Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 19302; die Zitate S. VI u. S. 277. 159 Ebd., S. 45f. 160 M. Ritter, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an den führenden Werken betrachtet, München 1919, S. 313ff. 161 Über ihn: O. G.Oexle, Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858-1927), in: N. Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 283-312. 162 G. von Below, Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unsern Tagen. Geschichtschreibung und Geschichtsauffassung, München 19242. Die erste Auflage (Leipzig 1916) trug den Untertitel »Geschichte und Kulturgeschichte«. 163 Ebd., S. IX. 164 Ebd., S. 4. 165 S. oben, Anm. 159. 166 Below, Die deutsche Geschichtschreibimg, S. 6. 167 Ebd., S. 9. 168 Ebd., S. 22. 169 Ebd., S. 21. 170 Ebd., S. 9ff. 171 G. von Below, Wesen und Ausbreitung der Romantik, in: Ders., Über historische Periodisierungen mit besonderem Blick auf die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, Berlin 1925, S. 87-107 (Beigabe), hier S. 101 und 103. 172 G. von Below, Das Wesen der Romantik, in: Ders., Die Entstehung der Soziologie. Aus dem Nachlasse he. v. O. Spann, Jena 1928, S. 41f. 173 Below, Die deutsche Geschichtschreibung, S. 4. 275 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 127-131 174 Below, Wesen und Ausbreitung der Romantik, S. 92. 175 Below, Die deutsche Geschichtschreibung, S. 4 und 15. In einem Aufsatz über »Die Wiederanerkennung der Romantik« (in: Konservative Monatsschrift 78, 1920/21, S. 413-423) heißt es: »... die Romantik wollte gerade den staatlichen Egoismus, die nationale Selbständigkeit. Die politische Romantik ist geradezu als Kampf fur die nationale Selbstbehauptung aufgekommen« (S. 413). 176 Oexle, Ein politischer Historiker (wie Anm. 161), S. 293ff. u.ö. 177 Meinecke, Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 114), S. 95. Meineckes Buch über »Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte« von 1924 (wie Anm. 3) hatte einen seiner beiden »Knotenpunkte« in der Feststellung des Zusammenhangs »zwischen der Idee der Staatsräson und der Idee des Historismus« (S. 23). 178 Below bewertete die Reformation zugleich als eine weltgeschichtliche Epoche im universalen Sinn (»Beginn der Neuzeit«) und als ein genuin deutsches Ereignis. Deshalb »könnte (man) wohl die Formel verteidigen: je mehr ein Land, wenigstens im Lauf der neueren Jahrhunderte, mit der deutschen Bewegung gemein hat, desto mehr zeigt es modernes Gepräge« (Über historische Periodisierungen, wie Anm. 171, S. 53ff.; die Zitate S. 61ff.). 179 Below, Die deutsche Geschichtschreibung, S. 9f. 180 Dazu Blanke, Historiographiegeschichte (wie Anm. 13), S. 628ff. 181 K. Brandi, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 187, 1925, S. 321-335 (mit der treffenden Bemerkung, Belows »Preisgesang auf die Romantik« sei »selbst so ganz und gar unromantisch«); F. Hartung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschart 81, 1926, S. 530-532. 182 Brandi, S. 324; Hartung, S. 531. 183 Below, Das Wesen der Romantik, S. 35. 184 Ebd., S. 37 und 42. 185 Ebd., S. 41f. 186 Meinecke, Die Bedeutung der geschichtlichen Welt und des Geschichtsunterrichts für die Bildung der Einzelpersönlichkeit (wie Anm. 115), S. 51. 187 Eucken, Die Überwindung des Historismus (wie Anm. 102), S. 66, Anm. 1, und S. 70. 188 H. Günther, Zeit der Geschichte. Welterfahrung und Zeitkategorien in der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1993, S. 237f. 189 M. Bloch, »Historisme« ou travail d'Historiens?, in: Annales d'Histoire Sociale 1, 1939, S. 429-430. 190 Vgl. P. Schöttier, Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West), in: M. Middell u. S. Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992, Leipzig 1994, S. 40-60; O. G. Oexle, Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß, in: M. Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, München 1995, S. 89-127. 191 R. Wittram, Das Interesse an der Geschichte, Göttingen 1958, S. 58ff.; Th. Schieder, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München 1965 und 19682, S. 151ff. 192 H. Gollwitzer, Historismus als kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 10, 1982, S. 5-16, S. 14. 193 So treffend Th. Nipperdey, Historismus und Historismuskritik heute (1975), wiederabgedruckt in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 59-73, S. 65. 194 Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 365ff. und 376ff. 195 H.-U. Wehler, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 88f. 276 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 132-135 196 Nipperdey, Historismus und Historismuskritik heute (wie Anm. 193), S. 26f. 197 Wie oben, Anm. 18. 198 H. W. Blanke, »Historismus« im Streit. Oder: Wie schreibt man heute eine Geschichte der Geschichtswissenschaft?, in: Rechtshistorisches Journal 12, 1993, S. 585-597. Die Zitate hier S. 589. 199 S. oben, Anm. 4. 200 S. oben, Anm. 40 und 41. 201 Dazu die verschiedenen Beiträge in: G. Korff u. M. Roth (Hg.), Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt a.M. 1990. 202 S. oben, Anm. 68. 203 DarüberT.Buddensieg, Berliner Labyrinth, Berlin 1993. 204 Vgl. die Dokumentation »Universitätskirche Leipzig. Ein Streitfall?« (Leipzig 1992). 205 Vgl. die beiden Dokumentationen »Streit um die Neue Wache. Zur Gestaltung einer zentralen Gedenkstätte« (Berlin 1993) und D. Büchten u. A. Frey (Hg.), Im Irrgarten deutscher Geschichte. Die Neue Wache 1818 bis 1993 (Berlin 1993). 206 V. Steenblock, Zur Wiederkehr des Historismus in der Gegenwartsphilosophie, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 45, 1991, S. 209-223. 207 Ebd., S. 210. 208 H. Schnädelbach, Einleitung: Über die Vernünftigkeit der Geschichte und die Geschichtlichkeit der Vernunft, in: Ders., Vernunft und Geschichte. Vorträge und Abhandlungen, Frankfurt a.M. 1987, S. 9-20. In krassem Gegensatz dazu steht es, wenn Freuds Psychoanalyse als ein historisch nicht bedingter, unveränderlicher und universal gültiger Ansatz »gegen den Historismus« empfohlen wird: P. Gay, Freud für Historiker, Tübingen 1994, S. 93ff. 209 Zum Unterschied vgl. W. Welsch, Postmoderne oder Ästhetisches Denken - gegen seine Mißverständnisse verteidigt, in: G. Eifler u. O. Saame (Hg.), Postmoderne - Anbruch einer neuen Epoche?, Wien 1990, S. 237-269, S. 246ff. 210 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 19913, S. 5. Dazu Steenblock, Zur Wiederkehr des Historismus (wie Anm. 206), S. 212f und 220ff. 211 H. Dubiel, Der Fundamentalismus der Moderne, in: Merkur 46, 1992, S. 747-762, S. 759ff.; die Zitate S. 760 und 762. 212 H. F. Zacher, Die immer neue Notwendigkeit, die immer neue Last des Pluralismus, in: A4. Stolleis (Hg.), Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, München 1991, S. 579-601. 213 J. Mittelstraß, Das ethische Maß der Wissenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 7, 1988, S. 193-210, S. 210. 214 H. Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 3. 215 Steenblock, Zur Wiederkehr des Historismus, S. 210, 212ff 216 Steenblock, Transformationen des Historismus (wie Anm. 43). 217 Steenblock, Zur Wiederkehr des Historismus, S. 214. 218 Dazu Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band, Abschnitt V 219 So P. A. Riedl, Nostalgie und Postmoderne, in: J. Assmann u. T. Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, S. 340-366, S. 347. 220 A4. Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus (1985), wiederabgedruckt in: Ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1987, S. 159-173; die folgenden Zitate ebd., S. 165f. und S. 173. 277 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 136-139 221 Vgl. dazu J. Kocka, Die Geschichte der DDR als Forschungsproblem. Einleitung, in: Ders. (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 9-26. 222 Dies war der Titel eines Kolloquiums, das J. Kocka mit dem Forschungsschwerpunkt »Zeithistorische Studien« (Potsdam) im Sommer 1993 in Potsdam veranstaltet hat, vgl. J. Kocka u. M. Sabrow (Hg.), Die DDR als Geschichte. Fragen - Hypothesen - Perspektiven, Berlin 1994. 5. Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach 1 Dazu die Formulierung dieses Erkenntnisideals bei E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (Gesammelte Schriften 3) (1922), Nachdruck Aalen 19772, S. 43: »Der historische Gegenstand ... bleibt immer derselbe, und man kann nur glauben, tiefer oder von anderen Seiten her in ihn einzudringen«. Ebenso die Bemerkung über die »Praxis der Historiker ..., die im Verkehr mit dem Objekt und unter dem Zwang des Objektes die Anschmiegung der Erkenntnis und der Darstellungsform an den Fluß des Geschehens leichter findet als die logische Theorie« (S. 669). Diese Auffassungen von der Art der historischen Erkenntnis sind noch weit verbreitet. 2 Vgl. H.-J. Dahme u. 0. Rammstedt, Die zeitlose Modernität der soziologischen Klassiker. Überlegungen zur Theoriekonstruktion von Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Max Weber und besonders Georg Simmel, in: Dies. (Hg.), Georg Simmel und die Moderne, Frankfurt a.M. 1984, S. 449-178, S. 456ff. 3 Dies kam zuerst in den transzendentalphilosophischen Orientierungen der Theorie der historischen Erkenntnis bei G. Simmel zum Ausdruck, vgl. Dahme u. Rammstedi (wie Anm. 2), S. 458. 4 M. Weber, Die ›Objektivitat‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19825, S. 146-214, S. 184. 5 F. Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln 1975, S. VIIIf. 6 F. Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in: HZ 243, 1986, S. 529-589. 7 Dazu O. G. Oexle, Das entzweite Mittelalter, in: G. Althoff (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992. S. 7-28. 168-177. 8 Dazu O. G. Oexle, Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber, in: Ch. Meier (Hg.), Die Okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter. München 1994, S.115-159. 9 P. L. Landsberg, Die Welt des Mittelalters und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn eines Zeitalters, Bonn 1922. Eine zweite Auflage erschien 1923. Zitiert wird im Folgenden nach der 3. Auflage von 1925. Das Buch ist gewidmet »Meinem Lehrer Max Scheler«. 10 Über P. L. Landsberg (1901-1944), Sohn des Rechtshistorikers und Historikers der deutschen Rechtswissenschaft Ernst Landsberg, vgl. die »Gedächtnisschrift für Prof. Dr. Ernst Landsberg (1860-1927), Frau Anna Landsberg geb. Silverberg (1878-1938), Dr. Paul Ludwig Landsberg (1901-1944)«, welche die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Bonn herausgab (Bonn 1953), S. 6ff. und 10f. Landsberg habilitierte sich 278 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 139 1928 in Bonn für Philosophie. Als Jude und entschiedener Gegner des Nationalsozialismus mußte er 1933 Deutschland verlassen. Er lebte zuerst in Paris, dann in Barcelona, bis er 1937 durch den spanischen Bürgerkrieg erneut vertrieben wurde. In Südfrankreich überlebte er unter einem Pseudonym die deutsche Okkupation, bis er 1943 von der Gestapo verhaftet wurde. Landsberg starb am 2. April 1944 im Konzentrationslager Sachsenhausen (Oranienburg). Über seine Zeit in Frankreich, seine Verbindungen und Freundschaften der bewegende Nachruf von E. Mounier in der Zeitschrift »Esprit«, für die Landsberg gearbeitet hatte (14 année, No 118, 1946, S. 155f.) (»il est sans doute une des plus lourdes pertes qui affectent l'espoir d'une Allemagne nouvelle et de nouvelles relations franeo-allemandes. ... il portait le meilleur de son pays«). Vgl. auch die denkwürdige Widmung, die Mounier dem Heft 134 (1947) der Zeitschrift voranstellte: »A Paul-Louis Landsberg, mort en deportation à Oranienburg le dimanche des Rameaux 1944, pour l'Allemagne et pour la France, pour les lois nonécrites et pour les lois écrites«. - Von den späteren Veröffentlichungen seien genannt die Bücher »Pascals Berufung« (1929), »Einführung in die philosophische Anthropologie« (1934) und (als wichtigstes Werk) »Die Erfahrung des Todes« (Luzern 1937). Dazu die umfassende Würdigung des Oeuvres und der Spiritualität Landsbergs durch J. M. Oesterreicher, Paul Landsberg, Defender of Hope, in: Ders., Walls are Crumbling. Seven Jewish philosophers discover Christ, London 1953, S. 176-231. Vgl. K. Albert, Die philosophische Anthropologie bei P. L. Landsberg, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 27, 1973, S. 582-594. 11 Zur Wirkung des Buches, die sich auch an den Rezensionen erkennen läßt (u.a. von Alfred von Martin, vgl. unten, Anm. 85, und von Hermann Hesse, s. unten, Anm. 75), vgl. Oesterreicher (wie Anm. 10), S. 192 und 347. -Esist daran zu erinnern, daß zur gleichen Zeit das Schlagwort vom ›neuen Mittelalten durch ein Buch des russischen Philosophen Nikolai A. Berdjajew (»Das neue Mittelalter«, 1924) propagiert wurde. Berdjajew (1874-1948) lebte von 1922 bis 1924 in Berlin und war, wie Landsberg, von Max Scheler beeinflußt, vor allem von dessen ›Personalismus‹ (s. unten, Anm. 76). Berdjajew erklärte die Neuzeit für beendet und sah das »Anbrechen des neuen Mittelalters« als den »Übergang vom neugeschichtlichen Rationalismus zum Irrationalismus oder Überrationalismus des Mittelalters« (S. 18). Die Wirkung des Buches bezeugt E. Dennert, Die Krisis der Gegenwart und die kommende Kultur, Leipzig 1928. Außerdem ist daraufhinzuweisen, daß bereits den Mittelalter-Aneignungen der Romantik die Idee eines ›neuenMittelalters‹zugrundeliegt, so bei Novalis (»Die Christenheit oder Europa«, 1799), wo der Rückblick auf das durch die Reformation zerstörte Mittelalter einmündet in die »mit voller Gewißheit« geäußerte Wahrnehmung der »Spuren einer neuen Welt«, einer Epoche von »Fairopas Auferstehung« mit einer »neuen Kirche« : »Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt sein wird« (Novalis, Werke, Bd. 2, hg. von H.-J. Mähl, München 1978, S. 732ff., die Zitate S. 744 und 750). Landsbergs Mittelalter-Buch seinerseits ist vielfältig durch Novalis' Schrift von 1799 inspiriert (vgl. Landsberg, wie Anm. 9, S. 114ff). 12 Sehr deutlich tritt in solchen Äußerungen die Anziehungskraft zutage, die der Katholizismus (vor allem durch die Spiritualität des Klosters Maria Laach) und das Denken des Kreises um Stefan George auf den jungen Landsberg ausübten. Vgl. Oesterreicher (wie Anm. 10), S. 178. Über gleichartige Denkformen im deutschen Protestantismus (bei den sog. »konservativen Kulturlutheranern«) um 1900 s. unten, Anm. 41. Über ›Mittelalter und Moderne‹ bei S. George vgl. Bolz (wie unten, Anm. 27), S. 150ff. Die Auffassungen des George-Kreises über ›Ganzheit‹, ›Gemeinschaft‹ und zur Überwindung der »sogenannten ›objektiven‹ Wissenschaft«, wie sie sogar Max Weber vertreten habe, hat dargestellt F. Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930. Dazu auch Lepenies (wie unten, Anm. 82), S. 311ff. 279 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 139-144 13 Landsberg, Die Welt des Mittelalters und wir (wie Anm. 9), S. 7. 14 Dieses Zitat und die folgenden ebd., S. 7ff. 15 S. 22. 16 S. 12, 15. 17 S. 23. Die folgenden Zitate S. 24f. und 27. 18 S. 60ff. 19 S. 76. Die folgenden Zitate S. 77, 79 und 80. 20 S. 82ff. 21 S. 78 und 89. 22 S. 14 und 16. 23 S. 114. Die folgenden Zitate ebd. und S. 115. 24 S. 112f. Zu Inhalt und Geschichte des Begriffs der ›konservativen Revolution‹ M. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986, S. 241ff. Als ein Kompendium der Leitmotive liest sich heute Hans Freyers Schrift »Revolution von rechts« (Jena 1931). 25 P. Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918-1933, 1987, S. 130. Über die anti-modernen Strömungen in der Wissenschaft und ihre Topik seit 1890 und vor allem nach 1918 vgl. F. K. Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community 1890 - 1933, Cambridge/Ma. 1969, sowie die Beiträge des Sammelwerks H. Renz u. F. W. Graf (Hg.)» Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien 4), Gütersloh 1987; darin bes. der Beitrag von K. Nowak, Die ›antihistoristische Revolution‹. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, S. 133-171. 26 K. D. Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 145. 27 Vgl. N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989. 28 Vgl. D. J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989. 29 Über Stände-Ideologie, ›organische‹ Staatsauffassung, Korporatismus und ›Reiehs‹Gedanken in der Zeit der Weimarer Republik K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1978, S. 192ff., 222ff., und Greiffenhagen (wie Anm. 24) passim. 30 Th. Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, 1947, Kap. XXXIV (Fortsetzung). 31 Eine Erinnerung an das Buch von Landsberg wird von Th. Mann jedoch nicht mitgeteilt, vgl. »Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans« (1949). Th. Mann machte übrigens deutlich, daß die Wirklichkeit des Mittelalters eine andere war, als diese »lachend geistesfrohe Erkenntnis des Seienden oder Kommenden« annahm: »... gerade weil das geistig Uniforme und Geschlossene dem mittelalterlichen Menschen durch die Kirche von vornherein als absolut selbstverständlich gegeben gewesen, war er weit mehr Phantasiemensch gewesen als der Bürger des individualistischen Zeitalters, hatte er sich der persönlichen Einbildungskraft im einzelnen desto sicherer und sorgloser überlassen können«. 32 Dazu Th. Manns treffendes Urteil über diese Richtung in den Kulturwissenschaften in Deutschland vor und nach 1933: »Die Forschung hatte allerdings Voraussetzungen, - und ob sie welche hatte! Es waren die Gewalt, die Autorität der Gemeinschaft, und zwar waren sie es mit solcher Selbstverständlichkeit, daß die Wissenschaft gar nicht auf den Gedanken kam, etwa nicht frei zu sein. Sie war es subjektiv durchaus-innerhalb einer objektiven Gebundenheit, so 280 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 144-145 eingefleischt und naturhaft, daß sie in keiner Weise als Fessel empfunden wurde«. - Dasselbe Thema hat in Frankreich bereits 1927 Julien Benda in seinem berühmten Buch »La trahison des clercs« (Nachdruck Paris 1981), über den »Verrat der Intellektuellen« an den universalen Werten (Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit, Vernunft) zugunsten des ›Engagements‹ für politische Ideen und Strömungen. 33 J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (Gesammelte Werke 3), Darmstadt 1955, S. 89. 34 Vgl. Oexle, Das entzweite Mittelalter (wie Anm. 7). 35 Landsberg, Die Welt des Mittelalters und wir (wie Anm. 9), S. 89ff. Die Zitate S. 97. 36 Dazu schon früh die Kritik von Th. Geiger, Art. ›Gemeinschaft‹, in: A. Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 173-180, bes. S. 175. - Kritik und Gegenpositionen auch bei H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, Bonn 1924. Vgl. R. Kramme, Helmuth Plessner und Carl Schmitt. Eine historische Fallstudie zum Verhältnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, Berlin 1989, S. 37ff. 37 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen, Leipzig 1887. 38 Dazu H.-J. Dahme, Der Verlust des Fortschrittsglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie. Ein Vergleich von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Max Weber, in: O. Rammstedt (Hg.), Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, Frankfurt a.M. 1988, S. 222-274, bes. S. 234ff.; vgl. auch A. Mitzman, Sociology and Estrangement. Three Sociologists of Imperial Germany, New Brunswick 1987, S. 63ff. 39 Tönnies (wie Anm. 37), S. 288f. 40 F. Tönnies, Zur Einleitung in die Soziologie, in: Ders., Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung, Jena 1925, S. 65ff., hier S. 71. 41 So Tönnies in seinem Vorwort zur 2. Aufl. des Buches von 1912: F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 1912, Nachdruck Darmstadt 1972, S. XXXf. Diese Motive wurden im Streit um die Moderne um 1900 sehr energisch auch von den konservativen ›Kulturlutheranern‹ vorgetragen: die Verurteilung von Individualismus und Rationalismus, die Forderung nach ›Gemeinschaft‹ und nach einer »neuen religiösen Einheitskultur« zur »Überwindung der sozialen und kulturellen Desintegration in der Moderne« mit »vielfältigen strukturellen Affinitäten zur römisch-katholischen Ekklesiologie«. Dazu F. W. Graf, Konservatives Kulturluthertum. Ein ideologiegeschichtlicher Prospekt, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 85, 1988, S. 31-76, und Ders., Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: R. vom Bruch u.a. (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 103-131, S. 113ff. (die Zitate ebd., S. 114). In der Wissenschaft wird das ›Gemeinschafts‹-Denken und die Sehnsucht nach ›Ganzheit‹ im Blick auf das Mittelalter um 1900 auch durch Werner Sombart (1863-1941) ausgesprochen, s. Mitzman (wie Anm. 38), S. 175ff. und 194ff. Gleichzeitig verlieren nach 1900 der Renaissanceästhetizimus und sein Persönlichkeitskult in der Literatur ihre Anziehungskraft; dazu W. Rehm, Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung (1929), wieder abgedruckt in: Ders., Der Dichter und die neue Einsamkeit. Aufsätze zur Literatur um 1900, Göttingen 1969, S. 34-77. 42 F. Tönnies, Individuum und Welt in der Neuzeit, in: Weltwirtschaftliches Archiv 1, 1913, S. 37-66, S. 66; wieder abgedruckt in: Ders., Fortschritt und soziale Entwicklung. Geschichtsphilosophische Ansichten, Karlsruhe 1926, S. 5-35, S. 34f. Vgl. auch die Aussagen 281 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 145-147 in: F. Tönnies, Geist der Neuzeit, Leipzig 1935, S. 21ff. (über den »Individualismus«) und S. 85ff. (über »Die Neuzeit als Revolution«). 43 Tönnies 1887 (wie Anm. 37), S. 287: »... er (sc. der Staat) wird endlich wohl zur Einsicht gelangen, daß nicht irgendwelche vermehrte Erkenntnis und Bildung die Menschen freundlicher, unegoistischer, genügsamer mache; daß ebenso aber auch abgestorbene Sitte und Religion nicht durch irgendwelchen Zwang oder Unterricht ins Leben zurückgerufen werden könne; sondern daß er, um sittliche Mächte und sittliche Menschen zu machen oder wachsen zu lassen, die Bedingungen oder den Boden dafür schaffen, oder zum Wenigsten die entgegengesetzten Kräfte aufheben müsse. Der Staat, als die Vernunft der Gesellschaft, müßte sich entschließen, die Gesellschaft zu vernichten«. In der 2. Aufl. von 1912 (Tönnies, wie Anm. 41, S. 249) ist die Aussage abgemildert und zugleich verschärft (»... müßte sich entschließen, die Gesellschaft zu vernichten, oder doch umgestaltend zu erneuern. Das Gelingen solcher Versuche ist außerordentlich unwahrscheinlich«). 44 S. oben bei Anm. 22. 45 Tweltsch (wie Anm. 1), S. 102. Dazu O. G. Oexle, »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in diesem Band S. 41ff. und 57ff. 46 Dazu Oexle, »Historismus«, in diesem Band S. 53ff.; Ders., Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitätsforderung der Wissenschaft im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 73ff. 47 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 1, München 1980, S. 272, 279ff., 313, 330. 48 W. Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie (Gesammelte Schriften 8), Leipzig 1931, S. 121, 198 und 232; Ders., Rede zum 70. Geburtstag (1903), in: Ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens (Gesammelte Schriften 5), Leipzig 1924, S. 9. 49 G. Simmel, Die Krisis der Kultur (1917), wieder abgedruckt in: Ders., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Frankfurt a.M. 1987, S. 232ff., hier S. 233. 50 Tweltsch (wie Anm. 1). Vgl. auch die knappen Darlegungen der Problematik und ihrer Auswirkungen in der Wissenschaft: Ders., Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau 1, 1922, S. 572-590, und Ders., Die Revolution in der Wissenschaft (1921), wieder abgedruckt in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie (Gesammelte Schriften 4), Nachdruck Aalen 19812, S. 653-677. Dazu Oexle, »Historismus« (wie Anm. 45), in diesem Band S. 57ff.; Ders., Von Nietzsche zu Max Weber (wie Anm. 46), in diesem Band S. 77ff. und 86ff 51 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Erstes Buch, Kap. 85 (»General Stumms Bemühung, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen«). 52 Vgl. W. Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1980, S. 67ff., 92ff.; B. Heimbüchel in: Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1988, S. 302ff., 534ff. u. ö. 53 Vgl. H.-J. Lieber, Ideologie.Einehistorisch-systematische Einführung, Paderborn 1985, S. 76ff. 54 M. Scheler, Die positivistische Geschichtsphilosophie des Wissens und die Aufgaben einer Soziologie der Erkenntnis (1921), wieder abgedruckt in: V. Meja u. N. Stehr (Hg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1982, S. 57-67, S. 61. 55 A4. Scheler, Wissenschaft und soziale Struktur (1925), in: Meja u. Stehr (wie Anm. 54), S. 68-127. 282 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 147-149 56 M. Scheler (Hg.), Versuche zu einer Soziologie des Wissens, München 1924; Dm., Die Wissenformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926. 57 P. Honigsheim, Soziologie der Scholastik, in: Scheler, Soziologie des Wissens (wie Anm. 56), S. 302-307; Ders., Soziologie des realistischen und des nominalistischen Denkens, ebd., S. 308-322. Zur Anregung des Ansatzes durch M. Scheler: ebd., S. 313. Derselbe Gedankenstoff zuvor bereits in: Ders., Zur Soziologie der mittelalterlichen Scholastik. Die soziologische Bedeutung der nominalistischen Philosophie, in: M.Palyi(Hg.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München 1923, S. 173-218, mit erheblich anderen Urteilen in der Bewertung von »Nominalismus«, mittelalterlicher »Einheitskultur« und »geistiger Krise der Gegenwart« (s. unten, Anm. 61) als 1924. - Paul Honigsheim (1885-1963) promovierte als Schüler von G. Jellinek und E. Troeltsch in Heidelberg zum Dr. phil. und gehörte dort auch zum Kreis um Max Weber. Seit 1919 war er Assistent und Bibliothekar am ForschungsinstitutfürSozialwissenschaften in Köln, habilitierte sich 1920 für Philosophie und Soziologie, leitete von 1921 bis 1933 die Volkshochschule Köln und war seit 1927 a. o. Professor an der dortigen Universität. 1933 emigrierte er nach Paris und war dort als Leiter der Zweigstelle des ›Institut de Recherches Sociales‹ (Genf) tätig. Seit 1936 lehrte er als Professor für Philosophie, Soziologie und Ethnologie an der Universität Panama, seit 1938 als Professor an der Abteilung für Soziologie und Anthropologie der Michigan State University (diese Angaben nach K. G. Specht, in: Neue Deutsche Biographie 9, 1972, S. 600f.). Vgl. auch den Artikel von J. Maier in: W. Bernsdorf u. H. Knospe (Hg.), Internationales Soziologenlexikon, Bd. 1, Stuttgart 19802, S. 186. 58 Honigsheim, Soziologie des realistischen und des nominalistischen Denkens (wie Anm. 57), S. 311: »Realismus ist Scholastik, Nominalismus das Gegenteil davon«. Der Nominalismus, die »Dekomposition der Scholastik«, wirkt mit bei der »Auflösung derjenigen Gesellschaftsstruktur und der mit ihr verbundenen Einheitskultur, die nicht zuletzt von der offiziellen, das heißt von der eigentlichen Scholastik gestützt wurde« (S. 310f.). 59 Ebd., S. 313ff. 60 S. 321. Vgl. damit auch die Thesen von Landsberg, oben, S. 141f. 61 Honigsheim (wie Anm. 57), S. 321f. Interessant ist, daß Honigsheim in seiner dasselbe Thema erörternden Abhandlung in der »Erinnerungsgabe für Max Weber« von 1923 (s. oben, Anm. 57) noch ganz andere Wertungen vortrug. Hier wird am Schluß (ebd., S. 213) eine Verurteilung der Mittelalter-Reflexionen der Zeit als »Neu-Romantik« und als Flucht in eine »erträumte Welt der Vergangenheit« ausgesprochen, »am meisten aber in den mittelalterlichen Katholizismus, was wir andauernd erleben«. Der Nominalismus habe zwar an der Autlösung der »mittelalterlichen Einheitskultur« mitgewirkt, aber auch an der »Genesis der modernen Welt« mit all ihrer »Tragik«, freilich auch »mit ihrer unermeßlichen Vielfarbigkeit und den tausendfältigen Gestaltungen einer individualistischen Geisteskultur«. Ihr Verlust würde eine völlige Verarmung bedeuten. »Und nur Autosuggestion kann uns glauben machen, daß wir auf die Errungenschaften der europäischen Neuzeit verzichten und auch nur einen Tag in einer Einheitskultur atmen könnten, die derjenigen gleicht, an deren geistiger und gesellschaftlicher Auflösung nicht zuletzt der Nominalismus mitgearbeitet hat«. 62 H. Schmalenbach, Das Mittelalter. Sein Begriff und Wesen, Leipzig 1926. Das Zitat hier S. 5. - Herman Schmalenbach (1885-1950), ein Bruder von Eugen Schmalenbach, dem Begründer der Betriebswirtschaftslehre (vgl. Heimbüchel, wie Anm. 52, S. 158ff., 262ff., 414ff.), habilitierte sich 1920 in Göttingen für Philosophie und übernahm als nichtbeamteter a. o Prof. für Philosophie 1930 die Verwaltung des Soziologischen Apparats. 1931 folgte er einem Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Basel. Vgl. Bernsdorf u. Knospe (wie Anm. 57), S. 377f.; M. Neumann, Über den Versuch, ein Fach zu verhindern: 283 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 149-153 Soziologie in Göttingen 1920-1950, in: H. Becker u.a. (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, München 1987, S. 298-312, S. 304f.; und vor allem der Nachruf von C. Brinkmann in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 2, 1951, S. 92f. In der Soziologie blieb Schmalenbach bis heute bekannt durch seine Abhandlung über »Die soziologische Kategorie des Bundes« (in: Die Dioskuren. JahrbuchfürGeisteswissenschaften 1, 1922, S. 35-105): »Sie ist das wissenschaftliche Sublimat der deutschen Jugendbewegung und insoweit eine der wissenssoziologisch repräsentativsten deutschen Arbeiten zur Gesellsehaftsforschung überhaupt« (Brinkmann). Hier versuchte Schmalenbach, Tönnies' Dichotomie von ›Gemeinschaft‹ und ›Gesellschaft‹ durch eine dritte Art von sozialen Beziehungen, den ›Bund‹, zu erweitern und prognostizierte ein neues, kommendes Zeitalter des ›Bundes‹. Darauf und auf die Verknüpfung mit Schmalenbachs Mittelalter-Reflexion kann hier nicht eingegangen werden. Zu den zeitgenössischen Kontexten K. v. See, Politische Männerbund-Ideologie von der wilhelminischen Zeit bis zum Nationalsozialismus, in: G. Völger u.a. (Hg.), Männerbande, Männerbünde, Bd. 1, Köln 1990, S. 93-102. 63 Schmalenbach, Das Mittelalter, S. 19 und 21. 64 Ebd., S. 25ff. 65 S. 45, 47, 49f. 66 S. 53ff. Die folgenden Zitate S. 61, 63f., 149. 67 R. König, Zur Soziologie der zwanziger Jahre oder Ein Epilog zu zwei Revolutionen, die niemals stattgefunden haben, und was daraus für unsere Gegenwart resultiert, in: L. Reinisch (Hg.), Die Zeit ohne Eigenschaften, Stuttgart 1961, S. 82-118, S. 97f., 100; erneut in: R. König, Soziologie in Deutschland. Begründer, Verfechter, Verächter, München 1987, S. 230ff., hier S. 242 und 244. 68 H. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig 1930, S. 5f., 9, 304f., 307. Über H. Freyer: J. Z. Muller, Enttäuschung und Zweideutigkeit. Zur Geschichte rechter Sozialwissenschaftler im ›Dritten Reich‹, in:GG12, 1986, S. 289-316. 69 König (wie Anm. 67), S. 98 bzw. S. 242. 70 Freyer (wie Anm. 68), S. 272. 71 O. Spann, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neuaufbau der Gesellschaft, Jena 19313, S. 3 und 26. 72 Vgl. L. Dittmann u. W. Falk, Auflösung aller Vertrautheit. Kandinsky, Klee und Kafka, in: A. Nitschke u.a. (Hg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, Bd. 2, Reinbek 1990, S. 170-194. 