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German Pages 318 Year 2021
Ulrike Mascher Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft | Band 20
Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.
Ulrike Mascher (Dr. phil.), geb. 1984, studierte Germanistik und Anglistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie an der University of St Andrews. Sie promovierte an der Eberhard Karls Universität Tübingen im Rahmen des Projekts »Überschneidungen und Abgrenzungen in Raum und Zeit. Der literarische Diskurs der Prager Moderne(n)« im Fach Internationale Literaturen.
Ulrike Mascher
Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n) Literarische Identitätsdiskurse im urbanen Raum
Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5586-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5586-9 https://doi.org/10.14361/9783839455869 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Danksagung .............................................................................. 9 Vorwort .................................................................................. 11 I. 1. 2. 3.
Einleitung Vorbemerkungen ....................................................................13 Forschungsperspektive Stadt. Das Urbane in der Literatur ............................ 21 Forschungsperspektive Interkulturalität. Ab- und Entgrenzungen in der Literatur ..... 24 Forschungsperspektive Raumtheorien. Erzählte Räume in der Literatur .............. 29
II.
Eine vergleichende Betrachtung zur Einführung: Franz Werfel Das Trauerhaus (1927), Max Brod Weiberwirtschaft (1913), Richard Weiner Rovnováha [Gleichgewicht] (1914) Vorbemerkungen ................................................................... 33 1. Franz Werfel Das Trauerhaus (1927) ................................................. 34 2. Max Brod Weiberwirtschaft (1913) .................................................... 37 3. Richard Weiner Rovnováha [Gleichgewicht] (1914)..................................... 40 Resümee................................................................................. 43 III.
Prag als Ort der Krise(n): Paul Leppin Severins Gang in die Finsternis (1914) Vorbemerkungen ................................................................... 45 1. Prag als ›tote‹ Stadt ................................................................ 50 2. Prag als ›weibliche‹ Stadt .......................................................... 56 2.1 Zdenka oder das bürgerliche Prag............................................ 56 2.2 Karla oder zwischen Bürgertum und Bohème ................................. 63 2.3 Susanna & Lazarus Kain oder das jüdische Prag .............................. 65 2.4 Regina oder die Krise der Religion............................................ 67 2.5 Mylada oder die Krise der Männlichkeit ........................................ 71 Resümee................................................................................. 75
IV.
Prag im Kontext der Décadence: Paul Leppins Severins Gang in die Finsternis und Jiří Karásek ze Lvovics Gotická duše [Die gotische Seele] (19OO) in komparatistischer Perspektive Vorbemerkungen .................................................................... 81 1. Severins Gang in die Finsternis und Gotická duše als Werke einer ›Prager Décadence‹ ................................................ 83 2. Die Stadt zwischen Gestern und Morgen ............................................. 88 3. Künstliches Leben, lebendige Kunst? ................................................ 95 4. Die doppelte Stadt. Duale Raumsemantiken ......................................... 98 Resümee................................................................................ 104 V.
Prag als Ort der tschechischen Geschichte: Miloš Marten Nad městem [Über der Stadt] (1917) Vorbemerkungen .................................................................. 109 1. »Über der Stadt«. Die Stadt aus der Vogelperspektive ............................... 116 1.1 Michals Blick auf Prag. Die unzugängliche Stadt .............................. 121 1.2 Allans Blick auf Prag. Die kosmopolitische Stadt ............................. 123 2. Spor o smysl českých dějin [Der Streit um die Bedeutung der tschechischen Geschichte]......................... 125 3. Prag als historischer Raum ......................................................... 131 4. Prag als ästhetischer Raum ........................................................ 134 5. Prag als religiöser Raum ........................................................... 140 Resümee................................................................................ 144 VI.
Prag als neue Hauptstadt: F. C. Weiskopf Das Slawenlied (1931) und Richard Weiner Třásničky dějinných dnů [Fragmente historischer Tage] (1918/1919) Vorbemerkungen ...................................................................147 1. Das Slawenlied als »Roman aus den letzten Tagen Österreichs«..................... 153 2. Prag am 28. Oktober 1918 ...........................................................157 2.1 Wege durch die Stadt ...................................................... 158 2.2 Zentrum und Peripherie..................................................... 160 2.3 Der Wenzelsplatz als Brennpunkt ............................................ 169 2.4 Die Kleinseite vorher und nachher........................................... 173 2.5 Kollektive Identitäten im neuen Staat ....................................... 178 2.6 Denkmäler als Erinnerungsorte .............................................. 181 Resümee................................................................................ 188
VII. Figurationen des Jüdischen: Stadttext und Selbstbild in Hermann Grabs Der Stadtpark (1935) Vorbemerkungen ................................................................... 191 1. Der Autor Hermann Grab .......................................................... 198 2. Schreiben aus der Außenseiterposition. Der Stadtpark vor dem Hintergrund des Proust-Vortrags ............................ 202 3. Die Verortung Prags im Stadtpark ...................................................210 4. Interkulturelle Spuren ..............................................................215 Resümee................................................................................ 222 VIII. Polyphones Panorama der modernen Großstadt: Marie Majerová Přehrada [Die Talsperre] (1932) Vorbemerkungen .................................................................. 227 1. Das Panorama der Großstadt zwischen sozialistischer Utopie und modernistischen Darstellungsformen .......................................... 232 1.1 Die Transformation des Raumes oder der Weg zur Moderne ................. 233 1.2 Poetologische Reflexionen I. Das Schreiben, der Dichter und der Ort ......... 237 2. Der Fluss als (räumliches) Strukturprinzip .......................................... 244 3. Die Kunst der Moderne im Spannungsfeld von Natur und Technik ................... 252 3.1 Exkurs. Zur stalinistischen »Wasserkultur«.................................. 260 3.2 Poetologische Reflexionen II. Das Ringen um eine neue Kunst ............... 261 Resümee................................................................................. 271 IX. 1. 2. 3.
Schluss ........................................................................... 273 Rückblick ......................................................................... 273 Franz Kafkas Eine Kreuzung (1917) im Kontext von ›Stadttexten und Selbstbildern‹ ... 281 Ausblick........................................................................... 288
X. 1. 2.
Literaturverzeichnis ...............................................................291 Literatur ...........................................................................291 Abbildungen ....................................................................... 315
Danksagung
Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2019/20 von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen angenommen und im Mai 2020 verteidigt wurde. Die Arbeit entstand maßgeblich im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts Überschneidungen und Abgrenzungen in Raum und Zeit. Der literarische Diskurs der Prager Moderne(n), das von 2015 bis 2018 am Slavischen Seminar der Universität Tübingen angesiedelt war. Die DFG sowie der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds gewährten außerdem dankenswerterweise finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung. An dieser Stelle möchte ich all denjenigen danken, die zur Entstehung dieser Studie beigetragen haben. Zuallererst gilt mein herzlicher Dank meiner Doktormutter Prof. Dr. Irina Wutsdorff für die hervorragende Betreuung und die wertvolle fachliche und persönliche Begleitung auf diesem Weg. Meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Manfred Weinberg danke ich für anregende Kritik ebenso wie für die freundliche Aufnahme während meines Forschungssemesters an der Prager KarlsUniversität. Ihm sowie den Herausgeber*innen gebührt mein Dank für die Aufnahme in die vorliegende Reihe. Ich danke außerdem den Teilnehmer*innen der Kolloquien in Tübingen und Prag für kluge und kritische Diskussionen. Darüber hinaus erinnere ich mich mit Dankbarkeit an Prof. Dr. Norbert Gabriel (†), der 2010 meine Magisterarbeit an der Universität Bonn betreut und mich schon damals zu einer Dissertation ermutigt hat. Unerschöpflicher Dank gilt meinen Freund*innen in Bonn, Prag, Frankfurt, Jena und darüber hinaus für Rückendeckung, Aufmunterung, für Klartext an den richtigen Stellen und offene Ohren. Bei meiner Patentante und meinem Onkel möchte ich mich herzlich bedanken für die moralische und finanzielle Unterstützung dieses Buches. Meinen Eltern und meinen beiden Schwestern sage ich von Herzen Danke dafür, dass sie mir stets ›Stab und Stütze‹ sind, so auch bei der Arbeit an diesem Buch. Meiner Mutter danke ich für das mehrmalige überaus gründliche Korrekturlesen der Übersetzungen aus dem Tschechischen (děkují, maminko!). Meinem Mann danke ich für alles – und noch viel mehr.
Vorwort
Im Mai 2019 las ich einen Call for Papers, der mich neugierig machte. Darin formulierten die Initiator*innen der »Konferenz zur Gründung der Geisteswissenschaften der Leidenschaften – Ein Neuanfang« folgenden programmatischen Aufruf: Es bedarf neuer und kreativer Herangehensweisen, einer Öffnung der akademischen Kommunikationsformen hin zu einer breiteren Öffentlichkeit, kreativer und künstlerischer Formate und vor allem des Muts zu konstruieren und zu spekulieren, auch auf die Gefahr hin, sich zu verirren. (Call for Papers »Geisteswissenschaften der Leidenschaften«)1 Ohne Zweifel bedarf es einer gewissen Leidenschaft, sich über eine verhältnismäßig lange Zeit hinweg intensiv mit einem Thema auseinanderzusetzen, wie es beim Abfassen einer Dissertation der Fall ist. Darüber hinaus habe ich mir aber auch die Frage gestellt, ob meine Doktorarbeit Relevanz für eine »breitere Öffentlichkeit« haben kann und worin diese bestehen könnte. Gibt es über die akademische Welt hinaus einen größeren Zusammenhang, für den eine Arbeit wie die vorliegende von Interesse sein kann? Oder anders formuliert: Was hat meine Arbeit der (auch nichtwissenschaftlichen) Öffentlichkeit zu sagen? Der Beginn meiner Dissertation fiel in die Zeit der sogenannten »Flüchtlingskrise« 2015, die von leidenschaftlich, aber auch erbittert und aggressiv geführten Debatten um Migration, Integration und kulturelle Identität(en) begleitet wurde und wird. Und wie in der klassischen Moderne sind es die Städte, in denen sich gesellschaftliche Entwicklungen am deutlichsten zeigen. So offenbart sich besonders in den Großstädten die Vielfalt einer Einwanderungsgesellschaft: Wie eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes zeigte, hatten im Jahr 2017 23,6 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen eine Migrationsgeschichte, d. h. fast jede vierte in Deutschland lebende Person.2 Bei den Kindern unter fünf Jahren waren es sogar 39,1 Prozent. Daraus wird ersichtlich, dass der Anteil an Menschen mit 1 2
https://networks.h-net.org/node/79435/discussions/4124549/konferenz-zur-gr %C3 %BCndun g-der-geisteswissenschaften-der, zuletzt geprüft am 15.10.2020. www.bpb.de/wissen/NY3SWU,0,0,Bev %F6lkerung_mit_Migrationshintergrund_I.html, zuletzt geprüft am 15.10.2020.
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
Migrationserfahrung in den nächsten Jahren weiter steigen wird. 59,9 Prozent der Menschen mit Migrationserfahrung lebten 2017 in städtischen Regionen. »Stadt ist Migration« (Yıldız 2011), hat es der Soziologe Erol Yıldız auf den Punkt gebracht. Um zum Thema dieser Arbeit zurückzukommen: Ganz davon abgesehen, dass das plurikulturelle Prag der Jahrhundertwende ein faszinierender Forschungsgegenstand ist, meine ich, dass der Blick auf diesen Stadtraum und seine Akteur*innen ebenso wie die Art und Weise, auf die Stadt im Medium der Literatur erfahrbar gemacht wird, Anknüpfungspunkte zu den dringenden Fragen unserer Zeit birgt. Zuvorderst steht die Erkenntnis, dass das was wir gemeinhin (kulturelle) ›Identität‹ nennen, weder gegeben noch eine statische Größe ist: »Identität als relationaler Begriff (etwas kann nur identisch mit etwas sein) impliziert, dass sich das Bezeichnete innerhalb eines Beziehungsgeflechts situiert« (Glomb 2013: 324). Das heißt, dass Identität verstanden werden muss als ständiger Prozess der Konstruktion von (Selbst- und Fremd-)Bildern Einzelner sowie von Gruppen. Diese Bilder entstehen und zirkulieren erstens innerhalb einer Gesellschaft und zweitens im Angesicht einer Vielzahl konkurrierender Sinnsysteme, wie sie religiöse, sprachliche, kulturelle, nationale, soziale oder politische Weltbilder darstellen. Der Blick auf die Prager Literatur der Moderne, und zwar dezidiert als einer Literatur in zwei Sprachen, kann in meinen Augen dabei helfen, (vor allem sprachlich verfasste) Verfahren zur Herstellung von Identität bzw. Differenz und Strategien, die auf Zugehörigkeit bzw. Abgrenzung abzielen, näher zu beleuchten. Wenn es der vorliegenden Arbeit gelingt, den Blick für diese Prozesse zu schärfen und eine gewisse Ambiguitätstoleranz3 zu fördern, und zwar als Gegenentwurf zum ›Schwarz-Weiß-Denken‹, das von Populist*innen – immer wieder und leider allzu erfolgreich – propagiert wird, wäre mein Beitrag zu einer »Literaturwissenschaft der Leidenschaften« geglückt. Gerade in ihrer Polyperspektivität, in ihrer Mehrdeutigkeit und eben in ihrer hohen Ambiguitätstoleranz liegt die Stärke der Literatur, die dadurch jeder reduzierenden Rhetorik eine Absage erteilen kann. In den Texten der Autor*innen, die untersucht werden, zeigen sich unterschiedliche Perspektiven auf den plurikulturellen Prager Stadtraum der Moderne. Somit spiegelt diese Arbeit in gewisser Weise die Vielfalt Prags wider – eine Vielfalt, die auch unsere heutigen Städte ausmacht. Oder um es mit dem Motto der Interkulturellen Woche 2016 zu sagen: »Vielfalt. Das Beste gegen Einfalt.«4
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Der von der Psychoanalytikerin und Psychologin Else Frenkel-Brunswik 1949 als Persönlichkeitsmerkmal eingeführte Begriff bezeichnet in der Psychologie die Fähigkeit, »Vieldeutigkeit und Unsicherheit zur Kenntnis nehmen und ertragen [zu] können« (Wirtz 2016: 31). www.interkulturellewoche.de/gemeinsames_wort/2016, zuletzt geprüft am 15.10.2020.
I. Einleitung Vorbemerkungen Was spielt sich heute im Bezirk dieser Sprache [der tschechischen, U.M.] ab, die so kraftvoll und weich zugleich ist? Als ich vor einigen Jahren nach Prag kam, war das Erste, was mir einen Eindruck davon vermittelte: die Buchhandlungen. Welche Mannigfaltigkeit! Welch breiter Strom geistiger Produktivität! Hier spiegelt sich die Situation Prags, Brennpunkt und Mittelpunkt vieler geistiger Kraftfelder zu sein. Es gibt tschechische Buchhandlungen, deutsche – und kosmopolitische, die derart international sind, daß ihre Auslage wie eine Musterkarte der Gegenwartsliteratur und Publizistik anmutet. Zauberisch sind solche Fenster, man blickt durch sie in das geistige Leben einer Stadt, und sieht wie hier Einflüsse von allen Seiten zusammenströmen. (Warschauer 1937: 18) In diesem Auszug aus Prag heute (1937), einem Essayband, der u. a. Texte von Pavel/Paul Eisner, Willy Haas und Otokar Fischer versammelt, schildert der Journalist Frank Warschauer aus der Rückschau seine ersten Eindrücke von Prag, wohin er 1933 nach dem Berliner Reichstagsbrand kam. Es sind die Buchhandlungen, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen; als Räume der Literatur innerhalb der Stadt spiegeln sie für ihn den bilingualen bzw. plurikulturellen Charakter Prags wider.1 Zugleich verweist Warschauer in der kurzen Textpassage auf ein Repertoire von Stadtbildern, die bis in die heutige Zeit hinein unser Bild von Prag prägen: Prag
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Vgl. hierzu weiterführend eine Studie von Štěpán Zbytovský, in der er aufzeigt, wie Warschauer (ebenso wie die weiteren Autorinnen und Autoren des Bandes) Prag als eine »Stadt der produktiven Vielfalt« (Zbytovský 2018: 336f.) modelliert, »die schon in ihrem urbanen Grundriss stete Aufhebung kultureller Grenzziehungen anregt – gleich ob politischer, künstlerischer oder nationaler Natur – eine Stadt, die schon in ihrer Urbanität inter- und ›unter-›kulturell ist« (a.a.O.: 338).
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
als Literaturstadt2 , als plurikulturelle und multilinguale Stadt3 und als magische Stadt.4 In Bezug auf Städtebilder kommt der Literatur eine Schlüsselrolle zu, wie der Soziologe und Volkskundler Rolf Lindner bemerkt hat: »Writers and/or literary genres play an essential part in the development and consolidation of the image of a particular city« (Lindner 2016: 116). Damit sind die für die vorliegende Arbeit maßgeblichen Themenkomplexe und ihre Verschränkungen benannt: Die Arbeit untersucht literarische Prosatexte der deutsch- und tschechischsprachigen Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts im Hinblick auf die in ihnen vermittelten Pragbilder und setzt diese in Beziehung zu Identitätsdiskursen innerhalb des städtischen (Text-)Raumes. Die zunehmende Funktionalisierung des urbanen Raumes, die Massenerfahrungen und die rasante Veränderung städtischen Lebens um die Jahrhundertwende lassen die »Krise des 2
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Prag ist in dieser Hinsicht natürlich vor allem verbunden mit dem Autor Franz Kafka, wie die kaum mehr zu überblickende Zahl von (wissenschaftlichen) Publikationen belegt. Aber auch auf ganz andere Weise schlägt sich die Verbindung zwischen Kafka und Prag nieder, nämlich in dem von der Tourismus-Industrie wirkmächtig eingesetzten Konterfei Franz Kafkas auf T-Shirts, Tassen und sonstigen Souvenirs, dem man im Zentrum Prags auf Schritt und Tritt begegnet. Vgl. z. B. Prag. Einst Stadt der Tschechen, Deutschen und Juden (Gruša/Kriseová/Pithart 1993), Tripolis Praga (Schmitz/Udolph 2001), Praha – Prag. Literaturstadt zweier Sprachen (Becher/Knechtel 2010), Praha – Prag. Literaturstadt zweier Sprachen, vieler Mittler (Džambo 2010). Vgl. v. a. Ripellino (1982): Magisches Prag. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos vom magischen Prag findet sich in Peter Demetz’ Aufsatz »Die Legende vom magischen Prag« (Demetz 1996), in dem er sich auf Karel Krejčís Studie Praha legend a skutečnosti (1967) beruft, der in seiner Untersuchung – im Gegensatz zu anderen Autoren – nicht dem Mythos vom ›phantastischen‹ Prag anheimfalle und dadurch ein facettenreicheres Pragbild liefere. Vgl. außerdem die Bedeutung der »magic city« für die Poetisten, wie sie in einem Aufsatz von Karel Teige zum Ausdruck kommt: »Je úkolem moderního umění, úkolem poetismu, vybudovat velikolepý lunapark. Zřídit uprostřed moderních velkoměst, měst práce a výroby, velikolepé zábavní podniky, zázračné magic-city. Magic-city poetismu, jež byla by odlišná od obdobných podniků starého světa právě svým novým duchem. […] V městech zbudovaných konstruktivisty nechť zřídí poetisté kouzelné magic-city, magické město nové poezie, která jásá radostí a nečpí alizarinem.« (Teige 1971 [1924]: 585f.; Hervorhebungen im Original) [Es ist die Aufgabe moderner Kunst, die Aufgabe des Poetismus, einen spektakulären Vergnügungspark zu schaffen. Inmitten der modernen Großstädte, der Städte der Arbeit und der Produktion spektakuläre Lunaparks, wunderbare Magic-Citys zu errichten. Die Magic-Citys des Poetismus, die so anders wären als ähnliche Anlagen der alten Welt gerade durch ihren neuen Geist. […] In den Städten, die von Konstruktivisten gebaut sind, mögen die Poetisten zauberhafte Magic-Citys errichten, die magische Stadt einer neuen Poesie, die die Freude bejubelt und nicht nach Alizarin stinkt. (Meine Übersetzung, U.M.)]. Anja Tippner setzt sich in ihrer Monographie Die permanente Avantgarde. Surrealismus in Prag mit dem Topos des magischen Prags bei den Surrealisten auseinander und nennt Guillaume Apollinaires Le passant de Prague als Initialtext (vgl. Tippner 2009: bes. 151-169).
I. Einleitung
Subjekts« (Ajouri 2010: 16) virulent und Fragen nach einem Platz innerhalb der modernen Großstadt immer drängender werden. So sind in der literarischen Auseinandersetzung mit der modernen Metropole Stadterfahrung und Identitätsdiskurse untrennbar miteinander verflochten. Dies gilt in besonderem Maße für Prag, insofern es sich hier um einen mehrsprachigen, plurikulturellen urbanen Raum handelt, in dem diverse individuelle und kollektive Identitätsangebote neben- und gegeneinanderstehen. Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Arbeit Texte, die zwischen 1900 und 1935 entstanden sind, auf ihre jeweiligen raumsemantischen Entwürfe hin und analysiert, wie die Stadt Prag bzw. die Stadt-Imago Prags in ihnen modelliert und zu individuellen oder kollektiven Identitätsentwürfen ins Verhältnis gesetzt wird. Es geht also zunächst um eine Rekonstruktion der prägenden zeitgenössischen Identitätsdiskurse in ihrer Anbindung an konkrete Orte im Stadtbild (an Gebäude, Denkmäler, Ehrenmäler, einzelne Stadtviertel), um in einem zweiten Schritt zu untersuchen, wie literarische Texte diese Codierungen des öffentlichen Raums weiterschreiben, umschreiben, neu schreiben oder in Frage stellen. Die vorliegende Arbeit verortet sich dabei im Kontext einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft, insofern ihr ein »Verständnis der Textvermitteltheit von Kulturen ebenso wie von kulturellen Implikationen literarischer Texte« (Bachmann-Medick 2004: 25) zugrunde liegt. Das bedeutet, dass bei der Analyse einzelner Texte auch die Betrachtung der Diskurszusammenhänge, innerhalb derer sie stehen, eine entscheidende Rolle spielt. Vor allem aber wird ein komparatistischer Standpunkt eingenommen. Dadurch soll ein weiterer Beitrag dazu geleistet werden, die bestehende Lücke einer gleichgewichtigen Betrachtung der deutsch- und tschechischsprachigen Literatur aus und über Prag zu schließen. »Eine absolute Scheidewand trennt Tschechen und Deutsche […] Das ganze soziale Leben ist hier völlig durchsetzt von Politik« (Jodl 1920: 117-119), so schreibt der Philosoph und Psychologe Friedrich Jodl während seiner Zeit als Professor an der Prager Karls-Universität um die Jahrhundertwende – und es scheint, als hätten sich die sog. Nationalphilologien bis heute weitgehend daran gehalten, und so das von Pavel/Paul Eisner (Eisner 1933) und später Eduard Goldstücker (Goldstücker 1967) – hier nur für die Prager deutschsprachige Literatur – konstatierte ›dreifache Ghetto‹5 weiter aufrechterhalten. In der umfangreichen Forschung zur Prager deutschsprachigen Literatur wurde
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Die These vom ›dreifachen Ghetto‹, die sich zum Teil bis in jüngste Zeit hartnäckig gehalten hat (vgl. Sudhoff/Schardt 1992: 9) besagt, die Prager deutschen Autoren hätten in einer dreifachen Isolation – nämlich als Juden unter Christen, als Deutsche unter Tschechen und als sozial Höhergestellte unter niedriger Gestellten – gelebt. Mittlerweile finden sich kritische Auseinandersetzungen mit bzw. überzeugende Widerlegungen dieser These, so zuletzt bei Manfred Weinberg 2017a und 2017b.
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eine komparatistische Lesart der Prager Moderne(n) bisher lediglich in Ansätzen unternommen und auch in der Bohemistik wird die tschechischsprachige Prag-Literatur allzu oft isoliert betrachtet.6 Dabei kann nur die Zusammenschau der deutschsprachigen und tschechischsprachigen Literatur Prags – ohne eine künstliche »Scheidewand« – zu soliden Erkenntnissen führen. Die historischen Forschungen im Sinne einer histoire croissée von Kateřina Čapková (2005) und Ines Koeltzsch (2012) haben deutlich gezeigt, dass die These von einer Abgeschlossenheit der deutschen von der tschechischen Sphäre und umgekehrt nicht länger aufrechtzuerhalten ist. Stattdessen formuliert etwa Ines Koeltzsch in ihrer Monographie den Anspruch, ein »differenziertes multiperspektivisches Bild des tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungsgeflechts« (Koeltzsch 2012: 4) Prags aufzuzeigen und arbeitet die Vielfalt kontext- und situationsabhängiger sprachlicher, nationaler und kultureller Identitätskonstruktionen und Zugehörigkeiten von Pragerinnen und Pragern7 heraus. Ein Unterkapitel ihrer Studie widmet sie dabei den jüdischen Vermittlern und ihren zugespitzten »Erfahrungen der Ambivalenz«. Sie ließen sich »kaum einem einzigen Identitätskonzept zuordnen, da sie abhängig von ihrer konkreten Lebenssituation und den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verschiedene, parallele oder zeitlich versetzte Erfahrungen mit ihrem ›Jüdischsein‹ machten« (a.a.O.: 199). Beredtes Zeugnis von der Verflechtung unterschiedlicher Identifikationsprozesse und Selbstbilder innerhalb des Stadtraums legt auch der Philosoph Vilém Flusser in seiner Autobiographie ab: Eigenartig […] war das Problem der Selbstidentifizierung. Selbstredend, man war Prager, das stand nicht in Frage. Es war der Boden, auf dem sich alle anderen Fragen stellten. Aber war man als Prager Tscheche, Deutscher oder Jude? War man überhaupt berechtigt, die jüdische Dimension mit den beiden anderen auf dieselbe Linie zu stellen? Mußte man sich zwischen diesen Alternativen entscheiden, oder waren sie irgendwie gegeben? (Flusser 1992: 15f.)
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Ein jüngeres Beispiel für eine solche isolierte Betrachtung, in diesem Falle der deutschsprachigen Literatur, wäre etwa die Dissertation von Kristina Lahl (2014). Auf durchaus überzeugende und wohlinformierte Weise untersucht sie Das Individuum im transkulturellen Raum: Identitätsentwürfe in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens 1918-1938, so der Titel ihrer Arbeit. Dabei bleibt sie allerdings auf ein deutschsprachiges Literatur-Korpus beschränkt. Demgegenüber wirft die Bohemistin Nora Schmidt in ihrer Dissertation Flanerie in der tschechischen Literatur (2017), anders als es der Titel vermuten lässt, auch einige interessante Seitenblicke auf die deutschsprachige Literatur aus und über Prag. In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten sind dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die getroffene Aussage relevant ist.
I. Einleitung
Die vorliegende Arbeit kann darüber hinaus zurückgreifen auf Arbeiten, die im Umfeld des Forschungsverbunds Prag als Knotenpunkt europäischer Moderne(n), des Forschungsschwerpunkts Prager Moderne(n) an der Universität Tübingen sowie der an der Prager Germanistik angesiedelten Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur entstanden sind.8 Ausgehend von der klaren Absage an eine separate, notwendigerweise einseitige Betrachtung der deutschsprachigen bzw. tschechischsprachigen Literatur Prags wird die Stadt als ein »von Mit- wie Gegeneinander geprägte[s] Ineinander beider Kulturen« (Weinberg/Wutsdorff/Zbytovský: 14) aufgefasst. In Anbetracht dessen wird »nach Prozessen der Ausdifferenzierung unterschiedlicher literarischer Traditionen (in produktions- wie rezeptionsgeschichtlicher Perspektive) sowie nach der Herausbildung, Selbst- und Fremdpositionierung sowie Interaktion von unterschiedlichen Kommunikations- und Identitätsgemeinschaften in einer Stadt« (a.a.O.: 11) gefragt. Darüber hinaus ist die Frage nicht nur, wie der urbane Raum Identitätsentwürfe prägt, sondern auch, ob und wie die untersuchten Texte ihrerseits wiederum einen Beitrag zur Entstehung eines literarischen Prager Stadttextes liefern. Dem Sozialanthropologen Ulf Hannerz folgend, der bereits 1980 eine »anthropology of the city« (Hannerz 1980)9 forderte, um der Einzigartigkeit einer Stadt und ihrer 8
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Weitere Informationen zu den genannten Forschungsstellen unter: https://kurt-krolop.ff. cuni.cz/; https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/philosophische-fakultaet/fachbereiche/neup hilologie/slavisches-seminar/institut/mitarbeitende/irina-wutsdorff/forschungsschwerpun kt-prager-modernen/, zuletzt geprüft am 15.10.2020. Ebenfalls an der Tübinger Slavistik war von 2015 bis 2018 das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt »Überschneidungen und Abgrenzungen in Raum und Zeit. Der literarische Diskurs der Prager Moderne(n)« angesiedelt, in dessen Rahmen die vorliegende Arbeit maßgeblich entstanden ist. Weitere Informationen hierzu unter: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/276 124864, zuletzt geprüft am 15.10.2020. Stellvertretend für eine Reihe von Publikationen, die im Rahmen der genannten Forschungsverbünde entstanden sind, seien an dieser Stelle genannt: Prager Moderne(n) (Weinberg/Wutsdorff/Zbytovský 2018), Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder (Becher/Höhne/Krappmann/Weinberg 2017), Prager Figurationen jüdischer Moderne. Themenheft der Zeitschrift brücken (Wetz/Wutsdorff 2015). Übersetzen. Praktiken kulturellen Transfers am Beispiel Prags. Themenheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (Wutsdorff/Zbytovský 2014). Gegenüber der klassischen Stadtethnologie, die als »anthropology in the city« das soziale Leben innerhalb von Städten untersucht, stellt Hannerz’ Forderung nach einer »anthropology of the city« (Hannerz 1980) die spezifischen Eigenschaften und lokalen Besonderheiten der betreffenden Stadt ins Zentrum. Mit Schlagworten wie ›das Imaginäre‹, ›der Habitus‹ oder ›die Eigenlogik‹ der Stadt geht es der modernen Stadtanthropologie in der Nachfolge Hannerz’ darum, die Stadt selbst zum sozialwissenschaftlichen Forschungsgegenstand zu machen. »Die grundsätzliche Herausforderung für die eigenlogikinteressierte Stadtforschung liegt denn auch darin, das Handeln in der Stadt epistemologisch als ein Aushandeln der Stadt zu fassen und den Praktiken nachzuspüren, welche die Stadt als ein Ganzes konstituieren«
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Wahrnehmung gerecht zu werden, soll der Versuch unternommen werden, einen literaturwissenschaftlichen Beitrag in diesem Sinne zu leisten. Für die Auswahl der zu untersuchenden literarischen Texte war zunächst entscheidend, dass es sich um erzählende Texte handeln sollte. Bei aller transdisziplinären Heterogenität aktueller Identitätstheorien herrscht Einvernehmen darüber, dass Identität »weder als dinghafte, statische Größe (wie es die Vorstellung von einem Persönlichkeitskern nahelegt), noch als einfach gegeben zu verstehen ist, sondern als der von der oder dem Einzelnen immer wieder zu bewerkstelligende, am Schnittpunkt von gesellschaftlicher Interaktion und individueller Biographie stattfindende Prozess der Konstruktion und Revision von Selbstbildern« (Glomb 2013: 324). Dabei wird narrativen Texten vor allem in der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft eine besondere Bedeutung beigemessen. So spricht z. B. Albrecht Koschorke in seinem Versuch einer Allgemeinen Erzähltheorie vom homo narrans und bestimmt das Erzählen als das zentrale Verfahren von Gesellschaften (vgl. Koschorke 2012). Lyrische Werke, die zwar Prag zum Thema haben – wie etwa Rainer Maria Rilkes Larenopfer (1895), Jaroslav Seiferts poetische Sammlungen Město v slzách [Stadt in Tränen] (1921) und Samá láska [Lauter Liebe] (1923) oder Vitězslav Nezvals surrealistischer Gedichtzyklus Praha z prsty deště [Prag mit den Fingern des Regens] (1936) –, wurden aus diesem Grund nicht in das Korpus aufgenommen. Natürlich kommt man nicht umhin, auch eine zeitliche Eingrenzung der Textauswahl vorzunehmen. Da die Stadtbilder und Identitätsdiskurse im Rahmen der klassischen Moderne(n) analysiert werden sollen, liegt die Entstehungszeit der Primärtexte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dahinter steht die Annahme, dass der Nexus von Stadtbildern und Identitätsdiskursen in der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch potenzierenden Moderne besonders deutlich hervortritt. So liegen etwa Jan Nerudas Povídky malostránské [Kleinseitner Geschichten] (1878), die zwischen 1867 und 1877 in verschiedenen Prager Zeitschriften erschienen, also noch klar im 19. Jahrhundert verhaftet sind, zeitlich vor dem Korpus. Ein zentrales Kriterium war außerdem, dass Prag als Thema in dem Maße auszumachen ist, dass eine Analyse des »imaginary of the city« (Lindner 2016) lohnenswert zu sein versprach. Nichtsdestotrotz finden sich im Korpus auch Texte wie Richard Weiners Rovnováha [Gleichgewicht] (1914), Hermann Grabs Der Stadtpark (1935) und Franz Kafkas Eine Kreuzung (1917), die zwar nicht explizit von Prag handeln, jedoch einige Aussagekraft für das hier im Fokus stehende Gefüge aus Stadttexten und Selbstbildern besitzen, wie in den Einzelanalysen gezeigt wird.
(Wietschorke 2013: 215; Hervorhebungen im Original). Eine Stadtanthropologie in diesem Sinne zeigt sich beeinflusst durch die Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften insofern, als sie der Denkfigur von Kultur bzw. Stadt als Text verpflichtet ist und theoretischen Konzepten der Kultursemiotik, Cultural Studies und des New Historicism nahesteht.
I. Einleitung
Ein weiteres Anliegen der Arbeit besteht darin, speziell auch weniger bekannte Texte von zum Teil ›vergessenen Prager Autoren‹ in den Blick zu nehmen, die noch nicht viel Aufmerksamkeit durch die Forschung erfahren haben, um zu einem differenzierteren Bild der damaligen Prager Literaturlandschaft zu gelangen. Die Gründe dafür, dass einige Autoren dem Vergessen anheimgefallen sind, liegen meist in den geschichtlichen und politischen Umständen, die oft Flucht, Emigration sowie ›Verstummen‹ auf Grund ökonomischer Zwänge zur Folge hatten. Exemplarisch für ein solches Schicksal kann die Biographie Hermann Grabs gelten, der vor den Nationalsozialisten über Frankreich, Spanien und Portugal nach New York flüchtete, wo er eine Musikschule gründete und kaum mehr schrieb. Darüber hinaus sollte, dem Verständnis als komparatistischem Beitrag gemäß, eine gleichwertige Gewichtung der deutsch- und tschechischsprachigen Literatur erfolgen, so dass das Korpus aus fünf deutschsprachigen und fünf tschechischsprachigen Primärtexten besteht. Wo es für die Untersuchung sinnfällig erscheint, werden deutsch- und tschechischsprachige Texte innerhalb eines Kapitels gemeinsam betrachtet, so Jiří Karásek ze Lvovics Gotická duše [Die gotische Seele] (1900) und Paul Leppins Severins Gang in die Finsternis (1914) im Kontext einer Prager Décadence (vgl. Kap. IV.) sowie Richard Weiners Feuilletons Třásničky dějinných dnů [Fragmente historischer Tage] (1918/19) und Franz Carl Weiskopfs Slawenlied (1931) als Reaktionen auf die Geburtsstunde der Tschechoslowakischen Republik (vgl. Kap. VI.). Ebenso werden in einer einführenden Textanalyse Max Brods Weiberwirtschaft (1913), Franz Werfels Trauerhaus (1927) und Richard Weiners Rovnováha [Gleichgewicht] (1914) im Hinblick auf die Gestaltung interkultureller Begegnungsorte im Prager Stadtraum vergleichend betrachtet (vgl. Kap. II.). Bereits ein kurzer Blick auf die genannten Primärtexte macht deutlich, dass ihre jeweilige Entstehungszeit mit ganz unterschiedlichen Phasen der Prager Geschichte verknüpft ist. Anhand der prägenden geschichtlichen Ereignisse lassen sich diese Phasen grob in drei Abschnitte untergliedern: 1. Die Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs, in der Prag als Provinzhauptstadt Teil Österreich-Ungarns war. In diese Zeit fällt die Entstehung von Max Brods Weiberwirtschaft (1913) als Erzählung über das Mit- und Gegeneinander einer Gemeinschaft von Frauen, die in unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexten verortet sind. In seiner dichten Erzählung Rovnováha (1914) [Gleichgewicht], in der ein Akrobatenduo aus Vater und Sohn auftritt, macht Richard Weiner das Fremdsein zum Thema und reflektiert über Grenzen und Möglichkeiten gelingender Kommunikation. Ebenfalls in diesem Zeitraum entstanden Jiří Karásek ze Lvovics Roman Gotická duše (1900) [Die gotische Seele] als Text über einen Adelssprössling, der traumwandlerisch durch Prager Kirchen und Klöster streift, und Paul Leppins Severins Gang in die Finsternis (1914), ein »Prager Gespensterroman«, so der Untertitel, um den jungen Büroangestellten Severin, der sich im Labyrinth der Prager Gassen und Nächte verliert. Beide Romane sind beeinflusst von der
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
Strömung der Décadence und reflektieren ein krisenhaftes Moderneverständnis auf mehreren Ebenen, das immer wieder rückgebunden wird an die Stadt. In Nad městem [Über der Stadt] (1917) zeigt Miloš Marten Prag als geschichtlich gewachsenen Stadtraum und sucht davon ausgehend nach einem neuen Selbstverständnis – nicht zuletzt als Künstler, der die Décadence als überwunden ansieht. 2. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der Prag zur Hauptstadt der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik wird. Von diesem Wandel Prags und der Euphorie über die junge Republik zeugen Richard Weiners Feuilletons Třásničky dějinných dnů [Fragmente historischer Tage], die zwischen 1918 und 1919 in den Lidové noviny erschienen. Franz Werfel hingegen blickt in seiner Novelle Das Trauerhaus (1927), in der ein Prager Freudenhaus durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum titelgebenden Trauerhaus wird, auf den Untergang der Donaumonarchie zurück. 3. Während der 1930er Jahre ist Prag eine etablierte europäische Hauptstadt, wird aber ab 1933 auch zum Exil für zahlreiche Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Angesichts dieser Bedrohung beschwört Hermann Grab im Stadtpark (1935) das Prag zur Zeit des Ersten Weltkriegs herauf. Ebenfalls in der Rückschau schreibt Franz Carl Weiskopf mit dem Slawenlied (1931) einen Roman »aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakei«, wie es im Untertitel heißt. Marie Majerová verfasst mit Přehrada (1932) [Die Talsperre] eine avantgardistische Utopie, in der sie Prag aus vielen verschiedenen Perspektiven zeigt und die Stadt zum Ausgangsort für Reflexionen über die Zukunft macht. So divers wie die kurz skizzierten Pragbilder sind auch die theoretischen Ansätze, die für ihre jeweilige Untersuchung vielversprechend erscheinen. Statt einer umfassenden Theoriediskussion werden daher im Folgenden zunächst unterschiedliche Theorieangebote reflektiert, um sie in einem zweiten Schritt auf ihre praktische Anwendbarkeit für die Untersuchung der Primärtexte hin zu erproben. Innerhalb der Einzelanalysen werden dazu die hier nur angerissenen theoretischen Konzepte, dem jeweiligen Primärtext adäquat, aufgegriffen und diskutiert. Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit sind dabei vor allem drei Forschungsperspektiven leitend, die auf den folgenden Seiten näher beleuchtet werden: 1. Stadt, 2. Interkulturalität und 3. Raum. Diese Perspektiven stehen auf vielfältige Weise miteinander in Verbindung und finden sich in den Einzelanalysen in je unterschiedlicher Gewichtung, was in der Verfasstheit der Primärtexte selbst begründet liegt. Im Anschluss an die für die vorliegende Arbeit maßgeblichen theoretischen Überlegungen steht eine exemplarische vergleichende Analyse von Max Brods Weiberwirtschaft, Franz Werfels Trauerhaus und Richard Weiners Rovnováha [Gleichgewicht]. Sie kann im Sinne einer Einführung anhand des konkreten Forschungsgegenstands verstanden werden. Zum einen werden darin die zuvor reflektierten
I. Einleitung
Theorieansätze für die Untersuchung der Primärtexte herangezogen, zugleich werden die Verflechtungen der Forschungsperspektiven Stadt, Interkulturalität und Raum deutlich. Dabei gilt selbstverständlich, dass die einzelnen Aspekte, die letztlich miteinander zusammenhängen, je nach Primärtext unterschiedliche Gewichtung erfahren können.
1.
Forschungsperspektive Stadt. Das Urbane in der Literatur Like a literary text, the city has as many interpretations as it has readers. (Sharpe/Wallock 1987: 17)
In der Stadt an der Moldau lebten über Jahrhunderte hinweg Deutsche und Tschechen, Christen und Juden Seite an Seite. Bis 1918 war Prag außerdem eingebettet in den noch größeren und komplexeren kulturell und sprachlich heterogenen Raum des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates. Das plurikulturelle Gepräge Mitteleuropas, in dem unterschiedliche sprachlich-kulturelle Gruppen »zumeist nebeneinander, aber auch ineinander verschränkt existierten, wurde seit dem 19. Jahrhundert vor allem in den rasch anwachsenden Städten deutlich sichtbar« (Csáky 2011: 3). Städte als politische, religiöse und kulturelle Zentren sind in besonderem Maße von Heterogenität geprägt, da sich in ihnen unterschiedliche Lebensweisen und Weltanschauungen begegnen. Hinzu kommt, dass Bauwerke, Ortsnamen und Denkmäler, die älter sind als die aktuell herrschenden politischen und sozialen Strukturen der Stadt, Spuren tragen, die in die Vergangenheit zurückweisen. Der serbische Architekt und Stadttheoretiker Bogdan Bogdanović bezeichnete die Stadt daher als »Erinnerungsdepot, das in der Regel das Gedächtnis einer einzelnen Nation, Rasse, Sprache weit übersteigt« (Bogdanović 1993: 22). Im städtischen Raum verschmelzen Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges miteinander und es kommt zu einer sichtbaren Überlagerung verschiedener historischer Schichten. So ist in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder die Rede von der Stadt als Palimpsest (vgl. Assmann 2007: 111).10 Ihre Heterogenität und Vieldeutigkeit in kultureller, politischer, sozialer und sprachlicher Hinsicht machen die Stadt zu dem literarischen Topos der Moderne: »Stellt das Städtische die Bedingung der Erkenntnis der modernen Kultur dar, so ist Ideengeschichte in der Moderne Stadtgeschichte« (Prigge 1996: 12). Die Metapher von der ›Stadt als Text‹ zielt auf die Vorstellung von der Lesbarkeit der Stadt, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Figur des Flaneurs 10
Vgl. auch: Assmann 2009: 18ff. Außerdem: Huyssen (2003): Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Stanford: Stanford University Press; Alfred Thomas (2010): Prague Palimpsest. Writing, Memory, and the City. Chicago: Chicago University Press.
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
verknüpft ist. Michel de Certeau etwa parallelisiert das Gehen in der Stadt mit der Lektüre eines Textes (vgl. De Certeau 2006). Karlheinz Stierle, der dem Mythos von Paris auf den Grund gegangen ist, bezeichnet die Stadt als »semiotische[n] Raum, wo keine Materialität unsemiotisiert bleibt« (Stierle 1993: 14). Aus der persönlichen Erinnerung an seine Jugend in Prag berichtet Peter Demetz: »Die ganze Stadt war […] eine Übung im Lesen der Vergangenheit, nur stand der Text nicht unveränderlich fest, und es kam ganz darauf an, woher man stammte und welcher Sprache man sich zu bedienen pflegte« (Demetz 1979: 241). Die verschiedenen, sich überlagernden semantischen Strukturen fordern unterschiedliche Deutungen geradezu heraus und entziehen sich jeder Vereindeutigung. Dasselbe ließe sich über die Akteure im Prager Stadtraum sagen, wie die Historikerinnen Kateřina Čapková und Ines Koeltzsch überzeugend gezeigt haben. Während Čapková in ihrer noch immer singulären Studie Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918 až 1938 (2005) [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen 1918 bis 1938] die Pluralität von Identitätsentwürfen der jüdischen Bevölkerung in den Böhmischen Ländern untersucht, verfolgt Ines Koeltzsch den Ansatz einer »integrierten Stadtgeschichte«, also einer »Geschichte der wechselseitigen Beziehungen und Verflechtungen zwischen den als Mehr- beziehungsweise Minderheiten vorgestellten ›Kollektiven‹, um die für ethnozentrische, nationalhistorische Perspektiven typischen, binären Denkmuster – wie ›Konflikt‹ versus ›Symbiose‹ – zu überwinden« (Koeltzsch 2012: 7). Zu diesem Zweck nimmt Koeltzsch statt einer Nation, einer nationalen Minderheit oder ethnischen Gruppe »kollektive und individuelle Fremd- und Selbstwahrnehmungen von Akteuren divergierender sprachlich-nationaler und kultureller Zugehörigkeiten« in unterschiedlichen städtischen »Kommunikations- und Handlungsräumen« (a.a.O.: 338) in den Blick und zeigt so die »Situations- und Kontextabhängigkeit nationaler und ethnisch-kultureller Identitätszugehörigkeiten« (a.a.O.: 339) sowohl im urbanen Alltag als auch in der urbanen Öffentlichkeit. Als Reflex auf das rasante Wachstum und die damit einhergehende zunehmende Unüberschaubarkeit der modernen Großstadt, die immer weniger Identifikationsmöglichkeiten für das Subjekt bietet, stehen im literarischen Diskurs Versuche, die Stadt beschreibend zu begreifen, sich die Stadt schreibend anzueignen und eine ›andere‹ Stadt zu entwerfen, die mit Bedeutung aufgeladen wird. Im Prozess des Schreibens kann der Autor demiurgisch ein neues, ein anderes Stadtbild erschaffen und mit identitätsstiftenden Attributen versehen. In diesem Sinne ist das Schreiben über die Stadt in der Moderne auch eine Strategie der Selbstverortung und Selbstvergewisserung. In der vorliegenden Arbeit wird auch auf die Stadt als Gedächtnis eingegangen. Schon in der Mnemotechnik der antiken Rhetorik besteht eine Verbindung zwischen dem Ort auf der einen und Erinnerung und Gedächtnis auf der anderen Seite. Die Verflechtung von Raum und Erinnerung zeigt sich auch in den Titeln
I. Einleitung
moderner Gedächtnistheorien, auf die sich die Arbeit stützt, um z. B. Denkmäler als Erinnerungsorte bei Richard Weiner und F. C. Weiskopf oder die Stadt als von Geschichte durchwirkten Raum bei Miloš Marten zu untersuchen. So widmet Maurice Halbwachs ein Kapitel seiner Studie Das kollektive Gedächtnis (1967) dem Zusammenhang »Gedächtnis und Raum«, Pierre Nora untersucht die Lieux de mémoire (1984-1992) und Aleida Assmann analysiert Erinnerungsräume (1999). Insbesondere anhand des Verhältnisses zwischen inszenierter Erinnerung im Text und außerliterarischen Erinnerungsdiskursen können Prozesse kollektiver Identitätenbildung verständlich werden. Literarische Texte »greifen […] auf Elemente der präexistierenden (Erinnerungs-)Kultur zurück und entwerfen mit formalästhetischen Verfahren eigenständige, symbolisch verdichtete Erinnerungs- und Identitätsmodelle« (Neumann 2005: 149). Die Fragen – auf welche Weise und von wem wird Erinnerung im Text inszeniert? Welche literarische Ausformung erfahren die (verschiedenen?) diskursiven Erinnerungskulturen? – können mit Hilfe erzähltheoretischer Kategorien genauer untersucht werden.11 Astrid Erll plädiert dabei für eine »stark kontextorientierte[] ›erinnerungshistorische[] Narratologie‹« (Erll 2005: 167). Ein Beispiel für einen Text, der die Aushandlungsprozesse von Erinnerung im Stadtraum thematisiert, ist Richard Weiners Feuilleton »Heslo ulice« [»Parole der Straße«], in dem es um den Sturz der Prager Mariensäule im November 1918 geht (vgl. Kap. VI. 2.6). Die Debatte um ihre Wiedererrichtung auf dem Altstädter Ring wird bis in unsere Zeit hinein hitzig geführt, wobei sich Gegner und Befürworter der Säule auf ganz unterschiedliche Erinnerungsnarrative berufen. Die Stadt als Ganzes ebenso wie einzelne Stadtviertel, Straßen und Plätze sind mit einer Vielzahl an Texten und Bildern verbunden: »Als von Geschichte und Geschichten durchtränkter, kulturell kodierter Raum bildet die Stadt einen Vorstellungsraum, der den physikalischen insofern überlagert, als er der durch die begleitenden Bilder und Texte hindurch erlebte und erfahrene Raum ist« (Lindner 2008: 86). Es wird also darum gehen, das Verhältnis des konkreten geographischen Schauplatzes Prag – die räumlichen Praktiken und die Repräsentationen des Raumes – und der narrativen Entwürfe Prags – das heißt die literarisch produzierten Räume – zu beschreiben. In Nad městem zeigt Miloš Marten Prag als »von Geschichte durchtränkten Raum« und setzt diesen in Beziehung zu seinem Versuch einer Lektüre der Stadt, der gleichzeitig ein Versuch der Selbstverortung ist. In der literarischen Modellierung des Raumes können sich die im geographischen Raum wahrgenommenen Zuordnungen, Segregationen und Grenzen spie-
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Vgl. hierzu weiterführend z. B. Gymnich 2003.
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geln.12 Sie können aber auch neu verhandelt und transformiert werden, wodurch ein neues literarisches Stadtbild entsteht. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und die damit einhergehenden Umwälzungen bilden eine Zäsur in ganz Europa, so dass die Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik nicht nur territorial eine Neuordnung bedeutet. In der Prager deutschsprachigen Literatur häufen sich als Reflex darauf literarische Inszenierungen von Erinnerungen an das Prag der Kindheit und Jugend – so beispielsweise in Franz Werfels Novelle Das Trauerhaus (1927) oder in Hermann Grabs Der Stadtpark (1935). Zu fragen ist, inwiefern solche Darstellungen im Modus der Erinnerung an eine (verlorene) Zeit (der Kindheit) sich von Porträts der Hauptstadt der noch jungen Republik nach 1918 wie zum Beispiel bei Franz Carl Weiskopf oder Richard Weiner unterscheiden. Die Kernfragen lauten also: Wie sind die literarisch vermittelten Pragbilder beschaffen? Wie nehmen sie wechselseitig aufeinander Bezug oder grenzen sich voneinander ab? Welche narrativen Strategien zur Aneignung des urbanen Raums und der Konstruktion von Identität lassen sich beobachten? Wie wird ggf. ihr Scheitern vorgeführt oder behandelt?
2.
Forschungsperspektive Interkulturalität. Ab- und Entgrenzungen in der Literatur Literarische Texte sind Medien kultureller Selbstauslegung, deren Horizont die Auseinandersetzung mit Fremdheit bildet. (Bachmann-Medick 1996: 9)
Für Prag, das auch in der Forschung immer wieder als »Tripolis Praga« (Schmitz/Udolph 2001)13 und »Literaturstadt zweier Sprachen« (Džambo 2010; 12
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Die Badenische Sprachenverordnung vom April 1897, die in Prag heftige Unruhen hervorrief, schildern beispielsweise Viktor Dyk im tschechischen Roman Prosinec (1906) und Karl Hans Strobl in der deutschsprachigen Vaclavbude (1902), wobei beide sich eindeutig entlang scharfer sprachlicher bzw. nationalkultureller Trennlinien positionieren. In Bezug auf den Topos von Prag als Dreivölkerstadt der Tschechen, Deutschen und Juden merken Renata Cornejo und Manfred Weinberg zu Recht kritisch an: »Diese Formel scheint dabei zunächst einem Kategorienfehler geschuldet: zwei nationalkulturellen Attribuierungen (tschechisch, deutsch) steht eine religiöse Attribuierung (jüdisch) zur Seite. Doch ist diese Diagnose in mehrfacher Hinsicht falsch. Erstens waren ›die‹ Deutschen ja keine Staatsangehörigen des Deutschen Reiches, sondern – wie ›die‹ Tschechen – solche der k. u. k.Monarchie Österreich-Ungarn, so dass sie, knapp gesagt, bis 1918 national gesehen Österreicher waren und nur bezogen auf ihre Muttersprache und kulturelle ›Besonderheiten‹ Deutsche und Tschechen. Zweitens war ›jüdisch‹ ab einem bestimmten Zeitpunkt eben doch auch eine nationale Kategorie, weil in den Volkszählungen der Ersten Tschechoslowakischen Republik ab 1920 die Möglichkeit bestand, sich eine jüdische Nationalität zuzuschreiben.« (Cornejo/Weinberg 2017: 10f.).
I. Einleitung
Becher/Knechtel 2010) attribuiert wird, verspricht eine komparatistische Analyse der literarisch vermittelten Stadtbilder vor allem auch im Hinblick auf die Darstellungsweisen von Interkulturalität neue Erkenntnisse. Die vorliegende Arbeit geht dabei von einem Verständnis von Interkulturalität aus, wie es u. a. Aleida und Jan Assmann im Anschluss an Maurice Halbwachs in ihren Theorien zur Prägung kultureller Identitäten durch kollektive Erinnerungsstrukturen ausgearbeitet haben.14 »Kollektive Identitäten sind Diskursformationen, sie stehen und fallen mit jenen Symbolsystemen, über die sich die Träger einer Kultur als zugehörig definieren und identifizieren« (Assmann 1994: 16). Die Literatur ist dabei, vor allem auch auf Grund der Sprache, besonders wirkmächtig für den Konstruktionsprozess kultureller und nationaler Identitäten.15
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Ohne Anspruch auf Vollständigkeit vgl. beispielsweise: J. Assmann (1992): Das kulturelle Gedächtnis, A. Assmann (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, Erll/Gymnich/Nünning (2003): Literatur – Erinnerung – Identität, Erll/Nünning (2005): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Erll (2005): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Weinberg (2006): Das »unendliche Thema«. Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur/Theorie. Tazuko Takebayashi bemerkt in ihrer umfangreichen xenologisch informierten Studie, dass die »Literatur für die Identitätsbehauptung der Prager Deutschen ein besonders wichtiges und günstiges Kampfmittel darstellte«, durch das sich ein »großer Vorsprung gegenüber den tschechischen Rivalen« behaupten ließ (Takebayashi 2005: 100). Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts habe es vor allem die tschechische Literatur – im Gegensatz zur tschechischen Musik und Malerei – schwer gehabt, international wahrgenommen zu werden. Das sei zum einen der »verhältnismäßig dürftige[n] literarische[n] Tradition« geschuldet gewesen, »da das Tschechische bis zur nationalen Wiedergeburt jahrhundertelang als eine bäuerliche und Bedienstetensprache galt« (ebd.). Zum anderen habe die Sprachbarriere verhindert, dass die tschechische Dichtung über die Landesgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erfahren habe. Wie sich diese Vorstellung bisweilen in der Literatur selbst niederschlug, lässt sich beispielsweise in Rainer Maria Rilkes »Prager Geschichte« Die Geschwister (1899) beobachten. Darin lässt Rilke Rezek, den Anführer der tschechisch-nationalen Vereinigung Omladina sagen: »›Wie ein Kind ist unser Volk. Manchmal seh ich es ein: unser Haß gegen die Deutschen ist eigentlich gar nichts Politisches, sondern etwas – wie soll ich es sagen? – etwas Menschliches. Nicht daß wir uns mit den Deutschen in die Heimat teilen müssen, ist unser Groll, aber daß wir unter einem so erwachsenen Volk groß werden, macht uns traurig. Es ist die Geschichte von dem Kinde, welches unter Alten heranwächst. Es lernt das Lächeln, noch ehe es das Lachen gekonnt hat. […] Damals, als man dem Volk gesagt hat: du bist jung, haben sich die Gebildeten geschämt dafür. Und sie sind schnell alt geworden, statt älter zu werden. Statt sich jedes Tages zu freuen, haben sie ein Gestern haben müssen und ein Vorgestern. Königinhofer Handschrift, freilich! Damit nicht zufrieden, haben sie ihre Kultur in der Fremde gesucht und gleich dort, wo sie am fertigsten ist – bei den Franzosen. Und so kams: zwischen den gebildeten Tschechen und dem Volk sind Jahrhunderte. Sie verstehen sich nicht mehr. Wir haben nur Greise und Kinder, was die Kultur betrifft. Wir haben unsern Anfang und unser Ende zu gleicher Zeit. Das ist unsere Tragödie, nicht die Deutschen.‹« (Rilke 1978: 88f.; Hervorhebung
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Entscheidend ist weiterhin, dass eine homogenisierende Auffassung von Gemeinschaften zwar Komplexität handhabbar macht, jedoch immer nur illusorisch sein kann. Kultur meint keine fest umgrenzte Einheit, vielmehr lassen sich Kulturen als relationale Bedeutungsgewebe auffassen, die von Menschen geschaffen werden, wie Clifford Geertz in dem maßgeblichen Band The Interpretation of Cultures (1973) gezeigt und damit den cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften eingeläutet hat. In den Diskussionen treten dabei die Begriffe Inter-, Multi-, Plurioder Transkulturalität16 auf – sie werden bisweilen synonym gebraucht oder aber scharf voneinander abgegrenzt. Die einzelnen Begrifflichkeiten setzen zwar einen je eigenen Akzent, heben aber letztlich alle auf eine pluralistische Auffassung von Kultur(en) ab. In der vorliegenden Arbeit wird – auch in Ermangelung eines finalen Konsenses innerhalb der Forschung – der Begriff Interkulturalität verwendet und verstanden als ein Gegenbegriff zu Monokulturalität einerseits und als eine Art Hyperonym für Pluri-, Multi- und Transkulturalität andererseits. Für die Interkulturalität des Prager Kontexts weisen Manfred Weinberg, Irina Wutsdorff und Štěpán Zbytovský sowohl eine »strikt abgrenzende Rede von drei Gruppen«, die das Gemeinsame im Prager Alltagsleben ignoriert, als auch die »Diagnose einer unterschiedslosen ›Hybridisierung‹ (Welsch 2012: 28)« (Weinberg/Wutsdorff/Zbytovský 2018: 10) zurück. Vielmehr sprechen sie sich dafür aus, die in Prag und den Böhmischen Ländern vorherrschende »›kulturelle Vielfalt‹ oder ›Heterogenität‹ […] nicht als gegebenes Faktum, sondern als sich wandelnde[n] Effekt einer Diskursivierung« (a.a.O.: 11) zu begreifen, in deren Rahmen die Akteure sich auf vielfältige, durchaus auch antagonistische Weise positionieren. Ausgehend von einer solchen diskursiven und fluiden Auffassung von Interkulturalität beschreibt Ortrud Gutjahr den Ansatz und die Aufgabe einer interkulturellen Literaturwissenschaft folgendermaßen: Mit der Interkulturellen Literaturwissenschaft kommt also ein prozesshafter und dialogischer Kulturbegriff zur Anwendung, der an der Selbstthematisierungs-
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im Original). Für eine eingehendere Auseinandersetzung mit diesem Topos vgl. Zusi 2006 und Millner 2017. Wolfgang Welsch hat in dem Aufsatz »Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kultur« (1997) Transkulturalität als das Ende kultureller Begrenzungen und als ein Geflecht vieler verschiedener Kulturen zu einer Einheit definiert. In der globalisierten Welt erscheint das transkulturelle Individuum demnach sowohl als von eigenen als auch fremden Elementen durchsetzt. Auf ebendiese Weise sieht Welsch auch Kulturen als nicht mehr voneinander abzugrenzende Einheiten. Er positioniert sich mit diesem Verflechtungsmodell gegen die Termini ›Inter- und Multikulturalität‹ und unterstellt diesen, dem in seinen Augen veralteten Kugelmodell Herders anzuhängen, das Kulturen als in sich geschlossene und nach außen hin klar abgegrenzte (Einzel-)Systeme betrachte. Für eine Kritik an Welschs Konzept für den Prager Kontext vgl. Heimböckel/Weinberg 2017: 30-35.
I. Einleitung
fähigkeit von Gesellschaft ansetzt und die kontextbezogene Veränderung von Bedeutungen und Menschen, die sich situativ und multipel verorten, untersucht. In diesem Oszillieren zwischen unterschiedlichen Handlungsorientierungen kommt es zur Auflösung und Neuschaffung von Grenzziehungen, Macht- und Gewaltverhältnissen und Geschlechterrollen. So wird mit dem Begriff Interkulturalität eine Grenzüberschreitung in den Blick genommen, bei der weder ein wie auch immer gefasstes Innerhalb oder Außerhalb der Grenze noch die Grenze zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand wird, sondern das Inter selbst. Mithin geht es um die Funktionsweise von Differenzbestimmungen, die Kulturationsprozesse abstützen, verändern oder neu in Gang setzen. […] Interkulturalität meint also nicht Interaktion zwischen Kulturen im Sinne eines Austauschs von je kulturell Eignem, sondern zielt auf ein intermediäres Feld, das sich im Austausch der Kulturen als Gebiet eines neuen Wissens herausbildet und erst dadurch wechselseitige Differenzidentifikation ermöglicht. Die Untersuchung interkultureller Kommunikation bezieht sich somit auf kommunikative Akte zwischen Personen, die sich mittels kultureller Zeichen als voneinander unterschiedlich identifizieren. Interkulturelle Literaturwissenschaft reflektiert auf eben diese Verfahren der Bedeutungszuschreibung. (Gutjahr 2002: 352f.; Hervorhebung im Original) Interkulturalität kann somit als Prozess verstanden werden, der im Akt des Austauschs Differenz erst hervorbringt bzw. stets neu aushandelt. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Arbeit als Beitrag zu einer interkulturellen Literaturwissenschaft, die am konkreten Beispiel Prags besagte Strategien der Bedeutungszuschreibung, der Annäherung und Abgrenzung in den Blick nimmt. Gerade die Literatur besitzt die Fähigkeit, mehrdeutige, ambivalente und multiperspektivische Bedeutungszuschreibungen nicht nur auszuhalten, sondern auch hervorzubringen und zu reflektieren. Dabei sind sowohl Konstruktionen von Gruppen und Gemeinschaften (wie nationalen oder kulturellen Identitäten) als auch individuelle Voraussetzungen von Bedeutung, denn: Das Subjekt ist Knoten- und Kreuzungspunkt der Sprachen, Ordnungen, Diskurse, Systeme wie auch der Wahrnehmungen, Begehren, Emotionen, Bewusstseinsprozesse, die es durchziehen. […] In der Praxis wird es sich wohl als vernünftig erweisen, auf eine Mehrfachcodierung von personaler wie kollektiver Identität umzustellen, je nach Kontext, Situation, Referenzrahmen. (Bronfen/Marcus 1997: 4ff.; Hervorhebung im Original)17
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Ebendies zeigt auch Ines Koeltzsch in ihrer Untersuchung von Geteilten Kulturen im Prager Stadtraum (vgl. Koeltzsch 2012).
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Mit ihrem Konzept der Interkulturalität, das sie anhand von Beispielen aus den Böhmischen Ländern veranschaulichen, fassen Manfred Weinberg und Dieter Heimböckel »Interkulturalität als Projekt« (Heimböckel/Weinberg 2017: 33) und rücken so die Prozesshaftigkeit und Fluidität in den Mittelpunkt. Sie plädieren für ein Verständnis von Interkulturalität, dessen fester Bestandteil das Nichtwissen ist: Interkulturalität ist somit Übersetzung in eine unvertraute Sprache – und das heißt in eine Sprache, die davon absieht weiterzuwissen. Im Sinne einer solchen projektbezogenen Vorstellung von Interkulturalität ist die interkulturelle Aktivität ein Experiment und der Beobachter ein Experimentator. Er weiß nicht, was sich jenseits des »Denken-wie-üblich« verbirgt. In diesem Nichtwissen generiert Interkulturalität ihr grenzüberschreitendes Potenzial. (Ebd.) Im Mit- und Gegeneinander von Deutschen und Tschechen in den Böhmischen Ländern sei vor allem seit dem Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert das ›Eigene‹, also die eigene nationale Identität, explizit und mit Emphase gegen ein Wissen vom Anderen stark gemacht worden. Gleichzeitig habe es durchaus, »›Zwischenräume‹ der Gemeinsamkeit [gegeben], in denen dieses vermeintliche Wissen (und sei es vorübergehend) irrelevant wird, womit einem Nicht-Wissen stattgegeben wird, das wiederum das Ignorieren der zu anderen Zeiten dramatisierten Unterschiede möglich macht« (ebd.). Auf welche Weise also wird Prag in den literarischen Texten als plurikulturelle oder aber gerade nicht als plurikulturelle Stadt gezeigt? Wie sehen die als interkulturell modellierten »Zwischenräume« innerhalb der Stadt aus? Ein Beispiel für einen solchen Zwischenraum findet sich in Max Brods Erzählung Weiberwirtschaft, die im Anschluss exemplarisch behandelt wird. Darin eröffnen vier Frauen mit ganz unterschiedlichen sozialen und nationalkulturellen Hintergründen gemeinsam einen Hutsalon in Prag, in dem »alle Standesgrenzen« sowie »der nationale Gegensatz, der sonst das ganze Bürgertum reinlich in zwei Teile schied« (Brod 2013: 291), nivelliert werden. Wenn in der Moderne, und zumal in der modernen Großstadt, Selbstverortung und Selbstvergewisserung zunehmend fraglich geworden sind, so erfährt diese Entwicklung unter den Bedingungen einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Stadt eine weitere Zuspitzung. Auch diese Dimension ist bei der Untersuchung von Selbst- und Fremdbildern sowie Pragbildern in den Texten zu beachten. Die Protagonisten in Paul Leppins Severins Gang in die Finsternis und Jiří Karásek ze Lvovics Gotická duše beispielsweise wirken verloren im Dickicht der modernen Großstadt und ringen um Selbstbehauptung in einer als opak erlebten Umwelt. Dabei geht Leppins Protagonist Severin immer wieder Beziehungen zu unterschiedlichen tschechischen Frauenfiguren ein. Es wird danach zu fragen sein, wie diese Be-
I. Einleitung
ziehungen u. a. hinsichtlich der Konstruktion von Eigen- und Fremdbildern, aber auch in Bezug auf Geschlechterrollen ausgestaltet sind. Die Kernfragen der Untersuchung lauten somit: Welche Rolle spielen Kategorien wie nationale oder soziale Zugehörigkeit bei der narrativen Aneignung des urbanen Raums und wie werden sie zueinander in Beziehung gesetzt? Lässt sich in der Gesamtschau eine spezifische Prager Perspektive erkennen – unabhängig von (national)kulturellen Identitätszuschreibungen? Es wird also darum gehen, die zu untersuchenden Texte auf ihre je eigene Positionierung hin zu befragen, um ein differenziertes Bild sowie eine präzise Beschreibung der spezifischen Konstruktionen von Interkulturalität im Prager Kontext zu leisten und letztlich auch der Vielfalt kontext- und situationsabhängiger Verortungen des Individuums im urbanen Raum gerecht zu werden.
3.
Forschungsperspektive Raumtheorien. Erzählte Räume in der Literatur Wer Räume beschreibt, richtet das Augenmerk stets auf die Differenz, die gegenseitigen Verflechtungen und ihre Veränderungen. (Löw/Steets/Stoetzer 2007: 51)
Für die Untersuchung der literarisch vermittelten Pragbilder bieten Überlegungen des spatial oder topographical turn, der im Anschluss an Michel Foucaults Rede vom »Zeitalter des Raumes« (Foucault 2006 [1967]: 317) ausgerufen wurde, eine Vielzahl an theoretischen Ansätzen. Bereits Georg Simmel, der eine exponierte Vorläuferrolle für die ›Wiederentdeckung‹ des Raumes einnimmt, stellt fest, dass der Raum nicht etwa natürlich gegeben ist, sondern ›gemacht‹ wird (vgl. Simmel 2006 [1903]). Daran anknüpfend entwickelt Henri Lefebvre im Frankreich der 1970er Jahre seine Theorie zur sozialen Produktion des Raumes, die die bestehenden Machtverhältnisse spiegele und konsolidiere. Der Raum ist nicht bloßer Rahmen, so Lefebvre, sondern selbst Gegenstand gesellschaftlicher Vorgänge und Konflikte: Space is becoming the principal stake of goal-directed actions and struggles. It has of course always been a reservoir of resources, and the medium in which strategies are applied, but it has now become something more than the theatre, the disinterested stage or setting, of action. […] [I]ts role is less and less neutral, more and more active, both as instrument and as goal, as means and as end.
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Confining it to so narrow a category as that of ›medium‹ is consequently woefully inadequate. (Lefebvre 1991: 410f.)18 Mit seinem triadischen Modell zur Produktion des Raumes stellt Lefebvre Analysekategorien bereit, mit denen sich die Wechselbeziehungen zwischen wahrgenommenem (»espace perçu«), konzipiertem (»espace conçu«) und gelebtem (»espace vécu«) Raum beschreiben und aufeinander beziehen lassen. Für die Untersuchung und Beschreibung dieser Prozesse räumt Lefebvre der Literatur (neben der Philosophie) eine besondere Stellung ein (vgl. Lefebvre 2006 [1974]). Die im Anschluss an und in kritischer Auseinandersetzung mit Lefebvre weiterentwickelten, hier nur angerissenen Theorieansätze gilt es, für die Untersuchung der Stadttexte fruchtbar zu machen.19 Die Verbindung von Literatur und Raum ist auch für Jurij M. Lotmans Konzeption einer raumbezogenen Literatur- und Kulturanalyse zentral. In Die Struktur literarischer Texte konstatiert der russische Literaturwissenschaftler und Semiotiker, dass »die Struktur des Raumes eines Textes zum Modell der Struktur der ganzen Welt« (Lotman 1993 [1970]: 312) werde. Dabei »erweist sich die Sprache räumlicher Relationen als eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit« (Lotman 1993: 313). Soziale, religiöse, politische und ethische Modelle und Vorstellungen des Menschen seien stets räumlich konstituiert: »Historische und nationalsprachliche Raummodelle werden zum Organisationsprinzip für den Aufbau eines ›Weltbildes‹ – eines ganzheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist« (ebd.). Das heißt, dass die Untersuchung literarisch gestalteter Räume immer auch etwas auszusagen vermag über die zugrunde liegenden, stets räumlich organisierten Weltordnungen. Daher erklärt Ansgar Nünning die »Rekonstruktion unterschiedlicher historischer, epochenspezifischer und national-sprachlicher Kulturund Raummodelle« unter Rückgriff auf Lotmans semiotischen Ansatz zu einem Forschungsdesiderat »für eine kulturwissenschaftlich und kulturgeschichtlich aus-
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Henri Lefebvres Schlüsselwerk liegt auf Deutsch bisher nur in Auszügen vor, sollte aber laut Verlagsangaben im Dezember 2020 als Die Produktion des Raums. The Production of Space als zweisprachige Ausgabe in der Übersetzung von Annett Busch im Verlag Spectormag erscheinen. Bis dahin muss auf das französische Original von 1974 oder die englische Übersetzung von 1991 zurückgegriffen werden. Neuere kulturwissenschaftliche Ansätze zum Thema Raum kommen seit dem spatial oder topographical turn auch verstärkt aus der Soziologie sowie den postcolonial studies. Vordenker sind hierbei Homi Bhabha mit seinen Reflexionen über Identität und die Verortung der Kultur und im deutschsprachigen Raum Karl Schlögel, der Geschichte in einem speziellen Raum verankert, dessen jeweiliger Umriss an ihr mitschreibt. Diese interdisziplinären Ansätze bilden den theoretischen Hintergrund für die Untersuchung der literarischen Texte aus und über Prag.
I. Einleitung
gerichtete Erzählforschung« (Nünning 2009: 49)20 , dem diese Untersuchung Prager Stadttexte nachkommen will. Lotmans Modell der Semiosphäre, wie er es in Die Innenwelt des Denkens (2010) entwickelt, bietet insofern gewinnbringende Anknüpfungspunkte, als hier Kultur als ein komplexes System verschiedener Sprachen beschrieben wird. Das Hauptmerkmal der Semiosphäre ist ihre Heterogenität, die sich aus der unterschiedlichen Art und Funktion der Sprachen ergibt. Wenn wir uns als Gedankenexperiment das Modell eines semiotischen Raums vorstellen, dessen Elemente alle im selben Moment und unter dem Einfluss identischer Impulse entstanden wären, dann hätten wir noch immer nicht eine kodierende Struktur vor uns, sondern eine gewisse Menge miteinander verbundener, aber verschiedener Systeme. (Lotman 2010: 166; Hervorhebung im Original) Die Semiosphäre ist durchzogen von verschiedenen, bisweilen auch miteinander in Konkurrenz stehenden semantischen Strömen.21 Um diese innere Vielfalt einzudämmen und die Einheit des Systems zu gewährleisten, bedarf es einer strukturellen Organisation, die sich im Zentrum des semiotischen Systems in der Festlegung von Normen manifestiert, die sich allerdings in Richtung der Peripherie immer mehr abschwächen. Darüber hinaus wird die Einheit des semiotischen Raumes durch »ein einheitliches Verhältnis zur Grenze, die den inneren Raum der Semiosphäre vom äußeren, ihr Innen von ihrem Außen trennt« (Lotman 2010: 173; Hervorhebung im Original), geschaffen. Dabei fungiert die Grenze gleichzeitig als Kontaktzone. Lotman konzipiert die Grenze als den Bereich, in dem verschiedene kulturelle Codes aufeinandertreffen und die seiner Erzähltheorie zufolge überschritten werden muss, um Handlung in Gang zu bringen. Vor diesem Hintergrund sind die Texte des zu untersuchenden Korpus in ihrem jeweiligen Entwurf einer Imago Prags auf die Grenzen hin zu untersuchen, die sie (ein)ziehen und/oder überschreiten. Bei Lotmans Semiosphäre handelt es sich zudem um ein Modell, das Kultur als Kommunikationsraum auffasst, in dem verschiedene mehrdeutige und oft widersprüchliche Sprachen und Zeichensysteme flottieren. Mit Sprachen sind hier nicht nur die natürlichen Sprachen gemeint, so dass es letztlich um soziale Prozesse, um
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Dabei plädiert Nünning für eine Synthese des Lotmanschen Modells mit Michail Bachtins Konzept des Chronotopos. Marek Nekula zeigt in seiner Studie »Die nationale Kodierung des öffentlichen Raums in Prag«, wie sich mit Hilfe dieses Modells konkurrierende Wertungen beinhaltende Konzeptualisierungen ein und desselben Raumes beschreiben lassen, also etwa eines deutsch(nationalen), eines tschechisch(-nationalen) oder eines bewusst gemischtnational konzipierten Prags (vgl. Nekula 2010).
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konkurrierende Bedeutungszuschreibungen, die Erlangung von Deutungshoheiten und damit um die Verhandlung von Machtverhältnissen geht.22 Darüber hinaus lassen sich Leitgedanken der Semiosphäre wie 1. Heterogenität, 2. Polyglossie, 3. Peripherie und Zentrum, 4. die Grenze als Kontaktzone und 5. die Konzeption als Kommunikationsmodell in Verbindung setzen mit Figurationen des Interkulturellen.23 Für die Untersuchung der erzählten Räume in der Literatur ist nach dem Wie ihrer symbolischen und ästhetischen Konstitution zu fragen. Daraus ergeben sich folgende Leitfragen: Wie sehen die erzählten Räume zunächst auf der Ebene der histoire aus? Welche Modi der Raumwahrnehmung lassen sich beobachten? Wie werden sie narrativ vermittelt? Wie ist es um das Verhältnis zwischen Figuren und Raum bestellt und welche Verbindungen bestehen zwischen Identitätszuschreibungen und literarisch vermittelten sozialen Räumen oder social spheres? Insgesamt, so die These, werden in den zu untersuchenden literarischen Texten in Bezug auf Prag als viel zitiertem ›melting pot‹ die intra- und interkulturellen Beziehungen in besonderer Weise als Brüche, Verschiebungen und Spiegelungen in Prozessen der Identitätssuche und Identitätskonstruktion sichtbar. Das Augenmerk auf Dialogizität und Intertextualität zu richten, ist somit für die vorliegende Fragestellung unabdingbar. Dabei bietet der Raum als Organisationsprinzip des Nebeneinanders und der Gleichzeitigkeit vielversprechende Anknüpfungspunkte. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Pragbildern, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen, zeichnet zum Beispiel Marie Majerovás utopischen Roman Přehrada (1932) [Die Talsperre] aus, der zu den Höhepunkten der Nachkriegsavantgarde zählt. Darin werden unterschiedliche soziale Räume durch präzise Milieuschilderungen erzählerisch entworfen, wodurch die Stadt aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet wird. 22
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Vgl. hierzu auch Moritz Csákys u. a. von Lotman inspirierte Studie »Kultur als Kommunikationsraum – am Beispiel Zentraleuropas«, in der er dafür plädiert, Kultur als Kommunikationsraum aufzufassen, in dem sich »die kulturelle Heterogenität Zentraleuropas als eine Vielzahl von nebeneinander existierenden, sich konkurrenzierenden und sich überlappenden, entgrenzten und performativen Kommunikationsräumen« darstelle, was stets auch von Krisen und Konflikten begleitet worden sei. »Es sind dies kontinuierliche, dynamische Prozesse von Interaktionen und von Verwerfungen. Kulturelle Prozesse inkludieren daher naturgemäß auch permanent Konflikte, Verunsicherungen und Identitätskrisen.« Nichtsdestotrotz – oder gerade dadurch? – entstehe in und aus dieser Gemengelage ein »hypostatischer, hybrider kommunikativer Metaraum, eine trotz Differenzen allgemein verständliche ›Sprache‹« (Csáky 2011: 21). Die Arbeit kann zurückgreifen auf eine Studie von Irina Wutsdorff, in der sie die Anwendungsmöglichkeiten von Lotmans Modell der Grenze und seiner Theorie der Semiosphäre für das Prag der Jahrhundertwende und für die Analyse zweier Primärtexte, Jiří Karáseks Gotická duše [Die gotische Seele] und Rainer Maria Rilkes »Prager Geschichte« König Bohusch (1899), aufzeigt (vgl. Wutsdorff 2018b).
II. Eine vergleichende Betrachtung zur Einführung: Franz Werfel Das Trauerhaus (1927), Max Brod Weiberwirtschaft (1913), Richard Weiner Rovnováha [Gleichgewicht] (1914) Vorbemerkungen Nachdem im Vorfeld mit den Schlagworten Stadt, Interkulturalität und Raum die für die vorliegende Arbeit leitenden Forschungsperspektiven angerissen wurden, folgt nun eine exemplarische Analyse der drei Erzählungen Das Trauerhaus von Franz Werfel (1927), Weiberwirtschaft von Max Brod (1913) und Rovnováha [Gleichgewicht]1 (1914) von Richard Weiner. Wie werden interkulturelle Phänomene in der Prager Literatur der Moderne modelliert? Gibt es literarisch gestaltete Begegnungsorte innerhalb der Stadt? Und wie wird die plurikulturelle Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Literatur der Prager Moderne dargestellt? Für die Untersuchung der Texte hinsichtlich dieser Fragen werden die zuvor skizzierten theoretischen Konzepte erprobt sowie deren gegenseitigen Verflechtungen vor Augen geführt. Vor allem werden raumtheoretische Ansätze, wie das Kulturmodell der Semiosphäre von Jurij M. Lotman, hinzugezogen, um den raumsemantischen Entwürfen sowie den Darstellungen von Pluri- bzw. Interkulturalität in den Texten auf den Grund zu gehen. In Franz Werfels Trauerhaus ist aus der Rückschau eine Welt beschrieben, die es zum Zeitpunkt der Entstehung der Erzählung nicht mehr gibt: Ein Prager Freudenhaus wird mit dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie zum titelgebenden Trauerhaus und zur Allegorie des Vielvölkerstaats. Max Brod führt in seiner Erzählung Weiberwirtschaft einen Raum der Begegnung vor, der, wenn auch durchaus ambivalent gestaltet, die Möglichkeit zum sozialen und interkulturellen Austausch über Grenzen hinweg beinhaltet. Richard Weiners kurzes Prosastück Rovnováha [Gleichgewicht] schließlich ist zwar nicht explizit in
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Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Version meines Aufsatzes: »Interkulturelle Begegnungsräume in literarischen Prag-Darstellungen der Moderne«. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien-Slowakei Neue Folge 25 (2017) 1-2, S. 173-191.
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Prag verortet, greift aber Diskurse über Fremdheit und Interkulturalität auf und problematisiert Fragen um eine gelingende Kommunikation.
1.
Franz Werfel Das Trauerhaus (1927)
Franz Werfels Erzählung Das Trauerhaus2 handelt in humorvoller und bisweilen satirischer Form von den letzten Tagen eines Prager Freudenhauses, dessen Ende mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zusammenfällt und schließlich den Zusammenbruch der Habsburger Monarchie vorwegnimmt. Werfel beschreibt diese untergehende Welt im Jahre 1927 retrospektiv und in durchaus nostalgischem Duktus. Die Parallele zwischen dem Prager Freudenhaus und dem österreichischen Kaiserreich wird gleich zu Beginn der Erzählung benannt: Zumindest aber müßte man dieser Bezeichnung ein k.k., ein kaiserlich königlich voranstellen, denn Plüschmöbel, Goldschnörkel, Spiegel, Samtvorhänge, die Stiche an den Wänden, […] die Prachtrenaissance eines hochnäsigen, damals schon langverschollenen Jahrzehnts, das Kaiserbild in der Küche, – aus all dem staubfangenden und schon leicht räudigen Glanz schaute der verlegene Blick der alten Doppelmonarchie den Betrachter an. (TH 142f.)3 Die Doppelmonarchie wird hier als alt und überholt, als Anachronismus dargestellt – und tatsächlich existiert sie zur Entstehungszeit der Erzählung längst nicht mehr. Das Freuden- bzw. Trauerhaus ist innerhalb der Stadt Prag situiert, wo es neben anderen Institutionen des täglichen, bürgerlichen Lebens seinen festen Platz hat:
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Franz Werfel (1990): »Das Trauerhaus«. In: Ders.: Die Entfremdung. Erzählungen. Hg. v. Knut Beck. Frankfurt a.M.: Fischer (Gesammelte Werke. Erz,3), S. 142-215. Im Folgenden wird dafür die Sigle »TH« verwendet. Hier sehe ich einen Ansatzpunkt für die u. a. von Ansgar Nünning als Forschungsdesiderat benannte Verknüpfung von Lotmans Kultursemiotik mit Bachtins Konzept des Chronotopos (vgl. Nünning 2009). Bei Bachtin heißt es: »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. […] Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert« (Bachtin 2008: 7). In seiner Studie zeigt Bachtin, wie die gothic novel des ausgehenden 18. Jahrhunderts ›historische Zeit‹ konzipiert, indem sie die Vergangenheit z. B. anhand von Ahnenbildern innerhalb des Handlungsortes ›Schloss‹ präsent macht. Eine ähnliche »Materialisierung der Zeit im Raum« (Bachtin 2008: 188) ist an dieser Textstelle aus dem Trauerhaus zu beobachten. Anhand altertümlicher und angestaubter Objekte wird die Monarchie im Raum präsent gemacht und in ihrer Überkommenheit ausgestellt.
