Literarische Moderne: Begriff und Phänomen [Reprint 2013 ed.] 9783110926613, 9783110191141

The volume is a compendium on the concept and phenomenon of the Classic Modern Age. The complementary contributions by r

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German Pages 550 [552] Year 2007

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Literarische Moderne: Begriff und Phänomen [Reprint 2013 ed.]
 9783110926613, 9783110191141

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Literarische Moderne

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Literarische Moderne Begriff und Phänomen

Herausgegeben von Sabina Becker und Helmuth Kiesel unter Mitarbeit von Robert Krause

Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019114-1 Bibliografische

Information

der Deutseben

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2007 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Alikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgcstaltung: Christopher Schneider, Berlin

Inhalt SABINA BECKER, HELMUTH KIESEL Literarische Moderne. Begriff und Phänomen

9

Konturen der Moderne GEORG BOLLENBECK >Gefühlte Moderne< und negativer Resonanzboden. Kein Sonderweg, aber deutsche Besonderheiten

39

WOLFGANG BRAUNGART

Die Anfange der Moderne und die Tragödie

61

WERNER FRICK

Avantgarde und longue duree. Überlegungen zum Traditionsverbrauch der klassischen Moderne

97

RÜDIGER GÖRNER Sehen Lernen! Bemerkungen zum Manifest-Charakter der Moderne

113

THOMAS PEKAR Exotik und Moderne bei Hugo von Hofmannsthal

129

WALTER ERHART

Die Germanistische Moderne — eine Wissenschaftsgeschichte

145

Leitfiguren der Moderne DIETMAR GOLTSCHNIGG Traditionszusammenhänge der österreichischen Moderne (am Beispiel der Heine-und Büchner-Rezeption)

169

Inhalt

6 LUCA RENZI

Alfred Döblin - das Bild der Moderne in seiner Epik-Theorie

181

BARBARA NEYMEYR

»Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils Konzept einer >emotio-rationalen< Literatur im Kontext der Moderne 199 PAUL MICHAEL LÜTZELER

Hermann Broch. Zweifel als Grundimpuls der Moderne

227

GÜNTER SASSE

Aporien der Kunst. Kafkas Künsdererzählungen Josefine, die Sängerin und Ein Hungerkünstler

245

Ausprägungen der Moderne SILVIO VIETTA

Eine kopernikanische Wende der Ästhetik? Frühromantik als Beginn der ästhetischen Moderne

259

WALTER FAHNDERS

Avantgarde — Begriff und Phänomen

277

ANNETTE SIMONIS

Asthetizismus und Avantgarde. Genese, wirkungsgeschichtlicher und systematischer Zusammenhang

291

LUCA CRESCENZI

Moderne und decadence um 1900

317

THOMAS ANZ

Thesen zur expressionistischen Moderne

329

MATTHIAS SCHÖNING

Programmatischer Modernismus und unfreiwillige Modernität. Weltkrieg, Avantgarde, Kriegsroman

347

ERHARD SCHÜTZ

Sach-Moderne. Zur Avantgardisierung und Entavantgardisierung des Faktionalen im erzählenden Sachbuch zwischen 1920 und 1950

367

Inhalt

7

WALTER DELABAR Zur Dialektik des Modernen in der Literatur im Dritten Reich

383

PETER SPRENGEL Wolfgang Koeppen. Die Wiederholung der Moderne

403

WOLFGANG EMMERICH Schicksale der Moderne in der DDR

417

MORITZ BASSLER Moderne und Postmoderne. Über die Verdrängung der Kulturindustrie und die Rückkehr des Realismus als Phantastik

435

Ästhetik der Moderne ERICH KLEINSCHMIDT Latenzen und Intensitäten. Die mobile Lesbarkeit der Moderne

453

KARL PRÜMM Neue Räume, neue Blicke. Die Wahrnehmung des Mediums Film als Modernität in der Literatur der Weimarer Republik

473

CHRISTIAN SCHÄRF Ein eigentümlicher Apparat. Zum Phänomen der modernen Autorschaft

487

MARISA SIGUAN BÖHMER »Selbstanzeige — Fehlanzeige«. Moderne, Vergangenheitsbewältigung und Ichkonstruktion bei Jean Amery

507

LINDA SIMONIS Moderne Literatur im Spannungsfeld von poetischer Autonomie und Gesellschaftsbezug (am Beispiel von Pablo Neruda)

525

Anschriften der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

549

Sabina Becker, Helmuth Kiesel

Literarische Moderne Begriff und Phänomen Bekanntlich wurde der Begriff der Moderne um 1886 geprägt. Eugen Wolff, der führende Theoretiker der literarischen Vereinigung »Durch« präzisierte ihn in einem in Berlin gehaltenen Vortrag, wobei Wolff auf eine Modernisierung der Literatur abzielt. Das »Princip« der Moderne wird hier bestimmt als »das moderne Ideal« im »Gegensatz zur Antike« 1 und unter Bezugnahme auf die zeitgenössische Lebenswelt. Ebenso wichtig wie diese grundlegende Bestimmung ist aber auch der Untertitel seines Vortrage »Revolution und Reform der Literatur«. 2 Damit schuf Wolff nicht nur eine feste terminologische Komponente im literarischen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts; vielmehr benannte er mit seiner Differenzierung zugleich die Tatsache, dass unter dem Terminus Moderne sowohl literarische Revolutionen als auch ästhetische Reformen verzeichnet werden sollten und im weiteren Verlauf auch tatsächlich verzeichnet wurden. Wolff antizipierte so mit seiner Formulierung eben jene Komplexität und Ambivalenz des Begriffs und Phänomens Moderne, welche die um sie geführte Diskussion nie haben abreißen lassen (vgl. hierzu den wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag von Walter Erhart) und letztlich auch den Ausgangspunkt der Freiburger Moderne-Tagung darstellten 3 : Die Tatsa-

1

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3

Eugen Wolff: Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne. Revolution und Reform der Literatur In: Litterarische Volkshefte [1888]. Abgedruckt in: Gotthart Wunberg, Stephan Dietrich: Die literarische Moderne: Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. 2., verbesserte und kommentierte Auflage. Freiburg i. Br. 1998, S. 27-81, hier S. 68. Zum Nachweis dieses Untertitels, der in der Druckfassung von Wolffs Vortrag nicht mehr auftaucht, vgl. Adalbert von Hanfstein: Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Litteraturgeschichtc. Leipzig 1901 (Kap. 4: »Die Gründung des Vereins >Durchzwei Modernen< gesprochen wird. 5 Wesentlich für die Konstitution und den Verlauf der literarischen Moderne ist das deshalb, weil damit deren »Teilungsschicksal« 6 , ihre »Struktur der Dualität« 7 einhergeht. Konkret bedeutet dies, dass sich inner-ästhetisch schon höchst konträre Moderne-Konzepte gegenüberstehen, die sinnvoll, aber sicherlich nicht ganz ausreichend mit den Unterscheidungen einer ästhetizistischen von der avantgardistischen und dieser avantgardistischen von der klassischen Moderne erfasst werden 8 — Unterscheidungen, die, wenn zwar nicht ausschließlich, so doch aus berechtigten Gründen, mit den (von Wolff antizipatorisch benannten) Prozessen der experimentellen Revolutionierung, aber eben auch der behutsamen, der Tradition verpflichteten Reformierung literarischen Schreibens und ästhetischer Verfahrensweisen in Verbindung zu bringen sind. Lässt sich also die literarische Moderne zwischen den Polen Provokation und Institution beschreiben, Provokation spezifiziert als Abweichung von der ästhetischen Norm, Institution verstanden als Rekurs auf Tradition und Traditionen — eine Tendenz, die nicht zuletzt im Begriff des Klassischen bzw. der >klassischen< Moderne zum Ausdruck kommt oder bewusst zum Ausdruck gebracht wird? Die Literatur der Moderne changiert jedenfalls im Spannungsfeld einer provokativen Ästhetik oder ästhetischer Provokation auf der einen und literarischer Konvention auf der anderen Seite; sie oszilliert zwischen Literaturrevolution und Tradition, zwischen den Komponenten einer provokativ-experimentellen Moderne und den institutionalisierten Ritualen einer traditionelleren und klassisch wirkenden oder zumindest als »klassisch« bezeichneten Moderne. Und dies bis zum Beginn der Postmoderne über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren hinweg; die Frage nach dem Ende der Moderne und dem Beginn der

Vgl. dazu Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne: 12 Vorlesungen. Frankfurt a. Main 1985; ders.: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. In: Ders.: Kleine philosophische Schriften (I-IV). Frankfurt a. Main 1981, S. 444-464, hier S. 446. Vgl. hierzu Matei Calinescu: Five Faces of Modernity: Avant-Garde, Decadence, Kitsch. Bloomington-London 1977. - Calinescu spricht außerdem von »the two modernities« (S. 5). Gerhart von Graevenitz: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart 1999, S. 1-16, hier S. 10. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar 1995, S. 3. Bereits Gotthart Wunberg geht davon aus, dass der klassischen Moderne die »Moderne« gefolgt sei: Gotthart Wunberg: Deutscher Naturalismus und österreichische Moderne. Thesen zur Wiener Literatur um 1900. In: Jacques Le Rider, Gerard Raulet (Hrsg.) Verabschiedung der (Post-)Moderne? Eine interdisziplinäre Debatte. Tübingen 1987, S. 91-116, hier S. 104.

Literarische Moderne. Begriff und Phänomen

11

Postmoderne wird in den Beiträgen des vorliegenden Bandes wiederholt aufgegriffen. Angesprochen ist damit zum einen das Verhältnis von Tradition und Moderne (Werner Frick und Dietmar Goltschnigg werden sich mit diesem Problem befassen); zum andern die Diskussion um das divergierende Autoren- und Intellektuellenverständnis (vgl. den Beitrag von Christian Schärf); ebenso die daraus resultierenden unterschiedlichen ästhetischen und poetologischen Entwürfe; jene Vorstellungen also, die im Umfeld der Moderne primär in Zusammenhang mit der Bewertung des Status von Literatur etabliert wurden: Die Frage, ob letztere als eine vom gesellschaftlichen System autonome oder aber als Bestandteil eben dieses Systems beschrieben wird, entscheidet maßgeblich über das jeweilige Verständnis von Moderne (diesem Aspekt wendet sich Linda Simonis zu). Sicherlich ist dabei zugleich auch die Tatsache der ständigen Veränderung und des steten Wandels, vermutlich auch der Unabschließbarkeit des Projekts Moderne angesprochen (vgl. den Beitrag von Rüdiger Görner). Walter Benjamins 1938 formulierter Befund, demzufolge sich »die Moderne [...] am wenigsten gleich geblieben« 9 sei, hat kaum etwas von seiner Plausibilität eingebüßt. Denn mit ihm ist jener sich ständig erneuernde Stilpluralismus benannt, den man für die Überführbarkeit der Moderne in die Postmoderne geltend gemacht hat. Angesichts der bereits angesprochenen und im folgenden zu entwickelnden Gründe für die unterschiedlichen Auffassungen, und das heißt dann auch Ausprägungen von Moderne scheint die These von der Verlängerung der Moderne in die Postmoderne allerdings nicht unproblematisch; sind doch die Divergenz und Pluralität der Moderne und innerhalb der Moderne in erster Linie die Konsequenz aus der unterschiedlichen Haltung der »ästhetischen Modernen« 10 zu den außerästhetischen Sphären und von daher vornehmlich das Resultat des Verhältnisses der literarischen zur zivilisatorischen Moderne. 11 Fokussiert wird darüber zugleich die mit der Industrialisierung und Urbanisierung einhergehende Ausbildung einer modernen Zivil- und Massengesellschaft. In ihr werden jene Prozesse der Technologisierung, Rationalisierung und Ausdifferenzierung (vgl. den Beitrag von Thomas Anz) sowie der Säkularisierung und Verwissenschaftlichung der Gesellschaft freigesetzt, die wiederum jene von Max Weber diagnostizierte >Entzaube9

10 11

Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus [1939]. In: Ders.: Gesammelte Schriftcn. Hrsg. Rolf Tiedemann, I Icrmann Schweppcnhäuser. Bd. 1/2. Frankfurt a. Main 1974, S. 509-653, hier S. 593. Vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Berlin 4 1994, S. 48-50. Walter Erhart hat mit Blick auf diese Verschränkung in der Freiburger Diskussion angeregt, die Debatte um ästhetische Moderne-Konzepte konsequent mit soziologischen Institutionalisierungs- und Modernisierungstheorien in Verbindung zu bringen.

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Sabina Becker, Helmuth Kiesel

rung der Weltanderegrand recits< hergestellten Totalität, in den großen epischen Entwürfen Brochs, Elias Canettis, Alfred Döblins, Thomas Manns, Robert Musils etwa, zu überwinden sucht (vgl. hierzu den Beitrag von Werner Frick). Ein solcher Ansatz vermag zugleich die Traditionsverbundenheit, ja auch die >Klassizität< der Moderne zu beleuchten. 19 Wie erwähnt »usurpier[en]« — um eine Formulierung von Walter Fähnders aufzugreifen 20 — noch in der Wirkungszeit des Naturalismus die antinaturalistischen Strömungen der Jahrhundertwende den Begriff »Moderne«, um ihn auf ihre anti-naturalistische, selbstreflexiv und selbstreferentiell gedachte Ästhetik zu applizieren. Der Ästhetizismus exponiert nun die l'art pour l'art-Konzeption als das neue Grundprinzip dieser Moderne: 16

Cornelia Klinger: Modern, Moderne, Modernismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs und Friedrich Wolfzettel. Stuttgart, Weimar 2000, Bd. 4, S. 121-167, hier S. 121.

17

Viktor Zmegac: [Artikel] Moderne/Modernität. In: Dieter Borchmeyer, Viktor Zmegac: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 1994, S. 278-285, hier S. 278. Georg Lukäcs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1920]. Darmstadt, Neuwied 1971, S. 32. Vgl. dazu Helmut Koopmann: Die Klassizität der »Moderne«. Bemerkungen zur naturalistischen Literaturtheorie in Deutschland. In: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert. Bd. 2. Hrsg. von Helmut Koopmann, J. Adolf Schmoll gen. Eisenwerth. Frankfurt a. Main 1972, S. 132-148.

18

19

211

Walter Fähnders: Moderne und Avantgarde 1890 - 1933. Stuttgart, Weimar 1998, S. 6.

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Sabina Becker, Helmuth Kiesel

In ihrem Namen wird über die Zuspitzung und Radikalisierung ästhetischer Autonomievorstellungen das künsderische Selbstbewusstsein in einer bis dahin nicht gekannten Weise aufgewertet, der Autorinstanz eine neue Souveränität zuerkannt, dem literarischen System eine Chance zur Selbstorganisation eröffnet. Mit Blick auf derartige Umorientierungen lässt sich das l'art pour l'art-Konzept partiell als Wegbereiter und Antizipation sogar der Avantgarde diskutieren (wie dies in den Beiträgen von Annette Simonis und Luca Crescenzi geschieht). Allerdings hat das ästhetizistische Verständnis von Kunst als autopoeitisches, selbstreferentielles System der zweiten Ordnung Widerspruch provoziert und kann vermutlich gerade die Entstehung der avantgardistischen Moderne nicht umfassend erklären (vgl. dazu den Beitrag von Walter Fähnders). Zwar wird im Anschluss an Luhmann aus guten Gründen die systemtheoretische Ausdifferenzierung selbst als eine Leitkategorie der Moderne herausgestellt (dies ist der Ausgangspunkt der Ausführungen von Annette Simonis), und man ist auch sinnvollerweise von einem hohen Grad von Selbstorganisation und autopoietischer Reproduktion des Systems Kunst ausgegangen. »Die moderne Kunst ist in einem operativen Sinne autonom«, also in sich geschlossen — »operativ geschlossen«, lautet ein Befund Luhmanns in seiner Kunst der Gesellschaft.2^ Wiederholt ist jedoch auf die Unstimmigkeit dieser Annahme hingewiesen worden. Vor diesem Hintergrund gibt Silvio Vietta zu bedenken, dass der entscheidende Gedanke der Moderne der ist, dass die »Systeme nicht als geschlossene, autopoietische und autoreferentielle Entitäten« zu beschreiben sind, sondern »als offene Formen, deren Innovationsgrad und Innovationsfähigkeit gerade davon abhängt, in welchem Maße sie Fremdeinflüsse aufnehmen und in sich verarbeiten können«. Das wiederum bedeutet, dass »jene autopoietische Geschlossenheit, die den Systembegriff auszeichnet, [...] eher als Blockade gegen die Erkenntnis von Kunstinnovationen« 22 zu werten ist. Überhaupt dürfte es ein Nachteil sein, dass die Systemtheorie die Kommunikation über Literatur exponiert, nicht jedoch einen kommunikativen Dialog durch oder der Literatur annimmt. Ein solcher Zugang erweist sich im Hinblick auf die Erfassung der kulturellen und literarischen Moderne wie auch ihres ästhetischen >Eigenwertes< als unzureichend. Denn gerade im Hinblick auf die Avantgarde bleibt der Prozess der Modernisierung der Kunst und Literatur eng an den Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung gebunden: Die Ausbildung der avantgardistischen Moderne läuft der Luhmannschen Annahme geradezu entgegen, ist 21

-2

Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. Main 1995, S. 218. Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München 2001, S. 25.

Literarische Moderne. Begriff und Phänomen

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sie doch vielmehr das Resultat des Aufbrechens der autoreferentiellen Ausrichtung von Kunst und Literatur. Und macht es nicht den reflektierten Status der nachästhetizistischen Moderne und den Vorsprung einer reflektierten Moderne aus23, dass sie das System Kunst, das System einer absoluten Kunst auf seine Aporien, hermetische Kommunikation zu sein, d. h. auf seine aporetische Struktur hin beleuchtet (Günter Säße wird dies am Beispiel von Franz Kafkas Hungerkünstler aufzeigen). Darüber hinaus scheint die Frage, ob die ästhetizistische l'art pour l'art-Konzeption mehr bedeutet als die Radikalisierung einer längst bekannten und praktizierten Idee, nämlich der Autonomie der ästhetischen Erfahrung, keineswegs obsolet. Auch wenn man sich dieser These nicht zwingend anschließen muss, so wäre doch zu klären, ob dem Ästhetizismus nicht auch ein Widerspruch immanent war, der wohl zu seiner — um mit Hermann Bahr zu reden — »Uberwindung« 24 durch die Avantgardeströmungen führte — unabhängig davon, dass sein grundlegender Gedanke, die Autonomie von Kunst und damit die ästhetischen Kategorien der Autopoeisis und Autoreferentialität als Prinzipien der literarischen Moderne, von ästhetischer Modernität also, in Frage gestellt, aber sicher nicht ad acta gelegt wurden, d. h. in der literarischen Entwicklung weiterhin Bedeutung haben sollten. Denn die ästhetizistische Autonomie-Konzeption, hervorgegangen aus einer nonkonformistischen Haltung der zivilisatorischen Moderne gegenüber, instrumentalisierte die Forderung nach der Zweck- und Funktionslosigkeit von Kunst als Absage an die Zweckmäßigkeit der modernen Welt. Sie dementierte, so eine spätere Erkenntnis Adornos in der Minima Moralia, die »Totalität des Zweckmäßigen in der Welt der Herrschaft« über das Postulat einer »totale[n] Zwecklosigkeit«. 25 Und eben dieser Form von Instrumentalisierung ist eine kompensatorische Funktionalisierung von Literatur immanent, die in ihrer Engführung auch Widerspruch provozierte und provozieren musste. Die Idee jedenfalls, gegen die »Auslieferung der Kunst an den Markt« 26 zu rebellieren, indem man erstere mit Hilfe der 23

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Zum Begriff der reflektierten Moderne< vgl. I lelmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache - Ästhetik - Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, S. 299-303. Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus. Dresden 1891; ders.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887 - 1904. Stuttgart 1968. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [Kap. 144 »Zauberflötc«]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. 20. Bde. Frankfurt a. Main 1970 - 1986. Hrsg. von Gretel Adorno, Rolf Tiedemann. Bd. 4. Frankfurt a. Main 1980, S. 253f., hier S. 254. Walter Benjamin: Das Passagenwerk [Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts] (= Gesammelte Schriften. Bd. V/2). Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. Main 1982, S. 45-59, hier S. 56.