73 Vgl. den Roman »Siddhartha« (1922) und die Mittelalter-Erzählung »Narziß und Goldmund« (1929/30). 74 Dieses Zitat und die folgenden finden sich im ersten Teil des Buches, »Einleitung: Das Glasperlenspiel«. 75 In: Vivos voco. Zeitschrift für neues Deutschtum 3, 1922/23, S. 65f. 76 Zum Einfluß von M. Schelers ›Personalismus‹ (d. h. der Auffassung vom personalen Sein des Einzelnen als höchster Form des Seins, vgl. Mader, wie Anm. 52, S. 55ff.) auf Steinbüchel vgl. Th. Steinbüchel, Von Wesen und Grenze menschlicher Personalität, in: Akademische Bonifatius-Korrespondenz 47, 1932/33, S. 177-196. - Theodor Steinbüchel (1888-1949) war u.a. seit 1926 Professor für Philosophie in Gießen, seit 1935 für Moraltheologie in München und ebenso seit 1941 in Tübingen, vgl. P. Hadrossek in: Lexikon für Theologie und Kirche 9, 1964, Sp. 1031. 77 Th. Steinbüchel, Christliches Mittelalter, Leipzig 1935, S. 193ff. 78 Ebd., S. 47ff. 79 Umgekehrt hatten sich Landsberg und Schmalenbach dagegen zu wehren, daß ihre 284 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 153-155 Deutung des Mittelalters eine bloß ›romantische‹ sei: Landsberg (wie Anm. 9), S. 57; Schmalenbach (wie Anm. 62), S. 53ff. 80 Steinbüchel (wie Anm. 77), S. 63. 81 Ebd., S. 24. 82 E. R. Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart 1932, S. 30f. Zum Kontext der Schrift: W. Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985, S. 377ff. 83 E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 19542. Über Curtius: W. Berschin u. A. Rothe (Hg.), Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven, Heidelberg 1989. 84 S. oben bei Anm. 71. 85 A. v. Martin, Art. »Kultursoziologie des Mittelalters«, in: Vierkandt (wie Anm. 36), S. 370-390; Ders., Art. »Kultursoziologie der Renaissance«, ebd., S. 495-510. Auch zu einer Monographie umgeformt: Ders., Soziologie der Renaissance, Stuttgart 1932, 19743. - Alfred von Martin (1882-1979) (über ihn vor allem der Nachruf von M. R. Lepsius, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31, 1979, S. 826-828) war promovierter Jurist und promovierter Historiker, habilitierte sich 1915 für Mittlere und Neuere Geschichte, vertrat seit 1924 als a.o. Professor das Fach Geschichte an der Universität München und wurde 1931, nach dem Weggang von H. Schmalenbach (s. oben, Anm. 62), als Honorarprofessor für Soziologie an die Universität Göttingen berufen. Aus Gegnerschaft zum Nationalsozialismus verließ v. Martin Göttingen zu Ostern 1933 (Neumann, wie Anm. 62, S. 305ff.) und lebte seitdem als Privatgelehrter in München. Seine Bücher über »Nietzsche und Burckhardt« (1940) und »Die Religion Jacob Burckhardts« (1943) sind Zeugnisse eines »literarischen Widerstands« (Lepsius, S. 827), der von den Adressaten sehr wohl bemerkt und auch geahndet wurde. Seit 1948 hatte v. Martin eine apl. Professur für Soziologie an der Universität München inne. Das in den Veröffentlichungen von 1931/32 angeschlagene Thema hat v. Martin sein ganzes Leben begleitet und auch seine politische Haltung geprägt: die Entstehung des Bürgertums aus der mittelalterlichen Ständegesellschaft und die damit gesetzte Begründung der Moderne durch Humanismus, Individualismus und Rationalismus (vgl. Lepsius, S. 827f.). 86 Von Martin, Mittelalter (wie Anm. 85), S. 371f. und 374; Ders., Renaissance, S. 495 und 510. 87 S. oben, Anm. 85, und dazu das Urteil von R. König: »Alfred von Martin gehörte damals zu den Wenigen, die einem dazu helfen konnten, den Glauben an den deutschen Wissenschaftler nicht vollends zu verlieren« (in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologic 9, 1957, S. 354f.). Vgl. Ders. (wie Anm. 67), S. 382. 88 H. Hirsch, Das Mittelalter und wir, in: Das Mittelalter in Einzeldarstellungen, Leipzig 1930, S. 1-12. Das Zitat hier S. 11. 89 W. Gephart, Mythen, Klischees und differenzierte Wirklichkeiten der Gesellschaft im Nationalsozialismus, in: Soziologische Revue 13, 1990, S. 279-287, S. 286, der eine »größere soziologische Aufmerksamkeit« für die »nazistische Art der Gemeinschaftstechnik« fordert. 90 S. oben, Anm. 32, das Zitat aus »Doktor Faustus«. 91 A. Schwan, Geschichtstheologische Konstitution und Destruktion der Politik. Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann, Berlin 1976, S. 12ff. und 198ff. 92 M. Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933, Breslau 1933, S. 7, 15ff. Zum Kontext: H. Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a.M. 1988, S. 146ff. (»Die eigentümliche Sehnsucht nach Härte und Schwere«). 285 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 156-157 Ähnlich über Heideggers »Idealism of nostalgia« und seine Auffassung von der »Krise« der Moderne: A. Megill, Prophets of Extremity. Nietzsche, Heidegger, Foucault, Derrida, Berkeley/Ca. 1985, S. 103ff. 93 S. oben nach Anm. 45. 94 R. Stadelmann, Das geschichtliche Selbstbewußtsein der Nation, Tübingen 1934 ( = »Rede, gehalten am 9. November 1933 vor Rektor, Dozenten und Studenten der Universität Freiburg i. Br.«, im Rahmen der Vorlesungsreihe »Aufgaben des geistigen Lebens im nationalsozialistischen Staat«), die Zitate hier S. 4 und 9ff. Zum Kontext: Ott (wie Anm. 92), S. 19ff. und 218ff. 95 W. Pinder, Die bildende Kunst im neuen deutschen Staat, in: Ders., Reden aus der Zeit, Leipzig 1934, S. 26-69. Die Zitate hier S. 33, 43, 50f., sowie aus dem Vortrag »Zur Rettung der deutschen Altstadt« vom Oktober 1933, ebd., S. 70-93, hier S. 80. Vgl. ebd., S. 77: »›Ganzheit‹ aber ist nicht umsonst ein philosophischer Grundbegriff innerhalb der Selbstbesinnung unserer Tage - Ganzheit und Gestalt. Ganzheitsphilosophie steht hinter den Gedanken unseres großen Führers - Ganzheits- und Gestaltphilosophie. Das zerfetzte Bild der Neustädte ist das unwillkürliche Selbstporträt der liberalistischen Haltung. ... Eine Zeit, die vom Volke aus für das Volk denkt, kann nur Ganzheit wollen. Ganzheitlicher Stil gehört zum ganzheitlichen Wollen«. In demselben Ton die Rede Pinders auf der ›Kundgebung der deutschen Wissenschaft‹ am 11. November 1933 an der Universität Leipzig, in: Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat (o.O., o.J), S. 18-20, hier S. 19: »Gerade die Zeit, von der das liberalistische Weltalter gesagt hat, daß sie finster gewesen sei, das sogenannte Mittelalter, ist eine noch gänzlich gesunde Epoche europäischer Kultur gewesen. Das, was heraufkommt, das will im edelsten Sinne wieder einmal ein neues Mittelalter werden, und es wird ein Ehrentitel sein, wenn es uns gelingen wird, uns diesen Titel zu verdienen, denn das Mittelalter hatte die letzte ganz große Sicherheit, die wir Stil nennen. Stil ist das, was wir verloren haben; Stil aber regt sich in keinem Lande der Welt so stark, wie in Deutschland. ... Stil scheint Form, Stil ist Gemeinschaft und Glaube«. Über W. Pinder: M. Halbertsma, Wilhelm Pinder (1878-1947), in: H. Dilly (Hg.), Altmeister moderner Kunstgeschichte, Berlin 1990, S. 235-248. 96 Über die Bedeutung des Leidens am Historismus als einer Ursache der Wendung zum Nationalsozialismus bei W. Pinder sehr treffend H. Belting, Stil als Erlösung. Das Erbe Wilhelm Pinders in der deutschen Kunstgeschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 202 vom 2. Sept. 1987, S. 35 (über die Hoffnung »auf den volksgebundenen Stil als Erlösung aus den Verwirrungen der Moderne« und über das »Symbol der Volksgemeinschaft, in der man eine deutsche Erneuerung aus den Verstrickungen der Moderne suchte«, sowie über den »Zweifel an der modernen Rolle der Wissenschaft, mit deren Relativismus er (sc. Pinder) sich ebensowenig abfand wie Heidegger«). - Zur Geschichte des Wertproblems in der modernen Rechtswissenschaft R. Dreier (Hg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, Stuttgart 1990. - Zum Thema auch O. G. Oexle, ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹. Historische Reflexionen über Tragweite und Grenzen der modernen Wissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 41, 1990, S. 145-161. 97 H. Schrade, Schicksal und Notwendigkeit der Kunst, Leipzig 1936, S. 10, 78ff., bes. S. 85 und 104 (Zitate). Über H. Schrade:K.-L.Hofmann u. Ch. W. Präger, »Volk, Rasse, Staat und deutscher Geist«. Zum Universitätsjubiläum 1936 und zur Kunstgeschichte in Heidelberg im Dritten Reich, in: K. Buselmeier u.a. (Hg.), Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg, Mannheim 1985, S. 337-345, S. 340ff. 98 Schrade (we Anm. 97), S. 149ff. 286 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 157-159 99 W. Pinder, Die Kunst der deutschen Kaiserzeit bis zum Ende der staufischen Klassik. Geschichtliche Betrachtungen über Wesen und Werden deutscher Formen, 1935, S. 28ff. (»Die Wesenszüge der deutschen Kunst«); die Zitate ebd., S. 39. Mit diesen Wertungen auch H. Jantzen, Geist und Schicksal der deutschen Kunst, Köln 1935. 100 Vgl. H. Dilly, Deutsche Kunsthistoriker 1933-1945, München 1988, S. 74ff. 101 Pinder (wie Anm. 99), S. 268, 361, 392, 396. 102 Zur nationalsozialistischen Aneignung diser Kunstwerke vgl. B. Hinz, Der ›Bamberger Reiter‹, in: M. Warnke (Hg.), Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, Gütersloh 1970, S. 26-47; W. Sauerländer, Die Naumburger Stifterfiguren. Rückblick und Fragen, in: Die Zeit der Staufer, Bd. 5, Stuttgart 1979, S. 169-245, bes. S. 174ff.; H. Schwerte, Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart 1962, S. 243ff. (über »Dürers ›Ritter, Tod und Teufel‹. Eine ideologische Parallele zum ›Faustischen«‹); Dilly (wie Anm. 100), S. 74ff. 103 Pinder (wie Anm. 99), S. 39. 104 S. oben bei Anm. 92. 105 Dilly (wie Anm. 100), S. 43ff. 106 So F. Wieacker in seinem Bericht über »Das Kitzeberger Lager junger Rechtslehrer«, in: Deutsche Rechtswissenschaft 1, 1936, S. 74-80, hier S. 75f. Dazu die in demselben Band abgedruckten Beiträge dieses »Lagers« vom Mai/Juni 1935. Es ging hier vor allem um die »Preisgabe des subjektiven öffentlichen Rechts« als einem »Recht der individualistisch zersetzten Gemeinschaften ... als Summe subjektiver Normbeziehungen zwischen diesen abstrakten Personen« (ebd., S. 75). 107 Dazu vor allem B. Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 19892, auch mit der Darstellung der Konsequenzen in der rechtswissenschaftlichen Methodik und Begriffsbildung im Hinblick auf das sog. »konkrete Ordnungsdenken« (Carl Schmitt) und die sog. »konkret-allgemeinen Begriffe« (Karl Larenz). Vgl. auch Ders., Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1973. 108 K. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, Tübingen 1934, S. 39f., mit dem Zusatz: »Für den Autbau der Gemeinschaft ist im nationalsozialistischen Staat vor allem der Rassengedanke, die Einsicht in die blutsmäßige Bedingtheit des Volkstums, bestimmend«. 109 K. Larenz, Gemeinschaft und Rechtsstellung, in: Deutsche Rechtswissenschaft 1, 1936, S. 31-39, S. 32. 110 Vgl. die Beiträge in: K. Larenz (Hg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, Berlin 1935; E. Wolf, Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, in: Archiv für Rechtsund Wirtschaftsphilosophie 28, 1934/35, S. 348-363: Das »neue Rechtsideal« ist »nicht mehr das herkömmliche Ideal formaler Gleichheit der abstrakten Rechtssubjekte, es ist der Gedanke ständisch gestufter Ehre der völkischen Rechtsgenossen«, usw. Weitere Beispiele bei Rüthers, Entartetes Recht (wie Anm. 107), S. 41ff. und 64ff. 111 Larenz (wie Anm. 109), S. 32. 112 K. Larenz, Über Gegenstand und Methode völkischen Rechtsdenkens, Berlin 1938, S. 28. 113 Wieacker (wie Anm. 106), S. 76. 114 Larenz (wie Anm. 108), S. 19. 115 Dazu N. Schneider, Hans Sedlmayr (1896-1984), in: Dilly (Hg.) (wie Anm. 95), S. 267-288, S. 271ff. 116 H. Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als 287 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 159-162 Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, Nachdruck 1988; Ders., Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950, Nachdruck 19882. 117 H. Sedlmayr, Weltepochen der Kunst, in: Ders., Epochen und Werke. Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, Bd. 2, Mittenwald 1960, S. 353-360, hier S. 359. 118 Sedlmayr, Verlust der Mitte (wie Anm. 116), S. 143ff. und 166ff. 119 Ebd., S. 180ff. 120 Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale (wie Anm. 116), S.45. 121 Vgl. Schneider (wie Anm. 115), S. 274ff. 122 R. Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Würzburg 1950. Die folgenden Zitate hier S. 13, 15, 26 und 61. Zur Beurteilung und Kritik L. Watzal, Das Politische bei Romano Guardini, 1987. R. Guardini (1885-1968) hat P. L. Landsberg (s. oben, Anm. 10) 1920/23 in Bonn als die herausragende Persönlichkeit des sog. ›Schelerkreises‹ kennengelernt und sein Mittelalter-Buch noch viele Jahre später außerordentlich geschätzt: H.-B. Gerl, Romano Guardini. Leben und Werk, Mainz 19852, S. 130ff. und 142. 123 Guardini (wie Anm. 122), S. 66ff. 124 Ebd., S. 75. Dazu Watzal (wie Anm. 122), S. 141ff. Zur Herkunft dieser Orientierung aus dem ›Ganzheits‹- und ›Gemeinschafts‹-Denken der 1920er Jahre ebd., S. 175ff., und Gerl (wie Anm. 122), S. 267ff. und 338ff. 125 Für Guardini ist die »Autonomie« des Individuums, der »Empörungsglaube des Autonomismus« (wie Anm. 122, S. 91) verantwortlich für die Entstehung des Nationalsozialismus, vgl. Watzal (wie Anm. 122), S. 120ff. 126 P. Koslowski, Die Prüfungen der Neuzeit. Über Postmodernität, Philosophie der Geschichte, Metaphysik, Gnosis, Wien 1989, S. 11. Vgl. auch Ders., Die postmoderne Kultur. Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen der technischen Entwicklung (Perspektiven und Orientierungen. Schriftenreihe des Bundeskanzleramtes 2), München 1987. Über den Zusammenhang der Reflexion über ›Postmoderne‹ und ›Posthistoire‹ mit dem Leiden am Historismus und über die Genese dieser Ideen im Umfeld der Propagierung einer ›konservativen Revolution‹ vor und nach 1933 (A. Gehlen) vgl. L. Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989. 127 Koslowski hält das Aufkommen der Idee der ›Postmoderne‹ für eine Folge der Olkrise von 1973: »Die Postmoderne als Erfahrung und Weltverständnis beginnt mit dem neuen Bewußtsein für die Endlichkeit der Welt und die Begrenztheit ihrer Ressourcen, das um 1973 vor allem durch den Schock der Ölpreisverteuerung allgemeinbestimmend wurde« (wie Anm. 126, S. 12). - Die Vermittlung der Grundgedanken erfolgte offenbar durch das Buch von Guardini über »Das Ende der Neuzeit« (s. Anm. 122), s. Koslowski (wie Anm. 126), S. 47 und 50. 128 Koslowski S. 11. 129 Ebd., S. 76. Vgl. dazu oben, Anm. 27. 130 Ebd., S. 12 und 14. 131 Ebd., S. 12. 132 Über neue Deutungen der Moderne im Zusammenhang mit jenen seit der Jahrhundertwende vorgebrachten: W. Falk, Die Ordnungen in der Geschichte. Eine alternative Deutung des Fortschritts, Sachsenheim 1985. 133 So die Definition des Mentalitätsbegriffs durch F. Graus, Mentalität - Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung, in: Ders. (Hg.), Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, Sigmaringen 1987, S. 9-48, S. 17. 134 S. oben, Anm. 11, über Novalis und dessen Aneignung bei P. L. Landsberg. 135 Vgl. dazu T. Rendtorff, Die umstrittene Moderne in der Theologie. Ein transkulturel288 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 162-168 ler Vergleich zwischen der deutschen und der nordamerikanischen Theologie, in: Umstrittene Moderne (wie Anm. 25), S. 374-389. 136 Dazu sind weitere Arbeiten in Vorbereitung. 137 S. oben bei Anm. 90. 138 Dazu Gh. Meier, Vierzig Jahre nach Auschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute, München 1987.
6. Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz »Kaiser Friedrich der Zweite« in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik 1 F. Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1924. Die folgenden Zitate hier S. 7f. 2 U. Raulff, Der Bildungshistoriker Friedrich Gundolf, in: F. Gundolf, Anfänge deutscher Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winckelmann. Aufgrund nachgelassener Schriften Friedrich Gundolfs bearbeitet und herausgegeben v. E. Wind, Frankfurt a.M. 1992, S. 115-154, S. 133. Über Gundolfs Heroenkult, der Cäsar die Züge Georges verlieh: Raulff, ebd., S. 132f. 3 Ebd., S. 136. 4 Gundolf, Caesar, S. 90. 5 O. G. Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach, in diesem Band S. 137ff. 6 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (Gesammelte Schriften 3) (1922), Nachdruck Aalen 19772, S. 9 und 102. 7 Dazu O. G. Oexle, Das entzweite Mittelalter, in: G. Althoff (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992, S. 7-28 und 168-177, S. 21ff. 8 F. Th. Vischer, Kritische Gänge, Bd. 1, Tübingen 1844, S. 210. 9 W. Hofmann, Das Irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, München 19742, S. 254. 10 W. Hofmann, Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830, München 1995, S. 112ff. 11 Ebd., S. 113. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 114f. 14 Ebd., S. 128f. Vgl. auch D. de Chapeaurouge, Die »Kathedrale« als modernes Bildthema, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 18, 1973, S. 155-172. 15 N. Borger-Keweloh, Die mittelalterlichen Dome im 19. Jahrhundert, München 1986. 16 U. Krings, Bahnhofsarchitektur. Deutsche Großstadtbahnhöfe des Historismus, München 1985. 17 Vgl. J. Paul, Das Rathaus, in: W. Busch u. P. Schmoock (Hg.), Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen, Weinheim 1987, S. 334-365, S. 361ff. 18 H. G. Evers, Ludwig II. von Bayern. Theaterfürst - König - Bauherr. Gedanken zum Selbstverständnis, München 1986. 19 M. Arndt, Die Goslarer Kaiserpfalz als Nationaldenkmal. Eine ikonographische Unter289 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 168-172 suchung, Hildesheim 1976; D. Bartmann (Hg.), Anton von Werner. Geschichte in Bildern (Ausstellungskatalog, München 1993). 20 M. Bringmann, Gedanken zur Wiederaufnahme staufischer Bauformen im späten 19. Jahrhundert, in: Die Zeit der Staufer, Bd. 5, Supplement, Stuttgart 1979, S. 581-620. 21 H.-W. Kruft, Alfred Pringsheim, Hans Thoma, Thomas Mann. Eine Münchner Konstellation, München 1993. 22 Vgl. F. Gross, Jesus, Luther und der Papst im Bilderkampf 1871 bis 1918. Zur Malereigeschichte der Kaiserzeit, Marburg 1989. 23 Vgl. P. Paret, Kunst als Geschichte. Kultur und Politik von Menzel bis Fontane, München 1990, S. 155ff.; M. Baßler u.a., Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996. 24 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 1, München 1980, S. 243-334. 25 A. Germer, Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches, Göttingen 1994, S. 20ff. 26 S. dazu unten, Abschnitt IV. 27 Dazu O. G. Oexle, Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition, in diesem Band S. 106ff. 28 Dazu unten, Abschnitt IV und V. 29 Zum Folgenden vgl. O. G. Oexle, »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in diesem Band S. 53ff. Die Zitate: Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (wie Anm. 24), S. 279ff., 257. 30 Ebd., S. 330. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 313. 33 Ebd., S. 331. S. unten, Abschnitt III. 34 Ebd., S. 324f. 35 Ebd., S. 328f. 36 Ebd., S. 329. 37 Dazu Krings, Bahnhofsarchitektur (wie Anm. 16), S. 363ff. 38 Vgl. O. G. Oexle, Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber, in: Ch. Meier (Hg.), Die Okzidentale Stadt nach Max Weber, München 1994, S. 115-159, S. 115ff. Vgl. auch Ders., Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 144f. 39 Dazu Oexle, Kulturwissenschaftliche Reflexionen, S. 116f. 40 W.J.Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850-1890 (Propyläen Geschichte Deutschlands VII/1) Berlin 1993, S. 283. 41 H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Frankfurt a.M. 1976, S. 56f. und 121. 42 K. Ch. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a.M. 1986, S. 327ff.; die Zitate S. 330. 43 P. de Lagarde, Deutsche Schriften, Göttingen 1878. Dazu F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, München 1986, S. 25ff. 44 Zum Folgenden: E. Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur 290 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 172-176 Biographic des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk »Kaiser Friedrich der Zweite«, Wiesbaden 1982, S. 74ff. 45 Lagarde, Deutsche Schriften, S. 101f., 248. 46 Ebd., S. 249. 47 Langbehn nimmt schon im Titel seiner Schrift das Thema der Erziehung (s. oben) auf und erinnert mit diesem Titel auch an Nietzsches dritte »Unzeitgemäße Betrachtung« (»Schopenhauer als Erzieher«) von 1874. 48 Über »Rembrandt als Erzieher« Stern, Kulturpessimismus, S. 127ff. Das Zitat aus der 6. Autlage (Leipzig 1890), S. 1. Die Angaben im Text nach Stern, Kulturpessimismus, S. 192. 49 Dazu Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 79f. 50 Rembrandt als Erzieher, S. 309. 51 Vgl. Oexle, Kulturwissenschaftliche Reflexionen (wie Anm. 38), S. 118ff. Zur Bewertung der Intentionen von Tönnies auch die Beiträge von K.-S. Rehberg (»Gemeinschaft und Gesellschaft - Tönnies und Wir«) und von G. Raulet (»Die Modernität der ›Gemeinschaft‹«), in: M. Brumlik u. H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1993, S. 19ff. und S. 72ff. Außerdem W. Gebhardt, Soziologie aus Resignation. Über den Zusammenhang von Gesellschaftskritik und Religionsanalyse in der deutschen Soziologie der Jahrhundertwende, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 22, 1994, S. 520-540, und Ders., Erneuerte Religion aus erneuerter Gemeinschaft. Ferdinand Tönnies als Religionssoziologe, in: V. Krech u. H. Tyrell (Hg.), Religionssoziologie um 1900, Würzburg 1995, S. 289-312. 52 Vgl. M. Stolleis, Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus, in: Ders., Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1994, S. 94-125; O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, München 1994, S. 49ff. 53 S. unten, Abschnitt IL 54 W. Rehm, Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung, in: Ders., Der Dichter und die neue Einsamkeit. Aufsätze zur Literatur um 1900, Göttingen 1969, S. 34-77. 55 Einige Hinweise gibt F.-R. Hausmann, »Aus dem Reich der seelischen Hungersnot«. Briefe und Dokumente zur romanistischen Fachgeschichte im Dritten Reich, Würzburg 1993, S. 103ff. 56 R. Benz, Die Renaissance, das Verhängnis der deutschen Kultur, Jena 1915. Die folgenden Zitate im Vorwort, S. 1 und S. 39f. 57 C. Neumann, Byzantinische Kultur und Renaissancekultur, in: HZ 91, 1903, S. 215-232. Die Zitate S. 226ff. 58 W. Wonniger, Lukas Cranach, München 1908, S. 36. 59 W. Worringer, Formprobleme der Gotik, München 19122, S. 126f. 60 K. Wolfskehl, Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur, in: Jahrbuch für die Geistige Bewegung 1, 1910, S. 1-18, S. 14f. 61 Worringer, Formprobleme der Gotik, S. 126. 62 M. Bushart, Der Geist der Gotik und die expressionistische Kunst. Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911-1925, München 1990. 63 Ebd., S. 173ff. 64 B. Taut, Frühlicht in Magdeburg, in: Frühlicht 1, 1921, S. 2-4, S. 3. 65 P. L. Landsberg, Die Welt des Mittelalters und wir, Bonn 19253, S. 7. Über P. L. Landsberg und sein Mittelalter-Buch Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 139ff. 291 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 176-179 66 Landsberg, S. 114f. 67 Ebd., S. 115. 68 Ebd., S. 14. 69 Ebd., S. 25. 70 Ebd., S. 24, 27. 71 Ebd., S. 116. 72 Ebd., S. 61, 80, 89. 73 Ebd., S. 7. 74 Ebd., S. 16. 75 Ebd., S. 112f. Landsberg bietet eine vorzügliche Repräsentation des Phänomens der ›Konservativen Revolution‹. Der unlängst von S. Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993, gemachte Vorschlag, den Begriff der ›Konservativen Revolution‹ zu eliminieren und durch den bläßlichen Begriff des ›Neuen Nationalismus‹ zu ersetzen, erscheint demgegenüber wenig relevant. 76 Der Text in: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. v. H.-J. Mähl, München 1978, S. 732ff; die Zitate S. 744 und 750. 77 H. Kurzke, Romantik und Konservatismus. Das »politische« Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983, S. 224ff. 78 H.-J. Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Tübingen 19942, S. 372ff. 79 Über die »Erfindung des Mittelalters« in der Aufklärung R. Koselleck, Moderne Sozialgeschichte und historische Zeiten, in: P. Rossi (Hg.), Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1987, S. 173-190, bes. S. 177ff. 80 Darüber M. Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a.M. 1982, S. 180ff; Ders., Zwei Jahrhunderte Rationalitäts-Kritik und die Sehn sucht nach einer ›Neuen Mythologie‹, in: Ders., Conditio moderna. Essays, Reden, Programm, Leipzig 1993, S. 30-50. Vgl. auch J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1988, S. 110ff. 81 S. oben bei Anm. 51. 82 Zitiert bei H.-J. Mähl, Der poetische Staat. Utopie und Uopiereflexion bei den Frühromantikern, in: W. Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 3, Frankfurt a.M. 198S, S. 273-302, S. 280f. 83 Über diese Autoren H. Dorowin, Retter des Abendlands. Kulturkritik im Vorfeld des europäischen Faschismus, Stuttgart 1991. Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß die Idee des ›Dritten Reichs‹ anderer Art ist als die des ›Neuen Mittelalters‹; vgl. Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Hamburg 19313. 84 Dazu Kurzke, Romantik und Konservatismus, S. 36ff., bes. S. 46ff. 85 R. Benz, Geist und Reich. Um die Bestimmung des Deutschen, Jena 1933, S. 32, 75f., 121ff. Zur großen Wertschätzung, deren sich R. Benz auch nach 194S erfreuen durfte, vgl. H.-G. Gadamer, Philosophische Lehrjahre, Eine Rückschau, Frankfurt a.M. 1977, S. 188ff., mit dem Bericht über die von ihm veranlaßte gleichzeitige Ehrung von Richard Benz und Gershom Scholem durch die Heidelberger Akademie. 86 Benz, Geist und Reich, S. 3f. 87 Vgl. Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 147ff. 88 Bereits 1974 hat der Literaturwissenschaftler Lothar Köhn die Krise des Historismus als 292 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 179-182 den »-transzendentalen Horizont der Epoche« gesehen und ihre Wirkungen in der Literatur der Zeit analysiert: L. Köhn, Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48, 1974, S. 704-766, und ebd. 49, 1975, S. 94-165. 89 B. Hey'l, Geschichtsdenken und literarische Moderne. Zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik, Tübingen 1994, S. 44ff. 90 Diese Texte in R. Musil, Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik, hg. v.A.Frisé, Reinbek 1978, S. 1075ff., 1353ff.; Ders., Der deutsche Mensch als Symptom. Aus dem Nachlaß hg. v. der Vereinigung Robert-Musil-Archiv Klagenfurt, Reinbek 1967. Ebenso auch E. Canetti in dem Kapitel »Einladung ins Leere« seines Erinnerungsbuches »Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931«, Frankfurt a.M. 1982. 91 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kap. 85. 92 Vgl. die Kapitel 47 (»Was alle getrennt sind, ist Arnheim in einer Person«) und Kapitel 48 (»Die drei Ursachen von Arnheims Berühmtheit und das Geheimnis des Ganzen«). 93 Siehe die Beiträge in: T. Buddensieg u.a. (Hg.),EinIMann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne, Berlin 1990, und in: H. Wilderotter (Hg.), Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867-1922, Berlin o.J. (1992). 94 Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 151f. 95 H. Brach, Die Schlafwandler, Kommentierte Werkausgabe, hg. v. P. M. Lützeler, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978; das Zitat hier S. 533. Vgl. F. Vollhardt, Hermann Brochs geschichtliche Stellung. Studien zum philosophischen Frühwerk und zur Romantrilogie »Die Schlafwandler« (1914-1932), Tübingen 1986;P.M. Lützeler u. M. Kessler (Hg.), Brochs theoretisches Werk, Frankfurt a.M. 1988; M. Ritzer, Hermann Broch und die Kulturkrise im frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1988. - Über weitere Manifestationen der Mittelalter-Reflexion und des politischen Mediävalismus sowie der Kritik an diesem in der Literatur der Zeit der Weimarer Republik (Thomas Mann, Rudolf Borchardt) O. G. Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte (im Druck; Abschnitt VI). 96 Vgl. Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 147ff 97 Über das Leiden am Historismus und über das ›Gcmeinsehafts‹-Denken als Ausweg daraus in der Staatsrechtslehre und in der (protestantischen) Theologie während der Weimarer Republik: K. Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen 1989. 98 Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 151. 99 Ebd., S. 152ff. 100 Ebd., S. 153. Zur Kritik an der nach 1945 in der deutschen Romanistik vorgetragenen, vordergründigen Ideologiekritik an E. R. Curtius jetzt treffend Earl J. Richards, La conscience européenne chez Curtius et chez ses détraeteurs, in: Ernst Robert Curtius et l'idée d'Europe, Paris 1995, S. 257-286. 