II. Eine vergleichende Betrachtung zur Einführung
In unserer Stadt hat es bis tief in den Krieg hinein drei Institutionen gegeben, die diesen hochoffiziösen Charakter rein bewahrten! Das war die Konditorei Stutzig, die Tanzschule, die Herr Pirnik in einem schönen Barockpalais nahe der berühmten Brücke etabliert hatte, ein distinguierter Ort, wo die gute Bürgerjugend neben Walzer, Sir Roger, Polka, Tyrolienne auch eine klassische Quadrille lernen durfte, ... und eben dieses Haus hier, in dem wir uns gegenwärtig befinden. Es ist, wie ich glaube, als letztes verschwunden. (TH 143) Prag wird durch die Tanzschule, in der Tänze aus ganz Europa gelehrt werden, als plurikultureller Raum, in dem sich verschiedene nationalkulturelle Prägungen überlagern, porträtiert. In diesen Kontext wird nun das Freudenhaus eingeschrieben. Zudem spiegeln die Figuren, die das Haus bevölkern, die kulturelle Vielfalt der Donaumonarchie wider: Da sind die Pragerin Ludmilla, die Ungarin Ilonka, die Deutschböhmin Edith, die Jüdin Jenny, Manja, »die Tochter des Totengräbers von Rokycan« (TH 147), Anita, deren Name eine italienische Herkunft suggeriert, die Polin Jodwiga sowie der Klavierspieler Herr Nejedli, ehemals »k. k. Titularwunderkind« (TH 150), der nun in seinen Liedern und Anekdoten »tschechoslowakischen Hochverrat« (TH 154) übt. Auch die Gäste des Hauses bilden einen Querschnitt durch die sozialen, religiösen und nationalkulturellen Kontexte: Hier begegnen sich Angehörige des Militärs, Advokaten und Künstler, Studenten, Unternehmer aus der kleinstädtischen Provinz, der Präsident der Spinoza-Gesellschaft und Ordensmeister der »Söhne des Bundes« sowie »Fürstlichkeiten der Brandeiser Dragoner« (TH 156). Dieser Begegnungsort wird räumlich mitten im Zentrum der Großstadt verortet, in der »Gamsgasse« (TH 157), der heutigen Kamzíková. Auf der zeitlichen Ebene liegt er jedoch außerhalb der Norm, denn das Leben hier spielt sich nachts ab. Es ist ein Ort, der – in der Topographie der Semiosphäre – nicht im Zentrum, das heißt in der stark strukturierten und normierten Zone liegt, sondern an der Peripherie. Bei Lotman heißt es: »[D]as städtische ›Nachtleben‹ liegt an der Grenze oder außerhalb der Kultur« (Lotman 2010: 188). Die Grenze ist nach Lotman ein »Ort der konstitutiven Zweisprachigkeit« (Lotman 2010: 189). In dieser Weise ist das »Trauerhaus« bei Werfel als Ort der Begegnung, als Ort für durchlässige und dynamische soziale Prozesse modelliert. So können hier Mitglieder verschiedener sozialer und sprachlicher bzw. nationalkultureller Gruppen zusammentreffen. In besonderer Weise lässt sich die Vielfalt kultureller Prägungen an der Figur des Hausbesitzers Max Stein und der Darstellung seiner religiösen und sprachlichen Praxis nachvollziehen. Er stammt aus einer alten Prager jüdischen Familie, besucht aber regelmäßig mit der Wirtschafterin Edith die katholische Messe. In seinem Sprachgebrauch offenbart sich der Einfluss der verschiedenen Idiome. Seine Sprache stellt eine Melange aus verschiedenen nationalsprachlichen und dialektalen Versatzstücken dar: »Jetzt aber hab ich genug! Weil ihr stier seids, soll ich
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roboten« (TH 161). Hier überträgt Werfel den Polyglottismus der plurikulturellen Großstadt Prag in die literarische Form.4 Durch die Verlagerung der verschiedenen sprachlichen Elemente in eine Figur werden die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz von Identitätsentwürfen ausgestellt. Bestehende Zuschreibungen und Grenzziehungen entlang sprachlicher und nationaler Grenzen werden so unterlaufen. Bezeichnenderweise ist es der Tod des Freudenhausbesitzers Max Stein, der kurz nach der Nachricht des Attentats von Sarajevo die Verwandlung des Freuden- in ein Trauerhaus bewirkt und schließlich dessen Untergang einleitet. Trotz persönlicher Zu- und Abneigungen verläuft das Leben im Großen Salon meist fröhlich und die Bewohner bewältigen gemeinsam ihren Alltag.5 Eines Abends kommt es jedoch zum Eklat, als ein deutscher Unternehmer aus der Gegend um Aussig/Ústí nad Labem, der begeistert die »Organisation in Wirtschaftsleben und Politik« des »deutsche[n] Bruder[s] im Reich« (TH 146) lobt, von der Tschechin Ludmilla abgewiesen wird. An dieser Stelle wird der Nationalitätenkonflikt thematisiert und narrativ ausgestaltet. Der national gesinnte deutsche Unternehmer fordert Ludmilla als die »Ware, die auf Lager liegt«, ein und erhält eine Absage von Herrn Maxl, der »als ritterlicher Vorstand seiner Damen« (TH 166) mit humanistischer Gesinnung auftritt. Daraufhin kommt es unter den Damen zu einer wilden Rauferei, in der sich die bis dahin nur schwelenden Konflikte zwischen den verschiedenen Hausbewohnerinnen, unter denen natürlich eine gewisse Konkurrenz herrscht, entladen. Der Kampf wird beendet durch das Erscheinen eines Boten, der die Nachricht des Attentates auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo überbringt. »Der wüste Zwist, die Rauferei hatte keine Spuren zurückgelassen. […] Merkwürdig, die Explosion schien alle Gehässigkeiten bereinigt zu haben und die Scham über den widerlichen Vorfall band selbst Feindinnen aneinander« (TH 173). Werfel zeigt an dieser Stelle, dass heterogene Gemeinschaften auch Konfliktgemeinschaften sind, ein gemeinsames Miteinander aber trotzdem möglich ist. Für ihn ist die Idee Österreichs – verkörpert in der Figur des Maxl – das humanistische Ideal, das über nationale Konflikte erhaben ist und den Vielvölkerstaat zusammenhält. Dies wird auch in seinem Essay Versuch über das Kaisertum Österreich deutlich, das als Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Aus der Dämmerung einer Welt 1936 erschien: »Österreich war eine wunderbare Heimat, eine allmenschliche Heimat ohne Rücksicht auf Blut und Bekennen, auf Herkommen und Hinwollen ihrer Kinder. Der noch im alten Reich geborene Österreicher hat keine Heimat mehr« (Werfel 1975: 520).
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Ähnliches diagnostiziert Richard Reichensperger in seinem Aufsatz zur Stadtsemiotik für die Stücke Johann Nestroys und den Wiener Kontext (Reichensperger 1999: 174). Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Vera Schneiders Studie Wachposten und Grenzgänger (Schneider 2009: 207ff.).
II. Eine vergleichende Betrachtung zur Einführung
Werfels Erzählung ist das Bedauern über das Scheitern der Idee Österreichs als übernationalem6 Ideal, das er rückblickend im Trauerhaus noch einmal – sicherlich auch verklärend – beschwört, deutlich anzumerken.7 Gleichwohl geht Werfels Verklärung nicht so weit, dass er kulturelle Differenzen und Konflikte ausklammert.
2.
Max Brod Weiberwirtschaft (1913)
Einer ähnlich konfliktgeladenen und dennoch eng miteinander verbundenen Frauengemeinschaft wie bei Werfel begegnen wir in Max Brods Erzählung Weiberwirtschaft 8 aus dem Jahr 1913. Vier Freundinnen eröffnen gemeinsam einen Hutsalon am Riegerquai mit »Aussicht auf den Hradschin« (WW 281). Auch hier sind die Figuren in ganz unterschiedlichen sozialen und nationalkulturellen Kontexten verortet: Anna Loukota, frisch geschieden von einem Ministerialbeamten mit Wohnung am Stadtpark9 , lebt zusammen mit dem tschechischen Studenten Karl Zaip, der sich von ihr aushalten lässt; Valesca Arnim, einst als »Chansonette« (WW 278) nach Prag gekommen, hat eine Beziehung mit dem »Heldenvater eines tschechischen Theaters« (WW 266) Kladnicky; Manja Jirasková, Modistin und Hutmacherin aus dem einfachen Volk, ist mit dem deutschen Staatsbeamten Stadler liiert, und die vierte im Bunde, die Sängerin Cervinka, heiratet im Verlauf der Erzählung Baron Frank. Für die vier Prager Freundinnen ist ihre Heimatstadt ein »fades Nest« (WW 297), der Inbegriff modernen großstädtischen Lebens hingegen ist für sie
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Eine ähnliche, retrospektiv-verklärende Haltung gegenüber der Habsburgermonarchie lässt sich einige Jahrzehnte später auch bei Johannes Urzidil im Begriff des ›Hinternationalen‹ beobachten: »Denn so kam er [der Knabe, U.M.] viel herum, niemand kümmerte sich um ihn, er wählte sich seine knäbischen Freunde und Feinde allerwärts, und es war ihm gleichgültig, ob sein Ball durch eine tschechische, deutsche, jüdische oder österreichisch-adlige Fensterscheibe hindurchflog. ›Ich bin hinternational‹, pflegte er zu sagen. Hinter den Nationen – nicht über- oder unterhalb – ließ sich leben« (Urzidil 1960: 10f.). Norbert Abels nennt die Erzählung ein »respektvoll-melancholisches Requiem auf jene uralte Verbindung von Reich, Religion und Sinnlichkeit« (Abels 2001: 97), Dana Pfeiferová sieht darin eine »Allegorie des Untergangs der k. u. k. Monarchie und der mit ihr verbundenen Lebenseinstellung […] zwischen Tragik und Komik« (Pfeiferová 2001: 120). Max Brod (2013): »Weiberwirtschaft«. In: Max Brod: Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden. Roman; und andere Prosa aus den Jahren 1909-1913. Göttingen: Wallstein. Im Folgenden wird dafür die Sigle »WW« verwendet. Der Stadtpark als Wohnlage markiert Wohlstand und ein großbürgerliches Milieu. Hermann Grab hat in Der Stadtpark (1935) diese Lebenswelt literarisch ausgestaltet (vgl. Kap. VII. der vorliegenden Arbeit)
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Paris, Sehnsuchtsort und Hauptstadt der Mode. Und so wird der Hutsalon auch folgerichtig »La Parisienne« (WW 283) getauft.10 Der Hutsalon bildet innerhalb der konkurrierenden, teils gegensätzlichen sozialen und nationalkulturellen Substrukturen im Sinne der Semiosphäre einen »neutrale[n] Boden« (WW 290). Im folgenden Textausschnitt kommt die befreite Atmosphäre dieses offenen, toleranten und interkulturellen Kommunikationsraumes, wie Brod ihn in der Weiberwirtschaft dargestellt hat, zum Ausdruck: Und wie alle Standesgrenzen war auch der nationale Gegensatz, der sonst das ganze Bürgertum reinlich in zwei Teile schied, hier im Salon ›La Parisienne‹ verwischt. Es kamen Deutsche und Tschechinnen; abwechselnd, noch öfter zugleich, wurde in beiden Sprachen geredet, es herrschte ein verschlampter internationaler Ton, eine Nivellierung in allen Hinsichten, in Lebensform, Rasse, Sprache und Moral, eine Mischung von Echt und Unecht, eine Gleichgültigkeit gegen alle Wertdifferenzen, wie sie eben die seltsame Stellung der vier Frauen, am äußersten Rande der Gesellschaft und doch nicht ganz von ihr ausgestoßen, mit sich brachte, eine Stellung, die zwar ihr Zusammenleben von Kleinlichkeit befreit hielt, aber auch alle hohen und mittleren Interessen beiseite schiebend, zu immer niedrigern Gemeinsamkeiten hinleiten mußte. (WW 291f.) Die Überwindung sozialer und nationaler Trennlinien und der Austausch zwischen streng voneinander abgeschlossenen Sphären schafft im Hutsalon einen performativen hybriden Kommunikationsraum. Interkulturelle Begegnung wird möglich, da hier die Grenze – auch im Sinne einer Sprachgrenze – zu einer Kontaktzone wird (vgl. Lotman 2010: 187). Voraussetzung dafür ist die Stellung der Protagonistinnen »am äußersten Rande der Gesellschaft« – gerade auch als Frauen in einer patriarchalisch geprägten Zeit und Welt. Sie werden zu Grenzgängerinnen im Lotmanschen Sinne, da sie den ihnen angestammten Raum verlassen und durch die Überschreitung einer Grenze
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Sowohl durch die Markierung von Paris als Hauptstadt der Moderne und der Mode als auch durch den Hutsalon in Prag wird der Mode-Diskurs aufgerufen. Die enge Verbindung von Mode und Moderne offenbart sich in materiellen Prozessen, gesellschaftlichen Praktiken, medialen, wirtschaftlichen und technischen Zusammenhängen: »Der Mode inhärente Wirkungsmechanismen wie Dynamisierung, Abwechslung, Rhythmisierung, Flüchtigkeit oder Serialität [sind] strukturelle Kennzeichen gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse« (König/Mentges/Müller 2015: 8). Auch wenn hier aus Platzgründen nicht näher auf den Mode-Diskurs eingegangen werden kann, soll an dieser Stelle dennoch auf Ansatzpunkte für weitere Untersuchungen verwiesen werden, wie etwa Mode als kommunikative Sinnstruktur, die Genderisierung von Mode sowie das Potenzial der Mode für ästhetische Grenzüberschreitungen.
II. Eine vergleichende Betrachtung zur Einführung
und ihr Hinübertreten in den männlich dominierten Bereich der Arbeit und Ökonomie die Handlung in Gang bringen.11 Erst ihre (gesellschaftliche) Verortung in der Peripherie, vielmehr an oder auf der Grenze, macht herrschende Strukturen durchlässig und schafft somit auch einen offenen Kommunikationsraum: »Der äußerste Rand der Semiosphäre ist ein Ort permanenten Dialogs« (Lotman 2010: 190) heißt es stimmiger Weise dazu bei Lotman. Am Rand der Gesellschaft – oder mit Lotman: an den Rändern der Semiosphäre, an die wiederum andere Semiosphären angrenzen – kommt es zu permanenten Transferbewegungen, »zu einem permanenten Austausch, zur Entwicklung einer gemeinsamen Sprache« (ebd.), die sich in unserem Textbeispiel in der Ausprägung eines »verschlampte[n] internationale[n] Ton[s]« niederschlägt. Die Überschreitung von gesellschaftlich etablierten oder semiotischen Grenzen zeigt sich nicht zuletzt auch in den Liebesbeziehungen der vier Protagonistinnen, die allesamt unkonventionell und über nationale Grenzziehungen hinweg geschlossen werden. Freilich ist auch das Miteinander der vier sehr unterschiedlichen Frauen nicht frei von Konflikten, doch es ist der Umgang damit, der von Verständnis und Verzeihen geprägt ist, der sie immer wieder zusammenfinden lässt: »So ohrfeigten sie sich und lebten wieder einträchtig miteinander, ohne überdies diese beiden Verhältnisse in ihrem Gefühl als eigentlich verschieden oder gar entgegengesetzt zu empfinden« (WW 297). Darin lässt sich eine Parallele zum oft konfliktreichen Mit- und Gegeneinander im Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkennen. Ein solcher von Toleranz geprägter Umgang mit Konflikten, wie er ihn in der Weiberwirtschaft gestaltet hat, dürfte auch dem umtriebigen Mittler zwischen den Kulturen und Sprachen Max
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Es bleibt jedoch darauf hinzuweisen, dass die ›Weiberwirtschaft‹ als ökonomisches Projekt letztlich scheitert. Durch Misswirtschaft und Streitigkeiten geht der Hutsalon bankrott. Während einer chaotischen Szene im Salon – die Gläubiger fordern ihr Geld und der Streit zwischen den Figuren droht zu eskalieren – tritt Kladnicky auf. In ironischer Weise wird geschildert, wie er die ›alte‹ Ordnung wiederherstellt und die Frauenfiguren auf ihre Plätze verweist. In der folgenden Passage lässt sich die räumliche Ausgestaltung einer genderisierten Ordnung ausmachen: »Er [Kladnicky] verteilte den Raum um sich, beachtete die Lichtwirkung, ordnete geschmackvoll Gesten und Worte. […] In diesem Moment stahl sich Valesca zur Türe herein, die sich draußen allein gefürchtet hatte. ›Hab ich dir nicht gesagt, du sollst draußen bleiben‹, herrschte er sie an. Mit ängstlichem Gesicht zog sie sich zurück, doch nur scheinbar, an der Tür blieb sie wieder stehn. Alle sahn auf sie. Einen Moment war sie im Mittelpunkt, doch bald lenkte der Heldenvater wieder alle Aufmerksamkeit auf sich« (WW 328f.; meine Hervorhebungen, U.M.). Die von Kladnicky zunächst wiederhergestellte (Geschlechter-)Ordnung (vgl. Gayle Rubins Ausführungen zum »sex/gender system« (vgl. Rubin 1975)) wird zum Schluss der Erzählung von den Frauenfiguren allerdings wieder unterlaufen, worin ein revolutionäres und emanzipatorisches Moment liegt.
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Brod als Ideal vorgeschwebt haben. Dieses Ideal, als Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen, kommt programmatisch in seiner Besprechung der Ausstellung der Osma, einer Gruppe von deutsch- und tschechischsprachigen bildenden Künstlern, im Frühling 1907 zum Ausdruck: Es erscheint schwierig, einem Nicht-Prager die spaßigen und heiklen Nuancen unserer sprachlich geschichteten Gesellschaft vorzuführen, die mit großem Eifer das Talent pflegt, nur immer Trennendes der beiden Volksstämme, nie das Zusammenführende zu betonen. […] Demgegenüber wandelt mich die Lust an, zu beweisen, auf die Gefahr hin, einige Patrioten beiderseits zu verstimmen, […] zu beweisen, daß in Prag kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation die Rede ist, sondern nur noch von Pragern, Bewohnern dieser herrlichen und geheimnisvollen Stadt. (Brod 1979: 61)12
3.
Richard Weiner Rovnováha [Gleichgewicht] (1914)
In Richard Weiners Rovnováha13 ist im Gegensatz zu den beiden bereits betrachteten Erzählungen die Handlung nicht explizit in Prag situiert. Allerdings lassen sich, wie ich meine, die hier literarisch ausgestalteten Themenkomplexe durchaus auf das plurikulturelle Mit- und Gegeneinander im Prag des frühen 20. Jahrhunderts beziehen, so dass der Text implizit etwas über Interkulturalität aussagt. Die kurze Erzählung handelt von einem Vater und seinem Sohn, die als Akrobatenduo mit Hilfe einer Leiter waghalsige Balanceakte vollführen und mit ihrer Darbietung die Welt bereisen. Im Zentrum des Textes steht die Problematisierung von Kommunikationsprozessen. Diese kommen einerseits auf narratologischer Ebene in der Anrede des Sohnes/Ich-Erzählers an das Publikum zum Ausdruck; andererseits wird der Dialog zwischen Vater und Sohn, die sich mit Hilfe einer »Augensprache« (GG 92) [»hovor očí« (R 203)] verständigen, beschrieben. Der Text ruft gleich zu Beginn unterschiedliche kulturelle Räume auf: Vater und Sohn stammen aus der Nähe von »Kioto« (R 199/GG 88). Mittlerweile sind 12
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Es handelt sich hier um einen Nachdruck des von Max Brod verfassten Berichts Frühling in Prag in: Ders.: Der Prager Kreis. Der Bericht erschien erstmals am 18. Mai 1907 in der Berliner Zeitschrift Die Gegenwart. In der Rückschau leitet Max Brod den hier zitierten Wiederabdruck mit der relativierenden Bemerkung ein, dass er damals »die Dinge wesentlich optimistischer gesehen hat, als sie lagen, und vor allem: als sie sich nachher entwickelt haben« (Brod 1979: 60). Richard Weiner (1996): »Rovnováha«. In: Richard Weiner: Netečný divák a jiné prózy. Hg. v. Zina Trochová. Praha: Torst (Gesamtausgabe Bd. 1), S. 194-205. Dafür wird im Folgenden die Sigle »R« verwendet. Die deutschen Übersetzungen stammen aus: Richard Weiner (1968): »Gleichgewicht«. In: Richard Weiner: Der leere Stuhl und andere Prosa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 79-95. Im Folgenden wird hierfür die Sigle »GG« verwendet.
II. Eine vergleichende Betrachtung zur Einführung
die beiden schon lange »v cizině« (R 200) [»in der »Fremde«] (GG 88) und »stále daleko od vlasti« (R 201) [»ständig fern der Heimat« (GG 89)]. Weiterhin werden die verschiedenen Stationen ihrer Reise und ihre dortigen Erlebnisse beschrieben: Kopenhagen, Berlin, England, die Niederlande, Suez, Aden im Jemen, Alexandria und Chicago. Die Erzählung markiert damit verschiedene kulturelle Kontexte als die ›Fremde‹, in der sich Vater und Sohn bewegen. Eine weitere Dimension von Fremdheitserfahrung wird von dem Sohn/IchErzähler zwischen ihm selbst und dem Publikum etabliert: das Unverständnis der Zuschauer beim Anblick der waghalsigen Balanceakte. Sie können nicht verstehen, wie die Kunststücke möglich sind und daraus erwachsen »obdiv« (R 196) [»Bewunderung« (GG 84)], aber auch »závist« (R 195) [»Neid« (GG 84)]. Auf Seiten des IchErzählers führt dies wiederum zu Traurigkeit und Hilflosigkeit. Dadurch wird eine Verständigung unmöglich: »Jsme, vy a já, jako dvě lichoběžky, které mohou věděti jedna o druhé, jež však nemají vůbec vztahu« (R 197) [»Wir, ihr und ich, sind wie zwei Gerade, die wohl eine von der anderen wissen, die aber keine Beziehung zueinander haben« (GG 85)]. Diese Unmöglichkeit von Kommunikation wird jedoch konterkariert durch den Text selbst, der ja seiner Form nach der Versuch eines Dialogs zwischen dem Sohn und dem Publikum ist. Auf einer weiteren Ebene kommt der Versuch einer Kommunikation zwischen Ich-Erzähler und Leser hinzu. Der Wille zur Verständigung, aber auch die Schwierigkeiten des Übersetzens zwischen Sender und Empfänger werden explizit formuliert: Ale což kdybych se pokusil přetlumočiti vám svoje ve vaše? Ač by se tím denaturoval až k nepoznání a k šedi můj zážitek, můj přepych, vám by možná tento překlad zněl jěště jako horoucí lyrismus, jenž by dal věřiti, že jste se vyrvali z nevolné labilnosti svých existencí v snadné vznášení se v oblastech dokonalé rovnováhy. Ovšem vaší rovnováhy pouze; ale kdo měří své štěstí jinými měrami než těmi, které jsou jemu normou? Mám se o to pokusiti? (R 197f.) Wie jedoch, wenn ich versuchte, euch meines in eures zu verdolmetschen? Obwohl sich mein Erlebnis dadurch zur Unkenntlichkeit und Grauheit denaturieren würde, klänge euch diese Übersetzung möglicherweise noch als inbrünstiger Lyrismus, der glauben machte, daß ihr euch herausgerissen habt aus der unfreien Labilität eurer Existenzen ins leichte Schweben der Bereiche vollkommenen Gleichgewichts. Freilich nur eures Gleichgewichts; doch wer mißt sein Glück schon mit anderen Maßen als jenen, die ihm Norm sind? Soll ich es versuchen? (GG 85; fette Hervorhebungen von mir, U.M.) Wenn man diese Textstelle mit dem Kulturmodell Lotmans kurzschließt, wird die Verflechtung von Kommunikation, Übersetzungsleistungen und Normen evident: »Da der semiotische Raum von zahlreichen Grenzen durchzogen ist, muss jede Mitteilung, die in ihm zirkuliert, immer wieder neu übersetzt und transformiert
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werden, und dabei wird lawinenartig immer neue Information generiert« (Lotman 2010: 187). Diese Grenzen können Grenzen einzelner Sprachen oder Texte sein, »und der Innenraum jeder dieser Sub-Semiosphären hat sein eigenes semiotisches ›Ich‹«, das an ein Individuum, eine Gruppe oder eine »soziale, religiöse oder moralische Position geknüpft sein« kann (Lotman 2010: 184). Die Norm ist das, was im Zentrum der Semiosphäre als unmarkiert und ›normal‹ gilt. Hier spiegelt sich der dominante Code, spiegeln sich die herrschenden Machtverhältnisse wider. Der Standpunkt der asiatischen Akrobaten, die als Fremde durch die Fremde reisen – sie bewegen sich in der kulturellen Peripherie, quasi im ›Außen‹ – prädestiniert sie dazu, diese Normen in Frage zu stellen, und zeigt sie als »Experten für Mehrdeutigkeit und diffuse Identitäten« (Koschorke 2012: 121). In diesem Sinne können sie von der Norm abweichende neue Einsichten vermitteln und in einen (auch interkulturellen) Dialog treten. In der »Augensprache« (GG 92) [»hovor očí« (R 203)], in der Vater und Sohn kommunizieren, manifestiert sich das Ideal eines gelungenen Dialogs. Ausgangsund Zielpunkt ihres »dvojjediného života« (R 202) [»zweieinigen Lebens« (GG 91)] ist die Kunst: »Neboť oba jsme žili totéž, tak nás ukáznilo naše umění, tak nás povzneslo nad rozdílnost jedinců« (R 199) [»Denn wir haben beide dasselbe gelebt, so diszipliniert hat uns unsere Kunst, so erhöht über die Unterschiedlichkeit der Individuen« (GG 87)] und an anderer Stelle heißt es: »Cokoliv spatřím, o čemkoliv uslyším, čehokoliv se dotknou moje prsty, vše mne uvádí u vytržení, neboť všechno vede k mému žebříku a k mému umění« (R 204) [»Was ich auch gewahre, was ich höre, was meine Finger berühren, alles entzückt mich, denn alles führt zu meiner Leiter und meiner Kunst« (GG 93)]. Die in Rovnováha anklingende Sprachskepsis und die problematisierte Verständigung zwischen Künstler und Publikum finden sich später auch in Richard Weiners Poetik Lazebník [Der Bader] von 1929, über die Steffi Widera bemerkt: »Das Spannungsfeld, in dem der Text oszilliert, ist die Frage nach der Möglichkeit, subjektive, kreative Produktivität in objektive Rezipierbarkeit umzuwandeln« (Widera 2001: 105). Ein weiteres Spannungsfeld besteht in Rovnováha zwischen den Polen Heimat und Fremde, das sich auch auf Weiners damalige Lebenssituation beziehen lässt. Aus Paris, wo er als Korrespondent der Zeitung Lidové noviny arbeitete, schrieb er im Juli 1913 an seine Eltern: »Jsem také již dlouho v cizině. Zapomínám, bolí mě to, a nechtěl bych se vrátiti. Je v tom cosi nezdravého. Nejsem ani žid, ani Čech, ani Němec, ani Francouz« [»Nun auch ich bin schon lange in der Fremde. Es schmerzt mich; ich vergesse und möchte nicht zurückkehren. Etwas Ungesundes liegt hierin. Ich bin weder Jude noch Tscheche noch Deutscher noch Franzose«] (zit. n. Málek 2015: 130). Weiner thematisiert hier das antithetische Verhältnis von Fremde und Heimat, darüber hinaus nennt er verschiedene (nationalkulturelle) Identitätszuschreibungen, von denen er allerdings keine für sich in Anspruch nimmt. Etwa um dieselbe Zeit schreibt er in einem Feuilleton-Manuskript »Šlo mi
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о to: dívati se do Čech skrze Paříž, která je, věřím v to, stále ještě pulsometrem světa« (Paris, 15. Mai 1913) [»Darum ging es mir: nach Böhmen zu schauen von Paris aus, das, meines Erachtens nach, immer noch der Pulsmesser der Welt ist«] (zit. n. Widera 2001: 124). Weiner artikuliert sein Ziel, aus der Fremde auf die Heimat schauen zu wollen. Das Verhältnis Heimat und Fremde lässt sich räumlich als ein Verhältnis aus Nähe und Distanz fassen. Die Fremde birgt in sich die Möglichkeit, die Heimat aus der und mit Distanz zu betrachten und dadurch mehr bzw. anders zu sehen. Der Künstler wiederum lässt sich als Grenzgänger im Sinne Lotmans begreifen. Seine besondere Stellung im gesellschaftlichen Gefüge – wie sie in den Akrobaten literarisch porträtiert wird – prädestiniert ihn dazu, Normen zu hinterfragen und neue Perspektiven einzunehmen. Der Text wird bei Weiner zu einem Raum, in dem der Leser ›dem Anderen‹, ›dem Fremden‹ begegnen kann.14 Der Künstler nimmt also eine Mittlerrolle zwischen verschiedenen Sprachen und Codes ein, wobei der Text zu einem »hypostatische[n], hybride[n] kommunikative[n] Metaraum« (Csáky 2011: 21) wird.
Resümee Max Brod modelliert in der Weiberwirtschaft den Hutsalon im Zentrum Prags als einen Raum der Begegnung, in dem soziale, weltanschauliche und nationalkulturelle Unterschiede nivelliert werden, und als »Ort permanenten Dialogs« (Lotman 210: 190), der in einem »internationalen Ton« (WW: 291), einer gemeinsamen Sprache stattfindet. Es sind Frauen aus den unterschiedlichsten sozialen Kontexten, »Deutsche und Tschechinnen« (ebd.), die sich hier nurmehr als Pragerinnen begegnen. Dabei sieht Brod durchaus auch das Konfliktpotenzial einer diversen Gemeinschaft, plädiert aber für einen toleranten Umgang miteinander. Dasselbe kann für Franz Werfels Trauerhaus gelten. Er stellt Prag als plurikulturellen Stadtraum im Kontext des österreich-ungarischen Vielvölkerstaates dar, dessen Vielfalt durch die Bewohnerinnen und Bewohner des Freudenhauses repräsentiert wird. Auch hier 14
Petr Málek macht Fremdheit als »zentrale[s] Erlebnismoment« (Málek 2015: 138) im Werk Weiners aus. Er untersucht den »Komplex des Fremdseins, welches nicht nur das zugespitzte Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Heimat reflektiert, sondern – im tschechischen Kontext bereits beginnend bei Karel Hynek Mácha – auch als Metapher für die Bestimmung des modernen Künstlers dient; also das Verharren in der Heimatlosigkeit bzw. in der Enterbtheit sowohl im nationalen als auch im sozialen, existenziellen und künstlerischen Sinne« (a.a.O.: 129). Eingebettet in die Analyse des zeitgenössischen Diskurses zu jüdischer Identität und ausgehend von Weiners publizistischem Schreiben sowie seinen Briefen sieht Málek Weiners literarisches Werk als Ort und sein Schreiben als Strategie der Verhandlung von multiplen Fremdheitserfahrungen und identitären Krisen.
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gibt es Konflikte, aber unter dem gemeinsamen Dach findet man immer wieder zusammen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bringt das Ende des Freudenhauses und den Untergang der Donaumonarchie. Aus der Rückschau hat Werfel mit dem Trauerhaus einen melancholischen Nachruf auf das alte Österreich verfasst, das er beschreibt als »eine wunderbare Heimat, eine allmenschliche Heimat ohne Rücksicht auf Blut und Bekennen, auf Herkommen und Hinwollen ihrer Kinder« (Werfel 1975: 520), die es jedoch 1927 nicht mehr gibt. »[S]tändig fern der Heimat« (GG 89) [»stále daleko od vlasti« (R 201)] sind auch Vater und Sohn in Richard Weiners Rovnováha. Darin kommt Prag zwar nicht explizit vor, aber mit den Stationen ihrer Reise um die Welt sind interkulturelle Zusammenhänge aufgerufen. Zentrales Thema ist die Existenz des Künstlers. Zwar betont der Ich-Erzähler immer wieder, dass er selbst das Gleichgewicht und nur durch sich selbst sei (vgl. GG 94/R 26), allerdings ist ihm darin nicht ganz zu trauen, wird doch erstens das titelgebende Gleichgewicht nur im Zusammenspiel mit dem Vater hergestellt, zweitens ist der gesamte Text der Versuch, sich dem Publikum/den Anderen zu erklären. Die diesbezügliche Unzuverlässigkeit des Erzählers wird schließlich am Ende des Prosastücks entlarvt: »A poněvadž vidím básnicky, jdu přímo k nadšení. Požehnaná rovnováha! Ona činí, že jsem zatknut ve společnosti a podoben tyči zaražené v led. Není jí úzko, když ledy pukají. Její vlastností jest, že může existovati, i když pevné se promění v plynné.« (R 26) [»Und weil ich dichterisch sehe, gelange ich zur Begeisterung. Gesegnet sei das Gleichgewicht! Es bewirkt, daß ich der Gesellschaft verhaftet bin wie eine ins Eis gerammte Stange. Sie bekommt keine Angst, wenn das Eis birst. Ihr ist eigen, auch dann existieren zu können, wenn sich das Feste in Flüssiges verwandelt.« (GG 94)]. Es wird deutlich, dass der Künstler nicht außerhalb der Gesellschaft existiert, sondern innerhalb einer soziokulturellen Umwelt situiert ist. Dennoch wird dem Künstler eine höhere Ambiguitätstoleranz zugeschrieben: Statt starrer Konzepte hält er auch fluide Vorstellungen aus. Die im Text verhandelten Fragen nach Eigenem und Anderem, nach Kommunikation und Übersetzungsleistung, die den Künstler-Erzähler umtreiben, ließen sich also auch auf eine spezifische Prager Interkulturalität übertragen. Die in den drei Texten vorgestellten dynamischen Figuren der Grenzgänger – der Freudenhausbesitzer Maxl bei Werfel, die vier Frauen bei Brod und das VaterSohn-Paar bei Weiner – machen die dem jeweiligen »Weltbild« (Lotman 1993: 312) analogen Grenzziehungen auf der einen Seite sichtbar, während sie diese gleichzeitig durchstreichen. So wird in der Prager Moderne die Kunst, in unserem Falle die Literatur, zum Kommunikationsraum, innerhalb dessen bestehende Segregationen hinterfragt und sogar aufgelöst werden können, und in dem ein Dialog mit ›dem Anderen‹ möglich wird. Die Texte eröffnen einen Raum, in dem (interkulturelle) Begegnungen stattfinden, und verhandeln dabei gleichzeitig die Schwierigkeiten, die eine solche Kommunikation an und über Grenzen mit sich bringt.
III. Prag als Ort der Krise(n): Paul Leppin Severins Gang in die Finsternis (1914) Vorbemerkungen In Paul Leppins »Prager Gespensterroman«, so der Untertitel von Severins Gang in die Finsternis, wimmelt es von Prager Straßen- und Ortsnamen; man könnte sagen, die Stadt spielt hier die eigentliche Hauptrolle. Jüngst wurde Severins Gang in die Finsternis von Julia Hadwiger und Dirk O. Hoffmann im Prager Vitalis-Verlag neu herausgegeben (Leppin 2018). Neben umfangreichen Materialien zum Text ist darin ein historischer Stadtplan zu finden, der die zahlreichen Handlungsorte verzeichnet, die in einem weiteren Teil erläutert werden. Dieser Stadtplan macht auf sehr anschauliche Weise die enge Verbindung zwischen der Romanhandlung und der Prager Topographie deutlich.1 Nicht nur der heutige Leser hat dadurch Prag ständig vor Augen, auch zeitgenössische Rezensenten wie Arne Novák, Otto Pick oder Kurt Pinthus waren der Meinung, dieser Roman sei ohne Prag gar nicht denkbar und habe nur über diesen Ort geschrieben werden können. Nun könnte es freilich an dem geschickten Marketing liegen, mit dem der Münchner Delphin-Verlag 1914 das Werk an den Leser bringen wollte2 : Es erschien als vierter Band der Reihe »Sammlung abenteuerlicher Geschichten« und wurde mit dem Untertitel Ein Prager Gespensterroman versehen, um eine breite Leserschaft
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Sicherlich hat die Tatsache, dass Prag eine so wichtige Rolle im Roman spielt, auch dazu beigetragen, dass kurz nach der Wende innerhalb von nur drei Jahren zwei tschechische Übersetzungen erschienen sind: eine bibliophile Ausgabe – Paul Leppin (1989): Severinova cesta do temnot. Übersetzt von Jaroslav Achab Haidler und illustriert von František Štorm. Praha: Dämmerung-Verlag – und Paul Leppin (1992): Severinova cesta do temnot. Übersetzt von Alena Bláhová und illustriert von František Štorm. Praha: Concordia. Else Lasker-Schüler zeigte sich wie schon zuvor bei Leppins Der Berg der Erlösung (1908) äußerst bemüht darum, einen Verleger für seinen neuen Roman zu finden. Sie schrieb an den Kurt-Wolff-Verlag, bei dem damals Franz Werfel Lektor war, jedoch ohne Erfolg. Otto Pick schließlich setzte sich bei Alfred Kubin für Severins Gang in die Finsternis ein und dank dessen Fürsprache wurde der Roman 1914 im Delphin-Verlag in München publiziert (vgl. Schmitz/Udolph 2001: 73).
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anzusprechen. Oder aber Paul Leppin hat in seinem Roman tatsächlich etwas eingefangen von der Stimmung in Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts, etwas, das die Rezensenten, die entweder in Prag lebten (Novák und Pick) oder Prag gut kannten und Prager Autoren wie Brod, Kafka und Werfel verlegten (Pinthus), mit dieser Stadt in Verbindung brachten. In jedem Fall traf Leppins Inszenierung Prags bei den Rezensenten einen Nerv. Die Handlung des Romans lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Der 23-jährige Protagonist Severin fristet ein Dasein in der lähmenden Monotonie seines Büroalltags. Die Nächte verbringt er in den Kneipen und Nachtlokalen Prags. Auf der Suche nach einem vagen, nicht näher benannten Schicksal, nach etwas Großem in seinem Leben, durchstreift er als Flaneur die Stadt, stürzt sich von einer Liebschaft in die nächste und begegnet einer Reihe sonderbarer Gestalten. Er erfährt Lust und Tod und endet schließlich in einer aussichtslosen amour fou zu der Prostituierten Mylada. Der Roman besteht aus zwei Büchern mit jeweils neun Kapiteln. Das erste Buch trägt den Titel »Ein Jahr aus dem Leben Severins«, das zweite ist mit »Die Spinne« überschrieben. Das Geschehen wird mittels fixierter interner Fokalisierung geschildert, so dass der Leser die Ereignisse ausschließlich aus Severins Sicht wahrnimmt. Die Innenperspektive mit Severins Sinneseindrücken und Bewusstseinsvorgängen dominiert. Der tschechische Literaturhistoriker und Kritiker Arne Novák stellt in seiner Besprechung des Romans fest, dass der »neuromantische« Protagonist »ein kollektives Schicksal« abbilde, das »sozial und lokal bedingt« sei: Paul Leppin behandelt mit einer beachtenswerten Ausdauer einen psychologischen Typus, den auch andere deutsche Dichter aus Prag mit Vorliebe vorführen: den Typus des neuromantischen Abenteurers aus des Jahrhunderts Wende. Es handelt sich keineswegs um eine literarische Mode, sondern vielmehr um ein kollektives Schicksal, sozial und lokal bedingt. (Novák 1913/1914: 1000; meine Hervorhebungen, U.M.) In seiner historisierenden Untersuchung des Begriffs Prager deutsche Literatur zeigt Georg Escher, dass zwischen 1896 und 1914 sowohl in der deutschsprachigen als auch in der tschechischsprachigen Literaturkritik vermehrt Formulierungen wie »Prager Dichter«, »Prager Roman«, »deutscher Dichter/Roman aus Prag«, »deutsche Literatur Prags« auftreten (vgl. Escher 2010: 201). Escher führt eine Rezension des tschechischen Germanisten Otokar Fischer aus dem Jahre 1914 an, der feststellt: »Praha příchází jako nově objevený a nadmíru vděčný předmět do módy německém písemnictví.« [»Prag kommt in der deutschen Literatur als neu entdecktes und überaus dankbares Sujet in Mode.«] (Fischer 1914, zit. n. Escher 2010: 202). Escher zeigt weiter, dass »die Rede von der Prager deutschen Literatur im lokalen historischen Kontext Prags zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wo gleich
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mehrere widerstreitende Konzepte kollektiver beziehungsweise nationaler Identität aufeinandertreffen, eine besondere identitätspolitische Dimension aufweist« (a.a.O.: 203). So knüpft 1918 der tschechische Literaturkritiker F. X. Šalda in seiner Besprechung von Max Brods Tycho Brahes Weg zu Gott (1915) an die Idee der Gleichsetzung von Raum, Volk, Sprache und Kultur an, um deutlich zu machen, wer in Prag bzw. Böhmen Heimatrecht genießt: V Praze není německé literatury, avšak jest zde několik německých literátů […]. Literatura jest […] něco jiného a něco více než skupina literátů, byť sebe početnější, žijící v některém území nebo v některém městě; literatura jest vyšší útvar, odpovídající svým životem zákonnou odpovědí národnímu celku, asi tak, jako květ odpovídá stromu. A toto nemůže ovšem býti pro Němce v Praze, ba ani ne v Čechách; […] není zde národa připoutaného osudným a jedinečným poutem k této půdě a pravě k této půdě. In Prag gibt es keine deutsche Literatur, aber es gibt hier einige deutsche Literaten […]. Literatur ist […] etwas anderes und mehr als eine Gruppe von Literaten – sei sie auch noch so zahlreich –, die in einem bestimmten Gebiet oder in einer bestimmten Stadt leben; Literatur ist eine höhere Formation, die in ihrem Leben gesetzmäßig dem nationalen Ganzen entspricht, etwa so wie eine Blüte dem Baum entspricht. Und das kann für die Deutschen freilich nicht der Fall in Prag sein, ja nicht einmal in Böhmen; […] es gibt hier keine Nation, die durch ein schicksalhaftes und einzigartiges Band an gerade diesen Boden gebunden wäre. (Šalda 1918, zit. n. Escher 2010: 204; Hervorhebungen im Original) In ähnlicher Weise versucht auch Jiří Karásek ze Lvovic in seiner Rezension, den Prager Stadtraum für die tschechische Literatur in Anspruch zu nehmen, indem er dem deutschsprachigen Autor Leppin ein tieferes Verständnis für die tschechische Stadt abspricht: Mne zajímal nejvíce v knize vztah autóra, Němce, žíjícího v českém ovduší, ku Praze. Autor se snaží vystíhnouti do nejmenších záchvěvů duši města. Ale cítíte stále, že bloudí ulicemi Prahy jako cizinec, nemající nejmenšího vztahu k minulosti města, – P. Leppin zná z Prahy jen přítomnost, a tu líčí mosaikou detailů svěže postřehnutých, nebo zase suggestivní lyrikou mrtvých, pohaslých tónů. Paul Leppin zachytil zvláště pěkně poesii Karlova a sousedních partií městských, – ale přirovnáte-li tato líčení k líčení týchž míst u českého autora, Felixe Tévera, vidíte rozdíl mezi tím, jak cítí s Prahou Němec a jak cítí Prahou autor, opojený českou minulostí. K Leppinovi mluví Praha sama o sobě, svou pittoreskností, svými barvami, kvalitami ladných linií, náladovostí šerých odlehlých koutův. Ale toho, čím mluví k srdci českého autora, Leppin nezná. Leppin nenachází na kamenech
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pražských ulic stop generací, jež tudy přešly a zde trpěly. (Karásek 1913/14: 334; Hervorhebungen im Original) Mich interessierte an dem Buch am meisten die Beziehung des Autors, eines Deutschen, der in einer tschechischen Atmosphäre lebt, zu Prag. Der Autor bemüht sich, den Geist der Stadt bis in die kleinsten Schwingungen zu erfassen. Aber Sie spüren dennoch, dass er durch die Straßen Prags irrt wie ein Fremder, der nicht den geringsten Bezug zur Vergangenheit der Stadt hat – P. Leppin kennt von Prag nur die Gegenwart und schildert diese als Mosaik frisch zersplitterter Details oder in der suggestiven Lyrik lebloser, verblichener Töne. Paul Leppin fing besonders hübsch die Poesie Karlovs und benachbarter Stadtteile ein – aber wenn Sie diese Schilderung vergleichen mit der Schilderung derselben Orte bei dem tschechischen Autor Felix Téver [hinter dem Pseudonym verbirgt sich die tschechische Schriftstellerin Anna Lauermannová, U.M.], sehen Sie den Unterschied, wie ein Deutscher Prag fühlt und wie ein Autor Prag fühlt, der berauscht ist von der tschechischen Vergangenheit. Zu Leppin spricht Prag nur von sich selbst, von seiner Pittoreskheit, seinen Farben, den Qualitäten seiner harmonischen Linien, der Launenhaftigkeit seiner dämmrigen, abgelegenen Ecken. Aber das, wovon sie [die Stadt Prag, U.M.] zum Herzen des tschechischen Autors spricht, kennt Leppin nicht. Leppin findet auf den Steinen der Prager Straßen nicht die Spuren der Generationen, die hier gingen und hier litten.3 Dieser kurze Exkurs in die tschechische Literaturkritik macht einerseits schlaglichtartig ganz unterschiedliche Positionen innerhalb des zeitgenössischen Diskurses deutlich. Gleichzeitig wird dadurch der Blick noch einmal geschärft für die Implikationen, die eine so deutliche Bezugnahme auf die Stadt Prag (vgl. den Untertitel »Ein Prager Gespensterroman«) zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem plurikulturellen urbanen Raum zweifellos hat, in dem unterschiedliche Zugehörigkeiten und Narrative kollektiver Identitäten neben- und gegeneinander ausgehandelt werden. Die Heterogenität Prags hebt auch der deutsche Schriftsteller und Publizist Kurt Pinthus in seiner Rezension hervor. Sie lasse die Empfindungen stärker hervortreten als in anderen »einheitlicheren Städten«: Denn das Grauen rührt uns an, welches das Leben, das Geschehen an sich birgt, jenes scheinbar hintaumelnde, sinnlose Geschehen, das unbiegsam, unverwirrbar trotz aller Wirrnis zu seinem Ziele zwingt. Und damit man dies um so dringlicher fühle, geschieht das Geschick Severins in der seltsamen Stadt Prag, wo das Tote lebt und das Lebende tot scheint ... Hier muß das Feuchte fauliger, das Drückende quälender, das Glänzende leuchtender empfunden werden; ein gebrochener Wille muß
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Die deutschen Übersetzungen stammen, falls nicht anders angegeben, von mir (U.M.).
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ohnmächtiger dahinsiechen, ein Verfall muß prädestinierter, gespenstischer sich darbieten als in anderen einheitlicheren Städten. (Pinthus 1914: 253; meine Hervorhebungen, U.M.) Pinthus charakterisiert Prag außerdem als »zerbröckelnde Stadt« (ebd.), wodurch der Kontext der Décadence aufgerufen wird. Otto Pick hingegen beginnt seine Besprechung, indem er über Prag als gemeinsamen Ursprung und Hintergrund »aller Künstler […] unserer Stadt« reflektiert: Es würde sich lohnen, einmal darzustellen, auf welche Weise junge Menschen in Prag Dichter zu werden pflegen. Eine Rundfrage würde die seltsamsten, dabei oft übereinstimmenden Antworten ergeben. Denn alles Wunderbare, was in den Dichtungen Rilkes, Brods u. a. über Prag gesagt wird, reicht nicht heran an die Augenblickserlebnisse, an die übermächtige Ergriffenheit aller Künstler, deren Schicksal sie ihre Jugend in unserer Stadt verleben ließ. (Pick 1914: 8; meine Hervorhebungen, U.M.) Pick spricht weiter von einem »Erlebnis Prag«, zu dem es für den hier Lebenden keinen objektiven Zugang geben könne, da die als magisch vorgestellte Stadt stets untrennbar mit dem eigenen Schicksal verbunden sei. Leppin zeige dieses Prag daher quasi als eine Art Eingeweihter: Vielleicht muß man lange Zeit in fernen Städten und Ländern gewesen sein, um zu dem Erlebnis ›Prag‹ objektiv Stellung nehmen zu können. In Prag lebend und schaffend vermag man diese rätselvolle, zerklüftete und bezaubernde, beengende und erhebende Stadt nur wie durch einen mattbunten Schleier, unwirklich und als einen Teil des eignen Schicksals zu sehen und zu erfassen. Und dies hat Paul Leppin schlicht und mit der äußersten Ehrlichkeit eines Befangenen getan. Er hat ein Stück Prag hingestellt, nämlich einen Prager Menschen, wie er ist und nicht ist: den in Verschwommenem wurzelnden Entwurzelten, den an der Realität zerschellenden Träumer, das Opfer, welches zugleich der Rächer aller Opfer dieser betörenden Stadt ist... (Pick 1914: 8; meine Hervorhebungen, U.M.) Es bleibt festzuhalten, dass alle hier zu Wort gekommenen Kritiker in der Stadt Prag ein zentrales Thema des Romans erkennen. Dabei wird das von Leppin literarisierte Sujet Stadt von den Rezensenten mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt. Während Novák das Werk als Ausdruck eines gesellschaftlich und lokal bedingten kollektiven Schicksals der deutschen Dichter in Prag liest, versucht Karásek den Stadtraum für die tschechische Literatur zu reklamieren. Kurt Pinthus betont die Uneinheitlichkeit, die Heterogenität Prags und verknüpft die Stadt außerdem mit dem zeitgenössischen Dekadenzdiskurs. Otto Pick spricht als gebürtiger Prager aus der Perspektive des »Befangenen«, die er auch Leppin zuschreibt,
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und gibt so in seiner Rezension bereits einen Hinweis auf den subjektiven Erzählmodus, der den Roman auszeichnet.
1.
Prag als ›tote‹ Stadt Lag es an dieser Stadt mit ihren dunklen Fassaden, ihrem Schweigen über großen Plätzen, ihrer abgestorbenen Leidenschaftlichkeit? Es war ihm immer, als ob ihn unsichtbare Hände streiften. Er erinnerte sich, daß er auch oft bei Tage in längst bekannten und vertrauten Teilen wie in einer neuen Umgebung gegangen war.4
Das Bild der Stadt »mit ihren dunklen Fassaden«, das in diesem Textauszug vermittelt wird, wirkt bedrohlich. Über den Plätzen liegt »Schweigen« und überall ist »abgestorbene Leidenschaftlichkeit«. Es scheint, als sei der einstige Glanz verflogen. Die Atmosphäre des Untergangs liegt über der Stadt. Alles Morbide übt eine große Faszination auf Severin aus und das Motiv des Todes durchzieht den Roman. Als er im Salon von Doktor Konrad den Studenten Nikolaus kennenlernt, der dank eines gewissen Reichtums das Leben eines dekadenten Dandys führt5 , sind es besonders die Gerüchte um den ungeklärten Tod eines jungen Mannes in seiner Wohnung, die Severins Interesse wecken: Immer wieder gingen seine [Severins, U.M.] Blicke nach dem zierlichen Damenschreibtisch hinüber, wo scharf geschliffene Dolche zwischen Büchern und Papieren lagen, wo er hinter den gelben Messingschlössern die Schußwaffe vermutete, die damals den Tod in dieses Zimmer gebannt hatte. Den Tod. Es war etwas in dem dumpfen Klange der Silbe, das ihm aufreizender, beziehungsreicher zu sein schien, wie alle die schläfrigen Äußerungen eines behüteten Lebens. (SG 29) Auch Severins Wahrnehmung der Stadt und ihrer Bewohner ist von dieser Todesnähe geprägt:
4 5
Paul Leppin (1988): Severins Gang in die Finsternis. Ein Prager Gespensterroman. Ravensburg: Peter Selinka. Im Folgenden wird hierfür die Sigle »SG« verwendet. Der dekadente Lebensstil eines Bohémiens spiegelt sich im Interieur von Nikolaus’ Wohnung wider: »Man wußte, daß er reich war, eine große wertvolle Bibliothek besaß, mit Künstlern Umgang pflegte und okkultistische Liebhabereien betrieb. In seiner mit Eleganz und gutem Geschmack ausgestatteten Wohnung gab es eine Menge merkwürdiger und ungewohnter Dinge, Buddhabronzen mit unterschlagenen Beinen, mediumistische Zeichnungen in metallenen Wandrahmen, Skarabäen und magische Spiegel, ein Portrait der Blavatsky und einen wirklichen Beichtstuhl.« (SG 28). Mit Hilfe der Beschreibung des exotisch und extravagant anmutenden Interieurs wird die Figur des Nikolaus als Dandy charakterisiert, der sich von der bürgerlichen Welt und der Masse abgrenzt und dem es um die Ästhetisierung und Inszenierung des eigenen Lebens geht (vgl. dazu auch: SG 35).
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Immer hatte er geglaubt, im Innersten berührt zu sein, das große und absichtslose Geschehen in sich zu spüren, das die andern alle überwältigte, das die Frauen in die Moldau trieb und den Männern die Pistole an die Stirn drückte. Einmal war er dabei gewesen, als die Flößer am Flußufer die Leiche eines Weibes aus dem Wasser zogen. […] Er sah ihr im Sterben verkrampftes Gesicht und den bläulichen Mund und fragte sich, wie wohl das Dasein dieses Menschen beschaffen gewesen sein mußte, welche Gewalttätigkeiten und Nöte es zu diesem Ende brachten. Er las täglich in der Zeitung von einem Selbstmord. Bald hatten sich zwei in einem Hotelzimmer erschossen, bald nahm ein Mädchen Gift und starb unter Qualen. Halbe Knaben noch, Schuljungen und Fünfzehnjährige töteten sich, weil sie das Leben nicht mehr ertragen konnten. Severin begriff das nicht. Er sah mit Trotz und Einsamkeit die lange Reihe der Unglücklichen, die an einem Haß oder einer Liebe zugrunde gingen, er las in den Gerichtsverhandlungen der Tagesblätter von den Mühseligen, die erschüttert zwischen den Schicksalen schwankten. Die Zahl der Opfer und der Sieger in diesem Kampfe wuchs vor seinen Augen und er wußte, daß auf der Straße neben ihm Menschen mit brennenden Seelen gingen, Hasardspieler, die ihr Glück auf eine Karte setzten, Bankrotteure, die es nicht mehr konnten. (SG 31) Der Tod tritt auch in Severins unmittelbaren Umkreis, als sich der Bohémien Doktor Konrad, am Ende seiner finanziellen Möglichkeiten angekommen, das Leben nimmt. Im weiteren Verlauf des Romans schenkt Nikolaus Severin ein chinesisches Gift, mit dem dieser den geliebten Raben des jüdischen Antiquars Lazarus Kain tötet: »Severin beugte sich über das Tier. Langsam zog er das vergiftete Fleisch aus der Tasche. Das ist der Tod – sagte er und hielt es ihm vor den Schnabel. Der Vogel schnappte zu und floh damit in sein Versteck zurück« (SG 47), wo er schließlich stirbt. Als Severin mit dem Vorsatz, den Raben zu töten, das Antiquariat betritt, hat er das Gefühl, er sei nicht in der Wirklichkeit, sondern »Teil der Erzählung« wie früher als Student, »wenn er zu Hause in alten englischen Romanen las« (SG 47). Dem Mord an dem Raben geht demnach eine Depersonalisierungserfahrung voraus. Damit einhergehend deutet sich hier außerdem eine Diskrepanz zwischen (narrativer) Fiktion, wie sie die erwähnten Erzählungen und Romane darstellen, und (diegetischer) Realität an. Kurze Zeit später geht Severin erneut zum Antiquariat, bewaffnet mit einem schweren Feldstein. Als die Tochter des Antiquars Kain, Susanna, auftaucht und sich ihm in den Weg stellt, wird er sich erschrocken darüber bewusst, dass er den alten Antiquar erschlagen wollte. Severin läuft daraufhin hinaus in die Nacht auf den Hradschin, von wo er auf die schlafende Stadt hinabblickt: »Er spähte in den Schatten der Häuser hinunter und sah seine eigene Gestalt, von den Rätseln der Liebe und des Todes vermummt, ruhelos in den Gassen, wo Mordgedanken aus dem steinernen Pflaster aufstiegen und sein Herz verblendeten« (SG 52).
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Severins Pragwahrnehmung ist vom Motiv des Todes geprägt, der hinter jeder Straßenecke lauert und die Stadtbewohner zu Mördern und Selbstmördern macht. Die Verflechtung von Todessymbolik und Stadtbeschreibung erinnert an Georges Rodenbachs Fin de Siècle-Roman Bruges-la-Morte (1892).6 Rodenbach erzählt darin die Geschichte des jungen trauernden Witwers Hugues Viane, für den die schmerzvollen Erinnerungen an seine tote Frau mit der Stadt Brügge verschmelzen: In der stummen Atmosphäre unbelebter Kanäle und Straßen hatte Hugues seinen großen Schmerz weniger gespürt, hatte er verhaltener an die Tote gedacht. Er hatte sie besser vor Augen, besser verstanden, fand im Wasser der Kanäle ihr Ophelia-Antlitz wieder, hörte ihre Stimme im schmächtigen fernen Gesang der Kirchenglocken. Die Stadt, auch sie war einst schön und geliebt, verkörperte auf diese Weise seine Klagen. Brügge war seine Tote. Und seine Tote war Brügge. All das vereinte sich in einem gemeinsamen Schicksal. Das tote Brügge selbst lag im Grab seiner steinernen Grachten, denn die Adern seiner Kanäle waren erstarrt, als der große Puls des Meeres aufgehört hatte, hier zu schlagen. (Rodenbach 2003: 17f.) Die Stadt und der Seelenzustand des Protagonisten, der um seine verstorbene Frau trauert, überlagern und spiegeln sich immer wieder ineinander. Im Vorwort zum Roman schreibt Rodenbach: »In dieser Studie der Leidenschaft wollten wir ganz besonders auch eine Stadt vor Augen führen, die Stadt als eine Hauptperson, den Seelenzuständen verbunden, die Rat gibt, warnt, zum Handeln veranlaßt« (Rodenbach 2003: 7, Hervorhebungen im Original). Diese Anlage der Stadt als eine Art Hauptfigur, die untrennbar mit der Psyche des Protagonisten verbunden ist, charakterisiert auch Leppins Prag-Roman.7 Darüber hinaus finden sich weitere augenfällige Parallelen, wie das Doppelgängermotiv (vgl. Mylada – ihre verstorbene Schwester Regina, Severin – der Antiquar Lazarus Kain; die verstorbene Frau Hugues’ – die Schauspielerin Jane Scott) oder die Darstellung der Stadt als Hort der Erinnerungen (Severins Kindheitserinnerungen; Hugues’ Erinnerungen an seine verstorbene Frau).8 6
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In einem kurzen Aufsatz ordnet Josef Kroutvar Prag, ausgehend von Kafkas Beschreibung eines Kampfes und Der Proceß, neben anderen europäischen Städten wie Venedig, Brügge und Toledo in den »Mythos der toten Städte« ein, der im 19. Jahrhundert entstanden sei (vgl. Kroutvar 1994). In ähnlicher Weise bemerkt Nora Schmidt: »Indem die Stadt nicht nur als Geliebte personifiziert wird, sondern darüber hinaus als ein schwer fassbares Wesen betrachtet wird, das beabsichtigt und handelt, ist Prag vollends als Romanfigur entworfen.« (Schmidt 2017: 144). Eine weitere interessante Parallele ist, dass Rodenbach wie Leppin in einem sprachlich und kulturell heterogenen Kontext verortet war, denn er gehörte neben Verhaeren, Maeterlinck und anderen zu einem Kreis von Autoren, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts »eine belgische Nationalliteratur französischer Sprache und flämischer Gestimmtheit schuf«
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Hans Hinterhäuser, der sich aus romanistischer Perspektive mit dem Motiv der »toten Städte« beschäftigt hat, charakterisiert Bruges-la-Morte als »lyrische[n] Roman9 insofern, als hier das Seelenleben einer einzigen, von wenigen Komparsen umgebenen Gestalt analysiert wird, und als ihr Dialog mit einer als ›personnage essentiel‹ konzipierten Stadt die ganze Handlung bestreitet« (Hinterhäuser 1977: 47). In gleicher Weise steht auch in Severins Gang in die Finsternis das innere Erleben Severins im Zentrum, während die anderen Figuren eher als eindimensionale Komparsen denn als psychologisch ausgestaltete Charaktere angelegt sind. Demgegenüber tritt die Stadt als handelndes Subjekt auf, so zum Beispiel bei der Begegnung zwischen Severin und Zdenka: »Die Straße führte sie zusammen, in der sie beide planlos zwischen den hastenden Leuten gingen.« (SG 18). Die Stadt, selbst ein Netz aus Wegen und Kreuzungen, webt also ein Netz der Begegnungen zwischen ihren Bewohnern. Passenderweise lautet der Name des Tanzlokals, in dem sich ein Großsteil des zweiten Romanteils abspielt, »Spinne«. Hier findet die Begegnung Severins mit Mylada statt, die ihn schließlich in die Finsternis führt, und hier endet auch der Roman, in dem die Spinne als Metapher für die Stadt erscheint. Analog zu Hinterhäusers Lesart von Bruges-la-Morte kann auch Severins Gang in die Finsternis als Dialog Severins mit der Stadt aufgefasst werden, denn die »tragische Liebe de[s] Flaneur[s] zur Stadt transformiert Prag zu einem Gegenüber« (Schmidt 2017: 147). Severin ist aufs Engste mit der Stadt verbunden, er spürt »ihren Blutlauf […] im eigenen Leibe« (SG 58) und sie hat »eine ungekannte und scheue Macht über ihn. Sie zerrte ihn aus schreckhaften Träumen in ihren Schoß« (SG 39). Als Severin von seiner Geliebten Mylada verlassen wird, läuft er hinaus in die Vorstadt und versucht, der Stadt und ihren Enttäuschungen zu entfliehen. »Immer mehr entfernte er sich von der Stadt und kehrte ihren trüben Lichtern den Rücken zu […] Sein Blut wurde ruhiger und stürmte nicht mehr« (SG 88). Doch
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(Hinterhäuser 1977: 46). Der belgische Komparatist Hugo Dyserinck spricht in diesem Zusammenhang von einer »doppelseitigen Isolation« (Dyserinck 1964), einerseits eine Isolation von Frankreich sowohl durch die Staatsgrenze als auch durch die Suche nach einem eigenständigen belgischen Weg. Andererseits seien die Dichter von einem Teil des eigenen Volkes durch die Sprachgrenze und durch die Konkurrenz der flämischsprachigen Literatur und Kultur isoliert gewesen, denn im flämischen Landesteil habe Französisch nur die gebildete Oberschicht gesprochen. Auch die Prager deutschsprachigen Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren vom Deutschen Reich durch die Staatsgrenze getrennt und sahen sich von der erstarkenden tschechischen Kultur und Literatur umgeben. Das lyrische Moment hebt auch Arne Novák in seiner Besprechung von Leppins Roman hervor: »Allerdings [ist Paul Leppin, U.M.] eher ein Lyriker als ein Epiker: an Stelle von Gestalten bringt er Schattenrisse, anstatt Handlungen nur Stimmungen, anstatt Konflikte nur wirkungsvolle Arrangements« (Novák 1913/14: 1001).
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eine »furchtsame Müdigkeit fesselte seine Füße« (ebd.), wodurch er daran gehindert wird, sich räumlich weiter von der Stadt zu entfernen bzw. sich von der Stadt loszusagen. Der Roman verwischt die Grenzen zwischen Stadt und Individuum, ebenso zwischen Innen und Außen, wie Constanze Derham in ihrer Dissertation herausgearbeitet hat: »Die Stadt stößt ins Innenleben des Protagonisten vor, dessen Innenleben umgekehrt die Stadt durchdringt, die Umwelt ist einerseits Spiegelbild des eigenen Zustands, andererseits wirkt sie auf das Individuum ein und setzt Ketten von stimmungshaften Erlebnissen und assoziativ verknüpften Erinnerungen in Gang« (Derham 2017: 245). Neben Brügge untersucht Hinterhäuser Venedig, Toledo und die fiktive Stadt Perle aus Alfred Kubins Roman Die andere Seite (1909) als ›tote Städte‹. Vor allem Venedig ist immer wieder als ›tote Stadt‹ konzipiert worden, unter anderem von Lord Byron, Théophile Gautier, Maurice Barrès, Adam Mieckiewicz, Richard Wagner und Thomas Mann. Dass so viele Autoren unterschiedlicher Sprachen und Kulturen das Motiv der ›toten Stadt‹ im Fin de Siècle verwenden, mache zwei »Grundbefindlichkeiten der Epoche« sichtbar, so Hinterhäuser, nämlich »das Dekadenzbewußtsein und die Faszination durch den Todesgedanken« (Hinterhäuser 1977: 73f.), was auch für Severins Gang in die Finsternis bereits belegt wurde. In den Darstellungen der »toten Städte«, dieser »ideale[n] Eldorados für alle ›exilés de la vie‹« entlade sich »der ohnmächtige Haß der Fin de siècle-Künstler auf eine von ihnen nicht mehr zu bewältigende ›neue Zeit‹ […] in einem phantastischen Destruktionsdrang« (Hinterhäuser 1977: 74). Auch Dirk Niefanger, der das Motiv der ›toten Stadt‹ im Kontext der Wiener Moderne untersucht hat, sieht darin eine Auseinandersetzung mit der Moderne: Eine ›tote Stadt‹ existiert nicht an sich. Sie wird innerhalb des Fin de siècleDiskurses über künstliche – lebensferne – Welten betrachtet, oder besser: ›gelesen‹. Die Entschlüsselung ihrer Signifikanten ist dabei auffällig negativ bestimmt: das Motiv der ›toten Stadt‹ schreibt sich vor allem über antivitalistisch und antimodern apostrophierte Tableaus in die Literatur der Jahrhundertwende ein. Die Gestaltung des Motivs der ›toten Stadt‹ setzt den Blick in etwas Fremdes, nur fremd Erlebbares voraus, es dient eo ipso der Abgrenzung und damit häufig der Konturierung einer modern verstandenen eigenen Welt oder umgekehrt – wie es Johnston formuliert – der Konstruktion eines »Bollwerks gegen Veränderungen«. (Niefanger 1993: 192; Hervorhebungen im Original)10 10
In seiner Studie nennt Niefanger vor allem Brügge und Venedig als ›tote Städte‹ und verweist wiederum auf Rodenbachs Bruges-la-Morte als Prätext, den Stefan Zweig dann in seinem ›Brügge‹-Feuilleton von 1904 aufgegriffen habe. Darüber hinaus untersucht Niefanger Wien als ›tote Stadt‹ in Arthur Schnitzlers Novelle Die Nächste (1899) sowie Venedig in Hofmannsthals Tod des Tizian (1892) und – wie auch Hinterhäuser – das fiktive Perle in Kubins Die andere Seite.
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Bisher erscheint die ›tote Stadt‹ als ein Motiv, das fest im Fin de Siècle verankert ist, allerdings taucht das ›tote‹ Prag schon früher in der europäischen Literatur auf. In George Eliots Erzählung The Lifted Veil (1859) ist die Pragdarstellung von der gleichen Todesnähe und Abgestorbenheit geprägt, der wir auch bei Leppin begegnen: The city looked so thirsty that the broad river seemed to me a sheet of metal; and the blackened statues, as I passed under their blank gaze, along the unending bridge, with their ancient garments and their saintly crowns, seemed to me the real inhabitants and owners of this place, while the busy, trivial men and women, hurrying to and fro, were a swarm of ephemeral visitants infesting it for a day. It is such grim, stony beings as these, I thought, who are the fathers of ancient faded children, in those tanned time-fretted dwellings that crowd the steep before me; who pay their court in the worn and crumbling pomp of the palace which stretches its monotonous length on the height; who worship wearily in the stifling air of the churches, urged by no fear or hope, but compelled by their doom to be ever old and undying, to live on in the rigidity of habit, as they live on in perpetual mid-day, without the repose of night or the new birth of morning. (Eliot 1999: 9)11 Auch der britische Germanist Barry Murnane verweist auf Eliots Pragerzählung und sieht Leppins Pragdarstellung in der Tradition der Schauerphantastik bzw. der gothic fiction12 , zu der er auch The Lifted Veil zählt. Murnane bezeichnet Severins Gang in die Finsternis als ein Beispiel für »modernist gothic« (im Gegensatz zu Meyrinks Golem, den er als »modern German gothic« bezeichnet (Murnane 2012: 235)). Er macht in beiden Pragtexten »literary schemata of gothic urban imagery from Dickens and Poe up to novels such as The Picture of Dorian Gray and Bruges la Morte« aus, »a discursive product prefigured and encoded in gothic texts and drawn from literary tradition« (ebd.).
11
12
George Eliot und ihr Lebenspartner George Henry Lewes hatten im Juli 1858 tatsächlich eine ganz ähnliche Reise – mit Stationen in München, Dresden, Prag, Wien – wie die Hauptfigur Latimer in The Lifted Veil unternommen. Interessant ist, dass Lewes Prag in einem Brief an John Chapman vom 23. Juli 1858 »the most splendid city in Germany« (zit. n. Reynolds 2003: 228) nennt und damit als deutsche Stadt einordnet. In Eliots Text findet diese Darstellung ihr Echo, z. B. ist dort keine Rede von der tschechischen Bevölkerung und der Stadtführer trägt den ganz und gar deutschen Namen »Schmidt« (Eliot 1999: 23). Vgl. dazu weiterführend Reynolds (2003), Hondrila (2008). Zur britischen gothic vgl. weiterführend Punter 2012.
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2.
Prag als ›weibliche‹ Stadt
Der an einem unbestimmten ennui leidende Severin stürzt sich immer wieder in Affären mit ganz unterschiedlichen Frauenfiguren. Auffallend ist, dass diese Frauenfiguren allesamt als ›Andere‹ in Relation zu dem Prager Deutschen Severin markiert sind: Es sind die Tschechinnen Zdenka, Karla und Mylada und die Jüdin Susanna. Dabei verschränken sich Diskurse der geschlechtlichen und kulturellen Alterität miteinander.13 Diesem Motiv innerhalb der sogenannten Prager deutschsprachigen Literatur hat bereits Pavel/Paul Eisner seine 1930 erschienene Studie Milenky. Německý básník a česká žena [Die Geliebten. Der deutsche Dichter und die tschechische Frau] gewidmet, in der er bemerkt14 : »Záhadnost a erotická atraktivnost města splývá se záhadou českého ženství; pokoušeje se o ženu, dobývá se německý básník do tajemství metropole« (Eisner 1992: 17) [»Die Rätselhaftigkeit und die erotische Attraktivität der Stadt verfließen mit dem Rätsel der tschechischen Weiblichkeit; indem er die Frau begehrt, dringt der deutsche Dichter in das Geheimnis der Metropole vor« (in der Übersetzung folge ich: Escher 2004: 5)]. Auch Nora Schmidt hat kürzlich in ihrer Dissertation zur Flanerie in der tschechischen Literatur, in der sie unter anderem auch Leppins Roman untersucht, festgestellt: »In der textuell hervorgebrachten Äquivalenz von Stadt und Frau werden […] die zahlreichen Geliebten Severins zu Metaphern der einen Stadt« (Schmidt 2017: 140f.). Aber auch die Stadt selbst wird anthropomorphisiert und als weiblich markiert15 : »Die Stadt, die er sonst tagsüber oder in den Abendstunden kreuz und quer durchstreift hatte, erhielt eine ungekannte und scheue Macht über ihn. Sie zerrte ihn aus schreckhaften Träumen in ihren Schoß« (SG 39). Vor diesem Hintergrund soll im folgenden Abschnitt der diskursiven Verschränkung von Stadt und Weiblichkeit nachgegangen werden. Hierzu werden zunächst die Darstellungen von Weiblichkeit auf der Figurenebene untersucht und in Beziehung zu Diskursen um Alterität gesetzt, um der als weiblich konturierten Stadt auf den Grund zu gehen.
2.1
Zdenka oder das bürgerliche Prag
Die längste Beziehung führt Severin mit der tschechischen Kontoristin Zdenka. Er hat sie auf einem seiner Spaziergänge in einem großstädtischen Setting kennengelernt: »Die Straße führte sie zusammen, in der sie beide planlos zwischen den
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Darauf verweist auch Fritz 2005: 181. Zum Motiv der Liebesbeziehung zwischen deutschen Männern und tschechischen Frauen in der Literatur vgl. Escher 2004, Theele 2012, Budňák 2017. Der tschechische Stadtname »Praha« ist ein Femininum und verstärkt dadurch noch die Markierung Prags als weibliche Stadt.
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hastenden Leuten gingen« (SG 18). Es ist die Straße, die sie ohne eigenes Zutun zueinander führt. Dadurch wird der Eindruck hervorgerufen, dass die Stadt bzw. die Straße als ein Teil der Stadt, im Gegensatz zu den ziellos umherstreifenden Protagonisten einen Plan verfolgt, indem sie Zdenka und Severin aufeinandertreffen lässt. Gleichzeitig wird Severin als Flaneur charakterisiert.16 Auch im weiteren Verlauf ist es hauptsächlich das Gehen in der Stadt, womit Severin und Zdenka ihre gemeinsame Zeit verbringen. In Die Kunst des Handelns stellt Michel de Certeau einer theoretischen Fiktion der »Panorama-Stadt«, wie sie von Stadtplanern und Kartographen entworfen wird, eine »Rhetorik des Gehens« gegenüber, die die »gewöhnlichen Benutzer der Stadt« und die Praxis des Gehens in den Mittelpunkt stellt (vgl. De Certeau 1988: 179-208). Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner (Silesius), deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen ›Textes‹ folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können. Diese Stadtbenutzer spielen mit unsichtbaren Räumen, in denen sie sich ebenso blind auskennen, wie sich die Körper von Liebenden verstehen. Die Wege, auf denen man sich in dieser Verflechtung trifft – die unbewußten Dichtungen, bei denen jeder Körper ein von vielen anderen Körpern gezeichnetes Element ist – entziehen sich der Lesbarkeit. (De Certeau 1988: 181f.; Hervorhebung im Original) So bleiben auch für Severin, der zwar eine gewisse Hellhörigkeit für die »stille Sprache der Stadt« (SG 20) besitzt, die Stadt in ihrer Komplexität sowie die Verflechtungen und Verstrickungen mit den anderen Stadtbewohnern in diesem heterogenen Raum letztlich unverständlich: »Er spähte in den Schatten der Häuser hinunter und sah seine eigene Gestalt, von den Rätseln der Liebe und des Todes vermummt, ruhelos in den Gassen, wo Mordgedanken aus dem steinernen Pflaster aufstiegen und sein Herz verblendeten« (SG 52). Neben der Analogie von Stadt und Text, die im Topos von der Lesbarkeit der Stadt ihren Niederschlag findet, kommt bei de Certeau auch die Verbindung von Stadtraum und Körperlichkeit zum Ausdruck, die für Severins Gang in die Finsternis zentral ist: Auf der Handlungsebene sucht der Protagonist Severin immer wieder Sinn in seiner Sinnlichkeit; einen Ausweg aus der tristen Monotonie des Alltags in wilden Affären mit ganz unterschiedlichen Frauen, die ihrerseits unterschiedliche Facetten der Stadt repräsentieren. Nach der Befriedigung seiner körperlichen Lust verliert er allerdings schnell das Interesse an ihnen. So heißt es etwa über Zdenka: »Sie war eine niedliche und schwärmerische Begebenheit, die ohne Wucht und ohne Fatum geschah und die ihn nicht interessierte.« (SG 19). 16
Zum Topos des Flaneurs in Severins Gang in die Finsternis, vor allem auch in Bezug auf Prag und im Kontext der tschechischen Literatur vgl. weiterführend Schmidt 2017: 126-158.
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Entscheidend für die Beziehungskonstellationen, die im Roman vorgeführt werden, ist nicht nur ein gender-bezogenes othering, sondern auch ein othering in Hinblick auf nationalkulturelle Zuschreibungen. Über Zdenka etwa heißt es: »Das slawische Blut, das bei den Männern ihres Volkes Haß und Revolten losbrach, hatte in ihr einen Überschwang geboren, dem sich nun alle Schleusen öffneten« (SG 29). Auch die übrigen Frauenfiguren sind durch ihre Zuordnung zu einem nationalen oder kulturellen Kollektiv als ein ›Anderes‹ zu dem Prager Deutschen Severin konzipiert. Dadurch wird eine doppelte Alterität, geschlechtlich und kulturell, konstruiert.17 Interessant ist die Tatsache, dass Severin im Text nicht explizit als deutscher Prager charakterisiert wird. Der Leser kann sich dies allerdings erschließen, nicht zuletzt daraus, dass der Text in deutscher Sprache geschrieben ist. Daneben deutet Nora Schmidt die »im Text benannten Orte und Denkmäler der Stadt, die ihrer deutsch-österreichischen Bevölkerung zuzuordnen sind, [als] Indizien für deutsch geprägte Bewegungsmuster Severins« (Schmidt 2017: 142). Die nicht vorhandene Selbstbeschreibung Severins als deutscher Prager liest Schmidt als eine »Enthaltung auf die Frage nach der Nationalität« (a.a.O.: 141). Für diese Lesart sprechen, aus biographischer Sicht, Leppins Zugehörigkeit zur Gruppe Jung Prag bzw. wenig später zur sogenannten »Frühlingsgeneration« und sein Engagement für die Vermittlung der zeitgenössischen tschechischen Literatur an ein deutschsprachiges Publikum sowie seine Tätigkeit für die bedeutende tschechische ästhetizistische Zeitschrift Moderní revue.18 Severin flaniert mit der Tschechin Zdenka durch ihrer beider Heimatstadt und lehrt sie, Prag mit allen Sinnen wahrzunehmen und in der Stadt zu lesen: Sie ging mit Severin in der Stadt umher, wie er es seit Jahren gewohnt war. Sie bekam jene Feinhörigkeit für die Geräusche und fernen Rufe in ihr, die ihm innewohnte und die er sie lehrte. An dem Geruche der Steine und des Pflasters erkannte sie die Straße, in der sie schritt, wenn sie die Augen schloß und sich von ihm führen ließ. Er erschloß ihr die monotone Schönheit in der Landschaft 17
18
Georg Escher hat dies in einer kursorischen Lektüre für eine Reihe deutschsprachiger Pragtexte, wie Brods Ein tschechisches Dienstmädchen, Leppins Severins Gang in die Finsternis, Meyrinks Golem und Wilhelm Raabes Holunderblüte, beobachtet: »Nicht nur ›das Weibliche‹ funktioniert als Verkörperung (im wörtlichen Sinne) des Fremden; die Frau ist noch ein weiteres Mal als anders bzw. fremd gekennzeichnet: Es ist die schöne Jüdin oder die junge Tschechin, welche das nichtjüdische und/oder deutschsprachige männliche Subjekt lockt, verführt und an sich fesselt« (Escher 2004: 3). In jüngster Zeit hat sich Jan Budňák mit »Eigen- und Fremdbildern« im Kontext der deutschsprachigen Literatur Prags und der Böhmischen Länder beschäftigt und dabei u. a. die Figur der ›tschechischen Geliebten‹ untersucht (vgl. Budňák 2017: 262-273). Vgl. zu Leppins Rolle in der Gruppe Jung Prag und seiner Vermittlerrolle zwischen deutschsprachiger und tschechischer Literaturwelt weiterführend Hadwiger 2017: 181-186.
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der Vorstädte, die Schauer des Wyschehrad mit den großen Steintoren, wo das Denkmal des heiligen Wenzeslaus stand. Sie lernte die Moldau lieben, wenn in der Dunkelheit die Lichter des Ufers auf dem Wasser schwankten, und den Duft des Teers auf den Kettenbrücken. Sie saß mit ihm in den Wirtshäusern der Kleinseite und war bezaubert von der breitspurigen Gemächlichkeit der alten Herren, die hier ihren Schoppen tranken. In dem dicken Zigarrenrauche verschwammen die Bogenwölbungen der niedrigen Decke, die Napoleonbilder an den Wänden in einem farblosen Grau. Sie besuchte mit ihm die Vikarka auf dem Hradschin, wo ein paar Armlängen von der Tür entfernt der Dom in die Höhe ragte, wunderliches Mauerzierat und Steinfiguren in den Nischen. Sie verstand allmählich die stille Sprache der Stadt, die Severin geläufiger war als dem Tschechenmädchen. Sie begriff es, daß zwischen ihren gedunkelten Mauern, ihren Türmen und Adelshäusern, ihrer fremdartigen Abgestorbenheit eine verhaltene Phantastik mit ihm groß geworden war, daß er immer mit dem Gefühle die Straße betrat, daß ihn heute ein Schicksal erwarte. (SG 19f.) Severin besucht mit Zdenka Orte, die als Schauplätze der Geschichte und als identifikatorische Bezugspunkte19 von großer Bedeutung sind, die Zdenka jedoch bisher nicht wahrgenommen hat. Der Vyšehrad, zweiter Sitz des Přemyslidengeschlechts, beispielsweise ist sowohl für die Geschichte Prags als auch als Symbol und Bezugspunkt für die emanzipatorischen Bestrebungen der Tschechen während der nationalen Wiedergeburt von großer Wichtigkeit. Der Sage nach war hier die Residenz der Fürstin Libuše, der tschechischen Stammmutter, die einst Prag eine große und ruhmvolle Zukunft voraussagte. Dieser Gründungsmythos wurde unter anderem von Smetana in der Oper Libuše musikalisch verarbeitet. Außerdem wurde hier im ausgehenden 19. Jahrhundert der Vyšehrader Friedhof als Nationalfriedhof für bedeutende tschechische Persönlichkeiten eingerichtet.20 Susanne Fritz bezeichnet diese Orte in Anlehnung an den Architekten Richard Neutra als »Psychotope« (Fritz 2005: 23), als kulturelle, politische oder wirtschaftliche Bezugspunkte für die Stadtbewohner, und betont die identitätsstiftende Funktion, die sich durch die nationale Überformung dieser städtischen Referenzpunkte ergebe. In der Tatsache, dass Severin als Stadtführer Zdenkas auftritt und ihr damit diese Psychotope erschließt, sieht Michael Jäger den Ausdruck eines »Anspruch[s] der kulturellen Superiorität des Deutschtums sowie der territorialen Beanspruchung der Stadt« (Jäger 2005: 185); Ivo Theele spricht von einer »Kulturalisierung«
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Severin und Zdenka machen beispielsweise auf einem ihrer Stadtspaziergänge Halt in einem Gasthaus im Stadtteil Pankrác, wo schon der berühmte hussitische Heerführer Jan Žižka gespeist haben soll (vgl. SG 20). Vgl. dazu weiterführend Marek Nekulas umfangreiche Studie Tod und Auferstehung einer Nation (2017).
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(Theele 2012: 54) Zdenkas durch Severin. Diese Befunde scheinen in merkwürdigem Widerspruch zu Leppins biographischem Einsatz für die tschechische Literatur und Kultur zu stehen, wie auch Susanne Fritz anmerkt (vgl. Fritz 2005: 182). Nora Schmidt löst diesen Widerspruch auf, indem sie konstatiert, Leppin gehe es in seinem Roman »grundlegender um ein Gefühl der Alterität, als um eine nationale Differenz« (Schmidt 2017: 141f.). Tatsächlich ließe sich die obige Passage dahingehend deuten, dass Severin die Stadt als empfindsamer Flaneur wahrnimmt, ausgestattet mit einer besonderen Empfänglichkeit für die »stille Sprache der Stadt«, die ihm deshalb »geläufiger« (man beachte, dass hier das Verb ›laufen‹ enthalten ist) ist. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass er sich als männlicher Flaneur die als weiblich vorgestellte Stadt erschließt, so dass hier eher eine Stereotypisierung entsprechend zeitgenössischer Vorstellungen von Geschlechterrollen als in nationalkultureller Hinsicht zu vermuten ist. Weiterhin ist sie als mütterlich gezeichnete Figur zu beschreiben: »Er kniete vor ihr und streichelte ihre Hände. Ihm war zumute, wie einem Kind, das sich verlaufen hat und nun endlich daheim ist. Ich liebe dich – sagte er und wußte, daß es nun endlich die Wahrheit sei« (SG 53). Severin steigt später immer tiefer hinab in das nächtliche Prag, je weiter er sich von Zdenka entfernt, denn »die Liebe Zdenkas beschützte« ihn (SG 69). Nach der ersten Trennung von ihr wird er beinahe zum Mörder an dem alten jüdischen Buchhändler Lazarus Kain. Dabei ist Severin getrieben von Todesfaszination und Allmachtsphantasien. In letzter Sekunde erkennt er, erschrocken über sich selbst, seine Mordabsicht und sucht in seiner Verzweiflung wiederum Hilfe und Schutz bei Zdenka. Das ist der Beginn des zweiten Buches des Romans, in dem zunächst der Sommer Einzug in die Stadt hält, die Severin nun im Gegensatz zu vorher als idyllischen Ort erlebt. Die Beziehung zu Zdenka hilft ihm, die Stadt positiv wahrzunehmen, so dass sie für ihn zu einer Retterfigur wird. Es scheint, als habe er durch seine Beziehung mit ihr endlich Anteil an seiner Umwelt und der Gegenwart Prags. An die Stelle der bedrohlichen und todesnahen Atmosphäre, die im ersten Buch des Romans vorherrscht, tritt nun ein vollkommen verändertes Pragbild: Der Sommer hatte die Stadt in diesem Jahre, wie es ihm schien, ganz besonders verwandelt. Er spürte ihren Blutlauf noch immer im eigenen Leibe, aber es ängstigte ihn nicht mehr. An den Nachmittagen, bevor er Zdenka aus dem Kontor abholte, ging er durch die sonnigen Gassen. Er sah den Männern zu, die das Pflaster besprengten und freute sich, wenn aus den schadhaften Wasserschläuchen kleine Fontänen aufsprangen oder wenn sich hinter den zerstäubten Tropfen ein farbiger Regenbogen entzündete. Am Franzenskai blühten die Akazien. Severin setzte sich auf eine Bank am Rande des Ufers. Unter ihm floß die Moldau und ein Segelboot trieb langsam den Mühlen zu. Ein Schwarm von abenteuerlichen Wolken zog über den Himmel und bedeckte zeitweilig die Sonne. (SG 58)
III. Prag als Ort der Krise(n)
Die Stadt hat ihre Schrecken verloren, stattdessen bietet sich eine lebendige, idyllische Szenerie dar. Die dunkle Nachtseite Prags wird abgelöst durch »sonnige Gassen« und ein geschäftiges Alltagsidyll. Der Kontrast zwischen der vormals als bedrohlich und düster empfundenen Atmosphäre und der nun sommerlich-lichten Stadt fällt deutlich ins Auge. Das Moldauufer, die blühenden Akazien wirken wie ein locus amoenus. Dieses malerische Stadtbild ist eng mit der Figur Zdenkas verknüpft. Die Zeit, in der er Prag als dunkel und bedrohlich empfunden hat, ist Severin zwar im Gedächtnis geblieben, aber seine Umgebung erscheint nun – maxime proprie in verbi – in positivem Licht.21 Er nimmt das geschäftige Leben der Stadt wahr; das Gefühl der Isolation und seine diffusen Ängste scheinen verschwunden. Stattdessen erfreut sich Severin an der Schönheit der Stadt: In diesen Vormittagsstunden empfand er so eigentlich erst das vielgestaltige Leben der Stadt. Neben ihm und hinter ihm dehnten sich tausend Straßen und wenn er drüben den Talhang erstieg, sah er die Moldau unter den Wyschehrader Schanzen vorbeifließen und die grellen Reflexe der Sonne schwammen wie glühende Brände auf ihrem Wasser. […] Severin dachte an die Abende zurück, wo es ihn dumpf und unruhig bedrückte, wenn er von Furcht und Ahnungen überrieselt im Gewirre der Häuser stand. Die Stadt, die vor ihm lag und ihre Türme in den Morgen tauchte, schien ihm schöner zu sein und hatte doch ihre Wunder behalten. (SG 68) Allerdings ist dieses Pragbild nicht von Dauer und Severin stellt fest, »daß die Idylle dieses Sommers nur eine Täuschung war« (SG 69) und ihm Zdenka nicht das ersehnte »heftige Dasein« (SG 10) bieten kann, sondern ihm lediglich eine »wohlige Betäubung« (SG 70) gewesen ist; und so überfällt ihn wieder seine alte Unrast. Für Susanne Fritz personifiziert Zdenka das kleinbürgerliche Prag (vgl. Fritz 2005: 182), an dem Severin durch sie Anteil hat. Sie arbeitet als Kontoristin und lebt bescheiden in einem kleinen »Stübchen« (SG 21) auf dem Altstädter Ring. Dieses »geregelte, behaglich erstickte Tempo eines Lebens« (SG 58) und die bürgerliche Existenz, die sich in Zdenka verkörpert, kann Severin nicht auf Dauer durchhalten. Ein Grund dafür ist sein als monoton und zersetzend empfundener Arbeitsalltag: Wohin er auch blickte, überall war die alltägliche und stumpfe Gewohnheit um ihn. Früh ging er in die Kanzlei und ging am Mittag nach Hause; den übrigen Tag verschlief er. Er kam sich vor wie einer, der mit der Schaufel in einer Grube steht.