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»Konzeption des Gesamtkunstwerks« gegen die urbanisierte und technisierte Moderne >abdichtetüberwindenMikroepoche< Moderne eröffnet wird, wendet sich gerade umgekehrt dezidiert gegen eine Subjektivierung von Kunst und Literatur: »Kunst = Natur - x«34, lautet zumindest die von Arno Holz im Anschluss an theoretische Grundlagen des französischen Realismus, an Hippolyte Taine und Emile Zola konzipierte ästhetische Formel, mit der man zum Ausdruck bringen möchte, dass die subjektiven Anteile jeder literarischen Erfassung von Realität - deren Unabdingbarkeit man keineswegs leugnet - , innerhalb einer naturalistischen Ästhetik der Moderne so gering wie möglich gehalten werden sollen. Und so ist für die Zeit nach 1885 eine »zentrale Bestimmung« der ästhetischen Moderne »nicht in Subjektivität, sondern in Reflexivität zu sehen«.35 Zu erwähnen ist weiterhin die sicherlich (gerade für die zwanziger Jahre) äußerst produktive Akzeptanz des Auraverlusts der Kunst, den Walter 32 33

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35

Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. Main 1974, S. 29. Diese Relativierung der Subjektivität als Schreibhaltung wird freilich in der nach 1945 im Anschluss an den Holocaust, an die versuchte >Auslöschung< des Subjekts, vielfach rückgängig gemacht, so etwa im Werk Jean Amerys. Vgl. dazu den Aufsatz von Marisa Siguan Böhmer in diesem Band; zum Subjektivitätsprinzip im Hinblick auf Autorschaft vgl. weiterhin die Beiträge von Erich Kleinschmidt und Christian Schärf. Arno Holz: Die Kunst - Ihr Wesen und ihre Gesetze [Berlin 1891). In: Ders.: Werke. 7 Bde. Hrsg. von Wilhelm Emrich, Anita Holz. Neuwied/Berlin 1961 - 1964. Bd. V, S. 3-46, hier S. 14f. Christoph Menke: Ästhetische Subjektivität. Zu einem Grundbegriff moderner Ästhetik. In: Graevenitz (Hrsg.): Konzepte der Moderne, S. 593-611, hier S. 609. - Vgl. weiter Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lasch: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a. Main 1996.

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Sabina Becker, Helmuth Kiesel

Benjamin in seiner Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu^ierbarkeit (1936) diagnostiziert, und nicht zuletzt die Modernisierung des Mimesisprinzips im Anschluss an den Verzicht auf die formale Kohärenz des Kunstwerks. Es sind diese Grundentscheidungen der Avantgarde, die erklären können, warum die eigentlichen Formexperimente der Moderne erst mit den zehner Jahren beginnen. Von kaum zu überschätzender Bedeutung sind diese Festlegungen auch deshalb, weil durch sie die avantgardistische Moderne sich nicht nur vom Ästhetizismus der Jahrhundertwende, sondern sich auch von der sogenannten klassischen Moderne der zwanziger Jahre unterscheidet. Es ist demnach sinnvoll, vor allem die Avantgarde mit der Konstituierung und Etablierung einer modernen Welt zu verschränken. Immerhin führte Guillaume Apollinaire 1912 den Begriff des Avantgardismus ein36, um die neuen Formen einer antiästhetizistisch auftretenden Moderne und damit ein partielles Einverständnis mit der industriellen Zivilisation zum Ausdruck zu bringen. Steht die ästhetizistische Moderne also in einer kritischen Distanz und einem negativen Spannungsverhältnis zur modernen Lebenswelt, so nehmen die avantgardistischen Strömungen letzterer gegenüber zwar kein kritikloses, so doch aufgeschlossenes Verhältnis ein. Sie lassen sich auf die Herausforderung der zivilisatorischen Moderne im Ästhetischen und Thematischen ein und geben damit zugleich die Autonomie von Literatur und Kunst zu weiten Teilen, auf jeden Fall der gesellschaftlichen Realität gegenüber preis. Sehen die literarischen Konzepte des Ästhetizismus und der l'art pour l'art-Bewegung gerade in der uneingeschränkten Autonomieerklärung ihren Modernismus und ihre Modernität und damit das wesentliche Kennzeichen der eigenen Moderne eingelöst, so wird dieses Beharren auf Autonomie und auf einer selbstreferentiellen, selbstreflexiven Poetik des Kunstwerks innerhalb der Avantgardekunst überwunden. Anders ausgedrückt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es im Umfeld der avantgardistischen Bewegungen vor allem des Futurismus, Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus 37 zu einer Verschiebung: Die Beschreibungen und Definitionen von Moderne werden nun mit Blick auf die nach 1871 einsetzenden gesellschaftliGuillaume Apollinaire: La vie artistique. Los pcintres futuristes Italiens [7. Februar 1912], In: Ders.: CEuvres en prose completes. 2 Bde. Textes etablis, presentes et annotes par Pierre Caizergues, Michel Decaudin. Paris 1991, hier Bd. 2: Ecrits sur l'art. Critique litteraire. Echos sur les lettres et les arts, S. 406f., hier S. 406 (»nos peintres d'avant-garde«). - Vgl. auch Karlheinz Barck: Avantgarde. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, S. 544-577, hier S. 556f. Für die Vielheit der avantgardistischen Ismen und Bewegungen vgl. Wolfgang Asholt, Walter Fahnders (Hrsg.): »Die ganze Welt ist eine Manifestation«. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste. Darmstadt 1997; dies. (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909 - 1938). Stuttgart, Weimar -2005.

Literarische Moderne. Begriff und Phänomen

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chen Modernisierungsschübe vorgenommen, die mit den Prozessen der Industrialisierung, Technisierung bzw. Technologisierung, Urbanisierung, Rationalisierung, Säkularisierung und Verwissenschaftlichung der Gesellschaft einhergehen. Weiterhin zu erwähnen ist die Erfahrung der Moderne als eine industrialisierte und dynamisierte Massengesellschaft, in der Subjektivität und Individualität im Zuge zeittypischer Entwicklungen wie Spezialisierung, Ausdifferenzierung und Abstraktion an Bedeutung verlieren (vgl. hierzu auch den Beitrag von Matthias Schöning über den Zusammenhang von Weltkrieg und Avantgarde bzw. avantgardistischer Modernität, von Kriegserfahrung und Moderneerfahrung). Auf diese >Entzauberung< der Welt 38 innerhalb der zivilisatorischen Moderne reagiert die Literatur in unterschiedlichen Formen: Der Terminus Moderne wird nun programmatisch (dies nicht zuletzt im Anschluss an den Naturalismus) im Sinne von gegenwärtig statt vorherig, aktuell statt verbraucht und überholt verwendet; jegliche Traditionsverbundenheit wird entschieden zurückgewiesen. Im Anschluss an diese >passatistische< Haltung der Avantgarde 39 öffnen sich die bildnerischen wie die literarischen Künste in ihrem Umfeld für die industrialisierte Welt und deren neue Medien — ein Prozess, an den sich eng die Vorstellung knüpft, über alle vergangene Kultur und Kulturen in Form der Intertextualität frei verfügen zu können: Diese alternative Geste des souveränen Verfügens über den kulturellen Gesamttext und über die kulturelle, auch die literarische Tradition, ist ein prägnantes, vermutlich noch zu wenig beachtetes Merkmal der avantgardistischen Modernekonzeption, das schließlich in der Postmoderne spielerisch weitergeführt wird. Der damit einhergehenden Ausweitung des Werkbegriffs ist jedoch abzulesen, dass die industrialisierte Moderne und industrielle Epoche nach 1900 beginnen, ihre eigene Ästhetik freizusetzen; eine Ästhetik, die sich leiten lässt von einer Allianz zwischen Kunst und Industrie, und das heißt letztlich auch von ästhetischer und gesellschaftlicher Moderne. Die Avantgarde zeichnet eine Korrelation von äußerer Technikrevolution und künstlerischer, ästhetischer Evolution (oder auch Revolution) aus. Damit ist die Basis der Avantgarde-Literatur und so zugleich der dem Ästhetizismus der Jahrhundertwende entgegengesetzte Entwurf einer nicht-autonomen Kunst der Moderne umrissen: es handelt sich hierbei um eine heteronom gedachte Poetik des Fragments, in der die »ästhetische

Vgl. Weber: Die protestantische Ethik oder der Geist des Kapitalismus, S. 35 und S. 54f. Vgl. zum futuristischen Begriff des »Passatismus« Filippo Tommaso Marinetti: Programm des Futurismus [1913]. Abgedruckt in: Christa Baumgarth: Geschichte des Futurismus. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 156f., hier S. 157.

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Sabina Becker, Helmuth Kiesel

Idee des Simultanen«411 und Fragmentarischen dominiert und die in Simultan- und Reihungsstil, filmischer Schreibweise, Dokumentarismus und amimetischer Montagetechnik ihre konkreten Realisationsformen findet. Jene schon von Baudelaire als Kennzeichen der Moderne benannten Komponenten des Vorüberziehenden, Flüchtigen, Entschwindenden und Zufälligen, Unüberschaubaren und Undurchschaubaren erlangen Bedeutung und damit zugleich kleinere Einheiten, eben das Fragment, konkret also Gesprächs fetzen, ausschnitthafte Eindrücke, Wahrnehmungspartikel, die der aktuellen Alltagsrealität entnommen sind. Sicherlich ist in diesem Zusammenhang kaum zu bestreiten, dass die historischen Avantgardebewegungen im Hinblick auf die Poetik des Fragments und die Idee des offenen Kunstwerks der Romantik wesentliche Impulse verdanken (ein Ansatz, der auch in diesem Band maßgeblich von Silvio Vietta vertreten wird).41 Auch nicht, dass dabei völlig zu Recht die Bedeutung der um 1800 einsetzenden epochalen Umbrüche in Gesellschaft, Politik, Philosophie und den Naturwissenschaften 42 reklamiert und so eine makroperiodische Bestimmung von Moderne favorisiert wird (die auch dem Beitrag von Wolfgang Braungart zugrunde liegt43), in der die Romantik als »Urszene« 44 eben dieser Moderne zu bestimmen ist. Allerdings ist eine solche Rückbindung nur um den Preis der Relativierung der genannten Herleitungen und Voraussetzungen der Fragmentpoetik der Moderne zu haben. Denn diese Ästhetik des Dissonanten, des Diskontinuierlichen und der Zerrissenheit ist sinnvoll in Verbindung mit der Erfahrung einer industrialisierten und urbanisierten Welt zu beschreiben. Anders ausgedrückt: Die Fragmentpoetik der Moderne wird primär über 40

Hans Robert Jauß: Studien zum Epochcnwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt a. Main 1989, S. 100.

41

Vgl. weiterhin Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Stuttgart 1995; Dirk Kemper, Silvio Vietta: Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammcnhänge seit der Romantik. München 1998.

42

Reinhard Koselleck hat seiner Zeit, bezogen auf das 18. Jahrhundert, die Kriterien der »Dynamisierung« und »Verzeitlichung der Erfahrungswelt« als Kennzeichen der Moderne benannt (Reinhard Kosellek: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Ders., Reinhart Herzog [Hrsg.]: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987, S. 269-282, hier S. 280). Vgl. dazu Dirk Kemper: Ästhetische Moderne als Makroepoche. In: Kemper, Vietta: Ästhetische Moderne in Europa, S. 97-126. - Im Rahmen der Freiburger Moderne-Tagung stand dieser Ansatz nicht im Mittelpunkt, ebenso wenig innerhalb der hier versammelten Vorträge. Doch er schärft den Blick für jene Aspekte, die für die Moderne paradigmatisch und konstitutiv sind, so ζ. B. für das Moment des Selbstreflexiven wie auch für produktionsästhctische Grundentscheidungen. Dennoch liegt der Fokus des vorliegenden Bandes auf der Sattel- und Kernzeit der Moderne, auf dem Zeitraum zwischen 1880 und 1950. Damit wird ein mikroperiodisches Verständnis von Moderne exponiert und die Möglichkeit eröffnet, die Diskussion des Verhältnisses von Moderne und Postmoderne zu fuhren.

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Vgl. den Beitrag von Silvio Vietta in diesem Band.

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die Form des zerstückelnden Schnitts und der amimetischen Montage sowie der kaleidoskopartig wechselnden Einstellungen realisiert, sie zielt auf eine kaleidoskopartige Erfassung von Realitätspartikel, von Erscheinungen der modernen, vor allem großstädtischen Welt. Auch sollte nicht übersehen werden, dass mit der Form einer montierenden Kunst die Avantgarde die Grenze von Kunst bzw. Literatur und Realität überschreitet und so zugleich — ganz anders als die Romantik — den Begriff oder zumindest die traditionelle Vorstellung von Kunst in Frage stellt, und zwar indem sie deren ästhetisch autonomen Status zu Beginn des 20. Jahrhunderts neu definiert und damit alternative, über die Ansätze der Romantik hinausreichende Konzepte von Entgrenzung und Intermedialität zu realisieren sucht. In diesem Zusammenhang wäre noch einmal über die Position Charles Baudelaires innerhalb des Moderne-Prozesses zu diskutieren; ist er doch der erste Autor, der die literarische Moderne mit den Entwicklungen der zivilisatorischen Moderne und so mit dem Moment des Aktuellen verschränkt, wenn er mit Blick auf diese im Jahr 1859 festhält: »La modernite, c'est le transitoire, le fügitif, le contingent, la moitie de l'art, dont l'autre moitie est l'eternel et l'immuable.« 45 Und damit zugleich — zumindest so formuliert im ersten Teil des Zitats - der von der Romantik perspektivierten Poetik des Fragments über die geschichtsphilosophische Begründung hinaus wahrnehmungspsychologische und konkrete gesellschaftliche Herleitungen beifügt. Aufgrund dieser Erweiterungen lässt sich Baudelaire auch kaum ausschließlich als Vorläufer des Ästhetizismus vereinnahmen. Ist er es doch, der eine selbstgenügsame, negativ reagierende und abwehrende Kunstkonzeption lange vor deren eigentlicher Wirkungsphase wenn auch nicht gänzlich in Frage stellt, so doch entscheidend relativiert, und zwar unabhängig von der Tatsache, dass er selbst im alltäglichen Umgang mit der beschleunigten Moderne sich auf die Position des Flaneurs zurückzieht und sich von der angeleinten Schildkröte statt von der dynamisierten Moderne das Lebenstempo und den Lebensrhythmus vorgeben lässt; sich weiterhin einerseits im abgeschirmten, bewahrenden Raum der Pariser Passagenwelt gegen jene Chockerfahrung der Moderne wehrt, die er andererseits als Struktur- und Schreibprinzip vor allem seinen Spleens de Paris (1862) und den Petits Poemes en prose (1863), aber durchaus auch den 1857 erschienenen Fleurs du mal zugrunde legt. Im Anschluss an die Einbindung der Großstadt als poetischen Erfahrungsraum, als Paradigma der Moderne, ist Baudelaires Poesie bereits eine Kunst der Masse und der Industrialisierung. Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne. IV. : La modernite [EA 1863]. In: Ders.: Ouevres completes. Texte etabli et annote par Y.-D. Le Dantec. Edition revisee, completee et presentee par Claude Pichois. Paris 1961, S. 1163-1166, hier S. 1163.

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Die Avantgarde wird sich dann zu Anfang des 20. Jahrhunderts nahezu völlig aus dem Raum der Natur in die industrialisierten und technisierten Räume der Stadt zurückziehen (vgl. hierzu auch den Beitrag von Thomas Pekar über Exotik und Moderne). Doch es ist Baudelaires Flaneur, der als erster (mit seinem Gedicht Reve parisien / Pariser Traum aus dem Jahr 1857) diesen Paradigmenwechsel vollzieht und die naturfremde Welt der Stadt, hier die Pariser Passagenwelt entdeckt; er nimmt die Stadt als eine Landschaft wahr, die großstädtische Masse ist sein Lebenselement, nicht mehr die Requisiten einer Naturlandschaft. Solche Einsichten verdanken wir vor allem den Baudelaire-Studien Walter Benjamins: Innerhalb der städtischen Menge ist jenes Abtauchen des Einzelnen in die Anonymität möglich, die der Flaneur braucht, um seinen physiognomischen Blick auf eben diese Menge zu werfen, in der und von der aus er agiert.46 Dies ist das Moderne an Baudelaire, und diese Vorgehensweise Baudelaires ist der Beginn der (mikroperiodisch gefassten) ästhetischen Moderne: Er registriert die Anonymität des Einzelnen in der Menge und wertet diesen Zustand zwar nicht unbedingt positiv, ringt aber zugleich den modernen Phänomenen Masse und Stadt neue Genres und Schreibweisen wie einen neuen (modernen) Autorentypus gleichermaßen ab. Im Anschluss an Baudelaire liegt der Moderne, vor allem in ihrer avantgardistischen Ausprägung, die Uberwindung der rousseauistischen Antithese von Natur und Zivilisation zugrunde; man nimmt eine Verschiebung zugunsten der Zivilisation vor, und zwar auch im Hinblick auf die Ästhetik: Letztlich betreibt selbst der gegen die Zumutungen einer industrialisierten Lebenswelt sich abdichtende Ästhetizismus im Namen einer ästhetischen Kunst eine Naturfeindschaft, ja inszeniert diese gar als eine Lebenshaltung; mit ihr erlangt das Artifizielle Bedeutung, kaum ein Werk bringt das nachhaltiger zum Ausdruck als das Kultbuch des Fin de siecle, Joris-Karl Huysmans' Roman A rebours aus dem Jahr 1884. Es handelt sich um ein, darauf hat Hans-Robert Jauß hingewiesen, »rückständige^] Verhältnis der Ästhetik zur Natur« 47 , da die ästhetizistischen Strömungen der Jahrhundertwende nicht nur den Natur-Raum, sondern auch die städtische Welt als Lebenswelt des Menschen ignorierten. Diese Haltung der modernen Welt gegenüber galt es zu revidieren: Das Einverständnis mit der industrialisierten Moderne wird die programmatische und poetologische Basis der Avantgardebewegungen sein. Doch schon Baudelaire gab, indem er Kunst als eine Kunst des Hässlichen dachte und das Schöne als das bizarr Schöne identifizierte (vgl. den Beitrag von Luca Crescenzi), letztlich die behauptete Autonomie von Kunst preis. Ist also Harald Neumeyer: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne. Würzburg 1999. Jauß: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, S. 136.