101 Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 149f. 102 H. Schmalenbach, Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1, 1922, S. 35-105; die Zitate S. 42, 59, 100ff. 103 Ebd., S. 105. 104 So bei Benz, Geist und Reich (wie Anm. 85), S. 180ff. 105 Dazu Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 155ff., und Ders., Die Moderne und ihr Mittelalter (wie Anm. 95), Abschnitt VII. 293 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 182-186 106 E. Troeltsch, Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau 1, 1922, S. 572-590. 107 R. Kany, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, S. 4. 108 Von dieser Verwendung des Begriffs der ›Krise des Historismus‹ ist zu unterscheiden eine andere, die vor allem von dem Kirchenhistoriker Karl Heussi in seinem Buch »Die Krisis des Historismus« von 1932 erörtert wurde. Heussi versteht, aufgrund einer anderen Definition von ›Historismus‹, darunter jene Krise, in die der »Historismus« = die objektivistische und positivistische Wissenschaft der Zeit um 1900 geraten ist. Dazu Oexle, »Historismus«. Zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in diesem Band S. 57 mit Anm. 103. 109 Troeltsch, Die Krisis des Historismus, S. 573, 576ff. 110 Darüber A. Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 19942, S. 61ff. und 80ff. 111 Ebd., S. 102ff. 112 Vgl. K. Nowak, Die »antihistoristische Revolution«. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: H. Renz u. F. W. Graf (Hg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, S. 133-171. 113 Vgl. O. G. Oexle, »Historismus«, in diesem Band S. 51ff. Zur Wissenssoziologie mit neuem Ansatz Lichtblau, Auf der Suche nach einer neuen Kultursynthese (wie unten, Anm. 130). 114 Vgl. in diesem Band S. 56. 115 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie (wie Anm. 24), S. 329ff. 116 Ebd., S. 250. 117 Ebd., S. 258ff. 118 Ebd., S. 269. Zu Nietzsches Begriff des ›Lebens‹ Germer, Wissenschaft und Leben, S. 25ff. 119 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 198415, S. 392ff. 120 Zum Folgenden Oexle, »Historismus«, in diesem Band S. 57ff. Das Zitat bei Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 6), S. 772. 121 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 694ff. (»Über den Aulbau der europäischen Kulturgeschichte«). 122 Vgl. O. G. Oexle, Von Nietzsche zu Max Weber: Wertproblem und Objektivitätsförderung im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 78ff. 123 Ebd., S. 79f. 124 Ebd., S. 87f. Vgl. S. Kracauer, Die Wissenschaftskrisis. Zu den grundsätzlichen Schriften Max Webers und Ernst Troeltschs (1923), in: Ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1977, S. 197-206, S. 203. 125 Vgl. O. G. Oexle, ›Der Teil und das Ganze‹ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historisch-typologischer Versuch, in diesem Band S. 239f. 126 Dazu Oexle, Von Nietzsche zu Max Weber, in diesem Band S. 81ff; Ders., ›Wissenschaft‹ und ›Leben‹. Historische Reflexionen über Tragweite und Grenzen der modernen Wissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 41, 1990, S. 145-161; Germer, Wissenschaft und Leben, S. 89ff. 127 D. J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 15ff; das Zitat S. 21. 128 Ebd., S. 26. 129 M. Weber, Wissenschaft als Beruf 1917/19 - Politik als Beruf 1919, hg. v. W. J. Mommsen u. W. Schluchter (Max Weber Gesamtausgabe 1/17), Tübingen 1992. 294 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 186-189 130 Die Herausgeber der Neuausgabe des Textes in der »Max Weber Gesamtausgabe« weisen auf diese bedeutsame Wirkungsgeschichte des Textes mit keinem Wort hin. Anders, mit neuem Ansatz, K. Lichtblau, Auf der Suche nach einer neuen Kultursynthese. Zur Genealogie der Wissenssoziologie Max Schelers und Karl Mannheims, in: Sociologia Internationale 30, 1992, S. 1-33. 131 Vgl. P. Lassman u.a. (Hg.), Max Weber's ›Science as a Vocation‹, London 1989. 132 Zum Folgenden vor allem H. Raschel, Das Nietzsche-Bild im George-Kreis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme, Berlin 1984. 133 F. Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 488. 134 F. Gundolf, George, Berlin 1920, S. 30 und 257. 135 Raschel, S. 63ff., 92ff. 136 Ebd., S. 13ff. 137 Ebd., S. 5. 138 Ebd., S. 5, Anm. 1. 139 E. Gundolf u. K. Hildebrandt, Nietzsche als Richter unserer Zeit, Breslau 1923, Vorwort. 140 Raschel, Das Nietzsche-Bild im George-Kreis, S. 153ff. Bertram war nie ein »Jünger« Georges, sah aber in George die Verkörperung eines großen Menschen und eines »aristokratischen Deutschtums« (Raschel, S. 156). 141 Dazu Raschel, S. 161ff. 142 Ebd., S. 134. - E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918 und 19222. Über Ernst Bertram und seine Nahe zum George-Kreis außerdem G. Zöfel, Die Wirkung des Dichters. Mythologie und Hermeneutik in der Literaturwissenschaft um Stefan George, Frankfurt a.M. 1987, S. 187ff., und vor allem K. O. Conrady, Völkisch-nationale Germanistik in Köln. Eine unfestliche Erinnerung, Schernfeld 1990. 143 E. Glöckner, Begegnung mit Stefan George. Auszüge aus Briefen und Tagebüchern 1913-1934, Heidelberg 1972, S. 48. 144 Dazu Raschel, S. 149ff. 145 Ebd., S. 152. 146 Zitiert ebd., S. 153. Zu Anfang der zwanziger Jahre hat sich Bertram dann vom George-Kreis distanziert und diesen 1924 als »die größte Illusion« seines Lebens bezeichnet (Raschel, S. 166). 147 Zitiert ebd., S. 166. 148 S. unten, Abschnitt V. 149 Dazu W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph - Psychologe -Antichrist, Darmstadt 1982, S. 13ff., bes. S. 18. Raschel, Das Nietzsche-Bild im George-Kreis, S. 3, spricht in diesem Zusammenhang von einer »großangelegten Bildungsmanipulation von gesellschaftlichem und politischem Gewicht ohnegleichen«. 150 Dazu H. Scheuer, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 112ff.; Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 84ff. 151 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie (wie Anm. 24), S. 258, 260. 152 Vgl. F. Gundolf, Dichter und Helden, Heidelberg 1921. 153 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (wie Anm. 133), S. 487. 154 K. Vossler, Vom sprachlichen und sonstigen Wert des Ruhmes, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4, 1926, S. 226-239, S. 236f. 155 Bert ram, Nietzsche (wie Anm. 142), S. 1. 295 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 189-193 156 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie, S. 293f. 157 Bertram, Nietzsche, S. 5 und 93f. 158 F. Gundolf, Caesar im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1926, besonders S. 82ff. Die Zitate S. 82 und 88. 159 F. Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms (wie Anm. 1), S. 265. 160 Ebd. 161 Zöfel, Die Wirkung des Dichters (wie Anm. 142), S. 42. 162 Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 73ff. 163 Jahrbuch für die Geistige Bewegung 1, 1910, Vorwort. 164 S. oben, Anm. 60. 165 F. Gundolf, Das Bild Georges, in: Jahrbuch 1 (wie Anm. 163), S. 19-48, S. 21. 166 Jahrbuch 1 (wie Anm. 163), S. 57. 167 K. Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (Zum Ethos der Tragödie), in: Jahrbuch 1, S. 64-117; die Zitate S. 65 und 74. 168 Vgl. Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 84ff.; Zöfel, Die Wirkung des Dichters, S. 38ff., 42ff., 52ff. Zu Hildebrandts Kampf gegen den »historischen Positivismus« und die »positivistische Geistesgeschichte« zustimmend schon F. J. Brecht, Platon und der George-Kreis, Leipzig 1929, S. 25ff. 169 F. Wolters, Richtlinien, in: Jahrbuch 1, S. 128-145. Die Zitate hier S. 128f., 130ff., 141, 144f. 170 E. Salin, Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München 19542, S. 107ff., die Zitate S. 108f. und 110. 171 Ebd., S. 107 und 110. Darüber zuletzt W. Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985, S. 245ff.; Ch. Braun, Max Webers »Musiksoziologie«, Laaber 1992, S. 89ff., und E. Weitler, Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen, Stuttgart 1994, S. 61ff. Vgl. auch R. Kolk, Das schöne Leben. Stefan George und sein Kreis in Heidelberg, in: H. Treiber u. K. Sauerland (Hg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der »geistigen Geselligkeit« eines »Weltdorfes«: 1850-1950, Opladen 1995, S. 310-327. 172 Braun, Max Webers »Musiksoziologie«, S. 70ff. 173 Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 19843, S. 465, 469. 174 M. Weber, Briefe 1909-1910, hg. v. M. R. Lepsius u. W. J. Mommsen (Max Weber Gesamtausgabe II/6), Tübingen 1994, S. 561f. 175 Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 161ff. 176 Marianne Weber, Max Weber, S. 470. 177 Braun, Max Webers »Musiksoziologie«, S. 90f. mit Hinweis auf die zitierten Texte Webers. 178 Vgl. Brawn, S. 71f. 179 Weber, Wissenschaft als Beruf (wie Anm. 129), S. 102ff. 180 Marianne Weber, Max Weber, S. 470. 181 W. J. Mommsen, Max Weber. Ein politischer Intellektueller im Deutschen Kaiserreich, in: G. Hübinger u. W.J.Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a.M. 1993, S. 33-61, S. 58. 182 Dazu vor allem Braun, Max Webers »Musiksoziologie«, und Weiller, Max Weber und die literarische Moderne (wie Anm. 171). 183 Dazu Karl Löwith (1897-1973) in seinem 1940 verfaßten autobiographischen Rückblick: K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, S. 16ff.,19ff.,27ff. 296 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 193-197 184 K. Hildebrandt, Norm und Verfall des Staates, Dresden 1920, S. 108ff. 185 E. von Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920. Zu Kahler: G. Lauer, Die verspätete Revolution. Erich von Kahler. Wissenschaftsgeschichte zwischen konservativer Revolution und Exil, Berlin 1995. 186 Lauer, Die verspätete Revolution, S. 286. 187 Ebd., S. 181ff. 188 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 106. 189 Vgl. Weiller, Max Weber und die literarische Moderne, S. 127, 131ff 190 Siehe J. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Th. W. Adorno u.a. (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1969), Neuausgabe München 1993, S. 155-191, S. 186ff. Weitere Beispiele bei Weiller, S. 37. 191 von Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, S. 5, 7, 8ff. 192 Ebd., S. 15f., 40, 42, 95f. 193 Über A. Salz: Grunewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 23f. mit Anm. 88. 194 A. Salz, Für die Wissenschaft, gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern, München 1921, S. 91. Vgl. Weiller, Max Weber und die literarische Moderne, S. 136ff. 195 E. Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft (1921), wiederabgedruckt in: Ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie (Gesammelte Schriften 4), Nachdruck Aalen 19812, S. 653-677, hier S. 675. 196 S. George, Werke. Ausgabe in zwei Bänden, Stuttgart 19844, Bd. 1, S. 382f. 197 Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 92ff. 198 Ebd., S. 94. 199 George, Werke, Bd. 1, S. 453. 200 E. Morwitz, Die Dichtung Stefan Georges, Godesberg 1948, S. 159. 201 George, Werke, Bd. 1, S. 423f. 202 Ebd., S. 238. 203 So in »Geheimes Deutschland«, ebd., S. 425. 204 Ebd., S. 424. Zu diesem »deutschen Mythos« und seinem Zusammenhang mit dem »Mythischen im gegenwärtigen deutschen Geschehen« in »Geheimes Deutschland« E. Morwitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, München 1960, S. 439f. 205 Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 61. 206 George, Werke, Bd. 1, S. 455. 207 Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 59f. 208 P. Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992, S. 61. 209 Ebd., S. 62f. mit Anm. 21, S. 488. 210 F. Gundolf, Gefolgschaft und Jüngertum, in: Blätter für die Kunst 8, 1909, S. 114-118. 211 F. Wolters, Herrschaft und Dienst, Berlin 19202, S. 5f. 212 K. Hildebrandt, Individualität und Gemeinschaft, Berlin 1933, S. 26, 28. 213 Dazu Brecht, Platon und der George-Kreis (wie Anm. 168), bes. S. 57ff. 214 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 527. 215 Ebd., S. 545, 549. 216 Lepenies, Die drei Kulturen, S. 245ff 217 So jüngst S. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. Die Bezeichnung wirkt allzu blaß und läßt den politischen Tremor Georges und der Georgeaner in den 1920er Jahren und um 1930 außer Acht. 218 Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 131. 297 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 197-202 219 T. Orozco, Platonische Gewalt. Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit, Hamburg 1995, S. 78ff. 220 E. Bertram, Deutscher Aurbruch, Eine Rede vor studentischer Jugend, in: Deutsche Zeitschrift. XXXXVI. Jahrgang des Kunstwarts, 1933, S. 609-619, S. 611, 616ff. 221 E. Bertram, Möglichkeiten deutscher Klassik, in: Ders., Deutsche Gestalten. Fest- und Gedenkreden, Leipzig 1934, S. 246-279, S. 250, 260f., 271. 222 W. Uxkull-Gyllenband, Das revolutionäre Ethos bei Stefan George, Tübingen 1933. Über Uxkull-Gyllenband und seine Freundschaft mit Kantorowicz Grünewald,ErnstKantorowiez und Stefan George, S. 37ff. 223 Zu dieser Nietzsche-Kritik vgl. Raschel, Das Nietzsche-Bild, S. 108f. 224 Uxkull-Gyllenband, S. 6. 225 Der Text jetzt in:E.Grünewald, Sanctus amor patriae dat animum - ein Wahlspruch des George-Kreises?, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50, 1994, S. 89-125, hier S. 104-125. 226 Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 91. 