21
Der Gegensatz von Tag/Nacht, hell/dunkel findet sich immer wieder im Roman, exemplarisch sei die folgende Textstelle angeführt: »Nun merkte er erst den Unterschied. Seine Sinne waren hell und wachsam; er sah, wie die Nacht alle Dinge veränderte, daß sie ein zweites und anderes Leben als am Tage lebten. Er sah, wie sie aus nüchternen und kahlen Plätzen melancholische Landschaften machte, aus engen Gassen feuchtwandige Burgverliese« (SG 39).
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Er gräbt und schaufelt, aber der feine, bewegliche Sand rinnt immer wieder nach und verschüttet die Grube. (SG 9) Wie ein moderner Sisyphos verrichtet Severin eine ihm sinnlos erscheinende Tätigkeit, die niemals zum Ziel kommt: Er kontrolliert endlose »Zahlenreihen« (SG 7). Erst sein Urlaub lässt Severin die Stadt in einem positiven Licht erleben. Prag trägt dann die beschriebenen idyllischen Züge: »Jeden Tag spannte der Himmel seine fleckenlose Decke aus und die Sonne war milde« (SG 67). Severin verbringt seine freien Tage nach Belieben in genussvoller Muße, die ihn an die Ferien seiner Schulzeit erinnert und in krassem Gegensatz zu seinem Arbeitsalltag steht: Hinter schweigsamen, von stumpfer Bureauarbeit vernichteten Jahren quoll zeitweise wundervoll klar die Stimmung der Schulferien auf und die Gedanken an sein armes, in der Tretmühle zerriebenes Leben, die Ereignisse des letzten Winters zerflatterten ihm wie dünne Gespinste. Früh, wenn der Schlaf von ihm abfiel, dehnte er die Glieder und lag noch eine Stunde im Bette. Bedächtig sah er den Ringen zu, die das Licht durch die Maschen des Vorhangs auf die Zimmertüre malte und fühlte sich von einer Last befreit. (SG 67) Bezeichnenderweise fällt das Ende seines Urlaubs mit dem Ende der sommerlichen Idylle zusammen und beendet den Versuch einer bürgerlichen Lebensweise in der Beziehung mit Zdenka: »Sein Urlaub näherte sich dem Ende. Lichtlos und engbrüstig wartete der Herbst auf ihn. Das lautlose Dasein in seinem Bureau begann von neuem, wo die Tage wie Mauern aneinanderstießen und zwischen engen Lücken sein Leben zerschürften« (SG 73f.). Was Eduard Goldstücker über Kafkas kurzes Prosastück Der Kaufmann aus der Betrachtung (1913) bemerkt hat, kann auch für Severins Gang in die Finsternis gelten: Dieses Menschlein ist zum Gefangenen und Sklaven seines Berufs geworden; das, was der materiellen Sicherung seines Lebens dienen sollte, hat eine selbstständige Existenz erlangt und steht über ihm wie ein Herrscher. Die mechanisierte Alltagsroutine hat ihn in ihr Netz verstrickt; Dinge, die ihm dienen sollten, zwingen ihn, selbst zum Ding zu werden, üben einen entmenschlichenden Druck auf ihn aus und nötigen ihm einen einzigen schmalen Lebenspfad auf, der in eine schreckliche Einsamkeit führt. Das ist das Wesen der Entfremdung, wie sie Kafka in seine frühe Prosa projiziert hat. (Goldstücker 1967: 37) Laut dem österreichischen Literatur- und Kulturwissenschaftler Wolfgang MüllerFunk zeichnet sich Entfremdung aus durch »eine soziale wie kulturelle Situation, in der etwas Eigenes verlorengegangen ist, etwas, das meine ›Identität‹ bezeichnet« (Müller-Funk 2016: 275). Severins stumpfsinnige Büroarbeit »führt zum Verlust von dessen Wirklichkeit […] Entfremdung bedeutet demgemäß, dass der Arbeiter sich nicht selbst besitzt, sondern dass über ihn verfügt wird« (Müller-Funk
III. Prag als Ort der Krise(n)
2016: 278f.). Der Roman führt eine solche ›Entwirklichungs‹-Erfahrung und die damit einhergehende fehlende Teilhabe am Leben auf unterschiedlichen Ebenen vor: »Jetzt saß er [Severin, U.M.] fremd und erwartungslos in dieser Welt, die ihm unwirklich und automatenhaft erschien« (SG 40). Dass der fehlende Bezug zur Wirklichkeit mit Severins monotonem Arbeitsalltag zusammenhängt, zeigt sich vor allem darin, wie Severin die Stadt wahrnimmt: Während des Urlaubs ist ihm Prag ein sommerliches Idyll, danach sieht er wiederum die dunkel-unheimliche ›Nachtseite‹ Prags. Als er später, während seiner Beziehung mit Mylada, nicht mehr im Büro erscheint (vgl. SG 89), kehrt er damit der bürgerlichen Existenz endgültig den Rücken, hat folglich auch keinen Zugang zum (klein-)bürgerlichen Prag mehr, sondern gerät immer weiter auf den Weg in die Prager Unterwelt, die wiederum eng verknüpft ist mit der Figur der Mylada.
2.2
Karla oder zwischen Bürgertum und Bohème
Paul Leppin selbst waren die Schwierigkeiten, eine bürgerliche Lebensweise mit den Ausschweifungen eines Bohémiens zu vereinbaren, nicht unbekannt: Da er aus finanziellen Gründen nicht studieren konnte, nahm er nach dem Abitur eine Stelle bei der Post- und Telegraphendirektion an und arbeitete sich vom einfachen Rechnungspraktikanten zum Rechnungsobersekretär hoch (vgl. Hoffmann 1985: 307). Die Entstehung von Severins Gang in die Finsternis fiel in einen Zeitraum, in dem sich die Literaturlandschaft Prags grundlegend veränderte.22 Noch während Leppins Schulzeit war die Prager deutschsprachige Literaturwelt durch den Künstlerverein Concordia bestimmt. Dieser traditionsbewusste, bildungsbürgerliche Verein unter dem Vorsitz Alfred Klaars bot dem Überschwang der jungen Generation wenig Raum, so dass die jüngeren Künstler bald in eigenen Zirkeln zusammenkamen. Besonders die Gruppe der Jung Prager, zu der neben Leppin u. a. Oskar Wiener und der Graphiker Hugo Steiner-Prag gehörten, erregte damals Aufsehen: Es waren etwa zehn ganz junge Leute, die nicht den studentischen Kreisen angehörten und daher von der Presse und der Prager deutschen Gesellschaft nicht ernst genommen wurden. Sie schwärmten, schrieben Verse und standen mit dem Bürgertum auf Kriegsfuß. Mit den jungen tschechischen Literaten hielten sie gute Beziehungen, dafür verspottete die deutsche Tagespresse ihre öffentlichen Vorlesungen. (Wiener 1918: 1) Im Gegensatz zu den Mitgliedern der Concordia pflegten die Jung Prager den Austausch mit den tschechischen Literaten, gaben sich betont kosmopolitisch und betätigten sich als Vermittler zwischen den Kulturen. So übertrug Leppin etwa Ge22
Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Schmitz/Udolph 2001: 28-31.
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dichte von Otokar Březina ins Deutsche, rezensierte tschechische Werke und publizierte in so bedeutenden tschechischen Zeitschriften wie der Moderní revue.23 Tagsüber führte Leppin das Leben eines Beamten, nach Feierabend verbrachte er seine Zeit in Kneipen und Nachtlokalen als der »ungekrönte König der Prager Boheme« (Leppin 2003: 182). Als humorvolle Provokateure mit antibürgerlicher Haltung suchten die Jung Prager nach Selbstverwirklichung und individueller Freiheit. Jahre später, als bereits eine neue Generation von Schriftstellern die Literaturbühne betreten hatte – Max Brod und der von ihm sogenannte »Prager Kreis« –, bedachte Franz Werfel Leppin in seiner Novelle Das Trauerhaus (1933) mit einer Karikatur, in der ebenjene Diskrepanz zwischen bürgerlichem und künstlerischem Dasein parodistisch zum Ausdruck kommt: Zu dem Tisch der Ganzgescheiten […] war ein neuer Mann gestoßen, der Statthaltereikonzipist und Dichter Eduard von Peppler. Dem Unglücklichen war das schwere Lebensschicksal zugeteilt worden, die geregelten Pflichten der neunten Rangklasse mit den verruchten Pflichten eines satanischen Poeten zu verbinden. Man konnte ihn am besten einen dem k. k. Statthaltereipräsidium detachierten Baudelaire nennen. Herrn von Pepplers Blut geriet durch die Anwesenheit eines jüngeren Schriftstellers am Tisch der Jugend in Siedehitze. Der strebsame Knabe nämlich hatte schon einige Erfolge zu verzeichnen. Peppler schrie, seine Generation hätte das Leben machtvoll gesucht und die Syphilis gefunden, diese neue feige Jugend suche das Leben nicht machtvoll, findet aber Verleger. (Werfel 1990: 162; Hervorhebung im Original) Als Repräsentantin der Prager Bohème tritt im Roman Karla auf, die Severin im Salon Doktor Konrads kennenlernt und mit der er eine kurze Affäre hat. Die exotisch eingerichtete Malerwerkstatt Doktor Konrads dient als Treffpunkt für »[j]unge Herren im Smoking«, »alte und erfahrene Lebemänner im eleganten Straßenkleide«, »Künstler mit Schlapphüten und unsauberer Wäsche«, »Modelle in Seidenblusen und engen Röcken« und »hie und da auch ein Mädchen oder eine Frau aus besserer Gesellschaft […] von jener vielgestaltigen Anziehungskraft hergetrieben, die ein ungebundenes Leben für den Außenstehenden hat« (SG 16f.). Doktor Konrad selbst, ein Dandy par excellence, »lag stundenlang auf dem bequemen, türkischen Sofa, rollte parfümierte Zigaretten in der Hand und ließ sich von seinem Diener französischen Kognak mit Selters bringen« (ebd.). Der Salon ist als Begegnungsort für tschechische, deutschsprachige und jüdische Pragerinnen und Prager modelliert, an dem ein interkultureller Austausch stattfindet: Hier hört man »das ungewohnte Durcheinander deutscher und tschechischer Gespräche« (SG 23). Über Karla, einst eine gefeierte Sängerin am Nationaltheater, die durch eine Geschlechtskrankheit ihre Stimme verlor, heißt es: 23
Zur Moderní revue vgl. weiterführend Zand 2006.
III. Prag als Ort der Krise(n)
Sie kannte das Theater und das Leben. Er [Severin, U.M.] wollte sie fragen, ob es denn nicht möglich sei, sich ein künstliches Leben zu schaffen, das dem wirklichen zum Verwechseln ähnlich wäre und das man meistern konnte. […] Aus den Launen und Eigenwilligkeiten des Herzens ein Schicksal machen, für sich und für andere, so wie man Landschaften und Städte im Theater aus Holz und Pappe macht – war das so schwer? (SG 26f.) Hier klingt der ästhetizistische Topos vom Leben als Kunst an. In Karla, einer ehemals erfolgreichen Künstlerin, hofft Severin, das »wirkliche[] Leben, das Blumen und Grauen bescherte und das mit Sturmbacken den Alltag zerblies« (ebd.) zu finden. Doch nach einer kurzen Affäre mit ihr verliert er schnell das Interesse.
2.3
Susanna & Lazarus Kain oder das jüdische Prag
Die Figur des jüdischen Buchhändlers Lazarus Kain lässt sich als Doppelgänger Severins auffassen. Wie Severin streift er durch die Gassen und beobachtet dabei die vorbeieilenden Mädchen: »Er hatte schon bald ein halbes Jahrhundert auf dem Rücken, aber trotzdem waren die Weiber noch immer seine liebste Passion« (SG 13). Lazarus Kain leidet wie Severin darunter, in der modernen Gegenwart zu leben, und flüchtet sich in die Welt seiner Bücher, die von einer glanzvollen Vergangenheit zeugen: Er sprach von dem kalten und phantasielosen Temperamente der neuen Zeit, in der die Sucht nach dem Gelde die Freude an der Lust getötet habe. Und mit zwinkernden Augen, in denen das Fieber eines geheimen Vergnügens glänzte, geriet er in die Schilderung der Lieblingswelt, an die er sein alterndes Herz gehängt hatte, das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts. Seine Geschichten aus der Hirschparkperiode Ludwig XV. hatten Farbe und Elan und eine neidische Sehnsucht bebte in seiner Stimme, als er dem aufhorchenden Severin von Madame Janus berichtete, der genialen Kupplerin, die selbst das damalige Paris noch mit neuen und erfinderischen Sensationen verblüffte. Das kommt nicht wieder – sagte er und eine aufrichtige Trauer klang in dem Tone der Worte. (SG 14) Lazarus flüchtet sich aus der nüchternen Gegenwart in erotische Literatur. Die »Geschichten aus der Hirschparkperiode« beziehen sich auf den sog. Parc-auxCerfs in Versailles, wo die als Madame de Pompadour bekannt gewordene Mätresse Ludwigs XV. sexuelle Abenteuer für den König organisierte. Der »Hirschpark« ist ein Symbol für die zügellose und antibürgerliche Sexualität, wie sie Lazarus und Severin ersehnen und die sie in der erotischen Literatur finden: »Gefährliche und unverschämte Romane, französische und deutsche Privatdrucke, Kupferstiche, sel-
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tene Übersetzungen aus der Zeit des Rétif de la Bretonne24 « (SG 13). Severin wird bewusst, »daß dieser Mann ein ähnliches Leiden litt wie er, daß er an einer ungestillten Inbrunst krankte, die sich aus einem engen und törichten Leben in alte Bücher geflüchtet hatte« (SG 14). Severin fühlt sich von Lazarus‹ Tochter Susanna und einer »verdächtige[n] Flamme« (SG 15) in ihren Augen angezogen. Nachdem Severin seine sexuelle Neugier gestillt hat, hat er kein Interesse mehr an ihr und so verschwindet die Figur der Susanna für einige Zeit von der Bildfläche der Erzählung. Bei einer späteren Begegnung wirkt »[i]hr Gesicht […] undurchdringlich und fremd« (SG 47) auf Severin. Als einzige Frauenfigur hat sie eine furchteinflößende Wirkung auf ihn: »Ihre Gestalt wuchs groß und gebieterisch in der Dämmerung, und Severin sah voll Grauen, daß sie ein Kind erwartete« (SG 51). Lazarus Kains Namen verweisen auf einen biblischen Kontext. In der Bibel ist an zwei Stellen die Rede von einem Lazarus; zum einen Lazarus von Bethanien, der von Jesus von den Toten erweckt wird (Joh 11), und zum anderen ist da der arme Lazarus aus einem im Lukasevangelium erzählten Gleichnis (Lk 16,19-31). Mit Kain ist natürlich der Sohn Adams und Evas gemeint. Der Genesis zufolge erschlägt Kain seinen jüngeren Bruder Abel (Gen 4,1-16) und wird damit zum ersten Mörder. Das bereits angesprochene Doppelgängermotiv ist solcherart angelegt, dass (trotz seines sprechenden Namens) nicht Lazarus Kain, sondern Severin zum Mörder wird. Er vergiftet Lazarus’ Raben Anton (vgl. SG 46f.) und will kurze Zeit später auch Lazarus Kain töten, was nur durch Susannas Anwesenheit verhindert wird: Es war still und einsam in der fahlen Gasse und er fürchtete sich vor dem Gesichte der Jüdin. Die Hand, mit der er den Feldstein umkrampfte, fing an zu zittern und sein Blut blieb stehn. Ich bin doch kein Mörder – sagte er laut und in derselben Sekunde sah er sich selbst in einem unsichtbaren Spiegel, von Lastern entstellt, die ihn erstickten, mit Geschwüren besät, in denen die Verhängnisse wucherten. Jesus! – rief er und seine Stimme verriet es ihm, daß er gekommen war, um den alten Kain zu erschlagen. (SG 51) Der Blick in Susannas Gesicht wird zu einem Blick in die Abgründe seines Selbst. Der (hier unsichtbare) Spiegel symbolisiert diesen Moment der Selbsterkenntnis, der durch den Blick auf den Anderen (Susanna), die wiederum Severin anblickt,
24
Der französische Schriftsteller erfuhr kürzlich eine Neuentdeckung in Deutschland mit dem Erscheinen der deutschen Übersetzung seiner erotischen Autobiographie. Vgl. dazu zum Beispiel: Durs Grünbein (2018): »Sex ist gut fürs Denken«. In: ZEIT. Nr. 6, S. 43. Walter van Rossum (2018): »Erinnerungen eines manischen Erotomanen«: www.deutschlandfunk.de/retif-de-la-bretonne-monsieur-nicolas-erinnerungen-eines.7 00.de.html?dram:article_id=397026, zuletzt geprüft am 15.10.2020.
III. Prag als Ort der Krise(n)
ausgelöst wird. Die Erkenntnis stürzt Severin zunächst in große Verzweiflung, woraufhin er sich wieder Zdenka zuwendet. Für die Darstellung der Frauenfiguren Zdenka, Karla und Susanna gilt, dass sie lediglich als Projektionsflächen für Severins Phantasien und Wünsche gestaltet sind insofern, als sie nicht als eigenständige Andere in ihrer Daseinsberechtigung vorgestellt werden. Die Frauen repräsentieren darüber hinaus unterschiedliche Sphären des modernen städtischen Lebens und unterschiedliche Lebensentwürfe (Zdenka – (klein-)bürgerliche Welt; Karla – Kunstwelt/Bohème), die Severin in den Beziehungen mit ihnen sozusagen austestet, zu denen er allerdings keinen dauerhaften Zugang findet.
2.4
Regina oder die Krise der Religion
Zu Beginn des zweiten Buches, das den Titel »Die Spinne« trägt, tritt eine weitere Frauenfigur auf. Wie oben bereits erwähnt, hat der Sommer Einzug in die Stadt gehalten und sie »in diesem Jahre […] ganz besonders verwandelt« (SG 58), so dass Severin sie im Gegensatz zu vorher nun als geradezu idyllisch wahrnimmt. Während er das als malerisch und harmonisch vorgestellte Panorama der Stadt vom Franzenskai (heute: Smetanovo nábřeží) aus betrachtet, werden Erinnerungen an seine Kindheit und an seine sehr religiöse Tante Regina wach. Diese lebte alleinstehend mit einem älteren Fräulein zusammen in einer kleinen Erdgeschosswohnung, wohin Severin gerne zu Besuch ging. Dort roch es nach »verdorrten Fronleichnamskränzen, nach Weihrauch« (SG 59) und »[a]us dem Zimmer der Tante, das mit Heiligenbildern und geweihten Kerzen, mit zerlesenen Gesangsbüchern und Korallenkreuzen gefüllt war, nahm seine Seele die erste Inbrunst mit nach Hause, von der seine Kindheit heimgesucht wurde« (ebd.). Zu seinen Kindheitserinnerungen gehört auch das Fest des heiligen Nepomuk, das alljährlich mit Feuerwerk begangen wurde und zu dem sich eine Vielzahl an Pilgern aus ganz Böhmen vor der Statue auf der Karlsbrücke versammelte. Glaube und Religion sind also prägend in Severins Kindheit; so genoss er offenbar auch eine religiöse Erziehung in der Schule (vgl. SG 60f.). Im Erwachsenenalter ist ihm das Religiöse allerdings gänzlich abhandengekommen: »Severin war schon seit Jahren in keiner Kirche gewesen« (ebd.). Während er sich am Moldauufer sitzend an seine Kindheit erinnert, beobachtet er eine Gruppe von Waisenmädchen: »Eine vermummte Nonne geleitete sie und ihre jungen Augen sahen unter der Kapuze einen Augenblick lang zu Severin herüber. Es waren graue und fromme Augen, mit einem Stern in der Mitte, so wie Tante Regina sie gehabt hatte« (SG 60). Daraufhin hat er den Wunsch »nach den schweren, vom Alter nachgedunkelten Berichten der Testamente und nach der hellen Weisheit der Evangelisten« (ebd.). Er überquert die Karlsbrücke und betritt die St.-NikolausKirche (Kostel sv. Mikuláše) auf der Kleinseite. Dort trifft er wieder auf die Nonne:
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»Ihr Gesicht war weiß und unter der Kapuze brannten die Augen. Severin kniete neben ihr und betete laut: Gegrüßet seist du Regina! Und es war ihm, als ob über ihren Mund hinter den gefalteten Händen ein erschrockenes Lächeln ging« (SG 61). Von da an macht Severin auf seinen Streifzügen immer wieder Halt in den Prager Kirchen: Auf dem Heimwege trat er zumeist in das geöffnete Tor einer Kirche ein. Seit jenem Nachmittage auf der Kleinseite trieb ihn immer etwas an, im Dunkel der Seitenaltäre zu verweilen, wo die Statuen mit ernsten Mienen in der Nische lehnten und wo das ewige Licht in einem roten Glase brannte. […] Severin nahm die Stille in sich auf, begierig wie jemand, der lange den Lärm gewohnt war. Im Zwielicht des Schlupfwinkels, der ihn verbarg, spannen sich die Gedanken unlösbar ineinander und verstrickten sein Herz in eine kindisch verworrene Welt. […] Allmählich wurde es ihm bewußt, daß er die Nonne mit den Sternaugen suchte. In einer grundlosen Laune hatte er sie Regina getauft und er glaubte am Ende selbst an diesen Namen. Es kam ihm in den Sinn, wie sie ihm unter den Akazien des Ufers begegnet war. Und in einem jähen und unergründlichen Zusammenhange mußte er plötzlich an Mylada denken. – (SG 68f.) Bei der ersten Begegnung Severins mit der Nonne verströmen die Akazien im Verbund mit dem Fluss in der warmen Nachmittagssonne einen Geruch25 , »dessen leise Fäulnis ihn erregte« (SG 60), d. h. schon das erste Aufeinandertreffen von Severin und ›Regina‹ erhält damit neben der religiösen auch eine sexuelle Dimension. An die obige Szene in der Kirche schließt sich die Erkenntnis Severins an, dass »die Idylle dieses Sommers nur eine Täuschung war« und die »bösen Kräfte« (SG 69) immer noch in seinem Inneren wohnen: Irgend etwas hatte den flackernden Schatten in ihm aufgescheucht, vor dem er im Winter geflohen war und den er im Dunkel der leeren Kirche wieder erkannte. Er wußte es nicht genau, ob es Regina oder Mylada war und die Erinnerung an beide verwob sich ihm merkwürdig zu einer einzigen Gestalt (SG 69)
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Olfaktorische Wahrnehmungen spielen innerhalb des Romans immer wieder eine Rolle, so etwa, wenn Severin Zdenka lehrt, einzelne Straßen »[a]n dem Geruch der Straßen und des Pflasters« (SG 19) zu erkennen. Severin besitzt einen besonders feinen Geruchssinn, was ihn als aufmerksam und sensibel Wahrnehmenden charakterisiert. Gerüche sind es auch, die als Auslöser für Erinnerungen fungieren: »Schon als Kind besaß er eine empfindsame Witterung für das Aroma, das einem jeden Ding und einer jeden Zeit anhaftete. Er dachte an die Tage des Schulanfangs, wenn er nach den Ferien zum ersten Male wieder das Klassenzimmer betrat und ihm der feuchte Duft der Kreide entgegenschlug. […] Seine Kindheit war erfüllt mit dieser Freude an vielerlei Gerüchen, die ihm wohltaten oder ihn bedrückten, an denen er Folge und Wiederkehr erkannte und die die Jahreszeiten begleiteten« (SG 33).
III. Prag als Ort der Krise(n)
Regina ist – auch über den Bezug zu der frommen Tante gleichen Namens – gekoppelt mit Severins Erinnerungen an seine Kindheit, die von einer religiösen Erziehung in Familie und Schule geprägt war. Sie repräsentiert die »alte und lange vergessene Sehnsucht seiner Knabenseele« nach religiöser Ergriffenheit und dem »naiven Zauber« (SG 60) dieser Zeit. In Severins Gedankenwelt verschmelzen Regina und Mylada, die im Gegensatz zur frommen Regina für das Prager Nachtleben und eine ausschweifende Sexualität steht, miteinander. Die Engführung der beiden Figuren wird noch deutlicher, als Severin in den Augen Myladas die »Sternenaugen« (85) der Nonne Regina, die wiederum die Augen seiner frommen Tante Regina duplizieren, zu erkennen glaubt (vgl. SG 80, SG 85). In ihrem ersten Gespräch schließlich erzählt Mylada Severin von ihrer verstorbenen Schwester: »Sie hieß Regina und war eine Nonne« (SG 81). Dieses Vexierspiel mit den quasi vervielfachten Regina-Figuren (fromme Tante Regina, unbekannte Nonne Regina, Myladas tote Schwester Regina) mutet phantastisch und unheimlich an: Oft, wenn er sie [Mylada, U.M.] in die Arme schloß und wenn sie sich wie ein ungebärdiges Kind auf seinem Schoße zusammenrollte, dann schauten ihn die Augen der Nonne unter ihren Wimpern an, die er im Sommer auf ihrem Kirchgang begleitet hatte. Er erzählte ihr seine Begegnung. […] Mylada lachte und begann von ihrer Schwester zu sprechen, die schon seit Jahren tot war und nannte ihn einen Geisterseher. Aber Severin ließ es sich nicht nehmen und blieb bei seiner Geschichte. Klar und wirklich stand das weiße Gesicht des jungen Weibes vor seiner Seele und in seinem Innern glomm das schwüle Feuer unheiliger Wünsche weiter, an dem er sich damals entzündet hatte. Mylada ließ ihm seine Phantasien. Mit dem reizbaren Instinkt, mit dem sie die Männer beherrschte, erkannte sie bald, daß sich hier eine Quelle neuer und komplizierter Genüsse verbarg, die sie aufgraben mußte, um sie zu verkosten. (SG 84) In dieser Textstelle wird zum einen die rätselhafte Unheimlichkeit der ReginaFigur(en) ausgestellt. Gleichzeitig legt sie eine Lesart nahe, die die scheinbaren Widersprüche verständlich machen kann. Es heißt hier, Severin »blieb bei seiner Geschichte« – es handelt sich also um seine Version der Geschehnisse: Er sieht das Gesicht der jungen Frau »klar und wirklich« vor seinem inneren Auge (»vor seiner Seele«) und trägt es im Akt des Erzählens nach außen, als Äußerung seiner innersten »unheiligen Wünsche«. Die Figur der Regina, eine Spielart der ›Heiligen‹ (als Gegenpol zu Mylada als ›Hure‹), kann also als Manifestation von Severins Bedürfnis nach dem »naiven Zauber« seiner Kindheit und der sinn- und ordnungsstiftenden Funktion der Religion, wie er sie als Kind erlebt hat, verstanden werden. Für den erwachsenen Severin gibt es allerdings kein Zurück in dieses verklärte goldene Zeitalter. Er wird bestimmt durch seine Lust und seine Triebe, die sich weder mit den konventionellen bürgerlichen Vorstellungen noch mit seiner religiösen Erzie-
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
hung vereinbaren lassen. Stattdessen gehen beide Pole (verkörpert in der ›Heiligen‹/Regina und der ›Hure‹/Mylada; auch hier scheint wieder das Doppelgängermotiv auf) in seinem Inneren eine zutiefst widersprüchliche Verbindung aus Ideal und Begehren ein, die er nicht aufzulösen vermag. Dieser innerpsychische Konflikt wird sozusagen nach außen projiziert und durch die weiblichen Figurationen Regina und Mylada ausagiert. In der Textstelle heißt es weiter, Mylada lässt ihm diese »Phantasie«, sie erfüllt sie sogar, indem sie als Nonne verkleidet zu ihm kommt, und wird damit zur Projektionsfläche für seine (aus christlicher und gesellschaftlicher Sicht) amoralischen sexuellen Wünsche. Im Handbuch Literatur und Psychoanalyse (2017) ist unter dem Lemma ›Phantasie‹ zu lesen: Phantasie (griech. phantasía: Erscheinung, Vorstellung, geistiges Bild, Einbildung) und Imagination bezeichnen als weitgehend synonyme Begriffe das Vermögen, innere Bilder zu erzeugen. Wird Imagination im 18. Jahrhundert zum produktiven Vermögen der Einbildungskraft im Kontext von Psychologie, Ästhetik und Poetik aufgewertet, so wird mit dem Begriff der Phantasie das Diffuse, Ausufernde, mithin Pathologische der Vorstellungstätigkeit betont. […] Freud rückt die Phantasie als Medium des Lustprinzips nach der Einsetzung des Realitätsprinzips nicht nur ins Zentrum des psychischen Geschehens, sondern auch seiner Dichtungstheorie. In der Phantasie können unbefriedigte – ehrgeizige oder erotische – Wünsche angesichts einer von Versagung und Frustration geprägten gesellschaftlichen Wirklichkeit zum Ausdruck kommen. […] Ob das Phantasieren pathologisch ist und die Bildung von Neurosen und Psychosen begünstigt, hängt dabei nicht allein von seinem Ausmaß ab, sondern auch vom fehlenden Sinn der Unterscheidung von Phantasie und Wirklichkeit. (Roehl 2017: 636) Vor diesem Hintergrund lassen sich die Regina-Figurationen als Repräsentationen von Severins unerfüllten (erotischen und emotionalen) Sehnsüchten innerhalb einer als opak und repressiv erlebten gesellschaftlichen Situation deuten. Dass die von seiner Phantasie produzierten inneren Bilder ein psychotisches Ausmaß annehmen, lässt sich daran belegen, dass er seine Umwelt im weiteren Verlauf mehr und mehr als bedrohlich wahrnimmt, was sich auch in seiner Sicht auf die Stadt manifestiert.
III. Prag als Ort der Krise(n)
2.5
Mylada oder die Krise der Männlichkeit
Eine besondere Stellung unter den im Roman auftretenden Frauenfiguren nimmt die Prostituierte und Kindfrau Mylada26 ein, in ihr verkörpert sich »[d]ie große und zwingende Gewalt, die hinreißen und gebieten konnte, die unwiderstehlich und tödlich war« (SG 83). Die Verknüpfung von Lust und Tod, Eros und Thanatos, wird bereits beim ersten Aufeinandertreffen von Severin und Mylada etabliert: »Und eine schmerzliche, von Bangigkeit erdrückte, von Zweifeln zerrissene, ohnmächtige Lüsternheit nach den Küssen des Weibes verzehrte ihn jäh, das sein Begehren in derselben Stunde entfacht hatte, in der ihm Lazarus vom Tode seines Kindes sprach« (SG 79). Die »skandalös amoralische Konvergenz von Eros und Thanatos«, die in der amour fou zwischen Severin und Mylada ihren Ausdruck findet, sowie »eine artifiziell überreizte, extravagante Sinnlichkeit und die ›perverse‹ Lust am Untergang kennzeichnen einen antikonformistischen Habitus, der – in Abgrenzung zum Naturalismus – eine Reihe von gemeinhin als pathologisch oder kriminell stigmatisierten Verhaltensweisen zum ästhetischen Kult erhebt« (Haupt 2007: 143), weisen den Text als Décadence-Literatur aus. Ferner wird Mylada in Verbindung gesetzt mit Severins Kindheitserinnerungen, die als nostalgische Retrospektionen den Roman durchziehen: Severin dachte an den Herbstregen in seinen Kinderjahren. Es war alles wie heute und die Knabenwünsche gruben in seinem Herzen ein wehleidiges Heimweh auf. […] Ein Schwarm von vertrauten, durch die Jahre verwaschenen Bildern kam zugleich in ihm herauf, die er vergessen hatte und die der Regentag wieder in sein Gedächtnis spülte. Die rußige Pawelatsche mit dem Eisengeländer, wo er mit dem Bruder kindische Spiele ersann und mit der Gummischleuder nach den Katzen im Garten jagte. Die alte Julinka, die das Gnadenbrot im Hause aß und dafür die zersprungenen Holzstiegen scheuern mußte. Die Sommerabende vor der offenen Türe, wenn ihm die roten Wolken zwischen den Dächern die ersten unverstandenen Tränen brachten und die Dienstmädchen in den Nachbarhöfen die tschechischen Lieder anstimmten, deren banale Süßigkeit ihn noch heute bewegte. Auch Mylada kannte diese Lieder. (SG 78) Die Beschreibung seines Elternhauses macht deutlich, dass Severin aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt. Die »rußige« Pawlatsche, die »zersprungenen« Stufen, die Tatsache, dass es singende Dienstmädchen nur in den Nachbarhöfen gibt, lassen auf eher ärmliche Lebensumstände schließen. Dennoch hat Severin eine große Sehnsucht nach dieser vergangenen Zeit und Mylada, die Tschechin,
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Die gebräuchliche Schreibweise des Namens im Tschechischen ist eigentlich »Milada« (von »mladý« = jung).
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erscheint ihm als das geeignete Mittel, sie zu stillen, denn auch sie kennt die Lieder seiner Kindheit. Der Ort Myladas ist das Prag der Nacht, genauer das Weinlokal »Spinne«. Die Atmosphäre ist aufreizend: Gerüche, Geräusche und visuelle Eindrücke sind erotisch aufgeladen. Die Musik, der Alkohol und der Rausch der Menge lassen an dionysische Feste denken (vgl. SG 80). Hier verfällt Severin Mylada; sie bedeutet ihm den langersehnten Ausbruch aus dem monotonen Alltag. Durch sie entfernt er sich von der Realität und der tristen Eintönigkeit, unter der er stets gelitten hat: Alles was früher eine Bedeutung für ihn hatte, was ihn verstimmte und erregte, verschwand aus seinem Leben, als ob es niemals darin gewesen wäre. […] Er tat seine Arbeit im Bureau, ohne den Druck zu empfinden, der sonst immer auf diesen Stunden lastete. Er fühlte nicht mehr den bösen und heimtückischen Haß in den Dingen, die ihn früher beleidigten und er hatte nur Raum in sich für die grenzenlosen Schwelgereien seiner Liebe. […] Das Zimmer, in dem sie weilten, kam ihm fremd und wunderlich vor und die Lampe vor seinem Bette gab ein absonderliches Licht. Er sah die Funken hinter den Lidern Myladas tanzen und eine goldene Welle löschte in seinem Gehirn die Gedanken aus. (SG 82f.) Für Severin wird alles, was sie trägt, zum »Fetisch« (SG 83). Darin zeigt sich der Narzissmus Severins, ist es doch der Fetischist selbst, »der den F[etisch] und die Beziehung zu ihm kreiert« (Böhme 2013: 210). Mylada erfüllt seine sexuellen Phantasien rückhaltlos. Sie befriedigt seine »unheilige[n] Wünsche« (SG 84), indem sie als Nonne Regina verkleidet bei ihm erscheint. Eine »sündhafte und verzweifelte Lustbarkeit« (SG 82) fesselt ihn an sie. Die Nächte verbringt Severin daher nur noch in der »Spinne«, wo er Mylada dabei beobachtet, wie sie die Männer becirct. Jede Nacht singt sie die tschechischen Lieder, »die er liebte und in denen die Musik seiner Kindheit mitklang« (SG 85). Wiederum scheint das Motiv der Kindheit, die eng mit den tschechischen Liedern verbunden ist, auf. Myladas tschechische Herkunft trägt offenbar viel zu der Faszination bei, die sie auf Severin ausübt: »Auch sie besaß die wiegende und schwärmerische Anmut der slawischen Frauen, die ihn bei Zdenka bestochen hatte. Aber in ihr war eine gefährliche Behendigkeit, eine listige Sentimentalität, die an der Oberfläche haftete und die ihr Wesen nicht enträtselte« (SG 85). Die Figur der Prostituierten Mylada ist als Gegenpol zur selbstlosen und mütterlichen, als Retterin auftretenden Zdenka gestaltet. »In Mylada verbindet sich der Typus der Femme fragile mit dem der Femme fatale; sie ist Tyrannin und Kindfrau in einem«, fasst Susanne Fritz zusammen (Fritz 2005: 62). Von ihrem äußeren Erscheinungsbild her ist sie dem Typus der Femme fragile zuzuordnen, denn »[i]hr Körper war klein wie der eines Kindes« (SG 81). In ihrer Art, die Männer durch deren Begierde nach ihr in den Ruin zu treiben, ist sie ganz Femme fatale. Um die
III. Prag als Ort der Krise(n)
Jahrhundertwende tritt die Femme fatale als Figuration von Weiblichkeit gehäuft auf, man denke z. B. an Frank Wedekinds Lulu aus dem Erdgeist (1895), ein Drama, das im Übrigen für den Prager Kontext durch Franz Werfels »Glosse zu einer Wedekind-Feier« (1914) besondere Bedeutung erlangt hat.27 Neben einer Figur wie Wedekinds Lulu als Verkörperung bedrohlicher, weiblicher Erotik steht im zeitgenössischen Diskurs ein akzentuiert maskulines Selbstverständnis, eine virile Ideologie, wie sie etwa in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) im Umkreis der Wiener Moderne zum Ausdruck kommt. In seinem ungemein wirkmächtigen Werk, das auch Leppin gekannt haben dürfte, will Weininger einen »Einblick in das Wesen des Weibes und seine Bedeutung im Weltganzen« (Weininger 1908: VII) geben und offenbart dabei eine überaus misogyne sowie – trotz seiner jüdischen Herkunft – antisemitische Haltung. Weiblichkeit verkörpert sich für Weininger stets zwischen den Polen »Dirne« und »Mutter«, die alle Frauen als Typen in sich trügen.28 Ebendiese beiden Imagines des Weiblichen finden in Severins Gang in die Finsternis ihren Niederschlag in Zdenka als mütterlich gestalteter Figur und im »Animiermädchen« (SG 94) Mylada. Wahre Männlichkeit sei laut Weininger nur durch die Negierung des Weiblichen zu erreichen, denn die »tiefste Furcht im Manne« sei die »Furcht vor dem Weibe […], das ist die Furcht vor dem lockenden Abgrund des Nichts« (Weininger 1908: 404). Der österreichische Historiker Ernst Hanisch sieht Geschlecht und Charakter als »stärksten und einflussreichsten Ausdruck« (Hanisch 2005: 26) einer Krise der Männlichkeit. Die seit dem späten 19. Jahrhundert erstarkende Frauenbewegung, der Kampf der Frauen für politische Selbst- und Mitbestimmung und nicht zuletzt der steigende Anteil arbeitender Frauen brachte zwangsläufig auch eine Umwertung der traditionellen bürgerlichen Geschlechterrollen mit sich. Somit entstand nicht nur ein neues Frauenbild, gleichzeitig wurde auch der bis dato unangefochtene Status des Mannes als Familienoberhaupt und Ernährer zunehmend in Frage gestellt. Hanisch vertritt die Ansicht, Weiningers Abhandlung könne als »verzweifelter männlicher Hilfeschrei verstanden werden, als Ausdruck der Urangst vor der Frau, als ein einziger Protest gegen die Verweiblichung« (Hanisch 2005: 28) – man könnte anfügen: gegen die »›Feminisierung‹ des Lebens und der
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In seiner Besprechung »Glosse zu einer Wedekind-Feier«, die am 18. April 1914 im Prager Tagblatt erschien, sieht Werfel die tschechische Erstaufführung des Erdgeistes als großen Fortschritt einer zunehmend polarisierten Gesellschaft auf dem Weg zu einem friedlichen und fruchtbaren Zusammenleben von Deutschen und Tschechen. Die Aufführung beweise, dass »in den letzten Jahren der schwarze Abgrund zwischen den Nationen in Prag von manchen heilsamen Funken überblitzt wird« (Werfel 1975: 202). Vgl. dazu weiterführend Michaels 2001. »Demnach ist die Eignung und der Hang zum Dirnentum ebenso wie die Anlage zur Mutterschaft in einem Weibe organisch, von der Geburt an vorhanden« (Weininger 1908: 285).
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Kunst« (Kranz 2013: 366) in der Moderne, wie sie sich beispielsweise bereits 1888 in einem Essay von Eugen Wolff in Form einer Allegorie zeigt: […] ein modernes, d. h. vom modernen Geiste erfülltes Weib, zugleich Typus, d. h. ein arbeitendes Weib, und doch zugleich ein schönheitsdurchtränktes, idealerfülltes Weib, d. h. von der materiellen Arbeit zum Dienste des Schönen und Edlen zurückkehrend, etwa auf dem Heimwege zu ihrem geliebten Kind, – denn sie ist keine Jungfrau voll blöder Unwissenheit über ihre Bestimmung, sie ist ein wissendes, aber reines Weib, und will bewegt wie der Geist der Zeit, d. h. mit flatterndem Gewand und fliegendem Haar, mit vorwärtsschreitender Gebärde, freilich nicht durch ihre überirdische Erhabenheit in den Staub nötigend, aber durch ihren Inbegriff aller irdischen Schönheit begeisternd mit fortreißend, – das ist unser neues Götterbild: die Moderne! (Wolff 1888: 47, Hervorhebungen im Original) Für Wolff verkörpert die emanzipierte Frau das »moderne Ideal« (a.a.O.: 46), und zwar in allen Bereichen des Lebens, der Kunst und der Wissenschaft, wie in seinem Essay deutlich wird. Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund lässt sich vor allem die Beziehung zwischen Severin und Mylada als Gestaltung einer Krise der Männlichkeit lesen. Mylada ist weder finanziell noch gesellschaftlich und vor allem nicht emotional abhängig von Severin. In Myladas Verhalten gegenüber Severin hallt sein eigenes Verhalten gegenüber den anderen Frauengestalten wider, denen er gefühlskalt und empathielos begegnet, sobald er seine sexuelle Lust gestillt hat und ihrer überdrüssig wird. Sie übernimmt also gewissermaßen seine als ›männlich‹ vorgestellten Verhaltensweisen. In einer Studie geht Wilma A. Iggers der Frage nach, wieso es zu Beginn des 20. Jahrhunderts verhältnismäßig wenige deutschsprachige, dafür aber umso mehr tschechischsprachige Schriftstellerinnen gegeben hat und kommt zu folgendem Schluss: I would like to suggest that Czech society had a much more encouraging attitude toward women intellectuals, including writers, than did German, including German-Jewish, society in Prague. Several factors contributed to this attitude: the admonitions to Czech women at the time of the Czech national revival earlier in the century to cultivate the Czech language and to help enrich it; Vojta Naprstek’s extensive women’s library with its public lectures for women from the 1860s on; and Minerva, the first women’s gymnasium in Central Europe, which was founded in 1891. Besides, perhaps the very fact that Czech society was so new meant that it was less settled in traditional bourgeois and noble grooves than was its German counterpart, which in many ways served as a model to the growing Jewish middle and upper classes. During that period and on into the twentieth century, newly prosperous Jewish families discouraged their daughters from devoting their lives to anything other than entering into a suitable marriage, running a household
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in keeping with their husband’s status, and having an education adequate for raising children and for making a suitable impression at social and cultural gatherings. (Iggers 1997: 307) Vor diesem sozialgeschichtlichen Hintergrund wird erklärbar, warum der Prager deutschsprachige Severin in den Beziehungen mit den als eigenständig auftretenden tschechischen Frauenfiguren versucht, seine Dominanz zu behaupten. Er verteidigt seine ›männliche‹ Machtposition gegenüber den tschechischen Frauenfiguren, bis er schließlich auf Mylada trifft. Der Reiz, den sie auf ihn ausübt, motiviert sich auch hier durch eine doppelte Alteritätskonstruktion: Diskurse geschlechtlicher und kultureller Alterität überlagern sich dabei. Aber es scheint noch eine weitere Markierung des ›Anderen‹ auf: Mylada steht – im Gegensatz zu der dem Kleinbürgertum angehörenden Zdenka – außerhalb aller gesellschaftlichen Konventionen. Sie ist eine Prager Nachtgestalt und ihr Ort ist die Prager Unterwelt. Die Krise der Männlichkeit, kondensiert in der Figur der Mylada, ließe sich dann als ein ganzes Geflecht aus Alteritätskonstruktionen beschreiben: auf der Ebene des gender, der Erotik, nationalkulturell, emanzipiert, antibürgerlich.
Resümee In ihrer umfangreichen Studie Topographien der Geschlechter (1990) untersucht Sigrid Weigel »Stadtdarstellungen als Paradigma für die imaginäre und symbolische Darstellung der Geschlechterverhältnisse in der abendländischen Kulturgeschichte« und versteht Städte »als verräumlichte[] Sinnbilder einer Kultur, als paradigmatische[n] Ort von Zivilisationsarbeit und Kristallisationspunkt einer als Fortschritt konzipierten Geschichte, in dem die Dialektik der Naturbewältigung und der Rückkehr des Verdrängten zum Ausdruck gebracht wird« (Weigel 1990: 156). Dazu geht sie Weiblichkeitsimagines in literarischen Stadtbildern auf den Grund: »Die Geschichte der Stadtdarstellungen ist übervoll von Beispielen für die Analogisierung von Stadt und Frau, für weibliche Sexualisierungen von Stadtbeschreibungen« (a.a.O.: 150). Die Stadt erscheine beispielsweise als Göttin, als Hure oder als Mutter. Dabei sei »die Imagination von Städten als weiblich konnotierte Natur, Körper oder Bilder […] nur möglich dadurch, daß die Städte nicht als von weiblichen Subjekten bewohnt oder bevölkert gedacht werden« (ebd.). Ihren Ausdruck fänden diese Imaginationen »im Blick des männlichen Subjekts, ob es nun als Planer, Eroberer, als Flaneur oder als Autor auf den Plan tritt«, so Weigel (a.a.O.: 156). In Severins Gang in die Finsternis ist es ebenfalls der Blick bzw. die Projektion des männlichen Subjekts und Protagonisten, der die Frauenfiguren definiert und formt. Eine Ausnahme bildet dabei Mylada als Figuration eines krisenhaften
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männlichen Selbstverständnisses. Weiterhin destilliert Weigel im Rückgriff auf antike Gründungsmythen folgendes Muster heraus: Die Stadt wird dabei zum Ordnungsfaktor, indem sie die wilden Anteile des Weiblichen (den Drachen, das Ungeheuer, die Hydra, Chimäre o.ä.) aus ihren Mauern verbannt, wohingegen die Frau in der Stadt auf ihre Funktion als Mutter und Gattin reduziert ist. Die Frau, die der Held als Lohn seiner Arbeit erhält, hat ihren Platz immer innerhalb der Stadtmauern. […] Als Held ist er Subjekt einer Zivilisationsarbeit, bei der die Gründung der Stadt zum Ordnungsfaktor wird, indem sie die wilden Anteile ›weiblicher Natur‹ aus ihren Mauern verbannt. (Weigel 1990: 159; Hervorhebung im Original) Das heißt, die Welt wird in ein Innen und ein Außen geordnet. Draußen ist ungebändigte Natur, drinnen die »domestizierte, entsexualisierte Frau« (ebd.), wobei sich die Stadtmauern in den Häuserwänden replizieren. Beim Übergang von der Stadt zur Großstadt kehrt dieser wilde Anteil wieder ins Innere der Stadt zurück. Mit dem Übergang zur Großstadt verliert nicht nur das Bild der Stadt, sondern auch das Stadtbild seine ordnungsstiftende Signatur. Gibt es auch immer wieder städtebauliche Versuche, Übersichtlichkeit, Geometrisierung und Zentrierung in der Anlage der Stadt zu erhalten oder wiederherzustellen, so zeigt sich gleichzeitig, daß das Wachstum der Großstadt sich planerischer Kontrolle entzieht. […] Zudem ist die Begrenzung der Großstadt nicht eindeutig, ihre Übergänge in das Vorland nehmen vielfältige, uneindeutige Gestalt an; die Außenseiter und Asozialen kehren in das Innere der Stadt zurück; und anstatt eines Zentrums gibt es viele, sozial und kulturell differenzierte Zentren. (Weigel 1990: 173; Hervorhebung im Original) Das vormals »ordnungsstiftende Stadtbild« gibt es laut Weigel in der modernen Großstadt nicht mehr. Städtebauliche Maßnahmen, die planerisch Ordnung, Übersichtlichkeit und Hygiene herstellen wollen, sind zum Scheitern verurteilt. Ebendies führt Paul Leppin in seiner kurzen Erzählung Das Gespenst der Judenstadt (1914) vor. Im Mittelpunkt der Erzählung, die zur Zeit der Assanierung des jüdischen Viertels spielt, steht die an Syphilis erkrankte Prostituierte Johanna: »Dann kam der Tag, wo die Krankheit ihren Körper zur Buße nötigte. Aus den morschen Mauern der Judenstadt, aus den unzüchtigen Gassen kam sie herauf und vergiftete ihre Küsse« (Leppin 1914: 13). In diesem Text fließen »Frau und Stadt, Handlung und Schauplatz ineinander« (Escher 2004: 3), zudem greift Leppin den zeitgenössischen Hygiene-Diskurs auf, der im Europa des 19. Jahrhunderts Stadtsanierungen, den Bau von Kanalisation und Krankenhäusern auf den Plan rief. In Leppins Erzählung lässt sich das Abseitige und Abgründige, das Unhygienische, das durch die Assanierung des jüdischen Viertels in Prag aus dem Zentrum verbannt werden
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soll, zwar räumlich an den Rand, d. h. in die Vorstädte drängen, findet dann aber in Form der Krankheit den Weg zurück ins Zentrum: Von einem Sommer zum andern wurde das Ghetto niedergerissen. Neue Häuser erdrückten die finstern und ungesunden Schlupfwinkel, wo das Elend und das Laster jahrhundertelang gespenstert hatten. Die Unzucht flüchtete mit hohen Stöckelschuhen klappernd bis an den äußersten Rand der Vorstädte. Auf den alten Plätzen wuchs eine Stadt für die Reichen und Vornehmen empor. Aber noch niemals war in Prag die Lustseuche so furchtbar und verheerend gewesen wie in diesem Jahre. Sie brach in die Familie ein und lehrte die jungen Mütter das Grausen. Sie hing sich an das Lächeln der Liebe und machte ein bleiernes Grinsen daraus. Knaben gaben sich den Tod und Greise verfluchten das Leben. (ebd.) In Severins Gang in die Finsternis dringt nun das ›Wilde‹ in Gestalt von Mylada in die Stadt ein; als ein urbanes Phänomen, ein Phänomen der Moderne. Mylada gehört zu den Außenseitern der bürgerlichen Gesellschaft. Sie hat keine Geschichte, niemand weiß, wer sie ist und woher sie kommt (vgl. SG 63). Wiederholt wird sie mit tierischen Merkmalen ausgestattet; z. B. wie eine wilde Katze dargestellt (vgl. SG 87). Ihr Ort ist die dionysische Weinstube, wo es wild und ekstatisch zugeht (vgl. SG 72). Severins Stadtwahrnehmung verändert sich durch seine Beziehung mit Mylada; er nimmt Prag als bedrohlich und doppelbödig wahr: Das war nicht die Stadt, die er kannte. Das war ein Guckkasten, wo brave Bürger und Bürgerinnen ihre Besorgungen machten, und wo der heilige Nepomuk mit gleißnerischen Händen die Moldau bewachte. Das Zwielicht dunkelte immer stärker, als Severin durch die Turmeinfahrt der Kleinseite zum Radetzkydenkmale einbog. […] Die Stadt, die er kannte, war anders. – Ihre Straßen führten in die Irre und das Unheil lauerte auf den Schwellen. Da klopfte das Herz zwischen feuchten, verräterischen Mauern, da schlich sich die Nacht an erblindeten Fenstern vorbei und erwürgte die Seele im Schlaf. Überall hatte der Satan seine Fallen aufgestellt. In den Kirchen und in den Häusern der Buhlerinnen. In ihren mörderischen Küssen wohnte sein Atem und er ging in Nonnenkleidern auf Raub aus –. (SG 98f.) Die Stadt wirkt nicht mehr als »Ordnungsfaktor […], indem sie die wilden Anteile ›weiblicher Natur‹ aus ihren Mauern verbannt« (Weigel 1990: 156). Stattdessen löst sich die Dichotomie zwischen Innen (Ordnung) und Außen (Chaos) auf. Zudem kommt es noch auf einer weiteren Ebene zur Auflösung der Grenze zwischen Innen und Außen, nämlich wenn Severins Innenwelt und die städtische Umwelt sich derart übereinanderlegen, ineinander spiegeln und miteinander verfließen, dass für den Leser Innenwelt und Außenwelt letztlich ununterscheidbar werden. Auf der einen Seite steht das bürgerliche Prag, verkörpert in der Figur der Zdenka. Als Kontoristin geht sie einem bürgerlichen Beruf nach und repräsentiert
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die Stadt, »in der brave Bürger und Bürgerinnen Besorgungen machten« (SG 98). In der Beziehung mit Zdenka kann Severin diese Facette der Stadt wahrnehmen, findet aber letztendlich keinen Platz in dieser bürgerlichen Welt. Die Regina-Figur steht in Verbindung mit religiösen Diskursen, die jedoch für Severin auch keine Gültigkeit mehr beanspruchen können. Selbst der Brückenheilige Nepomuk vermag keinen Schutz mehr zu bieten mit seinen »gleißnerischen Händen«. Ebenso wenig bieten die Kirchen eine Zuflucht – auch hier hat der »Satan seine Fallen aufgestellt«. Karla wiederum repräsentiert das Prag der Bohème, die im Salon von Doktor Konrad zusammenkommt. Doch auch die Welt der Künstler und Dandies erscheint nur noch als ein fades Surrogat des echten Lebens: Severin sah ihm [Doktor Konrad] zu und versuchte zu ergründen, warum dieser Mann […] die Tage in kostspieligen und inhaltlosen Schlemmereien verbrachte. Ihm fehlte der erotische Anreiz von Situationen, wo ein paar Modelle mit frecher Grazie die Röcke übers Knie schoben, die hübsche Ruschena sentimentale Strophen und unanständige Lieder klimperte, wo der Sekt die Weiber betrunken machte und der alte Lazarus sein Repertoire von Kalauern aufbrauchte. Ihn dürstete mehr wie je nach dem wirklichen Leben, das Blumen und Grauen bescherte und das mit Sturmbacken den Alltag zerblies. (SG 26) Mit einem »Gefühle des Ekels und der Traurigkeit« (SG 25) wendet sich Severin schließlich auch von Karla und der Sphäre der Bohème ab. Nachdem schließlich auch die Beziehung zu Mylada gescheitert ist, erfährt Severin die Stadt als teuflischen Sündenpfuhl, wo Unheil und Verführung allgegenwärtig sind. Der Roman endet damit, dass Severin während eines Festes anlässlich von Myladas Geburtstag aus enttäuschter Liebe und Wut das Weinlokal »Spinne« mit einer Bombe in die Luft sprengen will, was nur dadurch verhindert wird, dass er bei einer Tombola eine Nacht mit Mylada gewinnt. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass im Roman vor dem plurikulturellen Hintergrund Prags Diskurse geschlechtlicher und nationalkultureller Alterität miteinander verschränkt und auf diese Weise Fremdheits- und Entfremdungserfahrungen inszeniert werden. Mit Wolfgang Müller-Funk lassen sich diese Figurationen des Fremden lesen »als ein eingestandenes und uneingestandenes Negativ oder evtl. auch Positiv eines kollektiven Selbstbildes, wobei das Negativ bzw. das Positiv mehr über die eigene als über die fremde Kultur aussagt (das Stereotyp als Spiegel und Projektionsfläche)« (Müller-Funk 2016: 220). Dabei sind die Frauenfiguren als Projektionsflächen für die Wünsche und Phantasien Severins konstruiert. In den Beziehungen mit den verschiedenen Frauenfiguren verändern sich auch die Stadtwahrnehmungen des Protagonisten, wobei sein Innenleben und die äußere Umwelt ineinanderfließen. Diese mit Hilfe der einzelnen Figuren vermittelten Sphären oder Milieus der modernen Großstadt lassen eine weitere Dimension von Fremdheitserfahrung und Krisenbewusstsein erkennen, wenn nämlich
III. Prag als Ort der Krise(n)
sämtliche Beziehungen scheitern und der Protagonist sich mehr und mehr von den verschiedenen Lebenswelten und -entwürfen entfernt. Der Roman lässt sich als Krisenerzählung charakterisieren – und zwar auf mehreren Ebenen. Er führt die Krise des Bürgertums (s. Zdenka), die Krise des Künstlertums (s. Karla, Doktor Konrad), die Krise der Religion (s. Regina), die Krise der Männlichkeit (s. Mylada), letztlich die »Krise des Subjekts« (Ajouri 2010: 16)29 vor, wie sie paradigmatisch für die klassische Moderne geworden ist. Bisherige Gewissheiten, die dem Subjekt bis dato einen Orientierungsrahmen hatten bieten können, werden zunehmend fragwürdig: »Die Moderne wird als eine Krisensituation dargestellt, in der alle Traditionen und Sicherheiten verloren sind und der Mensch häufig unbehaust, im Exil, auf Wanderschaft, vereinsamt oder entfremdet ist« (Müller 2013: 536). Und so ist auch Severin gestaltet als ein Exilant, der einsam und fremd durch Prager Gassen und Nächte wandert.
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Zur Krise als Narrativ der Moderne vgl. weiterführend den von Uta Fenske 2013 herausgegebenen Sammelband Die Krise als Erzählung.
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IV. Prag im Kontext der Décadence: Paul Leppins Severins Gang in die Finsternis und Jiří Karásek ze Lvovics Gotická duše [Die gotische Seele] (19OO) in komparatistischer Perspektive Vorbemerkungen In der dumpfigen Atmosphäre der Prager Patrizierhäuser hatten die deutschen Schriftsteller das Gefühl, den Kalk von den Arterien ihrer Heime abbröckeln zu hören. Aus der Perspektive des Stillstands sahen sie das, was war und wohl niemals anders werden würde: den überdimensionierten, unvollendeten Dom auf dem Hradschin und ringsum die öden Kanzleien, Gedenkstätten eines ehemals glanzvollen Herrschersitzes. Etwas tiefer irrten ihre Augen über die skurrile Wirrnis der Kleinseitner Dächer, deren Ziegel unter einer Kruste von Taubenmist fast verschwanden. Sie blickten in die abscheuliche Gedrängtheit des einstigen Ghettos, das nach Assanation rief, sie durchstöberten die Gewölbe der Trödler und fanden vorvorjährigen Krimskrams, sie beobachteten den verrückten Geigenspieler auf der Karlsbrücke und den komischen Rollmopshändler in der Weinstube, sie lauschten einer tränenvollen Ballade von dem Straßenmädchen, das in die Moldau gesprungen war, und sie vertieften sich in die dunklen Legenden vom Golem des Rabbi Loew. So kommt es, daß Prag in den Werken der deutschen Schriftsteller oft als eine bizarre Stadt dargestellt wird, dem Gestern zugewandt, geheimnisvoll flimmernd. Durch dieses Gerümpel wetterleuchtet mitunter der tschechische Traum von nationaler Selbständigkeit, verkündet jedoch dem Prager Deutschen nichts Zukünftiges, wirkt nur als Anlaß für das stumpfe Beharren auf unwiderruflich Vergangenem. Es erübrigt sich wohl darauf hinzuweisen, daß Prag im Spiegelbild der damaligen tschechischen Literatur ganz anders aussieht. Derart verschieden sind die Bilder voneinander, daß es kein Wunder wäre, würde jemand annehmen, in den beiden Literaturen sei gar nicht von ein und demselben Thema die Rede. Das tschechische Prag ist im Aufstieg begriffen, für die Tschechen hörte es niemals auf, ihre lebendige, natürliche Hauptstadt zu sein,
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die verkörperte Hoffnung, der Schauplatz jener Prophezeiungen der sagenumwobenen Fürstin Libuscha: »Ich sehe eine große Stadt, deren Ruhm bis an die Sterne reichen wird!« (Frýd 1959: o. S.) Diese Zeilen schrieb der tschechisch-jüdische Schriftsteller Norbert Frýd (1913 in Budweis geboren als Norbert Fried) im Jahre 1959 rückblickend über die »deutschen Dichter Prags«, so der Untertitel seines Essays, und beförderte damit den Mythos vom dekadenten, ›toten‹ Prag in der deutschsprachigen Literatur auf der einen und dem ›goldenen‹ Prag in der tschechischen Literatur auf der anderen Seite. Diese Bifurkation nimmt bereits in den 1910er Jahren in der Diskussion um den Prager Roman ihren Anfang und lässt sich dann über Norbert Frýd, Eduard Goldstücker bis hinein in unsere Zeit weiterverfolgen, wie kürzlich Irina Wutsdorff in einer Studie gezeigt hat (Wutsdorff 2018a).1 Auf Paul Leppins Roman Severins Gang in die Finsternis trifft Frýds Befund sicherlich zu, dass hier eine »bizarre Stadt dargestellt wird, dem Gestern zugewandt, geheimnisvoll flimmernd« (s.o.), allerdings gibt es in der zeitgenössischen tschechischsprachigen Literatur einen Text, der ein ganz ähnliches Pragbild zeichnet, so dass sich die These der zwei, nach nationaler Zughörigkeit trennscharf geschiedenen, konträren Stadt-Imagines nicht länger aufrechterhalten lässt. In einer komparatistischen Betrachtung soll dem im vorangegangenen Kapitel betrachteten Roman Severins Gang in die Finsternis von Paul Leppin Jiří Karásek ze Lvovics Gotická duše [Die gotische Seele] (1900) an die Seite gestellt werden, um beide Texte mit- und gegeneinander zu lesen. Die beiden Autoren Paul Leppin und Jiří Karáseks ze Lvovic kannten einander und schrieben für die Moderní revue, waren oft auch in einem Heft vertreten.2 Für
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Vgl. dazu auch Escher (2018), der jüngst ebenfalls eine Kritik dieses ›Forschungsmythos‹ unternommen hat: »So gibt es denn auch in der Literaturkritik, Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft eine lange Tradition, die gerade eine fundamentale Unterschiedlichkeit der Stadterfahrung entlang der Sprachgrenze postuliert. Sie findet in den topischen Bildern des ›neuen tschechischen‹ und des ›alten deutschen Prag‹ ihre Zuspitzung […] Diese Sichtweise unterstellt zwar just die literarischen Repräsentationen der Stadt als Vergleichsbasis für die tschechische und deutschsprachige Moderne; die Schlüsse, die daraus gezogen werden, sind jedoch aus heutiger Perspektive verfehlt, da unbesehen literaturkritische Positionen übernommen werden, die sich in den 1910er-Jahren im Rahmen einer tschechischdeutschen Auseinandersetzung um ›Prager (deutsche) Literatur‹ bzw. den ›Prager Roman‹ herausgebildet hatten und entsprechend mit zeitgenössischen (identitäts-)politischen Interessen aufgeladen sind (vgl. dazu Krolop 2010, Escher 2010). Hier ist der Weg zu einem verkürzenden, sich sozialgeschichtlich gebenden Biographismus nicht mehr weit, wo schlicht die Zugehörigkeit der Autoren zu einem bestimmten Milieu für die jeweiligen literarischen Prag-Bilder verantwortlich gemacht wird (Goldstücker 1967)« (Escher 2018: 54). Vgl. beispielsweise das Heft des Jahrgangs 1899/1900. Online abrufbar unter: http://krameri us.nkp.cz/kramerius/handle/ABA001/1455526, zuletzt geprüft am 15.10.2020.
IV. Prag im Kontext der Décadence
die Moderní revue hat Karásek auch seine Besprechung zu Severins Gang in die Finsternis verfasst (vgl. Kap. III.). Auf die Verwandtschaft der beiden Texte hat bereits Susanne Fritz hingewiesen und sie in ihrer Studie zum Prager Text dem »Themenkreis des Verfalls« zugeordnet: »Nur die Werke Paul Leppins und seines tschechischen Kollegen und Freundes Jiří Karáseks ze Lvovic spiegeln den Themenkreis des Verfalls in Reinform wieder [sic!]; beide Autoren orientierten sich an der europäischen literarischen Décadence« (Fritz 2005: 172). Fritz regt an, die Texte vergleichend zu betrachten, leistet dies jedoch selbst nur in Ansätzen und bleibt dabei den gängigen nationalkulturellen Grenzziehungen weitestgehend verpflichtet.3 Im nachfolgenden Kapitel werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Romane herausgearbeitet, wobei die Gestaltung des literarischen Pragbildes im Fokus steht. Was sind die ästhetischen Verfahren zur Modellierung der Stadt-Imagines und was können die poetologischen Implikationen über eine Standortbestimmung der beiden Texte innerhalb des Makrotextes der literarischen Prager Moderne(n) aussagen? Um diese Fragen zu beantworten, werden die vermittelten Stadtbilder im Kontext der literarischen Décadence untersucht und kritisch diskutiert. Nicht zuletzt da es sich bei der Décadence um ein europäisches Phänomen handelt, wie in der Forschung immer wieder herausgestellt wurde4 , ist hierfür der komparatistische Ansatz erst recht unabdingbar.
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Severins Gang in die Finsternis und Gotická duše als Werke einer ›Prager Décadence‹
Das Lexikon der tschechischen Literatur verzeichnet Karásek als »jeden z nejtypičtějších představitelů české dekadence« [»einen der typischsten Vertreter der tschechischen Dekadenz«] (Forst 1993: 664), der mit Vorliebe solche Stoffe wählte, die innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaft tabuisiert wurden, wie etwa eine 3
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Dies zeigt sich z. B. in Aussagen wie den folgenden: »Als Gegenstücke gelesen, geben beide Bücher Aufschluß darüber, wie Deutsche und Tschechen auf die politischen und sozialen Umbrüche im Prag der Jahrhundertwende reagiert haben« (Fritz 2005: 177). Oder: »In beiden der literarischen Décadence verpflichteten Romanen steht dieser Seelenzustand in direktem Zusammenhang mit der Nationalität des jeweiligen Helden: bei Leppin ist es ein Prager Deutscher, der sich im Gefüge der Stadt verliert; bei Karásek ist es ein Tscheche, der sich nicht aus dem Bann der eigenen Historie befreien kann und deshalb tragisch enden muß« (ebd.). So zum Beispiel bereits von Ernst Robert Curtius: Durch den Eingang des »Dekadenzproblems« von der politischen in die literarische Sphäre sei es »durch die philosophischen und künstlerischen Fragestellungen des Tages befruchtet« worden und »in die weiten Schichten des literarischen Publikums, auch des Auslandes, hineingetragen« worden, so dass »das französische Dekadenzproblem eine internationale Angelegenheit werden konnte« (Curtius 1921: 149f.).
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morbide Erotik sowie Stimmungen und Gefühle des Verfalls und der Agonie (vgl. ebd.). Darüber hinaus gründete er 1894 zusammen mit Arnošt Procházka die Zeitschrift Moderní revue, die als Sprachrohr der tschechischen (aber auch europäischen) literarischen Dekadenz gilt, und wurde so zu einem der engagiertesten Vermittler der Dekadenz und des Symbolismus (vgl. a.a.O.: 665). In einer zeitgenössischen Rezension schreibt der Prager deutschsprachige Dichter Camill Hoffmann über Gotická duše: Es ist die Geschichte eines dekadenten jungen Mannes, der, aus bigotter Umgebung hervorgegangen, mit den gefährlichen Eigenschaften der Selbstbeobachtung begabt, nach einer absoluten Erkenntnis strebt und infolge nervöser Zerrüttung dem religiösen Wahnsinn verfällt. Das Buch ist ein wenig von Gott und Huysmans erfüllt; aber die Silhouette des mittelalterlichen Prag mit seinen vielen Kirchen, Klöstern und Palästen steht darin auf und breitet einen starken mystischen Zauber darüber; wie in einem von farbigen Gläsern gebrochenen Lichte spielt sich alles ab; doch gibt es beinahe keine Handlung, sondern nur Seelenkrisen. Karásek ist ein vornehmer Künstler des lyrischen Wortes und der schärfsten Analyse. (Hoffmann 1901/02: 531) Neben der Beschreibung des Protagonisten als einem Décadent verweist Hoffmann in seiner Besprechung auf Huysmans, dessen Roman À rebours (1884) um den jungen Adeligen Jean Floressas Des Esseintes, der sich mehr und mehr aus der realen Welt in eine ästhetizistische Gegenwelt zurückzieht, immer wieder als Prätext zu Gotická duše genannt wird (vgl. z. B. Putna 1998: 661). Desgleichen macht auch der Leppin-Herausgeber Dirk O. Hoffmann in seinem Nachwort zu Severins Gang in die Finsternis Huysmans’ Helden als einen Vorläufer Severins aus (vgl. SG 106). Als weiterer Hinweis auf die deutlichen Parallelen zwischen beiden Romanen genügt ein kurzer Blick auf Karáseks Vorwort zu Gotická duše, das sich geradezu wie ein Klappentext zu Severins Gang in die Finsternis liest: Není románem v obvyklém slova smyslu Gotická duše: je to dojmový, náladový denník vlnivého toku her duševního světa, popis přiběhů duše, všeho, nač nitro reaguje pod přilivy odstínů, vůní, záchvěvů, jimiž na ně útočí skutečný svět. Chimaera snílka, jenž se chtěl opíti životem, a jemuž sen života vlál stále kolem hlavy jako neodstranitelný závoj, – a jenž se domníval, že je k životu třeba, aby sen ten byl uskutečněn, tragika toho klamu, to jest vnitřní historií mého díla. Není v něm skoro žadného děje. Hrdina obmezuje se jen na jediné: že chodí po svém pokoji, nebo prochází se ulicemi a raisonnuje. […] Jest osamotněn ode všeho réalního, hmotného. Místo effektů děje, kombinaci přiběhův a episod – nalezne
IV. Prag im Kontext der Décadence
se tu výlučně malba duše, ne přervaná dějovými podrobnostmi, ale stálý plynulý tok, psychický proud.5 (Karásek ze Lvovic 1905: 5; Hervorhebungen im Original)6 Die Gotische Seele ist kein Roman im herkömmlichen Sinne: Es ist ein eindrückliches und stimmungsvolles Tagebuch des oszillierenden Stromes der Spiele der seelischen Welt, die Schilderung von Geschichten der Seele, von allem, worauf das Innere unter der Flut der Nuancen reagiert, Düfte, Erschütterungen, mit denen es die wirkliche Welt angreift. Die Chimäre eines Träumers, der sich am Leben berauschen will und dem der Traum des Lebens ständig um den Kopf weht wie ein nicht loszuwerdender Schleier, und der glaubt, dass es zum Leben nötig ist, dass dieser Traum verwirklicht wird; die Tragik dieser Täuschung das ist die innere Geschichte meines Werks. Darin ist fast keine Handlung. Der Held beschränkt sich nur auf eines: Er geht in seinem Zimmer herum oder er durchstreift die Straßen und räsoniert. Er ist isoliert von allem Realen und Materiellen. Statt den Effekten einer Handlung, statt einer Kombination von Geschichten und Episoden – findet sich hier ausschließlich ein Gemälde der Seele, nicht unterbrochen durch Einzelheiten der Handlung, sondern ein ständig fließender Strom, ein psychischer Fluss. In Severins Gang in die Finsternis ist es ebendiese »Flut der Nuancen, Düfte, Erschütterungen« der wirklichen Welt, die als »Geschichte der Seele«, als »psychischer Fluss« präsentiert wird. Severin, ein Flaneur, der durch die Straßen streift, und darin Karáseks Protagonist Vilém verwandt, nimmt die Stadt mit allen Sinnen wahr. »Mit weit geöffneten Augen sah er in die Stadt hinein« (SG 7), er riecht die Stadt (vgl. SG 8) und »horchte in die Geräusche hinein« (SG 11). Er versteht die »stille Sprache der Stadt« (SG 20) und »spürte ihren Blutlauf […] im eigenen Leibe« (SG 58). Aus diesen Sinneswahrnehmungen konstituiert sich Severins Bild der Stadt, so wie es sich für Vilém aus seinen Wahrnehmungen der mittelalterlich-barocken Kirchen und Klöster zusammensetzt. Darüber hinaus gibt es eine Reihe struktureller und motivischer Ähnlichkeiten, die sich teilweise als Zeichenrepertoire der dekadenten Literatur begreifen lassen, welche sich »am besten inhaltlich, als Motivgeflecht« (Ajouri 2010: 181) beschreiben lässt.7 Dazu zählen u. a. die Ästhetik des Morbiden, Severins und Viléms ›Neur5
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Vgl. dazu auch die Rezension von Arne Novák zu Severins Gang in die Finsternis: »[…] an Stelle von Gestalten bringt er Schattenrisse, anstatt Handlungen nur Stimmungen, anstatt Konflikte nur wirkungsvolle Arrangements« (Novák 1913/14: 1001). Jiří Karásek ze Lvovic (1905): Gotická duše. Praha: Kamilla Neumannová. Im Folgenden wird hierfür die Sigle »GD« verwendet. Die deutschen Übersetzungen stammen, falls nicht anders angegeben, von mir. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Alexander Wöll in seiner Studie über Jakub Deml: »Die Bezeichnung ›Décadence‹ gründet sich auf die inhaltliche Thematik der Texte, weil sprachlich-stilistische Charakteristika wie beispielsweise Manierismus, Sprachartistik, Nuancen-
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asthenie‹, das Leiden an einem unbestimmten Gefühl des Ennui, die antibürgerliche Haltung beider Hauptfiguren, das Doppelgängermotiv sowie der Topos vom Leben als Kunst. Gemeinsam ist beiden nahezu gleichaltrigen Protagonisten außerdem die Abgelöstheit vom Leben und von ihrer Umwelt. Severin sitzt »fremd und erwartungslos in dieser Welt, die ihm unwirklich und automatenhaft erschien« (SG 40). Vilém fristet sein Dasein, »als ob seine Seele aus dieser Welt fortgehen sollte ohne eine Erinnerung. Alles was sie, auch nur im Entferntesten, mit anderen Menschen hätte verbinden können, sollte ihr fremd bleiben.« [»Jako by duše jeho měla odejíti beze zpomínky z tohoto světa. Vše jí mělo zůstati cizím, co ji mohlo, třebas jen vzdáleně, spojiti s ostatními lidmi« (GD 14)].8 Bereits im Vorwort beschreibt Karásek die Isolation seines Protagonisten von der Umwelt, die hier – anders als bei Leppin – zum poetologischen Programm erhoben wird: Nežije v realitě ten, o němž vypravuji: Mimo něj ani radostí, ani muk. Můj rek je necitelný k bolestem, jež by mu skutečný život mohl připraviti. Pravá bolest, skutečná bolest je – v jeho duši, a co nezdá se cititi bolesti skutečných, tím více je rozrušen bolestmi fiktivnímí, abych užil výrazu Flaubertova, bolestmi, jichž nestvořila realita, ale jichž tvůrcem jest – jeho nitro, a jež pozoruje v bolestném zděšení, s bledou, strhanou tváří, dívaje se do své duše, jako hallucinován jejími bezednými tájemnými hlubinami. (Karásek 1905: 6 (Vorwort); Hervorhebungen im Original) Er, von dem ich erzähle, lebt nicht in der Realität: Um ihn herum weder Freude noch Pein. Mein Held ist unempfindlich gegenüber dem Schmerz, den das wirkliche Leben ihm bereiten könnte. Der echte Schmerz, der reale Schmerz ist – in seiner Seele und während er den Anschein erweckt, keinen realen Schmerz zu fühlen, ist er umso mehr erschüttert von den fiktiven Schmerzen, um einen Ausdruck von Flaubert zu gebrauchen. Die Schmerzen, die nicht die Realität erschaffen hat, sondern deren Schöpfer – sein Inneres ist und die er mit schmerzhaftem Entsetzen bemerkt. Mit blassem, verzerrtem Gesicht schaut er in seine
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kult, Synästhesie, Gewähltheit der Sprache, Neologismen und syntaktische Verdrehungen ebenso gut dem Symbolismus als Stilmerkmale zugeordnet werden können« (Wöll 2006: 282). Interessanterweise formuliert Karásek, nur wenige Jahre nachdem er Gotická duše verfasst hat, in seiner Rezension zu Severins Gang in die Finsternis scharfe Kritik an einer Figurenanlage, die stark an seinen Vilém erinnert: »[C]elá gallerie lidí životu ztracených, lidí ›mimo život‹ defiluje knihou« (Karásek 1913/14: 334) [Eine ganze Galerie für das Leben verlorener Menschen, Menschen »außerhalb des Lebens« defiliert das Buch]. In Kap. III. wurde Karáseks harsche Rezension als Ausdruck einer Beanspruchung des Stadtraums durch die tschechische Literatur gelesen.
IV. Prag im Kontext der Décadence
Seele, wie halluziniert [eigentlich: hypnotisiert] von ihren bodenlosen geheimnisvollen Tiefen. Die Abschottung gegenüber der äußeren Realität lenkt den Blick nach innen, in die Tiefen der eigenen Seele. Bei Leppin gerät diese Introspektion zu einem Blick in den Abgrund der Seele und gleichzeitig der Stadt. Das Ich ist in ein beobachtendes und ein erlebendes Ich dissoziiert: »Er spähte in den Schatten der Häuser hinunter und sah seine eigene Gestalt, von den Rätseln der Liebe und des Todes vermummt, ruhelos in den Gassen, wo Mordgedanken aus dem steinernen Pflaster aufstiegen und sein Herz verblendeten« (SG 52). Die Abkehr von realistischen Stadtschilderungen zugunsten einer neuen Innerlichkeit kann im Sinne des Wiener Kritikers Hermann Bahr als Überwindung des Naturalismus, so der Titel seines zum literaturkritischen Schlagwort avancierten Essays, verstanden werden: Die Herrschaft des Naturalismus ist vorüber, […], sein Zauber ist gebrochen. […] es ist doch ein Unterschied zwischen der alten Kunst und der neuen – wenn man sie nur ein bißchen eindringlicher prüft. Freilich: die alte Kunst will den Ausdruck des Menschen und die neue Kunst will den Ausdruck des Menschen; darin stimmen sie überein gegen den Naturalismus. Aber wenn der Klassizismus Mensch sagt, so meint er Vernunft und Gefühl; und wenn die Romantik Mensch sagt, so meint sie Leidenschaft und Sinne; und wenn die Moderne Mensch sagt, so meint sie Nerven. Da ist die große Einigkeit schon wieder vorbei. Ich glaube, daß der Naturalismus überwunden werden wird durch eine nervöse Romantik. (Bahr 2004: 152ff.) Als Werke einer »nervösen Romantik« im Sinne Bahrs ließen sich sowohl Severins Gang in die Finsternis als auch Gotická duše charakterisieren, stehen doch die Stimmungen und inneren Vorgänge der Protagonisten im Vordergrund und machen ihre Wahrnehmung der Stadt aus. »Wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet« (Bahr 1998: 101), schreibt Bahr an anderer Stelle und bringt damit die Akzentverlagerung von einem objektiven hin zu einem subjektiven Modus des Erzählens auf den Punkt, der beide Romane auszeichnet. Die Stadtschilderungen, die von einer morbiden Ästhetik und dem verflogenen Glanz alter Zeiten geprägt sind, beschwören Vergänglichkeit und Verfall als die Hauptmotive der Dekadenz herauf.9 Das Entschwinden des ›alten‹ Prag, das sich in den wehmü9
Vgl. dazu beispielsweise Ernst Robert Curtius: »Hier tritt uns das Wort décadence entgegen in seiner ursprünglichen Anwendung, wonach es den politischen Verfall einer Nation bezeichnet. Der Untergang Roms ist hier das große historische Versuchsobjekt. […] Der Untergang Roms ist zunächst ein Phänomen der politischen Geschichte. Aber parallel mit dem Verfall des römischen Staates geht eine Entwicklung der römischen Literatur, die der RenaissanceHumanismus und Klassizismus dann ebenfalls als Verfall aufgefaßt hat. […] Eine solche Anschauung mußte zu der Vorstellung führen, daß politischer und literarischer Verfall sich ge-
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tigen Erinnerungen Severins an die Zeit seiner Kindheit und in Viléms Rückwendung zum Mittelalter ausdrückt, verläuft parallel zum körperlichen und seelischen Verfall der Protagonisten. Hermann Bahrs Zeitdiagnose, die die Moderne als Widerstreit zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Innenwelt und Außenwelt auffasst, vermittelt einen Eindruck des zeitgenössischen kulturhistorischen Kontextes: Die Moderne ist nur in unserem Wunsche und sie ist draußen überall, außer uns. Sie ist nicht in unserem Geiste. […] Das Leben hat sich gewandelt, bis in den letzten Grund, und wandelt sich immer noch aufs neue, alle Tage, rastlos und unstet. Aber der Geist blieb starr und regte sich nicht und nun leidet er hilflos, weil er einsam ist und verlassen vom Leben. Darum haben wir die Einheit verloren und sind in Lüge geraten. In uns wuchert die Vergangenheit noch immer und um uns wächst die Zukunft. Da kann kein Friede sein, sondern nur Haß und Zwietracht, feindselig und voll Gewalttat. (Bahr 1998: 99) Vor diesem Hintergrund werden die Ambivalenzen und Konflikte zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Innen- und Außenwelt, die beide Romane vorführen, als »[p]sychologisch-typologische Analogien«, d. h. als Ausdruck »mentaler Dispositionen« (Zelle 2005: 19) und historischer Bedingungen beschreibbar.
2.
Die Stadt zwischen Gestern und Morgen
Die zunehmende Modernisierung, Technisierung und Funktionalisierung der europäischen Großstädte ging um die Jahrhundertwende nicht spurlos an den historisch gewachsenen Stadtteilen vorüber. Das eindrücklichste Beispiel dafür bildete in Prag die Assanierung des ehemaligen jüdischen Ghettos, die 1882 begann und sich bis in das Jahr 1914 zog.10 Dieses städtebauliche Projekt fand auch Eingang in die Texte Leppins und Karáseks. Der Lebemann Doktor Konrad hat sein Atelier, das Treffpunkt für Künstler und Bohémiens ist, »in einem der neuen Häuser, die man
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genseitig bedingten. Der Dekadenzbegriff erhielt also eine zweite Bedeutung, die ästhetische. Dekadent hieß nun eine Literatur oder Kunst, die nicht mehr klassisch war. Und so kann man beobachten, daß jedesmal, wenn in Frankreich eine neue literarische oder künstlerische Richtung auftauchte, die die Gesetzestafeln des offiziellen Geschmacks zerbrach, die Neuerer als Décadents verlästert wurden. […] So erwuchs die Vorstellung einer gesetzmäßigen Verknüpftheit von politischem, künstlerischem und sittlichem Verfall im Völkerleben« (Curtius 1921: 37ff.). Vgl. zum Topos des Ghettos Georg Eschers Studie »Ghetto und Großstadt«, in der er die Prager Judenstadt als Erinnerungsort und literarische Tradition untersucht. Dabei geht er auf die Funktion des Ghettos zur »Eingrenzung von Identitätsräumen und zur Ausgrenzung des jeweils Anderen« ein (Escher 2007: 370).