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seine herausgehobene Position innerhalb der Ausbildung und Etablierung der literarischen Moderne die Folge des Befunds, dass er, lange vor ihrem konkreten Auftreten, beide Modernekonzepte in seinem Werk integriert? Liegt die Ausnahmestellung dieses Autors demnach nicht gerade in der Ambivalenz seines CEuvres begründet? Denn das hieße anders formuliert, dass das Werk von Baudelaire die Moderne noch als Einheit realisiert, indem es Elemente der ästhetizistischen mit Ansätzen der avantgardistischen Moderne verbindet und die Zweifel an der Moderne mit dem Bad in der Menge als dem Sinnbild der Moderne verschränkt: Baudelaire ist der Vorläufer der Autonomiekonzepte des Ästhetizismus, aber er ist zugleich — dadurch dass er die Industrialisierung der Kunst einleitete und den bis dahin weitgehend sicheren Glauben an die Erzählbarkeit von Welt erschütterte — ein Initiator einer avantgardistischen Moderne. Vermutlich wertete Benjamin Baudelaires Werke denn auch aus genau diesen Gründen als einen Beitrag zu einer >Theorie der Moderne< und sein Schreiben als paradigmatisch für diese Moderne: Denn er, Baudelaire, habe, so Benjamin, »den Preis bezeichnet, um welchen die Sensation der Moderne zu haben ist: die Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis. Das Einverständnis mit dieser Zertrümmerung ist ihn teuer zu stehen gekommen. Es ist aber das Gesetz seiner Poesie«.48 Ein solches Einverständnis umreißt ebenso das poetologische Gesetz der Avantgarde im 20. Jahrhundert. Diese erteilt dem Autonomiestreben des Ästhetizismus eine Absage, aber zugleich auch, und zwar durchaus in der Tradition Baudelaires, dem Mimesisprinzip und Realismuskonzept des 19. Jahrhunderts. Mit der Ausbildung einer kaum mehr selbstreflexiven, zu großen Teilen auch antireflexiven >Poetik des FragmentsZerbrochene< als die eigentliche Substanz der Moderne anerkennt — eine Substanz, die ein fragmentarisches Schreiben geradezu erzwingt, will man ihr als literarischem Gegenstand gerecht werden. Diese ästhetische Schlussfolgerung ist die Grundmaxime der Moderne — zumindest der avantgardistischen — im Unterschied zur klassischen Moderne, der — so wäre mit Blick auf die ausgefeilten theoretischen >Reflexionsromane< von Thomas Mann, Broch, Musil, Kafka, Canetti, Otto Flake oder Franz Werfel zu formulieren - die Kontinuität eines syntaktischen Weltbildes< zugrunde liegt.49 Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire, S. 101-149, hier S. 149. Vgl. Walter Benjamin: »Der >Sinn des I^bens< ist in der 'l'at die Mitte, um welche sich der Roman bewegt« (Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows [1936], In: Dcrs.: Gesammelte Schriften. Bd. II/2. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhausen Frankfurt a. Main 1977, S. 438-465, hier S. 455). Dieser Befund mag für die Klassische Moderne zutreffen, für die Avantgarde hingegen dürfte er nicht allzu große Verbindlichkeit haben.

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Agiert die Avantgarde auf der Basis eines nahezu dekonstruktivistischen Literaturbegriffs, zumindest aber mit einer spielerischen und parataktischen Ausrichtung, so ist die klassische Moderne — Peter V. Zima und Astradur Eysteinsson reden vom Modernismus 50 — mit einem »formalistisch-hypotaktische[n] Bewußtsein verknüpft« 51 , wie es bei letzterem heißt; dieses wiederum ermöglicht ihr die Fortführung des traditionellen Mimesisprinzips, zweifelsohne erweitert und durchtränkt, etwa bei Mann, Musil, Broch und Flake, mit einer weitgetriebenen Form essayistischen Schreibens, mit der nicht zuletzt geschichtsphilosophische Begründungen der Krise in der Moderne, aber auch der Krise des Romans angeboten werden. Allerdings wäre zu klären, ob und inwiefern dieser unter Rückgriff auf antike Autoren begründete Essayismus als Denk- und Schreibform tatsächlich ein Phänomen der Moderne und wirklich eine dezidiert moderne Schreibform ist.52 Während die Avantgarde vielfach Antireflexivität als Wesensmerkmal von Literatur exponiert und existenzphilosophische, aber vor allem auch wahrnehmungspsychologische Gründe für die Krise des Erzählens in der Moderne ausmacht, drängt es die klassische Moderne zur Reflexion im Roman, wobei allerdings die Position Musils neuerlich zu überdenken wäre: Schließlich will auch er angesichts der Krise des Erzählens neue Darstellungsformen etablieren (vgl. hierzu den Beitrag von Barbara Neymeyr). 53 Im Anschluss an solche Divergenzen ist das Verhältnis von avantgardistischer und klassischer Moderne mit den Gegenüberstellungen von Konstruktion und Reflexion, von Konstruktivismus und Komposition sowie von Mimetismus und Realismus zu verbinden. Denn die Avantgarde führt Heterogenität und Fragmentstruktur als Wesensmerkmale der Moderne und der gesamten Epoche vor, die im Ästhetischen über neue Formen der Realisation und Konkretisierung einer mimetischen Kunst umgesetzt werden; dies nicht zuletzt in Anlehnung an neue Wahrnehmungs- und Kommunikationsstrukturen und auch an das neue Konkur50

Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen, Basel 1997, S. 1-28; Astradur Eysteinsson: The Concept of Modernism. London 1990, S. 177: »In diesem Fall ist >Modernismus< sicherlich der umfassende Terminus, während sich der Avantgarde-Begriff nachweislich eines genügend großen Freiraums innerhalb des Modernismus-Konzepts erfreut. Zugleich kann sich nichts Modernistisches der Einwirkung der Avantgarde entziehen.«

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Zima: Moderne/Postmoderne, S. 233. Vgl. dazu auch Birgit Nübel: Robert Musil - Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin 2006; vgl. auch Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999.

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»Filmstreifen denken!«, heißt es in Musils Brief an Bernard Guillemin vom 26. Januar 1931. In: Ders.: Briefe. 2 Bde. Bd. I: 1901 - 1941. Hrsg. von Adolf Frise. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 496-499, hier S. 497.

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renzmedium Film (der Beitrag von Karl Prümm wird diesen Aspekt aufgreifen), aber auch an das alte der Photographie. Dabei zerstört die Moderne als Avantgardekunst die Illusion einer nachahmenden Kunst und einer nachgeahmten Wirklichkeit. Das Innovative der avantgardistischen Moderne ist ihr radikales und radikalisiertes Mimesisprinzip, mit dem sie, so eine Formulierung Adornos, als »eine zweite Entfremdung« in einer »entfremdeten Welt« 54 agiert. Und über das sie an exponierter Stelle die Frage diskutiert, ob Fiktion und Realität in der Moderne, in einer modernen Lebenswelt also, sich überhaupt noch sinnvoll unterscheiden lassen. Sie versucht damit zugleich, die Grenze zur Realität, die Grenze zwischen Realität und Kunst aufzuheben 55 , um so den autonomen Status des Werks endgültig in Frage zu stellen, ja sogar dessen >kunsthaften< Charakter relativieren zu können. 56 Uber die Integration von Objekten der kunstfremden (Alltags)-Realität negiert die Avantgarde die Tradition einer Literatur, die in der dezidierten Grenzziehung zwischen Kunst und Realität ihre Hauptaufgabe und wesentliche Eigenschaft erkannte. Und ist es nicht so, dass durch diese Infragestellung der klassischen Dichotomie von Fiktion und Wirklichkeit sich die Avantgarde in eine direkte Konfrontation zum Ästhetizismus, aber partiell eben auch zur klassischen Moderne der zwanziger Jahre stellt? Jedenfalls wäre mit Blick auf solche Differenzen ein Avantgardismus, der die offene Form des Kunstwerks, eine Poetik des Fragments, eine Simultankunst und Montageästhetik favorisiert und die Funktionalisierung der Kunst vorantreibt, von einem >Modernismus< und mithin von einer >klassischen< Form von Moderne zu unterscheiden, für die ein ästhetischer Traditionalismus, ja Konservativismus geltend zu machen ist und mit der die geschlossene Form des Kunstwerks ebenso wie autonomieästhetische Vorstellungen fortgeführt werden; dies vor allem in Bezug auf die Verschränkung der Autorschaft mit der Kategorie der Subjektivität. Nicht zu Unrecht hat Helmut Koopmann 1970 im Rahmen seiner Untersuchungen zu Mann, Broch und Döblin (der freilich nur sehr bedingt in diese Reihe gehört) das Phänomen der »Klassizität der Moderne« 57 benannt. Zwar sollen darüber nicht die Werke von Musil, Mann, Kafka, Broch u. a. dem

Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur 2. Frankfurt a. Main 1970, S. 97. Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 29. Vgl. ζ. B. Alfred Döblins Forderung nach der »Senkung des Gesamtniveaus« von Literatur (Alfred Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus [1930]. In: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hrsg. von Erich Klcinschmidt. Ölten und Freiburg i. Br. 1989, S. 263270, hier S. 270). Vgl. Helmut Koopmann: Der klassisch-moderne Roman in Deutschland. Thomas Mann — Döblin - Broch. Stuttgart, Berlin, Köln, München 1983, S. 9-23; Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. Main 1970, S. 50f.

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ästhetizistischen Bereich einverleibt werden. Hervorzuheben wäre aber dennoch, dass »der Moderne als ganzer« keineswegs eine »anti-klassische Kunstgesinnung [...] unterstellt werden« kann. 58 Und zudem, dass ihre »Klassizität« und Traditionalität gerade darin bestehen, dass sie die künstlerische Sphäre als realitätsbezogenen, keineswegs wirklichkeitsfremden, aber in die Kunst erweiterten Raum betrachtet und daran anschließend auf einer traditionellen Form des mimetischen Prinzips beharrt oder beharren konnte. Denn es dürfte kaum zu widerlegen sein, dass die Kennzeichen der literarischen Avantgarde, also die Erweiterung der literarischen Ästhetik und Techniken um außerliterarische, vor allem filmische, d. h. den Möglichkeiten des filmischen Mediums angenäherte Stilmittel und Schreibweisen, sowie die Aufhebung der festen Grenzen, nicht zuletzt die zwischen den einzelnen Medien, von der klassischen Moderne nur bedingt integriert werden. 59 Überhaupt trägt sie die von der Avantgarde betriebenen >EntgrenzungenLord-Chandos-Brief< kommt Erich Kleinschmidt zu sprechen); um sodann aber in einem keinerlei sprachliche Krisen und Unsicherheiten aufweisenden Brieftext die Verunsicherung, seine theoretisch benannte Erzählkrise also, mühelos, d. h. sicher formulierend bewältigt und zum Paradigma einer xrekonstruktiven Autorschaft in der Moderne avanciert (vgl. den Beitrag von Christian Schärf). Neben diesen produktionsästhetischen Entscheidungen wäre an die rezeptionsästhetischen Ansätze der klassischen Moderne zu erinnern: Auch sie sind im Unterschied zur Avantgarde daraufhin angelegt, die Ideologie der künsderischen Autonomie und die Möglichkeiten des individuellen Ausdrucks nicht in Frage zu stellen und so die traditionelle Unterscheidung der Kunst von der Massen- und Alltagskultur nicht zu ignorieren, ja sogar eher zu vertiefen. Die Avantgarde verlagert, und von dieser poetologischen Umorientierung wird noch Bertolt Brecht zehren, das ästhetische Interesse auf die Rezeptionsseite, auf die Rezeption und Wirkung von Literatur. Eingeleitet ist damit nicht weniger als der Prozess der Preisgabe der von Benjamin diagnostizierten »Aura« der Kunst. 64 Die Avantgarde vertritt das Konzept einer postauratischen Kunst, die produktions- und rezeptionsästhetisch auf ein Massenzeitalter reagiert, und zwar ästhetisch reagiert. Sie erfährt jenen von Benjamin konstatierten Prozess des »Verfall[s] der Aura« und der »gewaltigen Erschütterung des Tradierten« 65 eben nicht nur, wie von Benjamin allzu direkt suggeriert, als einen Verlust, sondern zugleich als Gewinn; und zwar im Sinne einer Entgrenzung von Kunst und Literatur, sei es im Hinblick auf die Durchlässigkeit der medialen Barrieren, sei es im Hinblick auf das Verhältnis von Literatur und Rea-

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Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frise. 2 Bände. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. I, S. 650. Ebd. Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief [1902]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Rudolf Hirsch, Christoph Pereis und Heinz Rölleke. Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. von Ellen Ritter. Frankfurt a. Main 1991, S. 45-55, hier S. 48 und S. 49. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 11934]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1/2, S. 431-469, hier S. 438. Ebd., S. 479 und S. 477.

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lität (vgl. dazu den Beitrag von Erhard Schütz). Einer »kontemplativen Passivität« 66 als gültiger Rezeptionshaltung des Lesers und Betrachters von Kunst, einer kontemplativen oder auch nur konsumierenden Form der Rezeption von Kunst möchte sich die Avantgarde als eine auf den Bruch mit der geschlossenen, organischen Form des Kunstwerks angelegte Simultankunst verweigern. Das unterscheidet sie grundsätzlich von einer ästhetizistischen >l'art pour l'artAnschauung< und der »Passivität« des Rezipienten zugunsten eines selbst produktiv werdenden Lesers? Es sind derartige Beobachtungen, die zu dem Befund führen, dass es, wie Jürgen Habermas bemerkte, »die Moderne selbst ist, die sich ihre Klassizität schafft«. 67 Diese Fragen ebenso wie die bereits angesprochenen Aspekte — denen sich sicherlich weitere zufügen ließen — legen es nahe, das bislang vermutlich zu wenig terminologisch gefasste und diskutierte Verhältnis der klassischen Moderne zur avantgardistischen näher zu beleuchten (der Aufsatz von Walter Fähnders widmet sich dieser Frage, vgl. weiterhin den Beitrag von Thomas Anz). Lässt sich ihr Verhältnis als eine Koexistenz »zweier einander fremder Strömungen« charakterisieren, wie Zima vorgeschlagen hat.68 Oder müssen die Avantgarden, auch dies eine Anregung Zimas, »als Bestandteile des Modernismus« betrachtet werden, »einerseits weil avantgardistische Verfahren in modernistischen Romanen und Dramen vorkommen, andererseits weil dem Modernismus und der Avantgarde politi-

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Jauß: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, S. 99. - Vgl. auch S. 249: »Die postauratische Kunst befreit die ästhetische Rezeption aus ihrer kontemplativen Passivität, indem sie den Betrachter, Leser oder Zuschauer nunmehr selbst an der Konkretisation des ästhetischen Gegenstands beteiligt. Er wird in dem Maße zum Mitschöpfer des Werks, in dem er die Erwartung einer geschlossenen, sinnerfüllten Form als die klassische Illusion par excellence preisgibt und die bedeutungsstiftende Interpretation wie schon die künstlerische Tätigkeit als eine immer nur mögliche Lösung vor einer unabschließbaren Aufgabe begreift.«

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Habermas: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, S. 446; Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 50f. Zima: Moderne/Postmoderne, S. 11. - Zima problematisiert das Verhältnis zwischen Moderne und Avantgarde: »Wesentlich problematischer als die Verwandtschaft zwischen Modernismus und modemismo erscheint auf den ersten Blick die zwischen Modemismus und Avantgarde« (ebd.). Auch Calinescu (Five Faces of Modernity: Avant-Garde, Decadence, Kitsch, S. 140) geht davon aus, dass Modernisten wie Proust, Kafka oder Joyce »kaum etwas mit so typischen Avantgarde-Bewegungen wie Futurismus, Dadaismus oder Surrealismus zu tun« haben.

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sehe und existentielle Probleme gemeinsam sind«.69 Reicht es aus, in den avantgardistischen Bewegungen die »Vorboten der Postmoderne« zu sehen, die klassische Moderne, den Modernismus hingegen mit dem Jahr 1933 enden zu lassen? Unabhängig von der Diskussion des Verhältnisses von Moderne und Postmoderne ist der Verbleib oder das Schicksal der ästhetischen Modernen nach 1933 (vgl. hierzu die Beiträge von Erhard Schütz und Walter Delabar), aber auch nach 1945 (vgl. den Beitrag zur DDR-Literatur von Wolfgang Emmerich) eine zentrale, aber nicht ausreichend beantwortete Frage - die sich mit Blick auf Wolfgang Koeppen sicherlich hervorragend diskutieren lässt — Koeppen hat sich wiederholt an exponierter Stelle zu Alfred Döblin bekannt und diesen als seinen »Lehrer des Handwerks« 70 bezeichnet (Peter Sprengel beschäftigt sich mit dieser Frage). Die Rede von der Präsenz der literarischen Moderne in den 1950er und 1960er Jahren wirft dabei zugleich die Frage nach der Bedeutung der soziokulturellen, literarhistorischen, aber auch politischen Rahmenbedingungen der Entstehung und Etablierung dieser Moderne auf. Zu überlegen ist, ob nach 1945 die Moderne der Vorkriegszeit wirkt oder lediglich — wie man mit Blick auf Koeppen feststellen könnte, eine >halbierte< Moderne, eine um ihre historischen und kulturellen Voraussetzungen entstellte und d. h. eine auf ihr Stilrepertoire verkürzte oder rekonstruierte Moderne?71 Zu bilanzieren wäre abschließend jedenfalls zunächst einmal, dass sich unter dem Begriff Moderne in den zehner und zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts mindestens zwei, vermutlich drei durchaus konträre kulturelle, literarische und ästhetische Konzepte verbergen — von der Anti-Moderne einmal ganz abgesehen (die im Beitrag von Georg Bollenbeck im Mittelpunkt steht). Die heterogene Vielfalt dieser Ansätze hat bereits dazu geführt, den Epochencharakter der Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frage zu stellen.72 Damit stünde zugleich der Terminus Moderne nicht nur als Epochenbegriff, sondern auch als Stilbegriff zur Disposition und seine Tragfähigkeit zur Diskussion. Oder man begnügt sich mit der Annahme, dass die Moderne nicht viel mehr bezeichnet als den Verlust einer epochalen literarischen Einheit und dass sie von daher 69 711

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Zima: Modcrne/Postmodernc, S. 12. Gespräch mit Wolfgang Koeppen. In: Heinz Ludwig Arnold. Gespräche mit Schriftstellern. München 1975, S. 109-141, hier S. 119. Vgl. hierzu Martin Hlelscher: Zitierte Moderne. Poetische Erfahrung und Reflexion in Wolfgang Koeppens Nachkriegsromanen und »Jugend«. Heidelberg 1988; Sabina Becker: Verspäteter Modernist oder halbierte Moderne? Zum Werk Wolfgang Koeppens im Kontext der literarischen Moderne. In: Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre. Bd. 1: Wolfgang Koeppen & Alfred Döblin. Topographien der literarischen Moderne. Hrsg. von Walter Erhart. München 2005, S. 97-115. Vgl. Jauß: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, S. 76.

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kaum mehr als ein Amalgam ästhetischer Konzepte benennt. Wiederholt hat man den Begriff der Postmoderne als eine Konstruktion bezeichnet 73 , es wäre zu überlegen, ob dies nicht auch für den Begriff der Moderne gilt. Mit Blick auf die soziologischen Argumentationen hätte dies einiges für sich, gehört der Prozess der Ausdifferenzierung in autonome Sphären Max Weber zufolge doch unbedingt zu Modernisierungsprozessen bzw. zur Modernisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Dann jedoch bliebe das Neben- und Gegeneinander, die Gleichzeitigkeit und Pluralität ästhetischer Konzepte das Kriterium der Moderne, also jener Stilpluralismus, den die Post-Moderne in vielerlei Hinsicht fortsetzt (ein Aspekt, den Moritz Baßler in seinem Aufsatz aufgreift). Zweifelsohne bedeutet Moderne Ambivalenz, ihr Wesen ist Ambivalenz, und die Postmoderne ist sicher auch die Folge dieser Widersprüchlichkeit der Moderne. Diese ist ein Raum, in dem sich einzelne Strömungen als Gegenbewegungen einander antreiben, ja sich gegenseitig aufheben, genau dieses Phänomen der wechselseitigen Infragestellungen und Aufhebungen macht das Kennzeichen der Moderne, den Prozess der Moderne aus. Sie lässt sich als »ein Prozess aus Prozessen, die den MöglichkeitsSpielraum modernen Schreibens in vielerlei Richtungen ausgeschritten« haben, beschreiben. 74 Diese Gleichzeitigkeit sollte indes nicht vergessen lassen, dass den unterschiedlichen Ausprägungen von Moderne durchaus eine vergleichbare Referenz zugrunde liegt, und zwar die auf das gleiche »gesellschaftliche und kulturelle System«.75 Dieser Befund wiederum wirft die eingangs bereits erwähnte Frage auf, ob die Unterscheide zwischen Modernismus, Moderne und Avantgarde primär gesellschaftlich begründet sind, ob sich also politische Gegensätze als Gründe für ihre unterschiedlichen ästhetischen und stilistischen Normen anführen lassen. Hängen die Differenzen, die sich etwa für das Werk von Stefan George und Filippo Tommaso Marinetti, Marcel Proust und James Joyce, von Mann und Döblin und für ihre unterschiedlichen Modernekonzepte benennen lassen, mit der jeweiligen gesellschaftspolitischen Positionierung zusammen, mit ihrer je eigenen Verortung im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess? Und folgt daraus sodann, dass es sich bei den Spielarten der Moderne am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bei der ästhetizistischen Moderne, der Avantgarde und der klassischen Moderne, um eine »erzwungene Pluralität« handelt, wie Wolfgang Welsch konstatierte?