227 Lepenies, Die drei Kulturen, S. 331. 228 Das zeigen auch die Darlegungen von K. Heussi, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932. 229 Vgl. Wittkau, Historismus (wie Anm. 110). 230 So Hey'l, Geschichtsdenken und literarische Moderne (wie Anm. 89), S. 45. 231 E. Troeltsch, Die Krisis des Historismus (wie Anm. 106), S. 576. 232 Die wichtigsten Beiträge sind wieder abgedruckt in: G.Wolf(Hg.), Stupor mundi. Zur Geschichte Friedrichs II. von Hohenstaufen, Darmstadt 1966. 233 Die Zitate in Wolf (Hg.), Stupor mundi, S. 7 u. 21f. 234 Mit Hohn äußerte sich Kantorowicz bereits in seiner Erwiderung (»Mythenschau«, 1930) über Brackmanns Rezension, s. Wolf (Hg.), Stupor mundi, S. 23. 235 Wolf (Hg.), Stupor mundi, S. 23f. 236 Ebd., S. 49f., 52, 59. 237 Ebd., S. 62, 102. 238 Ebd., S. 106f. 239 S. oben, Anm. 225. 240 S. oben, S. 189f. 241 Zum Streit um die historische Belletristik in der Weimarer Republik Ch. Gradmann, Historische Belletristik. Populäre historische Biographien in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1993. 242 Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte (wie Anm. 225), S. 105, 107, 121f. 243 Ebd., S. 110f., 115. Die Attacke gegen den »sich voraussetzungslos oder gar wertfrei nennenden Positivismus« richtet sich auch gegen Max Webers »Wissenschaft als Beruf«, so wie die Gcorgeaner Webers Auffassungen deuteten, s. oben, Abschnitt IV/3. 244 Ebd., S. 121f. 245 Ebd., S. 120f. 246 Ebd., S. 121, 124. 247 Dazu O. G. Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 30. 248 Gundolf, Anfänge deutscher Geschichtsschreibung (wie Anm. 2), S. 9. 249 Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben (wie Anm. 242 bzw. 225), S. 122. 298 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 202-206 250 Vgl. dazu die Polemik, die der Rechtswissenschaftler Erik Wolf im Rahmen einer Freiburger Vortragsreihe »Aufgaben des geistigen Lebens im nationalsozialistischen Staat« im Dezember 1933 gegen Gustav Radbruch führte und gegen dessen Absicht, »das Recht an den Zwecken eines vernünftigen internationalen Kulturideals auszurichten«; dies sei ein »Produkt des absoluten Vernunftglaubens der Aufklärung« und deshalb überholt; »richtiges« Recht könne »in unserer heutigen deutschen Gegenwart ... nur ein solches sein, das ... die politische und kulturelle Einheit des deutschen Volkstums in dieser Gegenwart zum Ausdruck« bringe: E. Wolf, Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate, Freiburg i.Br. 1934, S. 6 und 10. 251 Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben (wie Anm. 242 bzw. 225), S. 121. 252 Vgl. P, de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Berlin 1959, S. 301ff. 253 Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben (wie Anm. 242 bzw. 225), S. 122. 254 Ebd., S. 122f. 255 Ebd., S. 123. 256 Ebd., S. 125. 257 Lepenies, Die drei Kulturen, S. 245. 258 A. Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a.M. 1993, S. 102. 259 J. Benda, La trahison des clercs (1927), Nachdruck Paris 1981. 260 A. Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, Darmstadt 19893, S. 70. 261 K. Hildebrandt, Norm und Entartung des Menschen, Dresden 19234/5, S. 266 u. 270. 262 Gundolf, Caesar (wie Anm. 1), S. 91ff. Ebenso Nietzsches Auffassung von Friedrich IL: er sei einer »jener zauberhaften Unfaßbaren und Unausdenklichen, jener zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten Rätselmenschen« (wie Cäsar und Leonardo da Vinci). Als »Atheist und Kirchenfeind comme il faut« ist er einer von Nietzsches »Nächstverwandten«, der »große Freigeist, das Genie unter den deutschen Kaisern«. Die Texte in: F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. 2, Darmstadt 19829, S. 656f., 1132, 1233. 263 W. von den Steinen, Das Kaisertum Friedrichs des Zweiten nach den Anschauungen seiner Staatsbriefe, Berlin 1922, S. 1. 264 E. Kantorowkz, Kaiser Friedrich der Zweite (1927), Nachdruck Düsseldorf 1963, S. 350, 353f. 265 Ebd., S. 75, 81. 266 Ebd., S. 75. 267 Ebd., S. 74 (das »überdeutsche Ganze«). 268 Ebd., S. 74f. 269 Ebd., S. 81. 270 Ebd., S. 74f. 271 Ebd., S. 77. 272 Ebd., S. 76f. 273 Ebd., S. 339. 274 Ebd., S. 77, 79, 82f. 275 Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung (wie Anm. 52), S. 146ff. 276 E. Bertram, Wie deuten wir uns? (1915), wiederabgedruckt in: Ders., Dichtung als Zeugnis. Frühe Bonner Studien zur Literatur, Bonn 1967, S. 119-135, die Zitate S. 122 und s. 131ff. 299 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 207-210 277 Bertram, Nietzsche (wie Anm. 142), S. 64ff., 67, 69. 278 Ebd., S. 250f. 279 S. oben, Anm. 262. 280 Bertram, Nietzsche, S. 52. Vgl. F. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Srudienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 14, München 1980, S. 369. 281 Monvitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges (wie Anm. 204), S. 230; Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 59. 282 S. unten, Abschnitt VI. 283 Bertram, Nietzsche, S. 69f. 284 Ebd., S. 80. 285 S. oben. S. 187f. 286 Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 195f. 287 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 547, 550. 288 Ebd., S. 527. 289 Ebd., S. 549. 290 Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 198. Vgl. auch die Ausruhrungen über Friedrichs »Staat«, ebd., S. 222ff. 291 K. Hildebrandt, Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht, Berlin 1933, bes. S. 225ff. 292 Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 199 und 200. 293 S. oben, Anm. 196. 294 Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 197f. 295 S. oben, S. 197. 296 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 547. 297 Ebd., S. 550. 298 Ebd., S. 547. 299 Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 199. 300 Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst, S. 549. 301 Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 196f. 302 Ebd., S. 196. 303 S. oben, S. 196. 304 Grunewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 65ff., bes. S. 72f. 305 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, S. 77. Vgl. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 607. 306 Hoffmann, S. 62f. 307 Brecht, Platon und der George-Kreis (wie Anm. 168), S. 55. 308 S. oben bei Anm. 133. 309 Vgl. Brecht, S. 57. 310 Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, S. 632. 311 S. oben, Anm. 50. 312 Raulff, Der Bildungshistoriker Friedrich Gundolf (wie Anm. 2), S. 147. 313 H. Fuhrmann, Die Heimholung des Ernst Kantorowicz, in: Die Zeit Nr. 13 vom 22. März 1991. Vgl. Ders., Ernst H. Kantorowicz: der gedeutete Geschichtsdeuter, in: Ders., Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 1996, S. 252-270. Außerdem das Geleitwort von J. Fleckenstein zu der von ihm veranlaßten deutschen Übersetzung von »The King's Two Bodies«: E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 9-18. 300 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 211-213 314 N. F. Cantor, Inventing the Middle Ages. The Lives, Works, and Ideas of the Great Medievalists of the Twentieth Century, New York 1991, S. 95f. 315 So E. Grünewald in dem »Biographischen Nachwort« zum jüngsten Nachdruck von »Kaiser Friedrich der Zweite« (Stuttgart 1994), S. 366. Hier auch die folgenden Zitate. 316 Vgl. Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne, in diesem Band S. 139 mit Anm. 10. 317 So Lepenies, Die drei Kulturen, S. 263, über Rudolf Borchardt. 318 Scheuer, Biographie (wie Anm. 150), S. 131. 319 Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 (wie Anm. 183), S. 24. 320 K. Löwith, Max Webers Stellung zur Wissenschaft (1964), in: Ders., Hegel und die Authebung der Philosophie im 19. Jahrhundert - Max Weber, Stuttgart 1988, S. 419-447, S. 446. 321 So Cantor, Inventing the Middle Ages, S. 96. 322 Vgl. D. Grimm, Die »Neue Rechtswissenschaft« - Über Funktion und Formation nationalsozialistischer Jurisprudenz, in: Ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987, S. 373-395, S. 394. - Die tiefe Zwei-Deutigkeit wird repräsentiert von Gottfried Benns Bemerkung in seiner (nicht mehr gehaltenen) Rede auf George, 1933: »Der Geist ist ungeheuer allgemein, produktiv und pädagogisch, nur so ist zu erklären, daß sein Axiom in der Kunst Georges wie im Kolonnenschritt der braunen Bataillone als ein Kommando lebt« (zitiert bei: H. Müller, Gottfried Benns paradoxer Antihistorismus. Einige Überlegungen über Zusammenhänge zwischen ästhetischem Absolutismus und faschistischem Engagement, in: H. Eggert u.a. (Hg.), Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 182-195, S. 187); vgl. auch - in ironischer Brechung - Karl Löwiths Bemerkung über Heideggers Rektoratsredc vom Mai 1933: man wisse am Ende des Vortrags nicht, »ob man Diels' Vorsokratiker in die Hand nehmen soll oder mit der S.A. marschieren« (Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, S. 33). 323 Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 165, Anm. 36. 324 G. Seibt, Der Staat als Kunstwerk. Das Geheime Deutschland und der Widerstand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. April 1995. 325 Ebd. 326 E. H. Kantorowicz, The King's Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957, S. 3. 327 G. Seibt, Römisches Deutschland. Ein politisches Motiv bei Rudolf Borchardt und Ernst Kantorowicz, in: Sinn und Form 46, 1994, S. 61-71, S. 62. 328 Dazu R. Giesey, Deux modèles du pouvoir selon Ernst Kantorowicz, in: Prefaces 10, 1988, S. 113-121, hier S. 120: unter all den jüdischen Emigranten aus Deutschland habe es nur sehr wenige gegeben, die sich wirklich verändert hätten, »qui aient abandonné l'élitisme intellectuel, le sens des differences hiérarchiques, ... endémique chez les universitaires allemands, bref qui se soient profondément democratises«. 329 Dazu Lauer, Die verspätete Revolution. Hinzuweisen ist hier auf Kahlers Buch »Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas« (1937). Thomas Mann hat Kahler im »Doktor Faustus« (1947), seinem Pandämonium der deutschen Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Figur des Deutschlin porträtiert (Kap. XIV). 330 Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 158, 163f. 331 Zitiert ebd., S. 159. 332 Zitiert ebd., S. 165. 301 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 213-215 333 Dazu R. delle Donne, Nachwort, in: A. Boureau, Kantorowicz. Geschichten eines Historikers, Stuttgart 1992, S. 151-173. 334 Eine neue ›Mythologie‹ verfaßte Alain Boureau mit seinem in Anm. 333 genannten Kantorowicz-Buch. Dazu meine Rezension in: Ius Commune. Zeitschrift für europäische Rechtsgeschichte 19, 1992, S. 322-324. 335 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994, S. 40f. 336 Grünewald, Biographisches Nachwort (wie Anm. 315), S. 357f. 337 So delle Donne, Nachwort (wie Anm. 333), S. 167. 338 So W. Lammers, Bild und Urteil in der Geschichtsschreibung. Beobachtungen an Darstellungen Friedrichs II. von Hohenstaufen, in: Ders., Vestigia mediacvalia. Ausgewählte Aufsätze zur mittelalterlichen Historiographie, Landes- und Kirchengeschichte, Wiesbaden 1979, S. 109-123. 339 M. Valensise, Ernst Kantorowicz, in: Revista storica italiana 101, 1989, S. 195-221, S. 203; ebenso Grünewald, Biographisches Nachwort, S. 366. 340 S. oben, S. 204ff., 206f. 341 R. E. Lerner, Ernst Kantorowicz and Theodor E. Mommsen, in: H. Lehmann u. J. J. Sheehan (Hg.), An Interrupted Past. German-Speaking Refugee Historians in the United States after 1933, Washington, D.C. 1991, S. 188-205, S. 188ff. 342 R. E. Giesey, Ernst H. Kantorowicz. Scholarly Triumphs and Academic Travails in Weimar Germany and the United States, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute 30, 1985, S. 191-201, S. 194; Valensise (wie Anm. 339), S. 205. 343 F. Gilbert, Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905-1945, Berlin 1989, S. 115. 344 So delle Donne, Nachwort, S. 169ff. 345 So ebd., S. 167f. 346 S. oben, S. 200. Zur Attacke gegen Webers angeblichen »Positivismus« s. oben, Anm. 243. 347 SoP.Paret, Denkfarben der Vergangenheit. Der Historiker als Künstler: Eine Tagung über Ernst Kantorowicz in Princeton, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. November 1994. 348 So Boureau, Kantorowicz, S. 12f. Dieses krasse Fehlurteil wird zurechtgerückt von P Schöttler, V erudition - et après? Les historiens allemands avant et apres 1945, in: Genèses 5, 1991, S. 172-185, S. 177ff 349 Gilbert, Lehrjahre im alten Europa, S, 115. 350 Lauer, Die verspätete Revolution, S. 329. Über Marc Blochs Reaktionen auf Kantorowicz' Friedrich-Buch berichtet Schöttler (wie Anm. 348), S. 180ff. 351 S. oben, Anm. 80. 352 Dazu H. Cancik, Die Götter Griechenlands 1929. Walter F. Otto als Religionswissenschaftler und Theologe am Ende der Weimarer Republik, in: Der Altsprachliche Unterricht 26, 1984, S. 71-89, bes. S.81ff.;Ders., Dionysos 1933. W. F. Otto, ein Religionswissenschaftler und Theologe am Ende der Weimarer Republik, in: R. Faber u. R. Schlesier (Hg.), Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus, Würzburg 1986, S. 105-123. Über solche Intellektuellen-Religionen des 19. und 20. Jahrhunderts P. Antes u. D. Pahnke (Hg.), Die Religion von Oberschichten. Religion - Profession - Intellektualismus, Marburg 1990; E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen 1993.