IV. Prag im Kontext der Décadence
im Assanationsgebiete an Stelle der Hütten des Judenviertels baute« (SG 16). Eine weitere Passage veranschaulicht den Modernisierungsprozess des Stadtraums, wie ihn Severin bei seinen Streifzügen durch die Stadt wahrnimmt: Seine Unrast trieb ihn bis zur äußersten Grenze der Vorstädte, wo die Zinskasernen in endloser Reihe hintereinander standen, in das fünfte Viertel [damals Josefov, das ehemalige jüdische Ghetto, U.M.], in dessen langweilig modernen Straßen man sich bei Lichte verirrte. Hie und da krochen noch ein paar Trümmer der alten Judenstadt aus dem Dunkel hervor, das Kloster der barmherzigen Brüder schob seinen ungeheuren Rumpf gegen die nachrückenden Neubauten, an denen noch die Gerüste hingen. (SG 39) Die alte Bausubstanz fällt den architektonischen Neuerungen zum Opfer und trägt zum Eindruck Prags als untergehende Stadt bei. Allerdings ist es das alte Prag, das verschwindet, während durch städtebauliche Maßnahmen ein modernes Wohnviertel entsteht. Gegen die sogenannte »Prager Assanierung« [»Pražská Asanace«] protestierte damals eine Reihe von Prager Architekten und Schriftstellern. Vor allem der tschechische Autor Vilém Mrštík setzte sich in seinem Manifest Bestia triumphans (1897) für die Erhaltung des historischen jüdischen Viertels ein und polemisierte gegen die Assanierung (s. Abbildung 1; die roten Flächen veranschaulichen das enorme Ausmaß der baulichen Maßnahmen im ehemaligen jüdische Stadtviertel). Auch Karáseks Protagonist Vilém erlebt die Transformation des Stadtraums im Zuge baulicher Modernisierungsmaßnahmen als etwas Negatives: Svět, jenž se teď jevil před jeho zrakem, nebyl již světem jeho mládí. Od světa svého mládí čekal tak mnoho, od tohoto nečekal ničeho. I mrtvé věci se měnily. Domy mizely, ustupujíce novým. Nové ulice vyvstávaly, staré se ztrácely. A v nových věcech nebylo už vábného, smutného stínu, tajemství vlastního každé starobě. Ze všeho válo zcizující, studené prázdno. (GD 80) Die Welt, die sich seinem Blick offenbarte, war nicht die Welt seiner Jugend. Von der Welt seiner Jugend hatte er so viel erwartet, von dieser Welt erwartete er nichts. Sogar die toten Dinge veränderten sich. Häuser verschwanden, neuen weichend. Neue Straßen tauchten auf, alte verschwanden. Und in den neuen Dingen war kein lockender, trüber Schatten, kein Geheimnis mehr, das allem Alten eigen ist. Aus allem wehte eine befremdende, kalte Leere. Vilém steht den Neuerungen ohnmächtig und ablehnend gegenüber. Er sehnt sich nach seiner Jugend zurück (obwohl er gerade einmal 20 Jahre alt ist) und ist allem Neuen gegenüber äußerst negativ eingestellt. Der letzte Spross eines alten Adelsgeschlechts, das von einer »degeneraci rodové« (GD 13), einer Art psychischen Fami-
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Abbildung 1: Plán Pražské asanace [Plan der Prager Assanierung]
Quelle: Václav Houfek: Plán Pražské asanace, CC-BY-SA 3.0. Online abrufbar unter: https://cs. wikipedia.org/wiki/Pra%C5%BEsk%C3%A1_asanace#/media/Soubor:Pl%C3%A1n_Pra%C5%BEs k%C3%A9_asanace.jpg, zuletzt geprüft am 15.10.2020.
lienkrankheit befallen ist, findet keinen Zugang zu seiner gegenwärtigen Umwelt. Stattdessen träumt er sich in eine andere, längst vergangene Welt hinein: Konstruoval si gotickou duši. Chtěl se ocitnouti na několik hodin ve středověku. Chtěl sdíleti jeho pojem života. Ale to byl klam. Střdověk byl mrtev. Lidé, kteří žili v něm, žili životem, jehož nelze již sdíleti. (GD 17) Er hatte sich eine gotische Seele konstruiert. Er wollte für ein paar Stunden im Mittelalter leben. Er wollte an der mittelalterlichen Vorstellung vom Leben teilhaben. Aber dies war ein Trugbild. Das Mittelalter war tot. Die Menschen, die in ihm gelebt hatten, hatten ein Leben gelebt, an dem er nicht mehr teilhaben konnte. Das Mittelalter, genauer die Gotik, die sich als Früh-, Hoch- und Spätgotik von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis etwa 1500 erstreckt, ist für Karáseks Protagonisten
IV. Prag im Kontext der Décadence
ein ›goldenes Zeitalter‹. Seiner Enttäuschung über die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit und über seine Isolation innerhalb der Gegenwart setzt er seine schöpferische Einbildungskraft entgegen: A jeho obraznost pracovala. Jsou odlehlé kláštery, starobné kostely. Podivný sloh. Gotika pozdně předělávaná na vlašskou architekturu. A barokové oltáře, nad nimiž viděti obraz Rubensův, nebo Škrétův. A plno stuchliny. A malby na stropě. (GD 14) Und seine Einbildungskraft arbeitete. Da sind entlegene Kloster, alte Kirchen. Ein sonderbarer Stil. Gotik, später umgewandelt in eine welsche Architektur. Und ein barocker Altar, über dem ein Bild von Rubens oder Škréta zu sehen ist. Voller Moder. Und Gemälde an der Decke. Viléms Imagination besitzt eine raumschaffende Kraft, die in diesem kurzen Textausschnitt zum Ausdruck kommt. In den imaginierten Räumen verbinden sich religiöse Bilder mit einer rückwärtsgewandten Sehnsucht nach der Vergangenheit und ästhetisierten Interieurs. Vilém lässt diese Bilder vor seinem geistigen Auge entstehen, aber seine Einbildungskraft dehnt sich auch auf das Prager Stadtbild aus, das entsprechend morbide und dekadent erscheint. Eine zentrale Szene ist dabei auf dem Petřín verortet. Voraus geht eine längere Reflexion über die »česká duše« (GD 39), die tschechische Seele und verbunden damit über seine eigene Unfähigkeit, in einer modernen tschechischen Welt zu leben, da er auf Deutsch und Französisch fühlt, atmet und lebt (vgl. GD 38). »Naposled oživuje Praha živlem, jenž má cosi podobného s dávno vymřelým národem, jenž v ní kdysi obýval ... Neoživuje národ, oživuje pouhá jeho fikce.« (GD 39) [Zum letzten Mal wurde Prag belebt durch das Element, das etwas gemeinsam hat mit der schon lange ausgestorbenen Nation, die einst in ihm [Prag] gelebt hatte ... Nicht die Nation wurde zum Leben erweckt, sondern bloß ihre Fiktion]. Die Verbindung zwischen Dekadenz und nationalkulturellen Identitätskonzepten hat der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Vladimír Macura herausgearbeitet. In einer Studie macht Irina Wutsdorff die Raumkonzepte der Semiotik für den Prager Kontext fruchtbar und versteht mit Macura »die vergleichsweise stark ausgeprägte Phase der Dekadenz in der tschechischen Literatur, in der das Ästhetische in den Vordergrund rückt, […] als eine späte Folge jenes nicht selbstverständlichen, künstlichen, scheinhaften Zuges, der das nationale Bewusstsein seit der Zeit der Wiedergeburt als Paradox begleitet hatte« (Wutsdorff 2018b: 248). In Gotická duše sieht sie die Distanzierung von der »allgemein erwarteten tschechischnationalen Identifizierung« (a.a.O.: 249) verwirklicht, indem ihr eine kosmopolitische, am Deutschen und Französischen orientierte Haltung entgegengesetzt wird:
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Tschechentum – so wird hier jener tschechische Nationaltopos der (Selbst-)Erniedrigung überboten, der sich an der Niederlage am Weißen Berg festmacht – lässt sich nur noch ex negativo als Hort des Nihilismus definieren. […] Einzig und dezidiert im Modus des Ästhetischen wird in einer mehrfach paradoxen Bewegung der derart verneinte Ort als Zentrum entworfen, als Zentrum eines auf der Höhe der Zeit stehenden und über den Ort hinaus gültigen nihilistischen Lebensgefühls, das doch gespeist wird aus den spezifischen kulturellen Konnotationen eben jenes Ortes bzw. aus der affirmativen Umkehrung dieser Konnotationen. (Ebd.) Im Gegensatz dazu steht das Bild von der lebendigen, tschechischen Metropole (vgl. GD 40f.), zu der Vilém allerdings keinen Zugang findet (vgl. GD 41). In großer Verwirrung, hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Polen, dem toten und dem lebendigen Prag, wandert er schließlich hinauf zum Petřín. Von dort oben blickt er hinab auf die Stadt. Das Abendgeläut Prags ertönt und lässt die Zeit verrücktspielen, indem die Vergangenheit in die Gegenwart einbricht: Praha, jeji minulost rozhovořila se ve zvonech, pod padajícím soumrakem ... A cítil teď, jako by zvony hovořili dalecí mrtví. V tomto okamžiku zdálo mu se, že nezměrné množství neviditelných mrtvých oživuje a plní ulice města a vchází pod střechy domů. Všechno hovořilo k němu o nečíslných lidech, kteří tu žili před ním, stejně jako on toužili, aby na konec odešli v nicotu. (GD 44) Prag, seine Vergangenheit sprach in den Glocken, unter der fallenden Dämmerung ... Und da empfand er, als ob die lange schon Toten durch die Glocken sprechen würden. In diesem Moment kam es ihm vor, als ob die unermessliche Menge der unsichtbaren Toten wiederbelebt und die Straßen der Stadt füllen und unter die Dächer der Häuser eintreten würde. Alles sprach zu ihm von den unzähligen Menschen, die hier vor ihm gelebt hatten, sich gesehnt hatten wie er, um dann am Ende in die Nichtigkeit zu entschwinden. Dieser Blick auf Prag gipfelt schließlich in einer apokalyptischen Vision, in der die Stadt der Zerstörung anheimfällt: Krvavou záplavou zardělo se nebe. Veliká fantasmagorie zapálených kostelův a vybíjených klašterů vstávala před zraky. Na rudém nebi rysoval se gigantický černý kalich. Vyšehrad klesal. Zdi Hradčan se řítily. Malá Strana mizela v plamenech. Kartouzský klášter na Újezdě halil se do dýmu požáru. A celá země chvěla se jako zemětřesením. (GD 45) Der Himmel wurde rot von einer blutigen Flut. Eine große Phantasmagorie brennender Kirchen und verwüsteter Klöster erstand vor seinen Augen. Ein gigantischer schwarzer Kelch zeichnete sich am roten Himmel ab. Vyšehrad fiel. Die
IV. Prag im Kontext der Décadence
Mauern des Hradschin stürzten hinab. Die Kleinseite verschwand in Flammen. Das Kartäuser-Kloster auf Újezd hüllte sich in den Rauch des Feuers. Und die ganze Erde zitterte wie ein Erdbeben. Dieses zerstörerische Szenario ist im weiteren Verlauf immer wieder rückgebunden an die Vergangenheit Prags, die als von Kriegen, Aufständen und Hinrichtungen geprägt vorgestellt wird (vgl. GD 45ff.), so dass Vilém letztendlich konstatiert: »Všechno dávno minulé, co stálo však v pozadí jako neodvratelný přízrak, to tušil teď jako mučivý podklad přítomného žití. Toho, cítil, nebylo možno v tomto městě nikterak se zbaviti.« (47) [Alles längst Vergangene, das dennoch im Hintergrund stand wie ein unabwendbares Gaukelbild, das ahnte er nun wie eine qualvolle Grundlage des gegenwärtigen Lebens. Sich davon frei zu machen, so fühlte er, war in dieser Stadt nicht im Entferntesten möglich.]. Auch Leppins Protagonist ist in der Vergangenheit verhaftet und findet keinen Zugang zum Prag der Gegenwart. Severin, obschon erst 23 Jahre alt, blickt melancholisch in seine Kindheit zurück. So löst etwa sein alter Schulweg Erinnerungen an seine Kindheit aus: Die lange, geschäftige Straße, durch die er schritt, war er jahrelang zur Schule gegangen. Hier hatte er auf dem Heimwege die ersten Zigaretten geraucht und hier wurden auch die großen Schlachten beraten, die auf den Weinberger Schanzen mit den tschechischen Jungen geschlagen wurden. Als Führer und Held hatte er sich niemals dabei hervorgetan, aber er hatte auch seine Feigheit niemals verraten. Es war für ihn ein wollüstiger und geheimnisreicher Reiz, den Steinwürfen der Feinde die Stirn zu bieten. Die Rittergeschichten und Matrosenstreiche, die er zu Hause las, wurden ihm hier zu einer kleinen aber wahrhaftigen Wirklichkeit, die ihm Wangen und Hände heiß machte und in stummer Erregung den Atem beklemmte. Seit jener Zeit hatte es eigentlich kein gleichwertiges Erlebnis mehr in seiner Jugend gegeben. Aber der blinde Drang, der ihn damals nach der Schule auf die verlassenen Schanzen trieb, war mit den Jahren ins Ungemessene gewachsen und preßte ihm die Kehle. (SG 9) In seiner Kindheit flüchtete sich Severin in eine Welt aus Abenteuergeschichten und lebte seine Phantasien in den Kämpfen mit den tschechischen Jungen aus. Die Welt der Jungen ist gespalten in zwei Lager, das tschechische und das deutsche. In ihren spielerischen Kämpfen setzt sich der Nationalitätenkonflikt der Erwachsenenwelt fort. Der Drang nach den Abenteuern und gewaltsamen Auseinandersetzungen seiner Kindertage beherrscht Severin noch immer. Die Kämpfe waren ihm ein »wollüstiger und geheimnisreicher Reiz«, wie es heißt. Darin scheint ein masochistisches Element auf, das dadurch noch verstärkt wird, dass Severin denselben Namen trägt wie der Protagonist aus Leopold von Sacher-Masochs Novelle Venus im Pelz (1870). In seiner Abhandlung Psychopathia sexualis, die 1886 erschien,
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beschrieb der Psychiater und Gerichtsmediziner Richard von Krafft-Ebing anhand von Fallbeispielen sexuelle Abweichungen und etablierte darin sowohl den Begriff des ›Masochismus‹ als auch des ›Sadismus‹ als Benennungen psychologischer Phänomene nach Literaten. An anderer Stelle erinnert sich Severin an einen Roman über die Hussitenkriege, der allerhand phantastische Begebenheiten schildert: »Eine weiche und schwächliche Lüsternheit zuckte in seiner Seele nach einem bunten und heftigen Dasein, wie es in den Kapiteln des Buches zu lesen stand. In einem verzehrenden Lichte stieg ein ungeheures und gewaltsames Leben vor ihm auf. Hinter dem Rande des Karlsplatzes fühlte er die Stadt« (SG 10). Später streift Severin durch die Weinberger Schanzen und Nusle und wiederum steigen Erinnerungen aus seiner Kindheit in ihm auf. Er sieht z. B. den Wasserturm in Pankrác, »der ihm immer so vorkam, als hätte ihn jemand aus dem Bilderbuche herausgeschnitten, das er früher einmal besessen hatte« (SG 67). Immer wieder tauchen Erinnerungen an die Geschichten aus den Büchern seiner Jugend auf, die sich damals für ihn wie eine Folie über seine Umwelt gelegt hatten. In Bezug auf Lazarus Kain, der als Doppelgängerfigur zu Severin angelegt ist, stellt Severin fest, »daß dieser Mann ein ähnliches Leiden litt wie er, daß er an einer ungestillten Inbrunst krankte, die sich aus einem engen und törichten Leben in alte Bücher geflüchtet hatte.« (SG 14). Diese Strategie, einer als unzulänglich wahrgenommenen Gegenwart zu begegnen, lässt sich als Eskapismus in die Welt der Fiktion, in die Sphäre des Ästhetischen begreifen. Außerdem wird durch die erwähnten Bücher en passant der Zusammenhang zwischen Stadtwahrnehmung und Literatur bekräftigt. In Gotická duše flüchtet sich Vilém, allerdings nur zu Beginn, in religiöse Schwelgereien, z. B. als er nachts auf dem Hradschin vor dem alten Barnabiten-Kloster steht: »Klášternictví – toť jediná možnost žíti život jednotným způsobem: nechati své sensibility úplně pro sebe sama.« (GD 29). [Das Mönchtum – das war die einzige Möglichkeit, ein einheitliches Leben zu führen: seine eigene Sensibilität ganz für sich allein zu behalten]. Die Vorstellung von einem klösterlichen Leben und die Flucht in religiöse Phantasien erweisen sich für Vilém im Verlauf der Erzählung schließlich auch nicht mehr als mögliche Gegenwelten, da er feststellen muss, dass er seinen Glauben verloren hat. Ebenso findet Severin keinen Zugang zur religiösen Sphäre (vgl. Kap III.2.4.). Nichtsdestotrotz beschäftigen ihn immer wieder Erinnerungen an seine Kindheit, die durch eine religiöse Erziehung geprägt war. Die Passagen mit den Reminiszenzen unterstreichen nur noch seine Abgelöstheit von der Gegenwart und die Sehnsucht nach einer verlorenen Vergangenheit. Letztlich bietet die Religion weder für Severin noch für Vilém Orientierung in der so unübersichtlich gewordenen Stadt, die einen prekären Status zwischen unwiederbringlicher Vergangenheit und ungewisser Zukunft zu haben scheint.
IV. Prag im Kontext der Décadence
3.
Künstliches Leben, lebendige Kunst?
Beide Protagonisten leiden unter der monotonen Banalität ihres Alltags. Severins Arbeit, die darin besteht, im Büro endlose »Zahlenreihen« (SG 7) zu kontrollieren, führt zur Entfremdung von sich selbst. Severin leidet unter den Schattenseiten der Moderne, in der Industrialisierung und zunehmende Bürokratisierung den Menschen zunehmend von seiner Arbeit entfremden. Sein monotoner Arbeitsalltag lässt wenig Raum für Individualität und Erlebnis. Ganz ähnlich ergeht es Vilém in Gotická duše. Auch er leidet unter der Banalität und der vorhersehbaren Alltäglichkeit seines Daseins: »Jaký život: stále tytéž tváře viděti po celé měsíce, věděti již napřed, co se bude celý den dělati, a než se člověk otáže, jíž znáti odpověď. […] Jako kyvadlo hodin šel z bodu k bodu, od nudy k hnusu, od hnusu k nudě.« (GD 37f.)11 [Was für ein Leben: immerfort dieselben Gesichter zu sehen für ganze Monate, schon im Voraus zu wissen, was jeden Tag geschieht und schon bevor man etwas fragt, die Antwort zu kennen. […] Wie das Pendel einer Uhr bewegte er sich von Punkt zu Punkt, von Langeweile zu Abscheu, von Abscheu zu Langeweile.]. Mit der Absonderung von der äußeren Umwelt, die sich auch als Ablehnung der zunehmend rationalisierten und technisierten Lebenswelt der Moderne verstehen lässt, und der Hinwendung zur Innenschau auf der Handlungsebene gehen poetologische Reflexionen einher. So artikulieren die Romanfiguren den Wunsch, der als opak und monoton erlebten Umwelt etwas entgegenzusetzen: Ihn dürstete mehr wie je nach dem wirklichen Leben, das Blumen und Grauen bescherte und das mit Sturmbacken den Alltag zerblies. Bisher waren es nur Surrogate gewesen, die ihm genügen mußten. Sein Verhältnis mit Zdenka, das jeder großen Form entbehrte, das Spiel mit Susanna und nun der wüste Kehraus in Konrads Atelier, wo er übellaunig neben der schlanken Karla saß. […]. Sie kannte das Theater und das Leben. Er wollte sie fragen, ob es denn nicht möglich sei, sich ein künstliches Leben zu schaffen, das dem wirklichen zum Verwechseln ähnlich wäre und das man meistern konnte. Ob es nicht anging, Tragödien in die Tage zu bauen, Operetten mit tiefen und nachklingenden Pointen? Was war denn die Bühne? Auch da war es ja nur ein Spiel und dennoch weinten und jubelten die Leute, Verbrechen geschahn und die Angst schlug mit den Flügeln gegen papierene Wände. Aus den Launen und Eigenwilligkeiten des Herzens ein Schicksal machen, für sich und für andere, so wie man Landschaften und Städte im Theater aus Holz und Pappe macht – war das so schwer? (SG 26f.)
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Vgl. zu diesem Bild des ewig schwingenden Pendels auch folgende Textstelle aus Severins Gang in die Finsternis, wo sich ebenfalls eine solche zyklische Denkfigur findet: »Aber er fühlte, daß er im Kreise um einen Punkt herumging wie ein angepflocktes Tier an der Kette« (SG 41).
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Severin sehnt sich nach dem »wirklichen Leben«, das er aber nicht als solches wahrnehmen kann, vielmehr erlebt er die (diegetische) Realität nurmehr als fades Surrogat. Demgegenüber träumt Severin davon, sich ein künstliches Leben zu erschaffen, wie in dem Theatervergleich zum Ausdruck kommt. »Blumen und Grauen« dürfte unschwer als intertextuelle Anspielung auf Baudelaires Fleurs du Mal zu erkennen sein, mit der sich Leppin in dessen Gefolgschaft verortet. Ernst Robert Curtius untersucht 1921, aus nicht allzu großer zeitlicher Distanz also, die Ausprägungen der Dekadenzliteratur, zunächst von Frankreich ausgehend, als europäisches Phänomen und bemerkt: Der Wille zur Selbstvernichtung, der goût du néant, die pathologische Perversion des Instinkts, der das, wovor ihm graut und was ihn hinunterzieht, nicht mehr abwehren kann, sondern sich davon faszinieren läßt und es bejaht; der in der Selbstzerstörung eine Selbststeigerung findet – das ist das Grundphänomen des Baudelairismus. Er ist die Stimmungsgrundlage des Dekadenzgefühls, aus der nun die bizarre Treibhausvegetation der symbolistischen Literatur von 1883 aufsprießt. Das dekadente Ästhetenideal wurde damals von J. K. Huysmans in dem Helden seines Romans A rebours (1884), dem überzüchteten, physiologischen degenerierten Herzog des Esseintes verkörpert. Des Esseintes hat von Baudelaire gelernt (wie es später Oscar Wilde lernen wird) die Natur durch »künstliche Paradiese« zu ersetzen. Er schließt sich vom Leben hermetisch ab und schafft sich in seiner Einsiedelei vor den Toren von Paris eine einsame Welt raffinierter ästhetischer Reize. Er gewinnt solche aus der Kunst eines Gustave Moreau, eines Odilon Redon, eines Greco; aus den Literarturdenkmälern des untergehenden Roms, »in denen die verwesende lateinische Sprache ihren Eiter absondert«; aus Baudelaire, Villiers und Poe. (Curtius 1921: 151f.) Curtius nennt eine Reihe von Texten, die sich als Prätexte sowohl für Severins Gang in die Finsternis als auch für Gotická duše ausmachen lassen, wodurch sie sich in ein europäisches Textgewebe einschreiben und man, mit Dionýz Ďurišin, aus komparatistischer Perspektive von »genetischen Beziehungen« bzw. »Kontaktbeziehungen« (Zelle 2013: 130) sprechen kann. Dabei werden die Prätexte in »produktive[r] Rezeption« (Zelle 2005: 20) von Karásek und Leppin adaptiert und umgedeutet. Zum anderen zeigen sich motivische Ähnlichkeiten (wie z. B. die hermetische Abschottung gegenüber der Außenwelt und die Erschaffung einer ästhetisierten Gegenwelt), die die verwandtschaftlichen Beziehungen sowohl zwischen den beiden Romanen als auch mit anderen Texten aus dem europäischen Kontext verdeutlichen. In jüngerer Zeit hat sich Barry Murnane aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive unter anderem mit Severins Gang in die Finsternis auseinandergesetzt. In seiner Studie geht er dabei auf den konfligierenden Gegensatz zwischen Vergangenheit und Zukunft innerhalb der literarischen Moderne ein und spricht in Bezug auf Se-
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verins Gang in die Finsternis von »gothic modernism« (vgl. Murnane 2012). Diese besondere Ausprägung der Moderne verortet er in Prag: »Prague occupies an unusual position of literary modernism insofar as it came to be considered more than most other locations as an uncanny site of ghosts, golems, and mysticism in spite of comprehensive programs of urban modernization in the latter half of the nineteenth century« (Murnane 2012: 222). Als Beispiele führt er Francis Crawfords The Witch of Prague (1891), Gustav Meyrinks Der Golem (1913/14), Werke von Franz Kafka und Rudolf Steiner sowie den Film Der Student von Prag (1913) und Paul Wegeners Golem-Filme (zwischen 1914 und 1920) an. Die darin zum Ausdruck kommende Auffassung von Moderne als radikalem Bruch mit der Vergangenheit einerseits und die damit zwangsläufig einhergehende, gewissermaßen paradoxe, Bezugnahme auf die Traditionen, also auf die Vergangenheit andererseits, beschreibt Murnane folgendermaßen: This understanding of modernism shows it to adhere to the same principles as a ghost in a gothic narrative: as modernity progresses and modernism strives for newness, it also looks backwards to tradition. Its newness is simultaneously an echo chamber of past texts […]. According to this reading, gothic and modernism are both forms of self-reflexive modernity, that is, forms of engaging with and representing the reality of modernity. (Murnane 2012: 225) In einem Punkt ist Murnane allerdings zu widersprechen, wenn er über die städtebauliche Modernisierung Prags schreibt, »for most Czech writers […] this was a sign of an emerging Czech identity that considered ›golden Prague‹ its cultural and political capital.« (Murnane 2012: 237). Denn wenngleich Murnane in seiner Studie den gothic modernism auf die deutsche Tradition des Schauerromans und die Schauerphantastik zurückführt und dabei ausschließlich Texte der deutschsprachigen Prager Literatur betrachtet, gehört auch Gotická duše in den Kontext einer Prager Décadence, die nichts mit dem Bild eines ›goldenen‹ Prag gemein hat. So weist Karáseks Roman nicht nur große stilistische und motivische Ähnlichkeiten zu Severins Gang in die Finsternis auf, sondern auch ein ganz ähnliches Pragbild, das von einer morbiden Motivik und einer bedrückenden Atmosphäre geprägt ist – und nicht zuletzt führt er das Gotische sogar im Titel. Die ästhetizistische Sehnsucht nach einer künstlich geschaffenen Gegenwelt treibt auch Karáseks Protagonisten um, wenn er ganz Prag und seine Kirchen durchwandert [»[p]rošel celou Prahou, všemi jejími kostely« (GD 16)] auf der Suche nach etwas »bedeutenderem als es die tiefsten Dinge dieser Welt sind« [»Snil cosi vážnějšího, než jsou nejhlubší věci tohoto světa« (GD 15)]. Vor allem abgelegene Klöster und alte Kirchen mit ihrer gotischen und barocken Architektur ziehen ihn an. Stundenlang kann er sich darin versenken, die prunkvollen gold- und silbergeschmückten Barockaltäre mit Gemälden von Rubens und Škréta zu betrachten und sich in den Kirchen und Klöstern ein Einsiedlerleben auszumalen (vgl. GD 17). Er
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sehnt sich danach, der als fremd und zermürbend empfundenen Monotonie des Alltags zu entkommen und imaginiert für sich ein anderes Leben in Form eines kostbaren Kunstwerks: »Vedle tohoto života vedl druhý život […] Věděl: kdysi počne se život krásného snu a krásné skutečnosti, zlatý a jemný život, jako dílo umělcovo, pyšný klenot pokrytý drahokamy. K tomu směřoval.« (GD 21) [Neben diesem Leben führte er ein anderes Leben […] Er wusste, einst würde ein Leben eines schönen Traumes und einer schönen Wirklichkeit beginnen, ein goldenes und zartes Leben, wie ein Kunstwerk, ein stolzes Juwel bedeckt mit Edelsteinen. Danach strebte er.]. Die Sehnsucht nach einer (ästhetisierten) Gegenwelt, die beide Protagonisten antreibt, als bloßen Eskapismus zu begreifen, würde sicher zu kurz greifen. Vielmehr ist sie Ausdruck einer Emanzipation der Kunst, wie sie sich bereits im l’art pour l’art der Parnassiens als Kritik am utilitaristischen und rationalisierten Denken Bahn bricht. Mit dem Anspruch auf Autonomie und einer neuen Selbstreferenzialität der Kunst in der Moderne geht die Lossagung von moralischen und ethischen Weisungen einher. Die ästhetizistische Theorie ist dabei »durch ein hohes Maß an Intertextualität und internationalem Austausch gekennzeichnet, so dass die entfalteten Konzepte und poetologischen Entwürfe von sich aus dazu neigen, die nationalen Grenzen zu sprengen« (Simonis 2013: 8). Interessant für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist dabei die Tatsache, dass sich in beiden Romanen der Autonomieanspruch der Kunst und das sich so formierende Primat des subjektiven Modus der Darstellung (auch in Abgrenzung zum mimetisch-naturalistischen Modus) über raumsemantische Strukturen vermittelt, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll. Durch die Figur des Flaneurs greift die subjektiv-demiurgische Konstruktion von Räumen auch auf die urbane Sphäre über und präsentiert die Stadt folglich aus radikal subjektiver Perspektive.
4.
Die doppelte Stadt. Duale Raumsemantiken
Beide Figuren begegnen der als negativ empfundenen Umwelt mit einer Strategie, die sich als ›duales (Raum-)Bewusstsein‹ umschreiben ließe. Sein Bewußtsein spaltete sich und lebte getrennt von ihm ein selbständiges Leben. Die Vergangenheit und die Gegenwart zogen wie Bilder eines Panoramas an ihm vorbei und er sah verwundert und willenlos in seine eigene Existenz. Die Gesichter der Leute, die sich neben ihm bewegten, die Profile der Häuser, die er kannte, gewannen eine neue und besondere Anschaulichkeit, die seine Aufmerksamkeit reizte. (SG 97f.)
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Während Severin sein eigenes Leben aus der passiven Perspektive eines Zuschauers im Sinne einer Depersonalisierungserfahrung wahrnimmt, äußert sich das duale (Raum-)Bewusstsein bei Vilém in einer Spaltung von Körper und Geist: A co tělo žilo docela mechanicky, v duši rodil se a vyrůstal jiný svět. Všechno, co ve světě skutečném ho nechávalo lhostejným, neb co jej odpuzovalo, nabývalo nyní jakoby zmoženého života, v nejprudších odstínech. A tato mystická schopnost duše měnila mu nejpustší jizbu, plnou ztrnulého mrtva, v komnatu, plnou krásy a lesku. (GD 19) Während sein Körper völlig mechanisch lebte, wurde in seiner Seele eine ganz andere Welt geboren und wuchs. Alles, was ihn in der wirklichen Welt gleichgültig gelassen hatte oder ihn abgestoßen hatte, gewann nun ein sozusagen überwältigendes Leben in den intensivsten Nuancen. Und diese mystische Fähigkeit seiner Seele veränderte die ödeste Stube voll erstarrter Leblosigkeit in ein Gemach voller Schönheit und Glanz. In den obigen Passagen ist die enge Verbindung von Raum und Bewusstsein augenfällig. Es ist eine veränderte und verändernde Wahrnehmung der Umwelt – und damit vor allem der Stadt. Der zunächst als negativ wahrgenommenen Stadt wird in einem Akt ästhetisierender Umformung ein anderes Raum-Bild entgegengesetzt. Barry Murnane spricht in Bezug auf die Modellierung des Stadtbildes in Severins Gang in die Finsternis von einer »dual topography«, die er als »complex relationship between subjective thoughts and experiental reality« (Murnane 2012: 230f.) fasst. Diese »dual topography«, die sich auch bei Karásek beobachten lässt, zeigt eigentlich zwei Stadtbilder: Zum einen das alltägliche Prag, in dem sich das bürgerliche Leben abspielt, zu dem Severin und Vilém aber keinen Zugang finden12 , und zum anderen Prag als »phantasmagorical space, a topographical correlative of Severin’s [hier wäre zu ergänzen: auch Viléms, U.M.] psychological and emotional uncertainty, which he construes as fate« (Murnane 2012: 231). Gleichwohl setzen beide Autoren bei diesem literarischen Verfahren unterschiedliche Akzente. Bei Karáseks Protagonist handelt es sich um eine demi12
Vgl. dazu die folgende exemplarische Textstelle: »Procitl ze svého snu. Ne, ještě nebylo všemu konec. Kolem něho zazníval český hovor, kypěly ulice životem, jehož povrch aspoň byl český. Ale najednou cítil se tak chladným, odcizeným přítomnosti. Nebylo ani trochu náklonnosti. Byl naprosto lhostejný ke všem vulgaritám, jež mu se stavěly na oči« (GD 40) [Er erwachte aus seinem Traum. Nein, es war nicht das Ende von allem. Um ihn herum hörte er tschechische Rede, die Straßen strotzten vor Leben, dessen Oberfläche wenigstens tschechisch war. Aber auf einmal fühlte er sich so kalt, der Gegenwart entfremdet. Er fühlte nicht einmal die geringste Zuneigung. Er war ganz und gar gleichgültig gegenüber dieser Alltäglichkeit, die sich vor seinen Augen abspielte.].
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urgische, raum(er)schaffende Fähigkeit, die sich jedoch ihres fiktionalen Status bewusst ist, wie der einleitende Verweis auf die Einbildungskraft belegt: »A jeho obraznost pracovala. Jsou odlehlé kláštery, starobné kostely. Podivný sloh. Gotika pozdně předělávaná na vlašskou architekturu. A barokové oltáře, nad nimiž viděti obraz Rubensův, nebo Škrétův. A plno stuchliny. A malby na stropě« (GD 14) [Und seine Einbildungskraft arbeitete. Da sind entlegene Klöster, alte Kirchen. Ein sonderbarer Stil. Gotik, später umgewandelt in eine welsche Architektur. Und ein barocker Altar, über dem ein Bild von Rubens oder Škréta zu sehen ist. Voller Moder. Und Gemälde an der Decke.]. Bei Leppins Hauptfigur liegen die Dinge anders, wie bereits zu Beginn etabliert wird: »Wenn er die Augen zusammenkniff und durch die halbgeschlossenen Lider schaute, bekamen die Häuser ein phantastisches Aussehen« (SG 8). Severins Art seine Umwelt wahrzunehmen geht mit einer visuellen Einschränkung einher – er schaut durch »halbgeschlossene« Augen. Dennoch nimmt er auf diese Weise eine andere Stadt wahr als die Menschen um ihn herum: »Nun merkte er erst den Unterschied. Seine Sinne waren hell und wachsam; er sah, wie die Nacht alle Dinge veränderte, daß sie ein zweites und anderes Leben als am Tage lebten. Er sah, wie sie aus nüchternen und kahlen Plätzen melancholische Landschaften machte, aus engen Gassen feuchtwandige Burgverliese« (SG 39). Severin, aus dessen Perspektive das Geschehen geschildert wird, unterscheidet nicht wie Vilém zwischen Realität und Phantasie. Im Gegensatz zu Karásek, der die (dichterische) Imagination und ihre Schaffenskraft als sich ihrer selbst (und damit auch dem Protagonisten) bewusst vorstellt, wählt Leppin einen Protagonisten, dessen Phantasie ihm zur Realität wird.13 Es gibt dabei kein Korrektiv, weder für Severin, der nicht in echten Kontakt mit seiner Umwelt tritt, noch für den Leser. Auf narratologischer Ebene ist Severins Perspektive die einzige, an die sich der Leser halten kann. Das Unheimliche, Wahnhafte und die Wirrnis, die den Roman prägen, resultieren aus ebendiesem Verschwimmen der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Daraus, dass das Innere Severins auf nicht immer eindeutige Weise und in unterschiedlicher Intensität mit der Außenwelt der Diegese verwoben ist, bezieht der Text seine unheimliche Wirkung. Die innerpsychischen Vorgänge und Dynamiken, die hier in Romanhandlung umgesetzt sind, folgen dabei keiner 13
Ein ähnliches Fazit zieht Constanze Derham, die visuelle Wahrnehmungsweisen sowie »Modi subjektiven Sehens« im Prosa-Werk Leppins untersucht hat: »Die eingeschränkte Sehkraft impliziert einen auf das Subjektive und auf das eigene Innere fokussierten Blick: wahrgenommen wird nicht die Umgebung mit ihren objektiven Merkmalen, als klares, detailscharfes Abbild, sondern ein subjektiv verschwommenes Bild dieser Umgebung, ein Schattenbild, oder, wie im Fall des Blinden, das eigene Innere, das als Raum des absoluten Subjektiven angesehen werden kann. Das verschwommene, unklare Bild sagt über den Wahrnehmenden mehr aus als über das Objekt der Wahrnehmung selbst, es liefert ein Bild der Seele« (Derham 2017: 191).
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herkömmlichen kausalen Logik. Man könnte sogar sagen, dass Leppin hier die Fallgeschichte einer wahnhaften Persönlichkeit literarisch dargestellt hat. Dass es eine Affinität von Literatur und Psychoanalyse gibt, hat Freud in den Studien über Hysterie (1895) mit der berühmten Bemerkung bekräftigt: »[E]s berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind« (Freud 1969: 227).14 Davon ausgehend lässt sich in Bezug auf die Stadtdarstellung von einer dualen Raumsemantik sprechen, die alltägliche Orte der Großstadt in »melancholische Landschaften« transformiert. Auf diese Weise entstehen eigentlich zwei Stadtbilder: auf der einen Seite die nüchtern-realistische Stadt (des Tages) und die melancholische, auf der anderen die unheimliche Stadt (der Nacht). Die nächtliche Stadt wird als bedrohliches Wesen hinter einer bürgerlichen Fassade figuriert, wobei ebenfalls wieder der Tag-Nacht-Gegensatz aufgerufen wird: Das war nicht die Stadt, die er kannte. Das war ein Guckkasten, wo brave Bürger und Bürgerinnen ihre Besorgungen machten, und wo der heilige Nepomuk mit gleißnerischen Händen die Moldau bewachte. […] Die Stadt, die er kannte, war anders. – Ihre Straßen führten in die Irre und das Unheil lauerte auf den Schwellen. Da klopfte das Herz zwischen feuchten, verräterischen Mauern, da schlich sich die Nacht an erblindeten Fenstern vorbei und erwürgte die Seele im Schlaf. Überall hatte der Satan seine Fallen aufgestellt. In den Kirchen und in den Häusern der Buhlerinnen. In ihren mörderischen Küssen wohnte sein Atem und er ging in Nonnenkleidern auf Raub aus – (SG 98f.) Bei Leppin erscheint das alltägliche Leben als Trugbild, oder genauer: als unvollständiger Ausschnitt (»Guckkasten«), dessen illusorischen Charakter Severin im Gegensatz zu den »braven Bürgern und Bürgerinnen« durchschaut.15 Der unheimliche Eindruck des »Prager Gespensterromans«, wie es im Untertitel heißt, wird
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Vgl. hierzu Arne Höcker (2017), der den Status der Fallgeschichte zwischen Literatur und Wissenschaft untersucht. Die Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Wiener Moderne hat Konstanze Fliedl (2013) herausgearbeitet. Nathan Meyer, der geheimnisvolle russische Besitzer der Weinstube »Spinne«, hat die gleiche Hellsichtigkeit wie Severin und beobachtet zufrieden, wie die Nachtschwärmer in sein Lokal strömen: »Einen Augenblick lang konnte Nathan die Seelen der Menschen erkennen, die vor der Türe Halt machten und geblendet ein wenig verweilten. Tiefer und verschleierter als bei Tage zeigte die Lampe das Antlitz eines jeden.« (SG 72f.). Nach einem Gespräch mit Nathan sieht Severin »sekundenlang ein Bild vor sich, das ihn beklemmte: Da war die Stadt, riesengroß, mit tiefen Straßen und tausend Fenstern. Und mitten darin das Weinhaus in der schwarzen Gasse« (SG 76). Nathan erzählt Severin von einer geheimnisvollen »Gilde« (SG 90), zu der auch Severin gehöre. Nathan Meyer ist es auch, von dem Severin die Bombe erhält, mit der er am Ende des Romans das Weinlokal in die Luft sprengen will.
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dadurch erzeugt, dass in der Schwebe bleibt, ob Severins Wahrnehmung zu trauen ist. Bei Karásek hingegen wird der illusorische Charakter der subjektiv erzeugten Räume als solcher benannt und bereits im Vorwort zum poetologischen Programm erhoben. So heißt es im Anschluss an eine Vision Viléms: »Byla to illuse. Viděl, že se snaží žíti životem, jemuž schází všechna přirozenost« (GD 17) [Es war eine Illusion. Er sah, dass er versuchte, ein Leben zu leben, dem alle Natürlichkeit mangelte.]. Dadurch, dass die ästhetisierte Gegenwelt dem Protagonisten als Fiktion bewusst ist und im Text als solche ausgestellt wird, bekommt das Verfahren der dualen Raumsemantisierung einen fast spielerischen Impetus. Der Text setzt sich auf selbstreflexive Weise mit dem Programm des Ästhetizismus auseinander und präsentiert das Geschehen in ironisch gebrochener Weise – als eine Art Versuchsanordnung, wobei das Scheitern des Protagonisten als Ergebnis von Anfang an klar ist. Vor diesem Hintergrund sind die dualen Raumsemantiken, wie sie in beiden Texten zum Tragen kommen, als radikal subjektive Stadtdarstellungen zu verstehen: Karásek zeigt ein ironisch gebrochenes Pragbild, das auf religiöse Visionen und mittelalterliche Architektur fokussiert und sich stets seines subjektiven, fiktionalen Charakters bewusst ist. Leppin hingegen zeigt ein Pragbild, das den subjektiven Modus der Stadtwahrnehmung sehr viel ernster nimmt. Um das narrative Verfahren der dualen Raumsemantik in einen größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen, soll ein kurzer Blick auf zeitgenössische Diskurse aus der Medizin, den Naturwissenschaften und der Philosophie geworfen werden. Dadurch lassen sich die semantischen Ähnlichkeiten beider Romane in komparatistischer Perspektive auch als »Kontextanalogien«, d. h. als in der »außerliterarischen, gesellschaftlich-sozialen und ökonomischen Situation« (Zelle 2005: 20) wurzelnd, beschreiben. Der Arzt und Philosoph Ludwig Büchner, übrigens ein jüngerer Bruder Georg Büchners, veröffentlichte 1878 in der Zeitschrift Die Gartenlaube einen kleinen Artikel mit dem Titel »Doppeltes Bewußtsein«, in dem er das titelgebende Phänomen anhand mehrerer Krankenberichte näher beschreibt. Gleich zu Beginn bricht der Artikel mit der bis dato gängigen Vorstellung, das menschliche Bewusstsein sei etwas »Einheitliches, Unveränderliches und Untheilbares« (Büchner 1878: 101), wie es dann, zwei Dekaden später, auch Sigmund Freud in der Traumdeutung (1900) auf so einflussreiche Weise tat. Statt als Einheit beschreibt Büchner das Ich als »ein Product unserer Empfindungen; ändern sich diese, so muß sich auch das Ich ändern« (a.a.O.: 102). Die Fallberichte, die er unter das Phänomen des »sogenannten doppelten Bewußtseins« (a.a.O.: 101) fasst, bringt er folgendermaßen auf den Punkt: »[D]er Mensch ist ein doppelter oder zu bestimmten Zeiten ein sich selbst durchaus fremder, der sich, seine Umgebung, seine Wohnung nicht mehr kennt, an seiner eigenen Existenz zweifelt […] Alles um ihn her scheint ihm so verän-
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dert, als ob er sich auf einem anderen Planeten befände« (ebd.). Darin kommt ein Gefühl der (Selbst-)Entfremdung zum Ausdruck, das sich wiederum in einer als fremd erlebten Räumlichkeit niederschlägt. Der Physiker und Philosoph Ernst Mach, der zwischen 1867 und 1895 an der Prager Karls-Universität wirkte, wo auch seine wichtigsten Werke entstanden, schreibt in Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886): Hiezu kommt noch, dass dem Räumlichen und Zeitlichen infolge der eigentümlichen großen Entwicklung der mechanischen Physik eine Art höherer Realität gegenüber den Farben, Tönen, Düften zugeschrieben wird. Dem entsprechend erscheint das zeitliche und räumliche Band von Farben, Tönen, Düften realer als diese selbst. Die Physiologie der Sinne legt aber klar, daß Räume und Zeiten ebenso gut Empfindungen genannt werden können, als Farben und Töne. (Mach ⁹1922: 6; Hervorhebungen im Original gesperrt). Mach geht also noch einen Schritt weiter: Nicht nur die Vorstellung des Ich als stabiler Einheit, sondern auch bisher feststehende Kategorien wie Raum und Zeit werden prekär und fragwürdig. Mach führt weiter aus, dass die »ganze innere und äußere Welt« (Mach 1922: 17) aus Empfindungen bestehe. Seine Analyse gipfelt in der These vom ›unrettbaren Ich‹16 (a.a.O.: 20), d. h. in der Vorstellung eines Ich, das als stabile Entität aufgelöst ist. Machs Erkenntnis – »[a]us den Empfindungen baut sich das Subjekt auf, welches dann allerdings wieder auf die Empfindungen reagiert« (a.a.O.: 21; Hervorhebung im Original) – lässt sich auf das in beiden Romanen vermittelte Stadtbild übertragen, das sich dann als eine Art Seelenlandschaft der Protagonisten begreifen lässt, welches aus ihren Empfindungen und Stimmungen aufgebaut ist.17 Dabei ist der demiurgische Akt, der die ›zweite Stadt‹ subjektiv hervorbringt, ein künstlerischer Akt. Bezeichnenderweise schreibt auch Ludwig Büchner der »künstlerische[n] Einbildung« (Büchner 1878: 102) die Fähigkeit zu,
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Vgl. dazu Hermann Bahrs ungeheuer einflussreichen Aufsatz »Das unrettbare Ich«: »Hier [in Machs Analyse der Empfindungen] habe ich ausgesprochen gefunden, was mich die ganzen drei Jahre her quält: ›Das Ich ist unrettbar.‹ Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts als Verbindungen von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten, und an diese Verknüpfungen sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Alles ist in ewiger Veränderung […] Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. Nun droht sie, auch uns zu vernichten. Da werden wir erkennen, daß das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion. Für mich gilt, nicht was wahr ist, sondern was ich brauche, und so geht die Sonne dennoch auf, die Erde ist wirklich und Ich bin ich.« (Bahr 2010 [1903]: 45ff.) Während seines Urlaubs nimmt Severin die Stadt vorübergehend als geradezu idyllischen Ort wahr, was in starkem Kontrast zu dem düsteren Stadtbild steht, das über weite Strecken dominiert.
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das von ihm untersuchte Phänomen des doppelten Bewusstseins hervorrufen zu können.
Resümee In der komparatistischen Analyse von Jiří Karásek ze Lvovics Gotická duše und Paul Leppins Severins Gang in die Finsternis konnte die sich in der Forschung hartnäckig haltende These von den gegensätzlichen, nach nationaler Zugehörigkeit trennscharf geschiedenen Pragbildern – goldenes Prag und Hauptstadt der aufstrebenden Nation in der tschechischen Literatur vs. morbides und vergangenheitsfixiertes Prag in der deutschsprachigen Literatur (vgl. Frýd 1959; Murnane 2012: 237) – eindeutig widerlegt werden. Indem die beiden Romane im Kontext der (europäischen) Décadence betrachtet wurden, die sich am besten »als Motivgeflecht« (Ajouri 2010: 181) fassen lässt, konnten zahlreiche strukturelle Ähnlichkeiten herausgearbeitet werden. So etwa Ähnlichkeiten auf semantischer (Ästhetik des Morbiden, die Lust am Untergang, das Motiv der Todessehnsucht, die Doppelgängermotivik, Abgelöstheit der Protagonisten vom Leben, Ennui, antibürgerliche Haltung und Neurasthenie) und stilistischer (ästhetizistischer Kunstdiskurs, fixierte interne Fokalisierung auf Severin bzw. Vilém, duale Raumsemantik) Ebene. Beiden Romanen eignet außerdem die Betonung der Innerlichkeit, in Abgrenzung zum Naturalismus und im Sinne einer neuen ›Nervenkunst‹ oder »nervösen Romantik« (Bahr 2004: 154). Vor diesem Hintergrund lassen sich die beschriebenen Ähnlichkeiten als »Kontextanalogien« (vgl. Corbineau-Hoffmann 2013: 96), d. h. als Ausdruck einer gemeinsamen kulturhistorischen Situation begreifen. Einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Romanen stellt Leppins Fokus auf Diskurse des Weiblichen dar, die in engem Zusammenhang mit der StadtImago zu sehen sind, wie in Kap. III. gezeigt wurde. Dieser Aspekt fehlt bei Karásek völlig, was sich unter anderem darin zeigt, dass es in Gotická duše praktisch kein weibliches Figurenpersonal gibt. In seiner Besprechung von Severins Gang in die Finsternis bewertet Karásek Leppins Thematisierung des Sexuellen sogar als negativ: »Škoda jen, že se obmezuje na pouhou náladovost a na notu ryze sexuální, že je tak málo psychologická.« (Karásek 1913/14: 335) [Nur schade, dass er [Leppin] sich auf die bloße Launenhaftigkeit und auf die Note des durch und durch Sexuellen begrenzt, dass es so wenig psychologisch ist.]. Bei Karásek steht hingegen das Religiöse sehr viel stärker im Vordergrund als bei Leppin. In Werken des Ästhetizismus – Baudelaire, Huysmans, »gothic modernism« (vgl. Murnane 2012) – konnten Prätexte der beiden Romane und somit genetische bzw. Kontaktbeziehungen auf europäischer Ebene ausgemacht werden. Dabei wurde gezeigt, dass bei Karásek und Leppin, gleichwohl mit einer jeweils etwas anderen Akzentsetzung, der postulierte ästhetizistische Autonomieanspruch der Kunst
IV. Prag im Kontext der Décadence
über raumsemantische Strukturen artikuliert wird. Das dabei beobachtete ästhetische Verfahren wurde als duale Raumsemantik bezeichnet und meint eine Zweiheit der Stadt-Imago: Auf der einen Seite steht das (diegetisch) ›reale‹ Bild der Großstadt, auf der anderen Seite das in stark subjektivem Modus vermittelte Pragbild der jeweiligen Reflektorfigur. In flanierender Schreibweise greift die subjektiv-demiurgische Konstruktion (Karásek) bzw. Wahrnehmung (Leppin) von Räumen auf die urbane Sphäre über und präsentiert die Stadt folglich aus radikal subjektiver Perspektive: Karásek modelliert auf diese Weise ein ironisch gebrochenes Pragbild, das sich stets seines subjektiven, fiktionalen Charakters bewusst ist. Leppin hingegen entwirft ein Pragbild, das den subjektiven Modus des Erzählens sehr viel ernster nimmt, ja ihn absolut setzt. Die Stadtdarstellungen, wie sie sich in beiden Texten finden, lassen die Großstadt als eines der großen Paradigmen der Moderne in aller Deutlichkeit hervortreten, drückt sich doch in der eigentümlichen Modellierung Prags bei beiden Autoren »Subjektivität als zentrales Konstruktionsprinzip der Ästhetischen Moderne« (Vietta 2001: 37) aus. Das vermittelte Stadtbild zeichnet sich, im Gegensatz zu naturalistisch-mimetischen Darstellungen, durch einen hohen Grad an Subjektivität aus, indem Prag stets in der Wahrnehmung des jeweiligen Protagonisten gezeigt wird. Dabei korrespondieren innere psychische Zustände und Darstellungen des Stadtraums, so dass sich hier von urbanen Seelenlandschaften sprechen lässt. Folgt man Silvio Vietta, ist diese »Subjektivität […] der Schlüsselbegriff der modernen Poetik und Ästhetik« (Vietta 2001: 39; Hervorhebung im Original). Wie weiter oben gezeigt wurde, verschieben Karásek und Leppin den Akzent deutlich von der Schilderung der Außenwelt auf die Schilderung der Innenwelt. Dabei steht die »Erforschung der ›anderen Subjektivität‹: der Emotionen, der Phantasie, der Erinnerung, der Assoziationen, der sinnlichen Wahrnehmung der Reflexionen des Ich« (Vietta 2001: 43) im Zentrum des Schreibens. In Abgrenzung zum Vernunftglauben der Aufklärung, so Vietta, gebe es in der Moderne keine naive Vorstellung einer Wirklichkeit per se mehr, sondern »›Welt‹ wird, auch in den modernen Künsten, zu einer Konstruktion des Bewußtseins der Subjektivität« (ebd.; Hervorhebung im Original), wie der Blick auf zeitgenössische Diskurse bei Büchner, Mach und Bahr gezeigt hat. So lässt sich für beide Romane ein »Prozeß der De-realisierung der Realität« (Vietta 2001: 46) feststellen, wenn immer wieder Severins und Viléms subjektive Wahrnehmung der Stadt sich über Prager Orte (vgl. die zahlreichen Toponyme, die auf die außerliterarischen Orte verweisen) schiebt und ihnen ein gespenstisches, unheimliches oder morbides Gepräge gibt. Das Verfahren der dualen Raumsemantik, das der ›realen‹ Stadt eine andere Stadt gegenüberstellt, lässt sich durchaus auch als eine Kritik an der Moderne verstehen, und zwar im Sinne einer »kritische[n] Gegenstimme gegen die Einseitigkeit der rationalistisch-technisch-ökonomischen Moderne« (Vietta 1992: 28; Hervorhebung im Original), wie sie Vietta gar für die gesamte literarische Moderne postuliert. Dies
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wird unterstrichen durch die Passagen, in denen Vilém bzw. Severin verklärend in die Vergangenheit zurückblicken. Dort wird Widerstand gegen das moderne Leben spürbar. Dies zeigte sich auch in Hinblick auf das große städtebauliche Modernisierungsprojekt im Prag der Jahrhundertwende, die Assanierung des Judenviertels, die mit durchaus negativen Konnotationen Eingang in die Texte gefunden hat. In der modernistisch-subjektiven Form der Stadtschilderungen einerseits und der Modellierung der Stadt als von der Vergangenheit geprägtem, teilweise sogar ›totem‹ Raum andererseits kreuzen sich zwei widersprüchliche Voraussetzungen der literarischen Moderne: der Bruch mit der Tradition im Gestus des ganz und gar Neuen, wodurch die Moderne aber stets rückbezogen auf die Vergangenheit bleibt, von der sie sich eigentlich ex negativo absetzen will. Laut Barry Murnane, der sich in seiner Argumentation auf Bruno Latour und Jean-Michel Rabaté stützt, ist »modernism […] a performative act of rupture that is constantly undermined by its debts to tradition and the past« (Murnane 2012: 224).18 Allerdings liegt Murnane falsch, wenn er diesen gothic modernism ausschließlich geltend macht für »a German community for which this modernization and its concomitant uncertainties were accompanied by an existential threat«19 (a.a.O.: 238). Denn besagter gothic modernism lässt sich auch in Karáseks Roman nachweisen, so dass es naheliegt, hier eher von einem epochenspezifischen, supranationalen Phänomen zu sprechen, was durch die vergleichende Untersuchung weiterer Texte zu belegen wäre.
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In ähnlicher Weise hat Paul de Man auf das besondere Verhältnis von Geschichte und Moderne hingewiesen: »Considered as a principle of life, modernity becomes a principle of origination and turns at once into a generative power that is itself historical. It becomes impossible to overcome history in the name of life or forget the past in the name of modernity, because both are linked by a temporal chain that gives them a common destiny. Modernity and history relate to each other in a curiously contradictory way that goes beyond antithesis or opposition. If history is not to become sheer regression or paralysis, it depends on modernity for its duration and renewal; but modernity cannot assert itself without being at once swallowed up and reintegrated into a regressive historical process. […] Modernity and history seem condemned to being linked together in a self-destroying union that threatens the survival of both.« (De Man 1971: 150f.). Eine ähnliche Argumentation führt Ingeborg Fiala-Fürst ins Feld, wenn sie meint, es sei nicht verwunderlich, »daß die Prager Deutschen […] sich in Nachbarschaft des stürmisch und aggressiv erwachenden Volkes bedroht fühlten« (Fiala-Fürst 1996: 17). Die Volkszählung von 1880 verzeichnete nur noch 15,5 Prozent deutschsprachiger Einwohner in Prag, im Jahr 1900 sank die Zahl auf 7,5 Prozent (vgl. Demetz 1998: 471). Diese Krisenerfahrung mochte die Wahrnehmung einiger Prager Deutscher dahingehend beeinflusst haben, dass sie das Prag ihrer Jugend allmählich dahinschwinden sahen. Dass dieser Umstand in der Forschung aber immer wieder als (mehr oder minder einzige) Erklärung für das dekadente Pragbild in Severins Gang in die Finsternis herangezogen wird, wird dem Roman nicht gerecht und konnte durch die vorliegende komparatistische Analyse relativiert werden.
IV. Prag im Kontext der Décadence
Beide Romane bleiben gewissermaßen ambivalent und schwankend zwischen Affirmation (s. radikale Subjektivität der Stadtdarstellung) und Kritik (s. ›tote‹ Stadt, als bedrohlich erlebter Stadtraum, retrospektiver Gestus bzw. nostalgischer Blick zurück) der Moderne.20 Gleiches lässt sich für den Kunstdiskurs konstatieren. So wird zum einen der Autonomieanspruch der Kunst vorgeführt, »aber auch die Problematik einer narzißtischen Selbstbezüglichkeit, der Konflikt zwischen Kunstwelt und sozialer Wirklichkeit« (Vietta 1992: 47), wenn die Protagonisten letztendlich an ihrer Abgelöstheit von der sozialen Umgebung und ihrer hypertrophen Innenperspektive, die sich auch auf der narratologischen Ebene widerspiegelt, zu Grunde gehen. Insofern lässt sich für beide Texte ein krisenhaftes Moderneverständnis feststellen, das seinen Niederschlag in der Gestaltung der Pragbilder findet.
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Die in der Analyse extrapolierten Positionen der beiden Autoren, die zwischen Affirmation und Kritik der Moderne oszillieren, können mit ›Aufbruch in die Moderne‹ umschrieben werden, für den eine Schwellensituation zwischen Tradition und Moderne charakteristisch ist. Damit rücken sie auf der Landkarte der europäischen Moderne(n) in die Nähe der Wiener Moderne, deren Raum- und Landschaftsdarstellungen Dirk Niefanger in seiner breit angelegten Studie als repräsentativ für den ›Aufbruch in die Moderne‹ herausgearbeitet hat. Darin bemerkt er: »Die Realisierungsformen von Räumen in der Wiener Moderne […] erreichen allerdings keineswegs das experimentelle Niveau, das die Texte Kafkas, des späten Musils oder des Expressionismus prägt; die Literatur Jung-Wiens ist insofern repräsentativ für den ›Aufbruch in die Moderne‹« (Niefanger 1993: 103).
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V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte: Miloš Marten Nad městem [Über der Stadt] (1917) Vorbemerkungen Miloš Marten, geboren 1883 in Brünn, war einer der wichtigsten Kritiker aus dem Kreis der Moderní revue, bis er sich 1912 von der Zeitschrift lossagte. Der Sohn eines Rechtsanwalts kam um die Jahrhundertwende nach Prag, legte 1901 hier sein Abitur ab und begann im selben Jahr ein Studium an der Prager Juristischen Fakultät. Zwischen 1907 und 1908 lebte er für einige Monate in Frankreich – seine Mutter hatte französische Wurzeln –, wo er mit dem Maler Émile Bernard und dem Schriftsteller Paul Claudel zusammentraf. Schon im Alter von nicht einmal sechzehn Jahren verfasste er Beiträge für die Moderní revue, die sich neben der zeitgenössischen Literatur auch der Bildenden Kunst, der Kunstkritik und Kunsttheorie verschrieben hatte und als bedeutendstes Publikationsorgan der Moderne-Generation der 1890er Jahre gelten kann. Marten bewegte sich im Umfeld ihrer Gründer, Jiří Karásek ze Lvovic und Arnošt Procházka, den Hauptvertretern der tschechischen Décadence, korrespondierte mit dem bedeutenden symbolistischen Dichter Otokar Březina und hatte eine Liebesbeziehung mit der Malerin Zdenka Braunerová, die auch einige seiner Bücher graphisch ausgestaltete. So auch Martens letztes Werk Nad městem, das posthum in seinem Todesjahr 1917 erschien. Marten war 1915 an der russischen Front verwundet worden und erlag schließlich zwei Jahre später mit nur 34 Jahren einer Herzerkrankung, die sich während seines Kriegseinsatzes verschlimmert hatte (vgl. zu den vorangegangenen Ausführungen: Lantová 2000: 121-124). Nad městem ist im Untertitel als Dialog ausgewiesen. Die beiden Gesprächspartner Michal und Allan stehen auf der Terrasse eines Patrizierhauses auf Hradčany und blicken hinunter auf Prag. Michal will die Stadt verlassen, da er hier keinen Platz für sich sieht. Es entspinnt sich ein Gespräch zwischen Michal und Allan über Sinn und Bedeutung der tschechischen Geschichte. Im Folgenden wird der Text in einem close reading untersucht. Dabei stehen vor allem die Repräsentationen Prags in Verbindung mit poetologischen und religiösen Diskursen im Mittelpunkt. Außerdem wird danach gefragt, welche Rolle der darge-
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stellte Prager Stadtraum für die Konstruktion von Geschichtsbildern und kollektiven Identitäten spielt. Im Zentrum stehen also Wechselwirkungen und Strategien, die in Verbindung mit den ›Bildern von der Stadt‹ an der literarischen Modellierung von sozialen, historischen, religiösen und ästhetischen Vorstellungen beteiligt sind. Im Vorwort zu Nad městem, das auf den 7. Juni 1917 datiert ist1 , nimmt Marten Bezug auf sein Vorgängerwerk Akkord (1916), in dem es ihm um das »český problém«2 (NM 5) [das tschechische Problem] gegangen sei, was aber von den meisten Lesern übersehen bzw. schweigend übergangen worden sei. Über seine Motivation schreibt Marten weiter: »Tedy ji [tuto meditaci] vydávám jako důvěrný projev chvil, kdy mně bylo vnitřní nutností, vysloviti a zodpověděti sobě určité otázky svého popiraného, proto však neméně pravdivého češství« (ebd.; Hervorhebung im Original) [Daher gebe ich sie [diese Meditation] heraus als vertrauliche Äußerung aus Zeiten, da es mir eine innere Notwendigkeit war, gewisse Fragen zu meinem zwar angefochtenen, aber trotzdem nicht weniger wahrhaftigen Tschechentum für mich auszusprechen und zu beantworten.]. Bereits an dieser Stelle ist eine Verschränkung von Individuum und Kollektiv zu beobachten, obwohl Marten betont, die Frage nach dem »Tschechentum« für sich persönlich beantworten zu wollen. Dabei handelt es sich allerdings der Sache nach um eine Gruppenidentität, so dass die Frage nach einer tschechischen nationalen Identität schon im Vorwort als Thema benannt ist. Dass die Literatur bzw. das geschriebene Wort eine besondere Rolle für die Vorstellung von nationalen Identitäten spielt, zeigt eindrücklich Benedict Andersons Konzept der imagined communities. Darin sieht er den modernen Roman und das Medium Zeitung als Voraussetzung für die Entstehung moderner Nationen, da sie die »technischen Mittel, d. h. die Repräsentationsmöglichkeiten für das Bewusstsein von Nation« (Anderson 1996: 32) lieferten. Dadurch seien Lesegemeinschaften entstanden, die laut Anderson die eigentlichen Keimzellen jeder Nation seien (vgl. a.a.O.: 51), da sie die Fiktion einer Gemeinschaft erst erfahrbar machten und perpetuierten, »[w]eil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen […] werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert. […] In der Tat sind alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen mit ihren Face-to-face-Kontakten, vorgestellte Gemeinschaften« (a.a.O.: 14-15).
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Marek Nekula geht davon aus, dass das Manuskript im Oktober 1915 in seiner fertigen Form vorlag, der Entwurf zu Nad městem aber bereits um das Jahr 1910 entstanden ist (vgl. Nekula 2018: 268). Miloš Marten (1917): Nad městem. Dialog. Vydal Ludvík Bradáč na Král. Vinohradech. Im Folgenden wird hierfür die Sigle »NM« verwendet. Die deutschen Übersetzungen stammen, falls nicht anders angegeben, von mir.
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
Das bedeutet, dass die Literatur für Diskurse des Nationalen eine entscheidende Funktion hat. Martens Text ist vor diesem Hintergrund als Beitrag zur zeitgenössischen Diskussion um die tschechische Identität zu verstehen, wie sie etwa im sog. spor o smysl českých dějin (Streit um die Bedeutung der tschechischen Geschichte) zum Ausdruck kam, der zwischen 1895-1938 vor allem tschechische Philosophen, Historiker und Politiker polarisierte. In dem erwähnten Essayband Akkord hatte sich Miloš Marten bereits mit dem »Tschechentum« [»češství«] auseinandergesetzt. Anhand dreier Dichterpersönlichkeiten – das sind Karel Hynek Mácha als wichtigster Vertreter der tschechischen Romantik, der zur Lumír-Generation3 gehörende Julius Zeyer und der Symbolist Otokar Březina4 – verfolgt Marten eine Traditionslinie der tschechischen Dichtung nach. In einer Analyse des schöpferischen Aktes versucht er nun, das Spezifische der tschechischen Dichtkunst herauszustellen, das er in der Religionsgeschichte der Böhmischen Länder entdeckt. Der Literaturhistoriker, Germanist und Bohemist Arne Novák bringt Martens Ansatz folgendermaßen auf den Punkt: Dovozuje, že k mystické lidskosti básnických knih Březinových, jež ideí viny a kletby i myšlenkou vykoupení jsou typicky slovanské, přistupuje v ›Hudbě pramenů‹ prvek nový, specificky český a úzce spřízněný s náboženskostí Chelčického neb Komenského. Miloš Marten vymezuje jej jako mravní vážnost, rozjímavý, skoro rozumový karakter, positivní smysl pro lidskou a životní účelnost náboženské pravdy a vynakládá všecku svou barvitou výmluvnost, aby dokázal, že duch ten jest blízek myšlení románsky západnímu a podstatou rozdílný od germánského protestantismu. (Novák 1917: 578) Er führt aus, dass zu der mystischen Humanität der dichterischen Bücher Březinas, die mit der Idee von Schuld und Fluch und dem Gedanken der Erlösung typisch slavisch sind, in ›Musik der Quellen‹ ein neues Element hinzutritt, spezifisch tschechisch und eng verwandt mit der Religiosität Chelčickýs oder Komens-
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Die Schriftstellergruppe ist benannt nach der literarischen Zeitschrift Lumír, die 1851 erstmals erschien. Ihr Programm war klar kosmopolitisch; das belegen zahlreiche Übersetzungen, vor allem aus dem angelsächsischen und romanischen Raum, an denen sich die Autoren auch in ihrem eigenen Schaffen orientierten. Das Hauptziel war, die tschechische Literatur, die nicht auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, auf das Niveau anderer europäischer Literaturen zu heben und sie so zu einem Teil der Weltliteratur zu machen. Unter den Autoren waren neben Julius Zeyer Jaroslav Vrchlický und Viktor Dyk. Březinas Gedichtzyklus Větry od pólů (1897) erschien 1920 als Winde von Mittag nach Mitternacht in der deutschen Übersetzung von Emil Saudek und Franz Werfel. Die Essaysammlung Hudba pramenů (1903; erweitert 1919) wurde ebenfalls von Werfel als Musik der Quellen (1923) übersetzt, was einmal mehr die intensiven kulturellen und literarischen Bezüge, Kontakte und Vermittlungstätigkeiten der deutsch- und tschechischsprachigen Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts belegt.
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kýs. Miloš Marten umgrenzt es als moralische Ernsthaftigkeit, als meditativen, fast intellektuellen Charakter, positiven Sinn für die menschliche und LebensZweckhaftigkeit der religiösen Wahrheit und wendet all seine bunte Beredsamkeit auf, um zu beweisen, dass dieser Geist dem romanisch-westlichen Denken nah und wesentlich verschieden vom germanischen Protestantismus ist. Diese Konzeption der Geschichte, und zwar vor allem der nationalen Geistesgeschichte, setzt Marten dann in Nad městem fort, um schließlich zu einer Standortbestimmung des Dichters in der Moderne zu gelangen. Nicht zuletzt ist dem Text nämlich Martens Ringen um eine eigene dichterische Position anzumerken, nachdem er diese nicht mehr in der Dekadenz und im Umfeld der Moderní revue sah, wie sein Bruch mit der Zeitschrift im Jahre 1912 belegt. Dem Text ist als Motto ein leicht abgewandelter Vers aus Lukas 12,49 vorangestellt: »Et quid volo nisi ut ardeat?«5 (NM 7) [Und was wollte ich lieber, als dass es schon brennte?]. Indem der Text dadurch in einen religiösen Bezugsrahmen gesetzt wird, ist die Religion als eines der zentralen Themen aufgerufen. In der Lutherbibel (2017) lautet der vollständige Vers: »Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!« Der Sinnabschnitt ist überschrieben mit »Entzweiung um Christi willen« und es ist Jesus, der diese martialisch anmutenden Worte spricht. Kurz darauf heißt es sogar: »Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage euch: Nein, sondern Zwietracht« (Lk 12,51). Ganze Familien würden sich überwerfen und entzweien auf Grund ihres Glaubens, ihres Bekenntnisses, so sagt Jesus weiter zu seinen Jüngern. In Nad městem wird nun diese Entzweiung um des Glaubens willen thematisiert, nämlich die Aufspaltung des Christentums in Katholizismus und Protestantismus, die sich im Dreißigjährigen Krieg über Europa entlud. Marten geht es in seinem Dialog um eine retrospektive Bewertung und Einordnung der (Religions-)Geschichte in ihrem Zusammenhang mit einer von ihm postulierten tschechischen nationalen Identität. Der Schauplatz der Handlung ist die Terrasse eines Patrizierhauses aus dem 17. Jahrhundert auf dem Hradschin [»Terassa patricijského domu ze 17. století na Hradčanech« (NM 7)]. Der Hradschin stellte über Jahrhunderte das Machtzentrum der Böhmischen Länder dar. Vor allem im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, als König Rudolf II. auf der Prager Burg residierte und die Verwaltung des Reiches hier ansiedelte, wurde Prag vorübergehend zum politischen und kulturellen Zentrum des gesamten Heiligen Römischen Reiches. Rudolf II. ließ den Königspalast auf dem Hradschin ausbauen, Architekten aus ganz Europa kamen nach Prag, um am Bau von Adelspalästen mitzuwirken. Der König holte Künstler
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Die Vulgata-Bibel verzeichnet folgenden Vers: »Ignem veni mittere in terram, et quid volo nisi ut accendatur?«
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
und Gelehrte, etwa den Maler Arcimboldo und die Astronomen Tycho Brahe und Johannes Kepler, an seinen Hof. Auch das allgemeine Kulturleben erlebte zu dieser Zeit eine Blüte, was sich insbesondere in der Literatur niederschlug: Durch den Buchdruck und die Alphabetisierung breiter Volksschichten erfuhr die Literatur in tschechischer Sprache einen Aufschwung. In den Städten wurden Lateinschulen gegründet und der Bildungsgrad bewegte sich auf europäischem Niveau. Prag war eine kosmopolitische Stadt, deren Bevölkerung mehrsprachig war. Es erschienen Übersetzungen italienischer (z. B. Boccaccios Decamerone), französischer und spanischer Werke. Einen Höhepunkt stellte die Kralitzer Bibel [Bible kralická] (1579-1588) dar, die bekannteste Bibelübersetzung in tschechischer Sprache (vgl. zu den vorangegangenen Ausführungen Alexander 2008: 226-229). Auf diese Blütezeit im 17. Jahrhundert verweist das Patrizierhaus auf dem Hradschin. Auf der anderen Seite werden durch diese Zeit- und Ortsangabe aber auch die historischen Ereignisse aufgerufen, die den Beginn des Dreißigjährigen Krieges markieren: Am 23. Mai 1618 erfolgte der (zweite6 ) Prager Fenstersturz, bei dem Vertreter der böhmischen Stände die königlichen Statthalter aus dem Fenster der Hofkanzlei stießen, um ihre Macht zu demonstrieren, was einer Kriegserklärung der böhmischen Protestanten gegen den katholischen Habsburgerkaiser Matthias, der 1611 die Macht in Böhmen von seinem Bruder Rudolf II. übernommen hatte und 1612 zum Kaiser gewählt wurde, gleichkam. Nach Matthias’ Amtsantritt war der Hof allmählich von Prag nach Wien verlegt worden, so dass Prag nicht mehr das Zentrum des Kaiserreichs war. Im Reich selbst verschärfte sich zunehmend der religiöse Gegensatz zwischen Katholischer Liga und Protestantischer Union. Als der kinderlose Matthias 1617 seinen Cousin Ferdinand II., streng katholisch in einer Jesuitenschule erzogen und ein entschiedener Gegner des Protestantismus, zu seinem Nachfolger bestimmte, sorgte dies bei den böhmischen Ständen für Unmut und führte schließlich zum Aufstand, der wiederum eine harte gegenreformatorische Linie Ferdinands II. nach sich zog. Sie fand ihren Abschluss in der »Verneuerten Landesordnung« vom 10. Mai 1627. Die sich daraus ergebende Situation bewertet der Kölner Historiker und Vorsitzende der deutsch-tschechischen Schulbuchkommission Manfred Alexander folgendermaßen: So war das Königreich Böhmen ein anderes Land geworden. Der vormals reiche Ständestaat mit selbstbewusstem Adel war zu einer verarmten Provinz des Habsburger Reiches abgestiegen. Prag, das unter Rudolf und Matthias (bis 1617) eine pulsierende, kosmopolitische und kulturell anziehende Residenzstadt des
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Der sog. erste Prager Fenstersturz ereignete sich am 30. Juli 1419 und markierte den Beginn der Hussitenkriege. Der hussitische Prediger Jan Želivský und seine Anhänger zogen in das Rathaus der Prager Neustadt auf dem Karlsplatz, wo auf Befehl des Königs Utraquisten inhaftiert waren, und warfen im Streit die katholischen Schöffen aus dem Fenster.
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Königs und Kaisers gewesen war, verkümmerte zur Provinzhauptstadt. Tschechische Historiker haben zu Recht diese Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse als Zäsur bewertet, die eine »dunkle Zeit« (temno) unter Habsburger Herrschaft einleitete; zu Unrecht wurde dies dann aber oft den »Deutschen« angelastet, denn der Kaiser hatte nicht national-ethnische Ziele umgesetzt, sondern die Prinzipien des absolutistischen Staates, der ein schlankes Regime ohne Gegengewichte und eine einheitliche Konfession forderte. Deutschsprachige Böhmen waren unter den Opfern sowohl der Exekutionen wie der Vertreibungen zahlreich vertreten. (Alexander 2008: 234) Auf diese Weise ist durch das Setting also bereits der religiöse Konflikt mit seinen Folgen und damit zugleich auch ein historisierender Diskurs aufgerufen. Vor diesem historischen Hintergrund wird Prag als Zentrum ebenso wie als Peripherie imaginiert und in ein Spannungsverhältnis zwischen Glanz und Elend gesetzt, so dass die Stadt höchst ambivalent erscheint. Diese Zwiespältigkeit setzt sich in der Form fort. Marten wählt die Dialogform, eine Art Essay-Dialog, bei der die beiden Gesprächspartner verschiedene, teils konträre Standpunkte einnehmen. Der Dialog ist nicht nur um die Jahrhundertwende ein beliebtes Genre, bereits die Sophisten setzten ihn als Gestaltungsmittel zur Wissensvermittlung und zur Diskussion von Problemen ein. Einen ersten Höhepunkt in der literarischen Gestaltung erfuhr der Dialog bei Platon. In der Renaissance, auf die Martens Text ebenfalls reflektiert, gelangte er durch Erasmus von Rotterdam und Ulrich von Hutten, später bei David Hume, Diderot und Rousseau zu großer Geltung. Der literarische Dialog kann verschiedene Meinungen neben- oder auch gegeneinanderstellen und dadurch ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, wie es in Nad městem der Fall ist. Darüber hinaus bietet diese Form dem Autor die Möglichkeit, seine eigene Meinung nur verdeckt zu äußern oder zu verstecken (z. B. vor Zensur). Der Dialog findet sich außerdem in religiösen Texten, wie beispielsweise in der katechetischen Literatur oder der Summa theologica von Thomas von Aquin. Daniel Vojtěch liest Nad městem als eine Art Geständnis und begründet die Dialogform damit, dass sie Martens innere Zerrissenheit widerspiegele: Dialog byl Martenův oblíbený žánr, pohybující se na pomezí beletrie a esejistiky. Oproti Stylu a stylizaci, kde šlo o dialogizaci esejistické úvahy (otázky slouží k tomu, aby podpořily hlavní tezi, která je snadno vyvrací), Nad městem je vnitřní dialog Martena – kritika české duchovní tradice. Celá knižka má charakter konfese, předkládá před čtenáře celé vnitřní Martenovo dilema, které řešil prací shrnutou v Akordu a úsilím soustředěným na dílo Claudelovo. (Vojtěch 1996: 384) Der Dialog war Martens Lieblingsgenre, weil es sich zwischen Belletristik und Essayistik bewegt. Gegenüber Styl a stylizace, wo es um die Dialogisierung essay-
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
istischer Überlegungen ging (die Fragen dienen dazu, die Hauptthese zu stützen, die selbige lässig verneint), ist Nad městem ein innerer Dialog Martens – eine Kritik der tschechischen Geistestradition. Das ganze Büchlein hat den Charakter eines Geständnisses, es legt dem Leser das ganze innere Dilemma Martens vor, das er gelöst hat durch die in Akord zusammengefasste Arbeit und durch die gesammelte Bemühung um das Werk Claudels. Mit Paul Claudel, der von 1909 bis 1911 französischer Konsul in Prag war, verband Marten eine enge Freundschaft. Er war Martens Trauzeuge, als dieser 1912 Anna Kopalová heiratete (vgl. Lantová 2000: 121). Das veranlasste F. X. Šalda dazu, in Claudel das Vorbild für die Figur des Allan zu sehen: »Za maskou Allana přes anglické jméno tají se Francouz, a sice nepochybně Paul Claudel nebo někdo z jeho duchovního rodu: vášnivý katolík, vášnivý latinec, stoupenec tvrdého a jasného latinského řádu.« (Šalda [1917] 1957: 183) [Hinter der Maske des Allan verbirgt sich trotz des englischen Namens ein Franzose, und zwar zweifellos Paul Claudel oder jemand von seinem geistigen Stamme: ein leidenschaftlicher Katholik, ein leidenschaftlicher Lateiner, ein Anhänger der strengen und klaren lateinischen Ordnung.]. Auch der Brünner Literaturwissenschaftler Jiří Kudrnáč erkennt in der Figur des Allan einen stilisierten Claudel und darüber hinaus in der Figur des Michal Marten selbst (vgl. Kudrnáč 2000: 50). Eine solche Identifizierung der Figur mit dem realen Autor ist natürlich problematisch zu sehen, dennoch ist ein gewisser Einfluss Claudels auf die Figur des Allan durchaus nicht unwahrscheinlich. Tatsächlich übersetzte Marten einige Werke von Claudel, darunter auch sein bekanntestes Theaterstück, das 1911/12 verfasste, im Mittelalter spielende L’Annonce faite à Marie (Mariä Verkündigung). Paul Claudel war ein Vertreter der Renouveau catholique, die Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstand und für eine Erneuerung der Literatur aus dem christlichen Glauben heraus eintrat, womit eine »Absage an Libertinage und Dekadenz des Fin de Siècle« (Becker 2007: 646) einherging. Martens Bewunderung für Claudel zeigt sich nicht nur in zahlreichen frühen Übersetzungen für die Moderní revue, sondern auch in folgender lobender Passage aus seinem Kniha silných [Buch der Starken] (1909)7 : Claudel hledá a nalézá nový vztah k víře a k její mravní potenci, novou možnost býti křesťanem. A nalézá ji ne v neurčitém, ideově prázdném moralismu druhu Tolstého, nýbrž v náboženské mentalitě, v symbolice dogmatu. Jeho katolicismus se obrací k metafyzickým a mystickým potřebám nitra, odpovídá zoufalému vykřiku senzibility, zraněné citem záhady. Obnovuje, co je v tisíciletém bloudění víry
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Zur Beziehung zwischen Claudel und Marten vgl. weiterführend Vojtěch 1996: 374-378, Vojtěch 2011.
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pralidského, a přijímaje dogma vrací mu intenzivní citový a myšlenkový zájem, jejž má, spojeno s nejvnitřnějšími podněty poznání a touhy. (Marten 1909: 106) Claudel sucht und findet einen neuen Bezug zum Glauben und seiner moralischen Potenz, eine neue Möglichkeit, Christ zu sein. Und er findet sie nicht in einem unbestimmten, ideenleeren Moralismus von der Art Tolstojs, sondern in einer religiösen Mentalität, in der Symbolik des Dogmas. Sein Katholizismus kehrt sich den metaphysischen und mystischen Bedürfnissen des Inneren zu, antwortet dem verzweifelten Aufschrei der Sensibilität, die verletzt ist durch das Gefühl des Geheimnisses. Er erneuert, was in tausendjährigem Herumirren des Glaubens urmenschlich ist, indem er das Dogma annimmt, gibt er diesem das intensiv empfindsame und gedankliche Interesse zurück, das er hat, verbunden mit den innerlichsten Beweggründen der Erkenntnis und der Sehnsucht.
1.
»Über der Stadt«. Die Stadt aus der Vogelperspektive
Schon der Titel Nad městem macht deutlich, dass der Text den Blickpunkt »über der Stadt« einnimmt. Michal blickt vom Hradschin auf die Stadt hinab, im Tschechischen ausgedrückt durch das Verb »shlížet« [herabblicken], die ihm von diesem Standpunkt aus wie ein Abgrund [»propast«] (NM 7) erscheint. Der nach unten gerichtete Blick auf Prag steht am Anfang und am Ende8 des Dialogs und rahmt somit den Text. In seiner L’invention du quotidien (1980), in denen er die Praktiken des Alltagslebens untersucht, hat sich Michel de Certeau auch mit dem Blickpunkt über der Stadt beschäftigt. Im Kapitel »Gehen in der Stadt« schildert er die Eindrücke beim Blick vom World Trade Center auf New York City: Auf die Spitze des World Trade Centers emporgehoben zu sein, bedeutet, dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball und wird nicht mehr von dem Wirrwarr der vielen Gegensätze und von der Nervosität des New Yorker Verkehrs erfaßt. Wer dort hinaufsteigt, verläßt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt. Als Ikarus dort oben über diesen Wassern kann er die Listen des Daedalus in jenen beweglichen und endlosen Labyrinthen vergessen. Seine erhöhte Stellung macht ihn zu einem Voyeur. Sie verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man ›besessen‹ war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie
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»Zde, město pode mnou!« (NM 33) [Hier, die Stadt unter mir!].
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erlaubt es, diesen Text zu lesen […]. (De Certeau 1988: 180; meine Hervorhebungen, U.M.) Der exponierte Blickpunkt, den De Certeau hier beschreibt, ist für Martens Dialog zentral: Durch den von Michal (und auch Allan) eingenommenen Standpunkt wird »Distanz« zum Stadtraum geschaffen, indem sie »dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen« (De Certeau 1988: 180) und aus der Masse ihrer Bewohner herausgehoben sind. Die Figuren werden dadurch zu Beobachtern, die aus der Entfernung die Stadt als lesbaren »Text« wahrnehmen können. De Certeau spricht bei diesem Vorgang des Lesens in der Stadt allerdings von einer »Fiktion« (ebd.): Ist dieses gewaltige Textgewebe, das man da unten vor Augen hat, etwas anderes als eine Vorstellung, ein optisches Artefakt? So etwas ähnliches wie ein Faksimile, das Raumplaner, Stadtplaner oder Kartographen durch eine Projektion erzeugen, welche in gewisser Weise eine Distanz herstellt. Die Panorama-Stadt ist ein ›theoretisches‹ (das heißt visuelles) Trugbild, also ein Bild, das nur durch ein Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustandekommt. […]. Die gewöhnlichen Benutzer der Stadt aber leben ›unten‹ (down), jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört. Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner (Silesius), deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen ›Textes‹ folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können. (De Certeau 1988: 181f.; Hervorhebungen im Original) De Certeau verdeutlicht hier den fiktiven Charakter, der jedem distanziert-ordnenden Zugriff auf die Stadt eignet. Auch in Martens literarischer Fiktion werden die räumlich durch den Standpunkt über der Stadt hergestellte Distanz und damit einhergehend die Lesbarkeit des Stadttextes zu einem Konzept, innerhalb dessen Fragen nach Sinn und Bedeutung der tschechischen Geschichte gestellt werden können. Eingebettet in diesen experimentellen Rahmen erprobt der Text unterschiedliche Lesarten der Stadt; diverse, durchaus konträre Deutungen der Stadt und ihrer Geschichte werden verhandelt, was sich in der Dialogform widerspiegelt. Es ist vor allem ›der Fremde‹ Allan, der in der Stadt zu lesen vermag und dies auch ganz konkret artikuliert: »Lze čísti staleté drama v paprsích a křivkách, jimž rozestírá město chapadla svých ulic; a dějinný osud v sledu vrstev, z nichž je složeno jak hora, zřená v průřezu.« (NM 12; meine Hervorhebung, U.M.) [Man kann das hundertjährige Drama in den Strahlen und Kurven lesen, durch welche die Stadt die Fangarme ihrer Straßen ausbreitet; und das historische Schicksal in der Reihenfolge der Schichten, aus denen sie zusammengesetzt ist wie ein Berg, der im Querschnitt auftaucht.]. In dieser Replik beansprucht Allan nicht nur für sich, in der Stadt lesen zu können, er verweist auch auf den Palimpsestcharakter der Stadt: In der architektonischen Substanz sind die unterschiedlichen Zeitschichten und historischen Er-
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eignisse erkennbar. Aleida Assmann greift die Metapher vom Palimpsest in ihrem Aufsatz »Geschichte findet Stadt« auf, in dem sie der Verbindung zwischen Stadt und Geschichte auf den Grund geht: Für eine Vielzahl europäischer Städte drängt sich das Bild eines Palimpsests auf. Ein Palimpsest ist eine kostbare Pergament-Handschrift, deren Beschriftung von mittelalterlichen Mönchen sorgfältig abgekratzt wurde, um einer Neubeschriftung Platz zu machen. Durch Anwendung geeigneter Mittel kann jedoch der ausgelöschte Text später unter der Überschreibung wieder lesbar gemacht werden. Der Palimpsest ist eine philologische Metapher, die Parallelen zur geologischen Metapher der Schichtung aufweist. Die Architektur der Stadt lässt sich als geronnene und geschichtete Geschichte beschreiben und somit als ein dreidimensionaler Palimpsest aufgrund wiederholter Umformungen, Überschreibungen, Sedimentierungen. Wir können hier auch mit Reinhart Koselleck von »Zeitschichten« sprechen. Die Formel von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gilt paradigmatisch für die unterschiedlichen Schichten urbaner Bausubstanz. (Assmann 2009: 18; Hervorhebung im Original) Allan beschreibt die Stadt, indem er auf geologische Schichten verweist und die Stadt mit einem Berg vergleicht. Die historisch gewachsene Stadt, aber auch Geschichte an sich, wird dadurch gewissermaßen naturalisiert, als etwas, das geformt wird, wie der Berg durch die Naturgewalten geformt wird. Das Bild vom Palimpsest verweist wiederum auf die lesbare Stadt und damit zugleich auf die Möglichkeit verschiedener Lesarten, die durch die unterschiedlichen (Zeit)Schichten geradezu herausgefordert werden. Die »verräumlichte Geschichte« (Assmann 2009: 20) trägt nicht nur Spuren verschiedener Zeiten, sondern außerdem verschiedener Kulturen und Gruppen, die in gegenseitiger Verflechtung die Stadt bewohnten und bewohnen. Zu Beginn sieht der Leser Prag durch die Augen Michals, der wie bei der klassischen Mauerschau in Homers Ilias an einer steinernen Brüstung lehnt (vgl. NM 7). Diese Teichoskopie unterstreicht das Szenische des Textes: Es gibt keine vermittelnde Erzählinstanz, sondern der Leser nimmt die Stadt ausschließlich aus der Sicht der beiden Figuren wahr. In Michals Beschreibung gleicht Prag einem Abgrund, in dem es von Häusern wimmelt, die wie verzauberte Geschöpfe erscheinen [»propast, hemžící se domy, jako zakletými tvory« (NM 7)]. Die Stadt ist für Michal eine monströse Kreatur, die ein Eigenleben zu haben scheint, alles und jeden verschlingt und deren Eigenlogik für Michal unverständlich bleibt: »[M]ěsto, jak […] obludn[á] bytost, o níž nevíme, proč vyrostla, strávivši9 nesčíslné síly ducha, vášně, myšlenky, tisíce životů, které pohltila v staletích ... ani kdy či jak pohltí nás, snad 9
Die Essens- und Verdauungsmetaphorik dieser Textstelle ruft Émile Zolas Le Ventre de Paris (1873) auf. Vgl. dazu weiterführend: Christopher E. Forth (2005): »The Belly of Paris«. In:
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již předurčené pro její jícen.« (NM 7f.) [Die Stadt, wie eine ungeheuerliche Kreatur, von der wir weder wissen, warum sie emporwuchs – unzählige Geisteskräfte, Sehnsüchte, Gedanken verzehrend, tausende Leben, die sie über die Jahrhunderte verschlungen hat ... – noch wann und wie sie uns verschlingt, die wir vielleicht längst für ihren Schlund vorherbestimmt sind.]. Michals negatives Bild der monströsen Stadt wird von Allan ergänzt um die Schattenseiten des modernen Großstadtlebens: das laute »Getöse der Stadt« [»hukot města«], der »hromadný šum davu, uvolněného z pout denní práce, na několik hodin svobodného náhle a zmateného svou svobodou, která jej staví bezradna mezi dobré a zlé, pokoj a hřích, v něž by ji obratil. A za nedlouho splanou v černý křišťál noci světla, steré oči, vyhlížející nejistě.« (NM 8) [Lärm der Massen, gelöst von den Fesseln der täglichen Arbeit, für ein paar Stunden plötzlich befreit und verwirrt von ihrer Freiheit, die sie ratlos zwischen Gut und Böse stellt, zwischen Frieden und Sünde, in die man sie [die Freiheit] umkehren könnte. Und für kurze Zeit lodern im dunklen Kristall der Nacht die Lichter, hunderte Augen, unsicher aufblickend.]. Allan beschreibt hier die Krisenerfahrung einer vor allem ethisch-moralischen Unsicherheit. Das tägliche Arbeitsleben hat die Menschen fest in seiner Gewalt und nach Feierabend wissen sie nichts mit sich anzufangen. Damit ist die Entfremdung des modernen Menschen angesprochen. Die Urbanisierung entfernte ihn zunehmend von der Natur, Technisierung und Rationalisierung im Arbeitsalltag entfremdeten ihn von seiner Arbeit, wie die Studien von Karl Marx und Émile Durkheim im ausgehenden 19. Jahrhundert diagnostizierten. Die oben zitierten Textstellen finden in einer Passage aus Paul Leppins Severins Gang in die Finsternis (1914) ihren Widerhall. Auch hier steht der Protagonist auf dem Burgberg und blickt auf die Stadt hinab: Severin ging unter den Bäumen des Belvederes und atmete die feuchte Luft, in der er schon den Geruch des kommenden Frühlings spürte. Unter ihm lag die Stadt im Tale. Hie und da brannten noch ein paar Lichter wie die Augen eines schläfrigen Tieres in der Ferne. Severin erfaßte ein Schauer. Er dachte an die Tausende, die da unten gleich ihm ratlos in einem trüben Leben versanken. […] Eine Traurigkeit ohnegleichen zermarterte ihn. Er spähte in den Schatten der Häuser hinunter und sah seine eigene Gestalt, von den Rätseln der Liebe und des Todes vermummt, ruhelos in den Gassen, wo Mordgedanken aus dem Pflaster aufstiegen und sein Herz verblendeten. (Leppin 1988: 51f.) Wie Michal und Allan nimmt auch Severin hier den Blickpunkt über der Stadt ein. Prag erscheint ebenfalls anthropomorphisiert, wenn die Lichter der Häuser bei Nacht mit Augen verglichen werden. Die Atmosphäre ist wie in Allans Schilderung Christopher E. Forth und Ana Carden-Coyne (Hg.): Cultures of the Abdomen: Diet, Digestion, and Fat in the Modern World, S. 205-219). New York: Palgrave Macmillan.