Vgl. dazu auch Antje Senarclens de Grancy, Heidemarie Uhl (Hrsg.): Moderne als Konstruktion. Debatten, Diskurse, Positionen um 1900. Wien 2001. Vgl. dazu weiter Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, S. 10. Fahnders: Moderne und Avantgarde, S. 9.

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Erzwungen im Unterschied zur »radikalen Plurahtät«76 der Postmoderne, die die »Vielheit heterogener Konzeptionen, Sprachspiele und Lebensformen« 77 gewollt und bewusst inszeniert habe oder noch immer inszeniert? Erzwungen, weil die Moderne im Gegensatz zur Postmoderne eine »Grundobsession« verfolge, nämlich so genannte »Einheitsträume«? 78 Verfolgt die Moderne also in all ihren angesprochenen Ausprägungen, eine Idee der Einheit und des Totalen? 79 Wäre mithin die sie kennzeichnende ästhetische Idee des Fragments nicht viel mehr als die mit unwilliger Geste zur Schau gestellte Akzeptanz eines zu überwindenden Zustande? Wohl kaum. Sind doch die aufgezeigten Ausprägungen von Moderne sicher mehr als nur Scheingefechte. Gleichwohl vermag der Ansatz von Welsch, eine andere Idee anzuregen, und zwar im Hinblick auf die Beobachtung, dass jene Autoren, deren Werke markante Eckpfeiler im Prozess der literarischen Moderne darstellen, zwischen autonomen und heteronomen Kunstauffassungen schwanken, zu nennen sind hier vor allem Baudelaire, Rilke und Döblin. Die Moderne hat mit Baudelaire begonnen als Symbiose verschiedener Moderne-Konzepte und sie endet auch — zumindest bezogen auf die Zeit bis 1933 — in Form einer solchen Zusammenführung, die sodann den Zweifel an ihr, aber auch die Begeisterung für eine Zivilisation und Kultur der Moderne erlaubt: Denn die nach 1920 bis zum Ende der Weimarer Republik und partiell noch innerhalb der Exilliteratur 80 wirkende Ästhetik der Neuen Sachlichkeit darf im Hinblick auf die Integration avantgardistischer Verfahrensweisen — wie Montage, Collage, assoziatives Schreiben, Intermedialität, Entgrenzung und Vermischung — in traditionale Erzählkonzepte und konventionelle Schreibformen als eine Synthese von avantgardistischer und klassischer Moderne und mit Blick auf diese synthetisierende Dimension als eine reflektierte Form der Moderne gelten. Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplat^ um mit einem nochmaligen Hinweis auf diesen Autor zu schließen (er wird in Luca Renzis Beitrag eigens gewürdigt), dürfte das wohl gelungenste Beispiel einer solchen produktiven Symbiose der heterogenen Moderne-Konzepte sein.

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Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 4 Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Vgl. dazu auch: Uwe Hebekus, Ingo Stöckmann (Hrsg.): Das Totalitäre der Klassischen Moderne. Zur Souveränität der Literatur 1900 - 1933. München 2007. Vgl. dazu: Exil und Avantgarden. Hrsg. von Claus-Dieter Krohn, Erwin Rothermund, Lutz Winckler, Irmtrud Wojak und Wulf Koepke (= Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 16. München 1998.

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Literarische Moderne. Begriff und Phänomen

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Konturen der Moderne

Georg Bollenbeck

>Gefühlte Moderne< und negativer Resonanzboden Kein Sonderweg, aber deutsche Besonderheiten 1 Gerade für das überwölbende Thema dieser Tagung zum >Begriff und Phänomen der literarischen Moderne< gilt Max Webers Postulat »nicht die sachlichen Zusammenhänge der Dinge, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde«2, ist doch die literarische Moderne kein evidenter Sachverhalt, sondern eine (evaluativ unbestrittene, aber nominativ strittige) literaturwissenschaftliche Kategorie. Immerhin gibt es einen kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner. Demnach verweist das Adjektivattribut »literarisch« nicht auf die gesamte Literatur in der Moderne sondern auf die Literatur der Moderne im Sinne eines Bereichsgenitivs. Im ersten Fall geht es um die Gesamtheit heterogener Literaturen innerhalb der zivilisatorischen Moderne; im zweiten Fall um die Differenzqualität einer Literatur gegenüber anderen vermeintlich weniger zeitgemäßen Literaturen im Namen einer ästhetischen Moderne, die durch programmatische Verlautbarungen, Manifeste und theoretische Bestimmungen jeweils näher bestimmt wird. 3 Aus einer fachgeschichtlichen Perspektive wäre zu zeigen, wann die Kategorie literarische Moderne aufkommt, welche intentionalen und extentionalen Zuschreibungen sie erhält, was sie inkludiert und exkludiert und vor allem: welche Interpretationen und Geschichten sie erlaubte. Es gibt noch eine andere Perspektive als die der begriffs- und fachgeschichtlichen Rekonstruktion. Will man die literarische Moderne als eine auf1

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Der Vortragsduktus wurde beibehalten. Der Vortrag hat eine Quellenbasis, die nach den Kriterien der kommunikativen Präsenz und problemgeschichtlichen Repräsentanz im Verlauf mehrerer Forschungsprojekte erarbeitet wurde. Privilegierte Quellen sind politische Debatten, öffentliche Auseinandersetzungen, programmatische Verlautbarungen, kulturkritische Bilanzen, Broschüren. Wesentliche Komplexe dieses Vortrags finden sich in: Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Frankfurt a. Main 1999. Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. In: Johannes Winckelmann (Hrsg.): Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen. Politik. Stuttgart 1973, S. 206f. Vgl. etwa C. Harrison, P. Wood: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. 2. Bde. Ostfildern-Ruit 1998; Wolfgang Asholt, Walter Fahnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909 - 1938). Stuttgart, Weimar 1995.

Georg Bollenbeck

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schlussreiche literaturwissenschaftliche Kategorie ausweisen, dann ist es notwendig die ungeordnete Aspekt- und Merkmalsvielfalt dessen, was literarische Moderne genannt wird, in eine Heuristik zu überführen, mit der die Einordnung, Interpretation und Bewertung des zu Erforschenden möglich wird. Sachwissen und Sprachwissen lassen sich nicht absolut trennen, aber zwischen beiden ist zu unterscheiden. Es kommt also nicht nur darauf an zu fragen, ob das Phänomen X ein Phänomen der literarischen Moderne sei, sondern es kommt zunächst darauf an, zu reflektieren, was ich von X sage, wenn ich es einem gedanklichen Zusammenhang zurechne, der als literarische Moderne verstanden oder gar modellhaft ausgewiesen wird. Es geht also nicht nur um die Phänomene von Etwas, sondern auch um ein Etwas, mit dem diese Phänomene erst erschließbar werden. Deshalb sind begriffsgeschichtliche Begleitreflexionen, konzeptuelle Merkmalszuweisungen und — im Idealfall — theoretisch-systematische Einbettungen notwendig, um den heuristischen Wert dessen zu steigern, was literarische Moderne meint. Die literarische Moderne lässt sich nicht definitorisch festschreiben. Wie bei anderen geisteswissenschaftlichen Grundbegriffen bildet auch liier die Offenheit und Plastizität menschlicher Handlungen die Basis möglicher Theoriebildung. Deshalb ist es klug, die literarische Moderne als einen »Prozeß aus Prozessen« zu bezeichnen.4 Ganz allgemein kann gesagt werden: Die literarische Moderne ist kein Zustand, sondern eine Verlaufsform. Von daher erklären sich auch die unterschiedlichen, auf einer Zeitachse Kegenden Binnendifferenzierungen — etwa nach dem Muster >Frühmoderne, Klassische Moderne, avantgardistische Moderne und (wenn man sie dazu zählen will) Postmodernegejühlte Moderne< Was heißt überhaupt Moderne? In den Kulturwissenschaften lassen sich zwei eingeschliffene Verwendungsweisen ausmachen. Zum einen dient die Moderne oder die zivilisatorische Moderne (ähnlich wie Aufklärung oder Neuzeit) als ein universalgeschichtlicher Epochenbegriff, der unterschiedliche Bereiche gesellschaftlicher Praxen und Bewegungszusammenhänge umfasst. Rationalisierung, Pluralisierung, Säkularisierung, KommerzialisieEin Beispiel dafür bietet: Heknuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache Ästhetik - Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, S. 9-13.

>Gefühlte Moderne
gefühlten Modernen In diesem Zusammenhang muss nicht charakterisiert werden, was die Moderne an sich ist. Wichtiger ist, was als Moderne empfunden wird und worin ihr Verunsicherungspotential besteht. Es geht also vorrangig um eine >gefühlte Moderne* aufgrund der Diskrepanz zwischen einer starren Kunstsemantik und bestimmten Veränderungen im kulturellen Feld, die von den Zeitgenossen um die Wende zum 20. Jahrhundert mit dem Kollektivsingular Moderne charakterisiert und bewertet werden. Unter dem Eintrag »Modern« findet sich 1902 im Brockhaus »die Moderne«, und zwar als »Bezeichnung für den Inbegriff der jüngsten socialen, litter. und künsderischen Richtungen«. Diese neutrale Beschreibung verweist auf eine komplizierte Gemengelage von Ablehnung, Anpassung und Bejahung. Die Moderne wird keineswegs pauschal abgelehnt. Dafür spricht schon der Tatbestand, dass Musiker, Architekten, bildende Künstler oder Schriftsteller das Attribut >modern< oder das Substantiv >Moderne< als positive programmatische Selbstbeschreibung benutzen. So berufen sich etwa die Naturalisten auf die >ModerneGefühlte Moderne
guten Gesellschaft präsent. Kessler ist kein Außenseiter, sondern ein zentraler Akteur im kulturellen Leben. Er verkörpert wie kaum jemand den Erfolg einer neuen und fremden Kunst in Deutschland. Allerdings kann man Kesslers Einschätzung einen gewissen Realitätsgehalt nicht absprechen. Gerade in Weimar, in der Stadt der kulturbeflissenen Pensionäre, der höheren Beamten und Verwalter des kulturellen Erbes manifestiert sich 1932 die aktuelle Politisierung langfristiger Ressentiments gegen die kulturelle Moderne. 14 Regionalgeschichtliche Studien zeigen, gerade hier setzt das »gebildete Deutschland« auf den Nationalsozialismus als »Retter der deutschen Kultur«.15 »Mentalität ist eine Haut, Ideologie ein Gewand«, heißt es bei dem Soziologen Theodor Geiger.16 Diese Unterscheidung aufgreifend kann man sagen: Die Ablehnung des Neuen und Fremden im Namen der eigentlichen deutschen Kunst ist als langfristiges mentales Phänomen so alt wie die kulturelle Moderne als >gefühlte< Moderne; während die Hinwendung bestimmter Teile des intellektuellen Deutschland< zum Nationalsozialismus als ein politisch-ideologisches Phänomen der späten Weimarer Republik angesehen werden kann. Es gibt also keinen teleologischen Zwangspfeil, der das gebildete Deutschland auf einen Sonderweg nach 1933 verweist. Aber es gibt deutsche Besonderheiten. Wenn man die Wechselwirkung von erfolgreichem Neuen und negativem Resonanzboden berücksichtigt, dann wird verständlich, warum die Mehrheit des »gebildeten Deutschland«, auch wenn sie eine gewisse Reservatio mentalis< gegenüber den >braunen Horden< bewahrt, auf den Nationalsozialismus als Retter der deutschen Kultur setzt. Man könnte von spezifisch deutschen Ungleichzeitigkeiten sprechen, allerdings nicht im Sinne einer schlichten Zurückgebliebenheit gegenüber dem erfolgreichen Neuen. Denn die bildungsbürgerliche Kunstbeflissenheit und die kulturstaatliche Tradition verleihen gerade in Deutschland der kulturellen Moderne eine große motivationale Kraft und institutionelle Bestandsgarantie. Etwas formelhaft ausgedrückt: Gerade die quasireligiöse Kunstbeflissenheit des deutschen Bildungsbürgertums befördert, indem sie auf die eigentliche Trägerschicht der Moderne, auf Museumsdirektoren wie Karl Ernst Osthaus (Hagen), Ernst Gosebruch (Essen), Alfred Hagelstange (Köln), Alfred Lichtwark (Hamburg) oder Adolf von der Heydt (Wuppertal), auf Verleger wie (ja zunächst auch) Eugen Diederichs, Sa» 15

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Hier in dem Sinne als das, was man damals als Moderne verstand. Lothar Ehrlich, Jürgen John (Hrsg.): Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NSDiktatur. Köln, Weimar, Wien 1998. Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart 1932, S. 77.

>Gefühlte Moderne
Gefühlte Moderne
futuristisch< beschrieben« wurden (ders.: »Rebellen und Vortizisten: >Unsere kleine Bandegefühlte< Moderne als Ineinander von bürgerlicher Genese und antibürgerlicher Funktion eine besondere Dynamik und Brisanz. Gerade hier wird die kulturelle Moderne als Menetekel der gesellschaftlichen Auflösung und der kulturellen Enteignung gedeutet. Das hat verschiedene, ideengeschichtliche und sozialgeschichtliche, Gründe. In der verbreiteten Neigung, im Zustand der Kunst eine Chiffre für den Zustand der Welt zu sehen, wirken unverkennbar trivialisierte, aber umso breitenwirksamere Restbestände einer hegelianischen Gehaltsästhetik, die im Kunstwerk als höherer Wirklichkeit ein Dokument der Geschichte sieht. Aber nicht nur deshalb kommt besonders in Deutschland der Kunst im Erfahrungshaushalt der Gebildeten eine prominente Rolle zu. Es sei daran erinnert: Seit dem späten 18. Jahrhundert entsteht in Deutschland - Schiller hat dies in einem Gedichtfragment (das man später »Deutsche Größe« nannte) eindrucksvoll vorformuliert - eine einzigartig enge Koalition von kultureller, sozialer und nationaler Identität.29 SicherFranz Roh: Streit um die moderne Kunst. Auseinandersetzungen mit Gegnern der neuen Malerei. München 1962, S. 46. Diese Ablehnung kann sich auf unterschiedliche Bereiche beziehen, auf den Bereich einer nationalen Identität, einer sozial-kulturell-hegemonialen Identität und einer sozialreputativen Identität. Die geringsten Probleme bereitet die Moderne für den Bereich des sozial-Reputativen, also für den >Sinn für Distinktionen< im Sinne Pierre Bourdieus. Wie die Antiquitäten können die Werke der Moderne für den Nachweis des kulturellen Kapitals eingesetzt werden. Das hat aber in Deutschland nichts mehr mit der alten kulturellen Hegemonie und einem emphatischen, auf Autonomie und Weltveränderung angelegten, Kunstbegriff zu tun. - Vgl. dazu Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. Main 1987. - Interessanter sind in diesem Zusammenhang der Aspekt der nationalen Identität und die damit verbundene Ablehnung der internationalen Moderne im Zeichen der vermeintlichen jeweiligen >Überfremdung der nationalen Traditions - Näher zu untersuchen wäre in England die Gruppe der »Georgians« und Stellungnahmen der Spätviktoriancr wie Thomas Hardy; in Frankreich die »Action FranGefühlte Moderne*

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lieh, auch anderswo gelten Sprache, Literatur und Kunst als Beleg für die nationale Größe. In dem zersplitterten Deutschland aber wirken gerade sie als Berechtigungstitel für die erhoffte, noch zu erreichende staatliche Einheit. Die Nationalkultur dient hier als symbolische Kompensation für die fehlende staatliche Einheit, und sie wirkt symbolisch vergesellschaftend wie identitätsstiftend: In ihrem Namen erkennen sich die (protestantisch) Gebildeten als Deutsche und Gebildete wieder; in ihrem Namen grenzen sie sich gegenüber anderen ab und werden von anderen anerkannt. Mit großem Erfolg installiert sich das Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert als Verwalter der >idealen Habe< (Gustav Freytag). Seine Kunstsemantik — dies zeigen die Schillerfeiern des Jahres 1859 - besitzt in Verbindung mit den beiden entscheidenden Integrationsideologien des 19. Jahrhunderts, mit dem Liberalismus und mit dem Nationalismus, eine gesicherte Deutungshoheit. Man kann zwar über das Epigonentum klagen, vom unüberbietbaren Charakter der Weimarer Klassik überzeugt sein oder über Kunst streiten, aber unstrittig erscheint im Zeichen eines konsensuellen Kunstnationalismus der Zusammenhang von Kunstsemantik und der Nationalkultur im Ganzen. Bezeichnend dafür: Es gibt keinen öffentlich wirksamen Streit über den Sinn der Schillerfeiern, keine konträren Argumentationsweisen, die Schillers Rang als Dichter in Frage stellen und das Pathos seiner Literatur verhöhnen.

Die Auflösung des konsensuellen

Kunstnationalismus

Mit der kulturellen Moderne verliert gegen Ende des 19. Jahrhunderts — und dies markiert den argumentationsgeschichtlichen Konstellationswandel — der Kunstnationalismus seinen konsensuellen Charakter. Durch unterschiedliche Konzepte aufgeladen erhält er nun gegenläufige Sinnbezüge und eine größere polemische Akzentuierbarkeit. Damit entsteht eine Debattenlage, die hier in idealtypisch erklärender Funktion als ein Gegeneinander von Argumentationsweisen vorgestellt werden soll: die liberale Argumentationsweise der Integration des Fremden und Neuen und die radikalnationalistische der Abwertung und Ausgrenzung des vermeintlich Undeutschen. indem / das politische Reich wankt hat sich / das Geistige immer fester und vollkommener /gebildet)« (Friedrich Schiller: Pläne, Entwürfe, Fragmente [Deutsche Größe]. In: Ders.: Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Hrsg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Bd. 2/1: Gedichte. Weimar 1983, S. 431-436, hier S. 431.