302 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 216-219 7. ›Der Teil und das Ganze‹ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historisch-typologischer Versuch 1 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Philosophische Bibliothek 37a), Hamburg 1976, S. 512. 2 W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1969. 3 H.-P. Dürr, Neuere Entwicklungen in der Hochenergiephysik - das Ende des Reduktionismus?, in: Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, hg. v. A. Dress u.a., München 1986, S. 15-34. 4 Ebd., S. 17. 5 Ebd., S. 16, 21. 6 Ebd., S. 17; die folgenden Zitate S. 26ff. 7 W. Heisenberg, Über den anschaulichen Inhalt der quantenmechanischen Kinematik und Mechanik (1927), wieder abgedruckt in: K. Baumann u. R. U. Sexl (Hg.), Die Deutungen der Quantentheorie, Braunschweig 1984, S. 53-79, S. 66. 8 W. Heisetiberg, Die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre im Lichte der modernen Physik (1941), in: Ders., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, Stuttgart 198011, S. 85-106, S. 102. 9 C. F. von Weizsäcker, Aufbau der Physik, München 1985, S. 554f. 10 K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen (1919), München 1985, S. 188. 11 W. Heisenberg, Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes (1941), wieder abgedruckt in: Ders., Wandlungen, S. 107-128, hier S. 128. Im Gegensatz dazu war es das Ziel Albert Einsteins, »den Determinismus, den Objektivismus und den Realismus für alle Fundamentaltheorien der Physik aufrechtzuerhalten«: B. Kanitscheider, Das Weltbild Albert Einsteins, München 1988, S. 88. Entgegengesetzt auch Einsteins »kosmische Perspektive«: »Sie geht nicht von den anthropologischen Gegebenheiten aus, sondern versucht, die Objektivität der Naturdinge antizipierend, vom umfassendsten System und seiner Geschichte auszugehen, und bemüht sich dann, in kleinen Konstruktionsschritten zuletzt die Innenwelt des Menschen und sein Erkenntnisvermögen zu rekonstruieren. Hypothetisch wird dabei das fallible Wissen vorausgesetzt, daß der Kosmos, die großräumige Einbettung unserer lokalen Umgebung, der älteste Teil der Natur ist, der die notwendige Bedingung für die Existenz der späteren, komplexeren Entwicklungsstufen liefert« (S. 179f.). 12 Vgl. dazu Jaspers, Psychologie, S. 188: »Das metaphysische Weltbild unmittelbarer, ungespaltener Ganzheit denken wir uns als das des Mittelalters. Es ist das Weltbild der frühen Griechen (der Philosophen). Es ist das Weltgefühl Goethes und die Forderung und Sehnsucht Nietzsches. Es ist im primitivsten Leben möglich und als letztes Resultat unendlicher Differenzierung in Gestalt einer durch alle Scheidungen vermittelten neuen Unmittelbarkeit«. 13 Ottonis episcopi Frisingensis Chronica sive historia de duabus civitatibus, hg. v. A. Hofmeister (MGH Scriptores rerum Germanicarum), Hannover 19122. Dazu zuletzt H.-W. Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising, Köln 1984. 14 Chronica, S. 5: Quatuor prineipalia regna, quae inter cetera eminerent, ab exordio mundi fuisse in finemque eins secundum legem totius successive permansura fore ex visione quoque Danielis pereipi potest. Otto schließt sich inhaltlich der Bestimmung der Reiche durch Hieronymus an; vgl. Goetz, Geschichtsbild, S. 140. 15 Vgl. ebd.,S. 148ff. 303 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 219-224 16 Ebd., S. 155. 17 Chronica, Prol. zu Buch I, S. 8. Ebenso Prol. zu Buch V, S. 227. 18 Chronica VII,35, S. 372: ut in hoc haut mireris potentiae seu sapient ine ab Oriente ad oeeidentem translationem, cum de religione itidem factum eniteat. 19 Alexander von Roes, Memoriale c. 25, hg. v. H. Grundmann u. H. Heimpel (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters, Bd. 2) 1958, S. 126f.; J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, hg. v. P. Ganz, München 1982, S. 173ff. 20 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke, Bd. 12), Frankfurt a.M. 1970, S. 134. 21 Goetz, Geschichtsbild, S. 137ff., 225ff. 22 Ebd.,S. 80ff. 23 E. Auerbach, Typologische Motive in der mittelalterlichen Literatur, Krefeld 19642; F. Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977. 24 F. Ohly, Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, in: Natur, Religion, Sprache, Universität (Universitätsvorträge 1982/83), Münster 1983, S. 68-102, S. 71. 25 Ebd. 26 J.-B. Bossuet, Discours sur l'histoire universelle III,2, in: Ders., Oeuvres, hg. v.B.Velat u. Y. Champailler, Paris 1961, S. 953. 27 ].-B. Bossuet, Politique tirée des propres paroles de l'Eeriture Sainte VII,6,6, in: Oeuvres completes de Bossuet, hg. v. F. Lachat, Bd. 24, Paris 1875, S. 90. 28 W. v. Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers, in: Ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. A. Flitner u. K. Giel, Bd. 1, Darmstadt 19803, S. 585ff. Die folgenden Zitate hier S. 585, 586f., 590, 601, 604f. 29 R. Vierhaus, Leopold von Ranke. Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Kunst, in: Leopold von Ranke. Vorträge anläßlich seines 100. Todestages (Schriften des Historischen Kollegs. Dokumentationen, Bd. 3), München 1987, S. 31-44, liier S. 41. 30 L. von Ranke, Die Osmanen und die Spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert, in: Sämtliche Werke. Dritte Gesamtausgabe, Bd. 35/36, Leipzig 1877, S. 89. 31 L. von Ranke, Idee der Universalhistorie, hg. v. E. Kessel, Rankes Idee der Universalgeschichte, in: HZ 178, 1954, S. 269-308, S. 290ff.; die Zitate S. 295 und 301. 32 Ebd., S. 293f. 33 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (Gesammelte Schriften 3) (1922), Nachdruck Aalen 19772, S. 772. Dazu O. G. Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in diesem Band S. 17ff., und Ders., »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in diesem Band S. 57ff. 34 E. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), wieder abgedruckt in: Ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie undEthik(Gesammelte Schriften 2), Nachdruck Aalen 19812, S. 729-753, S. 737. 35 Troeltsch, Historismus, S. 183, 675, 677. 36 D. Hume, An enquiry concerning human understanding, in: Ders., The philosophical works, hg. v. Th. Hill Green u. Th. Hodge Grose, Bd. 4, London 1882, Nachdruck Aalen 1964, S. 22. Die deutsche Übersetzung nach Ders., Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (Philosophische Bibliothek 35), Hamburg 1984, S. 32. 37 Hume, Enquiry, S. 19; deutsche Übersetzung in Hume, Untersuchung, S. 27. 38 F. Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Ders., Historische Schriften. Dritter Teil, München 1966, S. 7-24, S. 20. 39 H. Th. Buckle, History of Civilization in England, Bd. 1, London 1857, S. 6f., 3, 30f. 304 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 224-227 Die deutsche Übersetzung nach F. Stern (Hg.), Geschichte und Geschichtsschreibung, Möglichkeiten - Aufgaben - Methoden, München 1966, S. 129, 127f., 131. Dazu J. G. Droysen, Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft (1862), wieder abgedruckt als Beilage in der letzten Druckfassung des »Grundriß der Historik« von 1882, in: Ders., Historik, he. v.P.Leyh,Stuttgart 1977, S. 451-469. 40 E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 4 (2. Aufl. 1957), Nachdruck Darmstadt 1973, S. 260. 41 Vgl. H. Schipperges, Utopien der Medizin. Geschichte und Kritik der ärztlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts, Salzburg 1968, S. 27ff. 42 Ch.-V. Langlois u. Ch. Seignobos, Introduction aux études historiques, Paris 1898, S. 43ff. 43 M. Bloch, Critique historique et critique du témoignagc (1914), in: Annales E.S.C. 5, 1950, S. 1-8, hier S. 2. Dasselbe Bild bereits bei Langlois u. Seignobos, Introduction, S. 47. 44 Das Zitat nach Stern, Geschichte und Geschichtsschreibung, S. 261. 45 Bloch, Critique historique, S. 8. 46 W. Ditthey, Plan der Fortsetzung zum Autbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften 7), Leipzig 19422, S. 252ff., bes. S. 261ff. 47 Ebd., S. 262. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 241. 50 Ebd., S. 262. 51 Vgl. oben im Text Abschnitt II. 52 Diese Äußerung von Wilhelm Dilthey findet sich in: Ders., Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie (Gesammelte Schriften 8), Leipzig 1931, S. 232. 53 Dilthey, Plan der Fortsetzung, S. 262. 54 Ebd., S. 241. 55 Ebd., S. 233. 56 Troeltsch, Historismus, S. 711. 57 J. Vogt, Wege zum historischen Universum. Von Ranke bis Toynbee, Stuttgart 1961, S. 74. 58 Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, hg. v. K. Schwabe u. R. Reichardt, Boppard 1984, S. 309. 59 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe III/l, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin 1972, S. 239ff., bes. Abschnitt 8, S. 298ff. 60 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. C. Colli u. M. Montinari, Bd. 5, München 1980, S. 157ff. 61 F. Nietzsche, Morgenröte I, 18 (1881), ebd., Bd. 3, S. 31. 62 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente (1887/88), ebd., Bd. 13, S. 37. 63 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, § 51, in: Sämtliche Werke, hg. v. W. Frhr. von Löhneysen, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1986, S. 342f. 64 Ebd., Bd. 2, Kap. 38, S. 567, 564, 570. 65 W. Kampf, Entstehung, Aufnahme und Wirkung der Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, in: F. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, neu hg. v. W. Kampf, Bd. 3, Darmstadt 1963, S. 741-788, S. 744. 66 Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, S. 226. 305 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 228-233 67 Vgl. Anm. 39. 68 Dazu im einzelnen Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 31ff. 69 Droysen, Historik, S. 30f., 32. 70 Dazu Leyh (Hg.), Historik, S. XIVf. 71 W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (Gesammelte Schriften 1), Stuttgart 19798, S. IX. 72 Ebd., S. 402, 404, 406. 73 Droysen, Historik, S. 19ff., 22. 74 Darüber bes. die Sammelbände von H.-J. Dahme u. O. Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne, Frankfurt a.M. 1984, und O. Rammstedt (Hg.), Simmel und die frühen Soziologen, Frankfurt a.M. 1988; darin insbesondere der Beitrag von H.-J.Dahme,Der Verlust des Fortschrittsglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie. Hin Vergleich von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Max Weber, S. 222-274. 75 G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, Leipzig 19052, S. 46. 76 Zuerst in der Abhandlung über »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« von 1904, abgedruckt in: M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19825, S. 146-214. 77 M. Weber, Wissenschaft als Beruf (1919), in: Ders., Wissenschaftslehre, S. 582-613, S. 593. 78 Weber, Objektivität, S. 177, 184. 79 M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: Ders., Wissenschaftslehre, S. 75, Anm. 1. 80 Weber, Objektivität, S. 206f. 81 Ebd., S. 184. 82 Troeltsch, Historismus, S. 189f., Anm. 83; vgl. im Register des Werks die Einträge bei Weber, Max. 83 M. Bloch, Apologie pour l'histoire ou métier d'historien, Paris 19747. Zum folgenden O. G. Oexle, Marc Bloch et la critique de la raison historique, in: H. Atsma u. A. Burguière (Hg.), Marc Bloch aujourd' hui, Paris 1990, S. 419-433. 84 Vgl. Blochs Bemerkung »Seule l'unité de problème fait centre«, in: Annales d'histoire économique et sociale 6, 1934, S. 81. 85 Bloch, Apologie, S. 63. 86 Vgl. Abschnitt I und Abschnitt IV des vorliegenden Textes. 87 Dazu Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 34f. 88 Bloch, Apologie, S. 29. 89 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Fragmente der sog. Pensees, die hier nach der Ausgabe von J. Chevalier (Hg.), Oeuvres completes, Paris 1954, zitiert werden. 90 Dazu das berühmte Fragment 84, ebd., S. 1105ff. 91 Vgl. Anm. 11 und Anm. 69. 92 Pensees, S. 1110. 93 Ebd.: »... je tiens impossible de connaître les parties sans connaître le tout, non plus que de connaître le tout sans connaître particulièrement les parties«. 94 Hierzu bes. H. Rombach, Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalis306 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 233-236 mus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, Freiburg 19812, Bd. 2, S. 111ff., bes. S. 122ff. 95 Man vergleiche hierzu die Schriften Pascals zur Physik in: Chevalier (Hg.), Oeuvres completes, S. 359ff. 96 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIII, S. 18. 97 Pensees, Fragment 308, S. 1166; dazu Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 2, S. 134ff. 98 Pensees, S. 1166. 99 Dazu Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, in diesem Band S. 21ff. und 25ff., sowie Ders., »Historismus«, in diesem Band S. 53ff. und 60ff. 100 Hierzu das berühmte Fragment 21 der Pensees (Chevalier, S. 1091ff.) mit der Unterscheidung von »esprit de géométrie« (das wissenschaftliche Denken) und »esprit de finesse« (das Alltagsdenken): »dans l'esprit de finesse, les prineipes sont dans l'usage commun et devant les yeux de tout le monde« (S. 1092). Im Bereich des »esprit de finesse« geht es um das Enscheiden und Handeln, vgl. Fragment 24 (ebd., S. 1094): »lafinesseest la part du jugement, la géométrie est celle de l'esprit«. Zum Kontext der Anthropologie Pascals und zum Verhältnis von Wissenschaft und Leben (Alltag) vgl. Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 2, S. 165ff. 101 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) (Werke, Bd. 7), Frankfurt a.M. 1970, S. 35. 102 E. Durkheim, La contribution de Montesquieu à la constitution de la science sociale, in: Ders., Montesquieu et Rousseau, précurseurs de la sociologie, Paris 1966, S. 25-113, S. 102ff. 103 R. Aron, Les étapes de la pensée sociologique, Paris 1967, S. 44. 104 Montesquieu, De l'esprit des lois, Preface, hg. v. G. Truc, Paris 1961, Bd. 1, S. 1. 105 Ebd., 1,1, Bd. 1, S. 6: »chaque diversité est uniformité, chaque changement est constance«. 106 Aron, Lesétapes,S. 29f. In Deutschland ist diese Struktur des Denkens Montesquieus (wenn man von Hegel absieht) erst 1932 von E. Cassirer erfaßt worden (Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 19733, S. 280 ff.) und dann als Erkenntnis alsbald wieder verlorengegangen, wie vor allem die weitgehend verständnislosen und herablassenden Ausführungen über Montesquieu bei F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus (1936), München 19654, S. 116ff., zeigen. Dies hat seine Wurzel gewiß auch in der vielfältig begrenzten Rezeption Montesquieus in Deutschland; vgl. R. Vierhaus, Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18.Jahrhundertmin:Ders., Deutschland im 18. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 9-32. Bemerkenswert ist demgegenüber die Rezeption Montesquieus in seiner das Ganze erfassenden Art des historischen Denkens in der schottischen Sozialwissenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in der ›Conjectural History‹ von Dugald Stewart. Dazu H. Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1973, S. 305ff. 107 Vgl. dazu den in Anm. 96 genannten Text. 108 Montesquieu, De l'ésprit des lois, Preface, Bd. 1, S. 1. 109 Ebd., S. 1. 110 Ebd., Bd. 2, S. 296ff. und 347ff. 111 Preface, Bd. 1, S. 2f.: »J'ai bien des fois commence et bien des fois abandonné cet ouvrage; j'ai mille fois abandonné aux vents les feuilles que j'avais écrites; je sentais tous les jours les mains paternelles tomber; je suivais mon objet sans former de dessein; je ne connaissais ni les regies ni les exceptions; je ne trouvais la vérité que pour la perdre: mais quand 307 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 236-238 j'ai découvert mes principes, tout ce que je cherchais est venu à moi; et, dansIecours de vingt années,j'aivu mon ouvrage commencer, croître, s'avancer etfinir«.Zur Genese des Werks vgl. R. Shackleton, Montesquieu. Une biographic critique, Grenoble 1977, S. 173ff. 112 Zur Theorie der Verfassungsformen vgl. Aron, Les étapes, S. 32ff. 113 Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 281; R. Aron, Dix-huit leçons sur la société industrielle, Paris 1962, S. 65. 114 De l'ésprit des lois III,1, Bd. 1, S. 23. 115 Ebd., XIX,4, S. 319. 116 Ebd., XIX,16, S. 326. 117 Ebd., XIX,4, S. 319: »Plusieurs choses gouvernent les hommes: le climat, la religion, les lois, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passécs, les mocurs, les manières; d'où il se forme un esprit général qui en résulte«. 118 Ebd., 1,3, S. 10f., mit der Feststellung: »C'est ce que j'entreprends de faire dans cet ouvrage. J'examinerai tous ces rapports: ils forment tous ensemble ce que l'on appelle l'esprit des lois«. 119 Ebd., XXXI,2, Bd. 2, S. 354. 120 Ebd., III,3, Bd. 1, S. 24. 121 Über den Zusammenhang von »docta ignorantia« und »ignorance savante« Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 2, S. 134ff. mit Anm. 35. 122 Wilhelm von Ockham, Scriptum in libruni primum Sententiarum, dist. 3 q. VI, hg. v. St. Brown u. G. Gál (Guillelmi de Ockham opera theologica 2), 1970, S. 492 ff. 123 Dazu Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 1, S. 78ff.; Wilhelm von Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, hg., übersetzt u. kommentiert von R. Imbach, Stuttgart 1984. 124 Vgl. Anm. 102. 125 E. Durkheim, Les règies de la méthode sociologique, Paris 198120. Vgl. S. Lukes, Emile Durkheim. His life and work, Stanford 1985, S. 226tT. 126 R. König, Emile Durkheim zur Diskussion, München 1978, S. 142. Vgl. Lukes, Durkheim, S. 279ff. 127 Darüber zuletzt S. Jöckei, »Nouvelle histoire« und Literaturwissenschaft, 2 Bde., Rheinfelden 19852. Bedeutend war die vermittelnde Rolle von Maurice Halbwachs in Straßburg, dazu J. E. Craig, Maurice HalbwachsàStrasbourg, in: Revue française de sociologie 20, 1979, S. 273-292; Ders., Die Durkheim-Schule und die ›Annales‹, in: W. Lepenies (Hg.), Geschichte der Soziologie, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1981, S. 298-322. Der Versuch von P. Toubert, Preface, in: Marc Bloch, Les caractères originaux de l'histoire rurale française, Neuausgabe Paris 1988, S. 5-41, bes. S. 15, den Einfluß und die Bedeutung von Durkheim schlicht zu leugnen, ist nicht nachvollziehbar. 128 Vgl. P. Toubert u. J. Le Goff, Une histoire totale du Moyen Age - est elle possible?, in: Actes du Centième Congrès National des Sociétés Savantes, Paris 1977, Bd. 1, S. 31-44; J. Le Goff, L'histoire nouvelle, in: Ders. u.a. (Hg.), La nouvelle histoire, Paris 1978, S. 210-241, hier S. 239. 129 Vgl. die Polemik gegen die ›Histoire totale‹ von H.-U. Wehler, Sozialgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, in: W. Schieder u. V. Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 1, Göttingen 1986, S. 33-52, S. 34f. Im genuin deutschen Kontext immer wieder erneuter Dispute pro und contra Ranke (solche demonstrieren jüngst wieder die Ausführungen von U. Muhlack, Leopold von Ranke, in: N. Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 11-36) läßt sich der Ansatz einer ›Histoire totale‹ in der Tat nicht einmal annäherungsweise zuordnen. 308 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Anmerkungen zu S. 238-240 130 Vgl. O. G. Oexle, Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858-1927), in: Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (wie Anm. 129), S. 283-312. 131 Zur Kant-Rezeption Simmeis H.-J. Dahme, Soziologie als exakte Wissenschaft, Teil II, Stuttgart 1981, S. 303ff. und 320ff. 132 Mit Recht hat sich jüngst W. Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 183ff., dagegen gewandt, daß Webers Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis wesentlich vom sogenannten Neokantianismus (bes. H. Rikkert) geprägt gewesen sei. Unverständlich ist hingegen die Bemerkung von Hennis (S. 208), »die Bedeutung KantsfürWeber« sei »nicht allzu hoch an[zu]setzen«. Dieses Urteil ist leicht zu widerlegen: zum Beispiel durch das Zeugnis von Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 19843, S.48, 93f., 165; durch die ausdrücklichen und pointierten Bezugnahmen auf Kants Erkenntnistheorie, z. B. in der Abhandlung über die Objektivität, S. 208; vor allem aber durch den Gesamtduktus der Wissenschaftstheorie Webers. 133 Vgl. Anm. 96. 134 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 491, 493, 495. 135 Ebd., S. 512. 136 Ebd., S. 502, 505. 137 Ebd., S. 508f., 513. 138 Vgl. Anm. 77. 139 K. Marx, Zweite These über Feuerbach, in: K. Marx, Frühe Schriften, Bd. 2, hg. v. H.-J. Lieber u. P. Furth, Darmstadt 1971, S. 1. 140 Vgl. Abschnitt II dieses Texts.