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geprägt von Ratlosigkeit und auch Severin spürt immer wieder die erwähnten »Fesseln der täglichen Arbeit« (s.o.), wenn er der »quälende[n] Bureauarbeit« (Leppin 1988: 7) nachgeht und dabei fühlt, »daß er im Kreise um einen Punkt herumging wie ein angepflocktes Tier an der Kette« (Leppin 1988: 41). Diese von Allan für ein ganzes Kollektiv, nämlich die Stadtbewohner, postulierte Situation scheint ebenfalls auf, wenn Severin »die Tausende[n], die da unten gleich ihm ratlos in einem trüben Leben versanken«, vor Augen hat. Es lässt sich außerdem eine Parallele ziehen zu dem ethisch-moralischen Dilemma, in dem Allan die modernen Menschen sieht, die unsicher zwischen Gut und Böse schwanken. Der zitierten Textstelle bei Leppin geht voraus, dass Severin, fasziniert von allem Morbiden und vom Tod, den Raben des Buchhändlers Lazarus Kain vergiftet. Am darauffolgenden Abend steht er wiederum vor dem Buchladen, einen Feldstein in der Hand. Er trifft auf Susanna, Lazarus’ Tochter, und erfährt, dass sie ein Kind von ihm erwartet. Mit Schrecken wird ihm bewusst, dass er gekommen ist, um Lazarus zu ermorden. Er flüchtet sich auf den Hradschin, wo die zitierte Textstelle einsetzt. Im Anschluss daran sucht er Zuflucht bei seiner tschechischen Geliebten Zdenka und für einige Wochen scheint es, als habe er die Krise überstanden. Innerhalb der Handlung stellt die Szene auf dem Burgberg ein retardierendes Moment dar, das dem Leser suggeriert, Severin habe sein moralisches Gleichgewicht wiedergefunden. Bei allen Ähnlichkeiten bleibt jedoch festzuhalten, dass das moralisch-ethische Dilemma bei Leppin einen durchweg individualisierten Fokus hat, während in Nad městem das Kollektiv der Stadtbewohner im Zentrum steht. Auch in Marie Majerovás Přehrada findet sich eine Szene, die ›über der Stadt‹ spielt und in der moralische Fragen verhandelt werden. Die beiden Nebenfiguren Ingenieur Vach und die Philosophiestudentin Horná, die nur in dieser Passage auftreten, lehnen an der Aussichtsmauer des Burgplatzes und blicken hinab auf die Stadt und die Moldau. An dieser Stelle im Roman ist die Evakuierung Prags durch sozialistische Revolutionäre auf Grund einer drohenden Überflutung bereits in die Wege geleitet. Die beiden Figuren diskutieren darüber, ob dieses Vorgehen moralisch gerechtfertigt ist. Der Ingenieur legitimiert das Handeln der Umstürzler: »›Dějiny neznají příkladu, že by kdo pustil moc dobrovolně z rukou. Vždycky musila být z rukou násilně vyražena.‹« (Majerová 2010: 142) [»›In der Geschichte gibt es kein Beispiel, daß die Macht freiwillig aus der Hand gegeben wurde. Sie mußte stets mit Gewalt genommen werden.‹« (Majerová 1958: 151)]. Die Studentin hingegen spricht sich gegen eine solche Art der Revolution aus: »›Dobrá. Tedy ať dělají revoluci. Ale zatopit celou Prahu, zničit poříčí, hodnoty lidské práce i nevinné lidské životy ..., na to nemají práva!‹« (Ebd.) [»›Gut. Sollen sie also Revolution machen. Aber Prag überfluten, das bebaute Gelände vernichten, die Werte menschlichen Fleißes zerstören und unschuldige Menschenleben zum Tode verurteilen ... dazu hat niemand ein Recht!‹« (Majerová 1958: 151f.)].
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Daran schließt sich eine apokalyptische Vision der Studentin Horná an, in der die Moldau die Stadt überflutet und nichts als ein »›Trümmerfeld und Totenacker‹« (Majerová 1958: 152) hinterlässt. Ingenieur Vach verteidigt das Vorgehen der Revolutionäre, da der Umsturz »›die Massenvergasungen künftiger Kriege‹« (ebd.) [»›plynové rvačky příštích válek‹« (Majerová 2010: 142)] verhindere. Die Studentin hingegen verurteilt die Hybris des Menschen, der sich maßlos über die Natur erhebe und sie sich zu unterwerfen versuche. Ebenso wie in Martens Text handelt es sich bei dieser Szene um einen Dialog, der im Roman wiedergegeben wird, so dass unterschiedliche Meinungen von zwei Sprechern artikuliert werden, wodurch ein Problem von zwei Seiten betrachtet werden kann. Es bleibt festzuhalten, dass der Blickpunkt ›über der Stadt‹ ein Herausgehobensein aus den alltäglichen ›niederen‹ Zusammenhängen raumbezogen in Szene setzt, sozusagen den Blick aus der Vogelperspektive literarisch umsetzt. Darin drückt sich der Wunsch nach Distanz und Überblick aus und es wird die Möglichkeit geschaffen, ethisch-moralische Probleme zu diskutieren und zu inszenieren. Marten stellt in seinem Dialog eine neue Ordnung zur Diskussion, die sich auf gesellschaftliche, religiöse und ästhetische Fragen erstreckt – in letzter Konsequenz heißt das, es geht ihm um die Verhandlung ethischer und moralischer Werte, weshalb die beiden Sprecher konsequenterweise ›nad městem‹, also ›über der Stadt‹ stehen. Dadurch wird gewissenmaßen ein sortierender und ordnender Blick bzw. Zugriff ›von oben‹ auf die Stadt inszeniert, der gleichzeitig einen theoretischen, fiktiven Status hat und somit den Rahmen für experimentelle Überlegungen liefert.
1.1
Michals Blick auf Prag. Die unzugängliche Stadt
Das Bild, das Michal von Prag zeichnet, wirkt bedrohlich und geheimnisvoll: Strážné ohně nábřeží, zdvojené v zrcadle jiskřící řeky, – hořící alej, která stoupá po svahu jak v nekonečno – a onde, nahoře, keř rozežehnutých svěc na katafalku denně nové mrtvoly. I světélkující zrak dravce dole u mostu, i kosý pohled domku, podobného smějící se tváři Číňanově. Sta jiných ... v něž jsem hleděl po hodiny, jako by mně mohla říci tajemství spícího města pode mnou. (NM 8f.) Die Wachtfeuer des Ufers, verdoppelt im Spiegel des funkensprühenden Flusses, – die brennende Allee, die den Hang emporsteigt wie ins Unendliche – und drüben, oben, ein Busch glühender Kerzen auf dem Katafalk täglich neuer Leichen. Und auch der leuchtende Blick des Raubtiers unten bei der Brücke und der schiefe Blick des Hauses, der dem Gesicht eines lachenden Chinesen ähnelt. Hunderte anderer ... in die ich über Stunden geblickt habe, als ob sie mir das Geheimnis der schlafenden Stadt unter mir sagen könnten.
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Die Feuersymbolik, mittels derer Prag beschrieben wird, kündigt in der jüdischchristlichen Tradition oft eine Theophanie an, das bekannteste Beispiel dürfte Mose und der brennende Dornbusch (2. Mose 3) sein. Der »Busch aus glühenden Kerzen« [»keř rozežehnutých svěc«] ruft diesen religiösen Kontext auf. Der Ort dieses brennenden Busches ist der Vyšehrad, der vom Hradschin aus »drüben«, also auf der anderen Seite des Flusses, und oben liegt. Dort befindet sich der Vyšehrader Friedhof als letzte Ruhestätte bedeutender tschechischer Persönlichkeiten und mit dem Slavín das tschechische Pantheon. Marek Nekulas breit angelegte Studie Tod und Auferstehung einer Nation. Der Traum vom Pantheon in der tschechischen Literatur und Kultur (2017) beschäftigt sich mit Friedhöfen und Nationalbegräbnissen und steht im Zeichen der Forschung zu kollektiven Identitäten und der Herstellung nationaler Öffentlichkeit. Ein Kapitel ist den »Tschechischen Pantheons« gewidmet. Dabei wird die durchaus kontroverse Entstehungsgeschichte des Slavín auf dem Vyšehrad beleuchtet und seine Einschreibung in den Prager öffentlichen Raum nachverfolgt (vgl. Nekula 2017: 465-556), wobei die enge Verbindung zwischen dem nationalen Pantheon und der katholischen Kirche zur Sprache kommt: Die Zuweisung eines solchen Platzes und die Kanonisierung eines Auserwählten in der nationalen Gruft waren allerdings nur ›mit der Zustimmung des königl. Kollegiatenkapitels auf dem Vyšehrad‹ möglich. Auch durch die Bezeichnung der nationalen Gruft als ›christliches tschechisches Pantheon‹ verstärkte sich die Bindung der nationalen Begräbnisstätte an das Domkapitel. Dadurch wurde die Sprachnation in diesem Pantheon konfessionell wesentlich beschnitten. (Nekula 2017: 475) Nekula zeigt weiter, dass in der zeitgenössischen Diskussion heftige Kritik an dieser christlichen Überformung des nationalen Pantheons geübt wurde. Marten hingegen bekräftigt in der obigen Textstelle die Verbindung von Religion und Nationalgefühl bereits andeutungsweise, was im weiteren Verlauf des Textes noch klarer wird. Michal spricht davon, Prag verlassen zu wollen, da er in der Stadt seinen Platz bisher nicht gefunden hat: »Nenašel jsem místa, kterého jsem hledal – na které, snad, jsem byl poslán?« (NM 10) [Ich habe nicht den Platz/Ort gefunden, den ich gesucht habe – an den ich, vermutlich, gesandt wurde?]. Resigniert und enttäuscht darüber, dass er seine Bestimmung [»určení« (9)] nicht gefunden hat und der Stadt ihre Geheimnisse nicht entlocken konnte [»A zase na ně pohlížím a táži se, jaké neobjevné tajemství v něm zanechám, nepochopenou možnost, provždy ztracenou« (ebd.)], stellt er fest: »Zde není poslání, Allane, jen úzkost a mrtvo...« (NM 11) [Hier gibt es keine Berufung, Allan, nur Beklommenheit und Leblosigkeit ...]. In Michals Darstellung erscheint Prag als unzugänglich und geradezu lebensfeindlich. Allan kritisiert daraufhin Michals negative Haltung scharf, was sich zu einer Kollektivkritik am tschechischen Volk auswächst:
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Uprostřed života, který zde klíčí a zraje pod týmž sluncem, jako kdekoli s touž vážností a svévolí, s touž neúchylnou spravedlivostí – je ve vás smutek, jako rouhání. Jakýsi zápor, vzdor a nevěra, zlý pohled z hloubi nemocného srdce. Nejen ve vás ... jste zde všichni smutni, odechnuti smutkem jako jedovatou parou propasti, zející kdesi, zdá se, že více ve vás, nežli mimo vás! (NM 11) Inmitten des Lebens, das hier unter dieser Sonne keimt und reift, wie überall mit dieser Ernsthaftigkeit und diesem Mutwillen, mit dieser natürlichen Gerechtigkeit – ist in Ihnen eine Trauer, wie eine Lästerung. Irgendeine Verneinung, Trotz und Unglaube, ein böser Blick aus der Tiefe eines kranken Herzens. Nicht nur in Ihnen ... ihr seid hier alle traurig, erstickt durch Trauer wie durch den giftigen Dampf eines Abgrundes, der irgendwo klafft, es scheint, mehr in euch als außerhalb eurer! Michal wehrt diese Kritik ab, indem er Allan als »cizinec« (ebd.), als Ausländer oder Fremden bezeichnet und ihm vorwirft: »Necítíte kletby, která na nás leží« (ebd.; Hervorhebung im Original) [Sie fühlen nicht den Fluch, der auf uns liegt]. Von dieser Textstelle ausgehend lassen sich zwei thematische Stränge verfolgen; zum einen Allans Perspektive des ›Fremden‹ und sein damit verbundenes Pragbild. Zum anderen entspinnt sich hier das Streitgespräch über den Sinn und die Bedeutung der tschechischen Geschichte, in Gang gesetzt durch die Formel vom ›kollektiven Fluch‹. Beide Linien des Dialogs bleiben eng aufeinander bezogen.
1.2
Allans Blick auf Prag. Die kosmopolitische Stadt
Allan lebt bereits seit einigen Jahren in Prag. Vermutlich hat er einen französischen Hintergrund, da er im Verlauf des geschichtsphilosophischen Streitgesprächs immer wieder Beispiele aus der französischen Geschichte und Kultur anführt.10 Während seiner Zeit in Prag hat er gelernt, »die Kollektiv-Wesen, welche Stadt, Nation, Reich heißen, zu erkennen« [»poznávati hromadné bytosti, které se jmenují město, národy, říše« (NM 12)] und in der Stadt mit ihren historischen Schichten zu lesen: Lze cítit jeho [města] nitro jako duši člověka, kterému hledíme v oči! Pohlédl jsem v oči vašého města, Michale, prvního města rodného západu, které mne přijalo po rocích problouděných v dálkách, – které v první večer (zpomeňte!) zjevilo se mně s pobořené bašty důvěrné a zvoucí jako přístav dobrodruha, jenž jsem byl. (NM 12) 10
So spricht er etwa über den französischen Bischof und Autor Jacques Bénigne Bossuet (vgl. NM 13), über die Schriftsteller Théodore Agrippa d’Aubigné und Honoré de Balzac (vgl. NM 16) sowie über die Pariser Bartholomäusnacht (vgl. NM 17). Außerdem sei noch einmal auf die Nähe der Figur zu Paul Claudel verwiesen, die zeitgenössische Rezensenten und die Forschungsliteratur konstatieren.
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Hier lässt sich ihr [der Stadt] Inneres fühlen wie die Seele eines Menschen, dem wir in die Augen blicken! Ich habe in die Augen Ihrer Stadt hinabgeblickt, Michal, der ersten Geburtsstadt des Westens, die mich aufgenommen hat nach in der Ferne durchirrten Jahren, – die sich mir am ersten Abend (erinnern Sie sich!) von der teilweise zerstörten Bastei aus offenbart hat, vertrauensvoll und wie ein Hafen den Abenteurer einladend, der ich war. An dieser wie auch an der bereits weiter oben zitierten Passage zum Lesen in der Stadt wird Allans spezielles Verhältnis zu Prag deutlich, das gerade durch seinen Status als ›Fremder‹ bestimmt zu sein scheint; dem Tschechen Michal hingegen fehlt diese emotionale Beziehung zur Stadt. Allan vergleicht Prag mit einer Frau und schwärmt von ihrer Schönheit: »Svůdné, jak žena, neurcité, jak žena, v modrých závojích soumraku, v kterých se chouli pod kvetoucí stráně, přepiato occelovým pasem své řeky, poseto smaragdy měděných kupolí ...« (NM 9) [Verführerisch wie eine Frau, vage wie eine Frau in blauen Schleiern der Dämmerung, in denen sie sich unter die blühenden Seiten duckt, umschlungen vom Stahlgürtel ihres Flusses, übersät mit den Smaragden der kupfernen Kuppeln]. Weibliche Allegorien und Personifikationen von Städten sind vor allem im langen 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Nationalismus in der gesamteuropäischen Literatur gehäuft zu beobachten. Mit ihrer Hilfe ließen sich abstrakte Konzepte wie Staat, Nation, Heimatland und eben auch Städte in eine anthropomorphe, greifbare Form bringen und fanden schnell Eingang in das kollektive Bewusstsein.11 Vor allem vor dem Ersten Weltkrieg verdichteten sich tschechische nationale Repräsentationen in der Figur der Stammmutter Libuše, in der »matička Praha« [»Mütterchen Prag«] und als Personifikation der Böhmischen Länder in der Figur der Čechie. Allan sieht Prag als die Geburtsstadt des Westens, von der aus westliche Traditionen – in Religion und Kunst – ihren Ausgang genommen haben. Prag erscheint als eine weltoffene und kosmopolitische Stadt, die Abenteurer aus der ganzen Welt freundlich aufnimmt. Der Kosmopolitismus war ein wesentliches Charakteristikum der Moderní revue und ihrer Autoren, zu denen anfangs auch Marten zählte. Ihr erklärtes Ziel war, Tschechien und Prag in den Kontext der europäischen Moderne einzuschreiben. Die explizit kosmopolitische Ausrichtung kommt sowohl in 11
Als Beispiele zu nennen wären etwa die Allegorien der Austria (vgl. dazu weiterführend Selma Krasa-Florian (2007): Die Allegorie der Austria. Die Entstehung des Gesamtstaatsgedankens in der österreichisch-ungarischen Monarchie und die bildende Kunst. Wien, Köln, Weimar: Böhlau), der Germania (vgl. dazu weiterführend Lothar Gall (1993): Germania – eine deutsche Marianne? Bonn : Bouvier) oder der Marianne (vgl. weiterführend Maurice Agulhon (1989): Marianne au pouvoir. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1880 à 1914. Paris: Flammarion). In ihrer Studie Topographien der Geschlechter setzt sich Sigrid Weigel kritisch mit diesen weiblichen Allegorien als »Zeichenkörpern« auseinander (vgl. Weigel 1990: 167-173).
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den Texten, die außer in tschechischer auch in deutscher und französischer Sprache abgedruckt wurden, als auch in den zahlreichen Übersetzungen sowie in dem nachfolgenden programmatischen Artikel »Nationalism a Internationalism« von Karel Hlaváček aus dem Jahre 1897 zum Ausdruck: Jest na prvý pohled tento národní chauvinism jenom kalkura, výpočet egoistního mozku a střízlivě raisonnujícího mozku a proto sám sebou zvrací jakoukolvěk domněnku, že by měl co dělati s psychou, kdybychom i připustili, že s psychou českou, německou, francouzskou. Není však de facto takových duší; jest duše jen jedna jediná a ta se nedá děliti na stáda a ovčince. (Hlaváček 1897: 110) Auf den ersten Blick ist dieser nationale Chauvinismus nur Kalkül, die Berechnung eines egoistischen Hirns und nüchtern räsonierenden Hirns und daher ist allein schon die Annahme falsch, dass er etwas mit der Psyche zu tun hätte, wenn wir denn eingestehen würden, dass es eine tschechische, deutsche, französische Psyche gäbe. Aber de facto existieren solche Seelen nicht; es gibt nur eine einzige Seele und diese lässt sich nicht teilen in eine Herde und einen Schafstall.
2.
Spor o smysl českých dějin [Der Streit um die Bedeutung der tschechischen Geschichte] Vědel jsem ještě málo z vašich dějin, ale když jsem viděl na mapě zemi, která má tvar srdce v středu Evropy, chapál jsem již, proč zde se vybojoval velký duchovní boj západu, rozpoutaný severním ďablem negace a skepse. Býti bojištěm, jakým byly Čechy, může znamenati vrcholný bod národní sudby ... (NM 15) Ich wusste noch wenig von eurer Geschichte, aber als ich auf der Karte das Land gesehen habe, das die Form eines Herzens in der Mitte Europas hat, habe ich schon verstanden, warum hier der große geistige/geistliche12 Kampf des Westens ausgefochten wurde, entfesselt durch den nordischen Teufel der Negation und Skepsis. Das Schlachtfeld zu sein, wie es die Böhmischen Länder waren, kann den Scheitelpunkt des nationalen Fatums bedeuten ...
Mit dem ›großen geistigen/geistlichen Kampf des Westens‹ ist der Dreißigjährige Krieg gemeint, der seinen Anfang in Prag nahm und den Allan als Wendepunkt des nationalen Schicksals herausstellt. Michal sieht in der Schlacht am Weißen Berg (1620) – der ersten großen militärischen Auseinandersetzung des Dreißigjährigen Krieges – den Untergang und Zerfall der Nation: »Bílá Hora byla katastrofou
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Das tschechische Adjektiv »duchovní« kann im Deutschen sowohl »geistig« als auch »geistlich« bedeuten.
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národa« (NM 17) [Die Schlacht am Weißen Berg war die Katastrophe der Nation].13 Er bezeichnet sie gar als das Ende der tschechischen Geschichte: »Dějiny vskutku naše se zastavují, kde se začíná snovati drama našého pádu.« (NM 19) [Unsere Geschichte kommt tatsächlich zum Stillstand, wo sich das Drama unseres Untergangs zu entspinnen beginnt.]. Allan plädiert dafür, diese pessimistische Deutung der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart Auswirkungen auf die Menschen hat, zu überwinden und ruft Michal dazu auf, sich »von dem schwarzen Zauber dieses Wortes: Untergang« [»z černýho kouzla tohoto slova: pád« (ebd.; Hervorhebung im Original)] zu befreien. Der Dialog zwischen Allan und Michal muss vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion um die (Be-)Deutung der tschechischen Geschichte betrachtet werden.14 Miloš Havelka leitet die von ihm herausgegebene Anthologie Spor o smysl českých15 dějin 1895-1938 [Der Streit um die Bedeutung der tschechischen Geschichte 1895-1938] mit den folgenden Worten ein: Těžko bychom asi v Evropě hledali jiný národ, který byl věnoval tolik intelektuální úsilí filosoficko-historickým úvahám o sobě samém, který by se po tak dlouhou dobu, vlastně už déle než sto padesát let, pokoušel o formulování nadnárodních a mimonárodních základů své národní existence a hledal hlubší odůvodnění svého bytí, tak jako Češi. (Havelka 1995: 7) Es wäre wohl schwer, in Europa eine andere Nation zu suchen, die philosophischhistorischen Überlegungen über sich selbst so viel intellektuelle Anstrengung gewidmet hat, die sich über so lange Zeit, im Grunde länger als einhundertfünfzig Jahre, um die Setzung übernationaler und außernationaler Grundlagen ihrer nationalen Existenz bemüht hat und eine tiefere Rechtfertigung ihres Daseins gesucht hat wie die Tschechen. Damit umreißt Havelka die enorme Bedeutung, die die sogenannte ›česká otázka‹ [›die tschechische Frage‹] hatte, die als Debatte um Stellung, Identität und Zu13
14 15
Vgl. dazu: »[A] nám znamenalo zkázu. Ne, Allane, ať vidíte jakkoli hluboce, neznáte sevření srdce, jež mi staví dech, když pomýšlím na vyvražděnou zemi, vždy zase hnětenou a pleněnou arvanou nelítostně. […] Není spravedlivo, aby se trpělo příliš. A národy jako jedinci hynou, když trpěli příliš.« (NM 15) [Und für uns bedeutete es den Untergang. Nein, Allan, obschon Sie tief blicken, kennen Sie nicht die Beklemmung des Herzens, die mir den Atem nimmt, wenn ich an das massakrierte Land denke, immer wieder erbarmungslos gequält und geplündert und zerrissen. […] es ist nicht gerecht, dass man so viel leidet. Und die Nationen wie die Einzelnen gehen zugrunde, wenn sie zu viel gelitten haben.]. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Havelka 1995, Lehár et al. 1998: 451f. sowie Holý 2003: 18. An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass »český« sowohl als »tschechisch« als auch »böhmisch« ins Deutsche übersetzt werden kann, also vor allem vor der Republikgründung 1918 immer diese beiden Bedeutungen haben kann.
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
kunftsperspektiven der Tschechen mit Tomáš Garrigue Masaryks 1895 erschienener gleichnamiger Abhandlung einsetzte und bis in die späten 1930er Jahre geführt wurde. In Česká otázka betrachtet Masaryk die tschechische Geschichte im Makrokontext der Weltgeschichte, wobei er nach dem Beitrag der Tschechen für die Entwicklung und den Fortschritt der Menschheit und gleichzeitig nach einem überzeitlichen moralischen Leitprinzip fragt (vgl. Havelka 1995: 8). Vor diesem Hintergrund entfaltete sich eine lebendige, bisweilen erbitterte Diskussion über philosophische, methodologische und historiographische Fragestellungen, die auch in die zeitgenössische Politik ausstrahlte.16 Havelka unterteilt den sogenannten spor o smysl českých dějin [Streit um die Bedeutung der tschechischen Geschichte] in drei Phasen: Am Anfang, quasi als Vorgeschichte des Streits, stand der Bruch zwischen Masaryk und Josef Kaizl. Dabei drehte sich die Debatte hauptsächlich um den politischen Liberalismus und seine weitere Ausrichtung sowie um Masaryks Idee der brüderlichen Humanität. In der zweiten Phase, laut Havelka beginnend etwa fünf Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, standen sich dann die »Sekte Masaryks und die Gollsche Schule« [»Masarykova sekta a Gollova škola«] – so der Titel einer Reihe von polemischen Artikeln des tschechischen Politikers, Historikers und Journalisten Jan Herben in der Zeitschrift Čas – gegenüber. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stand die Frage nach den Errungenschaften und besonders der Kontinuität der tschechischen Geschichte sowie die Diskussion um Historismus und Philosophie. In den 1920er Jahren wurde wiederum an die geschichtsphilosophischen Debatten aus der Vorkriegszeit angeknüpft. Die dritte Phase schließlich war geprägt von der Auseinandersetzung mit den Werken Max Webers und damit verbundenen theoretisch-methodologischen Fragestellungen. Für die Untersuchung von Miloš Martens Nad městem ist vor allem die Vorgeschichte des Streits sowie seine Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg von Interesse. In den frühen 1890er Jahren waren T. G. Masaryk und Josef Kaizl gemeinsam in der Národní strana svobodomyslná, der Partei der sogenannten Jungtschechen, aktiv gewesen. Als Masaryk in seiner politischen Schrift Naše nynější krize (1895) [Unsere jetzige Krise] deutliche Kritik am liberalen Programm der Partei übte, reagierte Kaizl seinerseits mit einer scharfen Kritik an Masaryks Hinwendung zu den Idealen der Hussiten und der Böhmischen Brüder. In der Nachfolge des Historikers und Politikers František Palacký, der die ersten Teile seines opus magnum Dějiny národu českého [Geschichte der tschechischen Nation] zunächst als Geschichte von Böhmen auf Deutsch verfasste, sah Masaryk den Humanismus – ausgehend von Jan Hus
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So z. B. der Streit zwischen den Historikern Josef Pekař und Jan Slavík ab den späten 1920er Jahren. Dabei vertrat Slavík, im Anschluss an Palacký und Masaryk, eine positive Sicht auf die hussitische Ära, während Pekař im Gegensatz dazu die Hussitenkriege negativ beurteilte und demgegenüber die Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg in positivem Licht sah (vgl. Havelka 1995).
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über die tschechischen Brüdergemeinden mit den Leitfiguren Chelčický und Komenský bis zu den Idealen der nationalen Wiedergeburt – als die Kontinuität und den Zielpunkt der tschechischen Geschichte an und reklamierte damit eine lange demokratische Tradition für die Tschechen.17 Dieser Humanismus hatte laut Masaryk, der sich zum Protestantismus bekannte, einen religiösen Gehalt, war gewaltlos, demokratisch und aktiv (vgl. Holý 2003: 18). Havelka nennt zwei Hauptgründe dafür, warum es notwendig ist, sich mit Kaizls Polemik gegen Masaryks geschichtsphilosophische Überlegungen auseinanderzusetzen: Jednak proto, že svými historiografickými argumenty předjala ty kritiky Masarykovy mimohistorické interpretace českého obrození a českých dějin vůbec, s nimiž později, ve vlastním sporu o smysl českých dějin přišla, byť s hlubším záběrem, Gollova škola, ať už se jedná o Kaizlovo zdůraznění vnitřního národního pouta českých dějin anebo o výklad národního obrození, především ale proto, že poukazala na nejastnosti Masarykova pojmu humanity v těchto prácich.18 (Havelka 1995: 18) Einerseits deshalb, weil sie mit ihren historiographischen Argumenten die Kritiken an Masaryks außergeschichtlicher Interpretation der tschechischen Wiedergeburt und der tschechischen Geschichte überhaupt vorwegnimmt, mit welchen später, im eigentlichen Streit um die Bedeutung der tschechischen Geschichte,
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Mit Irina Wutsdorff lässt sich diese Traditionslinie der tschechischen Geschichtsbetrachtung von Palacký bis in die jüngste Vergangenheit hinein nachverfolgen: »Bei Palacký kristallisieren sich mehrere Topoi der tschechischen Geschichtsbetrachtung heraus: Indem den Tschechen – ganz im Geiste der romantischen Völkercharakterologie Herders – ein elementarer Demokratismus zugeschreiben wird, kann eine Brücke der Kontinuität von der Zeit der hussitischen Revolten zu den gegenwärtigen emanzipatorischen Bestrebungen gegen die habsburgische Monarchie geschlagen werden. Garant dieser ideellen Kontinuität – wie auch der Sprache – ist das ›einfache‹ Volk, das mit dem Verweis auf die von ihm vertretenen, in der Neuzeit dann allgemeingültigen humanistischen Werte, zusätzlich geadelt wird. Es ist diese Konstruktion einer moralischen Kontinuität der tschechischen Geschichte, die später auch von T. G. Masaryk aufgegriffen wurde. Im Streit um den Sinn der tschechischen Geschichte […] beharrte Masaryk auf seiner Suche nach einer ethischen Rechtfertigung in der Geschichte des (kleinen) tschechischen Volkes. Auch Jan Patočka, der sich zwar kritisch mit Palackýs und Masaryks Kontinuitätsthesen auseinandersetzte, hielt an der Vorstellung von einem moralischen Auftrag der Tschechen fest, der im Zweiten Weltkrieg ein militärisches Widersetzen gegen die Invasion Nazi-Deutschlands erfordert hätte. Und auch Václav Havels Appelle zu einem Versuch in der Wahrheit zu leben [so dt. 1980 Originaltitel 1978 Moc bezmocných; wörtlich: Die Macht der Machtlosen) knüpfen in manchem an dieses sich auf eine ethische Denktradition berufende Selbstbild an« (Wutsdorff 2017: 27f.). Gemeint sind hier: Česká otázka. Snahy a tužby národního obrození (1885), Naše nynější krise (1895) und Jan Hus. Naše obrození a naše reformace (1886).
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
wenn auch mit tieferer Angriffslust, die Gollsche Schule kommt, handelt es sich schon um Kaizls Hervorhebung der inneren nationalen Fessel der tschechischen Geschichte oder um die Auslegung der nationalen Wiedergeburt, vor allem aber deshalb, weil sie auf die Unklarheit von Masaryks Humanitätsbegriff in diesen Arbeiten hinweist. Kaizl wendet sich gegen Masaryks Auffassung von einer brüderlichen Humanität in der Nachfolge von Jan Hus und den Böhmischen Brüdern als dem Hauptcharakteristikum der tschechischen Geschichte und der tschechischen politischen Tradition. In Masaryks Augen bildet der brüderliche Humanismus das Fundament der tschechischen Aufklärung. Dagegen führt Kaizl ins Feld, dass Masaryks Humanitätsbegriff nicht philosophisch, sondern religiös motiviert sei. Masaryks Interpretation der tschechischen Geschichte in einem sozusagen ›religiösen Licht‹ ist Kaizl zufolge nicht haltbar, da diese theistische und eigentlich gegenaufklärerische Lesart der nationalen Wiedergeburt zu kurz greife und zudem antiliberal sei.19 Der Historiker Jaroslav Goll und seine Schüler, darunter Josef Pekař, warfen Masaryk Unwissenschaftlichkeit vor, wenn er, wie der nachfolgende Textauszug exemplarisch veranschaulicht, in Bezug auf die tschechische Geschichte mit Emphase von Vorsehung und nationalem Sinn sprach: Humanitní ideál, hlásaný Dobrovským a Kollárem, náš ideál obrodní má pro nás Čechy hluboký smysl národní a historický – humanitou, plně a opravdově pojatou, navážeme na nejlepší svou dobu v minulosti, humanitou překleneme duchovní a mravní spánek několika století, humanitou kráčet máme v hlavě lidského pokroku. Humanita znamená nám náš národní úkol vypracovaný a odkázaný nám naším Bratrstvím: humanitní ideál je všecek smysl našeho národního života. (Masaryk 1908: 78) Das humanitäre Ideal, verkündet von Dobrovský und Kollár, unser Wiedergeburtsideal hat für uns Tschechen eine tiefe nationale und historische Bedeutung – mit der Humanität, voll und wahrhaftig aufgefasst, verbinden wir unsere beste Zeit in der Vergangenheit, mit der Humanität überbrücken wir den geistigen/geistlichen und moralischen Schlaf einiger Jahrhunderte, mit der Humanität im Kopf sollen wir dem menschlichen Fortschritt entgegenschreiten. Humanität bedeutet für uns unsere nationale Aufgabe, erarbeitet und vererbt von unserer Brüderlichkeit: das humanitäre Ideal ist der ganze Sinn unseres nationalen Lebens. 19
»Kaizlovu však nešlo jen o odmítnutí Masarykova redukovaného, teistického a protiosvícenského výkladu národního obrození, ale o exlicitně protiliberalistický spár Masarykovy české filosofie« (Havelka 1995: 19) [Kaizl ging es nicht nur um eine Zurückweisung von Masaryks reduzierter, theistischer und gegenaufklärerischer Deutung der nationalen Wiedergeburt, sondern um die explizit antiliberale Klaue von Masaryks tschechischer Philosophie.].
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Im Gegensatz dazu sah Josef Pekař die tschechische Geschichte als Teil der westeuropäischen Entwicklung an. Ihm zufolge war Jan Hus im Kontext des Mittelalters zu betrachten, nicht aber als ein Vertreter des modernen Humanismus, wie Masaryk meinte. Daher stand laut Pekař die nationale Wiedergeburt nicht in der Tradition der Böhmischen Brüderkirche, sondern hatte ihren Ursprung in der Aufklärung und im barocken Patriotismus. Das konstante Element der tschechischen Geschichte war somit für Pekař nicht die religiöse, sondern die nationale Idee (vgl. Holý 2003: 18). Im spor o smysl českých dějin standen verschiedene Deutungen der Geschichte einander zum Teil scharf gegenüber, was die diskursive und konstruierte Verfasstheit jeglicher Geschichtsbilder veranschaulicht. Im Kontext des Streits wurde ebenfalls über den Stellenwert der protestantischen und der katholischen Tradition debattiert, was eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der bisher vernachlässigten bzw. ignorierten Epoche nach der Schlacht am Weißen Berg mit sich brachte. Die Barockzeit in Böhmen, die bis dahin aus tschechischer Sicht überwiegend als Phase des Verfalls betrachtet wurde, erfuhr eine positive Neubewertung. So veröffentlichte beispielsweise Arne Novák 1915 einen Essayband zur Prager Barockarchitektur mit dem Titel Praha barokní. Martens Dialog ist als literarische Gestaltung dieser zeitgenössischen Debatten zu verstehen. Der Tscheche Michal artikuliert darin das gängige Narrativ: Für ihn liegt ein Fluch auf den Tschechen (vgl. NM 11), Prag und die Böhmischen Länder wurden über Jahrhunderte ausgebeutet (vgl. NM 12). Immer wieder reaktiviert er das Trauma des tschechischen kollektiven Gedächtnisses, den »pád« (vgl. NM 19) [Untergang] nach der Schlacht am Weißen Berg. Allan dagegen nimmt eine gänzlich andere Position ein. Er nennt die für dieses Narrativ so bedeutenden Figuren Petr Chelčický und Jan Amos Komenský (vgl. NM 22), denen er gewisse Leistungen durchaus zugesteht, sie jedoch scharf dafür kritisiert, dass sie weder sich selbst noch die Nation »aus der Fremdheit der protestantischen Negation durch die Bejahung des nationalen Willens« [»z cizosti protestantské negace kladem narodní vůle« (ebd.)] befreien konnten. Indem er seine abweichende Auffassung dieser als Nationalhelden gefeierten historischen Figuren zum Ausdruck bringt, kritisiert er ihre Deutung als positiv besetzte Träger der nationalen Identität und bricht so mit der traditionellen Lesart der nationalen Wiedergeburt. Für Michal hingegen verkörpern Chelčický und Komenský die tschechische Geistestradition und sind daher integraler Bestandteil bei der Herstellung nationaler Identität: »[J]est kus národní bytosti v těchto mužích, v jejich díle a osudu. Více – kořen, jeden ze silných kořenů našého ducha, jehož nemůžeme vytrhnouti.« (NM 22) [Es ist ein Stück des nationalen Wesens in diesen Männern, in ihren Werken und ihrem Schicksal. Mehr noch – die Wurzel, eine der stärksten Wurzeln unseres Geistes, die wir nicht ausreißen können.]. Damit steht Michal in der Nachfolge
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
Masaryks, der die tschechische Geschichte als Kontinuität der humanistischen Tradition begreift, beginnend bei den Hussiten über die nationale Wiedergeburt und schließlich in eine zukünftige demokratische Nationalgesellschaft mündend. Allan hingegen fordert diese Sichtweise durch seine Äußerungen heraus: Er wirft Michal bzw. dem tschechischen Kollektiv vor, den Anschluss an Europa versäumt zu haben, denn »v krisi husitství, ztratili [jste] vztah k mladému úsilí tehdejší renaissance« (NM 23) [in der Krise des Hussitismus habt ihr die Beziehung zum jungen Streben der damaligen Renaissance verloren]. Das heißt, die tschechische Geschichte, genauer: der Hussitismus, wird hier als Bruch mit der Entwicklung Westeuropas verstanden. Den Protestantismus stellt Allan als das eigentliche Problem der tschechischen Geschichte dar und dieser Protestantismus wird ganz klar national aufgeladen: »Čechy se vykrvácely za protestantism, za německý protestantism« (NM 24) [Böhmen verblutete am Protestantismus, am deutschen Protestantismus].
3.
Prag als historischer Raum
Gegen Ende des Dialogs schlägt Allan den Bogen noch einmal zurück zum Anfang, als Michal beklagt hatte, dass er keinen Platz, keine Bestimmung in Prag finde und deshalb die Stadt verlassen wolle. Allan formuliert ein mögliches Ziel, eine Aufgabe für Michal: »Hledal jste cíl. Což, je-li v tom, abyste nepřestával věřiti, ale doufal, a nadějí pracoval proti kletbě, kterou teď na sebe berete trpně a marně?« (NM 30) [Sie haben ein Ziel gesucht. Was, wenn es darin läge, dass Sie nicht aufhören würden zu glauben, sondern hoffen würden, und mit Hoffnung gegen den Fluch arbeiten würden, den Sie jetzt auf sich nehmen, passiv und nutzlos?]. Man befinde sich in einer Zeit, die zu einer Entscheidung und zum Kampf dränge (vgl. NM 31)20 , so Allan weiter. Darauf reagiert Michal schließlich mit einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft: Ach, Allane, ještě nemám odvahy chtíti, ale v mém srdci jest naděje jak zrna, klíčícího pod zemí. Odejdu ... Ale snad přece najdu místo, neznámé místo, které bude právo a určení? Zde, město pode mnou! A třeba o mně nebudeš věděti a
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Damit ist allerdings nicht der Erste Weltkrieg gemeint, wie in einer Anmerkung deutlich wird, in der Marten darauf hinweist, dass er die betreffenden Textstellen bereits vor dem Krieg geschrieben und nachträglich nicht geändert habe: »Neměním následující (ani jiných) passáží, napsaných před válkou: vyjadřují náladu určitých proudů intellektuálných, jež před 5-10 lety začaly se projevovati podivuhodně ujasněným úsilím o obrodu myšlení i života.« (NM 31) [Ich ändere nicht die nachfolgenden (oder andere) vor dem Krieg geschriebene Passagen: Ich bringe damit bestimmte intellektuelle Strömungen zum Ausdruck, die vor 5-10 Jahren begonnen haben, sich zu zeigen mit erstaunlich klarem Bemühen um die Erneuerung des Denkens und des Lebens.].
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nepřijmeš mne – ale má vůle bude silnější a má myšlenka nad tebou jak ruka, která ukazuje do výše. Noc je nad tebou, a měsíc jak stříbrná rakev visí v prostoru. Ale vím, že jest slunce a sladkost jitra, jež se rozvije jak leknín! (NM 33f.) Ach, Allan, noch habe ich nicht den Mut zu wollen, aber in meinem Herzen ist Hoffnung wie Körner, die unter der Erde keimen. Ich gehe fort ... Aber vielleicht finde ich dennoch einen Platz, einen unbekannten Platz, der Recht und Schicksal sein wird? Hier, die Stadt unter mir! Und vielleicht wirst du nichts von mir wissen und mich nicht aufnehmen – aber mein Wille wird stärker sein und meine Idee über dir wie eine Hand, die in die Höhe zeigt. Nacht liegt über dir, und der Mond schwebt wie ein silberner Sarg im Raume. Aber ich weiß, dass es die Sonne gibt und die Süße des Morgens, der sich wie eine Seerose entfaltet. Michals Pragbild hat sich im Verlauf des Dialogs gewandelt. Er sieht die Stadt nicht mehr als Ungeheuer, in dessen Schlund die Menschen von ihrem täglichen Leben aufgerieben werden, sondern kann nun ihre Schönheit wertschätzen. Antithetisch wird der Dunkelheit der Nacht mit dem sargähnlichen Mond das Licht der Sonne am Morgen gegenübergestellt. Die Pflanzensymbolik, hier in Form der Seerose, zieht sich durch den Text. Immer wieder wird das blühende und aus dem Boden wachsende Leben der Pflanzenwelt mit der aufkeimenden nationalen tschechischen Identität parallelisiert, wodurch diese als naturgegeben präsentiert wird.21 Als ›naturgemäß‹ erscheint am Ende des Dialogs auch Michals Verbindung zur Stadt Prag und zum Land, wenn sie von Allan bezeichnet wird als ihm quasi ›im Blut liegend‹: »Také vám zjeví […] možnost, povinnost, poslání ... Úděl v osudu tohoto města, této země, které patříte magnetismem krve.« (NM 33) [Auch offenbart sich euch […] die Möglichkeit, die Pflicht, die Sendung ... Die Bestimmung im Schicksal dieser Stadt, dieses Landes, denen ihr kraft des Magnetismus des Blutes (an-)gehört.]. Michal schöpft durch das Gespräch mit Allan neuen Mut und hat die Hoffnung, letztendlich doch noch einen Platz innerhalb der Stadt zu finden. Zwar will er Prag immer noch verlassen, jedoch nur auf Zeit, um eines Tages zurückzukehren und seine Bestimmung zu finden. Erstmals wendet sich Michal hier mit einer Anrede an die Stadt, was signalisiert, dass nun eine emotionale Verbindung hergestellt ist. Er tritt sozusagen ein in einen Dialog mit der Stadt, die er zu Beginn noch als undurchschaubares und bedrohliches Ungeheuer (vgl. NM 7f.) wahrgenommen hatte. Erst die Vermittlung durch den »selbstbewussten Fremden« [»sebejist[ého] cizinc[e]«] (Lantová 2000: 122) stiftet eine Verbindung zwischen Michal
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In ihrer Studie zur tschechischen Literatur und Ideologie geht Irina Wutsdorff auf die »sog. ›Blumensprache‹ (květomluva)« ein, die während der nationalen Wiedergeburt »die Vorstellungen vom eigenen kulturellen Schaffen« bestimmt habe (Wutsdorff 2017: 21).
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
und der Stadt(-geschichte), und eröffnet schließlich die Möglichkeit einer positiven Zukunft. Dadurch kann Michal zu einem neuen Selbstverständnis gelangen. Dieses Motiv, freilich mit einer etwas anderen Stoßrichtung, findet sich ebenfalls in Severins Gang in die Finsternis, hier ist es der Prager Deutsche Severin, der der Tschechin Zdenka die Stadt erschließt. In folgender längerer Textstelle werden eine Reihe historisch bedeutsamer Orte genannt und somit eine Vielzahl in die Vergangenheit zurückweisender Elemente präsentiert: Es kamen schöne Tage für sie [Zdenka]. Sie ging mit Severin in der Stadt umher, wie er es seit Jahren gewohnt war. Sie bekam jene Feinhörigkeit für die Geräusche und fernen Rufe in ihr, die ihm innewohnte und die er sie lehrte. An dem Geruche der Steine und des Pflasters erkannte sie die Straße, in der sie schritt, wenn sie die Augen schloß und sich von ihm führen ließ. Er erschloß ihr die monotone Schönheit in der Landschaft der Vorstädte, die Schauer des Wyschehrad mit den großen Steintoren, wo das Denkmal des heiligen Wenzelslaus stand. Sie lernte die Moldau lieben, wenn in der Dunkelheit die Lichter des Ufers auf dem Wasser schwankten, und den Duft des Teers auf den Kettenbrücken. Sie saß mit ihm in den Wirtshäusern der Kleinseite und war bezaubert von der breitspurigen Gemächlichkeit der alten Herren, die hier ihren Schoppen tranken. In dem dicken Zigarrenrauche verschwammen die Bogenwölbungen der niedrigen Decke, die Napoleonbilder an den Wänden in einem farblosen Grau. Sie besuchte mit ihm die Vikarka auf dem Hradschin, wo ein paar Armlängen von der Tür entfernt der Dom in die Höhe ragte, wunderliches Mauerzierat und Steinfiguren in den Nischen. Sie verstand allmählich die stille Sprache der Stadt, die Severin geläufiger war als dem Tschechenmädchen. Sie begriff, daß zwischen ihren gedunkelten Mauern, ihren Türmen und Adelshäusern, ihrer fremdartigen Abgestorbenheit eine verhaltene Phantastik mit ihm groß geworden war, daß er immer mit dem Gefühle die Straße betrat, daß ihn heute ein Schicksal22 erwarte. (Leppin 1988: 19f.) Weder Michal noch Zdenka haben eine Verbindung zur eigenen Geschichte, was sich in ihrem Verhältnis zu Prag ausdrückt, das zunächst entweder von Ablehnung oder Desinteresse geprägt ist. Über die Stadt, die als Erinnerungs- und Geschichtsdepot modelliert wird, kann dann allmählich die (eigene) historische Vergangenheit erschlossen werden. Die Stadt fungiert als eine Art Bindeglied zur eigenen Historie, aus der ein neues Selbstbewusstsein erwachsen kann. In beiden Texten geschieht dies mit Hilfe einer Mittlerfigur, die nicht der tschechischen Mehrheits-
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Auch der Wunsch nach einem großen Schicksal, nach einer Bestimmung und einem Sinn im Leben ist beiden Texten gemein. Sowohl Severin als auch Michal sind auf der Suche und leiden darunter, dieses Schicksal (noch) nicht gefunden zu haben.
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gesellschaft angehört: Allan ist ein ›Fremder‹, Severin gehört zur deutschsprachigen Bevölkerungsminderheit Prags. Im Falle von Nad městem wird der Grund für den verloren gegangenen Kontakt zur eigenen Geschichte in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg ausgemacht, übrigens wird bis in die heutige Zeit hinein diese historische Phase im Tschechischen auch als »temno« [Finsternis] bezeichnet.23 Das Besondere an Martens Darstellung ist, dass nicht so sehr ein geschichtliches Ereignis wie die Gegenreformation als große nationale Katastrophe dargestellt wird, sondern vielmehr der Umgang damit kritisch bewertet wird. Statt darüber in Selbstmitleid zu versinken (»jste zde všichni smutni« (NM 11) [ihr seid hier alle traurig]), sich von diesem »Fluch« [»kletba« (ebd.)] bestimmen zu lassen und die als Fremdherrschaft empfundene Zeit der Gegenreformation zu dämonisieren, sollten sich die Tschechen laut Allan lieber auf ihre westlich geprägte, lateinisch-barocke Vergangenheit besinnen (vgl. NM 12f.; NM 20) und einen schöpferischen Umgang damit finden (vgl. NM 16f.). Auf eine ähnliche Weise argumentierte auch der Historiker Josef Pekař, der den Einfluss Westeuropas auf die tschechische Geschichte betonte und, im Gegensatz zu Masaryk, nicht ein Fundament (den böhmischen Humanismus protestantischer Prägung), sondern eine Vielzahl kultureller, ökonomischer und politischer Umwälzungen als prägend für die tschechische Geschichte ansah. Einer katholisch-religiösen Überformung, wie Marten sie für die ›tschechische Frage‹ akzentuiert, begegnet man bei Pekař jedoch nicht. Marten ist also um eine ganz eigene Position inmitten der konkurrierenden Deutungen der tschechischen Geschichte im zeitgenössischen Diskurs bemüht und hat das Ringen darum in Nad městem zum Ausdruck gebracht.
4.
Prag als ästhetischer Raum
Michal prangert an, dass die Einwanderer, die über die Jahrhunderte nach Böhmen kamen, das Land ausgebeutet hätten: »[A] každý trhal, stravoval jako kus živé podstaty ubohé země, která dávala do vyčerpání, aniž kdo se dal jí, aby splatil, co vzal.« (NM 12f.) [[U]nd jeder riss, zehrte wie ein Stück des lebendigen Wesens des elenden Landes, das ihnen gab bis zur Erschöpfung, ohne dass jemand sich daran machte, ihm das zurückzuzahlen, was er genommen hatte.]. Michals negativer Sichtweise auf die (Migrations-)Geschichte der Böhmischen Länder stellt Allan die Schönheit Prags mit seinen prächtigen Bauwerken und Kunstschätzen gegenüber, die er vor allem als das Erbe der vielen Einwanderer 23
Das Wörterbuch der geschriebenen tschechischen Sprache verzeichnet den Begriff »temno« als die Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg und datiert die Begriffsbildung auf das Erscheinen des gleichnamigen Romans von Alois Jirásek Temno (1915) (vgl. Havránek 2011).
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
versteht. Das folgende längere Zitat verdeutlicht Allans Argumentationsweise, in der historische, ästhetische und nationale Diskurse miteinander verschränkt werden: Zanechali vám právě toto město, Prahu jak zkamenělé srdce prudkých, krvavých staletí, která se vybila nad vámi nezapomenutelně. Řekl jsem vám tuším kteréhosi dne, že jsem pochopil teprve zcela Bossueta zde, na vaší terasse: obnovenou gotiku protireformace, zase vyvřevší horoucnost a sílu Západu identickém pathosu Poznaní Boha a sebe24 , sršících barev Tintorettových a Grecových – a kamenného chorálu pod námi. […] [C]elé drama latinského ducha, zakleté v kráse, která od smavého záhonu tří kostelů před Karlovým mostem alejí jeho soch se pne k obrovské zelené růži Sv. Mikulaše a jeho pyšným čelem z víru paláců tvoří souzvuk velké linii hradu s kathedrálou, na niž rozkošná svévole postavila převracený smaragdový pohár měděné kupole jak maják vítězného světla! Jste umělec, Michale, neřeknete mi, co řekli jiní: že je vám cizí tato Krása, že vám byla vnešena a vnucena. Ne, je zcela vaše, a ti, kdo z ciziny o ní spolutvořili, sloužili vám. Neboť přešli, a jejich dílo vám zustalo, více: proměnilo se, aby bylo uplněji vaše, pijíc vaše mlhy a vaše slunce, splývajíc s vaši zelení a vaši oblohou ... Nemůžete necíciti, nemilovati tohoto odkazu a v něm doby, která vám jej vytvořila. (NM 13f.: Hervorhebung im Original) Sie haben euch diese Stadt hinterlassen, Prag als zu Stein gewordenes Herz heftiger, blutiger Jahrhunderte, die sich unvergesslich über euch entladen haben. Ich meine, Ihnen eines Tages gesagt zu haben, dass ich erst hier Bousset völlig begriffen habe, auf eurer Terrasse: die erneuerte Gotik der Gegenreformation, die wieder übersprudelnde Inbrunst und Kraft des Westens in demselben Pathos des Erkenne Gott und dich selbst und in den sprühenden Farben Tintorettos und Grecos – und des steinernen Chorals unter uns. […] [D]as ganze Drama des lateinischen Geistes, verwunschen in der Schönheit, die sich vom lächelnden Beet der drei Kirchen vor der Karlsbrücke über die Allee ihrer Statuen erstreckt bis zur großen grünen Rose des Heiligen Nikolaus und ihrer stolzen Stirn und aus dem Strudel der Paläste bildet sie [die Schönheit] einen Einklang mit der großen Linie der Burg mit der Kathedrale, auf der anmutige Üppigkeit den umgekehrten smaragdenen Kelch der kupfernen Kuppel errichtet hat wie einen Leuchtturm siegreichen Lichts! Ihr seid ein Künstler, Michal, und sagt mir nicht, was andere sagten: dass euch diese Schönheit fremd ist, dass sie hineingetragen und euch aufgezwungen wurde. Nein, sie ist ganz und gar die eure, und die, die aus der Fremde an ihr 24
Der französische Bischof und Autor Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704), der einen wichtigen Beitrag zur Geschichtsphilosophie leistete, verfasste als Prinzenerzieher für den Dauphin den Traité de la connaissance de Dieu et de soi-même [Traktat über die Erkenntnis Gottes und seiner selbst] und war ein erklärter Gegner des Protestantismus..
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mitschufen, dienten euch. Denn sie vergingen, und ihr Werk blieb, mehr noch: Es erstarrte zu Marmor und verwandelte sich, damit es völlig das Eure werde, euren Nebel trinkend und eure Sonne, verschmelzend mit eurem Grün und eurem Himmel ... Ihr könnt nicht sagen, ihr fühlt nicht, liebt nicht dieses Vermächtnis und in ihm das Zeitalter, das es euch erschaffen hat. Allan markiert Prag als Zentrum heftiger, teils blutiger geschichtlicher Umwälzungen. Vor allem jedoch schreibt er der Stadt eine katholische Identität zu. Er habe erst in Prag den Klassiker unter den französischen Kanzelrednern Bossuet verstanden, der ebenso glühend dem Katholizismus anhing, wie er den Protestantismus bekämpfte. Da einiges dafürspricht, dass es sich bei Allan um einen Franzosen handelt, lässt sich festhalten, dass Prag der Ort ist, an dem er das ›Eigene‹ im ›Fremden‹ erkennt. In den gotischen und barocken Bauwerken, deren Schönheit er wortgewaltig preist, spiegeln sich für Allan die Zeit der Gegenreformation, die westliche Tradition und der »lateinische Geist«. Er nennt die drei Kirchen im Zentrum – gemeint sein dürften die Teynkirche (Chrám Matky Boží před Týnem) und die St.-NikolausKirche (Kostel svatého Mikuláše) auf dem Altstädter Ring sowie die Salvatorkirche (Kostel nejsvětějšího Salvátora) direkt vor der Karlsbrücke –, die Karlsbrücke, die St.-Nikolaus-Kirche auf der Kleinseite (Kostel/Chrám svatého Mikuláše) und natürlich die Prager Burg mit dem Veitsdom (Katedrála svatého Víta). Auch heute sind dies die Orte, an denen die Prager Touristenströme zuallererst Halt machen. Gerade diese für das heutige Prag ikonisch gewordenen Orte stellt Allan heraus und schreibt ihnen einen westlichen, katholisch-lateinischen Geist zu. Ausführlich hebt er sie hervor als Landmarken »des siegreichen Lichts«, womit er sich unverkennbar der christlichen Lichtsymbolik, aber auch der Symbolik der Aufklärung25 bedient. Die Periode des Barock – d. h. in den Böhmischen Ländern auch: Gegenreformation und Rekatholisierung –, die nach der Schlacht am Weißen Berg mit der Herrschaft der Habsburger eingeleitet wurde, wird dadurch in ein positives Licht gerückt, deren »steinernes Vermächtnis« die Schönheit des gegenwärtigen Prag ist. Ein großer Anteil daran wird den Ausländern, die nach Prag kamen, zugeschrieben. Wiederum wird Prag so als kosmopolitisch markiert. Die ursprünglich ›fremden‹ Elemente sind mittlerweile an ein als »ihr« angesprochenes Kollektiv übergegangen. Durch die Substantiva »Nebel«, »Sonne«, »Grün«, »Himmel« werden die Bauwerke quasi naturalisiert, so dass eine Art »Nationallandschaft« entsteht, wie sie der tschechische Historiker Miroslav Hroch beschreibt: »Promítnutí národa do prostoru se ve 19. Století stalo jakousi všeobecnou kulturní potřebou,
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Vgl. dazu die tschechischen Begriffe für Aufklärung »osvícenství« und »osěvta« von »světlo« = »Licht«.
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
nejprve u státních národů, ale záhy také v masové fázi národních hnutí. […] Národní prostor byl chápán jako domov a měl proto své kvalitativní charakteristiky jako národní krajina.« (Hroch 2005: 32) [Die Projektion der Nation in den Raum wurde im 19. Jahrhundert zu einem allgemeinen kulturellen Bedürfnis, vor allem bei den Staatsvölkern, bald aber auch in den Nationalbewegungen, die zu Massenbewegungen geworden waren. […] Der nationale Raum wurde als Heimat verstanden und bezog von daher seine Merkmale als Nationallandschaft.]. Hervorzuheben ist, dass Marten, artikuliert durch Allan, der sich als der dominierende Dialogpartner entpuppt, dieser Nationallandschaft explizit auch von außen hinzugekommene, d. h. einstmals ›fremde‹ Elemente zurechnet. In einem nächsten Schritt ließe sich sagen, dass ›das Fremde‹ nicht nur nach Prag, sondern auch in die tschechische Nation ›eingewandert‹ ist. Statt Homogenität zu behaupten, werden also plurikulturelle Einflüsse, die in Prag ihre Spuren hinterlassen haben, als konstitutiver Bestandteil des Stadtraums und somit auch der tschechischen Kultur aufgefasst. Ähnlich formuliert es auch Arne Novák in seiner Rezension: »Dle jeho [Allana] pojetí Praha – a zde všude Praha zosobňuje celý národ – byla sama sobě nejvěrnější a zároveň duchově nejmohutnější, dokud žila a tvořila v románském rytířství, ve francouzké gotice, v latinském baroku zbavila se nejlepších možností, opovrhnuvší stykem se západní renaissanci XIV. a XVII. věku.« (Novák 1917: 579) [Seiner [Allans] Auffassung nach war Prag – und hier verkörpert Prag überall die ganze Nation – sich selbst am treusten und gleichzeitig geistig am stärksten, solange es in romanischer Ritterlichkeit, in der französischen Gotik, im lateinischen Barock gelebt und geschaffen hat, bis es sich der besten Möglichkeiten entledigt hat, indem es die Beziehung mit der westlichen Renaissance des XIV. und XVII. Jahrhundert verschmäht hat.]. Der Diskurs über die Schönheit Prags setzt sich in den »sprühenden Farben Tintorettos und Grecos« und darin, dass die Stadt als »steinerner Choral« bezeichnet wird, fort. Bezeichnenderweise spricht Allan Michal als »Künstler« an (NM 13), d. h. ihm wird eine gewisse Empfänglichkeit für die über ästhetische Wertzuschreibungen funktionierende Argumentation Allans zugesprochen. Es erscheint bemerkenswert, dass es der ›Fremde‹ Allan ist, der im Gegensatz zum Tschechen Michal in der Stadt zu lesen und ihre Schönheit zu erkennen sowie schließlich Michals Bild von Prag zum Positiven zu ändern vermag. Zunächst jedoch weist Michal Allan barsch zurück mit dem Argument, er sei ein Fremder: »Jste cizinec. Necítíte kletby, která na nás leží« (NM 11; Hervorhebung im Original) [Sie sind ein Ausländer/Fremder. Sie fühlen nicht den Fluch, der auf uns liegt]. Damit wird ein Wir behauptet, also eine kollektive Identität rhetorisch hergestellt, von der Allan ausgeschlossen ist. Im gesamten Dialog überwiegen in den Repliken die 1. und 2. Person Plural. Im Tschechischen steht letztere sowohl für »Sie«
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(Höflichkeitsform) als auch »ihr« (Plural).26 Allan verwendet in der Anrede durchgehend die 2. Person Plural und so verschwimmt bisweilen die Grenze zwischen dem angesprochenen Individuum (Michal) und dem Kollektiv (den Tschechen). Wie bereits erwähnt, hat Michal anfangs eine negative Sicht auf die fremden Einwanderer, die über die Jahrhunderte nach Prag und in die Böhmischen Länder gekommen sind und wirft ihnen vor, das Land ausgebeutet zu haben (vgl. NM 12, NM 14). Im Zuge der nationalen Wiedergeburt kommt dieser Strategie des Othering eine entscheidende Rolle zu: »Je weniger eine Gesellschaft bereits ein eigenes kulturelles Selbstverständnis, ein gemeinsam geteiltes Bewusstsein von sich selbst entwickelt hat, desto stärker grenzt sie sich von ihren realen oder fiktiven Feinden ab und umso stärker definiert sie sich als kulturelles Gegenmodell zu dem Bild, das sie vom Anderen entworfen hat.« (Bergem 2011: 182). In Nad městem kommt das Ringen um ein neues tschechisches Selbstverständnis, eine neue (gesellschaftliche und ästhetische) Ordnung zum Ausdruck, das sich auch in Abgrenzung gegen den und das Andere(n) vollzieht. Es ließe sich sagen, dass ›das Fremde‹ erst Ende des 19. Jahrhunderts als solches entworfen wird, wenn es im Zuge der tschechischen nationalen Wiedergeburt darum geht, ein ›Eigenes‹ mit Vehemenz zu postulieren. Marten lässt nun die Bewegung der nationalen Wiedergeburt hinter sich, ihm geht es in Nad městem um die Suche nach einer Neuordnung, die von Allan außerdem als ein gesamteuropäisches Anliegen charakterisiert wird: »Všecky národy dnes usilují zoufale o nový řád ducha a žití, stanete zase mimo toto úsilí rozhodné pro staletí?« (NM 27) [Alle Nationen streben heute verzweifelt nach einer neuen Ordnung des Geistes und des Lebens, steht ihr wieder für Jahrhunderte außerhalb dieser Anstrengung?]. Diese Suche nach einer neuen Ordnung erstreckt sich auch auf den Bereich der Kunst: Sie soll die Kultur des Fin de Siècle, als deren Anhänger sich Michal noch präsentiert, überwinden und die Décadence, der Marten sich zugehörig gefühlt hatte, bevor er sich 1912 von der Moderní revue lossagte, hinter sich lassen. Der radikale Individualismus, die Ablehnung jeglicher Konventionen und Ordnungen, die das Subjekt einschränken, die Neigung zum Anarchismus, wie sie die Décadence propagierte, kommen noch in Michals Haltung zum Ausdruck: »Vás nikdy neuchvátil sen svobody mimo každý zákon, chaos s rozkoší a hrůzou neznámého, o nesčíslných možnostech a nadějích bez hranic?« (NM 29) [Hat Sie nie der Traum der Freiheit außerhalb jedes Gesetzes ergriffen, das Chaos mit der Wolllust und dem Grauen des Unbekannten, mit unzähligen Möglichkeiten und Hoffnungen ohne Grenzen?]. Allan hingegen hat diese Phase überwunden, wie er sagt, und ist längst nicht mehr »marný, horký – psanec v svém nitru více nežli v světě, který 26
Beide Bedeutungen lassen sich in folgendem kurzen Satz beobachten: »Nejen ve vás ... jste zde všichni smutni« (NM 11) [Nicht nur in Ihnen [damit ist Allan angesprochen, U.M.] ... ihr seid [damit ist ein Kollektiv angesprochen, U.M.] hier alle traurig].
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
jsem obviňoval« (NM 29) [eitel, hitzig – ein Geächteter in meinem Innern mehr als in der Welt, die ich beschuldigte]. Im Text wird die dekadente Geisteshaltung also nach und nach dekonstruiert. Statt einer hypertrophen Innerlichkeit, statt Negation und Skepsis, die als charakteristisch für die Décadence präsentiert werden, fordert Allan eine Hinwendung zum Leben. Das Wesen einer solchen neuen Haltung formuliert er dabei nur vage, bringt aber eine nationale Komponente zum Ausdruck: Hledal jste cíl. Což, je-li v tom, abyste nepřestával věřiti, ale doufal, a nadějí pracoval proti kletbě, kterou teď na sebe berete trpně a marně? Naděje, že není ztracena pravda vašeho určení, že v hloubi národní bytosti jsou ještě všecky síly bytí i tvoření uchovány pro nejvyšší cíle: A až – snad – kteréhosi dne se prolomí kůra negace a skepse – - – kdož ví, jaký rozkaz slova neb činu najdete s úžasem na dně srdce, otevřeného náhle? (NM 30) Was, wenn es darin läge, dass Sie nicht aufhören würden, zu glauben, sondern hoffen würden, und mit Hoffnung gegen den Fluch arbeiten würden, den Sie jetzt auf sich nehmen, passiv und nutzlos? Die Hoffnung, dass das Recht Ihres Schicksals nicht verloren ist, dass in der Tiefe des nationalen Wesens noch alle Lebens- und Schaffenskräfte bewahrt sind für die höchsten Ziele. Und wenn erst – hoffentlich – eines Tages die Kruste der Negation und Skepsis durchbrochen wird – wer weiß, welche Weisung des Wortes oder der Tat Sie mit Erstaunen auf dem Grunde des plötzlich aufgeschlossenen Herzens finden? Diese Textstelle liest sich wie eine Absage an den sogenannten tschechischen »Märtyrer-Komplex« (vgl. Pynsent 1994: 190), den Masaryk in Česká otazka bemüht und der von dem französischen Historiker Ernest Denis angeregt ist. Für Masaryk zeichnet er sich dadurch aus, dass der bedeutendste Abschnitt der tschechischen Geschichte sowohl mit einem Martyrium begann als auch endete: dem des Heiligen Wenzel und dem des Jan Hus. Daraus sei eine Passivität erwachsen, die zum festen Bestandteil des nationalen Autostereotyps geworden sei (vgl. Masaryk 1969: 224f.)27 , was von Allan wiederholt kritisiert wird. Die tschechischen Dichter der Décadence, die in der Moderní revue publizierten, waren erklärte Gegner der nationalen Wiedergeburt insofern, als dass sie tschechische Autoren nicht mehr allein deshalb gelten ließen, weil sie auf Tschechisch schrieben. Stattdessen sahen sie Kunst und Literatur als internationale Unterfangen, die frei von jeder moralischen, sozialen oder nationalen Intention einen Wert
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Vgl. zu diesen Ausführungen auch das Kapitel »Masaryk and the Czech ›martyr complex‹« bei Robert Pynsent 1994: 190-196. Mit dieser Thematik und »Tschechischen Ansätzen zu einer mitteleuropäischen Poetik des Leidens« im Kontext der Décadence und der katholischen Moderne hat sich auch Gertraude Zand 2007 in ihrem gleichnamigen Aufsatz beschäftigt.
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an sich bilden. Indem sich nun aber die tschechische Kultur von der Wiedergeburt emanzipierte, sei die eigentliche Nicht-Existenz einer tschechischen Kultur evident geworden, so Vladimír Macura (vgl. Macura 1992: 106f.). Das heißt, dass sich für Marten nach seiner Abkehr von den Narrativen der Wiedergeburt und der Décadence die Frage nach dem Wesen einer neuen tschechischen Kultur und Kunst umso drängender stellte. Nad městem kann als Ausdruck dieses Ringens um eine (neue) tschechische Identität im Medium der Literatur gesehen werden. In diesem Zusammenhang wird Allan mit seiner Sicht auf die Welt als fortschrittlicher im Vergleich zu Michal präsentiert. Er hat die Stadien, von denen Michal spricht, bereits durchlaufen und infolgedessen hat sich auch das LehrerSchüler-Verhältnis der beiden Sprecher umgekehrt (vgl. NM 21). War es einst Michal, der als »učitel« [Lehrer] auftrat, zeigt der Dialog nun Allan als eine Art Mentor, der, darin Platon ähnlich, seinen Gesprächspartner zu neuen Erkenntnissen hinleitet. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass Allan aus der Position des Fremden heraus spricht. Dass vor allem Frankreich für die tschechische Moderne eine ausgeprägte Vorbildfunktion hatte, zeigt sich beispielsweise deutlich bei einem Blick auf die Rezeptionsgeschichte des über alle Maßen populären Gedichts Zone von Guillaume Apollinaire, das eine ganze Generation von Dichtern, wie die ČapekBrüder, Vítězslav Nezval, Jaroslav Seifert und viele andere, stark beeinflusste (vgl. dazu Bauer 2011). Die Diskussion über die Bedeutung der tschechischen Geschichte und über das »nationale Wesen« [»národní bytost« (vgl. NM 22)] stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Konzeption einer kollektiven (nationalen/tschechischen) Identität, für die die literarisch entworfene Stadt ein Vehikel ist. Ihre Schönheit wird explizit als Produkt auch ›fremder‹, d. h. aus der Fremde nach Prag gekommener Bewohner gekennzeichnet (vgl. NM 13f.).
5.
Prag als religiöser Raum
F. X. Šalda, dessen Briefwechsel mit Marten eine der aufschlussreichsten Quellen zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende ist (vgl. Kudrnáč 2000: 41), beginnt seine Rezension zu Nad městem, indem er auf die Buchgestaltung eingeht, die wie bei vielen von Martens Büchern Zdenka Braunerová besorgte (s. Abbildung 2): Její [Zdenky Braunerové; U.M.] lept jest kresba bojovného barokního archanděla tuším z Toskánského paláce na Hradčanech: štíhlý, křehký, okřídlený, baletnímu zjevu z opery podobný, s pernatým chocholem na hlavě, v ruce plápolavý meč, bližší thyrsu než nástroji vražednému, tanečním krokem stoupá nad dračí hlavu, hotový vrhnouti se na nové nepřátele. Jest to týž anděl, kterého apostrofuje essayista na konci své knížečky. (Šalda 1917: 181)
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
Ihre [Zdenka Braunerovás, U.M.] Radierung ist die Abbildung eines kämpfenden barocken Erzengels, ich meine aus einem toskanischen Palast auf dem Hradschin: schlank, zart, geflügelt, ähnlich einer Balletterscheinung aus der Oper, mit einem gefiederten Federbusch auf dem Kopf, in der Hand ein flackerndes Schwert, näher einem Thyrsos als einem Mordinstrument, mit tanzendem Schritt steigt er über den Drachenkopf, bereit sich auf einen neuen Feind zu werfen. Dies ist derselbe Engel, den der Essayist am Ende seines Büchleins erwähnt.
Abbildung 2: Radierung von Zdenka Braunerová
Quelle: Miloš Marten (1917): Nad městem [Über der Stadt]. Dialog. Praha: Ludvík Bradáč na Král. Vinohradech.
Damit bezieht sich Šalda auf die Vision Allans, die am Ende des Dialogs steht: Dnes ráno vyšed, viděl jsem na nároží starého paláce vášnivý emblém archanděla s mečem, jak blesk se řítícího se výše, do bílého moře letního jitra, proti vojsku
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neviditelného nepřítele. Jinocha či ženu, změněné v tryskající oheň, v oheň bojovného zápalu a vítězné vůle. Archanděla nad městem, hrozbu ďáblům, kteří v něm hnízdí, slib a naději uvězněné duše, která v něm žije! (NM 34) Heute Morgen hinausgegangen, sah ich an der Ecke eines alten Palastes ein phantastisches Emblem des Erzengels mit Schwert, wie ein Blitz aus der Höhe hinunterstürzend in das weiße Meer des Sommermorgens, gegen das Heer eines unsichtbaren Feindes. [Sah ich] den Jüngling oder die Frau, verändert im strahlenden Feuer, im Feuer der kämpferischen Glut und des siegreichen Willens. Den Erzengel über der Stadt, Bedrohung für die Teufel, die in ihr nisten, Versprechen und Hoffnung für die gefangen genommene Seele, die in ihr lebt! Schon der Name Michal verweist auf den Erzengel Michael, der sowohl im Alten als auch im Neuen Testament auftritt. In letzterem besiegt er den Teufel in Gestalt eines Drachen (vgl. Offenbarung 12,7-9) und damit kommt ihm, der meist mit einem Flammenschwert als Attribut dargestellt wird, in der christlichen Tradition eine zentrale Rolle im Kampf zwischen Gut/Licht und Böse/Dunkelheit zu. In der Vision Allans, mit der der Text endet, wird der Erzengel zum Beschützer und Befreier der Stadt, der mit seinem Flammenschwert über deren Feinde triumphiert. Dabei befindet er sich, wie könnte es anders sein, »über der Stadt« [»nad městem«]. In diesem Szenario klingt die Sage vom Flammenschwert an, das auf der Karlsbrücke versteckt ist und erscheint, wenn das Volk in Not ist, um die schlafenden Blaník-Ritter zu Hilfe zu rufen.28 Darauf gehen Václav Petrbok und Jan Randák in ihrem Aufsatz »Die Stadt als realer und symbolischer Raum der nationalen Identität« (2010) ein und zitieren aus der Bildpublikation Rudolf Jaroslav Kronbauers zur Jubiläumsausstellung 1891 in Prag.29 Der Legende nach erscheint das Flammenschwert, »wenn die Tschechen kein bisschen Platz mehr für sich haben werden, ja nicht einmal ein hartes Stück Fels, auf den sie wie Christus ihr müdes Haupt betten könnten«.30 Das geradezu apokalyptische Arrangement – der Himmel über Prag
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Die Legende der Blaník-Ritter behandelt auch das letzte Kapitel von Alois Jiráseks Staré pověsti české (1894), außerdem trägt die sechste und letzte sinfonische Dichtung von Smetanas Má vlast [Mein Heimatland] den Titel Blaník. Die Prager Landes-Jubiläumsausstellung 1891 im Prager Stadtteil Holešovice fand als Messe der tschechischen Wirtschaftsträger und der Industrie der Donaumonarchie statt. Im Zuge der Ausstellung, die nicht zuletzt den Ideen der tschechischen Nationalbewegung Rechnung trug, entstanden eine Reihe bedeutender Bauten, so etwa der Aussichtsturm Petřín und die Standseilbahn sowie der Industriepalast (Průmyslový palác) auf dem Prager Ausstellungsgelände (Výstaviště Praha). »Češi nebudou mít kouska místa, ba ani té tvrdé skály, kam by jako Kristus Pán znavenou svou hlavu položili.« (Kronbauer 1892: 10, zit. n. Petrbok/Randák 2010: 38).
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
verdüstert sich genau um Mittag, die Sonne versinkt – erreicht seinen symbolischen Höhepunkt mit der Erscheinung des Flammenschwerts, das über dem Hradschin schwebt und Richtung Blaník weist, um »in dessen Innern die dort seit undenklichen Zeiten in goldenen, edelsteinbesetzten Rüstungen schlafenden Ritter des hl. Wenzel zu wecken, damit sie dem unglücklichen, verwaisten tschechischen Land zu Hilfe eilen.«31 Was den kämpferischen Gehalt der zeitgenössischen Nationalismen betrifft, so lohnt der Hinweis, dass die Blaník-Ritter hier offenbar eine Art Vertreterfunktion erfüllen. Sie stehen für die reale Bereitschaft der Nation, zu den Waffen zu greifen, wenn das Land sich bedroht fühlt. (Petrbok/Randák 2010: 38f.) Die Ähnlichkeiten zwischen Allans Vision und Kronbauers Nacherzählung der Legende sind augenfällig: Es ist die Rede davon, keinen »Platz« mehr zu haben, zentraler Ort ist der Prager Hradschin, hinzu kommt die Darstellung Tschechiens als unglückliches, ausgebeutetes Land. Die Passage um den Erzengel Michael, in dem sich ein Alter Ego Michals erkennen lässt (vgl. hierzu auch Nekula 2017: 15), ist zwar inspiriert von der Sage um die Blaník-Ritter, jedoch stellt Marten diese mittels des Engels in einen christlichen Kontext. Prag wird somit markiert als der Ort, an dem Gut und Böse aufeinandertreffen und sich der Kampf beider Mächte (Gott/Teufel) um die Seele abspielt, aus dem der Erzengel siegreich hervorgeht. Dies lässt sich als Aufruf an die Tschechen zu einem aktiven Eingreifen in ihr Schicksal verstehen, anstatt im passiv-leidenden Trauma des »pád« (vgl. NM 19) zu verharren. Da Prag zuvor als »rodné město západu« (vgl. NM 12) [Geburtsstadt des Westens], des »lateinischen Geistes« (vgl. NM 13) und durch die Nennung der großen Prager Kirchen (ebd.) als religiös geprägter Raum charakterisiert wurde, scheint in Verbindung mit der Erzengel-Vision die zunächst vage gebliebene neue Ordnung der Kunst und der Gesellschaft in Richtung des renouveau catholique zu weisen. 32 In einem nächsten Schritt verknüpft Allan Michals Schicksal mit dem Schicksal Prags und des Landes: »Také vám zjeví […] možnost, povinnost, poslání ... Úděl v osudu tohoto města, této země, které patříte magnetismem krve.« (NM 33) [Auch offenbart sich euch […] die Möglichkeit, die Pflicht, die Berufung ... Die Bestimmung im Schicksal dieser Stadt, dieses Landes, denen ihr kraft des Magnetismus des Blutes angehört.]. Allan verweist weiterhin auf die gesamteuropäische – und damit kosmopolitische – Prägung des renouveau catholique: »Je nás mnoho ve všech koutech Evropy, 31
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»probudil v jeho útrobách ve zlatém a drahokamy psetém brnění od nepamětých dob spící svatováclavské rytíře a zavolal je na pomoc nešťastné a osiřelé zemi české« (zit. n. Petrbok/Randák 2010: 38f.). Der in Frankreich entstandenen, später gesamteuropäischen literarischen Bewegung gehörte auch der von Marten verehrte Paul Claudel an.
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nazývané starou, ale ještě nevyčerpané v pramenech vůle – nikdo neví, jak mnoho je nás čekajícich zavolání rozkazu polnice, nad dávnými bojišti!« (NM 33) [Wir sind viele in allen Ecken Europas, alt genannt, aber noch nicht erschöpft in den Quellen des Willens – niemand weiß, wie viele wir sind, wartend auf den Rufbefehl der Feldtrompete, über den längst vergangenen Schlachtfeldern.].
Resümee Durch den Hinweis auf einen längst vergangenen Glaubenskrieg wie den Dreißigjährigen Krieg, der im Text wiederholt thematisiert wird, verschränkt Marten im Zeichen der Suche nach einer neuen Ordnung Diskurse über Geschichte, Religion, nationale sowie kollektive Identitäten und Kunst miteinander. Was, auch bei Masaryk, als Tradition des Humanismus erscheint, wird in Nad městem als Modernismus spezifischer Prägung, nämlich eines analytischen, säkularen Denkens, ausgestellt und kritisch bewertet. Marten macht deutlich, dass dieser Modernismus etwas aus der Geschichte verdrängt hat, das nun wiederbelebt werden soll, und zwar den katholischen Geist. Darin zeigt sich Marten beeinflusst von den Ideen Paul Claudels und der katholischen Moderne. Diese soll das Chaos (der Moderne) überwinden (»překonáním chaosu«) durch den »Wille[n], der Harmonie mit dem höheren Willen und dadurch Lebensordnung und Lebenssinn schafft« [»Vůlí, která tvoří soulad s vyšší vůlí a jím řád i smysl života« (NM 28)]. Das Leben im Einklang mit Gottes »höherem Willen« stiftet demnach Ordnung und Sinn. Marten wendet sich mit Nad městem also von der Strömung der Décadence ab und hin zur katholischen Moderne. Dazu ist es für ihn notwendig, sich von den geschichtsphilosophischen und religionsgeschichtlichen Positionen, die in der nationalen Wiedergeburt wurzeln, zu distanzieren und zu einer Neubewertung der tschechischen nationalen Identität zu gelangen, was Marten – vermittelt über den Prager Stadtraum – in seinem Dialog unternimmt. Aus diesem Grund ist Marek Nekula zu widersprechen, wenn er die Meinung vertritt, der Text sei frei von nationalen Tendenzen. Zur Darstellung Prags in Nad městem bemerkt er: »Das ist kein nationales Idyll, kein mit Geschichte aufgeladener Raum, sondern ein modernes, beinahe expressives Bild einer Stadt, die von alltäglicher Arbeit und der Jetztzeit geprägt ist. Damit geht Marten auf Distanz zum historisierenden Diskurs und Historismus, die sich so stark und prominent des Prager Stadtraumes bemächtigen« (Nekula 2018: 270). Ich hingegen würde für eine Synthese dieser von Nekula als Gegensätze aufgefassten Darstellungsweisen plädieren: Marten zeichnet Prag sehr wohl als »mit Geschichte aufgeladene[n] Raum«. Darüber hinaus leistet er mit seinem Dialog einen ganz eigenen Beitrag zum Diskurs über den tschechischen Historismus, zeigt die Stadt aber gleichzeitig auch als moderne Metropole. Freilich wird hier kein »nationales Idyll« vorgestellt,
V. Prag als Ort der tschechischen Geschichte
vielmehr ist dem Text das Ringen um ein neues tschechisches Selbstverständnis anzumerken, das auch das Erbe anderer nationalkultureller Traditionen zu integrieren versucht. Dabei geht es Marten nicht um Distanznahme, sondern gerade um eine Synthese von Vergangenheit und Gegenwart, um mit neuem Selbstbewusstsein hoffnungsvoll und aktiv in die Zukunft gehen zu können.33 Abschließend bleibt festzuhalten, dass in Nad městem die Stadt zum Labor wird, in dem verschiedene Lesarten der tschechischen Geschichte erprobt werden. Die literarisch entworfene Stadt ist Ausgangs- und Zielpunkt für die ›česká otazka‹, die Frage nach einer tschechischen Identität. Geschichtsphilosophische, religionsund kulturgeschichtliche Positionierungen werden im Rahmen des literarisierten städtischen Koordinatensystems ausgetestet und diskutiert. Einzelne Zeitschichten, die sich in der Architektur manifestiert haben, werden freigelegt und gemäß der Vorstellung von der lesbaren Stadt (um-)gedeutet. Der Stadtraum als Stein gewordene Geschichte bildet den Anlass für Reflexionen über die eigene Identität – im Kontext religiöser, nationaler, kultureller sowie ästhetischer Bezugssysteme. Dies geschieht vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten um ein tschechisches Selbstverständnis, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im spor o smysl českých dějin Bahn brechen und bis in die 1930er Jahre fortsetzen. Dabei ermöglicht der Standpunkt ›über der Stadt‹ die dafür notwendige Vogelperspektive, den überblickhaften, distanzierten Blick von oben. Martens Pragbild schwankt dabei zwischen einem historisierenden Zugriff auf den Stadtraum, in dem sich verschiedene Zeitschichten ablesen lassen, und dem Bild einer modernen Großstadt. Hinzu kommen religiöse (s. biblische Anspielungen, herausgehobene Darstellungen der Prager Kirchen), mythisierende (s. Sage der Blaník-Ritter) und ästhetische (s. Prag als (Gesamt-)Kunstwerk, an dem Generationen von Menschen mitgewirkt haben) Dimensionen des literarischen Stadtraums. Marten zeichnet also ein vielschichtiges Pragbild, indem er ein komplexes Geflecht aus historischen und kulturgeschichtlichen Diskursen webt, innerhalb dessen er dann den Versuch einer nationalkulturellen und künstlerischen Neuorientierung unternimmt.
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Zustimmen lässt sich – zumindest partiell – folgender Schlussfolgerung Marek Nekulas: »Insofern erscheint Michal als Erzengel mit dem Schwert nicht als der, der die Stadt wecken, sondern der sie lediglich – ohne konkret zu werden – befreien möchte. So wie die Stadt gezeichnet wird, geht es weniger um eine nationale als um eine modernistische Befreiungsagenda, zu der auch die Säuberung der Stadt vom nationalen Ballast gehört« (Nekula 2018: 270). In der Tat geht es um eine »modernistische Befreiungsagenda«, d. h. im Sinne einer ästhetischen und poetologischen Neuausrichtung. Marten stellt das ästhetische Konzept der Décadence als überwunden dar und sucht nach einer neuen Form des künstlerischen Ausdrucks. Nichtsdestotrotz ist dabei die Verschränkung mit nationalen Narrativen an vielen Stellen klar belegbar, wie ich zu zeigen versucht habe.