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Georg Bollenbeck

Zunächst wird die kulturelle Moderne von einem beachtlichen, in den kulturellen Institutionen verankerten und publizistisch präsenten Teil des Bildungsbürgertums akzeptiert oder gar gefördert. Kennzeichnend dafür ist die liberale Argumentationsweise der Öffnung. Diese Argumentationsweise reagiert, ohne mit den vertrauten Argumentationsfiguren der ursprungsmythologischen Genese, der bildenden Funktion und des schönen Scheins zu brechen, mit Integrationsstrategien auf das Neue und Fremde. Die Dominanz dieser Argumentationsweise in der kulturräsonierenden Öffentlichkeit erlaubt den Schluss, dass in Deutschland die kulturelle Moderne aus und mit dem Bürgertum entsteht. Sie leitet allerdings zugleich einen Prozess der Entbürgerlichung ein, der die alten tragenden Gemeinsamkeiten zwischen Bildungsbürgertum und Kultur langfristig unterminiert. Der Erfolg der liberalen Argumentationsweise zeugt von einer produktiven Wechselwirkung zwischen moderater Moderne und flexibler Kunstsemantik. Eine entscheidende Voraussetzung für diesen Erfolg ist der Tatbestand, dass im kulturellen Feld nach dem Ende der >liberalen Ära< liberale Haltungen prägend bleiben. Während die politische Programmatik des Liberalismus entscheidend geschwächt wird, bleibt im kulturellen Leben die liberale Offenheit für Neues und Fremdes auch nach »der konservativen Umgründung des Reichs im Zeichen des Bündnisses von Agrariern und Großindustriellen« 30 wirksam. Das belegen wichtige Kunstdebatten, wie der Streit um die »lex Heinze«, die Auseinandersetzung im Reichstag über die Repräsentanz der deutschen Kunst auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 oder »der Kampf um die deutsche Kunst« 1911. Wie denn überhaupt eine große Bereitschaft herrscht, für die Regeneration der deutschen Kunst die neue Kunst zu nutzen. Das gilt vorrangig mit Blick nach Frankreich für die Malerei. Wenn 1903, initiiert durch Harry Graf Kessler, gegen die »Kunstgenossenschaft« der »Künstlerbund« als eine neuartige Dachorganisation der verschiedenen Sezessionen gegründet wird, dann geschieht dies mit dem Anspruch auf eine Gesamtzuständigkeit für die deutsche Kunst. Entsprechend heißt es im § 1 des Statuts: »Der deutsche Künstlerbund ist eine Vereinigung von Künstlern und Kunstfreunden, zwecks idealer und wirtschaftlicher Förderung der deutschen Kunst durch Mittel, die geeignet sind, die freie Entwicklung der deutschen Kunst zu ermöglichen. Der Sitz des Vereins ist Weimar.« Aber auch im Bereich der Literatur herrscht eine gewisse Offenheit für das Neue und Fremde. Entsetzt und gewiss übertreibend schreibt am 3. 30

Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. 2 Bde. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. München 2000, S. 461.

>Gefühlte Moderne
deutsche Kunst< keine Probleme. Auch nach dem Ende des konsensuellen Kunstnationalismus bleibt der Begriff positiv besetzt, aber er wird nominativ unklar. Von daher erklärt sich seine Debattenanfälligkeit und seine allgemeine Akzeptanz. Strittig ist, was man ihm zurechnen kann. Aber alle können sich auf die deutsche Kunst berufen: Anton von Werner und Max Liebermann, Thomas Mann und Will Vesper, Arnold Schönberg und Hans Pfitzner, Harry Graf Kessler und Henry Thode. Die radikalnationalistische Argumentationsweise artikuliert den Wunsch nach »Deckungsgleichheit« von gesellschaftlicher Ordnung, kultureller Gemeinschaft und künstlerischen Objektivationen. 32 Sie ist eine Reaktion auf die Diskrepanz zwischen den neuen Kunstwerken und erstarrten Kunstvorstellungen. Diese Argumentationsweise bringt gegen die >undeutscheproduktiven< Verständnisses des Tragischen an. Bezeichnenderweise setzt Brecht aber nicht mehr auf die >große Ordnunggroße Produktion^ Das ließe sich an seiner _AntigoneBearbeitung (1948) oder schon an Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1929/30) zeigen. Das Drama hat Lehrstück-Charakter. Es führt vor Augen, wie der Kapitalismus funktioniert: seine zyklische Struktur (Wachstum, Uberproduktion, Krise und Überwindung der Krise), der Weg in den Monopolkapitalismus. Der Schlachthof ist geschichtlich-gesellschaftliche Produktionsstätte. Das >Schlacht-Opfer< der Tragödie hat hier keinen unmittelbar erkennbaren kultisch-rituellen Bezug mehr, sondern wird radikal neu interpretiert. Das Schlachten wird zu einer Angelegenheit industrieller Produktion. Es ist aus jedem religiös-kultischen Zusammenhang herausgenommen. Mauler behauptet, Mitleid mit den Tieren zu haben (Eingangsszene) 42 : Das ist hochironisch - mit den Menschen, seinen Arbei40

Der Braunschweigcr Philosoph Claus Artur Scheier, dem ich für viele Anregungen danke, hat die große Bedeutung dieser Zäsur, die die >große Industrie< (Karl Marx) setzt, in zahlreichen Studien gezeigt.

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Auch der medizinisch-technischen Bewältigung des schweren Leidens; Morris: Geschichte des Schmerzes, S. 353. - Für Schopenhauer sterben Hamlet, Schillers Johanna und die Braut von Messina »durch Leiden geläutert, d. h., nachdem der Wille zu leben in ihnen erstorben ist. [...] Der wahre Sinn des Trauerspiels ist die tiefere Einsicht, dass, was der Held abbüßt, nicht seine Partikularsünden sind, sondern die Erbsünde, d. h. die Schuld des Daseins selbst« (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I [= Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und hrsg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen], Darmstadt 2004, S. 354). Grundlegend zu Schopenhauers Ästhetik: Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin, New York 1996, hier bes. die § 9 (Die Plazierung ästhetischen Glücks zwischen Sorge und Langeweile), § 21 (Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes) und § 22 (Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik).

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»Erinnere, Cridle, dich an jenen Ochsen / Der blond und groß und stumpf zum Himmel blickend / Den Streich empfing [...] Nein, Cridle, dieses Ochsen Ächzen / Verstummt nicht mehr in dieser Brust.« Das Pathos der Sprache (die Konjunktion >undDunkel< ihres naiven Idealismus zu Beginn des Stücks hin zur Einsicht in sich selbst und die Logik ihres politischen Handelns. Ihre >Kanonisierung< zur Heiligen am Ende soll das revolutionäre Potential, das ihr Tod enthält, wieder als Ideologie domestizieren. Die Anspielungen auf die deutsche Klassik, auf Goethe, Schiller, Hölderlin (>Hyperions SchicksalsliedProduktiv< in diesem Sinne ist Brechts Umgang mit der Gattung >Tragödie< (und seine Poetik überhaupt). Für die (philosophische und literarisch-ästhetische) Moderne ist aber kennzeichnend, dass dieses im Grunde positive Verhältnis zur Produktion, wie es Brecht in einer radikal säkularisierten Variante vorführt, nicht unbestritten bleibt. Sieht man in der Gewalthandlung, die Leiden verursacht, und im Leiden selbst ein Opfer (im Sinne von >sacrificiumtreibe seine Liebe zur Freiheit zu hochSold der Sünde< (Paulus). Der Christus postfigurierende Märtyrer leidet für die Schuld der andern, der Schurken, Machtbesessenen und Wollüstlinge. Darum ist die Frage der Schuld unter den Bedingungen des Christentums für die Poetik der Tragödie so wichtig, ja unvermeidbar. Die Märtyrertragödie tendiert dabei zum Katholisieren, also zur Werkgerechtigkeit, und damit zum Ritualspiel (und zur großen Allegorie), in dem das Tragische verschwindet. Das hat Walter Benjamin im >Trauerspiel-Buch< richtig gesehen. Die Märtyrer verdienen sich durch ihr großes Leiden ihre Glückseligkeit, und deshalb befällt sie am Ende große Heiterkeit (vgl. etwa Jakob Biedermann, Vhilemon Martyr, 1618). Das an sich ungerechte Leiden muss ja zu etwas gut sein. Das gilt auch für die neustoische Selbstbehauptung. Aber was ist dann daran noch tragisch? Worin besteht die Katharsis? Wohin soll sie denn führen? Die volle Christianisierung der Tragödie, für die Lessing die entscheidende Station ist, macht die ohnehin und seit jeher schon schwierige Kategorie der aristotelischen Katharsis noch schwieriger. Es ist nur konsequent, dass diese wirkungsästhetische Dimension der Tragödie und des Tragischen mit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr verschwindet (so etwa in Jacob Bernays' rustikaler Kritik der Tragödie »als moralisches Korrektionshaus«®). Es bleibt dann nur noch das Tragische als geschichtsphilosophische Kategorie. Aber was ist dann der kathartische Effekt?

1745 mokiert sich das Zedlerschc Universallexikon (Artikel >Trauer-SpielKatharsisSchuld< Emilias und Odoardos streiten sich die Interpreten bis heute.

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Vgl. jetzt auch Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Göttingen 2005. Zur modernen Diskussion vgl. Matthias Luscrke (Hrsg.): Die Aristotelische Katharsis. Dokumente ihrer Deutung im 19. und 20. Jahrhundert. Hildesheim 1991. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück [1768], In: Ders.: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner. Bd. 6: 1767 - 1769. Hrsg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a. Main 1985, S. 574.

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Wolfgang Braungart

Kurz: Das Tragische gerät in eine Sackgasse, sobald die Tragödie >modern< werden will oder muss.73 >Modern< heißt, die Geschichtlichkeit der eigenen Epoche, die eigene geschichtliche Position als substantiell zu entdecken, was einen ästhetischen Klassizismus dennoch nicht ausschließen muss.74 Sie muss entdeckt werden, weil das christliche Konzept von Schuld, also des Individuums in seiner moralischen Verantwortung und Selbstbestimmung, zum aristotelischen >Fehler< des Tragödienhelden und zur Katharsis als einer heftigen, in seiner Zielrichtung und seinem Wirkungsmechanismus aber eher unbestimmten Emotion nicht recht passt. Allgemeiner: Wenn die eigene Geschichtlichkeit entdeckt wird, ist das Verhältnis zu ihr auch schon fragil. Das nennt Schiller später >sentimentalisch< und gilt seither in verschiedenen Ausprägungen und Spielarten. Sehnsucht nach unmittelbarer Evidenz und Authentizität ist darum seit dem 18. Jahrhundert grundlegendes, durchgehendes Merkmal der Moderne.75 Und was gäbe es für die subjektive Erfahrung in all den Unsicherheiten der Moderne Evidenteres und Authentischeres als das große Leiden, das doch viel >verlässücher< ist als das Glück, das darum ästhetisch wohl auch die größere Herausforderung ist. Das Leiden bleibt deshalb am Ende, wenn aller geschichtliche Sinn und aller geschichtliche Zusammenhang dahin scheinen. Heiner Müllers Stücke spielen das durch, etwa sein Philoktet. Zwei Lösungen, die wirklich tragfähig sein wollen, gibt es im 18. Jahrhundert für dieses Problem. Die eine stammt ebenfalls von Lessing; sie wird von Goethe fortgeführt und ironisiert — und sie heißt >KommunikationPositivierung des Leidens im Hinblick auf Geschichte< — und sie stammt in der subjektphilosophischen Variante von Schiller76 und in der >objektivistischen< von Hegel.

Kommunikation: Lessings und Goethes Auflösungen des Tragischen Bekanntlich übersetzt Lessing - in engster Auseinandersetzung mit der französischen Poetik der Tragödie 77 - die aristotelische Formel von >phöVgl. George Steiner: Der Tod der Tragödie. Ein kritischer Essay. München 1962. Vgl. Hans Robert Jauß: Schlegels und Schillers Replik auf die >Querelle des Anciens et des ModemesModern/Moderne/ModernismusQuerelle des Anciens et des Modemeseleos< — die Affekte, welche die Tragödie hervorrufen soll — mit >Furcht und MitieidSchauder und JammerDoitsu Bungaku< (Jahrbuch der japanischen Gesellschaft für Germanistik) 4, II. 6 (2005), S. 12-37; ders.: Was für ein Theater! Versuch zur geschichtlich-kulturellen Ökologie der sozialen und dramatischen Rolle. In: Eibl, Zymner (Hrsg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007 (im Druck); ders.: Mythos und Ritual, l e i d e n und Opfer. Ein strukturgeschichtlicher Versuch zur Tragödie. In: Anton Bierl (Hrsg.): Literatur und Religion: Die Griechen, vorher, nachher und heute. Mythisch-rituelle Strukturen im Text (im Druck, ersch. vorauss. 2007). Vgl. Giddens: Konsequenzen der Moderne, S. 52f.: Die lleflexivität der Moderne: »Mit dem Anbruch der Moderne nimmt die Reflexivität einen anderen Charakter an. Sie kommt gleich an der Basis der Systemproduktion ins Spiel, so dass sich Denken und Handeln in einem ständigen Hin und Her aneinander brechen.« Das hat Konsequenzen selbst »für die routinemäßige Ausgestaltung des Alltagslebens [...] Die Reflexivität des Lebens in der modernen Gesellschaft besteht darin, dass soziale Praktiken ständig im Hinblick auf einlaufende Informationen über ebendiese Praktiken überprüft und verbessert werden, so dass ihr Charakter grundlegend geändert wird« (ebd., S. 54). - Das ist nur eine der vielen Paraphrasen moderner Rationalität und eines modernen Verlustes von Selbstverständlichkeiten. Die sozialund kulturwissenschaftliche Forschung der Gegenwart sieht allerdings immer deutlicher, welche Bedeutung gerade in der modernen Gesellschaft Rituale und die verschiedensten, auch sehr freien Formen von Religion haben. So, grundlegend, aber auch heftig kritisiert, Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes. In: Ders.: Hellas und Hesperien. Zürich, Stuttgart 1960, S. 346-388 (zuerst 1955).

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Wolfgang Braungart

wenig ratlos, weil sie Kommunikation behindern, ja womöglich beenden. Lessing gibt der Katharsis, dem Effekt der Tragödie, dagegen eine präzise soziale, auf die moralisch korrekte Handlung des Zuschauers zielende Richtung und so einen präzisen sozialen Sinn. Das Ziel dieser >UbungTrauerspielmoderneproduktive< Selbst-Sorge bezeichnet. Schon die Tragödienpoetik Lessings ist insofern in ihrem Kern eine >gesellige< Poetik81, die die grundsätzliche Anerkennung des anderen voraussetzt. 82 Das Ästhetische impliziert das Ethische; und beide implizieren sie eine angemessene und gutwillige soziale Hermeneutik, die die Menschen selbst zu leisten haben und nicht allegoretisch deduzieren können (oder rationalistisch aus vorgegebenen Lehrsätzen: Gottsched). Im Mit-Leiden (mit der entsprechenden Handlungskonsequenz) ist das Leiden erst richtig verstanden, aber habituell, nicht reflexiv. Sara hat am Ende sogar Mitleid mit der ruchlosen Rivalin Marwood; sie weiß nämlich auch, dass sie jener so fern gar nicht steht. Damit löst sich tendenziell aber auch das klare Freund-Feind-Schema der christlich-neustoischen Märtyrertragödie auf. Marwood wird tendenziell zur >Nächstenreal< wird. Auch so kann man Säkularisierung verstehen. In diesem konsequenten Be^ug des leidenden Subjekts auf den andern ist deshalb auch die kommunikative Auflösung des tragischen Konflikts überhaupt angelegt. Man müsste jedoch das Leiden im symbolischen Spiel des Theaters nicht einüben, wenn man die Zuwendung zum andern schon beherrschte. Dann könnte man das Tragische vielleicht doch gleich ganz in explizite Kommunikation überführen? Das tut Lessings Nathan und, ihm ganz nahe, Goethes Iphigenie. Dann wird die Sache ungleich anstrengender und unübersichtlicher. >AnerkennungRingpara-

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Vgl. dazu Wolfgang Braungart: Prolegomena zu einer Ästhetik der Geselligkeit (Lessing, Mörike). In: Euphorion 97 (2003), S. 1-18. Vgl. Ricceur: Wege der Anerkennung.

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bek Goethes Iphigenie sucht das insistierende Gespräch, besonders über die Legitimität des archaischen Opfer-Rituals. Goethes Iphigenie ist ein impliziter Diskurs über die Tragödie und ihre Wurzel im Opfer-Ritual selbst. Andererseits vermeiden Lessing wie Goethe die in den Dramen angelegte Wendung zur Tragödie durch das volle Risiko des Vertrauens, das Nathan wie Iphigenie eingehen. Beide liefern sich an ihre Verhandlungspartner — Saladin und Thoas — aus, obwohl diese ziemlich unverhohlen auf ihre Machtmittel hinweisen. Und beide >triumphieren< am Ende genau durch diesen Akt vertrauensvoller Kommunikation. 83 Vertrauen ist aber geradezu eine Grundkategorie der Moderne, in der ohne es gar nicht zu leben wäre. 84 Gerade da, wo es besonders tief enttäuscht wird, wird es besonders ersehnt: »du hättest mir nicht mißtrauen sollen! [...] Gewiß! [...] ich hätte dir nicht mißtrauen sollen«.85 Kommunikation zielt in sozialer Hinsicht auf Gewaltminderung und läuft, wenn sie denn gelingt, in poetologischer Hinsicht auf Tragödienvermeidung hinaus. Das ist zugleich das moderne, bürgerliche Konzept von Politik und öffentlichem Leben. Gewaltminderung durch Institutionalisierung des Rechtsstaates, Etablierung entsprechender Verfahren (Luhmann), strikte Trennung zwischen legitimer staatlicher und illegitimer individueller Gewalt (es sei denn im präzise bestimmten rechtlichen Rahmen), Trennung von Staat und Kirche. Illegitime politische Gewalt heißt jetzt >Revolution< bzw. heute vor allem: >TerrorMärchenBild< der Göttin ist Iphigenie selbst!88 Bild Gottes zu sein ist die zentrale anthropologische Bestimmung des Menschen in der Bibel. Was aber, wenn der andere bei der Kommunikation nicht mitspielt? Was, wenn die kommunikative Vernunft versagt? Wenn die freie Erörterung dessen, was aus den Traditionsbeständen (Opfer) nicht mehr bedeutsam sein darf, nicht funktioniert? 89 Man kann nun, glaube ich, nicht sagen: Eben darum lasse sich der tragische Diskurs des 18. Jahrhunderts bis hin zu Schiller und Goethe noch nicht der ästhetischen Moderne zurechnen, weil erst sie das Scheitern aller Sinn-Konzepte (heute heißen sie gerne >Meta-NarrationenRühmen< hat für ein Moderne-Konzept, das nur auf Trauer, Verlust, Entfremdung setzt, etwas Unbehagliches. Die kommunikative Auflösung des tragischen Konfliktes impliziert zudem die Annahme des Kompromisses, der vielen kleinen >Vize-Glücke< (Odo Marquard). Dann doch lieber das große und definitive Unglück.

Schiller und Hegel Die subjektphilosophischen Implikationen der Durchsetzung des Christentums in ihrer geschichtsphilosophischen Bedeutung sind bei Lessing noch nicht deutlich wahrgenommen. Das Problem nimmt erst Schiller in Angriff. Die Frage nach dem geschichtlichen Sinn des Leidens ist die poetische Triebkraft der (modernen) Tragödie. Man kann vom Leiden des Subjekts in der antiken Tragödie (Philoktei) einen Weg einschlagen, der hin zu Schiller führt. Vom Leiden, das in der antiken Tragödie als Opfer verstanden wird (Antigone, Alkestis), führt in der Moderne ein Weg zu Hegel und zu seiner Favorisierung der sophokleischen Antigone als dem Paradigma für einen tragischen Konflikt. Hegel behauptet, dass Leiden und Tod (in der Tragödie) einen wirklichen, übergreifenden Sinn haben.51 Für ihn heißt das: Es wird als sinnvoll gedeutet im Hinblick auf eine höhere, das Subjekt grundsätzlich übersteigende und es in einen größeren Sinn-Zusammenhang einweisende Ordnung: die der Götter, der Religion, des Schicksals, oder, in der modernen Perspektive Hegels, der Geschichte. Die Deutungsperspektive des Leidens als Opfer braucht den tragischen Konflikt, der, »Notwendigkeit« hat, weil jede der widerstreitenden Positionen »berechtigt« ist. Hegels bekannte Definition: S o b e r e c h t i g t als d e r tragische Z w e c k u n d C h a r a k t e r , so n o t w e n d i g als die tragische K o l l i s i o n ist d a h e r drittens a u c h die tragische L ö s u n g dieses Z w i e s p a l t s . D u r c h sie n ä m l i c h ü b t die e w i g e G e r e c h t i g k e i t sich a n d e n Z w e c k e n u n d Indivi-

Vgl. Wolfgang Braungart: Tabu, Tabus. Anmerkungen zum Tabu ästhetischer Affirmation^ In: Ders., Klaus Ridder und Friedmar Apel (Hrsg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Bielefeld 2004, S. 297-327. - Man kann das Problem, das kaum diskutiert ist, ästhetisch weiter ausführen; vgl. etwa Gert Hofmann: Schweigende Tropen. Studien zu einer Ästhetik der Ohnmacht. Tübingen, Basel 2003. Vgl. Bernd Janowski, Michael Welker (Hrsg.): Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte. Frankfurt a. Main 2000, S. 9-20, bes. die Einleitung: Theologische und kulturelle Kontexte des Opferst Vgl. auch Katja Malsch: Literatur und Selbstopfer. Historisch-systematische Studien von Andreas Gryphius bis Arthur Schnitzler. Diss, masch. Bielefeld 2006; Würzburg 2007.