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Verzeichnis der ersten
Druckorte
1. Historische Zeitschrift 238, 1984, S. 17-55. 2. Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch 1986, S. 119-155. 3. Rechtsgeschichte und Theoretische Dimension. Forschungsbeitrage eines rechtshistorischen Seminars in Stockholm im November 1986 (Rättshistoriska Studier 15, = Skrifter utgivna av Institutet för Rättshistorisk Forskning grundat av Gustav och Carin Olin, Serien II), hg. von C. Peterson, Lund 1990, S. 96-121. Für den Wiederabdruck in Abschnitt VIII gekürzt. 4. O. G. Oexle u. J . Rüsen (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Köln 1996, S. 139-199. Für den Wiederabdruck in den Abschnitten III und IV gekürzt. 5. Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, hg. von S. Burghartz u. a., Sigmaringen 1992, S. 125-153. 6. Unveröffentlicht. Eine kürzere Fassung nach einem auf dem Kolloquium ›Ernst H. Kantorowicz heute‹ im Dezember 1993 an der Universität Frankfurt a.M. gehaltenen Vortrag erscheint unter dem Titel ›German Malaise of Modernity« in den im Druck befindlichen Akten der beiden Kantorowicz-Kongresse in Frankfurt und Princeton. 7. Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichtsund Sozialwissenschaften (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 6), hg. von K. Acham u. W. Schulze, München 1990, S. 348-384.
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Personenregister (Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf den Anmerkungsteil)
Alexander von Roes 218 Andrian, Leopold von 178 Apel, Karl-Otto 134 Aron, Raymond 234-236 Baethgen, Friedrich 199 Barth, Karl 41, 51f., 65, 75, 112 Beenken, Hermann 44f. Bekker, Ernst Immanuel 110 Below, Georg von 121, 125-129 Benda, Julien 203 Benjamin, Walter 262 Benn, Gottfried 301 Benz, Richard 174, 178 Berdjajew, Nikolai A. 279 Bergengruen, Werner 179 Berr, Henri 224 Bertram, Ernst 187-189, 193, 197, 199, 203, 206-210, 214 Bismarck, Otto von 128 Blanke, Horst Walter 43, 98, 100 Bloch, Marc 69, 130f., 214, 224, 230f., 237-239 Blumenberg, Hans 134 Boeckh, August 99 Böcklin, Arnold 105, 167 Bödeker, Hans Erich 100 Bohr, Niels 34f. Borchardt, Rudolf 190 Bosch, Hieronymus 160 Bossuet, Jacques Benigne 220 Brackmann, Albert 199-201 Brandi, Karl 128 Braniß, Christlieb Julius 48 Βroch, He rmann 180 Brod, Max 179 Broszat, Martin 135 Brueghel, Pie te r d.Ä. 160 Brunner, Emil 41 Brunner, Otto 46 Buckle, Henry Thomas 223
Bultmann, Rudolf 41, 52, 65, 75, 112, 186 Burckhardt, Jacob 46f., 64, 74, 144, 149, 153, 170f., 174, 176, 204, 214, 219, 227 Busch, Werner 106 Bushart, Magdalena 176 Caesar, Gaius Julius 163f., 189, 200, 203-205, 210 Calvin, Johannes 141 Canaris, Wilhelm 212 Canetti, Elias 106 Cantor, Norman E. 210f. Cassirer, Ernst 10, 12f., 38, 122-124, 186, 236, 244 Chartier, Roger 10 Comte, Auguste 21 Cranach, Lukas 175 Croce, Benedetto 42, 99 Curtius, Ernst Robert 153, 181, 186 Dahlmann, Friedrich Christoph 127 Dahn, Felix 48, 168 D'Annunzio, Gabriele, 107, 109 Dante 141, 177 Dehio, Georg 51, 106, 133 Descartes, Rene 18, 177 Dilthey, Wilhelm 11, 14, 4 1 , 49-51, 65f., 74f., 89f., 93, 111, 119f., 146, 214, 224-226, 228f. Döblin, Alfred 179 Droysen, Johann Gustav 31-33, 35, 47, 64, 69, 74, 99, 120, 127, 228f., 231f., 248 Dürer, Albrecht 157 Dürr, Hans-Peter 216 Duns Scotus, Johannes 141 Durkheim, Émile 34, 39, 234, 238f. Dvorak, Max 106, 133
311 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Eichhorn, Karl Friedrich 99, 127 Eichmann, Adolf 213 Einstein, Albert 34f., 303 Engelhardt, Dietrich von 38 Eucken, Rudolf 50 Eucken, Walther 41, 44, 53, 65, 67, 71, 75, 113, 130 Evers, Hans Gerhard 106 Feuerbach, Ludwig 28, 41, 47f. Fichte, Johann Gottlieb 48 Förster-Nietzsche, Elisabeth 188 Foucault, Michel 14, 213 Frankl, Paul 44f. Freud, Siegmund 277 Freyer, Hans 150f., 186 Frevtag, Gustav 168 Friedrich IL, Kaiser 163f., 184, 187, 195f., 198f., 203-205, 207-210, 212-215 Gadamer, Hans-Georg 14, 41, 70, 252 Galilei, Galileo 18, 27 George, Stefan 12, 163, 165, 168, 181, 186-188, 190- 192, 194-199, 208215 Gervinus, Georg Gottfried 99 Glöckner, Ernst 188 Göring, Hermann 212 Goethe, Johann Wolfgang von 42, 48, 64, 97, 99, 116, 118, 120, 125, 127, 129f., 187 Götz, Wolfgang 44f. Gogarten, Friedrich 41, 113, 155 Gollwitzer, Heinz 43, 93 Graf, Friedrich Wilhelm 105 Graus, František 137f., 162 Gregorovius, Ferdinand 227 Greif, Martin 168 Grimm, Jacob 99, 125, 127, 129 Gropius, Walter 176 Grundmann, Herbert 200 Guardini, Romano 160f. Günther, Horst 130 Gundolf, Ernst 187 Gundolf, Friedrich 163f., 175, 187190, 192f., 196, 200f., 210 Habermas, Jürgen 252 Halbwachs, Maurice 308 Hampe, Karl 200 Hardtwig, Wolfgang 115, 121
Harnack, Adolf von 41, 55, 78, 112 Hartung, Fritz 128 Haym, Rudolf 48 Hazard, Paul 38 Hebbel, Friedrich 172 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 48, 60, 90, 125, 219, 227 Heidegger, Martin 14, 41, 52, 65, 75, 112f., 155, 157, 183f., 186, 193 Heisenberg, Werner 34, 40, 217f., 232 Hennis, Wilhelm 86f. Herder, Johann Gottfried 48, 64, 97, 99, 116, 118, 125-129 Hesse, Hermann 151f. 180 Heussi, Karl 42, 118, 258, 259 Hey'l, Bettina 179 Hildebrandt, Kurt 187, 191, 193, 196f., 203, 208, 214 Himmler, Heinrich 212f. Hintze, Otto 51, 57, 59f., 63-66, 69, 117-120, 122 Hirsch, Emanuel 113 Hirsch, Hans 154 Hitler, Adolf 197, 212 Hölderlin, Friedrich 187 Hösle, Vittorio 134 Hofer, Walther 66 Hofmann, Werner 45, 106, 166f. Hofmannsthal, Hugo von 106f., 109f., 168 Honigsheim, Paul 147-150, 153, 283 Humboldt, Wilhelm von 13, 29f., 36, 65f., 94, 99, 118f., 201, 220f., 223, 225 Hume, David 222f. Husserl, Edmund 12, 24f., 41, 51, 112 Iggers, Georg G. 68, 96f., 100, 132 Ingres, Jean Auguste Dominique 105, 167 Jaeger, Friedrich 96f., 101 Jaspers, Karl 41, 52, 65, 75, 112, 218 Jellinek, Dora 192 Kahler, Martin 50 Kafka, Franz 151 Kahler, Erich von 12, 193f., 199, 212 Kant, Immanuel 9, 12, 14, 18, 27f., 32, 34, 36, 48, 66, 82, 91, 94, 177, 185, 193, 230, 233, 235, 239
312 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Kamtorowicz, Ernst Η. 163- 165, 184, 187f., 190, 193f., 196, 198-215 Kaufmann, Arthur 70 Kepler, Johanne s 18 Kierkegaard, Sören 87f., 93 Klages, Ludwig 190 Klimt, Gustav 107 Knies, Karl 99 Knudsen, Jonathan B. 100 König, Rene 150, 238 Kommereil, Max 196, 209 Kopernikus, Nikolaus 18, 141 Koslowski, Peter 161f. Kracauer, Siegfried 88, 185f. Küttler, Wolfgang 90 Lagarde, Paul de 172f. Lamprecht, Karl 28, 33, 74 Landsberg, Paul Ludwig 139-145, 147, 149f., 152-154, 160f., 176-181, 193, 211, 278f. 288 Landshut, Siegfried 186 Langbehn, Julius 172f., 210 Larenz, Karl 158f. LeFott, Gertrud von 179 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18, 34, 38, 42, 60 Lenz, Max 99 Leo, Heinrich 47 Leopold von Anhalt-Dessau 167 Lessing, Gotthold Ephraim 48, 87 Litt, Theodor 186 Löwith, Karl 186, 211, 301 Lozek, Gerhard 90 Ludwig IL, König von Bayern 106, 168 Lübbe, Hermann 103, 133 Luther, Martin 141 Maeztu, Ramiro de 178 Makart, Hans 105, 167 Mann, Thomas 105, 122, 143, 155 Mannheim, Karl 17, 47, 52, 58, 65, 75, 113, 183, 186 Marcks, Erich 99 Martin, Alfred von 154, 181, 285 Marx, Karl 28, 59, 74, 90, 247 Massis, Henri 178 Meinecke, Friedrich 30f., 42f., 51, 53, 57, 63-69, 71, 95-98, 108f., 114125, 127-132, 134f., 186, 226 Menger, Carl 41, 44, 50, 65, 74, 110 Meyer, Conrad Ferdinand 168
Michelet, Jules 170 Mittelstraß, Jürgen 134, 244 Möser, Justus 64, 97, 116, 118, 126f. Mohler, Armin 203 Mommsen, Wolfgang J . 36, 42f. Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 34, 38, 116, 231, 234, 235-238, 307 Morwitz, Ernst 207 Müller, Otfried 99 Muhlack, Ulrich 98-100 Musil, Robert 106, 146, 179f. Mussolini, Benito 213 Napoleon Bonaparte 197, 205 Neumann, Carl 174f. Niebuhr, Barthold Georg 99, 125 Niefanger, Dirk 107 Nietzsche, Friedrich 11f., 14, 20-26, 36, 41, 45, 49f., 52-60, 62-66, 68f., 71, 73-78, 80-83, 85-87, 89- 91, 93, 106, 108-113, 115-119, 146, 153, 156, 164, 168-170, 172, 176, 182-190, 193f., 198f., 203, 206208, 210, 214, 227, 234 Nikolaus von Kues 18, 89, 237 Nipperdey, Thomas 31, 68, 98, 132 Nohl, Herman 275 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 12, 47, 99, 177f., 279 Otto von Freising 219f. Overbeck, Franz 41, 49f., 52 Pascal, Blaise 18, 89, 2 3 1 - 235, 237f. Perutz, Leo 179 Peterson, Erik 105 Petrus de Vinea 209 Pevsner, Sir Nikolaus 44f. Pinder, Wilhelm 113, 156f., 159, 286 Platon 119, 187, 196f., 208, 210, 214 Plessner, Helmuth 113 PrantI, Carl 48 Pringsheim, Alfred 105 Pringsheim, Rudolf 105 Puchta, Georg Friedrich 127 Raabe, Wilhelm 168 Rainald von Dassel 218 Ranke, Leopold von 13, 21, 23, 29f., 36, 42, 55f., 60, 64-66, 68f., 71, 73 313
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94, 97-99, 116-120, 125- 130, 221, 223 Rathenau, Walther 180 Raulff, Ulrich 163 Reill, Peter Hanns 100 Rembrandt 172 Renz, Horst 105 Rickert, Heinrich 186 Riegl, Alois 106, 133 Ritter, Gerhard 226 Ritter, Joachim 103 Ritter, Moriz 125 Roscher, Wilhelm 99, 127 Rosenberg, Hans 171 Rothacker, Erich 125f. Rüsen, Jörn 43, 96f., 101 Salin, Edgar 191, 196 Salz, Arthur 194 Savigny, Friedrich Carl von 99, 125, 127, 129 Scheffel, Joseph Victor von 168 Seheier, Max 41, 52, 58, 65, 69, 75, 93, 113, 139, 147, 152, 183, 186 Scheuer, Helmut 188 Schieder, Theodor 67, 93 Schiller, Friedrich von 48, 223 Schinkel, Friedrich 167 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 127 Schmalenbach, Herman 149f., 153, 181, 283 Schmelzeisen, Karl Gustav 113 Schmidt, Ferdinand Jakob 50 Schmoller, Gustav 41, 43f., 50, 65, 74, 110 Schnädelbach, Herbert 101f., 244f., 258 Schnitzler, Arthur 106 Schönberg, Arnold 107 Scholtz, Gunter 102 Scholz, Wilhelm von 179 Schopenhauer, Arthur 227 Schorske, Carl E. 107 Schrade, Hubert 157, 159 Schütz, Alfred 112 Schumpeter, Joseph 44 Sedlmayr, Hans 159f. Seibt, Gustav 212 Shakespeare 187 Simmel, Georg 10, 12f., 34, 39, 50, 58, 93, 146, 229, 231, 237-239
Spann, Othmar 128, 151, 153 Speidel, Hans 213 Spranger, Eduard 186 Stadelmann, Rudolf 113, 156 Stammler, Rudolf 110 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 196, 209, 212 Steenblock, Volker 103, 108, 134 Steinbüchel, Theodor 152f., 181, 2S4 Steinen, Wolfram von den 204 Strauss, Leo 70 Sybel, Heinrich von 99 Taine, Hippolyte 28, 224 Taut, Bruno 176 Tenbruck, Friedrich H. 24 Thomas von Aquin 141, 177 Tönnies, Ferdinand 13, 144f., 148, 159, 161, 173, 176, 178 Treitschke, Heinrich von 99, 127 Troeltsch, Ernst 11, 17, 41-44, 51, 5767, 69, 73, 75, 78-81, 83-91, 93, 103-105, 108, 111f., 115, 117-120, 124f., 130, 146, 165, 182-186, 194, 199, 221f., 225f., 230, 259 Uxkull-Gyllenband, Woldemar Graf 198 Vallentin, Berthold 190 Vierkandt, Alfred 153 Virchow, Rudolf 20f., 26 Vischer, Friedrich Theodor 166, 245 Vogt, Joseph 226 Voltaire, François-Marie (Arouet) 116 Vossler, Karl 122f., 189 Walpole, Horace 167 Warburg, Aby 10 Weber, Marianne 192 Weber, Max 10-14, 25-28, 34, 39f., 51, 57, 60-63, 65f., 69, 71, 73-75. 78, 81-94, 111-113, 115, 117-120, 135, 143, 168, 183-186, 191, 193f., 214, 229-234, 236-240, 247, 251, 309 Weizsäcker, Carl Friedrich von 218 Werner, Anton von 105, 168 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 191 Wildenbruch, Ernst von 168 Wilhelm von Ockham 89, 141, 237 Winckelmann, Johann Joachim 127
314 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35779-9
Wittkau, Annette 110 Wittram, Reinhard 67 Wolf, Erik 186, 299 Wolf, Friedrich August 99 Wolfskehl, Karl 175, 190
Wolters, Erika 209 Wolters, Friedrich 175, 190f., 196, 208210, 213f. Worringer, Wilhelm 175f. Wunberg, Gotthard 107
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