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VI. Prag als neue Hauptstadt: F. C. Weiskopf Das Slawenlied (1931) und Richard Weiner Třásničky dějinných dnů [Fragmente historischer Tage] (1918/1919) Vorbemerkungen Im folgenden Kapitel werden Richard Weiners Feuilletons Třásničky dějinných dnů [Fragmente historischer Tage] und F. C. Weiskopfs Roman Das Slawenlied einander gegenübergestellt. Den Ausgangspunkt für die komparatistische Analyse bildet dabei die Schilderung der Geburtsstunde der Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918. Richard Weiners Třásničky dějinných dnů1 [Fragmente historischer Tage]2 erschienen zwischen 1918 und 1919 in den Lidové noviny, sind also durch unmittelbare zeitliche Nähe zu den Geschehnissen gekennzeichnet. Sie wurden meist wenige Tage nach den Ereignissen veröffentlicht, auf die sie direkt Bezug nehmen. Der erste Teil der Feuilletons ist in der Werksausgabe mit »Prag, begeistert und närrisch« [»Praha nadšená a bláznivá«] überschrieben, was bereits darauf hinweist, dass die hier personifizierte Stadt eine zentrale Stellung einnimmt. Demgegenüber schildert Franz Carl Weiskopf in seinem 1931 erschienenen Slawenlied3 mit einigem zeitlichen Abstand »die letzten Tagen Österreichs und die ersten Jahre der Tschechoslowakei«, wie es im Untertitel heißt. Dabei spielt der Prager Stadtraum eine tragende Rolle – nicht nur als Folie, vor der sich die politische Haltung des Protagonisten entwickelt, sondern als bedeutungstragender
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Richard Weiner (2002): Třásničky dějinných dnů. In: Ders.: Spisy 4. Praha: Torst, S. 7-55. Im Folgenden wird hierfür die Sigle »TDD« verwendet. Wörtlich: »Fransen historischer Tage«. Die deutschen Übersetzungen stammen, falls nicht anders angegeben, von Silke Klein aus: Richard Weiner (2005): »Fragmente historischer Tage«. In: Kreuzungen des Lebens. Hg. v. Steffi Widera. München: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 171197. Im Folgenden wird hierfür die Sigle »FHT« verwendet. Franz Carl Weiskopf (1931): Das Slawenlied. Roman aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakei. Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag. Im Folgenden wird hierfür die Sigle »SL« verwendet.
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Raum, an und in dem die Transformation eines politischen und gesellschaftlichen Systems literarisch zur Darstellung gebracht wird. Die erzählte Zeit erstreckt sich vom Frühjahr 1918 bis zum Herbst 1920, umfasst also rund zweieinhalb Jahre. Der Form nach handelt es sich um einen modernen Großstadtroman, der sich an vielen Stellen der Montagetechnik bedient. Immer wieder sind amtliche Bekanntmachungen, Zeitungsartikel, Anschläge an Litfaßsäulen, Schilder oder Plakataufschriften eingestreut. Durch die eingeflochtenen Gespräche zwischen den Stadtbewohnern wird Vielstimmigkeit und Multiperspektivität erzeugt, wobei die Sicht des Ich-Erzählers, auf dessen Entwicklung der Schwerpunkt liegt, dominiert. Ebenso zeichnen sich Weiners Feuilletons durch eine autodiegetische Erzählsituation aus. Da sowohl die Feuilletons als auch der Roman durch eine besondere Nähe zur Stadt und ihren Imagines geprägt sind, stehen in der Analyse die Transformationen des Prager Stadtraumes im Mittelpunkt, wie sie von beiden Autoren beschrieben werden. Der urbane Raum wird dabei im Sinne Lefebvres als Produkt sozialer Beziehungen und Praktiken aufgefasst (vgl. Lefebvre 2006). Die Republikgründung bedeutete gleichzeitig das Ende der Donaumonarchie und hatte somit Auswirkungen auf bisherige kollektive Identifikationsprozesse, so dass auch die Frage nach der Positionierung der Protagonisten innerhalb des neu entstehenden Staates in der Betrachtung eine Rolle spielen wird. Die Stadt als von Individuen und Kollektiven bewohnter Raum ist immer schon eine sozial und kulturell bestimmte Räumlichkeit (vgl. u. a. Heyl 2013). Ihre Bewohner bewegen sich entlang materieller und symbolischer, lesbarer Zeichen – wie es z. B. Wege, Plätze und Denkmäler sind – durch den urbanen Raum. Dadurch wird die Stadt zum »Ausdrucks- und Symbolträger für soziale und kulturelle Ordnungsmuster« (Stachel 2007: 15). Die sich daraus ergebende Verbindung zwischen der Stadt und ihren Bewohnern hat Maurice Halbwachs herausgearbeitet: Wenn zwischen den Häusern, den Straßen und den Gruppen ihrer Bewohner nur eine rein zufällige Beziehung von kurzer Dauer bestände, könnten die Menschen ihre Häuser, Stadtviertel, ihre Stadt zerstören und auf dem selben Grund eine andere Stadt nach einem andersartigen Plan wiederaufbauen; aber wenn die Steine sich auch versetzen lassen, so kann man doch nicht ebenso leicht die Beziehungen verändern, die zwischen den Steinen und den Menschen entstanden sind. (Halbwachs 1967: 133f.) Diese »Steine« tragen also Bedeutung, wie sich am Phänomen des Denkmals veranschaulichen lässt. Das Denkmal, als ein bewusst gesetztes Zeichen im urbanen Raum, kann als meist auf ein Kollektiv bezogene Sichtbarmachung einer sinnhaften Bedeutungsstruktur aufgefasst werden. So kann das Denkmal Erinnerungskulturen visualisieren. Wie und was erinnert wird, hat wiederum Auswirkungen auf kollektive Identifikationsprozesse. In der Deutungshoheit über die »Steine« –
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der Straßen, der Häuser, der Denkmäler, kurzum: der Städte – als Medien des Gedächtnisses spiegeln sich zudem politische Macht und Herrschaft wider. Aus diesem Grund gehen politische Machtwechsel häufig mit Denkmalstürzen einher. Mit anderen Worten: Politische Umwälzungen und Brüche manifestieren sich nicht nur im Stadtbild, vielmehr ist die Transformation der Stadt ein ganz entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer neuen (politischen und gesellschaftlichen) Ordnung. In der folgenden komparatistischen Analyse soll daher nach der literarischen Inszenierung eines ganz konkreten politischen Systemwechsels gefragt werden: dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns und der Gründung der Tschechoslowakei. Im Zentrum stehen dabei die Neuordnung des urbanen Raums und die damit einhergehenden erinnerungs- und identitätspolitischen Implikationen. Dass Weiner und Weiskopf dabei unterschiedliche politische Positionen einnehmen und ihre Texte trotz vieler ins Auge stechender Parallelen unterschiedliche Stoßrichtungen haben, wird im Folgenden gezeigt. Beide Texte operieren mit Strategien dokumentarischen Schreibens, um ihren Anspruch auf Authentizität, Augenzeugenschaft und die Darstellung von Wirklichkeit zu bekräftigen.4 Sie kommen als literarisierte Tatsachenberichte daher, in denen der Erzähler als erlebendes Individuum präsentiert wird, der das Geschehen aus seiner Perspektive schildert. Um einen hohen Grad an Authentizität zu erreichen, weisen beide Texte eine Vielzahl außerliterarischer Referenzen auf. Trotzdem die Texte sehr realistisch und unmittelbar wirken, gilt, dass sie zwar Wirklichkeit rekonstruieren können, sie jedoch nicht abbilden, und zwar insofern, als im Prozess des Schreibens immer schon eine Selektion und eine Bearbeitung der außerliterarischen Ereignisse stattfindet, wie Lotman und Uspenskij bemerkt haben: Da die Auswahl der der Erinnerung unterliegenden Fakten jedesmal auf der Basis bestimmter semiotischer Normen der entsprechenden Kultur erfolgt, muß man sich davor hüten, lebensweltliche Ereignisse und Text gleichzusetzen, wie »aufrichtig«, »wenig kunstfertig« oder unmittelbar der Text auch erscheinen mag. Der Text ist nicht die Wirklichkeit, sondern Material zu ihrer Rekonstruktion. (Lotman/Uspenskij 1986: 859) Für die 1920er Jahre lässt sich im Zuge der Neuen Sachlichkeit beobachten, dass immer mehr Romane Anspruch auf Authentizität erhoben und mit der Schilderung realer Personen und Begebenheiten darauf abzielten, die ›Wirklichkeit an sich‹ darzustellen (vgl. dazu Uecker 2007: 259ff.), was sich vor allem in einer Vielzahl von
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In der »Anmerkung« zum Slawenlied bringt Weiskopf diesen dokumentarischen Anspruch zum Ausdruck: »Dieses Buch ist ebensowenig eine Autobiographie wie ein Schlüsselroman, wenn auch jedes Ereignis wirklich erlebt und keine Person frei erfunden ist. Die Proklamationen, Artikel und Bekanntmachungen sind, mitunter mehr oder weniger gekürzt, nach den Originalen bzw. deren Übersetzungen zitiert« (SL 377).
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Zeit- und Kriegsromanen niederschlug. Der Prager ›rasende Reporter‹ Egon Erwin Kisch erklärte diese Wendung zum Dokumentarischen 1929 folgendermaßen: Nach dem Krieg sind alle Romankonflikte nichtig geworden, gemessen an den überwältigenden Erlebnissen des Weltkriegs. In den Jahren des Weltkriegs hat jede Familie, jeder einzelne grausame Romankonflikte durchlebt, jeder mußte für sich allein schwierigere Fragen lösen als diejenigen, von denen er jemals in Büchern gelesen hatte, kurz, jeder Mensch hat seinen eigenen Roman erlebt, ja möglicherweise mehrere Romane gleichzeitig. (Kisch 1985: 437)5 Der Erlebnischarakter und die Authentizitätsbehauptung sind wesentliche Merkmale der beiden zu untersuchenden Texte, die sich auf Grund der dokumentarischen Schreibweisen zwischen Literatur und Publizistik einordnen lassen (vgl. weiterführend dazu Uecker 2007: 52ff.). Dass das Feuilleton eine besondere Nähe zur Stadt und ihren Bildern kennzeichnet, zeigt bereits ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte der Gattung. Das Feuilleton nahm seinen Anfang im Frankreich des 18. Jahrhunderts und war von Beginn an ein urbanes Genre, das primär das damalige Pariser Kulturleben thematisierte. In diesem Zusammenhang bildete sich auch die Figur des Flaneurs heraus, die Louis Sébastien Mercier im Tableau de Paris (1782) einführte. In den 1920er Jahre gelangte das deutschsprachige Feuilleton dann in Berlin mit den Flaneur-Feuilletons von Franz Hessel, mit Siegfried Kracauer und Walter Benjamin zu einer Blüte. Zur gleichen Zeit waren die Feuilletons von Egon Erwin Kisch für den Prager Kontext von Bedeutung.6 In ihrer Dissertation formuliert Blanka Mongu für das Verhältnis von Stadt und Feuilleton: Der Stadtraum ist der Entstehungsort und zugleich der Bezugspunkt des Feuilletons. Sein Verfasser, der Flaneur, begab sich zunächst als Müßiggänger, später wie ein Detektiv auf Entdeckungstour durch den urbanen Raum. Beim Schreiben verband er das Gesehene mit dem Wissen über die Stadt, die er selbst erlebte und hinter deren Oberfläche er blickte. Im Sinne Hessels wurde das Schreiben zum Entdecken und das Feuilleton zum Stadtführer nicht nur durch die wirkliche bzw.
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Der Text mit dem Titel »Roman? Nein, Reportage« erschien am 5. Dezember 1929 zuerst auf Tschechisch in der Zeitschrift Čin, die zwischen 1929-1938 von der Druck- und Verlagsgenossenschaft tschechoslowakischer Legionäre [Tiskové a nakladatelské družstvo Československých legionářů] in Prag herausgegeben wurde. Marie Majerová war Leitende Redakteurin; zu den Autoren der Zeitschrift gehörten u. a. František Halas, František Hrubín, Jindřich Hořejší, Jindřich Chalupecký sowie Ivan Olbracht, Josef Čapek und Pavel Eisner. Den engen Konnex zwischen Stadt und feuilletonistischem Schreiben belegen u. a. Jäger/Schütz 1999 in ihrer Studie zum Berlin der Weimarer Republik und zu Wien, Kauffmann 1994 für Wien und die Wiener Feuilletons.
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gelebte Stadt, sondern auch durch die imaginierte Stadt. Daher sind diese Texte als Geschichts- und Gesellschaftsführer zugleich zu verstehen. (Mongu 2012: 34) Für die Untersuchung des städtischen Raums in Weiners Třásničky und Weiskopfs Slawenlied bietet Henri Lefebvres Raumverständnis, das er in seiner Theorie der Produktion des Raums entwickelt, Anschlussmöglichkeiten insofern, als für ihn »der (soziale) Raum ein (soziales) Produkt ist« (Lefebvre 2006: 330; Hervorhebung im Original). Das bedeutet, der »(physische) Naturraum« wird aufgefasst als »Rohstoff [matière première], auf den die Produktivkräfte der verschiedenen Gesellschaften eingewirkt haben, um ihren Raum zu produzieren« (ebd.; Hervorhebung im Original). Der Raum ist dadurch ein historisches Produkt, in das sich die »Geschichte und ihre Folgen« einschreiben (a.a.O.: 334). Folglich produziert jede Gesellschaft mit den ihr eigenen Charakteristika ihren ganz eigenen Raum. Der soziale Raum enthält, indem er ihnen ihre (mehr oder weniger) geeigneten Orte zuweist, die sozialen Reproduktionsverhältnisse [rapports sociaux de reproduction], d. h. die bio-physiologischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, den Altersstufen sowie die jeweilige Organisation der Familie, und die Produktionsverhältnisse, d. h. die Aufteilung und Organisation der Arbeit, also die hierarchisierten sozialen Funktionen. […] Auch die Repräsentationen der Produktionsverhältnisse, die Machtbeziehungen beinhalten, finden im Raum statt, und der Raum enthält solche Repräsentationen in den Gebäuden, den Denkmälern und den Kunstwerken. (Lefebvre 2006: 331ff.; Hervorhebungen im Original) Das Kernstück von Lefebvres Raumtheorie ist die Dreiheit des Raumes aus räumlicher Praxis, Raumrepräsentationen und Repräsentationsräumen. In diesem triadischen Modell stellt er Analysekategorien bereit, mit denen sich die Wechselbeziehungen zwischen wahrgenommenem (»espace perçu«) (a.a.O.: 335), konzipiertem (»espace conçu«) und gelebtem (»espace vécu«) (a.a.O.: 336) Raum beschreiben und aufeinander beziehen lassen. Die räumliche Praxis, also das Wahrgenommene, »setzt ihn [den Raum, U.M.] und setzt ihn gleichzeitig voraus« (a.a.O.: 335). Räumliche Praxis, das ist »die Alltagswirklichkeit […] und die städtische Wirklichkeit (die Wegstrecken und die Verkehrsnetze […])« (ebd.). Die Raumrepräsentationen, also der konzipierte Raum, ist »der Raum der Wissenschaftler, der Raumplaner, der Urbanisten, der Technokraten […], die das Gelebte und das Wahrgenommene mit dem Konzipierten identifizieren […]. Dies ist der in einer Gesellschaft (einer Produktionsweise) dominierende Raum.« (a.a.O.: 336). Diese Raumkonzeptionen neigen laut Lefebvre zu einem »System verbaler, also verstandesmäßig geformter Zeichen« (ebd.). Die Repräsentationsräume, also den gelebten Raum, hingegen versteht Lefebvre als Raum der ›Bewohner‹, der ›Benutzer‹, aber auch bestimmter Künstler, vielleicht am ehesten derjenigen, die beschreiben und nur zu beschreiben glauben: die
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Schriftsteller und die Philosophen. Es ist der beherrschte, also erlittene Raum, den die Einbildungskraft zu verändern und sich anzueignen sucht. Er legt sich über den physischen Raum und benutzt seine Objekte symbolisch – in der Form, dass diese Repräsentationsräume offensichtlich […] zu mehr oder weniger kohärenten nonverbalen Symbol- und Zeichensystemen tendieren. (Lefebvre 2006: 336; Hervorhebung im Original) Die drei Dimensionen der Raumproduktion sind dialektisch miteinander verbunden und können nicht isoliert voneinander betrachtet werden.7 So können etwa Denkmäler als Raumrepräsentationen in Lefebvres Sinne aufgefasst werden, die von einem »stets relativen und sich verändernden Wissen (einer Mischung aus Erkenntnis und Ideologie) durchdrungen« (a.a.O.: 339; Hervorhebung im Original) sind. Die Räume der Repräsentation hingegen werden durch Bedeutungszuschreibungen erzeugt. Die räumliche Praxis schließlich ist nicht losgelöst von den Benutzern der Stadt zu denken. Daraus ergibt sich laut Lefebvre, dass man »nicht nur die Geschichte des Raums untersuchen [müsste], sondern die der Repräsentationen und der Verbindungen verschiedener solcher Repräsentationen untereinander, mit der Praxis und mit der Ideologie« (a.a.O.: 340). Es soll nun versucht werden, dieser Forderung nachzukommen, indem das Augenmerk auf die räumliche Praxis, d. h. auf die Bewegungen der Figuren auf den »Wegstrecken und Verkehrsnetzen« (a.a.O.: 335), gerichtet wird. Daneben werden Denkmäler als Raumrepräsentationen im Lefebvreschen Sinne betrachtet und schließlich in Bezug gesetzt zu den Räumen der Repräsentation, die sich in der und durch die Literatur auftun.
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Über die zugegebenermaßen auf den ersten Blick paradox scheinende Dialektik der triadischen Raumproduktion bemerkt Lefebvre: »Hier soll nur auf die dialektische Beziehung innerhalb dieser Dreiheit von Wahrgenommenem, Konzipiertem und Gelebtem hingewiesen werden. Eine Dreiheit mit drei Stellen und nicht zwei. Eine zweistellige Beziehung lässt sich auf eine Opposition, einen Gegensatz, eine Widerstrebigkeit reduzieren […] Die Philosophie ist nur schwer über diese zweistelligen Beziehungen hinausgekommen […] Ein solches System besitzt angeblich weder eine Materialität, noch lässt es einen Rest; es ist das perfekte System, das sich der geistigen Prüfung als rationale Evidenz darbietet. […] Um den sozialen Raum als dreistellig zu verstehen, kann man sich dem Körper zuwenden, und zwar insofern, als das Verhältnis eines ›Subjekts‹, das Mitglied einer Gruppe oder einer Gesellschaft ist, das Verhältnis zu seinem eigenen Körper impliziert und umgekehrt.« (Lefebvre 2006: 336f.). Als Effekt daraus steht für Lefebvre »[d]ie Einsicht, dass das Gelebte, das Konzipierte und das Wahrgenommene sich in der Weise verbinden, dass das ›Subjekt‹, das Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe, von einem zum anderen gelangen kann, ohne dabei die Orientierung zu verlieren« (a.a.O.: 338).
VI. Prag als neue Hauptstadt
1.
Das Slawenlied als »Roman aus den letzten Tagen Österreichs«
Im Slawenlied schildert Franz Carl Weiskopf die Erlebnisse eines namenlosen, zu Beginn 17 Jahre alten Ich-Erzählers in »den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakei«, wie es im Untertitel heißt. Während Weiners Feuilletons mit dem Tag der Republikgründung einsetzen, thematisiert Weiskopf in seinem Roman bereits die Vorgeschichte des 28. Oktober 1918: Die erzählte Zeit erstreckt sich vom Frühjahr 1918 bis zum Herbst 1920, umfasst also rund zweieinhalb Jahre. Die Romanhandlung setzt im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs mit einer Szene in der Schule ein. In der Figur des Lehrers Professor Dorfleuthner zeichnet sich bereits die Überkommenheit der alten Ordnung ab. Der eigentlich pensionierte Lehrer, ein »alter Mann mit einem Franz-Josefs-Bart [sic!]« (SL 11) wird beschrieben als »Rekrut jener gespenstischen Armee von gichtischen, rheumatischen, schwerhörigen, halbblinden, halblahmen Greisen, die der Herbst 1917 aus den verstaubtesten Winkeln des Ruhestandes zusammenkehrte und an die entblößte ›innere Front‹ warf« (SL 13). Als kurze Zeit später anlässlich des Friedensschlusses mit Russland der Schuldiener die schwarz-gelbe Flagge Österreich-Ungarns hisst, »sieht man den ausgestopften Mäusebussard links auf dem Schrank und gegenüber das Skelett« (SL 22). Die Schule wird hier als Ort der alten Ordnung charakterisiert, das baldige Ende der Donaumonarchie bereits symbolisch vorweggenommen. Dazu passt, dass die Schule in einem alten Adelspalais lokalisiert ist. Obwohl der Krieg eigentlich schon vorbei zu sein scheint, erhält der IchErzähler einen Einberufungsbefehl. Der Weg in die Kaserne ist zunächst der gleiche wie zur Schule und so sieht der Erzähler seine Schulkameraden und Lehrer, die wie jeden Tag in die Schule gehen (SL 43), er selbst fühlt sich jedoch ausgeschlossen und abgetrennt vom Leben: [I]ch war ja schon so gut wie gestorben; ich, hier in meinem Hausflur, hatte keinen Teil mehr an dem Leben draußen auf der Straße; ich war ausgereiht, ausgeschaltet, ausgelöscht. Der Krieg hatte mich zu fassen bekommen. […] Und draußen ging das Leben weiter wie zuvor. […] Leute eilten ins Geschäft, machten Einkäufe, begrüßten einander, verabschiedeten sich; Schutzleute wurden abgelöst; Zeitungsfrauen begannen mit dem Ausrufen ihrer Blätter […]. (SL 43) Zum einen wird hier das städtische Leben in Prag beschrieben, zum anderen wird die Entfremdung des Ich-Erzählers von diesem Leben deutlich. Das Gefühl des Ausgeschlossenseins überfällt ihn auch, als er einige Wochen später auf Heimaturlaub in Prag ist: Die Straßen waren still und leer. Es war ja Sonntag! Aber da war noch etwas anderes in ihnen als die Stille und Leere eines frühen Sonntagmorgens, etwas
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Fremdes, beinahe Unheimliches. Ich erinnerte mich des fünfzehnten März und des Gedankens, den ich damals hatte. Der gleiche Gedanke kam mir auch jetzt; der Krieg hatte mich verschluckt, das Leben aber ging weiter wie zuvor. Ich sah es noch, greifbar nahe, wie Kinder eine Puppe im Schaufenster sehen, aber zwischen mir und ihm war die Glasscheibe. Ich sah zu, war aber nicht mit dabei. (SL 77) Als er an seiner ehemaligen Schule vorbeigeht, sieht das alte Adelspalais »noch unfreundlicher und abweisender aus als früher« (ebd.), das Tor ist versperrt und die Jalousien sind heruntergelassen. Diese Dichotomie von ›Innen‹ vs. ›Außen‹, ›geschlossenen‹ vs. ›offenen‹ Räumen durchzieht den Roman. Im Gegensatz zu der als bedrohlich wahrgenommenen Stadt und der verschlossenen Schule steht das Elternhaus des Erzählers – mit Vater, Mutter, Schwester Lena und dem Dienstmädchen Stasi –, das mit Sonntagszeitungen und frischen Backwaren Behaglichkeit ausstrahlt. Demgegenüber wirkt die Stadt bedrohlich auf den Ich-Erzähler und funktioniert wie eine Art Seismograph für die Stimmung ihrer Bewohner. Auch scheint sie eine eigene Persönlichkeit zu haben. Ziellos pendelte ich durch die Stadt. Noch immer […] kam sie mir fremd, fast unheimlich vor. Aber ich sah jetzt: das lag nicht nur an mir; nicht nur ich hatte mich verändert, auch sie war anders als zuvor. […] Sie war unruhiger geworden, erregter, – aber in dieser Unruhe und Erregung steckte weniger Angst als versteckte Drohung. Mühsam zurückgehaltene Aufsässigkeit lag auf der Lauer. Man roch sie, man spürte sie, – nur zu fassen war sie noch nicht. Die Straßen der ›inneren Stadt‹ waren schwarz von Menschen. An allen Ecken und Kneipentüren standen sie beisammen; aus allen Fenstern schauten sie herunter; in allen Hauptstraßen brodelten sie durcheinander. (SL 81) Die Bewohner der mehrheitlich tschechisch geprägten Vorstädte begegnen dem Protagonisten mit misstrauischen und feindseligen Blicken (vgl. SL 83). Diese rufen in ihm Erinnerungen wach an die Blicke tschechischer Jungen in seiner Kindheit und den Spottvers »Deutscher und Jud,/Einen Dreck bist du gut!« (SL 84), auf den er und seine Freude entgegneten: »Schwarz-rot-gelb/Ist der deutsche Held!/Rotweiß-blau/Ist die tschechische Sau!« (ebd.). Darin wird die Vehemenz des unter den Kindern ausgetragenen deutsch-tschechischen Konflikts deutlich. In der sich anschließenden Textstelle wird konkret auf den Nationalitätenkonflikt eingegangen: Ja, so war es: man lebte in derselben Stadt; man sah die andern täglich; man hörte sie; man sprach, wenn auch nur notgedrungen, ihre Sprache; man hatte immer wieder mit ihnen zu tun, – aber man liebte sie nicht, kannte sie nicht, wollte von ihnen nichts wissen. Selbst beim Militär, wo man sich mit ihnen vertrug; wo man sogar zu ihnen zu halten begann, weil sie ganz besonders geschurigelt
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wurden (schließlich war man ihnen ja doch irgendwie nahe, näher vielleicht als den Deutschen aus dem ›geschlossenen Sprachgebietʻ), – selbst da blieb man ihnen im Grunde doch fremd! (SL 85) Das »Gefühl des Verlaufenseins unter all den Menschen, die mir fremd waren« (ebd.), verlässt den Erzähler erst, als er in einem Kaffeehaus eintrifft, in dem er mit seinem tschechischen Kameraden Borůvka verabredet ist. Die Freundschaft zwischen dem deutschen Ich-Erzähler und dem tschechischen Lehrer Borůvka ist ein Gegenbeispiel zu der vorangehenden Textstelle. In dem tschechischen Kaffeehaus prognostiziert Borůvka das baldige Ende Österreich-Ungarns sowie die Entstehung des neuen tschechoslowakischen Staates, dessen Regierung bereits in Paris sitze (vgl. SL 87). Kaum hat Borůvka sich jedoch verabschiedet, beginnt der Protagonist wieder sein »zielloses Pendeln« (SL 89) durch die Stadt und wiederum überkommt ihn das »Gefühl des Verlaufenseins« (SL 90). Er fühlt sich »einsam und verlassen« (ebd.), da er keine Verbindung zu den Menschen um sich herum aufbauen kann. Sie alle scheinen zusammenzugehören, er allerdings fühlt sich ausgeschlossen und fremd (vgl. SL 91). In der elterlichen Wohnung ist an diesem Tag Redakteur Berger zu Gast, ein kaisertreuer, konservativer Journalist, der im selben Haus wohnt. Er glaubt weiterhin fest an einen Sieg Österreichs und kritisiert die antiösterreichische Haltung der Tschechen. Auch hier zeigt sich ein weiteres Mal die Diskrepanz zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹: Innerhalb des Hauses artikuliert Berger nach wie vor seinen Glauben an das alte österreichische Kaiserreich, das hier tatsächlich noch intakt scheint, während ›draußen‹ in der Stadt, also im öffentlichen Raum, bereits alles auf die große Veränderung hinweist. Der Ich-Erzähler bezeichnet Bergers Ansichten als »Schwindel« und »Pleite« (SL 95), denn in seinen Augen werden sie der Realität längst nicht mehr gerecht. Er deutet die Zeichen der Zeit im städtischen Raum und entlarvt Bergers Reden und seine Artikel als längst überholt: »Ich sah in diesem Augenblick die menschenerfüllten Straßen wieder, die Gruppen vor den Litfaßsäulen, die Zeitungen mit den weißen Flecken, die Plakate, die blau überkritzelt waren; sah die ganze Stadt, in der Berger lebte und von deren Verwandlung er doch keine Ahnung hatte« (SL 95). Dem Ich-Erzähler erscheint seine Heimatstadt zunehmend fremder und bedrohlicher. Als er mit seinem Regiment von Südböhmen nach Prag an die »innere Front« (SL 128) geschickt wird, ist Prag eine »feindliche Stadt« geworden »durch die wir marschierten wie fremde Besatzungstruppen« (SL 131). Lediglich ein paar vereinzelte Deutsche winken den Soldaten zu. Überall im Stadtbild sind rot-weiße Zettel auf Tschechisch zu sehen, die dazu aufrufen, zusammenzustehen. In den Vorstädten schlägt den Soldaten offene Abneigung bis hin zu blankem Hass entgegen: Die Straßen leeren sich, die Bewohner ziehen sich in ihre Häuser zurück, pfeifen die Soldaten aus und bewerfen sie mit Steinen. Auch die Straße, in der die
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elterliche Wohnung liegt, hat ihre Vertrautheit verloren: »Nun standen die Häuser linkisch da, schienen vertraut und waren doch fremd. Es sah aus, als hätten sie sich mit einem Male abgekapselt« (SL 134). Außer dem Ich-Erzähler bemerkt diese Veränderungen allerdings niemand in seinem Prager deutschen Umfeld, vielmehr will sie niemand wahrhaben: Ich mußte dann immer an unsere Straße denken, wie ich sie vor kurzem gesehen hatte, scheinbar unverändert und doch völlig anders geworden, – und mir schien, die Deutschen hier lebten alle in einer solchen Straße: sie glaubten wahrscheinlich, daß sie die Stadt noch kannten, aber sie war ihnen schon fremd geworden, hatte sich abgekapselt, war unzugänglich geworden für alle, die nicht mehr zu ihr gehörten ... nur ahnten sie es noch nicht! (SL 138) Diese Beschreibung deckt sich auffällig mit Franz Werfels berühmter Antwort auf die Rundfrage »Warum haben Sie Prag verlassen?« der Zeitungen Bohemia und Prager Tagblatt aus dem Jahr 1922: »Für den Nichttschechen, so scheint es mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, sie ist ihm Tagtraum, der kein Erlebnis gibt, ein lähmendes Ghetto, ohne auch nur die armen Lebensbeziehungen des Ghetto zu haben, eine dumpfe Welt, aus der keine oder falsche Aktivität herkommt« (zit. n. Krolop 1966: 52). Der Wandel Prags zur neuen Hauptstadt, der als Verlust der bekannten Heimat erlebt wird, ist ein Gefühl, das einige Prager deutschsprachige Autoren wiederholt thematisieren.8 In Weiskopfs Roman werden die Veränderungen des Stadtbildes im Zuge des politischen Wechsels präzise inszeniert: Durch die Montage einer Vielzahl von Originaltexten (vgl. Weiskopfs »Anmerkung«: SL 377f.) aus Zeitungen, amtlichen Bekanntmachungen, Plakaten und Flugblättern, durch die Wiedergabe von Gesprächen, die der Ich-Erzähler bei seinen Streifzügen durch die Stadt mitanhört und die Beschreibungen der Veränderungen im städtischen Raum, wie z. B. das Entfernen deutschsprachiger Schilder, wird die politische Transformation für den Leser erfahrbar gemacht. In der folgenden Textstelle wird der politische Wandel bereits antizipiert, dabei ist der Protagonist im Gegensatz zu seinem Umfeld in der Lage, die Sprache der Stadt zu verstehen, die Stadt zu lesen, und dadurch die Stimmung kurz vor dem Umbruch wahrzunehmen:
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Vgl. dazu die Analyse zu Franz Werfels Trauerhaus (Kap. II.1.). Im Slawenlied ist mit der politischen und gesellschaftlichen Transformation für den Ich-Erzähler, der aus einer deutschsprachig-österreichischen Perspektive berichtet, auch Abschiedsschmerz verbunden. Am Tag der Republikgründung befindet er sich in der Kaserne in Vršovice, wohin er aus der Innenstadt eilt, um seine Habseligkeiten zu holen: »Ich stehe da in dem Zimmer, das noch nach vielen Menschen riecht und doch schon ganz verlassen wirkt; fühle ein leichtes Brennen in den Augen und einen Druck in der Herzgrube; finde es lächerlich und spüre doch etwas wie Abschiedsstimmung und – Heimweh« (SL 177).
VI. Prag als neue Hauptstadt
Eine seltsame Stimmung liegt über der Stadt: Begräbnisstimmung, Erbschaftsstimmung, Auswandererstimmung […] In den Budiken, vor den Zeitungskiosken, in den Cafés, beim Schlangestehen, in den Straßenbahnwagen, – überall flackert die Unruhe der Erwartung auf, beginnt das Rätselraten der Ungewißheit vor einer großen Entscheidung […] Jeder sucht Orientierung; kein Mensch weiß etwas Gewisses […]. (SL 155f.)
2.
Prag am 28. Oktober 1918
Am Tag der Republikgründung bewegen sich sowohl Weiskopfs als auch Weiners Ich-Erzähler durch Prag und schildern ihre Wahrnehmung der Ereignisse. Dabei passieren sie markante Punkte im Stadtbild. Anhand ihrer Bewegungen entlang dieser Wegmarken und Erinnerungsorte lassen sich die folgenden Ausführungen eingängig strukturieren. Das Moment der Bewegung hat Hildegard Kernmayer in einem grundlegenden Aufsatz zum Feuilleton im Sinne einer flanierenden Schreibweise (d. h. assoziativ, fragmentarisch, eng an die Großstadt gebunden) als eines der gattungspoetischen Merkmale des Feuilletons herausgestellt (vgl. Kernmayer 2012: 520-522), was gleichzeitig auch für den modernen Großstadtroman Geltung beanspruchen kann. Der sich durch die Stadt bewegende Flaneur kann längst nicht mehr das große Ganze überblicken, vielmehr zeigt sein Blick die Stadt nurmehr ausschnitthaft. Der Topos des Flaneurs, dessen zielloses und müßiggängerisches Spazieren »den Blick keiner Eile unterwirft« (Neumeyer 1999: 12), stellt eine narrative Strategie dar, um die Erlebnisvielfalt, die Reizüberflutung und Schnelllebigkeit der modernen Großstadterfahrung literarisch zu fassen und »die Totalität des urbanen Lebenszusammenhangs abzubilden« (Köhn 1989: 18). Unter dem Vorzeichen subjektiven Erlebens geht es darum, die »durch die äußeren Eindrücke im Bewußtsein des Wahrnehmenden freigesetzten Gefühle und Imaginationen« auszudrücken und »das Flanieren als Form der ästhetischen Erfahrung zu begreifen« (ebd.). Das Wahrgenommene wird so zum Katalysator »subjektiver Phantasie, die der Realität nur noch Versatzstücke entnimmt, um sie im Akt der poetischen Imagination zu einer neuen Welt zusammenzufügen« (Köhn 1989: 67). In Rückbindung an Lefebvre und seine Theorie der Produktion des Raumes kann der Stadtraum als relationales Gebilde aus unterschiedlichen Praktiken, Aneignungen und symbolischen Raumrepräsentationen aufgefasst werden, für die das Moment der Bewegung zentral ist: Dies bedeutet auch, dass der Bewegung im Raum eine konstitutive Funktion für die soziale Produktion von Raum zukommt: Erst durch die Bewegung werden verschiedene, auch imaginierte Räume zueinander in bedeutungsstiftende Relatio-
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nen gesetzt, also Unterschiede, Ähnlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten zwischen ihnen nachvollziehbar gemacht. (Hallet/Neumann 2009: 14) Betrachtet man die Bewegung der erlebenden Subjekte durch die Stadt, werden die miteinander in Beziehung gesetzten räumlichen (Un-)Ordnungen erkennbar. Michel de Certeau entwirft in Kunst des Handelns eine »Rhetorik des Gehens«, die die »Benutzer« (De Certeau 1988: 181) der Stadt in den Mittelpunkt stellt. Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten. In diesem Sinne erzeugt die Motorik der Fußgänger eines jener »realen Systeme, deren Existenz eigentlich den Stadtkern ausmacht« […]. Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist. (De Certeau 1988: 188f.) Neben dem Element der Bewegung ist die Frage nach dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie von Interesse9 sowie danach, welche Wege, Grenzlinien, Bereiche und Brennpunkte (vgl. Lynch 1960: 46ff.)10 innerhalb der literarischen Repräsentationsräume eine Rolle spielen.
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Wege durch die Stadt
Am frühen Morgen des 28. Oktober erhält Weiskopfs Ich-Erzähler den Marschbefehl zu einer Wache in der Stadt. Von der Kaserne in der damaligen Vorstadt Wrschowitz/Vršovice – später ab 1922 Prag eingemeindet – bewegen sich die Soldaten aus südöstlicher Richtung in die Innenstadt. Ihr Weg lässt sich dabei genau nachverfolgen (s. Abbildung 3). Die Stadt wird zunächst aus der Vogelperspektive beschrieben, Weiskopf liefert damit sozusagen eine Makroansicht Prags. Gesprächsfetzen, Gerüchte und Ellipsen, die im weiteren Verlauf wiedergegeben werden, verstärken den Eindruck
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Kathrin Janka hat in ihrer von Lotman inspirierten Studie »Prag zwischen Gründungsmythos und Abgesang« das Pragbild, wie es in Weiners Feuilletons modelliert wird, in Hinblick auf das »Umschlagen der Peripherie (Provinzhauptstadt am Rande des Habsburgerreichs) […] in ein neu entstandenes Zentrum (Prag als Hauptstadt eines neuen Nationalstaats)« (Janka 2018: 172) untersucht. In meiner Analyse gehe ich ebenfalls von Lotmans Konzept der Semiosphäre aus, setze aber einen etwas anderen Schwerpunkt, indem ich auf den Prager Stadtraum selbst fokussiere und die Bewegungen der Protagonisten zwischen urbanem Zentrum und Peripherie nachverfolge. Dem Architekten und Stadtplaner Kevin Lynch kommt das Verdienst zu, mit The Image of the City (1960) einen der Grundlagentexte der modernen Urbanistik geschrieben zu haben, der die Stadt als Wahrnehmungsraum eröffnet. Lynchs Studie geht weit über eine stadtplanerische Theorie hinaus, indem sie das Image als mentale Repräsentation der Außenwelt, sowohl in individueller (mental image) als auch in kollektiver Hinsicht (public image, group image) (vgl. Lynch 1960: 46), auffasst und damit Ansätze zu einer Theorie der Raumkognition liefert.
VI. Prag als neue Hauptstadt
Abbildung 3: Der Weg durch Prag in F. C. Weiskopfs »Slawenlied«
Quelle: Esri, Maxar, Earthstar Geographics, CNES/Airbus DS, USDA FSA, USGS, Aerogrid, IGN, IGP, and the GIS User Community
allgemeiner Unruhe und Orientierungslosigkeit unter den Stadtbewohnern, bevor auf den Ich-Erzähler fokussiert wird, der statt in der Kaserne zu sitzen, durch die Stadt streift und seine Beobachtungen schildert: »Die ganze Stadt scheint heute auf den Beinen zu sein. Überall drängen, schieben, stauen sich die Menschenmassen. In den Außenbezirken werden Flugblätter verteilt: Morgen Generalstreik gegen die Ausfuhr von Lebensmitteln aus Böhmen. Legt die Arbeit nieder! Erscheint in Massen zur Demonstration! Brot, Friede und Freiheit!« (SL 157f.). Richard Weiners erlebendes Ich befindet sich am Vormittag des 28. Oktober in Dejvice – ebenfalls 1922 eingemeindet –, nordwestlich vom Stadtzentrum gelegen. Von dort bewegen Weiners Ich-Erzähler und sein Begleiter sich gemeinsam zu Fuß gen Prager Innenstadt. Ihr Weg, der sich en detail nachverfolgen lässt, führt über Klárov (Klarplatz) in die Kaprová ulice (Karpfengasse), zum Altstädter Ring und von dort in die Železná ulice, vorbei am »alte[n] Deutsche[n] Theater« (FHT 171) [»staré Německé divadlo« (TDD 9)], durch die Havířská ulice (Bergmannsgasse) bis zum Graben (Na Příkopě), der deutschen Flaniermeile (s. Abbildung 4). Im Stadtzentrum künden bereits Sonderausgaben der Zeitungen und die Ansprache »Občane« (TDD 9) [»Bürger« (FHT 171)] auf der Straße vom Umschwung. Daraufhin erblicken die beiden eine amerikanische Flagge am Bankhaus Bohemia. Es folgen schnelle Wechsel von Momentaufnahmen, Gesprächsfetzen und Ellipsen, wodurch die Fülle der Wahrnehmungen und die Geschwindigkeit der Ereignisse verdeutlicht wird. Durch die vielen Fahnen und Plakate manifestiert sich der neue Staat bereits im Stadtraum. Denkt man sich eine Verbindung zwischen den beiden Startpunkten von Weiskopfs und Weiners Ich-Erzählern, verläuft diese Diagonale einmal genau durch das
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Abbildung 4: Der Weg durch Prag in Weiners »Třásničky dějinných dnů«
Quelle: Esri, Maxar, Earthstar Geographics, CNES/Airbus DS, USDA FSA, USGS, Aerogrid, IGN, IGP, and the GIS User Community
Prager Zentrum. Liest man beide Texte zusammen, ergeben sich also zwei aufeinander zusteuernde Bewegungen von der Prager Peripherie in Richtung des Zentrums. Weiner artikuliert gar die Verortung des Ausgangspunkts in »Prags Peripherie« (FHT 171; TDD 9). Bei Weiner sind es zunächst Gerüchte von der Kapitulation Österreichs, die ein Freund des Ich-Erzählers in der Straßenbahn aufgeschnappt hat. Bald jedoch wollen die Freunde wissen, was es damit auf sich hat und machen sich auf den Weg in die Stadt. »In den Straßen von Dejvice ist es ruhig.« (FHT 171) [»V dejvických ulicích klidno.« (TDD 9)]. Zeitgleich herrscht bei Weiskopf, dessen Erzähler sich aus der anderen Richtung der Innenstadt nähert, ebenfalls noch Ruhe: »Die steil abfallenden Straßen der ›Königlichen Weinberge‹ sind noch leer« (SL 169). Erst das Glockengeläute aus der Altstadt, in das immer mehr Glocken einstimmen, setzt die Ereignisse in Gang: Menschen strömen aus den Häusern und während die Menschenmenge immer größer wird, treten zwei Mädchen in Nationaltracht auf die Soldaten zu und entfernen die «,Äpfelchen‹, die Blechrosette mit den Kaiserinitialen« (SL 171) von ihrer Uniform, um sie durch eine rot-weiße Papierblume zu ersetzen. Dabei singen die Massen das titelgebende Slawenlied: »Hej Slované! Er lebt, er lebt, der Geist der Slawen!/Wächst zum Trotz, kehrt wieder!/Mit uns Rußland! – Wer uns Feind ist,/Den schlägt Frankreich nieder!« (SL 126).
2.2
Zentrum und Peripherie
Nachdem sich Weiners erlebendes Ich von der »Peripherie Prags« (FHT 171; TDD 9), wo noch nichts von den Ereignissen zu spüren ist, gen Zentrum aufgemacht hat, künden am Altstädter Ring bereits die Zeitungen von den Ereignissen. Auf dem
VI. Prag als neue Hauptstadt
Graben, dem Korso der Prager Deutschen, sind die ersten weißroten Fahnen zu sehen, auf dem Wenzelsplatz schließlich offenbart sich der politische Wandel in aller Deutlichkeit. Richard Weiner stellt den Prozess der Staatsgründung also als etwas dar, das im Zentrum Prags seinen Lauf nimmt. Im Slawenlied beginnt der Umsturz hingegen in den Außenbezirken, von wo sich die Neuigkeiten in Form von Flugblättern in Richtung des Zentrums bewegen. Weiskopf verortet damit den Beginn des politischen Wandels in der Peripherie Prags. In Lotmans Theorie der Semiosphäre kommt dem Zusammenhang zwischen Zentrum und Peripherie eine entscheidende Rolle zu: Die Einteilung in Kern und Peripherie ist ein Gesetz der inneren Organisation der Semiosphäre. Im Kern sind die dominierenden semiotischen Systeme angesiedelt. […] Die peripheren semiotischen Gebilde müssen nicht geschlossene Strukturen (Sprachen) sein, sondern können aus Sprachfragmenten oder auch nur aus einzelnen Texten bestehen. (Lotman 1990: 295; Hervorhebungen im Original gesperrt) Die Semiosphäre ist durchzogen von verschiedenen, bisweilen auch miteinander in Konkurrenz stehenden semantischen Strömen.11 Um diese innere Vielfalt einzudämmen und die Einheit des Systems zu gewährleisten, bedarf es einer strukturellen Organisation, die sich im Zentrum des semiotischen Systems in der Festlegung von Normen manifestiert, welche sich in Richtung der Peripherie immer mehr abschwächen. Das heißt, dass die Semiosphäre im »Kern« oder Zentrum eine verhältnismäßig starke Strukturiertheit aufweist, die sich zu den Rändern, der Peripherie hin abschwächt. In seiner umfassenden Studie Wahrheit und Erfindung verknüpft Albrecht Koschorke Lotmans Modell der Semiosphäre mit Claude LéviStrauss’ strukturalistischem Modell der heißen und kalten Kulturen und zieht daraus folgenden Schluss: Wendet man dieses Gegensatzpaar [heiße vs. kalte Kulturen, U.M.] auf die inneren Verhältnisse einer Gesellschaft an und setzt sie zu Lotmans Semiosphärenmodell in Beziehung, dann stellt die Peripherie die semiotisch ›heißere‹ Zone dar, in der sich Neuerungen ergeben, die nach innen zurückstrahlen und das starre, semiotisch ›kältere‹ Zentrum in Unruhe versetzen. (Koschorke 2012: 130; Hervorhebung im Original) Folgt man Koschorke und denkt auf den Roman bezogen Zentrum und Peripherie zunächst als geographische Kategorien, wird deutlich, dass sich der Umsturz im
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Nekula (2010) zeigt, wie sich mit Hilfe dieses Modells konkurrierende, d. h. verschiedene Wertungen beinhaltende Konzeptualisierungen ein und desselben Raumes beschreiben lassen, also etwa eines deutsch(-nationalen), eines tschechisch(-nationalen) oder eines bewusst gemischtnational konzipierten Prags.
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Slawenlied in den peripheren Vorstädten vorbereitet und sich von dort auf das stärker normierte und strukturierte Zentrum zubewegt. Die Veränderungen machen sich zeichenhaft zuerst im öffentlichen Raum der Vorstädte bemerkbar, wenn etwa an den Türen der Friseurläden blau-weiß-rot bemalte Holzteller statt der für die Kriegsmetallsammlung konfiszierten Messingbecken hängen. An vielen Geschäften sind gelbe Anschläge mit der Aufschrift »Unternehmen wegen Grippe geschlossen!« angebracht. In einer Straße heißt es gar: »Unternehmen Österreich wegen Grippe geschlossen!« (SL 158), womit der antiösterreichischen Stimmung und damit verbunden dem Widerstand gegen die bisherigen politischen Machtverhältnisse Ausdruck verliehen wird. Der Blick geht dann in Richtung Innenstadt, hier »wimmelt es von Frauen und Mädchen im Nationalkostüm«: rote Röcke, weiße Puffärmel, die kurze Zeit vorher nur vereinzelt zu sehen waren, »in den letzten Wochen sind sie zu einer gewohnten Erscheinung geworden, und heute scheinen nur sie da zu sein, so bunt sind die Plätze und Straßen« (ebd.). Auffallend ist die Wassermetaphorik im Zusammenhang mit der Beschreibung der Menschenmasse in den Nationalfarben: Sie »überschwemmen« (SL 158) die Stadt, »sie bilden eine einzige farbige Welle, eine lebendige böhmische Landesfahne, die ständig in Bewegung ist« (SL 159).12 Bei Weiner jedoch geht die Veränderung vom, Lotman zufolge, eigentlich stärker strukturierten Zentrum aus. Auch Richard Weiner thematisiert die »Fahnen« [»Prapory«] in einem eigenen euphorischen Feuilleton (vgl. FHT 174f.; TDD: 11). Durch die Wellen- und Wassermetaphorik wird zum einen die schiere Masse des Kollektivs verdeutlicht. Zum anderen wird die Revolution wie eine Flut beschrieben, die die alte Ordnung zugunsten einer neuen sozusagen ›hinwegspült‹. Der Vergleich mit dem Meer bzw. einer Welle unterstreicht die Dynamik der Ereignisse und verleiht dem Umsturz gleichzeitig den Nimbus einer Naturgewalt, die also den Naturgesetzen folgt. Ein Blick über die Fachgrenzen hinaus in ein Lexikon der
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Von Vršovice aus bewegt sich Weiskopfs Ich-Erzähler später am 28. Oktober wiederum zurück in die Innenstadt, wo die Stimmung noch aufgeladener ist. Meldungen und Schlagzeilen von Extrablättern sowie Plakattexte werden in die Schilderungen eingestreut. Durch dieses erzählerische Verfahren wird Wirklichkeitsbezug hergestellt und Authentizität vermittelt, so dass der Leser das Gefühl hat, einen Augenzeugenbericht vor sich zu haben. Außerdem wird die Stadt personifiziert: »Die Stadt ist in einem Taumel. Es scheint fast, als wolle sie jetzt, bei der Feier des Sieges, mit einem Schlag alles nachholen, was sie in den Wochen und Monaten der letzten Entscheidung durch Warten und Zaudern versäumt hat. Der Taumel steckt an. Immer wieder habe ich das Gefühl, von einer hohen schwindligmachenden Welle emporgehoben und fortgetragen zu werden: einer weiten, freien, unsagbar schönen und abenteuerlichen Zukunft entgegen« (SL 179; meine Hervorhebung, U.M.). Die freudige Stimmung, in der sich die personifizierte Stadt befindet, wirkt ansteckend auf den Ich-Erzähler. Wiederum wird das Bild einer Welle bemüht, die ihn wie eine Naturgewalt mit sich reißt und der er sich nicht entziehen kann.
VI. Prag als neue Hauptstadt
Physik zeigt, dass gerade das Bild der Welle sich zur Beschreibung der Umbruchssituation innerhalb der Stadt anbietet, da hierbei erstens der Raum und zweitens die Ausbreitung als Voraussetzungen eine tragende Rolle spielen: Welle, eine sich räumlich ausbreitende Erregung, die Energie transportiert. Damit können Wellen als Ausbreitung der Störungen von physikalischen Größen, wie z. B. die Auslenkung von Teilchen eines Mediums oder die Feldgrößen eines physikalischen Feldes, aufgefaßt werden. Die Störung kann dabei eine einmalige Erregung oder auch ein periodischer Vorgang sein. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Wellen ist stets endlich. Die Wellenausbreitung innerhalb eines Mediums erfolgt durch die Anregung von Teilchen zu Schwingungen auf Grund bereits schwingender Teilchen. (Spektrum Lexikon der Physik 1998) Tatsächlich verbreitet sich bei Weiner die »Erregung« – die sich gleichsam als »Störung« der öffentlichen, alten Ordnung beschreiben lässt – vom Zentrum aus in die Peripherie der weiter außerhalb liegenden Vorstädte. Diese Bewegung vom Zentrum in die Peripherie vollziehen auch Weiners Ich-Erzähler und sein Begleiter nach. Die ›Ausbreitung‹ des politischen Wandels verläuft also genau entgegengesetzt zum Slawenlied: Am 28. Oktober ist in Dejvice (»Periferie Prahy« (TDD: 9)) zunächst nichts von den Ereignissen zu spüren, denn die Veränderungen nehmen im Stadtzentrum ihren Lauf. Weiner stellt die Republikgründung als Ereignis dar, das im Zentrum beginnt, für Weiskopf hingegen hat es seinen Ursprung in den Vorstädten. Betrachtet man die Bevölkerungsstruktur von Vorstadt und Stadtzentrum, wird deutlich, dass erstere mehrheitlich geprägt ist von der Arbeiterschaft, das Stadtzentrum dagegen vornehmlich durch das Bürgertum – damit geht auch die Einteilung der modernen Großstädte in den Köpfen ihrer Bewohner einher (s. mental maps bei Lynch 1960): Die mentale Kartographie teilt nunmehr die Städte in Zonen bürgerlicher Friedfertigkeit, Tugendhaftigkeit und Wohlhabenheit und Zonen des BedrohlichAbseitigen […] [D]ie Großstadt ist nicht nur Ort einer verstörenden Wahrnehmung des sozial Anderen, sie ist auch der konkrete Schauplatz der »Massen« als politischer Formation und Artikulation in Gestalt von Hungerrevolten, Aufständen, Streiks und der politischen Selbstdarstellung der sich formierenden Arbeiterbewegung. (Musner 2003: 63ff.) Bei Weiskopf, der 1921 zu den Gründungsmitgliedern der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei gehörte (vgl. Goßens 2012: 534), geht die Revolution von den unteren sozialen Schichten, die hauptsächlich in den Vorstädten lebten, aus. Folglich ist für Weiskopf die Metamorphose der Gesellschaft mit der Staatsgründung keineswegs abgeschlossen, weswegen im dritten Romanteil, der mit »Das neue Lied« übertitelt ist, die Entwicklung des Ich-Erzählers hin zu seinem sozia-
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
listischen Engagement sowie die Arbeiterstreiks von 1920 im Mittelpunkt stehen.13 Bei Weiner hingegen ist die Republikgründung als Ergebnis einer durch und durch bürgerlichen Emanzipation dargestellt. Den im Vergleich zu vorher umgekehrten Weg vom Zentrum in die Peripherie verfolgen Weiners erlebendes Ich und sein Begleiter, als sie sich von der Ferdinandstraße, der Flaniermeile des tschechischen Prag14 , aus dem Vorort Strašnice (später ab 1922 zu Prag gehörig) nähern. Dort befand sich bis 1956 der an der Vinohradská gelegene, 1795 gegründete Evangelische Friedhof Strašnice, der vornehmlich von deutschen Protestanten genutzt wurde (daher auch Německý evangelický hřbitov genannt). Hierhin zieht es Weiners Ich-Erzähler und seinen Gefährten, um »[e]in neues teures Grab [zu] bereiten« (FHT 173) [»[z]praviti nový, drahý rov« (TDD 10)] für das alte Österreich. Doch der Erzähler tut dies mit einer friedvollen Geste des Respekts: »Na strašnickém hřibtově pohřeb. – Nesu kytičku rezedy. ›Mírová rezeda!‹ praví babka žebračka. Nyní ví to i mrtvá, že nastal Onen den.« (TDD 10) [»Auf dem Friedhof in Straschnitz ein Begräbnis. – Ich bringe einen Strauß Reseda hin. ›Eine Friedensreseda!‹ sagt eine alte Bettlerin. Nun weiß es auch die Tote, daß jener Tag gekommen ist.« (FHT 173)]. Und auch im Slawenlied wird die alte Doppelmonarchie zu Grabe getragen: Über den Graben rumpelt langsam ein seltsam aufgeputzter Leichenwagen. Vom Wagendach flattern schwarz-gelbe Fahnen; auf einem großen Sarg aus ungehobelten Brettern steht links »Österreich« und rechts »Ungarn«. Hinter dem Wagen kommt ein langer Zug heranmarschiert: Soldaten, Pfadfinder, Turner, Frauen und 13
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Vgl. dazu auch das mir freundlicherweise zur Verfügung gestellte Vortragsmanuskript von Manfred Weinberg: »Zu F. C. Weiskopfs Slawenlied. Roman aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakischen Republik« (Vortrag auf der Tagung Zerfall, Trauma, Triumph. Das Epochenjahr 1918 und sein Nachleben in Zentral- Ostmittel- und Südosteuropa, Wien 23.-25. Mai 2018). In seinem Vortrag geht Manfred Weinberg auf das »besondere Dreiphasenschema des Slawenlieds – Habsburg, gescheiterte Revolution, noch ausstehende wahre Revolution« (Weinberg 2018: 5) ein: »Auch das Slawenlied ist in drei Teile, die drei historischen Phasen entsprechen, eingeteilt: Sie tragen die Titel ›Das letzte Jahr‹, ›Der tote Punkt‹ und ›Das neue Lied‹. Doch sind damit eben nicht die benannten Phasen des Alten, des Nullpunkts und des Neuen benannt, denn der ›tote Punkt‹ meint nicht die Revolution, sondern den Anfang der Tschechoslowakischen Republik. Wichtiger noch: ›Das neue Lied‹ ist ein erst kommendes. Am Ende des Romans singen die revolutionären Massen noch einmal das 1848 auf dem Slawenkongress in Prag im Zuge der panslawischen Bewegung als ›Nationalhymne der Slawen‹ proklamierte Slawenlied und schließlich das ›Lied von der Fahne rot‹ […]. Anders gesagt: 1918 ist für Weiskopf kein wirkliches Epochenjahr. Die Epoche muss erst noch gemacht werden, um an eine noch im 18. Jahrhundert gebräuchliche Redeweise anzuknüpfen, die die Ursprungsbedeutung des altgriechischen epoché – nämlich als Umschwung und nicht als Zeitraum – bewahrte« (a.a.O.: 4). »Korso der Tschechen war die Ferdinandstraße, Korso der Deutschen ›der Graben‹ […]« (Kisch 1981: S. 81f.). Vgl. dazu auch Schmitz/Udolph 2001: 32.
VI. Prag als neue Hauptstadt
Mädchen im Nationalkostüm, Kinder mit Fähnchen und auf Stöcken gespießten Banknoten, junge Burschen mit Fackeln, Arbeiter mit Transparenten »Es lebe die demokratische und sozialistische Republik!« (SL 179) Der symbolische Trauerzug geht auch hier friedlich vonstatten. Lediglich als der ehemalige Lehrer des Erzählers, Professor Dorfleuthner, sich in der »sogenannte[n] große[n] Uniform der österreichischen Staatsbeamten« der Prozession in den Weg stellt, bahnt sich ein Konflikt an, der in einen Gewaltakt der Menge gegen den Professor umzuschlagen droht. Die Lage wird entschärft durch einen Dienstmann, der sich mit einem impliziten Appell an das neue bürgerliche Selbstverständnis der Umstehenden wendet: »›Aber ich weiß, wie ich mich als befreiter Bürger zu benehmen habe, Herr...‹« (SL 182). Danach zerstreut sich die Ansammlung rasch wieder. Die Gewaltlosigkeit und der friedliche politische Wandel sind sozusagen Programm, wie beide Texte vorführen, was sich mit den historischen Quellen deckt.15 Als Begräbnisstätten der alten Monarchie werden sowohl bei Weiner als auch bei Weiskopf explizit als »deutsch« bzw. »deutsch-österreichisch« codierte Orte gewählt: So bei Weiskopf der Graben als die Flaniermeile des deutschsprachigen Prags, bei Weiner der Evangelische deutsche Friedhof in Strašnice. Von Strašnice aus bewegen sich Weiners erlebendes Ich und sein Freund inmitten großer Menschenmengen wiederum zurück in Richtung des Prager Stadtzentrums: »Nazpět nutno pěšky. Ze Strašnic, z Vinohrad, celé rodiny, celé průvody táhnou do města.« (TDD 10) [»Zurück geht es nur zu Fuß. Von Straschnitz und den Kö-
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Vgl. dazu Jiří Pokornýs Aufsatz »Der Umsturz als Feier – die ersten Tage der Tschechoslowakischen Republik«, in dem er die Ereignisse vom 28. Oktober 1918 und deren Vorgeschichte betrachtet: »Das Benehmen der Massen entsprach den anspruchsvollen Forderungen, welche der Nationalausschuss veröffentlicht hatte. Er forderte die Bevölkerung auf, sich würdig zu benehmen und sich der Größe des Augenblicks bewusst zu sein. […] Zu dieser Stimmung haben sehr wahrscheinlich Blaskapellen beigetragen, die über Weisung des Nationalausschusses in den Straßen einrückten. Es waren besonders diese Kapellen, die dem Umsturz eine freudige, herzliche Atmosphäre verliehen haben. Über die Disziplin wachten außerdem Mitglieder des Nationalausschusses, Aufseher der Mitglieder von Turnvereinen und einige ausgewählte Militärpersonen. Diese Idylle konnte aber schnell in ihr Gegenteil umschlagen. In Prag gab es noch genügend Soldaten, die von ihren Vorgesetzten den Befehl bekommen konnten, die Menschenmenge auseinander zu treiben. Tatsächlich kam es zu solchen Befehlen, aber es gelang, durch Verhandlungen deren Ausführung zu verhindern« (Pokorný 2007: 348f.). Pokorný führt in seinem Aufsatz wiederholt Weiners Třásničky-Feuilletons als Belege an, was nicht unkritisch zu sehen ist. Schließlich setzt jeder (literarische) Text eine Selektion und Bearbeitung der Fakten voraus (vgl. Lotman/Uspenskij 1986: 859). Vgl. zu Pokornýs Ausführungen die Montage eines Plakats im Slawenlied, das am Mauthäuschen der Karlsbrücke klebt, mit dem Aufruf des Nationalausschusses an das »TSCHECHOSLOWAKISCHE[…] VOLK […] IN DEINER HALTUNG UND IN DEINER FREUDE WÜRDIG ZU SEIN DER JETZIGEN GROSSEN STUNDE« (SL 183, Hervorhebungen im Original).
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niglichen Weinbergen wandern Familien, ganze Menschenzüge in die Stadt« (FHT 173)]. Sowohl bei Weiner als auch bei Weiskopf lassen sich Pendelbewegungen aus der Peripherie in Richtung des Zentrums, vom Zentrum gen Peripherie und von dort wieder zurück in das Stadtinnere beobachten. Es scheint, als wollten die Protagonisten sichergehen, dass die Umcodierungen des öffentlichen Raums, die am 28. Oktober vonstattengehen, sich tatsächlich auf ganz Prag erstrecken. Einige Tage nach der Republikgründung bemerkt Weiskopfs Erzähler über die Situation in der Prager Peripherie: »Von dem neuen Gesicht, das die Straßen der inneren Stadt schon tragen, ist hier nichts zu merken. Und doch, je länger ich durch diese scheinbar von keiner Veränderung berührten Vorstadtgassen gehe, desto hartnäckiger drängt sich mir die Ahnung auf: nicht dort, sondern hier offenbart sich die wahre Verwandlung der Stadt!« (SL 297). Diese »Verwandlung« setzt der Ich-Erzähler mit den Bemühungen um eine »gerechte Gesellschaftsordnung« (ebd.), kurzum mit der sozialistischen Idee gleich. Besonders in den Vorstädten werden die schlechten Lebensbedingungen sichtbar: Es gibt viele Arbeitslose, die Lebensmittelpreise sind extrem hoch, die Bevölkerung hungert. Um dies zu veranschaulichen, montiert Weiskopf Aushänge und Zeitungsartikel in die Beschreibungen des Ich-Erzählers und unterstreicht so den »Anfang einer unbekannten großen Unruhe« (SL 298), die wiederum von der Peripherie ausgeht und womit die Arbeiteraufstände von 1920 gemeint sind. Auch einige Zeit später belebt die »von der kindlichen Freude am ›eigenen Staat‹ berauschte Masse immer wieder die Straßen und Plätze« (SL 189), wie der Ich-Erzähler beobachtet. Großen Zulauf erhält diese durch zurückkehrende Soldaten und befreite Kriegsgefangene aus Italien, Russland, Serbien und Frankreich, »deren fremdartige Erscheinungen einen ersten Ton von weltstädtischer Internationalität in das Bild provinzieller Enge brachten, das die Metropole des neugebackenen ›Siegerstaates‹ immer noch bot« (SL 190; meine Hervorhebungen, U.M.). Hier werden zwei unterschiedliche Stadtbilder kontrastiert, nämlich Prag als Provinzstadt einerseits und als internationale Metropole andererseits. Irina Wutsdorff hat in einer Studie zur Anwendung von Lotmans Semiosphärenmodell auf den Prager Kontext davor gewarnt, die räumliche Metaphorik von Zentrum und Peripherie allzu wörtlich zu nehmen und dafür plädiert, stattdessen nach den kulturellen Codierungen zu fragen: So kann mit der Stadt Prag im einen (deutschsprachigen) kulturellen Code Provinzialität verbunden sein, im anderen (tschechisch-nationalideologischen) Zentralität. Schon deshalb ist das Modell der Semiosphäre nicht einfach räumlich umsetzbar: Prag als Ort ist weder Peripherie noch Zentrum in einem essentialistischen Sinne, als Zeichen in verschiedenen kulturellen Semiosphären aber kann es je unterschiedliche Wertungen codieren. (Wutsdorff 2018b: 244f.)
VI. Prag als neue Hauptstadt
Daraus ergebe sich die Frage, »in welchen kulturellen Zeichensystemen [Prag] als Zentrum codiert wurde und in welchen als Peripherie und zu welchen Übersetzungsprozessen es zwischen diesen unterschiedlichen Codierungen kam« (a.a.O.: 246). Im Slawenlied markiert Weiskopf Prag als »immer noch« provinziell auf der einen und als »weltstädtische« Metropole und Hauptstadt des neuen Staates auf der anderen Seite. In der Habsburger Monarchie war Wien das klar definierte Zentrum, Prag war lediglich die Provinzhauptstadt Böhmens. Aus Sicht des Prager deutschsprachigen Ich-Erzählers, der Österreich-Ungarn gegenüber an dieser Stelle nach wie vor eine gewisse Loyalität entgegenbringt, haftet der Stadt das Provinzielle »immer noch« an. Mit der »weltstädtischen Internationalität« und dem Status als Hauptstadt der neu gegründeten Tschechoslowakischen Republik wird allerdings die Möglichkeit einer Codierung Prags als Zentrum und Metropole bereits angedeutet. Diese Wandlung wird an anderer Stelle dann auch explizit thematisiert: »Es ist wieder Vorfrühling, – ein Vorfrühling, wie er zu dieser Stadt paßt, der man es immer noch anmerkt, daß sie ›aus kleinen Verhältnissen‹ stammt; daß sie bis vor kurzem in verschlafener Weltabgeschiedenheit gelebt hat und sich erst langsam an ihre neue Stellung und Würde zu gewöhnen beginnt« (SL 303). Dass sich Prag zu einem neuen Zentrum innerhalb Europas entwickelt, thematisiert auch Richard Weiner in den Třásničky, was in den Überschriften »Vzduchu Evropy část první« [»Europäischer Luft Teil eins«] und »Vzduchu Evropy část druhá« [»Europäischer Luft Teil zwei«] zum Ausdruck kommt. Im ersten Teil wird der Zug beschrieben, der am Wilsonovo nádraží, Wilson-Bahnhof (in den der vormalige Kaiser-Franz-Joseph-Bahnhof nach der Republikgründung umbenannt wurde), auf die Abfahrt zur Pariser Friedenskonferenz wartet. Dabei fungiert der Zug als Sinnbild für den neuen Tschechoslowakischen Staat: In einem Rückblick heißt es, die »bemitleidenswerten Wagons«16 [»ubohé vagony« (TDD 14)] seien mit dem »grand express européens« (TDD 13) durch das Habsburgerreich – vom ukrainischen Kamjanez-Podilskyj über die Grafschaft Görz in Slowenien, vorbei an Baden bei Wien, wo sich ab 1916 die Befehlszentrale des Armeeoberkommandos befand, bis zu einem Dorf im damals zu Serbien gehörigen Bitola – gefahren und hätten »nolens volens an der Aufrechterhaltung des insolventen Hauses der Firma Mitteleuropa mitgearbeitet« [»nolens volens spolupracovaly na udržení insolventního domu firmy Mitteleuropa« (ebd.)]. Nachdem die Firma bankrottgegangen ist, steht die Suche nach einem neuen Platz innerhalb Europas auf dem Plan. Nun können es die Wagons des Zuges kaum erwarten, mit den wichtigen und herausgeputzten Passagieren endlich in Frankreich anzukommen [»aby užuž byly ve Francii« (TDD 14)] – die Abfahrt wird als »historische Szene« [»je scénou historickou« (TDD 15)]
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Die nachfolgenden deutschen Übersetzungen stammen, falls nicht anders angegeben, von mir.
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bezeichnet. Weiner führt hier das »Umschlagen der Peripherie in ein neues Zentrum« (Janka 2018: 186) vor. In dem Feuilleton »A Francie?« [»Und Frankreich?«] fordert Weiner vehement die Präsenz französischer Flaggen neben den englischen und amerikanischen ein und weist außerdem darauf hin, dass Frankreich und die junge Tschechoslowakei dieselben Nationalfarben haben (vgl. das Feuilleton »Prapory« [»Flaggen«]). Mit Emphase singt Weiner ein Loblied auf Frankreich und stellt klar, woran sich seiner Ansicht nach der junge Staat orientieren sollte bei der Suche nach einem neuen Platz innerhalb Europas: »Francie, kde dnešní žně počaly kličiti před více než sto lety? Francie, nasadivší vše, obětujicí vše s nejhrdinštějším sebezapřením? Francie, která první uznala svatý náš nárok a jež nás první prohlásila svými spojenci? Francie velkomyslná, šlechetná, vznešená, nestárnoucí!« (TDD 12) [»Frankreich, wo die Früchte von heute vor mehr als einhundert Jahren zu keimen begannen? Frankreich, das alles eingesetzt, alles geopfert hat in heldenhaftester Selbstverleugnung? Frankreich, das als erstes unseren heiligen Anspruch anerkannte und uns als erstes zu seinen Verbündeten erklärte? Großzügiges, edles, erhabenes, nicht alterndes Frankreich!« (FHT 175)]. Es ist nicht verwunderlich, dass Richard Weiner, der zunächst 1912 und 1913 und später von 1919 bis 1936 als Korrespondent in Paris lebte, in seinen Feuilletons immer wieder Bezug auf Frankreich nimmt, das er als Vorbild für den jungen Staat heranzieht. Im Gegensatz dazu steht im Feuilleton »Vzduchu Evropy část druhá« die »Luft des anderen Teils Europas« [»vzduch z druhé části Evropy« (TDD 16)]: »Einige Tage lang ist es in Prag bisweilen so, als könnte man hier die Schießereien aus Berlin hören« [»Několik dnů je v Praze chvílemi tak, jako by bylo lze slyšeti střílenici z Berlína« (ebd.)]. Weiner thematisiert den sogenannten Spartakusaufstand in Berlin und macht deutlich, dass auch in Prag politische Konflikte und Richtungsstreits schwelen [»že někde doutná koudel« (ebd.)]: »Jdu na Vinohrady. Na Purkyňově náměsti mitinky jako už ode dvou dnů stále. Slyším: ›Bolševismus!‹ – ›Kletba Rakouska!‹ – ›Jste bolševik?‹ – ›Já bolševik? Já? – Kdepak!‹ A podivný mužík kyselého úsměvu se ztrací v davu.« (TDD 17) [Ich gehe nach Weinberge. Auf dem Purkyňě-Platz sind schon seit zwei Tagen ständig Versammlungen. Ich höre »Bolschewismus!« – »Fluch Österreichs!« – »Sind Sie Bolschewist?« – »Ich Bolschewist? Ich? – Ach was!« Und das seltsame Männchen mit dem sauren Lächeln verschwindet in der Menge.]. Thema des Feuilletons ist außerdem das misslungene Attentat auf den ersten tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Karel Kramář am 9. Januar 1919 durch den erst 18-jährigen Anarchisten Alois Šťastný, das in der Stadt für Aufruhr sorgte. Mehrfach wird Prag als »veliké město« [Großstadt] bezeichnet (vgl. TDD 17f.). Das Feuilleton schließt mit dem Wunsch des Ich-Erzählers, die Stadt, die sich nach dem politischen Wandel noch in einer unruhigen und unübersichtlichen Phase befindet, möge sich ihm offenbaren: »A mám groteskní přání. Aby se mi zjevi-
VI. Prag als neue Hauptstadt
la Praha jako ony hračky -domy, které se mohou podél rozevříti, přičemž spatříš rázem vše, co se děje v jednotlivých patrech, a nabudeš představy o té veliké rozmanitosti osudů, myšlenek a citů, které se kryjí pod uniformním slovem: dům.« (TDD 18) [Und ich habe einen grotesken Wunsch. Dass Prag sich mir offenbart wie jene Spielzeughäuser, die sich längs aufklappen lassen, wobei du alles auf einen Blick siehst, was in den einzelnen Stockwerken vor sich geht, und du gewinnst Vorstellungen von der großen Mannigfaltigkeit der Schicksale, der Gedanken und Gefühle, die unter dem uniformen Wort Haus versammelt sind.]. Mit dem Topos der Unüberschaubarkeit wird Prag vollends als moderne Großstadt entworfen, die sich einem umfassenden ordnenden Zugriff entzieht. Die einzelnen Schicksale ihrer Bewohner bleiben so zwangsläufig verborgen, wenngleich das erlebende Ich – im Bewusstsein seiner Unerfüllbarkeit – den Wunsch nach einem absoluten Verständnis der Stadt äußert. Dadurch betont Weiner die Vielfalt und Komplexität der modernen Großstadt, in der die unendlich vielen Gedanken und Gefühle ihrer Bewohner nebeneinander existieren. Nichtsdestotrotz wird durch das übergeordnete Wort »dům«/»Haus«, das als Bild für die Stadt verwendet wird, eine Einheit dieser Vielfalt, quasi eine übergreifende städtische Identität, postuliert.
2.3
Der Wenzelsplatz als Brennpunkt
Der zentrale Ort des Geschehens, an dem die politische Neuordnung am deutlichsten zum Ausdruck kommt, ist in beiden Texten der Wenzelsplatz, den der Historiker und Pädagoge Zdeněk Hojda als »große Bühne […] der modernen tschechischen Geschichte« bezeichnet hat, die »im 20. Jahrhundert von fast jeder politischen Kraft für sich beansprucht und abwechselnd sowohl symbolisch wie auch physisch besetzt« worden ist (Hojda 2007: 101). Hojda untersucht in seinem Aufsatz den Wenzelsplatz in städtebaulicher und symbolischer Hinsicht sowie in Verbindung mit historischen und politischen Ereignissen. In einem Abriss der Geschichte des Wenzel-Standbildes beschreibt er, dass immer wieder Plakate und Flugblätter an den Sockel der Statue geklebt wurden, welcher als Kanzel für Reden und Kundgebungen genutzt wurde. Diese Praxis beschreibt auch Weiner: »Kolem sochy sv. Václava černo. Plakát na podstavci: Ať žije Česká republika!« (TDD 10) [»Um das Wenzelsstandbild herum Menschen dichtgedrängt. Ein Plakat am Sockel: Es lebe die Tschechische Republik!« (FHT 172)]. Zur Rolle des Platzes am 28. Oktober führt Hojda weiter aus: In dem zweiten Jahr der neuen Republik war aber die historische Sternstunde des Wenzelsplatzes schon verstrichen, nämlich der 28. Oktober 1918. Um die »Sternstunde« handelte es sich in dem Sinne, dass die Ereignisse des 28. Oktober, während einer spontanen Versammlung zum Entstehen des selbstständigen Staates, mit dem Niederreißen von Symbolen der österreichischen Monarchie (das durch
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einige die öffentliche Erinnerung prägende Photos verewigt wurde) und mit den Rednern auf dem Sockel des Denkmals in ihrer mythisierten Form gerade mit dem Wenzelsplatz für immer verknüpft blieben. Dies geschah ganz unabhängig vom tatsächlichen Hergang der Ereignisse, denn die wirklich wichtigen Gründungsakte der Tschechoslowakei spielten sich selbstverständlich anderswo ab. (Hojda 2007: 108) Die Besetzung und Umcodierung des städtischen Raumes, die sich besonders auf dem Wenzelsplatz konzentrieren, führt Weiner in fast hymnischem Gestus vor: Zatím rozbujelo se praporů do bílo-červeno-modrých vln, nepřetržitých, vysoko bijících. Kde jste spaly, vy velezrádná trojbarví, kde jste se vzaly, nesčetné kokardy, lvíčkové, transparenty a praporečkové girlandy? Jdeme triumfální ulicí. Všechny obloukové lampy hoří, hudby hrají a z muzejní rampy je viděti cosi, čeho nikdo nepamatuje, byť se rozpomínal na největší pražské dny. Obrovský bulvár napěchován doslova masou, která se nemůže pohybovati. Ani čtverečního centrimetru neušetřilo toto lidské moře. A jak halasí! Jak hřímá! (TDD 10f.) Unterdessen blähen sich die Fahnen in ununterbrochenen, hochschlagenden weiß-rot-blauen Wellen. Wo habt ihr geschlafen, ihr hochverräterischen Trikoloren, woher kommt ihr, ihr unzähligen Kokarden, Löwen, Transparente und Flaggengirlanden? Wir gehen durch eine Triumphstraße. Alle Bogenlampen brennen, Musik spielt auf, und von der Museumsrampe aus ist etwas zu sehen, woran sich niemand erinnern kann, selbst wenn er an die größten Tage Prags zurückdenkt. Der riesige Boulevard, vollgepfropft mit einer Menschenmasse, die nicht vorwärtskommt. Keinen Quadratzentimeter hat das Menschenmeer freigelassen. Was für ein Trubel! Was für ein Tosen! (FHT 174f.) Die Vereinnahmung des öffentlichen Raumes wird zum Ausdruck gebracht durch die Symbole des neuen Staates wie Fahnen und Kokarden. Außerdem verwendet Weiner an dieser Stelle wiederum die bereits erwähnte Wellen- und Wassermetaphorik, die einerseits die Masse an Menschen verdeutlicht und zum anderen die Revolution als Flut zeigt, die die alte Ordnung zugunsten einer neuen ›hinwegspült‹. Die Wellenmetapher findet sich auch in Weiskopfs Schilderung der Ereignisse auf dem Wenzelsplatz, auf dem es »von Frauen und Mädchen im Nationalkostüm« wimmelt; »[s]ie überschwemmen den Graben, sie füllen den Wenzelsplatz, sie säumen die Rampe des Nationaltheaters; sie bilden eine einzige farbige Welle, eine lebendige böhmische Landesfahne, die ständig in Bewegung ist« (SL 158f.). Der Graben, der um 1900 die Flaniermeile der Prager deutschen Einwohner war, wird von der tschechischen Bevölkerung in ihren Landesfarben besetzt. Wie Manfred Weinberg in einer Studie anhand der Blickachse vom oberen Wenzelsplatz veranschaulicht hat, bildeten Anfang des 20. Jahrhunderts das Nationalmuseum am
VI. Prag als neue Hauptstadt
Wenzelsplatz, das Nationaltheater an der damaligen Ferdinandstraße und das 1912 fertiggestellte Gemeindehaus/Obecní dům (in dem am 28. Oktober 1918 die Tschechoslowakische Republik ausgerufen wurde) am Graben urbane Wegmarken einer als einheitlich postulierten tschechischen Erinnerungskultur (vgl. Weinberg 2014: 16ff.). Dass auf dieser Blickachse allerdings auch das Deutsche Theater17 und eben der Graben als national anders codierte Flaniermeile in den Fokus kommen, belegt, dass im »Plural des Begriffs ›Erinnerungskulturen‹ […] offensichtlich verschiedene Weisen des kollektiven Umgangs mit Erinnerungen gegeneinander differenziert« werden, »was wiederum zwei Voraussetzung hat: zum einen wird die Einheit einer Erinnerungskultur (etwa als national spezifisch) unterstellt, zum zweiten dass sich diese tatsächlich signifikant oder gar völlig von einer anderen Erinnerungskultur unterscheidet« (a.a.O.: 18, Hervorhebungen im Original fett). Manfred Weinberg zeigt weiter, dass es eine Reduktion auf vereindeutigende national codierte Zuschreibungen in einem interkulturellen Raum, wie ihn Prag in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellte, trotz aller Versuche nie gegeben haben kann: Wer immer sich an dieser Stelle des Wenzelsplatz postierte – Deutscher, Tscheche oder Jude –, konnte sich mit dem einen Gebäude identifizieren (und sich davon seine nationalkulturelle Identität vorgeben oder bestätigen lassen) und konnte das andere Gebäude (oder im Falle der Juden möglicherweise gar beide) versuchen zu ignorieren. Aber er konnte dessen oder deren Existenz nicht leugnen, musste also zur Kenntnis nehmen, in einem nationalkulturell mehrfach codierten Raum zu leben. (a.a.O.: 19f.) Vor diesem Hintergrund wird F. C. Weiskopfs Darstellung der Menschenmassen, die diesen erinnerungskulturell so umstrittenen Raum beanspruchen, doppelt interessant. Zum einen wird literarisch inszeniert, wie existierende nationale Codierungen unterlaufen bzw. durchgestrichen werden, indem die als aquatische Naturgewalt präsentierte Menge den Raum, ganz gleich, wie er codiert ist, buchstäblich überflutet. Damit geht in einem zweiten Schritt die Möglichkeit zur Neucodierung einher. Folgerichtig überfällt den Protagonisten der Wunsch, die alte Ordnung, die sich in seiner Uniform als Herrschaftszeichen manifestiert, ganz abzustreifen. Er 17
Das Prager Deutsche Theater, die heutige Staatsoper, wurde wie auch das Nationalmuseum und das Nationaltheater im Stil der Neorenaissance erbaut. Darauf, dass auch die architektonische Formsprache national aufgeladen sein kann, weist Peter Stachel hin: »In der Habsburger Monarchie galt das ›Neobarock‹ – in seiner durch die Formensprache erzeugten Verbindung mit der Zeit der Gegenreformation und der Türkenkriege – als habsburgischstaatstragend, während die Neorenaissance sowohl als ›deutschnational‹ als auch als ›tschechisch-national‹ definiert werden konnte. Dabei handelt es sich durchwegs um Konnotationen, die einmal von hoher symbolischer Aussagekraft und dementsprechend umstritten waren, die dem heutigen Betrachter aber nur mehr mittels historischer Reflexion zugänglich sind.« (Stachel 2007: 22).
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legt sein Gewehr ab und lässt es am Moldauufer zurück. Als er nach Hause eilt, stellt er fest, dass niemand da ist, um ihm aufzumachen, also macht er sich auf den Weg zurück in die Kaserne, um seine Habseligkeiten zu holen. Dabei passiert er wiederum die Innenstadt. Mittlerweile hat sich der Stadtraum bereits vollständig verändert: Seit dem Morgen sind kaum ein paar Stunden vergangen, aber die Stadt, durch die mich der inzwischen noch mehr angeschwollene Menschenstrom jetzt treibt, ist keine österreichische Stadt mehr. Überall spielen Kapellen die ›verbotenen‹ nationalen Lieder und die Marseillaise.18 An den Litfaßsäulen kleben große Plakate ›ES LEBE DIE TSCHECHOSLOWAKISCHE REPUBLIK!‹ Von den Straßenbahnwagen flattern kleine amerikanische Wimpel. Die ›slawische Linde‹ auf dem Wenzelsplatz hat sich in einen Flaggenbaum verwandelt. Weiter oben bringen Handwerker über dem breiten Balkon des ›Hotel Erzherzog Stefan‹ eine neue Tafel an: ›Hotel Präsident Woodrow Wilson‹. Dutzende von Straßenhändlern verkaufen Fähnchen, Kokarden, Schleifen, Bilder von Wilson und ›Professor Masaryk, unserem Befreier und ersten Präsidenten.‹ Vor den meisten Amtsgebäuden und Geschäften lehnen Leitern: Doppeladler werden zertrümmert, Hoflieferantenwappen fliegen aufs Pflaster; deutsche Firmenschilder werden entfernt. (SL 174f.) Innerhalb weniger Stunden hat sich das Gesicht der Stadt vollkommen verändert: Prag ist nun keine österreichische Stadt mehr. Der Text beschreibt detailliert, wie diese Transformation des öffentlichen Raums vonstattengeht, wobei die beiden wichtigsten Sinne – Hören und Sehen – angesprochen werden. Die Veränderungen sind also sinnlich wahrnehmbar für alle, die sich in der Stadt bewegen. Die »verbotenen« Lieder sind überall zu hören, ebenso die französische Marseillaise. Man kann an dieser Stelle von einer auditiven Besetzung des öffentlichen Raumes sprechen. Aber auch die visuellen Zeichen sind eindeutig: Plakate, die die neue Republik ausrufen, amerikanische Flaggen an den Straßenbahnen und die mit Flaggen geschmückte slawische Linde auf dem Wenzelsplatz machen deutlich, dass der Stadtraum jetzt gerade neu codiert wird. Kollektive Erinnerung wird neu ausgehandelt, das habsburgisch-österreichische Narrativ, das bisher prägend für den deutschsprachigen Ich-Erzähler gewesen ist, wird sozusagen überschrieben, was Auswirkungen auf sein Selbstverständnis hat, insofern ist das Slawenlied auch als Entwicklungsroman zu verstehen. Die Stadt wird zum lesbaren Text, dessen einzel-
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Vgl. dazu Vera Schneiders Untersuchung der »Partitur der Straße«, in der sie das Singen und Musizieren als identitäts- und gemeinschaftsstiftende kulturelle Praxis und als Teil des politischen Diskurses sowohl im ländlichen Böhmen als auch innerhalb der Großstadt analysiert (vgl. Schneider 2009: 164-173). Dabei geht sie auch auf Das Slawenlied ein (vgl. Schneider 2009: 171-173).
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ne Zeichen eine deutliche Sprache sprechen. Aus einer solchen kommunikationsund zeichentheoretischen Perspektive wird der urbane Raum also mit einem neuen Code überschrieben, der den bisherigen ablöst, was beispielsweise in den abgeschraubten und neu angebrachten Hotelschildern zum Ausdruck kommt. Die Stadt wird zur Bühne, auf der neue Erinnerungs- und Identifikationsangebote inszeniert werden und sich somit kollektive Identifikationsprozesse abspielen. Im Zuge der Transformation der Stadt müssen Symbole wie der Doppeladler verschwinden, um das ›alte‹ Erinnerungsnarrativ vergessen zu machen. Dabei ist durchaus eine gewisse Rohheit im Spiel, wie das Verb »zertrümmern« signalisiert. Die Bewohner schmücken sich mit den Zeichen des neuen Staates, für die sich binnen kürzester Zeit ein florierender Markt entwickelt hat, so dass man sie an jeder Straßenecke kaufen kann. Für den Prager deutschen Ich-Erzähler bietet die Stadt allerdings zunächst keine Identifikationsmöglichkeit mehr. Die Veränderungen finden außerdem Eingang in die Sprache, wie folgender Ausschnitt zeigt. Das ältere Fräulein Thamiser, das im selben Haus wie die Eltern des Ich-Erzählers wohnt und deren österreichische Gesinnung durch ihre dialektale Redeweise unterstrichen wird – »›Aber na! ... Aber hörn’s auf! ...Aber Frailn Stasi ... Aber dös kann doch net ...‹« (SL 231) – gerät darüber in Rage, dass die tschechische Hausangestellte Stasi bei einer Versammlung gewesen ist, wo über neue Formen einer sozialen Ordnung gesprochen wurde: »[U]nd dort habe ein Redner erklärt, für die Tschechen fange jetzt ein neues Leben an, und dieses neue Leben erfordere auch neue Umgangsformen. Man solle deshalb nicht mehr ›Küß’ die Hand!‹ und ›gnädige Frau‹ sagen, sondern ›Guten Tag!‹ und ›Bürgerin Soundso‹« (SL 232). Daran wird deutlich, dass sich nicht nur die Codierung des städtischen Raums geändert hat, sondern dass auch auf sprachlicher und sozialer Ebene ein Wandel stattfindet.