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Wolfgang Braungart duen in der Weise aus, daß sie die sittliche Substanz und Einheit mit dem Untergange der ihre Ruhe störenden Individualität herstellt. 92

Es ist eine »Gerechtigkeit«, ein Sinn in der Geschichte, auch wenn ihn das Subjekt nicht einsehen kann oder will. Die Geschichte selbst ist nun die »Schlachtbank« 93 für das Opfer der »störenden Individualität«. Das tragische Leiden ist nicht nur unvermeidlich, sondern, ganz wörtlich: notwendig. Sagt Hegel. Die so konzipierte Geschichte ist säkulare Heilsgeschichte.94 Für Hegel ist das eigentliche Ziel der Tragödie das >DritteVersöhnung< ist darum eher Telos und Aufgabe, keine Kategorie, die die geschichtliche Wirklichkeit beschreiben könnte. Die Spannung »zwischen Gott, Mensch

92

53

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. Bd. 15, S. 526, hier zitiert in der sehr nützlichen Edition von Ulrich Profitlich (Hrsg.): Tragödien-Theorie. Texte und Kommentare. Vom Barock his zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 166. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke. Bd. 12. Frankfurt a. Main 1986, S. 35. Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschchen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1953. Vgl. Gerhard Kurz: Poetik und Geschichtsphilosophie der Tragödie bei Hölderlin. In: Text & Kontext, 1977, S. 15-36; ders.: Poetische Logik. Zu Hölderlins >Anmerkungen< zu >Oedipus< und >AntigonaeRomantikRomantiker< zwischen 1800 und etwa 1820 kann man beobachten, wie sich das Bewusstsein für eine ästhetische und literaturgeschichtliche Zäsur, ja für eine neue, »modern» Epoche allmählich konturiert. Schiller gibt mit dem Untertitel zu verstehen, er wisse schon, dass dieses Drama wirklich etwas Neues versuche. Das Neue ist hier, dass Schiller die Annahme des Leidens durch das Subjekt als wirklichen Akt der Freiheit deutet und so mit dem christlichen Konzept des Subjekts vereinbar macht. >Romantisch< bedeutet auch >romanhaftTragisch/TragikHeeres< stehen und in der geschichtlichen Wirklichkeit angekommen sein. Dazu muss sie aus dieser »andern« geschichtsfernen Welt heraustreten. Johanna selbst: »Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften, / Ihr traulich stillen Täler lebet wohl! / Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln, / Johanna sagt euch ewig 'Lebewohl·« (Prolog 4, V. 383-386; Hervorhebung des Verfassers). Der Abschied ist definitiv: »Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder!« (V. 392). Fast könnte man meinen, hier das Echo von Thoas' Schlußwort »Lebt wohl!« aus Goethes >Iphigenie< zu hören. Goethes nicht unironisch in Szene gesetzte Idee von (lebens-)geschichtlicher Kontinuität in seinem Drama, das das Opfer vermeidet, ist die einer in äußerster kommunikativer Anstrengung und mit äußerstem, existentiellem Risiko erarbeiteten Kontinuität. Noch spricht Johanna hier, zu Beginn des Dramas, wie ein kleines Kind von sich in der dritten Person. Gleich wird sie aber >ich< zu sagen beginnen. Sie wird so dieser ihrer naiven Lebensphase gegenübertreten, sich selbst zu begreifen beginnen, >Ich< werden und sich der von ihr kultivierten Natur bewusst werden: »Ihr Wiesen, die ich wässerte! ihr Bäume, / Die ich gepflanzet, grünet fröhlich fort!« (Prolog 4, V. 387-388; Hervorhebungen des Verfassers) Aus dem naiven Landmädchen wird ein Individuum, das sich selbst weiß. Mit prognostischer Kraft und in Anklängen an die Sprache der Bibel prophezeit Johanna die »Wunder«, die sich in der politisch-geschichtlichen Welt unter ihrer Führung ereignen werden: »Es geschehn noch Wunder - Ein weiße Taube / Wird fliegen und mit Adlerskühnheit diese Geier / Anfallen, die das Vaterland zerreißen« (Prolog 3, V. 315-317). Das Erklärungskonzept >Wunder< ist Johannas Antwort auf die aufgeklärte Diagnose Bertrands: »Ach! Es geschehen keine Wunder mehr!« (V. 314).100 Das »Wunder« hegt in der wirklichen, modernen, selbstbewussten und selbstreflexiven Ich-Werdung Johannas. Das Drama entfaltet also das um 1800 vielfach - bei Hölderlin, Kleist, Novalis - poetisch durchgespielte und philosophisch reflektierte, triadische geschichtsphilosophische Konzept. Johanna tritt aus ihrem naiven Zustand heraus und in die Selbst-Bewusstwerdung ein, durch die sie sich zunächst selbst fremd wird. Zeichen dafür ist, mit der Entdeckung der Liebe zum Feind, der Verlust des militärischen Erfolgs, zu dem sie am Ende, nach einem neuen >WunderWunder< als zentrales romantisches Motiv in Schillers Drama vgl. auch Zymner: Friedrich Schiller. Dramen.

Die Anfänge der Moderne und die Tragödie

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den ganzen Lauf der Selbsterkenntnis und Selbstwerdung vollzogen. Sie kommt nicht im unendlichen, paradiesischen Bewusstsein an (nach dem Modell Kleists), sondern im vollen Selbst-Bewusstsein. Geschichtsphilosophie ist für Schiller Subjekt-Philosophie, >Wunder< ist die Metapher für die neue Qualität, die Johanna im Prozess ihrer Selbstwerdung erreicht. Der Wendepunkt ist zugleich die Situation der >AnagnorisisWunder< noch einmal, als Johanna plötzlich aus dem Gebet heraus neue unglaubliche Kraft gewinnt, die Ketten ihres Kerkers sprengt und unter ihrer neuen Führung das Kriegsglück zu den Franzosen zurückkehrt (V/11, V. 3462-3476). Das Legendenhafte, in das die Tragödie mutiert, hat die Forschung natürlich bemerkt. Man könnte sagen: Es geschieht etwas, es ereignet sich etwas, was nicht strategisch planbar war und was doch zu einer neuen Qualität von Geschichte und Subjekt führt. Diese Selbstwerdung fällt Johanna zu; sie produziert sie nicht selbst; sie erhält sie geschenkt. Diese Mutation der Tragödie kommentiert zugleich die >modernen< Bedingungen der Gattung.

Oatum

oderDonatum?

Wie ich es oben mit Bezug auf die >Querelle< schon angedeutet habe: Ein Problem der Moderne ist, dass sie es — von ihren Anfängen an — gar nicht mag, sich verdanken zu müssen. Aneignung, produktive Rezeption im geschichtlichen Progress: das kann man schon hinnehmen. Aber sich verdanken zu müssen, etwa den >Alten< oder auch in einem religiösen Sinn, das hat nach der Durchsetzung des geschichtlichen Bewusstseins ein hohes narzisstisches Kränkungspotential. 101 Hölderlin reflektiert dies vielfach, etwa in der Ode Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter aus dem Jahre 1801: »Herab denn! oder schäme des Danks dich nicht! / Und willst du bleiben, diene dem Alteren.«102 Das Bewusstsein, das wir haben, verdanken wir nicht uns selbst. Wir haben es, aber wir haben es nicht aus uns selbst. Wir kommen ohne unser Zutun zu Bewusstsein. Wir können hinter unser Bewusstsein auch nicht zurück. Haben wir kein Bewusstsein mehr, sind wir, in dem Sinne, dass wir von uns wissen, nicht mehr. Bewusstsein von uns kann uns auch nie1111

1112

Vgl. auch den Artikel >Dankbarkeit< von I I. Reiner im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 9-11 (Thomas von Aquin, bei dem Dankbarkeit eine >virtusCogito ergo sumIch denke, also bin ichbinDubito ergo sumIch zweiflet Man kann aber den Akzent auch auf das >Ich< legen. Dann hat man den modernen Anspruch der Selbstbegründung, freilich mit all seiner Beanspruchung des Subjekts, nun umfassend auch für sich selbst zu sorgen.104 Wer nun die Dankbarkeit nicht lernt: für die Welt, für die Natur, für die großen Erfahrungen des Lebens, für sein eigenes Da-Sein, oder wer sie wieder verlernt, weil ihm, ζ. B., die naturwissenschaftlich-technische Bemeisterung seines Lebens und seiner Welt zu selbstverständlich geworden ist, der lernt einen entscheidenden Grund seines Bewusstseins nicht kennen. Hartmut Böhme hat vor kurzem in einem sehr anregenden Aufsatz darauf hingewiesen, dass wir in unserem Sprachgebrauch das schöne Verb >geben< haben105, das wir in seiner intransitiven Bedeutung meistens ziemlich gedankenlos benutzen: Es gibt die Natur, sagen wir zum Beispiel. Es gibt unsere Freunde, es gibt uns, es gibt schönes und schlechtes Wetter... Aber in welcher Hinsicht gibt es dies und wer gibt uns denn all dies? Die Moderne konstituiert sich auch dadurch, dass sie auf mögliche Geber dieses >Gegebenen< nicht mehr allzu viele Gedanken verschwendet. Das >Gegebene< ist einfach da. Im Verbum >geben< steckt aber natürlich auch das Substantiv >Gabeverdankt< sich vielen freundschaftlichen Gesprächen mit Manfred Koch, Tübingen, der in verschiedenen Veröffentlichungen, bezugnehmend vor allem auf die Philosophie Dieter Henrichs und Manfred Franks, auf die epochale Bedeutung der Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie um 1800 für die gesamte Literaturgeschichte der Moderne hingewiesen hat. - Vgl. auch Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historischsystematische Erkundung. Frankfurt a. Main 2002.

104

Auf diese Perspektivierung vom >Ich< her als grundlegende Denkfigur der Moderne hat Silvio Vietta in den Freiburger Diskussionen immer wieder hingewiesen. Hartmut Böhme: Historische Natur-Konzepte, ökologisches Denken und die Idee der Gabe. In: Peter Morris-Keitel, Michael Niedermeier (Hrsg.): Ökologie und Literatur. New York, Frankfort a. Main, Berlin 2000, S. 7-21.

105

iof> Vgl Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austausche in archaischen Gesellschaften. Frankfort a. Main 1984; Jean Starobinski: Gute Gaben - Schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten. Frankfort a. Main 1994.

Die Anfänge der Moderne und die Tragödie

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Kulturen religiös fundiert sind, haben das Geben und die Gabe auch eine kultisch-rituelle Begründung. So ist es etwa, ein besonders wichtiges kulturelles Beispiel, mit dem Opfer. Man sieht sofort, dass das versöhnende Opfer der Tragödie und die Konstitution des Tragischen aus dem großen Leiden des Opfers in eine Krise kommen müssen, wenn die (Opfer-)Gabe diesen religiösen Austauschzusammenhang nicht mehr kennt.107 Die >Gabe< der Natur und das >Gegeben-Sein< unserer Existenz, sie sind für die Moderne in der Regel nur noch ein >Datumgibt< sie einfach. Sie sind nicht mehr ein >Donum< oder >DonatumKultur< zu klären. Dass wir in einer Kultur leben, ist nicht nur eine unhintergehbare Notwendigkeit, sondern ebenfalls ein >Donum< bzw. >DonatumGeschenk< selbst dann nicht, wenn wir glauben, es vergessen zu dürfen oder zu können. Ja, wir verlassen uns auf dieses >Geschenk< der Kultur selbst dann, wenn wir davon nichts wissen wollen. Welche Überlegungen sich daraus ableiten könnten für die aktuellen Bildungs- und Kulturdebatten, liegt auf der Hand. Kulturökologisch gesprochen, wird in dieser Perspektive des Gegebenen als Gabe ζ. B. aus der Umwelt die Mitwelt.1"8 Wenn wir uns daran erinnern, dass dieses >Es gibt< eben nicht nur als >Datum< zu verstehen ist, sondern auch als >DonatumDonator< braucht, sehen wir uns zur >gratiaGratia Dei< für menschliche Existenz grundlegend (und wird ζ. B. in der Eucharistie rituell vollzogen — eu-charistia: Dankbarkeit, Danksagung). Lateinisch >gratia< bedeutet >AnnehmlichkeitWohlgefälligkeitGrazie< ist bekanntlich auch ein Schlüsselbegriff der Ästhetik des 18. Jahrhunderts und besonders der Schillers. Über Grazie (Anmut) können nur Menschen verfügen; Grazie (Anmut) ist Ausdruck der schönen Seele. Grazie bedeutet aber auch >ErkenntlichkeitDank< (italienisch >grazieGnade< (engl. >gracemercyWeltrest< ahnen zu lassen, jenen Weltrest, der doch vorhanden, der doch gewußt ist und den zu erfassen die ewige Sehnsucht des Menschen ist«35; daher sei »Dichten solche Ungeduld der Erkenntnis, und jedes Kunstwerk ist ahnendes Symbol der geahnten Totalität«. 36 Der große, zwischen 1932 und 1936 entstandene Aufsatz James Joyce und die Gegenwart"·1 bekräftigt diese Forderung mit der Rede vom Roman als dem »unmittelbaren und konkreten Träger der in der Epoche wirkenden Krafttotalität«38 oder als einem »>Totalitätskunstwerk< zum Spiegel des Zeitgeistes«39 und spricht schließlich in sehr emphatischen Formulierungen von der »Mission des Dichterischen« als einer »totalitätserfassenden Erkenntnis, die über jeder empirischen oder sozialen Bedingtheit steht und für die es gleichgültig ist, ob der Mensch in einer feudalen, in einer bürgerlichen oder in einer proletarischen Zeit lebt« — immer gelte die »Pflicht der Dichtung zur Absolutheit der Erkenntnis schlechthin«.40 Abermals fällt hier die Tendenz zur enthistorisierenden Ontologisierung auf, die Rede von der »Totalität« als »Grundaufgabe schlechthin«41 von Kunst und Dichtung oder die apodiktisch auf transhistorische Geltung und Zeitenthobenheit pochende Formulierung: Wenn es eine Existenzberechtigung der Literatur gibt, eine Überzeitlichkeit des künsderischen Schaffens, so liegt sie in solcher Totalität des Erkennens. Denn die Totalität einer Welterfassung, wie sie das Kunstwerk [...] anstrebt, drängt alles Wissen der unendlichen Menschheitsentwicklung in einen einzigen simultanen 33 34

35 36 37

38 39 4U 41

Ebd., S. 219. Hermann Broch: Denkerische und dichterische Erkenntnis. In: Ders.: Schriften zur Literatur 2: Theorie (= Kommentierte Werkausgabe Bd. 9/2). Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. Main 1975, S. 43-49. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49. Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart. In: Ders.: Schriften zur Literatur 1: Kritik (= Kommentierte Werkausgabe Bd. 9/1). Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. Main 1975, S. 63-94. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86.

Werner Frick

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Erkenntnisakt zusammen: in einem einzigen Dasein, in einem einzigen Kunstwerk und seiner Totalität soll die Ewigkeit eingeschlossen werden [.. ,]. 42

An Joyces Roman, den er darin vor allem mit dem >polyhistorischen< Erzählmodell von Wilhelm Meisters Wanderjahren vergleicht, rühmt Broch eben dieses Vermögen zur Synthesis, zur Simultaneität des Heterogenen und zum »produktiven Eklektizismus« 43 ; in Ulysses sei es dem Autor gelungen, den »Welt-Alltag der Epoche« 44 in all seinen wesentlichen Ingredienzien zu versammeln, die »Ur-Moventien des Seins aufzuspüren« 45 und »nicht nur die Gestalt des Helden, sondern auch die ganze Epoche und so die Totalität des Seins und Mensch-Seins von >innen< heraus« 46 zu erhellen. Auf das Ganze seiner Argumentation gesehen und insbesondere unter dem hier interessierenden Aspekt des Verhältnisses von historischer Differenzierung und transhistorischer Essentialisierung betrachtet, verbleibt Brochs Joyce-Essay in einer gewissen zweideutigen Schwebe: Einerseits räumt er unter einem gegenwartsdiagnostischen Blickwinkel und aus den Prämissen von Brochs geschichtsphilosophischer Wertzerfallstheorie ein, »Totalitätswerke« würden »innerhalb der allgemeinen Kunsterzeugung nicht nur immer seltener und seltener, sondern auch immer komplizierter und unzugänglicher« 47 , so dass sich am Scheitelpunkt der Moderne das Problem erhebe, »ob eine Welt ständig zunehmender Wertzersplitterung nicht schließlich überhaupt auf ihre Totalerfassung durch das Kunstwerk verzichten« müsse und »sohin >unabbildbar«ct8 werden müsse — eben dass er sich durch schiere konstruktive Gestaltungskraft gegen diese Widerstände der geschichtlichen condition moderne behauptet habe, machte dann freilich die außerordentliche Leistung des Ulysses, aber vielleicht auch seine kontrafaktische Qualität aus.49 Andererseits bleibt Joyces Roman gerade in dieser Optik eines schlussendlichen Gelingens against all odds and ends eingelassen in das Kontinuum einer großen Meistererzählung von der »philosophische[n] Durchdringung des Daseins in der Universalität der WeltdarStellung« 50 und wird als »allegorische Kos-

42 43 44 45 46 47 48 49

30

Ebd. Ebd., S. 81. Ebd., S. 69. Ebd., S. 77. Ebd., S. 67. Ebd., S. 66. Ebd. Vgl. zu den ästhetischen und geschichtsphilosophischen Zusammenhängen Paul Michael Lützeler: Zur Avantgarde-Diskussion der dreißiger Jahre: Lukäcs, Broch und Joyce. In: Ders.: Zeitgeschichte in Geschichten der Zeit. Deutschsprachige Romane im 20. Jahrhundert. Bonn 1986, S. 109-140. Broch: James Joyce und die Gegenwart, S. 87.