2.4
Die Kleinseite vorher und nachher
In krassem Gegensatz zum lebendigen Treiben auf der rechten Moldauseite am Tag des Umsturzes steht das Bild, das im Slawenlied von der Kleinseite gezeichnet wird, obwohl diese nur einige hundert Meter entfernt liegt. Der Kai auf dem linken Ufer liegt im Dunkel, aber von drüben, von der anderen Seite, dringt ein Echo der lauten Unruhe herüber. Und wieder habe ich das Gefühl, von einer Welle emporgehoben und fortgetragen zu werden; möchte singen und schreien; bin ganz betrunken von einer neuen, zum ersten Mal erlebten Empfindung: Teil und Blutstropfen zu sein eines großen, stürmisch atmenden Körpers... (SL 183) Hier befinden sich die alten Adelspaläste und die Prager Burg, Symbole der offiziellen Habsburger Herrschaft (vgl. Nekula 2016: 209ff.), und so zieht es den verun-
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sicherten Ich-Erzähler hierhin. Er entfernt sich von dem symbolisch, politisch und gesellschaftlich bereits transformierten Raum zwischen Altstadt und Wenzelsplatz, der von der tschechischen Öffentlichkeit besetzt ist und findet auf der Kleinseite einen noch weitgehend unveränderten Stadtteil vor, der ihm dadurch noch eine gewisse Orientierung und Selbstvergewisserung ermöglicht. Aber auch hier kündigt sich die große Veränderung bereits durch das »Echo der lauten Unruhe« auditiv an und so kann sich der Ich-Erzähler dem Gefühl, Teil eines Kollektivs zu sein, dennoch nicht gänzlich entziehen. Schon im Vorfeld des 28. Oktobers, als der Ich-Erzähler durch die Stadt streift und sich in den Vorstädten bereits der nahende Wandel bemerkbar macht, bietet die Kleinseite einen ganz anderen Eindruck als die unruhigen Vorstädte, wo Flugblätter verteilt werden und erste Symbole des neuen Staates im öffentlichen Raum auftauchen (vgl. SL 157f.), oder als die Altstadt, deren »Straßen erfüllt sind von aufgeregtem Leben« (SL 159). Im Gegensatz dazu beobachtet Weiskopfs IchErzähler auf der Kleinseite vor dem Statthalterpalais, wie zwei Frauen unter den wachsamen Augen des Portiers den Aufruf des tschechischen Nationalausschusses von einer Mauer entfernen, was Ausdruck des Versuchs ist, die alte Ordnung aufrecht zu erhalten. Dennoch erkennt der Ich-Erzähler an dieser Stelle, dass »Österreich wirklich zugrunde geht« (SL 161). Das »bedrückende Gefühl des Ausgeschlossenseins und Nichtdazugehörens« (SL 162) angesichts der lebendigen Fahne im Stadtzentrum überfällt ihn kurz darauf, wird aber abgelöst von der Erkenntnis, dass mit dem Zusammenbruch Österreichs auch der Krieg endet. Berauscht von diesem Gedanken rennt er die Schlosstreppe hinauf auf die Schanzen, von wo aus »man fast die ganze Stadt überblicken kann« (SL 163). Die Inszenierung eines solchen Standpunktes über der Stadt wurde im Rahmen der vorliegenden Untersuchung bereits behandelt und als Ausdruck einer Suche nach Orientierung – in ethischer, moralischer oder ästhetischer Hinsicht – interpretiert.19 Im Einklang damit versucht auch Weiskopfs Protagonist, sich inmitten seiner aus den Angeln gehobenen Umwelt neu zu orientieren und zu verorten. Wie stark sich das Bild der Kleinseite bereits im Vorfeld des 28. Oktober vom Wandel in den Vorstädten unterscheidet, wird an der folgenden Textstelle noch deutlicher: Still, verschlafen, wie unter einer Glasglocke, liegen die Gassen da, die Häuser mit den Laubengängen, die weitläufigen Barockpalais, die Kirchen mit den geschwungenen Giebeln und den schillernden Kuppeln, die grünen Kanäle des ›Kleinen Venedigʻ, die ehrwürdigen Plätze mit den noch ehrwürdigeren Namen: Grandprioratsplatz, Malteserplatz, Radetzkyplatz ... In dem kleinen Café gegenüber dem Standbild des Feldmarschalls Radetzky, hinter den Efeuwänden, in
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Vgl. dazu Kap. V. der vorliegenden Arbeit.
VI. Prag als neue Hauptstadt
denen sich schon welkes Laub verfangen hat, sitzen gichtbrüchige Offiziere a. D. und pensionierte Staatsbeamte, spielen Tarock um halbe Heller, erzählen einander uralte Geschichten, lesen die offiziösen Wiener Journale, in denen auch jetzt noch von der ›Verteidigung der bewährten Balkanpolitik‹ geschrieben wird, ›die wir zum Leben brauchen‹ (SL 159f.; meine Hervorhebungen, U.M.). Neben der Beschreibung architektonischer Pracht und den historischen Bezügen, die in die Vergangenheit Prags weisen, sticht die Inszenierung dieses Tableaus als alt, überkommen und nicht zukunftsfähig ins Auge. Die Kleinseite wird als Ort des Verfalls und Untergangs der alten Ordnung, mit anderen Worten: des Habsburgerreichs, modelliert. Zwar hält man hier noch am alten Österreich fest, doch sind die auftretenden Figuren nur noch Greise. Die Prager Burg bildet die architektonische Dominante der Kleinseite und war rund 400 Jahre lang eines der Machtzentren der Habsburger. Bereits im 13. Jahrhundert, als König Ottokar II. die Kleinseite befestigte und mit dem Magdeburger Stadtrecht versah, siedelten sich unterhalb der Burg auf sein Geheiß vornehmlich deutsche Handwerker und Kaufleute an und so wurde die Kleinseite über die Jahrhunderte zu einem überwiegend deutschsprachig geprägten Stadtteil (vgl. Demetz 1998: 73). Nachdem sich das Stadtzentrum Prags auf der anderen Moldauseite bereits stark transformiert hat, verändert sich schließlich mit einiger Verzögerung auch dieser Stadtteil. »Fast nicht wiederzuerkennen ist die ›Kleinseite‹. Die früher so stillen Gassen und Plätze sind voller Lärm und Unruhe« (SL 287). In den alten Adelspalais herrscht nun geschäftiges Treiben. Das Waldsteinsche Palais beherbergt jetzt das Handelsministerium, man hört das Klappern der Schreibmaschinen. Das Tor zum Fürstenbergpark steht offen und ein rot-weißes Schild weist den Weg durch den Garten »Zum Departement für Jugendfürsorge«. In Weiners Feuilleton »Na Hradě« [»Auf der Burg«] gibt es erstaunliche Parallelen zu den Textstellen im Slawenlied. Auch Weiner kontrastiert das Bild der ›alten‹ düsteren und verschlossenen Kleinseite mit dem befreit wirkenden Bild nach dem Umsturz: Nuže, je veta po pošmourném kouzlu pražských paláců. I ty nejzakletější, jako Clam-Gallasův v Husově třídě, Fürstenbergův ve Valdštýnské ulici a Maltézský na Velkopřevorském náměstí, otevřely brány, prohlédly okny a zamlklé kdysi síně a chodby hlučí příchody a odchody lidí, zvoněním telefonů a klapáním psacích strojů. (TDD 22) Nun hat es mit dem trüben Zauber der Prager Palais ein Ende. Auch die verwunschensten wie das Clam-Callas-Palais in der Husgasse, das Fürstenberg-Palais in der Wallensteingasse und das Malteser-Palais auf dem Grandprioriatsplatz, öffneten ihre Tore, die Fenster waren nicht mehr blind und die einst verstummten Säle und Gänge erfüllt vom Kommen und Gehen der Menschen, dem Klingeln der Telefone und dem Klappern der Schreibmaschinen. (FHT 176f.)
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Weiner spricht von einem »Prager Märchen« (FHT 176), das gekennzeichnet war von »Verlassenheit«, »Düsterkeit« und der »Blindheit der Fenster« (ebd.) [»Pražskou pohádkou byly paláce a pohádkovým byly na nich opuštěnost, zamušilost a slepota oken« (TDD 22)]. Dieses Märchen habe die Republik hinweggefegt, wodurch der trübe Zauber der Prager Palais nun ein Ende habe: »Wir lernen auf ein freundlicheres Märchen um.« (FHT 177) [»Přeučujeme se na pohádku přívětivou.« (TDD 22)]. Die Beschreibung der einstigen Prager Burg, dem Regierungssitz der österreichischen Monarchen, aus der ganzen Stadt weithin sichtbar durch ihre Lage auf dem Burgberg, ist durchzogen von phantastischen und morbiden Elementen: Po léta letoucí spočival obrovský zámek na svém návrší jako slavný nebožtík, vystavený v sarkofágu s velikou, nádhernou pompou: tak ve dne. V noci však jevil se vznešeným a zasmušilým obrem, kterého porazili a jenž bez hnutí a bezdech spočivá, vzbuzuje tesklivou úctu svým bezživotím. Z jedné strany, z té totiž, kudy je viděti přes rudolfinský most, shlížel téměř posupně do průrvy Letenské ulice, a jestliže z jeho nehybnosti prohlédlo tutam osvětlené okénko z ústavu šlechtičen či z kteréhosi služebného obydlí, tu bylo to jako nedovřené oko mrtvého, jež děsí. (TDD 22f.) Lange Jahre hatte das Schloß auf seiner Anhöhe geruht wie ein berühmter Verblichener in einem Sarkophag mit großem, herrlichem Pomp. So wirkte es am Tage. Nachts erschien es wie ein erhabener, düsterer Riese, der niedergeworfen dalag und durch seine Leblosigkeit bange Achtung gebot. Von der einen Seite, nämlich von dort, wo man über die rudolfinische Brücke blickte, schaute er geradezu bedrohlich in den Einschnitt der Belvederegasse, und wenn ein erleuchtetes Fenster vom Institut der Adelsfräulein oder einer Bedienstetenwohnung herablickte [sic!], so war es wie das nicht ganz geschlossene Auge eines Toten, das Angst einflößte. (FHT 177) Mit dem Umsturz hat sich das Bild der Prager Burg vollkommen gewandelt. Die düstere »Verzauberung« der Burg ist so schnell und so umfassend verschwunden, dass es selbst Zauberei zu sein scheint (vgl. FHT 177; TDD 22). Abends sind die Fenster der Burg hell erleuchtet, und zwar durch »gewöhnliche Lichter wie in menschlichen Behausungen, Büros und Läden […], Lichter der Arbeit und des Lebens« (FHT 177f.) [»hořela obyčejná žlutá světla, jaká se rozsvěcujji v obydlích lidských, v kancelářích, v obchodech, světla jaksi soustřděná a neexaltovaná, světla práce a života« (TDD 23)]. Die »düstere Majestät des Unzugänglichen und des Verschlossenen« [»[p]onurý majestát nedostupna a uzavřenosti«] ist verschwunden, an die Stelle der »feudalen Vergangenheit« [»feudální minulostí«] ist die »Autorität der bürgerlichen Institutionen« (FHT 178) [»autorit[a] občanských zřízení« (TDD 23)] getreten. Statt unnahbarer adeliger Herren im Frack, die abgekapselt von der übrigen Bevölkerung lebten, tun dort nun Bürger, die man im Kaffeehaus zum
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Plausch trifft oder beim Kneipenbummel, ihren Dienst für den jungen Staat. Die neue Republik ist laut Weiner geprägt von einer neuen Menschlichkeit und Transparenz; Staatsangelegenheiten werden nicht mehr »wie Monstranzen ausgestellt […], damit man sich in stummer Bewunderung verbeugt, sondern […] jeder [kann] sie anfassen und sich von ihrem Inhalt überzeugen« (FHT 179) [»jako monstrance ke klanění a němému obdivu, nýbrž kde je každý může omakati a přsvědčiti se, co v nich je« (TDD 24)]. Es hat eine Demokratisierung stattgefunden, so dass der Staat nun etwas ist, an dem alle teilhaben. Folgerichtig findet der Erzähler auf der Kleinseite nun »Erhabenheit, aber völlig vermenschlicht« (FHT 180) [»vznešenost, ale dočista zlidštělou« (TDD 24)]. Im literarischen Stadtbild manifestiert sich diese Veränderung darin, dass die im Vergleich zu vorher völlig veränderten Bauwerke anthropomorphisiert und als ebenso überrascht über den Wandel wie der Erzähler selbst dargestellt werden. Dadurch erscheint die ehemals verschlossene Kleinseite dem Erzähler als positiver und integrativer Raum, an dem er partizipieren kann: Dlouhá průčelí hradních nádvoří, chrám, kašny, domy kanovnické i ta podivně rezervovaná Vikárka (ač i dříve bývala jen hospodou), vše jako by sobě ještě mnulo oči a říkalo: »Co se nám to jen zdálo?« Už u Prašného mostu, tohoto kdysi tak ponurého vjezdu hradního, bylo mu, že vstupuje jinak než kdysi: ne jako host, kterého může vyhodit už ten první voják na stráži, nýbrž jako někdo, kdo zde má svůj vlastnický podíl. Jak bylo vše jinaké než kdysi! (TDD 24f.) Die langen Fassaden der Burghöfe, die Kathedrale, die Brunnen, die Häuser der Domherren und die seltsam reservierte Vikárka (mochte sie früher auch nur ein Gasthaus gewesen sein), alles schien sich noch die Augen zu reiben und zu sagen: ›Was haben wir nur geträumt?‹ Schon an der Pulverbrücke, dieser ehemals so düsteren Burgfahrt, war es ihm, als trete er anders ein als sonst: nicht als Gast, den der erste beste Wachsoldat wieder hinauswerfen konnte, sondern wie jemand, der hier Miteigentümer ist. Wie verändert war doch alles gegenüber früher! (FHT 180) Die Insignien der alten Machthaber werden eliminiert: »Vom Brunnen auf dem zweiten Burghof war jener gräßliche Blechadler verschwunden, der die Architektur des Brunnens verunstaltete und hier absichtlich zu provozieren schien« (ebd.) [»Z kašny na druhém nádvoří zmizel onen šeredný plechhový orel, jenž na tom místě, hyzdě architekturu kašny, jako by schválně byl dráždil« (TDD 25)]. Der Doppeladler als Wappen(-tier) der k. u. k. Monarchie und damit Symbol der alten Machthaber wird demontiert. Wir folgen dem Erzähler weiter durch die Burghöfe, in denen nun Lärm und Betriebsamkeit herrschen (vgl. FHT 181; TDD 25). Es wird geschildert, wie die königlichen Räume der Burg umgestaltet werden: Überall sind Handwerker zugange und Möbel werden gerückt. Der Erzähler beschreibt die Pracht und die Kunstwerke
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aus den vergangenen Jahrhunderten in den einst verschlossenen Räumen, die nun trotz ihres Prunks Wohnlichkeit und Gemütlichkeit ausstrahlen und ein ganz neues Aussehen erhalten: »Wie anders sieht man jetzt alles in dem Bewußtsein, daß von hier aus die Unsrigen uns regieren! Ein Gedanke, der einen ständig begleitet und das Herz erwärmt. – Wir kannten nichts anderes als Fremdherrschaft« (FHT 182) [»Jak se na vše jinak patří nyní u vědomí, že bude odtud vládnuto našimi nám! Myšlenka, která vás stále provází a která hřeje, ažsrdce roztává. – Neznali jsme nic jiného než cizovládu« (TDD 26)].20
2.5
Kollektive Identitäten im neuen Staat
Es fällt ins Auge, dass gleich zu Beginn von Weiners erstem Feuilleton ein Wir, das zunächst aus dem Erzähler und seinem Freund besteht, statt eines einzelnen Ich, wie bei Weiskopf, spricht. Dadurch wird von Anfang an eine Gruppenidentität behauptet. Weiners Ich-Erzähler fühlt sich als Teil eines Kollektivs (wenn es auch anfänglich nur aus zwei Personen besteht), wohingegen Weiskopfs Roman durchzogen ist von der Spannung zwischen individuellen und kollektiven Identitätsentwürfen. Weiskopf lässt seinen Erzähler immer wieder zwischen unterschiedlichen Zugehörigkeiten und kollektiven Identifikationsangeboten schwanken.21 Wiederholt artikuliert er Gefühle des Ausgeschlossenseins und der Vereinzelung: Ich sehe die lebendige Fahne wieder vor mir, die drängende, auf- und abflauende Menge drüben in der »inneren Stadt«; ich spüre die Erwartung, die Hoffnung, die Ungeduld und das Abschiednehmen ringsum und fühle zugleich, daß ich daran nicht teilhabe. Aber das bedrückende Gefühl des Ausgeschlossenseins und Nichtdazugehörens dauert nur einen Atemzug lang. (SL 162) Die politischen Ereignisse und vor allem ihre Wahrnehmung durch den Protagonisten lassen bisherige Gruppenidentitäten fragwürdig werden. So fühlt er sich beispielsweise dem Kollektiv der deutschsprachigen Prager, vertreten durch die Bewohner des Stadtviertels, in dem die elterliche Wohnung liegt, nicht mehr zugehörig, da sie die in der Stadt sichtbar werdenden Entwicklungen nicht wahrnehmen (wollen):
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Zum Topos der Fremdherrschaft und seiner Bedeutung für das tschechische Selbstbild im Zuge der nationalen Wiedergeburt vgl. Kap. V. der vorliegenden Arbeit. Kristina Lahl setzt sich in ihrer Dissertation ausführlich mit demSlawenlied und dem »besondere[n] Spannungsverhältnis zwischen und der gleichzeitigen Verwobenheit von Deutschen und Tschechen, Juden und Christen sowie Bürgertum und Arbeiterklasse in Prag« auseinander, wobei sie dem »Re-Orientieren des Protagonisten im modernen multikulturellen Raum« (Lahl 2014: 243), räumlich wie sozial, besondere Aufmerksamkeit widmet.
VI. Prag als neue Hauptstadt
Ich mußte dann immer an unsere Straße denken, wie ich sie vor kurzem gesehen hatte, scheinbar unverändert und doch völlig anders geworden, – und mir schien, die Deutschen hier lebten alle in einer solchen Straße: sie glaubten wahrscheinlich, daß sie die Stadt noch kannten, aber sie war ihnen schon fremd geworden, hatte sich abgekapselt, war unzugänglich geworden für alle, die nicht mehr zu ihr gehörten ... nur ahnten sie es noch nicht! (SL 138)22 Diese Problematisierung von Zugehörigkeit, von Abschließungs- und Ausgrenzungsprozessen spielt bei Weiner zunächst keine Rolle, da er sich von Anfang an als Teil eines tschechischen (bürgerlichen) Kollektivs begreift. Dennoch reflektiert sein Ich-Erzähler durchaus die Situation der Prager Deutschen und zeigt ihnen gegenüber Mitgefühl: Toho dne nebylo slyšti německého slova. Až teprve ve středu šli Němci opět do ulic se svou mateřštinou. Také my mluvili česky se známým Němcem. […] Jak asi bylo Němci? Připadal mi, zdálo se, cizím a jakoby zajatcem. I přišlo mi na mysl, abych zmírnil jeho pocit osamění. Když jsme se rozcházeli, řekl jsem mu: »Guten Tag und auf Wiedersehen.« – Odpověděl česky: »Děkuji,« a jeho oči pravily, že děkuje za více než za pozdrav. (TDD 12) An diesem Tag [dem 28. Oktober, U.M.] war kein deutsches Wort zu hören. Erst am Mittwoch gingen die Deutschen wieder mit ihrer Muttersprache auf die Straße. Auch wir sprachen tschechisch mit unserem deutschen Bekannten. […] Wie war wohl dem Deutschen zumute? Er schien mir irgendwie fremd, gleichsam wie ein Gefangener. Und es kam mir in den Sinn, sein Gefühl der Vereinsamung zu lindern. Als wir uns trennten, sagte ich zu ihm auf deutsch: »Guten Tag und auf Wiedersehen!« – Er antwortete tschechisch: »Danke«, und seine Augen sagten, daß sie für mehr als den Gruß dankten. (FHT 176) Weiners erlebendes Ich ist um Verständigung bemüht, schließt niemanden auf Grund seiner nationalkulturellen Zugehörigkeit aus dem neuen Staat aus und bekräftigt mit Emphase die neue Republik mit ihren bürgerlichen Institutionen, »an denen du und ich Anteil haben: wir haben sie geschaffen, und wir respektieren sie« (FHT 178) [»na nichž i ty, i já máme stejný podíl jako tvůrci a zároveň jako její
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Vgl. dazu auch folgende Textstelle, die deutlich macht, wie sehr der innere private Raum sich vom äußeren öffentlichen Stadtraum abhebt und so quasi eine Bastion der alten Ordnung darstellt, an der das Prager deutsche Umfeld des Ich-Erzählers weiterhin festhält: »Zu Hause hatte sich nichts verändert; nicht die Gewohnheiten und nicht die Dinge […] Nach all den Veränderungen, die ich in der Stadt beobachtet hatte, machte mich das stutzig. Aber noch stutziger machte mich die Entdeckung, daß die Menschen hier gar nichts von den Veränderungen draußen zu merken schienen, oder vielmehr, daß sie die Veränderungen wohl wahrnahmen, aber nicht begriffen, was sie zu bedeuten hatten.« (SL 134f.).
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poslušníci« (TDD 23)]. Darin kommt Weiners unbeirrbarer Glaube an das republikanische Ideal zum Ausdruck. In dem Artikel »Kde moje místo?« [»Wo ist mein Platz?«], der im Juni 1918 in der Zeitschrift Národ erschien, setzt sich Weiner hauptsächlich mit seiner jüdischen Identität auseinander und beansprucht seinen Platz innerhalb der Gesellschaft: Příslušenství k národu subjektivně je dáno pocitem; objektivně se prokazuje skutky, souběžností slova a konání […]. Nedbám hlasu neochotných lidí, kteři mi upírají právo, abych se hlásil o místo tam, kam nemohu se nehlásiti. Toliko se jich táží: přičítají rassové otázce tolik významu ve věci národního příslušenství, co si počnou s řadou lidí, jímž říkají »naši«? […] [K]terak dokážete, že češtějším je X, jehož děd se hrdě hlásil k Němcům, než Y, jenž sám sice je nepokřtěn, ale jehož nepokřtěný otec dokázal skutky, že pro věc českou dovede přinésti oběti? – Vylučovati z národa prostě pro jisté rodové zvláštnosti, za perhoreskování národních citů postiženého, toť stejně nespravedlivé jako pošetilé. (Weiner 1918: 294) Die Zugehörigkeit zu einem Volk ist subjektiv gefühlsgegeben; objektiv zeigt sie sich in Taten, durch die Einheit von Wort und Tat […]. Ich gebe nichts auf die Stimmen der Unwilligen, die mir das Recht absprechen, meinen Platz dort zu sehen, wo ich ihn einfach sehen muß. Ich frage sie nur: Wenn sie der Rassenfrage soviel Bedeutung für die nationale Zugehörigkeit beimessen, was machen sie dann mit einer Reihe von Menschen, die, die sie »unsrige« nennen? […] Wie beweisen Sie, daß X, dessen Großvater sich stolz zu den Deutschen bekannte, tschechischer ist als Y, der zwar nicht getauft ist, dessen ungetaufter Vater jedoch durch Taten gezeigt hat, daß er für die tschechische Sache Opfer zu bringen vermag? – Jemanden einfach wegen einer Besonderheit in der Abstammung aus dem Volk auszuschließen, unter Mißachtung seiner nationalen Gefühle, ist so ungerecht wie töricht. (Weiner 2005: 49f.) Obwohl es Weiner in dem Artikel vorrangig darum geht, sich als jüdischer Tscheche innerhalb der tschechischen Autonomiebewegung zu positionieren, lassen sich seine Ausführungen auch auf die deutschsprachige Bevölkerung der Böhmischen Länder ausweiten. Weiner zufolge ist das Bekenntnis zu einer gemeinsamen öffentlichen Sache (res publica) in Wort und Tat, ergo zur Tschechoslowakischen Republik, das entscheidende. Niemandem dürfe die Zugehörigkeit zu einem Volk oder Kollektiv auf Grund seiner Abstammung oder seines Glaubens verwehrt werden. Das bedeutet, dass für Weiner die (staats-)bürgerliche Identität über jeglichen nationalen oder religiösen Identitätszuschreibungen steht.23
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Weiners »republikanisches Ethos« findet Irina Wutsdorff nicht nur in dem genannten Aufsatz, sondern gerade auch in seinen Feuilletons [»Právě takovéto gesto vidím ve Weinerovych
VI. Prag als neue Hauptstadt
Die Suche nach einem Platz innerhalb des neuen Staatsgefüges treibt auch Weiskopfs namenlosen Ich-Erzähler um. Der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik steht er zunächst orientierungslos gegenüber. Die Prager deutschsprachige Gesellschaftsschicht, die als konservativ und ignorant gegenüber den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen vorgeführt wird, bietet für den Erzähler keine Identifikationsmöglichkeit mehr. Im Verlauf des Romans wird die Frage nach einer Neuorientierung der Gesellschaft mit dem Sozialismus beantwortet. Die ersten Jahre der Tschechoslowakischen Republik waren geprägt durch »ein erhebliches Aggressionspotential in der Gesellschaft« (Alexander 2008: 403) und Spannungen zwischen der tschechischen und deutschsprachigen Bevölkerung.24 Weiskopf nimmt in seinem Roman Bezug auf die sozialen Unruhen und Streiks, die im Dezember desselben Jahres zu einer Abspaltung der linken Strömung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei führten, aus der 1921 die »Kommunistische Partei der Tschechoslowakei« unter Bohumír Šmeral hervorging. Während der Zwischenkriegszeit war die KSČ die einzige Partei, die sich als übernational verstand. Vor diesem Hintergrund findet der Ich-Erzähler schließlich in der sozialistischen Bewegung nicht nur eine neue politische Orientierung, sondern auch eine tschechische Geliebte und schließlich ein Zugehörigkeitsgefühl über alle nationalkulturellen Grenzen hinweg. Mit der Hinwendung zu einem internationalen Sozialismus wird seine Angehörigkeit zum neu entstandenen Staat gewissermaßen politisch legitimiert, er kann sich als »Teil und Blutstropfen […] eines großen, stürmisch atmenden, kämpfenden Körpers« (SL 375) fühlen und gelangt endlich zu einem Wir-Gefühl.
2.6
Denkmäler als Erinnerungsorte
An Denkmälern als »materielle[n] Einschreibungen in den öffentlichen Raum«, die »bestimmte Formen des kollektiven Gedächtnisses […] manifestieren, oftmals erst […] erzeugen« (Stachel 2007: 26), wird der politische und gesellschaftliche Wandel nach der Republikgründung besonders augenfällig. Der Begriff »Denkmal« geht zurück auf die Bibelübersetzung Martin Luthers, der ihn erstmals verwendete, um das griechische mnemosynon bzw. das lateinische monumentum mit der Bedeutung »Gedächtnisstütze« (vgl. Selbmann 1988: 1) ins Deutsche zu übertragen. So kann
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fejetonech, které kladou silný důraz na zakládání republikánského étosu.«] (vgl. Wutsdorff 2018: 146). Diese Spannungen zeigten sich zum Beispiel in der ›Nationalisierung‹ des deutschen Landestheaters (dem heutigen Ständetheater): Die aus Russland zurückgekehrten Legionäre besetzten im November 1920 das Theater. Die Behörden lehnten eine Rückgabe ab, was durch das oberste Gericht als Teil der »nationalen Revolution« (zit. n. Alexander 2008: 404) legitimiert wurde.
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
Rudolf Jaworski konstatieren: »Denkmäler sind die wohl auffälligste Ausdrucksform öffentlich zelebrierten Erinnerns, sie haben darum nicht von ungefähr das Interesse der kulturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte auf sich gezogen« (Jaworski 2007: 175). Denkmäler können kollektive Identifikationsangebote stiften und zugleich das Territorium eines Kollektivs eindrücklich markieren. Am Phänomen des Denkmals lassen sich theoretische Überlegungen wie zum einen die Dreiheit des Raumes bei Lefebvre und zum anderen die drei Dimensionen der Erinnerungsorte bei Nora anschaulich nachvollziehen. In ihrem Aufsatz »Denkmal und Gegendenkmal. Kommunikationsraum der Generationen« führt Jana Scheele Lefebvres Raumkonzept mit Pierre Noras Erinnerungsorten zusammen. Diese »lieux de mémoire« schließen sowohl Orte, Gebäude und Denkmäler als auch Kunstwerke oder geschichtliche Ereignisse und Persönlichkeiten mit ein (vgl. Nora 1990: 26-33). Nora unterscheidet drei Dimensionen der Erinnerungsorte: eine materielle, eine funktionale und eine symbolische (vgl. Nora 1990: 26). Dazu formuliert Jana Scheele: Erinnerungsorte fungieren dabei als »kulturelle Objektivationen«, die sowohl in Gegenständen als auch in Ereignissen Ausdruck finden können. Sie werden auf der funktionalen Ebene mit einem bestimmten gesellschaftlichen, politischen oder sozialen Zweck angereichert und schließlich mit symbolischer Bedeutung aufgeladen und gefüllt. Erst die Kombination aus allen drei Dimensionen hebt die Erinnerungsorte von den ›Dingen der Kultur‹ ab. (Scheele 2014: 76) In einer Amalgamierung der Theorien Noras und Lefebvres betrachtet Jana Scheele das Denkmal zunächst auf der materiellen Ebene als das Wahrgenommene bzw. die räumliche Praxis. Dabei werden mit der Errichtung eines Denkmals bestimmte Ziele verfolgt. Bei Nora entspricht dies der funktionalen Ebene, bei Lefebvre den Raumrepräsentationen, die von einem »stets relativen, sich verändernden Wissen (einer Mischung aus Erkenntnis und Ideologie) durchdrungen« sind und »einen Teil der sozialen und politischen Praxis« bilden (Lefebvre 2006: 339). Auf einer dritten Ebene schließlich geht es um die symbolische Funktion des Denkmals; Denkmäler als Repräsentationsräume also »sind vom Imaginären und vom Symbolismus durchdrungen und haben ihren Ursprung in der Geschichte eines Volkes sowie jedes Individuums, das zu diesem Volk gehört« (ebd.). Lefebvre charakterisiert den Repräsentationsraum als »gerichtet, situiert, relational, weil er wesenhaft qualitativ, im Fluss und dynamisch ist« (Lefebvre 2006: 340). Daraus folgt, dass eine Inkohärenz in Bezug auf Raumrepräsentationen eine veränderte Raumproduktion bewirken kann. Mit anderen Worten: Verändert sich die Wirklichkeit einer Gesellschaft, verändern sich die soziale und politische Praxis und damit auch die Erinnerungsorte und die Räume der Repräsentation. Eine solche Veränderung findet dann Ausdruck in der »(Neu-)Produktion des Raumes« (Scheele 2016: 78).
VI. Prag als neue Hauptstadt
Franz Carl Weiskopf beschreibt im Slawenlied die Verhüllung von Denkmälern: »Den alten Radetzky und den Kaiser Franz verhüllte man mit grauen Tüchern« (SL 190). Daneben ist für die Neuproduktion des Raumes auch die Umbenennung von Orten eine wichtige Strategie (vgl. »auf dem ehemaligen Radetzkyplatz« (SL 289)). Der Feldmarschall und Heeresführer Josef Graf Radetzky wurde von vielen patriotisch-monarchistisch gesinnten Österreichern sehr verehrt. Johann Strauss d. Ä. etwa komponierte 1848 ihm zu Ehren den berühmten Radetzkymarsch. Im Sinne Noras kann Radetzky, ebenso wie der österreichische Kaiser, als Erinnerungsort aufgefasst werden. Mit dem politischen Wechsel in Prag ändert sich dann auch die Wahrnehmung der Denkmäler Radetzkys und Kaiser Franz Josephs: Räume der Repräsentation [sind] von Ideologie durchzogen und Ausdruck der sozialen, gesellschaftlichen und politischen Praxis. Sie sind geprägt durch die sich stetig entwickelnden Faktoren einer Gesellschaft. An einem Erinnerungsort birgt dies ein entsprechend hohes Konfliktpotenzial. Nicht nur das erinnerte Ereignis, sondern vor allem auch der verfolgte gesellschaftliche Zweck oder der gestiftete Sinn eines Denkmals können veralten. Die neue Generation erlebt eine veränderte Wirklichkeit und empfindet das Denkmal als nicht kohärent mit dieser. Der Wille zur Veränderung, vielmehr zur (Neu-)Produktion des Raumes entsteht. Der Erinnerungsort soll Ausdruck und Identifikationsangebot für die eigene, für die gegenwärtige Generation sein. (Scheele 2016: 78; Hervorhebung im Original) Wenn manche Denkmäler als Erinnerungsorte in einer veränderten Wirklichkeit für die »neue Generation« nicht mehr funktionieren, werden sie verhüllt wie im Roman und dadurch unsichtbar gemacht. Der Historiker Jiří Pokorný gibt Hinweise darauf, dass solche Verhüllungen tatsächlich stattgefunden haben (vgl. Pokorný 2007: 348). Es fehlt dann der »Wille […], etwas im Gedächtnis zu behalten« (Nora 1990: 26), der Grundvoraussetzung eines jeden Erinnerungsortes ist. Noch radikaler äußert sich der Wille, etwas nicht im Gedächtnis zu behalten im Phänomen des Denkmalsturzes. Darauf nehmen sowohl Weiskopf als auch Weiner Bezug, indem sie den Sturz der Prager Mariensäule am 3. November 1918 thematisieren (vgl. dazu auch Pokorný 2007: 348): Auf dem Altstädter Ring knieten trotz Nebel und Kälte ein paar Weiber an den Trümmern der vor einigen Tagen von den Žižkover Arbeitern gestürzten Mariensäule und beteten. Über der Laterne, in deren Licht die Gruppe kniete, wuchs die Finsternis in die Höhe wie ein tiefschwarzer, trichterförmiger Pfeiler. Es sah aus, als beteten die Weiber in einem zerfallenen Dom. (SL 227f.) Bei Weiskopf steht die religiöse Dimension der Mariensäule im Vordergrund, wobei die Szene durch den Vergleich mit »einem zerfallenen Dom« gleichzeitig etwas Überkommenes hat. Der Nationalitätenkonflikt findet hier keine Erwähnung. Die
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düstere Atmosphäre der Passage lässt sich auch in Weiners Schilderung beobachten: Rád bych nyní věděl, kdo vynašel heslo, že mariánský sloup na Staroměstském náměstí je památníkem bitvy bělohorské. Teď, kdy se rozbil na sedm kusů, kdežto Madona, korunující jeho vrchol, je na střepů nespočetně, dovídáme se, že oslavoval nikoliv bělohorskou bitvu, nýbrž uhájení Prahy před Švédy. – Děkuji za poučení. Ale přichází pozdě. Co živ vždy jsem slýchával, že mezi bělohorskou bitvou a mariánským sloupem je bezprostřední souvislost. Ale nejen slýchával. Také čítal. A nejsa historikem, jsem i věřil. Se mnou patrně i ti, kteří 3. listopadu sloup strhli. Tam vede falešné heslo ulice, nečeli-li se mu včas. – Přistihl jsem v neděli dav, kterak ztrýznil Čecha, jenž poraženého sloupu litoval. Dnes snad není už životu nebezpečno říci, že je sloupu věčná škoda. Bylo to krásné umělecké dílo. – Kéž by to bylo lze říci o památníku Husovu! – […] Nenahlížím však, proč by mariánský sloup nebyl mohl zůstati tam, kde byl. […] Svobodná Francie nebojí se pomníků absolutismu. (TDD 50) Nun wüsste ich gern, wer die Losung ausgegeben hat, dass die Mariensäule auf dem Altstädter Ring ein Denkmal für die Schlacht am Weißen Berg sei. Jetzt, wo sie in sieben Stücke zerschlagen wurde, wogegen die Madonna, die einst ihre Spitze krönte, in unzähligen Scherben liegt, erfahren wir, dass sie keinesfalls die Schlacht am Weißen Berge, sondern die Verteidigung Prags gegen die Schweden feierte. – Danke für die Belehrung. Aber sie kommt zu spät. Mein ganzes Leben lang habe ich immer wieder gehört, dass zwischen der Schlacht am Weißen Berge und der Mariensäule ein unmittelbarer Zusammenhang bestünde. Und nicht nur gehört. Auch gelesen. Und da ich kein Historiker bin, habe ich es auch geglaubt. [Und mit mir auch die, die am 3. November die Säule niederrissen. Dorthin führt die falsche Parole der Straße, falls man ihr nicht rechtzeitig die Stirn bietet. – Ich ertappte am Sonntag die Masse, die den Tschechen folterte, der die gefällte Säule bedauerte. Meine Übersetzung, U.M.] Heute ist es vielleicht nicht mehr lebensgefährlich zu sagen, dass es um die Säule ewig schade ist. Es war ein schönes Kunstwerk. – Könnte man doch dasselbe von dem Hus-Denkmal sagen! – […] Ich sehe jedoch nicht, warum die Mariensäule nicht hätte dort bleiben können, wo sie war. […] Das freie Frankreich fürchtet die Denkmäler des Absolutismus nicht. (In der Übersetzung folge ich Janka 2018: 184) In diesem Feuilleton, das den Titel »Heslo ulice« [»Parole der Straße«] trägt, thematisiert Weiner die Schwierigkeiten, die Zeichen im urbanen Raum angemessen zu decodieren, d. h. in der Stadt zu lesen. Immer wieder habe er die »falsche Parole der Straße« [»falešné heslo ulice« (TDD 50)] gehört, dass die Mariensäule ein Symbol für die Schlacht am Weißen Berg sei. Diese zog die Gegenreformation nach sich und leitete die Habsburger Herrschaft ein, was dann unter den Schlagworten
VI. Prag als neue Hauptstadt
»pád« und »temno« zunächst in die Literatur und später auch in den Alltagssprache Eingang fand. Weiners Ich-Erzähler wird klar, dass es sich bei der Mariensäule eigentlich um ein Denkmal für die Rettung Prags vor den Schweden handelte und er bezeichnet sie als »schönes Kunstwerk« [»Bylo to krásné umělecké dílo« (ebd.)], dessen Zerstörung er bedauert. Daran wird deutlich, dass die Bedeutung eines Denkmals sich über die Zeit wandeln kann und es manchmal gar nicht so einfach ist, die ursprüngliche Intention hinter seiner Errichtung korrekt zu rekonstruieren. Mit Lefebvre gesprochen hat der Repräsentationsraum oder gelebte Raum »ein affektives Zentrum« und enthält »die Orte des Leidens/der Leidenschaft und des Handelns, die der früher erlebten Situationen« und kann charakterisiert werden als »im Fluss und dynamisch« (Lefebvre 2006: 340). Der symbolische Gehalt der Mariensäule hat sich seit ihrer Erbauung 1650 diskursiv gewandelt. Ihre Bedeutung ist im Winter 1918 durch die »Parole der Straße« bestimmt und zirkuliert innerhalb der Stadt. Die Masse, die sich spätestens mit der Republikgründung als Volk versteht, schleift die Säule als Symbol der alten Ordnung in einem Akt (politischen) Ikonoklasmus. In seinem Opus Magnum Masse und Macht (1960) beschreibt Elias Canetti diese Praxis eindrücklich: Man hat sich an Skulpturen aus hartem Stein herangemacht und nicht geruht, bis sie verstümmelt und unkenntlich waren. Von Christen wurden die Köpfe und Arme griechischer Götter zerstört. Von Reformatoren und Revolutionären wurden die Bildwerke der Heiligen heruntergeholt, manchmal aus Höhen, wo es lebensgefährlich war, und oft war der Stein, den man zu zertrümmern suchte, so hart, daß man nur halb damit zum Ziel gelangte. Die Zerstörung von Bildwerken, die etwas vorstellen, ist die Zerstörung einer Hierarchie, die man nicht mehr anerkennt. Man vergreift sich an den allgemein etablierten Distanzen, die für alle sichtbar sind und überall gelten. Ihre Härte war Ausdruck für ihre Permanenz, sie haben seit langem bestanden, aufrecht und unverrückbar; und es war unmöglich, sich ihnen in feindlicher Absicht zu nähern. Nun sind sie gestürzt und in Trümmer geschlagen. (Canetti 1971: 16f.) De facto wurde die Mariensäule 1650 von Kaiser Ferdinand III. aufgestellt als Dank für die Rettung Prags vor den schwedischen Truppen (vgl. Šterbová 2014). Doch schon kurz nach ihrer Errichtung wurde sie als Symbol der Gegenreformation verstanden. Tatsächlich ließ Ferdinand III. die Säule genau an dem Ort aufstellen, an dem sein Vater Ferdinand II. am 21. Juni 1621 die 27 Anführer des Böhmischen Ständeaufstandes hatte hinrichten lassen. Die Debatte um die Wiedererrichtung der Mariensäule, die seit der Samtenen Revolution heftig geführt wurde und wird, zeigt dass die (De-)Codierung des öf-
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fentlichen Raums nach wie vor umkämpft ist.25 Nach einer jahrzehntelang andauernden Kontroverse wurde die rekonstruierte Mariensäule schließlich am 4. Juni 2020 auf dem Altstädter Ring aufgestellt.26 Bereits seit den 1990er Jahren hatte sich die »Společnost pro obnovu marianského sloupu« [Gesellschaft für die Erneuerung der Mariensäule] für eine Wiedererrichtung des Denkmals eingesetzt. Im September 2017 hatte die Stadt Prag eine Erneuerung zwar abgelehnt, es gab jedoch eine Bauerlaubnis mit Gültigkeit bis zum 22. Juli 2019. Allerdings fehlte noch die Erlaubnis der Technischen Straßenverwaltung [Technická správa komunikací]. Die von dem Bildhauer Petr Váňa angefertigte Replik war zu diesem Zeitpunkt bereits so gut wie vollendet.27 Im Mai 2019 lösten Váňa und sein Team einen Polizeieinsatz aus, als sie medienwirksam in Eigenregie auf dem Altstädter Ring den Grundstein für die Wiederrichtung der Säule legten.28 Währenddessen lag auf der Moldau, nahe der Karlsbrücke, ein Lastkahn vor Anker, auf dem die Statue nach Prag transportiert worden war und der Váňa vorübergehend als Atelier diente und für die Öffentlichkeit zugänglich war.29 In dem vorausgegangenen Streit argumentierten die Gegner der Säule damit, dass das Mahnmal die Unterdrückung und die Rekatholisierung unter der Habsburger Monarchie repräsentiere. In diese Argumentationslinie reihte sich z. B. auch die Schriftstellerin Lenka Procházková ein, die sich auf den Historiker Ernest Denis berief: »›Ferdinand III. svěřil své království ochraně Panny Marie a postavil jí v červnu 1650 sloup se sochou její na předním místě hlavního města. Sloup se stal symbolem, že se Řím ujal vlastnictví Čech.‹« (Zit. n. Nová 2018) [Ferdinand III. vertraute sein Königreich dem Schutz der Jungfrau Maria an und erbaute ihr im Juni 1650 eine Säule mit ihrer Statue auf dem prominenten Platz der Hauptstadt. Die Säule wurde zum Symbol dafür, dass Rom das Eigentum der Tschechen übernahm.]. Auch der tschechische Philosoph Miloslav Bednář stand der Statue kritisch gegenüber und erklärte seine Haltung mit der Inschrift auf deren Sockel: »›Darauf
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Vgl. Nová (2018): http://ceskapozice.lidovky.cz/bitva-o-mariansky-sloup-obhajci-maji-stav ebni-povoleni-pga-/tema.aspx?c=A180329_130317_pozice-tema_houd, zuletzt geprüft am 15.10.2020. Vgl. Bartovský (2020): https://www.reflex.cz/clanek/reportaze/101491/nanebevzeti-sochy-p anny-marie-mariansky-sloup-na-staromestskem-namesti-je-po-102-letech-kompletni.html, zuletzt geprüft am 15.10.2020 Vgl. Bohata (2019): https://www.idnes.cz/praha/zpravy/mariansky-sloup-praha-magistrat-so uhlas-sochar-vana.A190730_492238_praha-zpravy_rsr, zuletzt geprüft am 15.10.2020. Vgl. Unbekannter Verfasser (2019): https://www.lidovky.cz/domov/sochar-vana-zacal-s-obno vou-marianskeho-sloupu-v-praze-odhalil-desku-pripominajici-jeho-byvale-misto.A190529_11 4500_ln_domov_ele, zuletzt geprüft am 15.10.2020. Vgl. Kirchgeßner (2019): https://www.deutschlandfunk.de/prag-und-der-wiederaufbau-d er-mariensaeule-die-gottesmutter.886.de.html?dram:article_id=452347, zuletzt geprüft am 15.10.2020.
VI. Prag als neue Hauptstadt
heißt es: Ein Denkmal für den Sieg des Katholizismus über ein ketzerisches Königreich. Es geht um das böhmische Königreich, für das die Religionsfreiheit charakteristisch war. Wir reden von der Säule der ›Siegreichen Jungfrau Maria‹, wie sie ja heißt; ich wiederhole: siegreich.‹« (Zit. n. Kirchgeßner 2019). Auf der anderen Seite befürworteten Historiker wie Karel Kavička, Mitglied der Gesellschaft zur Erneuerung der Mariensäule, den Wiederaufbau, da das Denkmal nicht als Ausdruck des katholischen Sieges in der Schlacht am Weißen Berg, sondern als Dank an die Jungfrau Maria für die Rettung Prags vor den Schweden im Jahr 1648 zu verstehen sei: »›Nechceme, aby se z obnovy sloupu stala otázka politická ani otázka triumfalismu či vítězství nad někým. Skutečností je, že sloup byl postaven jako poděkování za ubránění Prahy. Oponenti to posunuli k událostem bitvy na Bílé Hoře, což je v rozporu s historickou skutečností a vědecky neobhajitelné.‹« (Zit. n. Nová 2018) [Wir wollen nicht, dass aus der Erneuerung der Säule eine politische Frage oder die Frage nach dem Triumphalismus oder Sieges über jemanden wird. Tatsache ist, dass die Säule erbaut wurde als Dank für die erfolgreiche Verteidigung Prags. Die Gegner schieben es auf das Ereignis der Schlacht am Weißen Berg, was im Widerspruch zu der historischen Tatsache steht und wissenschaftlich unhaltbar ist.]. Dieser Deutung schloss sich auch der Bildhauer Petr Váňa an und hob zudem die kunst- und architekturgeschichtliche Bedeutung der Mariensäule hervor: »Die Statue hat der Bildhauer Jan Jiří Bendl in den Jahren 1648 bis 1651 geschaffen. Sie wurde aufgestellt als Dank für die Errettung Prags vor den Pestzügen und vor der Übermacht der schwedischen Soldaten, die damals die Stadt belagerten. Interessant ist: Als ich angefangen habe, an dem Projekt zu arbeiten, habe ich verstanden, was sie eigentlich bedeutet: Es ist die erste Barockstatue in Böhmen – der Beginn des steinernen Prags, das Sie hier überall sehen. Klar, vorher gab es das gotische und davor das romanische Prag, aber das barocke Prag hat seinen Ursprung in dieser Statue hier.« (Zit. n. Kirchgeßner 2019) An der Debatte um die Wiedererrichtung, deren adversative Argumentationslinien bereits in Weiners Feuilleton aufeinandertreffen, lässt sich bis in unsere Zeit beobachten, wie konkurrierende Erinnerungsnarrative immer wieder neu ausgehandelt werden. Übrigens regt sich nach wie vor Widerstand gegen die Säule: Am 21. Juni 2020 nahm die Prager Polizei einen Mann fest, der ein Feuer bei der Mariensäule gelegt hatte, das sie jedoch unbeschadet überstand.30 Die Wahrnehmung der Prager Mariensäule oszilliert nach wie vor zwischen religiösem Bauwerk, historischem Denkmal, (national-)kulturellem Symbol und barockem Kunstwerk. Auf
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Vgl. Lesa (2020): https://www.idnes.cz/praha/zpravy/mariansky-sloup-pozar-staromestske-n amesti.A200621_104711_praha-zpravy_lesa, zuletzt geprüft am 15.10.2020.
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diese Weise hat der urbane Raum Anteil an der Produktion des kollektiven Gedächtnisses und kollektiver Identitätskonstruktionen.
Resümee Sowohl Weiskopfs Slawenlied als auch Weiners Třásničky führen vor, was der politische Systemwechsel und die Gründung der Tschechoslowakischen Republik für die Stadt Prag bedeuteten. Die politischen Veränderungen spiegeln sich dabei in der anschaulich geschilderten Transformation des öffentlichen urbanen Raums wider. So kontrastieren beide Texte die Stadtbilder vor und nach der Republikgründung. Wie die Untersuchung gezeigt hat, spielt dabei auch das Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie eine Rolle: Dass der Beginn des Umsturzes von Weiner in das Prager Zentrum, von Weiskopf hingegen in die Peripherie der Prager Vorstädte verlegt wird, liegt in den unterschiedlichen politischen Haltungen beider Autoren begründet. Weiner als Verfechter des bürgerlichen-demokratischen Ideals verortet die Geburt des neuen Staates im bürgerlich geprägten Stadtzentrum und bekräftigt die junge Republik, für die ihm Frankreich als Vorbild dient. Weiskopf als überzeugter Sozialist hingegen lokalisiert den Ausgangspunkt des politischen Wandels in den von der Arbeiterschaft geprägten Vororten. Für ihn endet die Transition folglich nicht mit der Neugründung des Tschechoslowakischen Staates, vielmehr ist seine Vision eine übernationale sozialistische Gesellschaftsform, wie am Ende des Romans zum Ausdruck kommt, wenn der Ich-Erzähler aus seiner Vereinzelung zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl findet (vgl. SL 375). Beide Texte fokussieren in der Schilderung der Transformation auf dieselben markanten Orte innerhalb Prags: Auf dem Wenzelsplatz als »Bühne […] der modernen tschechischen Geschichte« (Hojda 2007: 101) wird der neue Staat in Form einer in den Nationalfarben gekleideten Menschenmenge, mit Flaggen, Plakaten und neuen Schildern an Häusern, Läden und Hotels inszeniert. Ebenso wird der Wandel auf der Kleinseite, wo sich der Regierungssitz und damit das politische Machtzentrum befindet, in beiden Texten auf ähnliche Weise eindringlich dargestellt. Über die zeichenhafte Einschreibung in den städtischen Raum – in der räumlichen Praxis und in den Repräsentationsräumen (Lefebvre) – werden außerdem Prozesse der Kollektivbildung sowie rivalisierende Erinnerungskulturen problematisiert: Die Geburtsstunde des neuen Staates bedeutete gleichzeitig das Ende der Donaumonarchie, was Folgen für die (Neu-)Verortung der Protagonisten innerhalb der (Stadt-)Gesellschaft hat. So werden zum Beispiel in Form von Denkmälern kollektive Identifikationsangebote materialisiert und Erinnerungsnarrative in den öffentlichen Raum projiziert oder aber demontiert. Der Befund, dass die damit verbundenen Deutungs- und Definitionsansprüche mittels der Gestaltung des
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öffentlichen Raumes bis heute immer wieder ausgehandelt werden – wie das Beispiel der Prager Mariensäule veranschaulicht –, zeigt den hohen Stellenwert, den der urbane Raum für kollektive Identifikations- oder Abgrenzungsprozesse sowie für die Verhandlung von konkurrierenden Erinnerungskulturen einnimmt. Dabei spielt die Literatur in Form des Feuilletons »als ein Ort der Vermittlung […], an dem sich Literatur, Publizistik, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wechselseitig durchdringen« (Kauffmann 2000: 12), wie bei Weiner oder als sozusagen re-orientierender dokumentarischer Entwicklungsroman wie bei Weiskopf eine zentrale Rolle. »Wenn der Raum ein Produkt ist, dann muss die Erkenntnis diese Produktion reproduzieren und darstellen. Das Erkenntnisinteresse und das ›Objekt‹ verschieben sich von den Dingen im Raum zur Produktion des Raums selbst« (Lefebvre 2006: 333), so schreibt Lefebvre. Ebendiese Strategien und Bedingungen für die (Neu-)Produktion des Raumes im Medium der Literatur sichtbar zu machen, war das Anliegen dieses Kapitels.
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VII. Figurationen des Jüdischen: Stadttext und Selbstbild in Hermann Grabs Der Stadtpark (1935)1 Vorbemerkungen Es ist also eine doppelte Perspektive einzunehmen, wenn es einerseits darum geht, inwieweit die jüdische Moderne in Prag besondere Merkmale ausgebildet hat, andererseits darum, in welchem Maße Momente einer jüdischen ModerneAuffassung das in sich äußerst vielfältige Phänomen der Prager Moderne mit geprägt haben. Dabei müsste man sowohl was die Prager, als auch was die jüdische Moderne betrifft, eigentlich im Plural sprechen, da es sich jeweils um eine vielfältige Spannbreite von Positionen handelt, die eingenommen und ausagiert werden. (Wutsdorff/Weinberg/Wetz 2015: 10f.) Irina Wutsdorff, Manfred Weinberg und Katja Wetz haben in ihrer Einführung zum Themenheft Prager Figurationen jüdischer Moderne der Zeitschrift brücken programmatisch formuliert, wie damit umzugehen ist, dass es innerhalb der jüdischen Moderne in Prag eine Vielzahl von Positionierungen gab.2 Im vorliegenden
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Das folgende Kapitel ist eine Überarbeitung meines Aufsatzes »Stadttext und Selbstbild in Hermann Grabs Der Stadtpark« (2015). In: brücken. Germanistisches Jahrbuch TschechienSlowakei Neue Folge 23, 1-2, S. 101-114. Andreas Kilcher fasst diese, zumindest für die deutschsprachige Prager Literatur, wie folgt zusammen: »Die Ausformungen der deutschjüdischen Literatur in Böhmen um 1900 belegen diese plurikulturelle Konstellation eines Schreibens zwischen den Kulturen in unterschiedlichen Varianten und Paradigmen: die Weiterentwicklung der Ghettoliteratur seit 1850, die jüdischen Autoren im Umfeld des Concordia-Vereins […] sowie des Zusammenschlusses Jung Prag um die Jahrhundertwende, die Prager Kulturzionisten sowie jene Gruppe, die Brod als ›engeren Prager Kreis‹ bezeichnete« (Kilcher 2017: 69). An anderer Stelle untersucht Kilcher die Narration des »jüdischen Prag« (wiederum beschränkt auf den deutschsprachigen Prager Kontext) und stellt fest: »Drei Muster kulturpolitischer Konstruktion lassen sich unterscheiden: ein assimilatives, ein diasporisches und ein zionistisches. Das erste ist gewissermaßen ein unjüdisches bzw. deutsches jüdisches Prag, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert [sic!] vorherrschte. Dieses wurde sodann die negative Folie für zwei dezidiert jüdische
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Kapitel wird Figurationen des Jüdischen im Werk des Prager deutschsprachigen Autors Hermann Grab nachgegangen. Ausgehend von der Außenseiterposition, die Hermann Grab in seinem Vortrag über Marcel Proust dem jüdischen Künstler zuschreibt, wird Grabs Hauptwerk Der Stadtpark (1935) betrachtet. Dabei stellt sich im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit vor allem die Frage, wie umgehen mit einem Prag-Roman ohne Prag? In der Zusammenschau von Grabs eigener historischer Situation, seinen ästhetischen Reflexionen im Proust-Vortrag und deren literarischer Ausgestaltung im Stadtpark wird ein Interpretationsweg eingeschlagen, der neue Perspektiven auf das Verhältnis von Stadtwahrnehmung und Identitätsdiskursen aufzeigt. Dabei verfolge ich den Ansatz, den Andreas Kilcher im Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur umrissen hat: Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Beschreibung wird vielmehr darin bestehen, ihrerseits literarische Selbstbestimmungsdiskurse zum Gegenstand zu machen und zu fragen, mit welchen argumentativen Verfahren in den verschiedenen historischen Debatten, letztlich aber in jedem einzelnen Schreibakt, in jedem einzelnen Text, der irreduzibel vieldeutige transkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Literatur konstruiert und interpretiert wird. (Kilcher 2012: XXVI) Im Falle Prags tritt darüber hinaus noch das tschechische Element hinzu, so dass eigentlich vom »vieldeutige[n] transkulturelle[n] Raum« der tschechisch-deutschjüdischen Literatur die Rede sein müsste. Zudem wird schnell deutlich, dass es sich bei Prag um ein Zentrum der jüdischen Kulturgeschichte Europas handelt. Um 1600, während Rudolf II. regierte, beherbergte Prag die größte jüdische Gemeinde Europas (vgl. Alexander 2008: 226). Zu dieser Zeit erfuhren jüdische Gelehrte wie etwa der Rabbi Löw große Wertschätzung und Förderung durch den Kaiser. Fast 200 Jahre später leitete das 1782 erlassene Toleranzpatent Kaiser Josephs II. im Zuge der Aufklärung »die Modernisierung des jüdischen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens« (Kilcher 2017: 66) in den Böhmischen Ländern ein. Die neuen Rechte und Freiheiten, wie die Aufhebung der Kopfsteuer, Gewerbefreiheit oder der Zugang zu universitärer Bildung, waren allerdings an eine kulturelle Assimilation geknüpft, etwa durch das »Familiantensystem«, welches besagte, dass Juden nur heiraten durften, wenn sie eine deutsche Schule besucht hatten (vgl. Kilcher 2017: 67). Dies führte im 19. Jahrhundert zu Anfeindungen gegenüber den zunehmend deutsch-assimilierten Juden, da sie von tschechischer Seite als Repräsentanten der deutschsprachigen habsburgischen Staatlichkeit wahrgenommen wurden (vgl. Kilcher 2017: 68). Die besondere Situation der Prager Juden in Anbetracht der Gemengelage in den Böhmischen Ländern bringt Andreas Kilcher Narrative des jüdischen Prag: ein inklusives, harmonisches und kosmopolitisches sowie ein exklusives, disharmonisches, nationalistisches jüdisches Prag« (Kilcher 2015: 28f.).
VII. Figurationen des Jüdischen
folgendermaßen auf den Punkt: »Im Kreuzfeuer des physischen wie symbolischen Streits territorialisierter Kategorien wie Nation, Volk, Kultur und Sprache im späten 19. Jahrhundert waren die Juden Prags und Böhmens in besonderem Maße gefordert, sich zu verorten« (Kilcher 2015: 25). Scott Spector hat in seiner Studie Prague Territories (2000) den Versuch einer solchen Verortung für den sogenannten Prager Kreis3 unternommen und ihn im ›Dazwischen‹ lokalisiert: For this generation, being Jewish and being Praguers were both associated with being »in the middle,« with the function of mediation, and with either being between conflicting elements or hovering above them. This took most obvious form in the mediation between German and Czech cultures, but it also took form in more abstract oppositions that seemed to be of broader, even universal, consequence: East and West, antiquity and future, or ideality and materiality (in Werfel’s terms, heaven and earth) […] Jewishness was inseparable from the aesthetic identities of the translation project. Interesting in this regard was the identification on the part of translators like Pick and Fuchs with the work they were translating, so that the translation role itself placed them between »German« and »Czech« identifications. (Spector 2000: 237f.) Dass dieser »Third Space« (Homi K. Bhabha) auch ein Raum ist, in dem Identitätskonzepte diffus werden können, sozusagen ›Des-Orientierung‹ herrschen kann, zeigt die folgende Textstelle aus einem Brief Franz Kafkas, den er Anfang April 1920 an Max Brod und Felix Weltsch nach Prag schrieb. Kafka war wegen einer Lungenentzündung in Folge seiner Erkrankung an der Spanischen Grippe zur Kur in Meran. Er schildert die Tischgesellschaft in der Pension Ottoburg, wo die Mehrzahl der Gäste ihm »ganz deutsch-christlich« (Kafka 2013: 117) erscheinen:
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Max Brod prägte die Rede vom ›Prager Kreis‹ in seinem gleichnamigen Buch: »Als engeren Prager Kreis bezeichne ich fortan die innige freundschaftliche Verbindung von vier Autoren, zu der dann später noch ein fünfter trat. Diese vier waren: Franz Kafka, Felix Weltsch, Oskar Baum und ich. Nach Kafkas Tod kam Ludwig Winder hinzu. […] Dieser ›engere Prager Kreis‹ trat in mehr oder minder nähere Beziehung zu andern Gruppen oder Einzelgestalten des Prager geistigen Lebens. So etwa zum (jüngeren) Kreise um Werfel und Willy Haas – zum Kreis der älteren Generation, in der Rilke und Gustav Meyrink, Hugo Salus, Paul Leppin Oskar Wiener überragten. Zum zionistischen Kreis um Hugo Bergmann, Robert Weltsch, Hans Kohn, Siegmund Kaznelson, Viktor Kellner, Oskar Epstein u. a. Zu den Dichtern aus Mähren wie Max Zweig, Ernst Weiß, zu dem erfindungsreichen Urzidil und dem diffizil schillernden Torberg. Oder zu Einzelgängern wie dem Erzähler Walther Seidl, wie zu Hermann Grab, Camill Hoffmann, Auguste Hauschner […]. Ferner bestanden sehr wesentliche Freundschaftsausstrahlungen zu tschechischen Dichtern hin, zu Musikern, Malern und zu tschechischen Menschen aller Stände, aller Klassen – ebenso zu deutschen und deutschjüdischen Gruppen in Wien, Berlin und andern Städten, auch solchen in Böhmen.« (Brod 1979: 39ff.). Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem ›Prager Kreis‹ vgl. Höhne/Ludewig/Schoeps 2016.
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Nun nötigte mich aber heute der Oberst, als ich ins Speisezimmer kam, (der General war noch nicht da) so herzlich zum gemeinsamen Tisch, daß ich nachgeben mußte. Nun ging die Sache ihren Gang. Nach den ersten Worten kam hervor, daß ich aus Prag bin, beide, der General (dem ich gegenüber saß) und der Oberst kannten Prag. Ein Tscheche? Nein. Erkläre nun in diese treuen deutschen militärischen Augen, was Du eigentlich bist. Irgendwer sagt: »Deutschböhme«, ein anderer: »Kleinseite«. Dann legte sich das Ganze und man ißt weiter, aber der General mit seinem scharfen, im österreichischen Heer philologisch geschulten Ohr, ist nicht zufrieden, nach dem Essen fängt er wieder den Klang meines Deutsch zu bezweifeln an, vielleicht zweifelt übrigens mehr das Auge als das Ohr. Nun kann ich das mit meinem Judentum zu erklären versuchen. Wissenschaftlich ist er jetzt zwar zufrieden gestellt, aber menschlich nicht. […] Menschlich befriedigt mich das ja auch nicht sehr, warum muß ich sie quälen? (Kafka 2013: 117f.; meine Hervorhebungen, U.M.) In seinem Brief problematisiert Kafka die Fremdzuschreibungen, mit denen er als Prager/Deutsch(sprachig)er/Jude konfrontiert ist. Seine Selbstwahrnehmung entzieht sich dabei Kategorisierungen wie ›Tscheche‹, ›Deutscher‹ oder ›Jude‹. Auf Seiten der beiden Militärs ruft das Verwirrung hervor und sie versuchen, ihn einer dieser Kategorien zuzuordnen. Ähnliche Versuche, Kafka festzulegen, ihm sozusagen einen festen Ort zuzuschreiben, gibt es bis heute. In ihrem Essay »Who Owns Kafka?« aus dem Jahr 2011 wirft Judith Butler einen kritischen Blick auf den langjährigen Rechtsstreit um Kafkas Nachlass, der schließlich im Juni 2016 entschieden wurde.4 Dabei problematisiert sie die ex- und impliziten Argumentationslinien der Prozessparteien und sucht nach Antworten in Kafkas Erzählungen, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen: This current trial is about ownership and rests in part on claims of national and linguistic belonging, but most of the trials and procedures Kafka writes about involve unfounded allegations and nameless guilt. [….] The very question of where Kafka belongs is already something of a scandal given the fact that the writing charts the vicissitudes of non-belonging, or of belonging too much. (Butler 2011: 7) Laut Butler beanspruche die Israelische Nationalbibliothek Kafka »as a primarily Jewish writer, he comes to belong primarily to the Jewish people, and his writing to the cultural assets of the Jewish people« (Butler 2011: 3), auf der anderen Seite argumentiere das Deutsche Literaturarchiv Marbach damit, »that Kafka belongs
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Für eine breit angelegte kulturhistorische Studie zum Prozess um Kafkas literarischen Nachlass vgl. weiterführend Balint 2018.
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to German literature and, specifically, to the German language« (a.a.O.: 5). Butler schreibt dazu weiter: And though there is no attempt to say that he belongs to Germany as one of its past or virtual citizens, it seems that Germanness here transcends the history of citizenship and pivots on the question of linguistic competence and accomplishment. The argument of the German Literature Archive effaces the importance of multilingualism for Kafka’s formation and for his writing. (Indeed, would we have the Babel parables without the presumption of multilingualism, and would communication falter so insistently in his works without that backdrop of Czech, Yiddish, and German converging in Kafka’s world?). (Butler 2011: 6) Nicht nur Kafkas Zeit- und Tischgenossen also taten sich schwer damit, dem Prager Schriftsteller einen Platz innerhalb gängiger nationaler, kultureller und sprachlicher Raster zuzuweisen – offensichtlich gilt dasselbe noch heute.5 Einmal mehr wird daran deutlich, wie problematisch nationalkulturelle Zuschreibungen zu sehen sind, gerade in einem plurikulturellen Raum wie Prag im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Das hat auch Ines Koeltzsch in ihrer breit angelegten geschichtswissenschaftlichen Studie Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918-1938) eindrücklich vor Augen geführt. Darin geht Koeltzsch vom Konzept der integrierten Stadtgeschichte und der histoire croisée aus und versteht Identität als situationsbedingt, relational und prozesshaft, als »direkte[…] und indirekte[…] Interaktionsprozesse zwischen sprachlich und kulturell verschiedenen Städterinnnen und Städtern« (Koeltzsch 2012: 17f.). Im Unterkapitel Erfahrungen der Ambivalenz. Zum Selbstverständnis der jüdischen Vermittler stellt Koeltzsch unterschiedliche Akteure (wie etwa Otto Pick und Pavel Eisner) und Zirkel nebeneinander. Diese Prager jüdischen Intellektuellen, ob sie sich nun zum 5
Marek Nekula (2006) hat in einer Studie zu »Franz Kafkas Sprachen und Identitäten« gezeigt, dass auch die Forschung nicht frei ist von solchen Vereinnahmungsversuchen und zieht folgende Schlüsse: »So lässt sich gerade an Kafka verfolgen, dass es im menschlichen Leben kaum eine fest umrissene, kontextunabhängige, im Laufe der Zeit unveränderbare und nur auf einen Parameter wie jenen der Sprache reduzierbare Identität gibt. Ähnliches gilt aber auch für die Identität größerer sozialer Gruppen oder gar Nationen. Und selbst wenn die Sprache bei Franz Kafkas Identitätssuche ein wichtiges Kriterium und auch ein strategisch verwendetes Mittel war, wie dies seine Reflexion der Sprachenfrage, seine Sprachbekenntnisse, sein Sprachverhalten und schließlich auch sein Werk zeigen, ist Kafka kaum über eine Sprache zu erfassen. Falls Kafkas Identität im Hinblick auf die Sprache charakterisiert werden kann, dann sollte man nicht von einer Sprache und von einem Monolingualismus ausgehen, sondern von einem oszillierenden Multilingualismus, von Sprachenwechsel und -wandel. Durch ihn entsteht eine spezifische kulturelle Qualität, die die Begriffe der Assimilation und der Akkulturation überwindet und den Weg zu einer komplexeren ›universalen‹, multilingualen Kultur – wie sie die jüdische Diaspora vorlebt – öffnet« (Nekula 2006: 145; Hervorhebung im Original).
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Tschechojudentum, zum Zionismus, zum Sozialismus oder zur liberalen Prager jüdischen Bevölkerung bekannten, lassen sich, wie Koeltzsch feststellt, »dennoch kaum einem einzigen Identitätskonzept zuordnen, da sie abhängig von ihrer konkreten Lebenssituation und den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verschiedene, parallele oder zeitlich versetzte Erfahrungen mit ihrem ›Jüdischsein‹ machten« (a.a.O.: 199).6 Auch der tschechisch schreibende Autor Richard Weiner entzieht sich eindeutigen Zuschreibungen, wenn er 1913 aus Paris in einem Brief an seine Eltern schreibt: »Nejsem ani žid, ani Čech, ani Němec, ani Francouz« [»Ich bin weder Jude noch Tscheche noch Deutscher noch Franzose«] (Weiner 1913, zit. n. Málek 2015: 130). Dennoch setzt er später, im Juni 1918, zu einer Standortbestimmung an: In dem Artikel »Kde moje místo?« [»Wo ist mein Platz?«], der in der Zeitschrift Národ erschien, denkt Weiner über seine jüdische Identität und seinen Platz innerhalb der Gesellschaft nach. Er wendet sich darin gegen Antisemitismus, grenzt sich aber auch vom Zionismus und der tschechischjüdischen Bewegung ab und macht deutlich, dass er von keinem dieser Standpunkte aus sprechen will, sondern als »ein tschechischer Schriftsteller und Jude« (Weiner 2005: 45)7 [»český spisovatel a žid« (Weiner 1918: 293; Hervorhebung im Original gesperrt)]. Seine Argumentation ist dabei geprägt von einer räumlichen Semantik, fragt er doch nach seinem »Platz« [»místo«] und stellt fest: »Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Ort oder einer Sache verankert den Menschen moralisch. Nur uns selbst – und niemand anderem – sind wir bei der Antwort auf die Frage nach unserem Platz verantwortlich« (Weiner 2005: 45) [»Pocit náležítosti někam a k néčemu člověka mravně zakotvuje. Jen sobě – a nikomu jinému jsme odpovědni za odpověď na otazku po svém místě« (Weiner 1918: 293)]. Weiner plädiert in seinem Text für eine individuelle Antwort auf die Frage nach dem eigenen Platz, abseits von fremdbestimmten Zuschreibungen: »Ich spreche für mich.« (Weiner 2005: 46) [»Mluvím za sebe« (Weiner 1918: 6
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Kateřina Čapková hat in ihrer Monographie Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918 až 1938 (2005) [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen 1918 bis 1938] ebenfalls die Komplexität jüdischer Identitätsentwürfe in Prag untersucht. Vgl. dazu auch den Sammelband Juden zwischen Deutschen und Tschechen. Sprachliche und kulturelle Identitäten in Böhmen 1800-1945. Hg. v. Marek Nekula und Walter Koschmal (2006). München: Oldenbourg. Sowie den Themenschwerpunkt »Prager Figurationen jüdischer Moderne« der brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei N.F. 23 (2015) 1-2. Hg. v. Irina Wutsdorff, Manfred Weinberg und Katja Wetz. Zum Zusammenhang zwischen Raum und Identität in deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (so der Untertitel) vgl. Petra Ernst (2017): Schtetl, Stadt, Staat. Wien, Köln, Weimar: Böhlau. Darin findet sich auch eine Analyse von Fritz Mauthners Der Neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin (1882), in dem die Prager Josefstadt eine wichtige Rolle spielt. Die deutschen Übersetzungen sind übernommen von Silke Klein aus: Richard Weiner (2005): »Wo ist mein Platz?« In: Richard Weiner: Kreuzungen des Lebens – Erzählungen, Essays, Feuilletons, Briefe. Hg. v. Steffi Widera. München: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 45-52.
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293)]. Dennoch spürt er die »Kluft« zwischen »der Wahrheit, daß ›meine Heimat unter den Tschechen ist‹, und der Tatsache, daß ich nicht genauso bin wie die anderen Tschechen« (ebd.) [»rozstup mezi pravdou, že ›mezi Čechy domov můj‹8 , a mezi skutečností, že nejsem zcela týž jako jiní Češi« (ebd.)]. Doch auch die tschechischjüdische Bewegung, laut ihm ein »Assimilierungsprozeß« (ebd.) [»proces assimilační« (ebd.)], oder der Zionismus stellen für ihn keine Option dar. Stattdessen betont er die Subjektivität jeglichen nationalkulturellen Gefühls: Přislušenství k národu subjektivně je dáno pocitem; objektivně se prokazuje skutky, souběžností slova a konání […] Nedbám hlasu neochotných lidí, kteři mi upírají právo, abych se hlásil o místo tam, kam nemohu se nehlásiti. Toliku se jich táží: přičítají-li rassové otázce tolik významu ve věci národního příslušenství, co si počnou s řadou lidí, jimž říkají ›naši‹? [K]terak dokážete, že češtějším je X, jehož děd se hrdě hlásil k Němcům, než Y, jenž sám sice je nepokřtěn, ale jehož nepokřtěný otec dokázal skutky, že pro věc českou dovede přinésti oběti? – Vylučovati z národa prostě pro jisté rodové zvláštnosti, za perhoreskování národních citů postiženého, toť stejně nespravedlivé jako pošetilé. (Weiner 1918: 294) Die Zugehörigkeit zu einem Volk ist subjektiv gefühlsgegeben; objektiv zeigt sie sich in Taten, durch die Einheit von Wort und Tat […]. Ich gebe nichts auf die Stimmen der Unwilligen, die mir das Recht absprechen, meinen Platz dort zu sehen, wo ich ihn einfach sehen muß. Ich frage sie nur: Wenn sie der Rassenfrage soviel Bedeutung für die nationale Zugehörigkeit beimessen, was machen sie dann mit einer Reihe von Menschen, die, die sie »unsrige« nennen? […] Wie beweisen Sie, daß X, dessen Großvater sich stolz zu den Deutschen bekannte, tschechischer ist als Y, der zwar nicht getauft ist, dessen ungetaufter Vater jedoch durch Taten gezeigt hat, daß er für die tschechische Sache Opfer zu bringen vermag? – Jemanden einfach wegen einer Besonderheit in der Abstammung aus dem Volk auszuschließen, unter Mißachtung seiner nationalen Gefühle, ist so ungerecht wie töricht. (Weiner 2005: 49f.) Weiner zufolge ist das Bekenntnis zu einer gemeinsamen öffentlichen Sache (res publica) in Wort und Tat das entscheidende. Niemandem dürfe die Zugehörigkeit zu einem Volk oder Kollektiv auf Grund seiner Abstammung oder seines Glaubens verwehrt werden. Wie in Kap. VI.2.5 der vorliegenden Arbeit bereits gezeigt wurde, steht für Weiner die (staats-)bürgerliche Identität über jeglichen nationalen oder religiösen Identitätskonstruktionen. Die Beispiele Kafkas und Weiners bezeugen die Komplexität jüdischer/ deutsch(-sprachig)er/tschechischer Identitätsdiskurse im mehrdeutigen transkulturellen Raum Prags, und zwar sowohl in Bezug auf Fremd- als auch Selbst8
Weiner zitiert hier die spätere tschechische Nationalhymne.
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zuschreibungen. Vor diesem Hintergrund soll nun danach gefragt werden, wie sich der deutschsprachige Prager Jude Hermann Grab mit seinem Werk Der Stadtpark inmitten dieser heterogenen Identitätsdiskurse der Prager Moderne(n) positionierte.
1.
Der Autor Hermann Grab
Der Autor Hermann Grab findet vereinzelt in einigen Darstellungen und Aufsätzen zur Prager deutschsprachigen Literatur Erwähnung (vgl. Mühlberger 1981: 312ff.), wobei meist auf die literarischen Bezüge zu Marcel Proust hingewiesen wird (vgl. Staengle 1985: 201f.). Die erste ausführlichere Auseinandersetzung bildet die Dissertation Hermann Grab. Leben und Werk von Karl Hobi aus dem Jahr 1969, der sich vor allem auf die Biographie Grabs konzentriert. Eine umfassende Dokumentation und Analyse von Leben und Werk leistet dann Doortje Cramer mit ihrer Dissertation Hermann Grab. Von Prag nach New York ohne Wiederkehr (1994). Sie stellt den Autor sowohl als Teil der Prager deutschsprachigen Literatur als auch als Exilautor vor.9 Obschon Hermann Grab heute zu den weniger bekannten Vertretern der Prager deutschsprachigen Literatur gehört, widmete Max Brod ihm einige lobende Passagen in seinem Prager Kreis (1966): »Einzig in seiner sofortigen Vollendung ohne sichtbare Vorbereitungsstufe steht ein anderer junger Poet (und Musiker), Hermann Grab, mit seinem einzigen Buch Der Stadtpark da. Nur 110 Seiten. Aber was für Seiten!« (Brod 1979: 232). Brod zufolge war Grab »zweifellos […] vom Schicksal dazu ausersehen, der Führer der nächsten Prager literarischen Generation zu werden« (a.a.O.: 237). Da der Stadtpark unverkennbar autobiographische Züge trägt, spielen bei der Betrachtung des Romans um den jungen Renato, der der Sphäre des Prager Großbürgertums angehört, Hermann Grabs Biographie und seine Lebenswelt eine wichtige Rolle und sollen daher kurz skizziert werden (vgl. dazu Cramer 1994). Hermann Grab wurde am 6. Mai 1903 in Prag als erster Sohn einer jüdisch-assimilierten Familie geboren, die bereits seit mehreren Generationen in Prag lebte und zu den Großindustriellen zählte. Die Wohnung der Familie befand sich im angesehenen Stadtparkviertel. Um die Erziehung Hermann Grabs und seines Bruders Leo kümmerte sich das englische Kindermädchen Miss Kate. Am 10. Juni 1919 wurden Hermann und sein Bruder römisch-katholisch getauft. Später bezeichnete Grab die Taufe als »Operation« (Cramer 1994: 21), was auf die
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Indem Cramer eine Vielzahl zeitgenössischer Rezensionen in ihre Betrachtung miteinbezieht und neben dem literarischen Œuvre Grabs auch Briefe, biographisches Material und seine wissenschaftlichen und journalistischen Texte versammelt, macht sie Grab und sein Werk für die weitere Forschung zugänglich.
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Entscheidung der Eltern, nicht auf religiöse Beweggründe des damals 16-Jährigen verweist. Die Eltern behielten den jüdischen Glauben bei. Nachdem Hermann Grab 1921 das Abitur am Stephans-Gymnasium abgelegt hatte, studierte er Staats- und Kameralwissenschaften und später Jura und Musiktheorie an den Universitäten Wien, Berlin und Prag. Er bewegte sich in den Wiener musikalischen und literarischen Kreisen, so etwa im Salon Alma Mahlers. 1928 wurde er in Prag zum Dr. jur. promoviert; in dieser Zeit lernte er Theodor W. Adorno kennen, zu dem sich eine enge Freundschaft entwickelte. In den Jahren 1932 bis 1938 arbeitete er als erster Musikreferent beim Prager Montagsblatt. Parallel dazu gab er Klavierunterricht und lehrte an der Prager Akademie für Musik und darstellende Kunst. Im Jahre 1932 begann Grab die Arbeit am Stadtpark, der 1934 (mit der Angabe des Erscheinungsjahres 1935) veröffentlicht wurde. Zu Grabs Weggefährten und Freunden in Prag zählten u. a. Max Brod (dem er Passagen des Stadtpark vorab zu lesen gab), der Sohn Paul Leppins, Johannes Urzidil, H. G. Adler, Franz Werfel und Willy Haas. Unter den Bekannten Grabs befand sich bis in die New Yorker Zeit hinein auch Thomas Mann. Während der 1930er Jahre war Grabs »kleine Wohnung […] ein Treffpunkt von Literaten und Künstlern, eine stille Oase der Kultur zu einer Zeit, als die Barbarei des Hitlerfaschismus auch Prag zum unsicheren Asyl deutscher Emigranten gemacht hatte« (Tomanová 1991: 32 zit. n. Cramer 1994: 36). Anfang März 1939 gab Grab ein Konzert in Paris. Zwei Wochen später marschierten Hitlers Truppen in die Tschechoslowakei ein, so dass er den Entschluss fasste, vorerst in Frankreich zu bleiben. Im Dezember 1940 erreichte er nach der Flucht über Spanien und Portugal New York, wo er schließlich eine Musikschule gründete. Erst 1944 nahm er seine literarische Tätigkeit wieder auf. In einem Brief an den österreichischen Schriftsteller Ernst Schönwiese begründet er seine literarische Schaffenspause damit, dass für ihn in Anbetracht des tobenden Weltkrieges die »Resonanz des deutschen Wortes unvorstellbar war« (Grab zit. n. Cramer 1994: 522). Am 2. August 1949 starb Hermann Grab in New York in Folge einer Krebserkrankung. Am 18. Oktober 1933 hielt Hermann Grab einen Vortrag über Marcel Proust im Rahmen der Reihe Juden in der Literatur, die zum Angebot der Jüdischen Kulturkurse in Prag gehörte (vgl. Cramer 1994: 80). In dem Vortrag kommt Grabs Verehrung für Proust und dessen Vorbildfunktion für sein eigenes literarisches Schaffen zum Ausdruck. Der Text ist außerdem der einzige, in dem sich Grab direkt zum Judentum äußert. Über Prousts Hauptwerk À la recherche du temps perdu bemerkt Grab, »dass hier manche spezifisch jüdische Problematik in sehr spezifischer Weise aufgedeckt wird« (zit. n. Cramer 1994: 465). Was Grab damit meint, wird im weiteren Verlauf des Vortrags deutlich:
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Das, was man etwa Gestalt des Lebens nennen kann, ist zunächst ausserordentlich greifbar, ist gewissermassen körperlich gegeben. Der Geist, das Gesetz, die Kunst manifestiert sich körperlich monumental. Dass allerdings beim Judentum, und gerade beim Judentum die Dinge anders liegen, scheint mir, nebenbei gesagt, einer der entscheidendsten Gründe für die ganz spezifische Weltstellung des Judentums zu sein. (a.a.O.: 470) Diese »spezifische Weltstellung« ist bei Grab eng verknüpft mit seiner eigenen Kunstauffassung. Grab zufolge manifestiert sich die »Gestalt des Lebens« (»Geist«, »Gesetz«, »Kunst«), in der Oberfläche, d. h. in der Anschauung. In der Moderne aber sieht er eine Entwicklung dahingehend, dass sich dieser Gehalt immer mehr aus der Oberfläche zurückzieht und dadurch die Kraft verliert, »die Oberfläche in ihre wenigen klaren Kontraste zu gliedern, die Konturen verschwimmen, die Farbenflächen zersplittern sich gleichsam, spielen immer stärker durcheinander« (a.a.O.: 470). Grab vergleicht daher das moderne Leben mit der Malerei des Impressionismus: »Die Oberfläche wird immer vibrierender, […] impressionistischer. Die dahinterstehende Gestalt ist jetzt durch die reich schattierte Oberfläche hindurch nunmehr in blassen Konturen sichtbar« (ebd.). Ebendies beobachtet Grab bei Proust und nennt im Folgenden einige Parallelen zwischen der impressionistischen Malerei und dem Proustschen Werk. So etwa die vielen kontrastierenden, kleinen Reize, denen mit einer hochgradigen Sensibilität bis in die feinsten Nuancen nachgegangen wird. Das Ergebnis dieser »gesteigerten subjektiven Reizsamkeit« (ebd.) fasst Grab wie folgt zusammen: [D]ie Gegenstands-Welt ist bis zu einem kaum vorher dagewesenen Grade aufgelöst oder, um es exakter zu sagen, in ihrer Oberflächenwirkung zersetzt. Aber nicht nur die Gegenstands-Welt, auch die Persönlichkeit. Kein Romanwerk finden wir soweit entfernt von jenem Studium der Anschauung, auf dem bestimmte Persönlichkeiten bestimmte Tugenden oder bestimmte Laster repräsentieren. In der Tat lässt Proust dem Nebeneinanderwohnen der verschiedensten Neigungen, Tugenden und Untugenden bei ein und derselben Person einen unendlich breiten Raum. (a.a.O.: 472) Bereits 1886 formulierte Ernst Mach, der sich übrigens damals in Prag aufhielt, in Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen: Hiezu kommt noch, dass dem Räumlichen und Zeitlichen infolge der eigentümlichen großen Entwicklung der mechanischen Physik eine Art höherer Realität gegenüber den Farben, Tönen, Düften zugeschrieben wird. Dem entsprechend erscheint das zeitliche und räumliche Band von Farben, Tönen, Düften realer als diese selbst. Die Physiologie der Sinne legt aber klar, daß Räume und Zeiten ebenso gut Empfindungen genannt werden können, als Farben und Töne. (Mach ⁹1922: 6; Hervorhebungen im Original gesperrt)
VII. Figurationen des Jüdischen
Mach zufolge ist die »ganze innere und äußere Welt« (a.a.O.: 17) aus Empfindungen aufgebaut. Seine Analyse gipfelt in der These vom »unrettbaren Ich« (a.a.O.: 20), womit die Vorstellung vom Ich als stabiler Einheit aufgelöst ist, »[a]us den Empfindungen baut sich das Subjekt auf, welches dann allerdings wieder auf die Empfindungen reagiert« (a.a.O.: 21; Hervorhebung im Original gesperrt). In ähnlicher Weise sieht Hermann Grab eine »Zersetzung fester Gegebenheiten der Dingwelt und der Personenwelt« (zit. n. Cramer 1994: 473). Die Voraussetzung zur Darstellung dieser durch die Auflösung stabiler Fakten und Eigenschaften »sozusagen in Bewegung gebrachte[n] Oberfläche« ist für Grab »die Situation eines, der am Leben nicht aktiven Anteil nimmt« (ebd.). Und dieses Außerhalbder-Zusammenhänge-Stehen ist für Grab untrennbar mit der jüdischen Identität verknüpft: »Dass er aber das Leben von der Aussenseite sieht […], [i]n dieser letzten Tiefe nun […] ist Proust mit seinem jüdischen Stamm verbunden. Er sieht […] die Fassade der Dinge, er sieht als Outsider« (a.a.O.: 476). Und Grab fragt rhetorisch weiter: »Bei wem aber wäre dieser Weltaspekt leichter zu vermuten als bei dem, welchem das Outsidertum gegenüber der Sozietät, die ihn umgibt, schon seiner Abstammung nach mitgegeben ist?« (ebd.). Diese Grundbedingung der jüdischen Existenz sei nach wie vor unter der »Oberfläche der Assimilation« (a.a.O.: 479) auszumachen. Einen Beleg dafür sieht Grab auf der Handlungsebene der Recherche im Dreyfus-Prozess und deshalb sei die »Auseinandersetzung der beiden Welten, die Auseinandersetzung des Juden mit der ihn umgebenden Welt« (ebd.) Prousts Hauptthema. Durch diese Perspektive des Außenstehenden sei es Proust erst möglich gewesen, eine Gesellschaft, nämlich die des Adels und Hochadels, zu zeigen, die bereits im Untergang begriffen war. Die Oberfläche, der Abglanz und die Scheinhaftigkeit des Lebens zeigt sich laut Grab demjenigen in aller Deutlichkeit, der selbst nicht in dieser Oberfläche verwurzelt ist: »Die Einsamkeit des Outsiders, dem sich das Leben nur mit seiner Aussenseite zu nur ästhetischer Beziehung darbietet, es ist die Einsamkeit des jüdischen Menschen überhaupt darin enthalten« (a.a.O.: 478). In einem größeren geschichtsphilosophischen Zusammenhang sieht Grab deshalb das Judentum zunächst außerhalb der allgemeinen Entwicklungslinie, in der die Völker sich äussern, sich ausgeben und altern. Es steht ausserhalb und dennoch nicht ganz ausserhalb. Denn im Augenblick, wo die Völker ihren eigenen Lebensformen als fremden Formen gegenüber stehen, vermag der Jude, der hier dem Leben selbst als Fremder gegenüber steht, diese Formen zu ergreifen, um sie zu ihrer letzten geistigen Dichte zu sublimieren. Das ist die Aufgabe, der Marcel Proust sich unterstellt hat. (a.a.O.: 479) Diesen Weg der Sublimierung in der Kunst, der mit Fremdheitserfahrungen verknüpft ist, sieht Grab den Erzähler in der Recherche einschlagen. In ähnlicher Weise stellt Georg Simmel im Exkurs über den Fremden (1908) fest: »Der Fremde ist ein
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Element der Gruppe selbst […], dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt« (Simmel 1908: 509). Als Beispiel für die Position des Fremden nennt Simmel »die Geschichte der europäischen Juden« (a.a.O.: 510). Bei Simmel findet sich also eine ganz ähnliche Denkfigur wie bei Grab, nämlich die Vorstellung einer spezifischen Position zwischen dem Innen und Außen einer Gruppe, zwischen Nähe und Ferne, die er als die »Objektivität des Fremden« (ebd.) bezeichnet: Weil er nicht von der Wurzel her für die singulären Bestandteile oder die einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt ist, steht er allen diesen mit der besonderen Attitüde des »Objektiven« gegenüber, die nicht etwa einen bloßen Abstand und Unbeteiligtheit bedeutet, sondern ein besonderes Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit ist. (Simmel 1908: 510) Außerdem macht Grab auf der Handlungsebene der Recherche neben der Kunst als Zuflucht einen zweiten Weg bzw. eine zweite Position aus, nämlich die zionistische Idee: »Swann rettet sich aus der Irrealität des Lebens in die Realität seines Volkstums. Der Erzähler rettet sich aus der Irrealität seines Lebens in die Realität seiner Kunst, in die Realität der Sublimierung des fremden Lebens. Zwei Wege, und beide offenbar auf der Linie des jüdischen Schicksals liegend« (zit. n. Cramer 1994: 479). Zum Schluss seines Vortrages nimmt Grab Bezug auf die aktuelle politische Lage, wie sie sich seit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 in Deutschland drohend zeigte durch den »hunderttausendfältige[n] Dreyfusprozess« (ebd.).