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Avantgarde und longue duree

mogonie« 51 von »platonische[r] Idealität« 52 zum vorerst letzten exemplarischen Beleg in einer Langzeitgeschichte gelungener Totalitätsrealisationen, deren spekulativ und letztlich theologisch gedachten Bogen Broch von Homer über Goethe bis zu Picasso (und unausgesprochen bis zu seiner in dieser Zeit entstehenden S chlafwandler-Ttüogie) gespannt sieht, um auf diese Weise den Modernitäts- und Epochenbezug von Joyces Roman freilich transzendentalistisch zu verflüchtigen. Gegenüber diesen großen Tradierungs-, Kohärenz- und Kontinuitätsformeln, die die essentielle Einheit des epischen Projekts durch all seine geschichtlichen Realisationen hindurch entweder aus anthropologischästhetischen Grundantrieben oder aus platonisierenden Einheitskonzepten begründen, hat der poetologische Diskurs der Moderne mindestens eine konkurrierende Gegenkonzeption aufgeboten, die in ihren Langzeitkonstruktionen ungleich stärker auf Prozessualität und Wandel setzt: Geschichtsphilosophie aus hegelianisch-idealistischem Erbe. Der sicherlich einflussreichste Exponent dieser Richtung ist Georg Lukäcs mit seiner Theorie des Romans53 von 1916 und ihrer Leitvorstellung von der Moderne als einer Ära der »transzendentalen Obdachlosigkeit«. 54 Auch Lukäcs konstruiert die longue duree der Geschichte des Erzählens (oder, mit der Uberschrift seines 1. Kapitels: die Geschichte der »Formen der großen Epik in ihrer Beziehung zur Geschlossenheit oder Problematik der Gesamtkultur« 55 ) mit dem Willen zur Totalität und als einen großen, einheitlichen Prozess, und auch bei ihm bilden das »Weltzeitalter des Epos« 56 und Homer als der Gründungsheros der Gattung den nie wieder erreichten anfangsutopischen Höhepunkt einer gerichteten, triadisch gegliederten welthistorischen Entwicklung: M t deutlichen Anklängen an die Griechenland-Konstruktionen Schillers und der Jenenser Frühromantik 51

Ebd., S. 73. - Im Zusammenhang: »Nicht umsonst heißt das Werk >UlyssesPapst< der marxistischen Realismus-Doktrin nicht mit der offenen, fragmentierten, Kontingenz integrierenden und in alledem als >dekadent< desavouierten Formensprache der ästhetischen Moderne hielt, sondern sich auf geschlossene Form- und Realismuskonzepte klassischhochbürgerlicher Provenienz zurückzog. Mir scheint allerdings eine beträchtliche Stärke der Theorie des modernen Romans darin zu liegen, dass sie den kontrafaktischen Setzungscharakter, ja im Grunde den Ausfluchtcharakter der vom Autor präferierten idealistischen Lösung des Formproblems im modernen Erzählen klar einräumt. Mit seiner Diagnose der »transzendentalen Obdachlosigkeit« und des unaufhebbar kontingenten Status einer als »heterogenes Diskretum«, d. h. als disparate Mannigfaltigkeit, begriffenen modernen Wirklichkeit 71 hat der junge Lukäcs in der Tat Befunde formuliert, aus denen andere — und schlüssigere, der beschriebenen conditio moderna adäquatere — ästhetische Konsequenzen gezogen werden konnten und auch tatsächlich gezogen worden sind. Wie hier nur noch angedeutet werden kann, scheinen insbesondere viele der von metaphysischer Nostalgie durchdrungenen Konstellationen im mittleren und späten Erzählwerk Franz Kafkas nach einer solchen adäquaten Antwort der Literatur auf die (mit dem Schlagwort von der »transzendentalen Obdachlosigkeit« beschriebene) Orientierungs- und Ebd., S. 70. Ebd. 69 Ebd. ™ Ebd., S. 71. 71 »Die diskrete Struktur der Außenwelt beruht ja letzten Endes darauf, daß das Ideensystem der Wirklichkeit gegenüber nur eine regulative Macht hat. Das Nichthineindringen-Können der Ideen in das Innere der Wirklichkeit macht diese zum heterogenen Diskretum und schafft aus ebendemselben Verhältnis eine noch tiefere Bedürftigkeit der Wirklichkeitselemente nach betonter Beziehung zum Ideensystem als dies in der Welt Dantes der Fall war. Dort war jeder Erscheinung durch die Zuweisung ihres Ortes in der Wcltarchitektonik geradeso unmittelbar das Leben und der Sinn verliehen, wie diese in der homerischen Welt der Organik in jeder Lebensäußerung in vollendeter Immanenz gegenwärtig waren« (ebd., S. 69£). 67

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Kontingenzkrise der Moderne zu suchen, und zwar nach einer Antwort in einer eigenen, mit Reminiszenzen an die longue duree der abendländischen Sinnbestände gesättigten, zugleich aber deren Geltungsschwund mitreflektierenden und in eben dieser paradoxal gebrochenen und skeptisch reflektierten Traditionalität genuin modernen Formensprache. 72 Beispiele für die literarische Evokation vergessensbedrohter kanonischer Bestände, für die Inszenierung metaphysischer, kultureller, literarischer Amnesien und Nostalgien sind in Kafkas CEuvre Legion 73 — man denke an so prägnante Konfigurationen wie das Herumtappen Josef K.s in der Finsternis des unlesbar gewordenen Doms, die Unerfüllbarkeit der LandarztMission mit dem resigniert die Messgewänder zerzupfenden Pfarrer und dem in der Einsamkeit der Schneewüste steckenbleibenden, an seiner Heilaufgabe verzweifelten Doktor, das vergebliche Warten auf die erlösende Nachricht aus den Sinnpalästen der Vergangenheit, die kaiserliche »Botschaft eines Toten«, von der nur der vermeintliche Adressat in seiner hoffnungslosen nostalgischen Fixierung sich noch nicht zu lösen vermag: »Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt«. 74 Oder man denke an die skeptisch-ironische Epochendiagnose der Erzählung Oer neue Advokat, in deren sarkastischer Optik der Pluralismus der Moderne zum chaotisch dezentrierten, auf keinen Orient mehr ausgerichteten Schwertergefüchtel verkommt, während dem zum Dr. Bucephalus promovierten einstmaligen Schlachtross des Weltenlenkers Alexander nichts Besseres bleibt als der kontemplative Regress zur »stillen Lampe« und zu den »Seite [n] unserer alten Bücher« - all dies (beinahe ad libitum zu vermehrende) Figuren der bedrohten oder schon nicht mehr gelingenden Erinnerung an weggebrochene traditionelle Sinnbestände unter Bedingungen einer in Lukäcs' Sinn aufgefassten, aber nicht in seinem Sinn ästhetisch bearbeiteten >transzendentalen Obdachlosigkeit. Immer aber - und diese Dialektik darf beim späten Kafka nicht unterschlagen werden —, immer scheint das von der Drift des Vergessens Bedrohte in der erzählerischen Reminiszenz noch einmal auf, wird als bereits Abwesendes, als nicht mehr oder kaum noch Verfügbares, als Leerstelle sichtbar gemacht oder als Verlust erinnert.

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Die Kafka-Forschung hat diese Zusammenhänge lange Zeit vernachlässigt, beginnt ihnen in jüngerer Zeit jedoch die notwendige Aufmerksamkeit zu widmen. Vgl. exemplarisch die beiden Sammelbände: Claudia Liebrand, Franziska Schößicr (Hrsg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition. Würzburg 2004, sowie Manfred Engel, Dieter Lamping (Hrsg.): Franz Kafka und die Weltliteratur. Göttingen 2006. Vgl. dazu meine Skizze »... des grundlos Gewordenen müde«. Kafka und das Gedächtnis der Literatur. In: Journal of Regional Studies 7 (2003), deutsch/koreanisch, übers, ins Koreanische von Yeonjung Seou, S. 229-280. Franz Kafka: Eine kaiserliche Botschaft. In: Ders.: Gesammelte Werke. 12 Bde. Nach der kritischen Ausgabe hrsg. von Hans-Gerd Koch. Bd. 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt a. Main 3 2001, S. 221 f., hier S. 222.

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Avantgarde und longue duree

Noch in der Negation hält Kafkas literarisches Gedächtnis die Sinnpotentiale der Vergangenheit fest, verharrt im Dialog mit ihnen, schreibt ihre Erinnerungsspur f o r t . . . und findet in der Tat die erzählerischen Mittel zur Repräsentation dieser hoch dialektischen und paradoxen Konstellationen im Spannungsfeld von Tradierung und Amnesie, von longue duree und Avantgarde. Kafkas vierfache Prometheus-Variation von 1918 in ihrer komprimierten Rätselhaftigkeit fasst wie eine musikalische Stretta vieles von dem Gesagten zusammen. Lege artis wäre über den kurzen Text und über seine weltliterarischen Vermitdungen ausführlich zu reden (er wird umso vertrackter, je genauer man ihn studiert), aber an dieser Stelle mag er nur in literarischer Verdichtung einige Leitmotive noch einmal anschlagen, die im Mittelpunkt unserer kursorischen Überlegungen standen: die longue duree kanonischer grands reats und ihrer Überlieferung im Medium intertextueller Schreibstrategien, das Instabile und Gefährdete dieser Tradition, die zahlreichen Diskontinuitätsoptionen des Traditionsabbruchs, der Erschöpfung, des Zu-Ende-Kommens, des hermeneutischen Kältetodes der literarischen Memoria und in alledem zugleich die (hier wahrhaft avantgardistisch realisierte) paradoxe Möglichkeit, auch für solche Prozesse am Grenzwert der Tradierung noch einmal eine ihnen gemäße, ja die Überlieferung zeitgenössisch erneuernde und fortschreibende Sprache zu finden — in der Bildlichkeit von Kafkas poetologischer Parabel formuliert: eine Sprache der unerklärlichen Felsgebirge. Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären; da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden. Von Prometheus berichten vier Sagen. Nach der ersten wurde er weil er die Götter an die Menschen verraten hatte am Kaukasus festgeschmiedet und die Götter schickten Adler, die von seiner immer nachwachsenden Leber fraßen. Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen bis er mit ihm eins wurde. Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst. Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler. Die Wunde Schloß sich müde. Blieb das unerklärliche Felsgebirge.75

Franz Kafka: Oktavheft G. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass in der Fassung der Handschrift. Frankfurt a. Main 1994, S. 192f.

Rüdiger Görner

Sehen Lernen! Bemerkungen zum Manifest-Charakter der Moderne Auf dem Weg

neuem Sehen

Im programmatischen Gebot des >neuen Sehens< fand die — emphatische — Moderne ihr eigentliches Signum. Dieses Sehen war in der bildenden Kunst zunächst >impressionistisch< interpretierbar, womit ein Malen im Freien gemeint sein konnte wie bei Monet, Renoir, Whisder und Liebermann oder ein neues Sehen in (halbdunklen) Innenräumen wie bei Degas und Menzel. Es manifestierte sich jedoch auch, wie zu zeigen sein wird, poetisch und philosophisch. Modern sein verlangt Vorgriffe ins Ungewohnte bei gleichzeitigem Wissen um die Erfordernisse des Zeitgemäßen und der Traditionskontexte; deren Relativierung ist zumeist Bestandteil modernistischer Programmatik gewesen. Aus naturwissenschaftlicher Sicht hatte diesen Sachverhalt Emil du Bois-Reymond wie folgt ausgedrückt: »An irgendeinem Punkt der Entwicklung des Lebens auf Erden tritt etwas Neues, bis dahin Unerhörtes auf.« 1 Dieses >Unerhörte< könnte man einen qualitativen Bewusstseinssprung nennen, der ungeahnte Einsichten in die Natur, aber eben auch in die Natur der Kunst ermöglicht. (Man denke an das beinahe unablässige Experimentieren mit den Möglichkeiten der darstellenden Kunst bei Edgar Degas, ein Experimentieren, dessen Intensität zunahm, je schlechter er sehen konnte.) Mit dem Zeitgeist stiefverwandt, weist das Moderne über ihn hinaus oder zurück ins Vordenkliche, wo man gemeinhin Mythen ortet.2 So ist es etwa ein Spezifikum der angelsächsischen Moderne um 1920, dass sie sich primär von J. G. Frazers Mythenkompendium The Golden Bough (1890) her

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Emild du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens [1872], In: Ders.: Vorträge über Philosophie und Gesellschaft. Eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen hrsg. von Siegfried Wollgast. Hamburg 1974, S. 54-77, hier S. 65. Wegweisende Untersuchungen zu diesem Themenkreis in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.): Mythos und Moderne. Frankfurt a. Main 1983.

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schreibt, das wiederum seinen Titel von William Turners gleichnamiger Mythenschau von 1834 nahm, mit der die Moderne in der britischen Malerei einsetzte. 3 Das Moderne also spielt mit emanzipatorischem Avantgardismus und mythenschwangerer Regression, die sie zumindest in jener Zeit dynamisch auffasste. Das emphatisch vorgetragene Modern-sein-Wollen entspringt aber auch einer Angst davor, ins Hintertreffen zu geraten, sowie schlichtem Ungenügen an dem, was ist. Das Moderne will die obwaltenden Verhältnisse in ihren Aggregatzustand versetzen, und das verlangt die Dynamisierung des Selbst. 4 Dieser eruptive auf das Ich bezogene Vorgang lässt sich am Beispiel Rimbauds genau nachverfolgen. Bevor er am Ende seiner Saison en Enfer von sich (und von anderen) fordert, unbedingt >modern< zu werden (1873), hatte er diesen Schritt in Briefen vorbereitet und in einer Weise erläutert, die paradigmatisch für eine Ästhetik der Moderne — und nicht nur jener um 1900 — geworden ist. Rimbaud will sich auch zum Zwecke der Selbsterkenntnis sehend machen, die Sinne entregeln, mit einem Ich leben lernen, von dem er weiß, dass es ein Anderes und ein Anderer ist. Er fordert eine alles verbindende Sprache, die von synästhetischem Intellektualismus zeugt und einer Dichtung der besonderen Art zur Artikulation verhelfen soll: »La Poesie ne rhythmera plus Faction; eile sera en avant.« 5 Rimbaud argumentierte übrigens, dass die Emanzipation der Sprache von ihren Konventionen auch zu einer Emanzipation der Frau fuhren werde, wobei von ihr dann das Entscheidende zu erwarten sei: »La femme trouvera de l'inconnu!« 6 Damit implizierte er, dass die Sprache ideologische Weltbilder schaffe, die sich wiederum nur sprachlich verändern oder auflösen lassen. Der Imperativische Gestus ist unüberhörbar, wenn Rimbaud schreibt: »En attendant, demandons aux poetes du nouveau, — idees et formes.« 7 Was da an neuen Dicht- und Sichtweisen zu erwarten ist, deutet Rimbaud auch an: eine Überwindung der ersten und zweiten Schule der Romantik, repräsentiert von Lamartine und Hugo, die zwar ansatzweise neu zu sehen

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Vgl. dazu den instruktiven Artikel von Jonathan Jones: Modern Myths. In: The Guardian/ Saturday Review vom 10. Dezember 2005, S. 12f. Vgl. dazu u. a.: Gotthart Wunberg (Hrsg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. Main 1971; Rolf Grimminger, Jurij Murasov und J öm Stückrath (Hrsg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek 1995; sowie grundlegend: Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache - Ästhetik - Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. Arthur Rimbaud: Saison en Enfer [1873]. In: Dcrs.: Briefe und Dokumente. Hrsg. u. übers, von Curd Ochwaldt. Heidelberg 1961, S. 246. Ebd. Ebd.

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vermochten, aber von alten Formen und Betrachtungsweisen »erdrosselt« worden seien (»etrangle par la forme vieille«). In der Galerie der Formen und Aussageweisen gibt es in jeder Entwicklungsphase der Moderne einen letzten Raum, in dem jedes Bild einer Falle gleicht; und eine unbekannte Stimme sagt zum Künstler, der mehr sein will als nur ein Betrachter: Du musst nur deine Blickrichtung ändern und verweist ihn auf die Falle aller Fallen, den Blickfang namens Spiegel. Der Mensch als Künstler will neu werden, postuliert eine ungesehene Sichtweise und arbeitet an einer ihr adäquaten Aussageform. Indem er aber Imperativisch ein neues Sehen fordert, verlangt er gleichzeitig, dass andere so sehen sollen, wie er sieht. Ecce vates — seht welch' ein Sehender. Das aber heißt: Noch im neuen Sehen obsiegt die narzisstische Gebärde. Dass seit Vergil die Bezeichnung >vates< neben >Seher< auch >Sänger< und >DichterNeue< ergibt sich aus dem Interesse eines Intellektualismus an postulierten Unbefangenheiten oder, mit Chateaubriand gesagt, »vague des passions«. Baudelaire hatte den Ablösungsprozess der >modernite< als ein >transitoire< definiert, freilich als einen Ubergangsprozess in perpetua, einem Restbestand des romantisch Unendlichen. Die sich epochal begreifende Moderne rekurrierte auf das vermeintlich Naive meist nur noch in exaltierter Verspieltheit, wie Dada beweist, um den Preis einer Parodie traditioneller Sinn-Bilder. Die literarische Moderne, wie sie etwa der junge Rilke verstand, setzte darauf, das Geheimnis einer Sprache wiederzufinden, deren Elemente nicht mehr wie Treibgut an der Oberfläche eines toten Meeres namens >abgelebte Traditionen< schwimmen. Die neue Sprache sollte aus dem zweckhaften Gebrauch herausgelöst werden. Der Futurismus spricht dann in seinen Manifesten, Imperativisch natürlich, von der Notwendigkeit, die Worte zu befreien. Rilkes Beispiel zeigt darüber hinaus, dass ein Künstler in theoretischen Reflexionen über Kunst durchaus eine >avancierte< Position einnehmen kann, obwohl er sie in seinem eigenen (sprach-) schöpferischen Schaffen noch nicht erreicht hat. Rilke schreibt sich in Moderne l j y r i k eine Modernität vor, die er ansatzweise mit dem Stunden-Buch (1899) einzulösen begann. Doch erst in den Neuen Gedichten sollte es ihm gelingen, »die kleinsten Dinge täglichen Gebrauches [...] ganz unvermutet zu verwandeln«, wie er dies in seinem Vortrag von 1898 ausgedrückt hatte.38 Genuin Neues an Aussagen könne es nicht geben, so schon die Einsicht einer Romantik, die sich phasenweise selbst mit Moderne gleichsetzte, wenn die Wahrnehmungsweisen und Artikulationsformen nicht bislang ungewohnte Möglichkeiten erproben und durchspielen. Von paradigmatischer Bedeutung für diesen Zusammenhang ist, wie die einschlägige Forschung hinlänglich gezeigt hat39, E.T.A. Hoffmanns letzter Erzähltext Des Vetters Eckfenster (1822), dessen erzähltechnischer Ansatz von ungebrochener Aktualität ist. In ihm werden dem Phantastisch-Psychologischen abholden Seh- und Betrachtungsweisen von Wirklichkeit vorgeführt, die aus dem romantischen Empfindungskontext herausführen und bereits auf eine »neue Form des literarischen Realismus« verweisen.40 Manifest werden in Hoffmanns Erzählung nichts als simultane Beobachtungsformen, Wahrnehmungsmöglichkeiten des Urbanen Treibens auf dem Berliner 38 39

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Ebd., S. 86. Bereits bei Ulrich Stadler: Die Aussicht als Einblick. Zu Ε.'Γ.Λ. Hoffmanns später Erzählung >Des Vetters Eckfenstern In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 104 (1986), Nr. 5, S. 498-515. Gerhard Neumann: Ausblicke. Ε. T. A. Hoffmanns letzte Erzählung >Des Vetters Eckfenstern In: Ders. (Hrsg.): >Hoffmanneske GeschichtcAllozentrischenMittelpunkt< ist oder zu einem solchen erklärt wird, dann kann es keinen mehr geben. In: Die Zeit vom 23. Juni 2005, S. 49 (veröffentlicht unter dem Titel »Was soll der Roman?«). Matthias Politycki: Dies ist kein Manifest. Zu den Literaturdebatten des vergangenen Jahres. In: Die literarische Welt vom 31. Dezember 2005, S. 7. - Politycki betont, dass erst die Redaktion der Zeit den Text als Manifest vorgestellt habe: » [ . . . ] alles hätte über unserem Text

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ren, mit der die Verfasser des Aufrufs eine deutlich moralische Wertung verbinden. Eine neue Verantwortlichkeit des Schriftstellers wird eingeklagt: In-der-Welt-sein meine, sich allen, auch den politisch-sozialen Aspekten der Wirklichkeit zu stellen. Was sich hier manifestiert, ist ein neuer Ernst und ein Versuch, »die leere Mitte der Gesellschaft zurückzugewinnen«. Das bedeutet, »relevante Narration« sucht nicht nach neoavantgardistischen Extrempositionen, sondern nach Vermittlung zwischen Innen-und Außenwelten. Keine Zeitgeister sollen beschworen werden durch dieses Erzählen, keine »gegenwartsversessenen Lebensmitschriften« oder bloß »selbstrefernzielle Literatur« sei mehr gefragt, sondern eine neue Verbindlichkeit. Aber trotz der Zuwendung zur verwaisten Mitte der Gesellschaft beschreiben sich diese Autoren als Vertreter einer Narration, deren Ort »ein für unsere Gegenwart typischer Nicht-Ort« ist, »ein offener und immer neu zu beschreibender Zwischenraum«, ein Transitorium also. Was nun ist die Essenz dieses »Relevanten Realismus«? Stilistisch gesprochen: eine Gratwanderung zwischen dem, was als Erzählen aus der Mitte erlebten Lebens heraus seit je einzig angemessen, und dem was von der einstigen Avantgarde als Kunstfertigkeit übrig geblieben ist. Moralisch gesprochen: die beständige Sichtung unserer untergehenden Welt und das Ringen um neue Utopien. 44

Und dann das schon nicht mehr überraschende Eingeständnis: Vielleicht sollten wir uns dabei mit dem Gedanken anfreunden, wir ewig Linksliberalen, dass wir am Ende wertkonservativ denken müssen, um des grassierenden kulturellen Kannibalismus Herr zu werden. 45

Das Manifest, das keines sein will und doch der Ehrlichkeit halber zugeben sollte, dass es sich genau um ein solches handelt, schließt mit dem Wort »Unduldsamkeit«. Damit scheint nicht >Intoleranz< gemeint zu sein, sondern eine fundamentale Irritation, ein tief sitzendes Unbehagen, das Bekenntnis, sich nicht abfinden zu wollen mit dem Leben und Schaffen im Abseits; und somit meint >Unduldsamkeit< den Willen, sich nicht nur literarische, sondern auch gesellschaftliche Relevanz zu erschreiben. Andreas Maier und Juli Zeh, Vertreter eines antimanifestatorischen Schreibens, hielten dagegen, dass »Literatur beim Schreiben leider allzu oft das macht, was sie will« (Maier) und dass die Manifestatoren Moralität forderten, »ohne zu verraten, um welche Moral es sich dabei handeln soll«

44 45

stehen dürfen, nur nicht das anmaßende 68er-Wort »Manifest, das jede, wirklich jede damit verknüpfte Sache diskreditiert.« »Was soll der Roman?«, S. 49. Ebd.

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(Zeh).46 Zu konstatieren sei deren Wunsch, ein gewisses Wir-Gefühl zu entwickeln, was vielleicht nicht unbedingt der Qualität der Literatur zuträglich sei. Politycki hat inzwischen erläutert, was das >Moderne< an dieser neuen Schreibrichtung ist: E i n R e l e v a n t e r R e a l i s m u s , w i e ich ihn v e r s t e h e , hat hier u n d n u r hier seine W u r zel: in e i n e m S p r a c h g e f ü h l , das aus der Fülle seines M a t e r i a l s a u c h w i e d e r die Fülle der G e d a n k e n e r m ö g l i c h t ; das aus der u m f a s s e n d e n K e n n t n i s g r a m m a t i k a l i s c h e r S t r u k t u r e n u n s r e k o m p l i z i e r t e W i r k l i c h k e i t einzig a n g e m e s s e n inszeniert [.. ,]. 4 7

Das klingt nicht grundstürzend neu48, und man könnte danach zur belletristischen Tagesordnung übergehen, gäbe es nicht einen weiteren Text eines der Mitverfasser des Nichtmanifests zum »Relevanten Realismus«, der verdeutlicht, dass sich diese darin vorgetragenen Überlegungen zumindest in seinem Fall einem einschneidenden Erlebnis verdanken. Die Rede ist von Thomas Hettches Essay Die Moderne fällt ab von uns wie ein Traum.m In der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Moderne oder wohl angemessener gesagt: des modernistischen Impulses im literarischen Schaffen halte ich Hettches Essay für einen Schlüsseltext, weil er sichtbar macht, was sich hinter dem »Relevanten Realismus« zu verbergen scheint, nämlich ein recht angestrengt wirkender Versuch, dem Gespenstischen an der Wirklichkeit erzählend Herr zu werden. Und das Geisterhafte begegnete Hettche auf einer Reise durch Bosnien: Die Präsenz der Fernsehbilder vom Balkankrieg, die Brücke von Mostar, das ausgebombte Nationalmuseum am Rande der muslimischen Altstadt von Sarajevo. Der Traum der Moderne, ins Zwielicht der Wirklichkeit getaucht, scheint ausgeträumt. Hettche erscheint die Moderne in Bosnien nicht mehr als ein Artefakt: »Nichts ist surrealer als der Hinweis, dass alles auch anders sein könnte.« Mit dem Balkan-Krieg ging für seine Generation der Traum zu Ende, ein Leben in ironischer Instanz, zu der das Spiel mit Betroffenheiten gehörte, führen zu können. Wer sich nicht einbringt, Stellung bezieht, Standpunkte vertritt, handelt unverantwortlich. Doch wie steht es um die Voraussetzungen dieses Handelns? Hettche räumt ein: »Halb noch im Traum der Veränderbarkeit gefangen, halb mit 46 47 48

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Ebd., S. 50. Politycki: Dies ist kein Manifest. Zur Kritik am Manifest vgl. auch Walter Grond: Avantgarde schreiben kann jeder. In: Volltext 2 (2006), S. 21 f.; Grond spricht darin von der Tendenz der relevanten Realisten, zu denen er richtigerweise auch Ingo Schulzc und dessen fiktiv-epistolarischen Roman Neue Leben zählt, eine »mehrheitsfähige Ästhetik« zu entwickeln, was jedoch den Abschied vom eigentlichen Avantgardismus bedeutet, der sich ja gerade durch seine NichtMehrheitsfähigkeit auszeichnete. Thomas Hettche: Die Moderne fällt ab von uns wie ein Traum. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. September 2005, S. 44.

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dem schmerzlichen Erwachen beschäftigt und noch immer zögernd, ob es wirklich an der Zeit ist, zu handeln, ist meine Generation denkbar schlecht vorbereitet.« Dann folgt ein Satz, der jenseits aller Manifeste oder Modernen eine existentielle Befindlichkeit ausspricht: »Die zerbrechende Welt zerbricht zuerst uns«. Es ist ein Leitwort für jenen Zustand, den ich die Zeit des Fraktalen nenne, und die auf Moderne und Postmoderne nebst diversen Avantgarden zu folgen scheint, eine Zeit, in der selbst Standpunkte aus Brüchen bestehen. Dass die zweite Moderne (Ulrich Beck) ihre Unschuld im Balkankrieg verloren hat, ist eine These, die bekanntlich vor Hettche vehement und kontrovers Peter Handke vertreten hat. Auch der Zeitgeist ist ein Gespenst, das sich durch Imperativische Formeln aus dem Repertoire modernistischer Manifestationen nicht wirklich bannen lässt. So fällt ja auch am »Relevanten-Reaüsmus«-NichtManifest auf, dass es zwar Imperativisch auftritt, seine Modernität jedoch eher regresshaft definiert im zugegeben reichlich naiven Sinne von: Romane müssen wieder werden, was sie gewesen sind. Oder: Wie man wird, was man war. Und das alles nach dem Motto: Mit Neorealismus gegen die Auswüchse der Pseudoavantgarden. Was die de facto-Manifestatoren dabei übersehen: Dass sie damit die Stilparallelen der kategorial nicht mehr definierbaren Kunstgegenwart oder besser gesagt: ästhetischen Praxis keineswegs durchkreuzen, geschweige denn obsolet machen können. Sucht man nach einem sinnfälligen Symbol für den Stand der literarischen Dinge am Ausgang diversester Modernen, dann findet man es wohl in David Chipperfields Marbacher Literaturmuseum: Neoklassische, aber kantige Säulenzitate umzingeln die diversen literarischen Modernen, die das Innere birgt. Ein neues Miniaturparthenon ohne Fries, scheinfunktionalistischer Reduktionismus, der nichts manifestieren will außer einer Geste - einem Wink aus Stein aus der Vergangenheit ins Künftige. Was sich auch in diesem Literaturgebäude zeigt, ist, dass sich Rimbauds modernistischer Imperativ längst umgekehrt hat: Das Unbedingte ist nicht mehr modern. Die permanente Reflexion der Bedingtheiten erweist sich nicht nur als Schaffenskontext, sondern als Schaffensinhalt. Relevant ist nicht, was gefällt, sondern was fehlt. Im Überfluss den Mangel erkennen, in der Fülle den »einsamen Mttelpunkt im einsamen Kreis« wie Kleist vor Caspar David Friedrichs Seelandschaft oder gewisse Vettern in Berliner Eckfenstern, diese immer neu beschreibbaren Sehweisen bleiben Substanz einer verantwortbar erneuerungs fähigen Moderne, welche dabei ihren Epochencharakter nicht mehr zu verordnen, sondern wohl nur noch zu parodieren bereit ist.

Thomas Pekar Exotik und Moderne bei Hugo von Hofmannsthal Die Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen >Exotik und Moderne< könnte Befremden auslösen, werden doch hier zwei Begriffe zusammengestellt, die nicht so recht zusammenzupassen scheinen: >Exotik< wirkt als ein etwas antiquierter Begriff, den man eigentlich loswerden und überwinden möchte, bzw. von dem man glaubt, dass man ihn schon überwunden habe; während >Moderneklassische Moderne< doch allseits hochgeschätzt wird. Dass aber die Exotik — und ich möchte darunter primär den wie immer auch >verzerrten< Bezug auf Außereuropa, auf nicht-europäische Kulturen verstehen1 — für die Entstehung der europäischen Moderne von vielleicht sogar fundamentaler Bedeutung war, wird oft übersehen. In grundlegenden Werken zur Bestimmung der Moderne, etwa bei Hugo Friedrich in Hinsicht auf Lyrik2 oder bei Helmuth

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Vgl. zur Exotik-Diskussion u. a.: Anselm Maler: Der exotische Roman. Bürgerliche Gescllschaftsflucht und Gesellschaftskritik zwischen Romantik und Realismus. Stuttgart 1971; Wolfgang Reif: Zivilisationsflucht und literarische Wunschträume. Der exotistische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1975; Thomas Koebner, Gerhart Pickerodt (Hrsg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt a. Main 1987; Daniela Magill: Literarische Reisen in die exotische Fremde. Topoi der Darstellung von Eigen- und Fremdkultur. Frankfurt a. Main, Bern, New York, Paris 1989; Hans Christoph Buch: Die Nähe und die Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks. Frankfurt a. Main 1991; Wolfgang Kubin (Hrsg.): Mein Bild in deinem Auge. Exotismus und Moderne. Deutschland und China im 20. Jahrhundert. Darmstadt 1995; Monika Fludernik, Peter Haslinger und Stefan Kaufmann (Hrsg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg 2002; Hans-Peter Bayerdörfer, Eckhart Hellmuth (Hrsg.): Exotica. Konsum und Inszenierung des Fremden im 19. Jahrhundert. Münster 2003; Volker Zenk: Innere Forschungsreisen. Literarischer Exotismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Oldenburg 2003; Anne Drcesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung >exotischer< Menschen in Deutschland 1870 - 1940. Frankfurt a. Main, New York 2005; StefanieWolter: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums. Frankfurt a. Main 2005; Volker Mergenthaler: Völkerschau - Kannibalismus - Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897 - 1936). Tübingen 2006. Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts [1956]. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg 1985.

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Kiesel in Hinsicht auf die literarische Moderne überhaupt 3 , wird die deutschsprachige Moderne zwar durchaus in ihren >internaüonalen< Zusammenhängen gesehen 4 , doch ist diese >Internationalität< meistens und wesentlich allzu oft nur eine >europäischeChandosFremdartigeswunderbar< erlebt wird, zumindest aber eine bestimmte Faszination ausübt. Es war der Japan-Rei3

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Vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache — Ästhetik — Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. So lautet der erste Satz von Kiesels Buch: »Das vorliegende Buch rekonstruiert die Geschichte der literarischen Moderne im deutschsprachigen Raum — unter gebotener Berücksichtigung ihres internationalen Horizonts« (Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, S. 9). Vgl. ζ. B. »Gleichwohl ist zu beobachten, daß Literatur von Rang immer auch europäische Literatur ist —: auf europäischer Basis entsteht und im europäischen Rahmen wirkt« (Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, S. 35). Was hier als eine erweiterte Perspektive begriffen wird, wäre, von einem nicht-europäischen Standpunkt aus betrachtet, allerdings eine eingeschränkte. Altenberg schätzte die japanische Kunst und Afrika: Vgl. sein Buch Ashantee [1897]. Kine ausführliche Untersuchung der wesentlichen Bezüge Rilkes zur japanischen Kunst, vor allem zu Hokusai, die ihm oft durch französische Texte nahegcbracht wurde, ζ. B. durch Louis Gonse und Edmond de Goncourt, steht noch aus (vgl. hinführend: Thomas Pekar: Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext [1860 - 1920]. Reiseberichte - Literatur Kunst. München 2003, S. 258-262). Einstein fungierte vielleicht sogar als eine Schlüsselfigur für den exotischen Modernebezug, nahm er doch gleich zwei außereuropäische Kulturen auf, die afrikanische, mit seinem 1915 erschienenen Buch (mit dem heute politisch unkorrekten Titel) Negerplastik und die japanische mit dem Buch Der frühejapanische Holzschnitt [1923]. Vgl. seinen Roman Tropen (1915) oder seine Novelle Das Inselmädchen (1919) als ein Beispiel für Südsee-Exotik. Vgl. Charles Harrison: Modernism. London 1997, S. 45-95.

Exotik und Moderne bei Hugo von Hofmannsthal

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sende Engelbert Kaempfer (1651 - 1716), der dieses Wort mit dem Titel seines 1712 veröffentlichten Buches Amoenitates exoticae/Exotische Köstlichkeiten bekannt machte11, bei dem es sich um ein botanisches Werk handelt, vor allem über die japanische Pflanzenwelt. Kaempfer stellte hier u. a. den Ginkgo-Baum bzw. das Ginkgo-Blatt in Europa vor, welches ja durch seine besondere, zweigeteilte Form zum >Symbol< des geheimnisvollen Ostens< gemacht wurde — Goethe, natürlich!, ist hier gleich zu nennen, der den >geheimen Sinn< dieses Blattes aufspürte bzw. erfand und so zu diesem Bild vom gleichsam >auratischen< Osten beitrug.12 Die Exotik hat aber heute — ich wies gerade darauf hin — eine schlechte Presse: Sie wird zumeist als ein defizitäres und zu überwindendes Phänomen der Industrialisierungs- und Zivilisationsflucht, der Stereotypie, der Kompensation ungenügender eigener gesellschaftlicher Zustände und der Flucht davor, als Eskapsimus angesehen — oder gar als »epistemologischer Imperialismus« 13 ; fast harmlos dagegen sind noch Zuschreibungen wie: übersteigerte, hysterische Weise des Umgangs mit dem Fremden oder »interkulturelle Falschmünzerei«.14 Im Namen von objektiveren Erkenntnissen^5, >wissenschaftlicher Rationalität und >Verstehen< will man sich oft grundsätzlich von der Exotik distanzieren. Was dann übrig bleibt, ist allein »das Ende der Exotik« zu 11

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Vgl. Peter Gradenwitz: Musik zwischen Orient und Okzident. Eine Kulturgeschichte der Wechselbeziehungen. Wilhelmshaven 1977, S. 13f. Im Grimmschen Wörterbuch taucht >Exotik< oder auch >exotisch< als Stichwort nicht auf, wohl aber >exotisch< mit dem Nebensinn >wunderbarWunderticrenExotik< im heutigen Sinn in Wörterbüchern verzeichnet. »Dieses Baum's Blatt, der von Osten / Meinem Garten anvertraut, / Giebt geheimen Sinn zu kosten, / Wie's den Wissenden erbaut« (Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan [1819]. Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Katharina Mommsen und Peter Ludwig Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 11/1.2], München, Wien 1998, S. 71). So die Definition im Methler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie·. »Exotismus [...], eurozentrische Sonderform des von Europa ausgehenden epistemologischen Imperialismus [...]. Im engeren Sinn ein zumindest oberflächlich positiv besetztes Heterostereotyp als normatives Korrektiv von Fehlentwicklungen in der zumeist europ. Ausgangskultur, im weiteren Sinn jede imaginäre Überschreibung einer fremden Kultur« (Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 1998, S. 138). So wird der Exotismus im Vorwort eines voluminösen Kataloges zur Ausstellung Exotische Welten, die 1987 in Stuttgart veranstaltet wurde, bezeichnet (Herrmann Pollig: Exotische Welten. Europäische Phantasien. In: Exotische Welten. Europäische Phantasien. Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen und des Württembergischen Kunstvereins im Kunstgebäude am Schloßplatz. Stuttgart 1987, S. 16-25, hier S. 25). Obwohl Exotismus damit von vornherein negativ angesehen wird, machte diese Ausstellung (und macht dieser Katalog) meines Erachtens doch sehr deutlich sichtbar, welche wesentliche Bedeutung dieses Phänomen für die westliche Kultur hat. Vgl. Pollig: Exotische Welten.

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verkünden. 16 Diesem >schlechtenorientalistischen< Exotismus17 stellte man in einer gewissen >naiven< Zeit in den 1970er und 1980er Jahren einen >gutengelebten< Exotismus entgegen, der ζ. B. aus kulturellem Überläufertum< {going native)18 bestehen und der von der Illusion einer authentischen, d. h. unverstellten und unvoreingenommenen Form der Fremderfahrung oder der >Parteinahme< für die Unterdrückten und gegen die >Kolonialherrschaft< bzw. ihre postkoloniale Formen bestimmt sein sollte.19 Ich halte diese beiden Betrachtungsweisen, die >schlecht-heterostereotype< wie die >gut-parteiliche< Exotik, für unzureichend, da sie sich beide ausschließlich auf die wahrgenommene bzw. wahrzunehmende Kultur beziehen, sei es, dass man sie >exotistisch< verzerrt nicht erkennt, sei es, dass man >solidarisch< in sie hineinschmelzen will. Nicht aber rekurrieren diese Betrachtungsweisen auf die wahrnehmende Kultur selbst. Exotik wäre, so meine ich, weniger — um es vereinfacht im Jargon der >interkulturellen Germanistik< zu sagen — eine jfeffdkulturelle als vielmehr eine ^»kulturelle Angelegenheit, ja wäre vielleicht sogar etwas, was jenseits dieser Dichotomie von >fremd< und >eigen< angesiedelt werden könnte. Aber selbst wenn man zunächst einmal noch diese dichotome Betrachtungsweise zugrunde legt, man also die Exotik unter dieser eigen-kulturellen Perspektive betrachtet, dann ist hier eine Reihe positiver Leistungen für die eigene Kultur festzustellen, die diese Defizit-Definitionen von Exotik nicht erfassen: Positive Leistungen ζ. B. bei der Entdeckung neuer Erfahrungsräume, neuer künsderischer Motive oder der Entwicklung neuer Kunstformen, so verzerrt in ihnen auch die andere >exotische< bzw. >exotisch gemachteexotisierte< Kultur in den Blick kommen mag. Unter >Exotismus< wären, so positiv gewendet, bewußt eingesetzte >künstierische< Verfahren zu verstehen, um etwas >exotisch