2.
Schreiben aus der Außenseiterposition. Der Stadtpark vor dem Hintergrund des Proust-Vortrags
Über die Idee, die hinter dem Stadtpark stand, bemerkte Hermann Grab: Geschichtsphilosophisch gesehen, scheint mir trotz aller äußeren Brutalität historischer Tatbestände dennoch ein linearer Prozeß der Psychisierung, der immer wachsenden Differenzierung des inneren Lebens gegeben. Eines inneren Lebens, das vielleicht gerade im Zusammenhang seiner zunehmenden Sukzivität [sic!] äußerlich immer weniger Raum einzunehmen vermag, das aber zu jeder Zeit den einzigen Ansatzpunkt für dichterische Gestaltung bedeuten konnte. Die Erlebniswelt eines reagiblen, frühreifen Knaben gab mir nun den besten Anlaß, mich um die Gestaltung einer in unserem Sinne differenzierten psychischen Realität zu bemühen. (Grab zit. n. Cramer 1994: 413) Dabei kommt der Tendenz zur »Psychisierung« entscheidende Bedeutung zu. Im Proust-Vortrag heißt es, die Kunst müsse ansetzen bei den »innere[n] Ereignisse[n], welche vollkommen abseits von dem herkömmlich für wichtig gehaltenen Erleben
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liegen«, um in die »Sphäre der Ewigkeit vorzustoßen« (zit. n. Cramer: 469) und überzeitliche Wahrheiten zu fassen. Ausgehend von der Außenseiterposition, die Grab dem Judentum zuschreibt und die ihm zufolge den jüdischen Künstler in die Lage versetzt, hinter die Dinge zu blicken, soll Der Stadtpark betrachtet werden. Das Moment der Isolation, aus dem sich eine spezifische Perspektive ergibt, ist eines der zentralen Themen des Romans und Ausdruck des Zerfalls der beschriebenen Prager Lebenswelt. Marcel Proust, katholisch getauft und assimiliert, sah sich auf Grund der Dreyfus-Affäre mit seiner jüdischen Herkunft mütterlicherseits konfrontiert. Im Dreyfus-Skandal macht Grab darum den Anlass zur »Auseinandersetzung des Juden mit der ihn umgebenden Welt« (zit. n. Cramer 1994: 477) bei Proust aus. Hermann Grab hielt seinen Vortrag im Jahre 1933, zu einer Zeit, da auch die assimilierten Prager Juden (zu denen Grabs Familie gehörte) sich aus politischen Gründen mit ihrer jüdischen Herkunft auseinandersetzen mussten. So sieht Grab bei Proust seine eigene Situation vorgezeichnet, in der die Assimilation keine Option mehr darstellt. Hans Kohn, in Prag geborener Historiker und Zeitgenosse Grabs, bemerkte bereits im Jahre 1926 rückblickend über die Assimilation der Prager Juden: Vor zwanzig und vor fünfzehn Jahren […] waren wir ein kleiner Kreis, in Prag verwurzelt, das wir leidenschaftlich liebten, dessen Häuser und Gassen uns bei Tag und Nacht in ihrer Geschichte und Architektur vertraut waren: Das Judentum war uns fremd, kaum eine ferne Legende, Juden, die nicht böhmische oder, im besten Falle, Wiener Juden waren, uns unbekannt. Wir waren vollkommen assimiliert an die deutsche Kultur jener Tage oder an den Ausschnitt, der unserem jüdischen Temperament nahe lag […]. Die Assimilation war für uns wie für alle eine Wirklichkeit, der Zionismus nur eine Geste oder ein Programm, das Judentum eine traditionelle oder freudig bejahte Tatsache, noch nicht einmal ein Problem. Das ist seither völlig anders geworden. (Kohn 1926: 2 zit. n. Krolop 1967: 54f.) Laut Kohn war um die Jahrhundertwende innerhalb der Prager deutschsprachigen Gesellschaft die deutsch-jüdische Assimilation eine selbstverständliche Tatsache, zu der der Zionismus keine ernstzunehmende Alternative darstellte, und die jüdischen Wurzeln wurden »freudig bejaht«. Das habe sich seither, also bereits im Jahre 1926, völlig geändert. Hermann Grabs Stadtpark erschien 1935, also zwei Jahre nachdem er seinen Proust-Vortrag hielt. Protagonist der längeren Erzählung ist der »bald dreizehn[jährige]« 10 Renato Martin, Sohn aus großbürgerlichem Hause im Prag zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Aus seiner kindlich-naiven Perspektive wird das Geschehen geschildert. Die erzählte Zeit erstreckt sich vom Herbst 1915 bis zum 10
Hermann Grab (1985): Der Stadtpark und andere Erzählungen. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 9. Im Folgenden wird hierfür die Sigle »SP« verwendet.
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Frühjahr 1916. Die Handlung lässt sich wie folgt kurz zusammenfassen: Renatos Alltag besteht neben der Schule aus Fecht- und Klavierunterricht und Spaziergängen im Stadtpark mit seinem englischen Kindermädchen Miß Florence. Bei diesen Spaziergängen werden sie häufig von der etwa gleichaltrigen Marianne Gérard und ihrem Kindermädchen Miß Harrison begleitet. Renato schwärmt für Marianne und versucht immer wieder vergeblich, sie zu beeindrucken. Eines Tages stellt er Marianne bei einem der zahlreichen Spaziergänge seinen Schulkameraden Felix Bruchhagen vor, da er hofft, etwas von Felix’ Beliebtheit werde auch auf ihn abfärben und Eindruck auf Marianne machen. Zwischen Felix und Marianne kommt es zu einer Liebelei und sie nutzen Renatos Naivität und Gutgläubigkeit für heimliche Treffen aus. Das Verhältnis wird entdeckt und in einem Klassenbucheintrag vermerkt. Renato reißt die Seite heraus, wird jedoch von dem Lehrer Professor Piller dabei erwischt. Seine Angst vor der Strafe bringt ihn dazu, Miß Florence sein Handeln zu beichten. Umgehend berichtet sie Mariannes Mutter von dem Vorfall und Marianne wird auf ein Internat nach Wien geschickt. Felix redet nicht mehr mit Renato und ignoriert ihn. Zur gleichen Zeit stirbt Renatos Tante Melanie. Von diesem Ereignis ist die Familie derart betroffen, dass Renatos Verhalten keine Konsequenzen nach sich zieht. Auch die Strafe der Schule bleibt aus. Erst später erfährt Renato die Hintergründe, als er auf der Beerdigung Dr. Valentas, eines Freundes der Familie, dem Lehrer Piller begegnet. Dieser berichtet Renato, dass Dr. Valenta ihn darum gebeten hatte, Stillschweigen über die Angelegenheit zu bewahren: Um bei Professor Piller für Renato einzutreten, hatte Dr. Valenta zum ersten Mal seit zwanzig Jahren seinen allabendlichen Besuch bei Renatos Tante Melanie versäumt, die daraufhin noch am selben Abend an einem Schlaganfall verstarb – aus »Aufregung über eine mögliche Untreue« (SP 82) des Doktors, wie einige Familienmitglieder behaupten. Nach dem Vorfall sind es nur noch Renato und Miß Florence, die durch den Stadtpark spazieren. Die im Stadtpark beschriebene Gesellschaft gehört zur Zeit der Werkentstehung längst der Vergangenheit an. Der Erste Weltkrieg als Epochenzäsur bedeutete auch das Ende der von Grab im Stadtpark heraufbeschworenen Welt der wohlhabenden Prager deutschsprachig-bürgerlichen Gesellschaftsschicht. Grab stattet in den 1930er Jahren aus der Rückschau diese soziale Gruppe mit scharfen Konturen aus; die Erzählung changiert dabei zwischen einem wehmütigen Requiem auf die verlorene Kindheit, die im Falle Prags eben auch eine ganze verlorene gesellschaftliche Lebenswelt ist, und der Kritik an dieser großbürgerlichen Fassade. Grab selbst bemerkt im Klappentext zur Erstausgabe: »Meine Heimatstadt Prag, die Erinnerung an eine bürgerliche Kindheit, an deren Hoffnungen und Fragwürdigkeiten geben mir den äußeren Anlaß für die Fabel« (zit. n. Staengle: 201). Der Protagonist Renato lässt sich als sehr empfindsam und sensibel charakterisieren. Es sind vor allem seine Beobachtungen und Empfindungen, die den
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meisten Raum einnehmen und hinter die das äußere Geschehen zurücktritt, was schon Klaus Mann, einer der ersten Bewunderer Grabs, bemerkte: Er hat viel von Proust gelernt […]. Proust […] hat die Technik erfunden, mittels derer eine neue Sensibilität, eine neue Erfahrenheit in den kleinsten und schwierigsten Dingen sich ausdrücken kann. Grab besitzt diese Technik, samt dem wohlbehüteten Erfahrungsschatz seelisch-sinnlicher Impressionen. Er darf es sich also leisten, nur ein Minimum an Handlung zu geben. (Mann zit. n. Staengle 1985: 201) Zentral für die Erzählung ist die nach vielen Seiten hin isolierte Situation des Protagonisten, die ihren Niederschlag in einem starken Antagonismus zwischen diegetischer Außenwelt und Innensicht des Protagonisten findet. Diesbezüglich sollen zunächst die näheren Umstände betrachtet werden, die zu Renatos Außenseiterposition führen. Die Folge seines Außenseitertums ist eine große Unsicherheit in Bezug auf sein Selbstbild, die als exemplarisch für ein ganzes gesellschaftliches Milieu dargestellt wird. Im großbürgerlichen Haushalt der Familie Martin ist das englische Kindermädchen Miß Florence verantwortlich für Renatos Erziehung. Die Eltern beschäftigen sich kaum mit ihm. Der Vater arbeitet, die Mutter ist »immer krank« (SP 10) und liegt auf dem Sofa. Renato fühlt sich schuldig, dass er nicht die angemessene Reaktion auf die Krankheit der Mutter zeigen kann: »Es ist schrecklich, daß die Mama krank ist, dachte Renato, während er bei ihr im Zimmer stand, und er wartete darauf, daß mitten in seiner Brust ein Gegenstand sich loslösen, vielleicht eine kleine Platte sich bewegen würde, um durch die Reibung, die dabei entstünde, den Kummer über Mamas Erkrankung fühlbar zu machen« (SP 10f.). Wie in dieser Szene deutlich wird, ist Renato in Bezug auf seine Gefühlswelt sehr verunsichert und versucht, anhand der Erwartungen der Erwachsenen, die für ihn den Maßstab bilden, die ›richtigen‹ Verhaltensweisen zu zeigen. Er versucht, aus den Konventionen und Normen der Erwachsenenwelt, wie er sie kennt, emotionale Inhalte abzuleiten, was bisweilen eine komische Wirkung hat wie in dem folgenden Beispiel. Renato erhält von dem Kinderfräulein Miß Harrison, das nach England zurückkehrt, zum Abschied eine Fotografie: Renato sagte sich: Wenn man von jemandem zum Abschied eine Photographie bekommt, dann heißt das wohl so viel als daß man diesen Menschen gern gehabt hat. Und er sah die Photographie an, sah Miß Harrisons vorgeschobene Oberlippe, die ihm gar nicht gefiel, und auch den Hut, der schief auf ihrem Kopfe saß. Ich habe sie wahrlich gern, meinte er und überlegte zugleich, wie merkwürdig das eingerichtet war, daß man die Menschen gern hatte, die einem ganz gleichgültig erschienen. (SP 68)
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Zu Renatos Erziehung gehört auch Klavierunterricht, während dem er regelmäßig von seiner Klavierlehrerin Fräulein Konrad und Miß Florence für die unterschiedlichsten Kleinigkeiten getadelt wird, was lediglich dazu zu dienen scheint, die Position und das Selbstwertgefühl der beiden Frauen zu seinen Lasten zu stärken. Wenn Fräulein Konrad etwas auf dem Klavier vorspielt und Miß Florence vor Verehrung sprachlos ist, sieht sich Renato dazu gezwungen, das von ihm erwartete Benehmen zu zeigen, obwohl er keine innere Motivation dafür besitzt: Aber als er sah, wie Miß Florence und jetzt auch Fräulein Konrad zu nicken begannen und wie sie gewissermaßen schadenfroh erwarteten, daß er mit seinem Klavierspiel angesichts dieser Könnerschaft sichtbarlich einschrumpfen werde, da dachte er sich wirklich, er müsse so gut es ging, seinen Körper zusammenziehen, und zwar nicht so sehr in Anbetracht von Fräulein Konrads Spiel, sondern eher darum, weil die beiden Fräulein das so von ihm erwarteten. (SP 23f.) Als der Vater Renato eines Abends aufträgt, seinen Lehrer Professor Weinzierl nach Hause einzuladen, um über die bevorstehende Schulaufführung zu sprechen, »beging er damit jenen Fehler, wie die Eltern sie so oft begingen, wenn sie, nicht wissend, daß es neben ihrer Welt noch Welten gab, die sie nicht kannten, ganz unbekümmert in jene anderen Welten hineintappten, um ahnungslos dort einen Schock hervorzurufen und die Ordnungen zu verwirren« (SP 62). Daran wird deutlich, dass die Erwachsenenwelt und die Gefühlswelt Renatos weit auseinanderklaffen. Die beiden Sphären scheinen nichts miteinander gemein zu haben und folgen ihrer je eigenen Ordnung. Das zeigt auch das folgende Zitat. Renato hat zuvor mitangehört, wie Miß Florence mit Miß Harrison, dem Kindermädchen von Marianne, über deren baldige Abreise spricht, und sieht das Ende der gemeinsamen Stadtparkspaziergänge mit Marianne nahen: Sie [Miß Florence] sagte es und ließ damit jene Weltordnung hereinbrechen, die die Erwachsenen für sich gepachtet hatten, in der sie Züge abfahren ließen, das Zeichen gaben, damit die unförmigen, schwarzen Schiffe sich in Bewegung setzten, um torkelnd über den Kanal zu fahren – sie ließen kurz und scharf das Pfeifensignal erklingen und sagten dabei: »Wir haben keine Zeit, darüber nachzudenken, was diese dummen Kinder da noch wollen.« (SP 60) Renato fühlt sich gegenüber den Erwachsenen ohnmächtig und findet sich in ihrer Ordnung und ihren Regeln nicht zurecht. Hinzu tritt die Abkapselung seines großbürgerlichen Umfelds, wie im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg deutlich wird. Das Kriegsgeschehen scheint zunächst ohne Folgen für den (groß-)bürgerlichen Alltag Renatos zu bleiben. Als er sich während einer der Klavierstunden ein Glas Wasser holt, hört er ein Gespräch zwischen der Köchin und dem Hausmeister mit an, in dem es um »hohe Politik« (SP 25) geht, wie es Renatos Mutter ironisch-herablassend ausdrückt. Die beiden Hausangestellten reden über den Krieg und die
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Nahrungsmittelknappheit. Hausmeister Knobloch macht sich Sorgen, ob man mit den nun ausgegebenen Brotkarten noch genug zu essen haben werde. Die Köchin bemerkt hierzu lakonisch, »wer viel Geld hat, der wird immer zum Essen haben, das verschaffen sie sich schon. Aber das Volk, das Volk, das ist eine Misere. Wie sie sich anstellen müssen, um ein bißchen Zucker, wenn sie es überhaupt bekommen oder kaufen können« (SP 25). Die Diskrepanz zwischen den Auswirkungen, die der Krieg auf das Leben der Bevölkerung hat, und der Unbetroffenheit der privilegierten Gesellschaftsschicht, zu der Renatos Familie zählt, zeigt deren »Abgelöstheit vom Leben« (Grab zit. n. Cramer: 475). Innerhalb seiner Familie wird nicht über den Krieg gesprochen, so dass Renato davon de facto nichts mitbekommt. Im Gegensatz dazu macht die Köchin sich Gedanken über den Krieg und das Schicksal der Soldaten: »Was die alles mitzumachen haben. Sie stehen in den Schützengräben und das Wasser geht ihnen bis zu den Knien. Der Mann von meiner Nichte, der hat davon eine Krankheit bekommen, daß er den ganzen Tag und die ganze Nacht schreien muß« (SP 25f.). Das Gespräch, dessen Zeuge Renato wird, dreht sich weiter um die Soldaten: »Die Soldaten, die zittern müssen«, sagte Herr Knobloch, »wissen Sie, die, was so einen Schreck gehabt haben im Krieg, die was man jetzt mit der Elektrizität behandelt, die tun auch so schrein!« Die Köchin sah Herrn Knobloch wütend an. »Sie glauben auch immer alles. Da sind viele Schwindler dabei, denen treibt man’s eben aus. Das sind die Stimulanten. Aber wenn einem so ein Splitter von einem Scharpnell ins Bein kommt und das Bein wird ihm dann amplotiert, das sind erst Schmerzen. Die müssen erst was schrein. Aber viele gehen auch zugrund. Sie kriegen Brand. Dann werden sie draußen begraben und bekommen nur ein hölzernes Kreuz mit ihrem Namen drauf.« (SP 25f.) Die fehlerhafte Grammatik und die falschen Fremdwörter, die einen komischen Effekt haben, signalisieren den sozialen Status der Bediensteten. Nichtsdestotrotz bringt dieses Gespräch unter ›einfachen Leuten‹ Renato erstmals den Krieg und das damit verbundene Leid zu Bewusstsein. Die Unterhaltung zwischen der Köchin und dem Hausmeister dreht sich um die aus dem Krieg heimgekehrten Soldaten, die in Folge der Erlebnisse an der Front unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Auf Grund des vorherrschenden Symptoms, dem unkontrollierten Zittern, wurden sie umgangssprachlich als »Kriegszitterer« oder »Schüttler« bezeichnet (vgl. dazu sowie zu den folgenden Ausführungen Ulrich 2014: 654). Die »Kriegszitterer«, so der Arzt und Politiker Willy Hellpach, wurden bald »zu einem grausigen Straßenschauspiel, das die Bevölkerung fast mehr noch als die Amputierten, die Blinden und die im Antlitz Entstellten erregte« (zit. n. Ulrich 2014: 654). Die große Zahl der erkrankten Soldaten, allein in Deutschland schätzt man die Zahl auf etwa 200.000, überforderte bald die Ärzte, die mangelnde Kenntnisse über die Ursachen psychischer Erkrankungen
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hatten. Im Gegensatz zu körperlichen und damit sichtbaren Verletzungen wurden die psychischen Leiden der aus dem Krieg Heimgekehrten bagatellisiert. Bei der Therapie standen zwei Ziele im Vordergrund: erstens, die Soldaten schnell wieder einsatzfähig für den Krieg zu machen oder, wenn dies nicht gelang, ihnen eine möglichst geringe Rente zuzuerkennen. Dabei kamen zum Teil brutale Methoden wie die bei Grab erwähnten Elektroschocks zum Einsatz. Oft wurde den Patienten mangelnder Wille zur Gesundung oder eine Prädisposition für Nervenschwäche unterstellt. Auch kam es vor, dass manche Militärärzte es sich zur Aufgabe machten, die Erkrankten als Simulanten zu überführen. Diese Diskurse fanden Eingang in die Alltagswelt und in die Literatur, wie das Zitat aus dem Stadtpark vorführt. Renato allerdings kann die Realität und die Folgen des Krieges, die ihm nun erstmals vor Augen stehen, nicht fassen. Zurück in der Klavierstunde ist er deshalb ganz mit seinen Gedanken beschäftigt: Renato spielte die Etude mit den Zweiunddreißigstelnoten und sah, wie seine Finger ganz von selber liefen. Aber das wunderte ihn nicht, da die Passagen der Czerny-Etude ja nichts Greifbares waren. Sie waren unwirklich, ebenso wie das Gespräch, das die Köchin mit Herrn Knobloch geführt hatte, und wie der Krieg, von dem dabei die Rede war. Aber plötzlich kam Renato nicht mehr weiter. Denn Fräulein Konrad hatte ihn angefahren: »Wie oft soll ich dir sagen, daß man hier bei diesem C den Daumen untersetzen soll« – und im selben Augenblick war ihm eingefallen, daß auch sein Daumen unwirklich war und daß die Daumen der Soldaten aus derselben Unwirklichkeit bestanden, die Daumen der Soldaten, welche schrien, und jener, die begraben wurden, nachdem ihr Körper im Feldlazarett ganz braun geworden war. Aber umso erschreckender war jetzt der Anblick ihrer Schreie, da man diese als große langgestreckte Fischblasen in der Luft neben dem Karbolgeruche hängen sah und gar nicht wußte, wo sie hingehörten. »Es ist furchtbar«, sagte Fräulein Konrad, »immerfort bleibt er stecken.« (SP 26) Für Renato bleibt der Krieg mit seinen Schrecken etwas nicht »Greifbares« und Unwirkliches. Er vermag das Gehörte nicht in Einklang mit seiner bürgerlich-behüteten Lebenswelt zu bringen: Die Schreie der Soldaten dringen in die antiseptische, nach Karbol riechende Luft des heimischen Wohnzimmers ein, aus dem der Krieg (wie so vieles andere aus der Außenwelt) ausgeschlossen bleibt. Es wirkt zynisch, wenn Grab neben die Gedanken Renatos über das Leid der Kriegsopfer dieses »Es ist furchtbar« der Klavierlehrerin stellt, die sich über Renatos Spiel entrüstet. Dadurch wird noch einmal die scharfe Trennung zwischen der Welt der Erwachsenen und Renatos Innenwelt akzentuiert und Kritik an den hohlen Phrasen und der Gefühlskälte der Erwachsenen geübt. Im Kontrast zu den Werteordnungen und Anschauungen der Erwachsenen wird die Welt der Kinder oder vielmehr der Her-
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anwachsenden dargestellt, doch auch hier ist Renato ein Außenseiter. Die anderen Jungen in seiner Klasse machen sich meist über ihn lustig: Denn in der Schule sagte Felix immer: »Wir dürfen den Martin nicht verderben.« Dann pflegte der dicke Pick zu lachen und die anderen, der Woska, der Krebs, der Soukup lachten mit. Aber auch die übrigen sprachen es nach und sagten: »Der Martin darf nicht verdorben werden«, und selbst beim dünnen Pick kam es vor, daß er auf eine Frage Renatos hin, nur schweigend eine Geste machte. (SP 34) Innerhalb des Klassenverbandes gibt es eine klare Hierarchie, an deren oberster Stelle Felix Bruchhagen steht, dem vom Rest der Klasse uneingeschränkter Respekt entgegengebracht wird. Darauf folgt der »dicke Pick«, da er mit drei Jahren Altersunterschied der Älteste ist. Renato ist sich der Tatsache bewusst, dass er in dieser Rangfolge den niedrigsten Platz einnimmt und bei den Klassenkameraden kein großes Ansehen genießt. Daher trifft ihn Professor Brischtas Äußerung, der als Erwachsener (einmal mehr) die Tatsachen völlig verkennt: Einmal sagte Professor Brischta zu Renato: »Der Pick, Ihr Freund«, und er machte ihn damit für einen Augenblick so traurig, wie wir uns alle fühlen müssen, wenn wir uns plötzlich und, so oft es auch geschieht, mit neuer Überraschung dem menschlichen Mißverständnis gegenüber sehen, der Überschätzung oder der Unterschätzung einer Person, einer jener ungezählten falschen Vorstellungen, mit denen die Menschen leben, um sie mit ins Grab zu nehmen. So glaubte Professor Brischta von Renato, daß es ihm möglich sei, das Leben eines Fabelwesens wie des Pick in seinem geheimen Königreich zu teilen und glaubte allerdings zugleich, daß er die Schrecken des Abgrundes, dem der dicke Pick entgegentrieb, nicht sah. (SP 35) Besonders augenfällig wird Renatos Isolation in dem Beziehungsdreieck zwischen Renato, Marianne und Felix. Renatos einziger Kontakt zu Gleichaltrigen findet in der Schule oder aber bei den Stadtparkspaziergängen statt. Da die Schule, die Renato besucht, zunächst eine reine Jungenschule ist, sind die Spaziergänge im Stadtpark die einzige Gelegenheit, bei denen Renato mit einem Mädchen gleichen Alters zusammentrifft. Später stößt Felix Bruchhagen hinzu und schafft es, Mariannes Interesse und ihre Zuneigung zu gewinnen. Zunächst freut sich Renato darauf, »die Bekanntschaft zu vermitteln, und war dessen sicher, nicht nur bei Felix, sondern auch bei Marianne dadurch an Achtung zu gewinnen« (SP 43). Doch nach kurzer Zeit beginnen auch die beiden, sich über ihn lustig zu machen, und ihn auszuschließen. Das ist für Renato doppelt schmerzhaft, da er für Marianne schwärmt und sich Felix’ Anerkennung wünscht. Schnell entwickelt sich zwischen Marianne und Felix eine erste Verliebtheit und im weiteren Verlauf der Erzählung entspinnt sich zwischen den beiden eine Romanze, die bereits bei diesem ersten Aufeinandertreffen präfiguriert wird:
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Marianne hatte sich an den niedrigen Drahtzaun gelehnt, halb sitzend, halb stehend und mit den Händen an dem oberen Rand des Gitters aufgestützt. Es war, als habe die Verlegenheit eine dünne Maske über ihrem Gesicht zum Schmelzen gebracht, so daß die leichte rosa Färbung ihrer Wangen zum ersten Mal bloßzuliegen schien. Auch ihre Augen waren von dem Zwang befreit, sich in die Ferne zu richten und so konnte sie den Blick auf Felix ruhen lassen. Den Mund aber hielt sie ein wenig geöffnet, so, als wolle sich ein leiser Kehllaut ihrem Hals entringen, um etwas von dem Unbekannten, das ihr Körper eingeschlossen hielt, geradewegs an die freie Luft zu tragen. (SP 43) In dieser Passage ist bereits das Verhältnis zwischen Felix und Marianne angedeutet, das später in einem Erzählerkommentar »jenes Ereignis […], das in unserem Bericht wohl als die Hauptsache zu figurieren hätte« (SP 77) genannt wird. Denn es führt zu dem folgenschweren Klassenbucheintrag »Bruchhagen treibt mit einer jungen Privatistin Ungehörigkeiten« (SP 78), den Renato auf Geheiß seines Schulkameraden Woska hin herausreißt, um Felix zu schützen. Für Renato hat die erste Begegnung zwischen Marianne und Felix große Bedeutung. Zwar bleibt seinem kindlich-naiven Blick die Verliebtheit der beiden anfangs verborgen, aber »diese kleine Szene behielt Renato trotzdem sehr lange und auch noch in viel späteren Jahren im Gedächtnis« (SP 43). Für ihn ist sie eine jener »Momentaufnahmen, die unser Geist vielleicht recht wahllos produziert, deren Aneinanderreihung aber das Album ergibt, das wir gelegentlich durchblättern und das wir für unser Leben halten« (ebd).
3.
Die Verortung Prags im Stadtpark
Ausgehend von der Außenseiterposition Renatos, wie sie auf den vorangehenden Seiten herausgearbeitet wurde, soll nun das Pragbild im Stadtpark näher betrachtet werden. Grab selbst sagte über den Stadtpark: »Ich habe mich bemüht, ein Stück Leben darzustellen und nichts mehr als das.« (Grab, zit.n. Cramer 1994: 413). Dieses »Stück Leben« verankert er in Prag. Die Stadt wird zwar nicht namentlich genannt, aber der Stadtpark und die beiden einzigen Straßennamen »Mariengasse« (SP 17) (die heutige Opletalova) und »Bredauergasse« (SP 77) (heute: Politických vězňů) weisen Prag als Ort der Handlung aus. Auch zahlreiche zeitgenössische Kritiken identifizieren Prag klar als Handlungsort. In seiner Rezension von 1935 lokalisiert Willy Haas den eng bemessenen Handlungsraum in der realen Topographie Prags und zieht davon ausgehend Rückschlüsse auf das im Stadtpark porträtierte Milieu:
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Hermann Grab je ze staré a známé pražskoněmecké rodiny patricijské; jeho kniha má určitý druh metafysického espritu: v rámci vypravování o dětsví obsahuje aforistické fragmenty celé životní filosofie. Je to životní filosofie ghetta, ne právě ghetta židovského, nýbrž ghetta v onom smyslu, v jakém je »ghettem« i faubourg St. Germain u Prousta. Toto ghetto začíná (nebo spíše začínalo kdysi) v dnešní Washingtonové ulici a končilo už u Havlíčkova náměstí, obsahovalo tedy jen pár set kroků. Ale kdysi, před rokem 1914, kulturně něco znamenalo. […] Ale to všechno dnes už zmizelo a Hermann Grab je jen kronikář zapadlého a uzavřeného světa, z něhož neproniká už jediný zvuk. Tato německá Praha se silným židovským vrchním povlakem se od počátku isolovala sama. (Haas 1935: 3) Hermann Grab stammt aus einer alten und namhaften Pragerdeutschen Patrizierfamilie; sein Buch besitzt eine eigene Art von metaphysischem Esprit: die Kindheitsgeschichte beinhaltet aphoristische Fragmente einer ganzen Lebensphilosophie. Es ist die Lebensphilosophie des Ghettos, aber eben nicht des jüdischen Ghettos, sondern eines Ghettos in dem Sinne, in dem auch Faubourg St. Germain bei Proust ein Ghetto ist. Dieses Ghetto beginnt (bzw. begann seinerzeit) in der heutigen Washingtonova ulice und endete bereits beim Havlíčekplatz, umfasste also nur ein paar hundert Schritte. Aber seinerzeit, vor dem Jahre 1914, bedeutete es kulturell etwas. […] Aber das alles ist heute längst verschwunden und Hermann Grab ist lediglich Chronist einer zerfallenen und abgeschlossenen Welt, aus der kein Laut mehr dringt. Dieses deutsche Prag mit dem jüdischen Überzug hat sich von Anfang an selbst isoliert. Die von Haas beschriebene Isolierung der großbürgerlichen deutsch-jüdischen Gesellschaftsschicht Prags deckt sich mit Grabs Äußerungen über das jüdische Außenseitertum als Voraussetzung für das künstlerische Schaffen. In ähnlicher Weise wie Haas äußert sich der bekannte zeitgenössische Kritiker Carl Seelig über den Roman. Es sei Grab gelungen, »die bedrückende Zeit um 1916, die besondere Atmosphäre von Prag und seiner Bourgeoisie korrekt und in den verschiedensten Beleuchtungen zu zeigen« (Seelig 1935: o. S.). Der unbekannte Verfasser einer weiteren zeitgenössischen Rezension bezeichnet den Stadtpark als »aufschlußreiches Kulturdokument«, das jenen »lebensluftleeren Raum, in den sich das […] Stadtviertel der sogenannten Stadtpark-Patrizier in der Kriegszeit verwandelt hatte« (zit. n. Cramer 1994: 131), abbilde. Die Stadt Prag als solche tritt im Verlauf der Erzählung an keiner Stelle explizit in Erscheinung. Die Nichtthematisierung Prags – das Ausblenden der realen Prager Lebenswelt, die außerhalb des Stadtparkviertels liegt – akzentuiert die von den Rezensenten beobachtete Isolation und Abkapselung. Gerade dadurch, dass Prag sozusagen verschwiegen wird, teilt Der Stadtpark etwas über das großbürgerliche deutsch-jüdische Prag mit, das in seiner Abgelöstheit von der übrigen Stadt
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umso deutlicher hervortritt. Ähnlich wie Grab Proust attestiert, eine Gesellschaft im Moment ihres Zerfallens umso klarer hervortreten zu lassen, porträtiert auch er selbst eine im Untergang begriffene Gesellschaft, die nur noch als Fassade, als bloße »Oberfläche« (Grab zit. n. Cramer 1994: 470), in Erscheinung tritt, und die es außerdem zum Zeitpunkt der Romanveröffentlichung längst nicht mehr gibt. Doch wie ist nun das Bild der Stadt dort, wo sie in Erscheinung tritt, beschaffen? Zu Beginn der Erzählung wird Prag als moderne Großstadt markiert. Renatos Fechtlehrer, Herr Kvapny, blickt auf die von Menschen belebte Straße und konstatiert: »Wie Ameisen« (SP 8). Damit ist der moderne Großstadtdiskurs aufgerufen und die Stadt erhält übergroße Dimensionen, die die Menschen auf das Maß von Ameisen reduziert erscheinen lassen. Außerdem evoziert das Bild die Geschäftigkeit und Umtriebigkeit, die in der Stadt herrschen. In eklatantem Gegensatz dazu steht der Lebensraum Renatos – jener »luftleere[…] Raum« (zit. n. Cramer 1994: 131), jene »abgeschlossene Welt« (Haas 1935: 3), von der die zeitgenössischen Rezensenten sprechen. Tatsächlich sind die Handlungsorte überwiegend geschlossene Räume: Renatos Elternhaus, Mariannes Zuhause, die Schule. Sie verdeutlichen Renatos »Abschirmung nach außen« (Becher 1985: 13). Diese räumliche Isolation korrespondiert mit der Losgelöstheit von der Außenwelt, die seine Erziehung bestimmt. Eine Ausnahme bildet der Prager Stadtpark, dessen sich auch Egon Erwin Kisch in Die Abenteuer in Prag (1919) erinnert (vgl. Kisch 1980: 363-368). Diesen betritt Renato allerdings nur in Begleitung von Miß Florence, der zentralen Figur seiner ›weltfernen‹ – d. h. die Außenwelt fernhaltenden – Erziehung. In ähnlicher Weise wie Grab schildert auch Kisch die verschiedenen Gruppen und ihre Aktivitäten, die jeweils in einem bestimmten Bereich des Stadtparks stattfinden. Die Ausgelassenheit und Wildheit der Kinder beim Fußball und anderen Spielen etwa stehe im Gegensatz zu den Kindern aus reichem Hause: »Ebenso weltentfernt ist der Spielplatz der Babys, der Gouvernantenknaben und – pfui! – der Mädchen, auf der Unteren Promenade […]. Dort sind die gesitteten Knaben, die ›Patzigmacher‹« (Kisch 1980: 364). Auffällig ist weiterhin, dass Renato die Stadt nur dann bewusst wahrnimmt, wenn er allein ist. So zum Beispiel, als Renato nach einem Krankenbesuch bei Felix zu Fuß nach Hause geht: Aber er hörte sehr bald auf, darüber nachzudenken und mußte bemerken, wie seine Füße ganz von selbst begonnen hatten, sich immer schneller über das Pflaster zu bewegen, zwischen der braunen Häuserreihe und der Reihe schwarzer Bäume, auf dem Weg, an dessen Ende der hellgraue Himmel wie eine verschiebbare Theaterkulisse anzusehen war, wie ein dünner Vorhang, hinter welchem bereits die nächste Dekoration in Purpur und in goldenen Farben vorbereitet stand. (SP 41)
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Die wenigen Momente, in denen Renato sich allein durch die Stadt bewegt, sind Momente, in denen er »vom Entdecken seines Ich überrascht wird« (Topoľská 1986: 116). An prominentester Stelle steht hierbei der folgende längere Abschnitt, der mit der Wahrnehmung der morgendlich-stillen Stadt beginnt und darüber zu einem Augenblick der Ich-Erfahrung gerät: Manchmal sagte sich Renato freilich, daß er glücklich sei. Er sagte es sich, wenn er am Morgen erwachte und sah, wie es noch im Zimmer dunkel war. Vor den Fenstern machte schon eine vereinzelte Elektrische ihren Bogen und ihre Geräusche, das Anschlagen der Glocke und das Kreischen der Räder in den Schienen, breitete sich für eine kurze Weile auf dem Untergrund der Leere und der Dunkelheit des Platzes aus. Einmal stand Renato um diese Stunde auf und da bekam er das Glück so körperlich zu spüren, wie es ihm noch niemals widerfahren war. Er stellte sich ans Fenster und durch die Rolläden hindurch konnte er hinaussehen. Auf der gegenüberliegenden Seite, mitten innerhalb der schwarzen Häuserreihe, war ein Laden mit Viktualien sehr hell erleuchtet. In der Entfernung waren die Dimensionen des Bildes stark verkleinert, die ausgestellten Kohlköpfe, die Äpfel und die Birnen, die Frau, die mit einer Waage hantierte, das alles war zur Winzigkeit zusammengeschrumpft, war aber zugleich in seiner Plastizität, die offenbar in diesen kleinen Körpern eingeschlossen um so stärker wirksam war, gesteigert. Renato sah die farbigen Früchte in ihrer schönen und bedauernswerten Spielzeugexistenz, er sah die Frau, wie sie langsam und gleichmäßig im Laden herumging – eine andere Frau kam trotz der frühen Stunde schon herein, kaufte etwas ein und steckte den Gegenstand langsam in ihre große schwarze Tasche – und dieses Bild in seiner gewissermaßen ländlichen Selbstzufriedenheit war so schön eingebettet in die Straße, deren nächtliche Ruhe und Finsternis in dieser Morgenstunde um so kostbarer erschien, daß Renato nicht wußte, was er zu beginnen habe. (SP 32f.) Die Szenerie wirkt zunächst idyllisch. Das hektische Treiben in der Stadt hat noch nicht begonnen, stattdessen ist eine »ländliche Zufriedenheit« in die Straße »eingebettet«. Renato beobachtet zwei Menschen, die sich vor dem erwachenden Großstadtleben begegnen. Das Gegensatzpaar Stadt(leben)/Land(leben) wird mitsamt der Polarität Hektik/Ruhe aufgerufen. Die Lichtsymbolik mit den »schwarzen Häuserreihen« und dem »hell erleuchteten« Laden untermalt diesen antithetischen Aufbau. Innerhalb der anonymen, schwarzen Stadt existiert ein heller Raum, an dem eine zwischenmenschliche Begegnung stattfindet. Es ist die Nacht mit ihrer Ruhe und Finsternis, die zur Voraussetzung für Renatos Gedanken und das körperlich spürbare Glück wird. Auf der anderen Seite lässt diese Erfahrung Renato ratlos zurück. Er weiß nicht, »was er zu beginnen habe«, er fühlt, dass er selbst zu dieser Szenerie keinen Zugang hat. Er bleibt lediglich Beobachter. Der Erzähler sublimiert diese ästhetische Erfahrung ganz im Sinne von Grabs Ausfüh-
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rungen im Proust-Vortrag, Renato selbst hat aber keinen Platz innerhalb dieses Bildes. Er nimmt die ganze Szene »stark verkleinert« wahr. Das Gesehene ist »zur Winzigkeit zusammengeschrumpft«, tritt jedoch dadurch stärker »in seiner Plastizität« hervor. Diese Beschreibung erinnert an die Guckkastenperspektive – ein Motiv, das auch Oskar Wiener im Titel seines Erzählzyklus Alt-Prager Guckkasten (1922) aufgreift und das die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit verdeutlicht, indem der Blick auf einen kleinen Ausschnitt der Welt beschränkt bleibt. Im Motiv des Guckkastens, einer beliebten Jahrmarktsattraktion, bei der mit Hilfe optischer Illusionen dem Publikum täuschend echte Bilder präsentiert wurden, schwingt zudem der Verweis auf die Scheinhaftigkeit des Lebens mit. Die Reduzierung der Szene aus dem morgendlichen Stadtleben auf Puppenstubengröße macht sie auf der einen Seite überschaubar, verhindert für Renato (der zudem durch seine Beobachter-Position im Innenraum des Hauses vom Außen der Straße abgeschirmt ist) aber auch die Teilhabe daran. Anschließend kommt es zu einem zentralen Moment der Ich-Erfahrung innerhalb des Romans, wodurch eine Verbindung zwischen Stadterfahrung und Innenleben des Protagonisten hergestellt wird: Aber die Dunkelheit des Zimmers und der Gesang der Straßenbahn draußen auf dem Platz, das alles war nicht wirklich da, wenn Renato am Morgen beim Erwachen plötzlich bemerkte, wie alle seine Glieder sich in die verschiedensten Richtungen verstreut hatten, und wenn dann beim Einsammeln der einzelnen Körperteile ihn die Frage erschreckte, ob das, was er zusammenfügte, auch ein Mensch unter den anderen Menschen sei. Das, was er dann zu sehen bekam, war allerdings im Augenblick verschwunden. Und wenn er dann darüber nachdachte, was das Erschreckende gewesen war, das er gesehen hatte, dann wußte er nur soviel – wußte es ganz schwach […] und ganz schwach war dann auch wieder der Schrecken zwischen seinen Rippen da –, nur soviel also wußte er, daß er sich selbst in diesem Augenblick unendlich groß erschienen war. Er war so groß gewesen, daß alle anderen Menschen, die ganz wie er selbst, sich ›Ich‹ zu nennen pflegten, in dieser Größe untergebracht waren und sogar so viel Platz gefunden hatten, daß sie alle nur wie eine dünne Sandschicht (und er selbst als kleines Wesen unter ihnen) den Boden dieses Raumes bedeckten, während über ihnen (also über ihm und zugleich auch in ihm selbst, dem großen Wesen) sich ein unendlich großer Hohlraum wölbte. (SP 33) Die hier dargestellte körperliche Erfahrung, nämlich die Fragmentierung des Körpers, der wieder zusammengefügt werden muss, verdeutlicht einerseits die rein physischen Herausforderungen der Ich-Findung an der Schwelle zum Erwachsenwerden und erinnert gleichzeitig an zeitgenössische Diskurse über die sich zunehmend auflösende Vorstellung einer Ich-Entität, z. B. bei Ernst Mach oder Sigmund Freud. Die beschriebene Zersplitterung korrespondiert zudem mit Grabs Ausfüh-
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rungen im Proust-Vortrag, wonach sich der Gehalt immer mehr aus der Oberfläche zurückziehe und dadurch die Kraft verliere, »die Oberfläche in ihre wenigen klaren Kontraste zu gliedern, die Konturen verschwimmen, die Farbenflächen zersplittern sich gleichsam, spielen immer stärker durcheinander« (Grab zit. n. Cramer 1994: 470). Schon am Anfang der zitierten Textstelle klingt die Skepsis über die zuvor beobachtete Szene an (»das alles war nicht wirklich da«), die sich als Misstrauen gegenüber der Oberfläche deuten lässt. Die moderne Ding-Welt ebenso wie die Persönlichkeit erscheinen als zersetzt, nicht mehr stabil und müssen daher immer neu zusammengesetzt werden. Grab überträgt hier seine Beobachtungen in Bezug auf die Moderne, die er im Proust-Vortrag mit einem impressionistischen Gemälde vergleicht, ins Medium der Literatur. Die zum Thema gemachte Zersplitterung kommt auch in einer Äußerung Willy Haasʼ über Prag und die Prager deutschsprachige Gesellschaft zum Tragen: Wir sind hier, glaube ich, am soziologischen Mittel- und Ausstrahlungspunkt des damaligen gesellschaftlichen Organismus: Es gab das Unerreichbare – das, was nicht nur unmöglich war, sondern unmöglicher als unmöglich, nicht denkbar, nicht vorstellbar, überhaupt nicht ins Bewußtsein zu bringen. Es gab dieses Unerreichbare sogar Tag für Tag, Stunde für Stunde, bei jedem Schritt…Die Stadt war wie verhext, auf unerklärliche Weise schien sie von selbst in Partikel zu zerfallen…Die Kreise um jeden einzelnen waren ja so eng, die Mauern unübersteiglich. (Haas 1937: 1f. zit. n. Krolop 1967: 51) Wenn Renato danach fragt, ob er »auch ein Mensch unter den anderen Menschen sei« (SP 33), werden die Fragilität von Identitätskonzepten und die existenzielle Einsamkeit des Individuums, die Grab in seinem Vortrag dem Judentum im Speziellen attribuiert, deutlich.
4.
Interkulturelle Spuren
Hermann Grab modelliert Prag im Stadtpark auf den ersten Blick nicht als plurikulturellen, multilingualen Stadtraum und geht nicht explizit auf das deutschtschechisch-jüdische Zusammenleben ein, wodurch wiederum die Isolation der porträtierten Gesellschaftsschicht unterstrichen wird. In der Erzählung tauchen keine tschechischen Figuren auf, der Protagonist bewegt sich eigentlich in einer rein deutschsprachigen Sphäre. Dennoch lassen sich im Text durchaus Problematisierungen nationalkultureller Identitätskonstruktionen und interkultureller Konstellationen entdecken. Renatos Lehrer beispielsweise zeichnen sich allesamt durch eine stark nationalistische Haltung aus und sehen den Krieg als patriotische Pflicht an; demgemäß wird im Garten der Schule ein sogenannter »Wehrmann in Eisen« aufgestellt:
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Professor Weinzierl trat vor die Schüler und hielt eine Ansprache. Er sagte, der Wehrmann in Eisen sei ein erhabenes Sinnbild. Wer hingehe und ein Geldopfer darbringe, um einen Nagel einzuschlagen, der trage bei zum Aufbau des Vaterlandes, das durch den Opfermut der Patrioten gefestigt würde, so wie durch diesen Opfersinn eine einfache Holzfigur sich in einen eisernen Wehrmann verwandle. Dann schlug er selbst den ersten Nagel ein – er hielt ihn elegant zwischen zwei Fingern seiner Linken – und sprach dabei den Wahlspruch: ›Viribus unitis!‹ Professor Brischta folgte ihm, er zuckte mit dem Kopf und indem er jedes Wort für sich hervorstieß, sagte er: ›Schwarz-gelb für immer!‹ Dann kam Professor Piller an die Reihe. Er faßte den Wehrmann träumerisch ins Auge und seine Devise: ›Deutsch und treu!‹ klang wie aus tiefem Schlaf gesprochen. (SP 55) Seit der Aufstellung des ersten »Eisernen Wehrmanns« in Wien am 6. März 1915 wurden bis zum Ende des Krieges in ganz Deutschland und Österreich-Ungarn Figuren und Symbole aus Holz mit Nägeln, für die eine bestimmte Geldsumme gezahlt wurde, beschlagen. Der Erlös kam Kriegshinterbliebenen zugute oder diente zur allgemeinen Kriegsfinanzierung (vgl. Pust 2014: 212). Diese Kriegsnagelungen sind allerdings nicht nur als gemeinschaftsstiftender Ausdruck der Solidarität zu verstehen, sie waren ein »regelrechter Propagandafeldzug« (Pust 2014: 212), was sich in einer Vielzahl von Zeitungsberichten und Produkten wie Postkarten, Abzeichen, Broschen usw. zeigte, die die Nagelungen begleiteten. »Sie waren immer auch Vehikel patriotischer Gesinnungsbildung, Objekte der Kraftübertragung zwischen Heimat und Front, Akte der Selbstbeschwörung, gelegentlich auch vorweggenommenes Kriegerdenkmal« (Schneider 2014: 730). In dieser Weise greift auch Grab die Praxis der Nagelungen auf, indem er den Lehrern beim Einschlagen der Nägel Parolen, die von patriotisch-kaisertreu bis deutschnationalistisch reichen, in den Mund legt. Professor Weinzierl zitiert den Wahlspruch Kaiser Franz Josephs I. »Viribus unitis!« (»Mit vereinten Kräften«), der gleichzeitig der Name eines Schlachtschiffs der k. u. k. Kriegsmarine war. Professor Brischtas Devise »Schwarzgelb für immer« beschwört die Habsburger Farben und ist Ausdruck seiner Kaisertreue und seines Bekenntnisses zu Österreich-Ungarn. Professor Piller hingegen offenbart sich mit seinem »Deutsch und treu!« als deutschnationalistisch.11 Es
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Vgl. zur Losung von Professor Piller: »[Georg Ritter von] Schönerer, ein Verfechter der kleindeutschen Idee, trat mit Vehemenz gegen den Habsburgerstaat auf und plädierte für den Anschluss der deutschsprachigen Gebiete Österreichs an das Deutsche Reich. Er vertrat einen radikalen Deutschnationalismus, schimpfte gegen die Kapitalisten, das Judentum und gegen die katholische Kirche. Seine ›Los-von-Rom-Bewegung‹ empfahl die Abwendung vom Katholizismus hin zum deutschfreundlicheren Protestantismus. Aurelius Polzer, ein Anhänger Schönerers, beschrieb die völkische Ideologie folgendermaßen: ›Deutsch und treu, so ganz und echt,/Nicht verjudet, nicht vertschecht,/Nicht verpfafft und nicht verwelscht,/Kurz und gut, ganz unverfälscht.‹« Michaela Scharf auf der Webseite der Online-Ausstellung »Erster Weltkrieg und
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werden also zwei Spielarten des Prager deutschen Nationalismus herausgestellt; der österreichisch-monarchistische und der deutschnationalistische. Renato allerdings bleibt von der patriotischen Gesinnung in der Schule vollkommen unberührt. Obschon keine tschechischen Figuren auftreten, finden interkulturelle Fragestellungen dennoch Eingang in den Text, und zwar in der Figur des englischen Kindermädchens Miß Florence. Gleich zu Beginn der Erzählung wird sie als außergewöhnlich und ›anders‹ charakterisiert: »Eines allerdings stand fest: Es war anders um sie bestellt als um die gewöhnlichen Leute, die Professoren in der Schule, die Familienmitglieder, die Besuche, die ins Haus kamen« (SP 13). So hat das Kindermädchen und die Hauptbezugsperson für den 13-jährigen Renato einige Gewohnheiten aus ihrer englischen Heimat beibehalten, wie z. B. die Teestunde, die für sie eine »sakrale Handlung« (SP 8) ist, sowie ihre »englische Art« zu rechnen: Sie addierte, allerdings nicht so, wie es die anderen Leute taten, sondern sie rechnete, indem sie mit großer Geschwindigkeit englische Zahlenreihen murmelte und dabei die Finger bewegte, als spiele sie eine Tonleiter in der Luft. Es war eine ungeschickte Art zu rechnen, das stand fest. Aber es war eine englische Art und es wäre nicht möglich gewesen, diese Gewohnheit aus ihr herauszureißen, diese Gewohnheit, die offenbar ihrem Vater und ihren Geschwistern auch zu eigen war und die mit einem Male wieder zu erkennen gab, daß sie – was man immer gern vergaß – ein kleines Teilstück vom großen grünen England ganz unversehrt in ihrem Inneren über den Kanal gebracht, es unversehrt erhalten hatte, um es dann plötzlich einmal mitten in Renatos Zimmer in seiner ungeschickten Schönheit aufzudecken. (SP 71; meine Hervorhebungen, U.M.) Aus Renatos Perspektive stellt die Art, wie Miß Florence eine so alltägliche Tätigkeit wie das Rechnen ausführt, etwas Außergewöhnliches dar, denn sie tut es nicht, »wie es die anderen Leute taten«, sondern so, wie sie es aus ihrer englischen Heimat kennt. Diese »englische Art« zu rechnen verbindet sie wiederum mit ihrer Familie, da es sich hierbei um eine Gewohnheit, genauer um die Wissenspraktik einer Gruppe handelt, die sich mit Maurice Halbwachs als mémoire collective oder mit Jan und Aleida Assmann als kulturelles Gedächtnis bezeichnen lässt. Renato bewertet diese andere Art zu rechnen sogleich als »ungeschickt«, denn sie unterscheidet sich von seiner Art zu rechnen – und der seiner Umgebung. Zugleich fühlt sich Renato von Miß Florence’ Andersartigkeit angezogen; das »kleine Teilstück vom großen grünen England«, das sie »in ihrem Innern« trägt, ist für ihn »wie ein kostbares Tabernaculum ein Stück von dem Geheimnis, welches die Welt in Gang erhält« (SP 13).
das Ende der Habsburgermonarchie«: http://ww1.habsburger.net/de/kapitel/deutsch-und-tre u-so-ganz-und-echt; (Hervorhebungen im Original), zuletzt geprüft am 15.10.2020.
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In seinem Essay Der Fremde (1944) hat sich Hermann Grabs Zeitgenosse Alfred Schütz, der Begründer der phänomenologischen Soziologie, mit den sozialpsychologischen Implikationen interkultureller Begegnung auseinandergesetzt. Schütz geht dabei von »Zivilisationsmuster[n] des Gruppenlebens« (Schütz 2015: 46) aus, die er fasst als ein »Wissen von vertrauenswerten Rezepten, um damit die soziale Welt auszulegen und um mit Dingen und Menschen umzugehen« (a.a.O.: 49; Hervorhebung im Original). Der Zweck dieser Rezepte ist es, die kognitive Anstrengung (das Erfassen einer Situation, die Bewertung, das Abwägen des eigenen Handelns) in sozialen Zusammenhängen möglichst gering zu halten, indem sie gewisse Handlungsweisen vorgeben. Außer als ein »Anweisungsschema« fungieren die in Rede stehenden Kultur- und Zivilisationsmuster aber gleichzeitig auch als ein »Auslegungschema« (ebd.). Schütz nennt dies das »Denken-wie-üblich« (ebd.) und meint damit Annahmen, die innerhalb einer sozialen Gruppe als selbstverständlich gelten. Für denjenigen, der als Fremder einer sozialen Gruppe gegenübersteht, gelten diese der Gruppe selbstverständlichen Annahmen nicht. Schütz zufolge ist er derjenige, »der fast alles, das den Mitgliedern der Gruppe, der er sich nähert, unfraglich erscheint, in Frage stellt« (a.a.O.: 50): Für ihn haben die Zivilisations- und Kulturmuster der Gruppe, welcher er sich annähert, nicht die Autorität eines erprobten Systems von Rezepten, und nur deshalb, und sonst aus keinem anderen Grund, weil er nicht an der lebendigen geschichtlichen Tradition teilnimmt, durch die diese Muster gebildet wurden. Sicherlich hat auch vom Standpunkt des Fremden aus die Kultur der Gruppe, welcher er sich nähert, ihre besondere Geschichte, und diese Geschichte ist ihm sogar zugänglich. Aber sie wurde niemals integraler Teil seiner eigenen Biographie, wie es mit der Geschichte seiner Heimatgruppe der Fall war. Nur die Weisen, in denen Väter und Vorväter lebten, werden für jedermann Elemente des eigenen Lebensstils. […] Für den Fremden sind die Zivilisations- und Kulturmuster seiner Heimatgruppe weiterhin das Ergebnis einer ungebrochenen historischen Entwicklung und ein Element seiner persönlichen Biographie, welche aus genau diesem Grund immer noch das unbefragte Bezugsschema seiner »relativ natürlichen Weltanschauung« [hier bezieht sich Alfred Schütz auf Max Scheler, U.M.] ist. (Schütz 2015: 50) Zwar geht Alfred Schütz in seinem Essay von der Position des Fremden aus, der sich einer Gruppe gegenübersieht, doch können seine Beobachtungen auch für eine Konstellation wie im Stadtpark Geltung beanspruchen. Zum einen geht Grab auf die geschichtlich und biographisch bedingte Dimension einer Alltagspraxis, konkret des Rechnens, ein, die Miß Florence weiterhin gemäß ihres »Zivilisationsmusters« ausführt. Gleichzeitig führt Grab die Irritation vor, die dies in Renatos »Denkenwie-üblich« auslöst. Dass er diese, ihm fremde, Art zu rechnen als »ungeschickt«
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bezeichnet, kann dann als Bestätigungsstrategie seines ›Denkens-wie-üblich‹ und als Abwehrmechanismus verstanden werden. Von Miß Florence schließt Renato auf alle Engländer: »In England, so dachte Renato, sind die Menschen alle gütig, nobel, heldenhaft und zart besaitet, allerdings auch ein wenig ungerecht und beschränkt, wie Miß Florence selbst« (SP 9). Damit greift Grab die Entstehung von Stereotypen (gr. stereós: starr, fest; frz. stéréotype: mit feststehenden Typen gedruckt) als »stark vereinfachten, schematisierten […], feststehenden und weit verbreiteten Vorstellungen einer Gruppe von einer anderen« (Nünning 2013: 711) auf. Die Stereotypisierung ist eine kognitive Operation zur Komplexitätsreduktion, um die »schwer zu erreichende Wahrheit durch bequeme Wahrheiten zu ersetzen« (Schütz 2015: 49). Indem Grab Renatos kindlichnaiven Blick auf die Welt nutzt, um die Strategie des Stereotypisierens zu veranschaulichen, stellt er deren Unzulänglichkeiten aus. Dennoch hat Renato eine vage Vorstellung davon, dass es »hinter« den vereinfachenden Erklärungsmustern eine komplexere Wahrheit gibt: Wenn Miß Florence dann beim Frühstück saß und nach der Marmelade griff – sie sagte allerdings, das sei gar keine Marmelade und sprach von einer unvorstellbaren englischen Sache, die sich aus ganzen Früchten zusammensetzte –, wenn sie das Messer in dünnen gespreizten Fingern hielt, um ein wenig von der Masse langsam auf das Brot zu streichen (sie blickte wieder vor sich hin, während dieser kleinen englischen Feierstunde, die herüberzuretten ihr gelungen war), dann sah Renato, daß sie gar nicht ahnte, daß es zwischen ihm und ihr und hinter ihrem Rücken eine Wahrheit gab und daß man auch an diese Wahrheit denken konnte (ohne sie allerdings gerade dann wiederfinden oder gar festhalten zu können). (SP 33; meine Hervorhebung, U.M.) Diese Wahrheit wird in einem vage bleibenden ›Dazwischen‹ verortet, bleibt aber für Miß Florence verborgen, »hinter ihrem Rücken«, und auch für Renato ist sie nicht greifbar, es handelt sich vielmehr um eine undeutliche Ahnung. Auf einer weiteren Ebene wird die Einstellung von Miß Florence zu ihrer Prager Umgebung thematisiert; das Verb »herüberretten« unterstreicht ihre geringschätzige Sicht auf die Prager Gesellschaft, die an anderer Stelle artikuliert wird: »Sie denkt jetzt an England, sagte sich Renato. Und er sah, wie sie dabei war, das Land, in dem sie jetzt am Teetisch saß und von dem sie sagte: ›Hier sind die Leute schrecklich, sie haben keine Ahnung von dem, was sich zu tun gehört‹, wie sie dabei war, dieses Land mit ihrer Insel zu vergleichen« (SP 8). In dem Zitat wird noch einmal vorgeführt, was Alfred Schütz in seinem Essay als »Denken-wie-üblich« bezeichnet: Miß Florence beurteilt ihre Prager Umwelt im Rahmen der ihr aus ihrer Heimat bekannten Zivilisations- und Kulturmuster, die sie geprägt haben. »Im Bezugsschema, das er [der Fremde] aus seiner Heimat mitbrachte, findet er jedoch ein fertiges Vorstellungsmuster, das vermutlich in der Gruppe, welcher er sich nähert, gültig bleibt –
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eine Vorstellung, die sich aber sehr bald als notwendig ungeeignet erweisen wird« (Schütz 2015: 50). In Grabs Erzählung wird dies im Verhältnis von Miß Florence zu den anderen Kindermädchen im Stadtpark – ihre Landsmännin Miß Harrison ausgenommen – virulent: Die Fräulein favorisierten die Mittelallee. […] Manchmal kam man so zu einem Haufen zusammen, ein großes Rudel von Kindern und ein großes Rudel von Fräulein. Meist aber blieb man mit den anderen nur für eine kurze Weile stehen. Miß Florence und Miß Harrison kamen nicht in die Hauptallee, um sich allzu häufig in ihrer Unterhaltung stören zu lassen. Es steht allerdings nicht fest, ob es sich nicht ganz anders verhielt, ob sie nicht hierher kamen gerade in der Hoffnung, mit den anderen gehen zu können. (Die Hochachtung, mit der Miß Florence von allen Gouvernanten sprach, macht die Vermutung nicht ganz unwahrscheinlich.) Vielleicht waren es die anderen, die einen ständigen Verkehr mit den Engländerinnen zu vermeiden suchten, vielleicht aber waren auch beide Teile daran interessiert, die Freundschaft des anderen zu gewinnen, und es gab als Hinderungsgrund nur die beiderseitige Ungeschicklichkeit. (SP 18) In der zitierten Passage werden die Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation thematisiert. Es ist nicht klar, ob die beiden Engländerinnen die anderen Kindermädchen meiden, um sich in Ruhe unterhalten zu können, oder ob umgekehrt die anderen Kindermädchen ihnen aus dem Weg gehen. Vielleicht, so legt der letzte Satz nahe, sind beide Parteien aneinander interessiert, finden aber nicht zueinander, weil sie nicht wissen, wie sie aufeinander zugehen sollen. Bemerkenswert ist jedenfalls, wie Grab diese Situation mittels der Topographie des Stadtparks räumlich ausgestaltet: Der Stadtpark war von drei Alleen durchzogen, von der oberen, der unteren und der breiten mittleren. In die obere Allee, sie war neben dem Bahnhof gelegen – ging man nur, um Abwechslung zu suchen, und immer geschah es, daß man sie bald verließ. Die obere Allee wurde von Menschen passiert, die den Stadtpark nur als Durchgangsort benutzten […]. Der untere Weg war immer menschenleer. (SP 17) Demnach bietet nur die »Mittelallee« Gelegenheit zur Begegnung. In diesem ›Mittelweg‹ schwingt wiederum ein ›Dazwischen‹ mit. Die räumliche und soziale Isolation bleibt also nicht auf Renato beschränkt, auch die beiden Engländerinnen sind nicht Teil des »große[n] Rudel[s] von Fräulein« im Stadtpark. Grab klammert zwar das deutsch-tschechische Mit-, Gegen,- und Nebeneinander aus, demonstriert aber, wie unterschiedliche kulturell geprägte Wahrnehmungsmuster zu Spannungen und Missverständnissen führen können. Signifikanterweise stehen die Passagen, in denen ein Konzept von Wahrheit verhandelt wird, im Zusammenhang mit Miß Florence und dieser Problematik.
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Weiterhin stehen sich das »Bild vom guten Lande der Miß Florence« und das Feindbild »vom bösen verräterischen Albion« (SP 9), welches die Kriegspropaganda in der Schule und in den Zeitungen zeichnet, unvereinbar gegenüber: Aber wie sollte man annehmen, daß man in diesem Lebensalter daran denkt, die Dinge miteinander in Einklang zu bringen? Auch später, wenn es uns etwa gelungen sein mag, der Wahrheit etwas näher zu kommen, auch dann haben wir gewiß noch lange nicht die volle Wahrheit, die alle Dinge miteinander harmonieren läßt. Der menschlichen Optik ist die Welt offenbar nur in Ausschnitten gegeben und nur so weit als diese Ausschnitte in Widersprüchen zueinander stehen. Und wenn in den Jahren, die wir die Jahre der Reife nennen, die Probleme sich lösen, die Welt sich zu ordnen beginnt, dann sollen wir uns nicht darüber täuschen: wahrscheinlich haben wir oberflächliche Kompromisse geschlossen, während uns die wahre Harmonie verborgen bleibt. (SP 9)12 Grab zeigt im Stadtpark einen ›Ausschnitt‹ der Prager deutschsprachigen Gesellschaft während des Ersten Weltkrieges, deren Begrenztheit durch die vielgestaltige Isolation des Protagonisten zum Ausdruck kommt. Dabei wird das Individuelle zum Sinnbild für die Gesellschaft und verweist letztlich auf das Unvermögen des Menschen generell, Ordnung in die Widersprüchlichkeiten des Lebens zu bringen. Alle Versuche, das Unbegreifliche zu begreifen, können nur »oberflächliche Kompromisse« auf Kosten der absoluten Wahrheit sein. Der Mensch ist nicht fähig, hinter die Dinge zu schauen und die »wahre Harmonie« zu erkennen, denn seiner Erkenntnisfähigkeit sind Grenzen gesetzt. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen ist dieser epistemologischen Skepsis auch eine interkulturelle Dimension eigen. Denn »[n]ur für die Mitglieder der in-group sind die Zivilisationsmuster und deren Rezepte eine Einheit von koinzidierenden Auslegungsund Ausdrucksschemen. Für den Außenseiter jedoch fällt diese Einheit offensichtlich auseinander« (Schütz 2015: 52; meine Hervorhebung, U.M.). Schütz zählt in seinem Essay Voraussetzungen dafür auf, dass das »Denken-wie-üblich« Geltung beanspruchen kann, so müsse beispielsweise das Wissen, das durch »Eltern, Lehrer, Regierungen, Traditionen, Gewohnheiten« (Schütz 2015: 49) überliefert wurde, für das Individuum verlässlich sein. Außerdem dürften die Zivilisations- und Kulturmuster keine Privatangelegenheit sein, sondern müssten in gleicher Weise von den Mitmenschen akzeptiert und angewendet werden. Bewähre sich nur eine der insgesamt vier Annahmen nicht, werde das »Denken-wie-üblich« unwirksam.
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An dieser Stelle wechselt die Erzählsituation von der vorherrschenden internen Fokalisierung, bei der das Geschehen aus Renatos Perspektive geschildert wird, zu einer Nullfokalisierung, d. h. dass der Erzähler mehr weiß als eine der Figuren (vgl. dazu Martínez/Scheffel 2016: 68). Außerdem wird durch die Verwendung der Pronomen »wir« und »uns« versucht, eine Gemeinschaft zwischen Erzähler und Leser zu stiften.
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Für Renato etwa ergibt sich eine Unvereinbarkeit der »Rezept-Systeme« (ebd.) seiner Lehrer einerseits und Miß Florence andererseits, wie anhand der konträren England-Bilder veranschaulicht wird.
Resümee Im Stadtpark werden verschiedene Weltordnungen verhandelt, mit denen der Protagonist konfrontiert ist. Der markanteste Gegensatz besteht zwischen der Welt der Erwachsenen und der Welt der Kinder mit ihren jeweiligen Ordnungs- und Wertesystemen. Auf diese Weise wird Renatos Adoleszenz, seine Position an der Schwelle zum Erwachsenwerden akzentuiert. Er versucht, die teils gegensätzlichen Prinzipien dieser beiden Weltsichten zu begreifen und sich mit ihrer Hilfe in seiner Umwelt zurechtzufinden. Immer wieder werden das Verhalten und die Redensarten der erwachsenen Figuren durch Renatos kindlich-naiven Blick ironisiert, wodurch die Gültigkeit der zugrundeliegenden Wertesysteme und die starren Konventionen in Frage gestellt werden. Es fällt Renato schwer, sich inmitten der konkurrierenden Anschauungen zurechtzufinden und eine eigene Sicht auf die Welt und ein stabiles Selbstbild entwickeln. In allen vorgestellten Zusammenhängen ist er der Außenseiter und bleibt trotz aller Bemühungen auf diese Position festgelegt. Wie beispielsweise anhand der widersprüchlichen Imagines von England (negativ: das Feindbild der Kriegspropaganda vs. positiv: England als Heimat von Miß Florence) deutlich wird, kommt es bei Renato zu einer Konfusion der Wissensordnungen und der damit verbundenen Wertesysteme, da weder das ihm durch Miß Florence noch das durch die Lehrer vermittelte Wissen uneingeschränkt gelten kann. In Hinblick auf die historische Kontextualisierung der Handlung, die in den Kriegsjahren 1915 und 1916 angesiedelt ist, ließe sich Renatos individuelles Schicksal in seiner Krisenhaftigkeit als ästhetische Bearbeitung der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges lesen. Ohne explizit viel Raum in der Erzählung einzunehmen, bildet der Krieg dennoch die Folie, vor der sich die Handlung abspielt: »Der Weltkrieg im Hintergrund. Armut und Tod strecken ihre Spinnenarme aus den Vorstadtquartieren ins Quartier der Reichen« (Brod 1979: 233), bemerkte Max Brod über den Stadtpark. Im Angesicht des todbringenden Krieges werden die »innere[n] Ereignisse, welche vollkommen abseits von dem herkömmlich für wichtig gehaltenen Erleben liegen, aber bei denen allein die Kunst ansetzen muss« zur künstlerischen Strategie, die »verlorene Zeit« (zit. n. Cramer 1994: 469) zurückzugewinnen. Dieses Credo formuliert Grab in seinem Proust-Vortrag und setzt gemäß seiner Poetik also beim inneren Erleben Renatos an, das merkwürdig unberührt von den weltgeschichtlichen Umwälzungen zu bleiben scheint. Inmitten dieser führt Grab eine individuelle Situation vor, in der bisherige Ordnungen nicht mehr gelten. Es fehlt
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jeglicher Referenzrahmen, wie an der Figur Renatos immer wieder deutlich wird, wenn er die Äußerungen und Handlungen seiner Umwelt nicht zuordnen kann und sich dadurch nicht mehr zurechtfindet. Wenn das, mit Alfred Schütz gesprochen, »Denken-wie-üblich« unwirksam wird, keine Geltung mehr beanspruchen kann, entsteht eine »Krisis«, die, entsprechend der berühmten Definition von W.I. Tomas »den Fluß der Gewohnheiten unterbricht und die Bedingungen sowohl des Bewußtseins wie auch der Praxis ändert«, oder, wie wir sagen, sie stürzt die aktuellen Relevanzsysteme mit einem Mal um. Die Zivilisationsmuster fungieren nicht mehr als ein System erprobter und vorhandener Rezepte; es zeigt sich, daß ihre Anwendbarkeit auf eine spezifische historische Situation beschränkt ist. (Schütz 2015: 49f.) Hermann Grab schildert im Stadtpark eine solche »spezifische historische Situation«, in der bisherige Ordnungssysteme sich im Umsturz befinden. Der adoleszente Außenseiter in einer Phase der Identitätssuche liefert im Stadtpark die Perspektive, aus der die Prager Gesellschaft, speziell das deutschsprachige großbürgerlich-jüdische Milieu, zur Zeit des Ersten Weltkriegs geschildert wird. Willy Haas schreibt in seiner Rezension, »das deutsche Prag mit dem jüdischen Überzug« habe »sich von Anfang an selbst isoliert« (Haas 1935: 3) und so kann Hermann Grabs Erzählung auch als Kritik an dieser Isolation verstanden werden. Die multiple Isolation des Protagonisten spiegelt eine im Zerfall begriffene Gesellschaftsordnung wider. Hier sei noch einmal abschließend die dafür zentrale Stelle des Proust-Vortrags wiedergegeben: Nicht etwa, dass der Rahmen der Gesellschaft jetzt schon auseinandergefallen wäre, aber die persönlichen Veränderungen sind im höchsten Grade symbolisch, und die Gesellschaft selbst wiederum ist symbolisch zu nehmen für jene objektive Gleichgültigkeit, in die wir die Dinge angesichts des Todes verfallen sehen, für jene wahrhaft verlorene Zeit – um diesem Titel die handgreiflichste, gröbste Deutung zu geben – jene verlorene Zeit, die eine wiedergefundene Zeit nur mit Hilfe gewisser, innerer Ereignisse, welche vollkommen abseits von dem herkömmlich für wichtig gehaltenen Erleben liegen, aber bei denen allein die Kunst ansetzen muss. (Zit. n. Cramer 1994: 469; meine Hervorhebungen, U.M.) Es bleibt festzuhalten, dass die Proust-Lektüre Grabs klar im Zeichen seiner eigenen Poetik zu sehen ist und er Proust vieles für seine eigene poetische Praxis abgewinnt. Der Kulturtheoretiker Klaus Christian Köhnke hat in einem Aufsatz »›[den] Fremden‹ als Typus und als historische Kategorie« bei Georg Simmel, Alfred Schütz und Robert Michels untersucht. Anhand eines Briefes, den Aron Gurwitsch am 16. Juli 1944 an Alfred Schütz schrieb, bettet Köhnke dessen Essay Der Fremde in eine spezifische historische Situation ein, nämlich den Zweiten Weltkrieg, und hebt
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dadurch die historische Bedingtheit von Schütz’ Betrachtungen über den Fremden hervor. Es handele sich bei seinem Fremden nicht bloß um »einen Erwachsenen unserer Zeit und Zivilisation […], der von der Gruppe, welcher er sich nähert, dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte« (Schütz 2015: 45), wie Schütz eingangs definiert, sondern um den Immigranten der letzten zehn Jahre. Der hat keine Wahl gehabt, bei dem ging es um die Frage des nackten Lebens, und nicht einmal mehr individuell, sondern national. Ist schon der Réfugié im allgemeinen, wie mir scheint, nicht unter den formalen Begriff des Strangers zu bringen, so schon gar nicht der Réfugié von heute, der in einer Hinsicht aus dem Nichts, in einer anderen Hinsicht aus 3000 Jahren Vergangenheit kommt. (Gurwitsch zit. n. Köhnke 2011: 229f.) Köhnke zeigt, dass die »Verbindung des Fremden und des Juden« – wie wir sie weiter oben bereits bei Simmel feststellen konnten und wie sie sich auch bei Grab als Verbindung zwischen Außenseiterdasein und Judentum niederschlägt – als »Ausdruck einer bestimmten historischen Konstellation und damit als historische Kategorie« (Köhnke 2011: 236) zu verstehen sei. Es sei wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Alfred Schütz seinen Essay im Angesicht des Holocaust geschrieben habe. Die Genese des Fremden als Typus erfordert nach Köhnke bestimmte Voraussetzungen: »Zuerst braucht es Betroffene, die in hochkultivierter Form die Zurückweisungen nicht im Wege der Klage oder der Aggression beantworten, sondern intellektualisieren« und auf der anderen Seite »die Existenz einer oder mehrerer distinkter Gruppen […], die eben diese Zurückweisungen vornehmen […], die sich als Kulturnation oder mindestens doch als Nation, christlich und abendländisch gerier[en], womöglich noch deutsch und weiß – oder gar arisch«. Die Bedingungen für den Konnex ›Fremder‹ und ›Jude‹ seien »idealtypisch in der Klassengesellschaft der wilhelminischen Ära, im Krieg und Nachkrieg und neuen Krieg« (ebd.; Hervorhebungen im Original) realisiert gewesen. In den 1930er Jahren hatte Grab die Immigranten, von denen Gurwitsch schreibt, selbst vor Augen: Ab 1933 wurden Prag und die Tschechoslowakei zum Zufluchtsort für Tausende Flüchtlinge aus Nazideutschland (vgl. Krejčová 2006: 96). Der Stadtpark ist demzufolge vor dem Hintergrund zweier Zeitebenen zu sehen: Zum einen entsteht der Roman in einer Situation, in der die Prager Juden mit der nationalsozialistischen Bedrohung konfrontiert sind (1935 = Publikationsjahr), zum zweiten blickt Grab im Stadtpark auf eine unwiederbringlich vergangene Prager Lebenswelt zurück (1915/1916 = erzählte Zeit). In poetologischer Hinsicht prädestiniert Renatos Außenseitertum, das Grab im Proust-Vortrag als wesentliches Merkmal des Judentums definiert, ihn dazu, die Oberfläche des Lebens, die bereits bröckelnde Fassade als solche zu erkennen und auf die »Hinterbühne« (SP 81) zu blicken. Seine Losgelöstheit vom alltäglichen Leben, das weitgehende Fehlen sozial
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diverser Kontakte sowie die Ausblendung der Stadt – abgesehen vom Stadtparkviertel – veranschaulichen die räumliche und soziale Isolation des Protagonisten, die bezeichnend für die porträtierte großbürgerliche Gesellschaftsschicht ist. Als der Roman 1935 erschien und bereits viele jüdische Flüchtlinge in Prag Zuflucht gefunden hatten, gab es das Milieu, das Grab beschreibt, nicht mehr. Und auch die Juden Prags sahen sich zunehmend in einer Außenseiterposition, erfuhren sie doch ab den 1930er Jahren von den in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen eine immer radikalere Ablehnung (vgl. Krejčová 2006: 89). Grab schrieb den Stadtpark, den ›Prag-Roman ohne Prag‹, zu einer Zeit, da es das Prag seiner Kindheit so nicht mehr gab und im benachbarten Deutschland eine existenzielle Bedrohung, eine Krise heraufzog, die alle bisherigen in den Schatten stellen sollte.
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VIII. Polyphones Panorama der modernen Großstadt: Marie Majerová Přehrada [Die Talsperre] (1932) Vorbemerkungen In der Ausstellung Budování státu – Umění, architektura, design a národní identita1 [Der (Auf-)Bau des Staates – Kunst, Architektur, Design und nationale Identität] war unter anderem Marie Majerovás Buch Přehrada zu sehen. An dieser Stelle wird mit voller Absicht der in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit eigentlich nicht zu erwartende Ausdruck ›Buch‹ verwendet, da es im folgenden kurzen Exkurs tatsächlich um die gestalterische Dimension des Buches gehen soll, die in diesem Fall einige Aussagekraft für die Bedingungen der (Literatur-)Rezeption und Autorinszenierung vor dem Hintergrund politischer Systemwechsel besitzt. Gerade bei einer nicht unumstrittenen Autorin wie Marie Majerová scheint es geboten, der Analyse des Textes einige Bemerkungen zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte vorauszuschicken. In dem kurzen Begleittext zu Přehrada im Rahmen der Ausstellung Budování státu ist neben einer knappen Inhaltsangabe und einer politischen Einordnung Majerovás als »levicová spisovatelka a novinařka« [linke Schriftstellerin und Journalistin] und eines der Gründungsmitglieder der KSČ [»patřila mezi zakládající členy KSČ«] zu lesen: Román Přehrada vydalo poprvé nakladatelství Čin v roce 1932. Anonymní autor grafické úpravy umístil na obálku knihy fotomontáž obrněného vozidla rámovaného dvěma pruhy se jménem Marie Majerová a názvem jejího románu. Oba nápisy protínají obálku diagonalně, jak bylo v avantgardních kompozicích běžné, a jsou vyvedeny v agresivní červeno-černo-bílé barevné kombinaci. (Wollner 2015: 263)
1
Die Ausstellung der Nationalgalerie Prag und der Akademie für Kunst, Architektur und Design Prag (Vysoká škola umělecko-průmyslová, kurz: UMPRUM) in Zusammenarbeit mit dem Technischen Nationalmuseum (Národní technické muzeum) wurde vom 19. November 2015 bis zum 7. Februar 2016 im Prager Messepalast (Veletržní palác) gezeigt.
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Als erstes hat den Roman Die Talsperre der Verlag Čin im Jahre 1932 veröffentlicht. Der anonyme Autor der graphischen Gestaltung hat auf dem Buchumschlag die Fotomontage eines Panzerfahrzeuges platziert, eingerahmt von zwei Streifen mit dem Namen Marie Majerovás und dem Buchtitel. Die beiden Aufschriften zerschneiden das Cover diagonal, wie es in avantgardistischen Kompositionen gängig war, und sind in einer aggressiven rot-schwarz-weißen Farbkombination gehalten. Gestalterisch ist der Roman damit bei seinem Erscheinen 1932 also noch klar in der Ästhetik der (Zwischenkriegs-)Avantgarde gehalten (s. Abbildung 5). In den nächsten Jahren wurde das Werk in schneller Abfolge mehrfach wiederaufgelegt. Nach 1948 allerdings wurde Majerová zu einer der bedeutendsten offiziellen Schriftstellerinnen und ihr Roman in den offiziellen Kanon der tschechoslowakischen Literatur aufgenommen. Diese ideologische Überformung hinterließ ihre Spuren auch im Text, den Majerová in einem Akt der Selbstzensur dahingehend bearbeitete, dass sie das Moment der sozialen Revolution betonte und avantgardistische Motive abschwächte oder ganz strich. Diese Änderungen fanden ihre Entsprechung auch in der Buchgestaltung, die für die 1950 im Verlag Družstevní práce erschienene Auflage der Maler und Graphiker Karel Svolinský besorgte (s. Abbildung 6). Im Ausstellungstext heißt es dazu: Do vazby ozdobým písmem vyrazil iniciály Marie Majerové a podobný »krasopis« použil i na obálce. Po avantgardním designu nebylo ani stopy. […] Svolinský knihu »převlékl« do požadovaného stylu socialistického realismu, aby mohla reprezentovat politický režim československého státu. (Wollner 2015: 263) Auf den Einband prägte er in zierlicher Schrift die Initialen Marie Majerovás und eine ähnliche »Schönschrift« verwendete er auf dem Schutzumschlag. Es gab absolut keine Spuren mehr von der vormals avantgardistischen Gestaltung. […] Svolinský »verkleidete« das Buch im erforderlichen Stil des sozialistischen Realismus, so dass es das politische Regime des Tschechoslowakischen Staates repräsentierte. Jiří Holý bemerkt in den editorischen Anmerkungen zur Neuausgabe von Přehrada (2010) über Majerovás Vorwort zur Ausgabe von 1950 und die von ihr vorgenommenen Textänderungen: »Je zřejmé, že jak tímto doslovem, tak změnami textu, které zasahují hlavně předposlední kapitolu, chtěla autorka Přehradu přiblížit dobovým oficiálním představám o literatuře« (Holý 2010: 312) [Es ist offensichtlich, dass die Autorin der Talsperre sich mit diesem Vorwort ebenso wie mit den Änderungen des Textes, die vor allem das vorletzte Kapitel betreffen, an die zeitgenössischen offiziellen Vorstellungen von Literatur annähern wollte]. 1956 erschien die deutsche
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Abbildung 5: Umschlag der Erstausgabe von »Přehrada« (1932)
Quelle: Marie Majerová (1932): Přehrada. Praha: Čin. Umschlag von Slavoboj Tusar. Das Originalwerk wird verwahrt in der Nationalbibliothek der Tschechischen Republik [Národní knihovna České republiky].
Übersetzung der Fassung von 1950 im Berliner Aufbau-Verlag, dessen Programm nach 1949 von den politischen Vorgaben der SED bestimmt war. Bis heute schwankt die Rezeption Majerovás zwischen den Polen Femme fatale und »krásná česká bojovnice« [schöne tschechische Kämpferin] (Pospiszyl 2011) der Zwischenkriegsavantgarde auf der einen und »Ikone der kommunistischen Li-
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Abbildung 6: Von Karel Svolinský gestalteter Umschlag der Ausgabe von 1950
Quelle: Marie Majerová (1950): Přehrada. Praha: Družstevní práce. Umschlag von Karel Svolinský. Das Originalwerk wird verwahrt in der Nationalbibliothek der Tschechischen Republik [Národní knihovna České republiky].
teratur« und »Maskottchen der Parteitage« (Nývltová 2015: 146) auf der anderen Seite. Ein aktuelles Beispiel für die durchaus ambivalente Rezeption Majerovás ist die Diskussion um Gedenkorte in ihrer Geburtsstadt Úvaly.2 2
Vgl. hierzu den Bericht der Haló noviny, dem Parteiorgan der KSČM: »Připomínka Marie Majerová v Úvalech mizí« (25. Januar 2017): www.halonoviny.cz/articles/view/44898148, zuletzt
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Dabei hatte die 1882 in Úvaly geborene Tochter eines früh verstorbenen Metzgers, zumindest vor dem Zweiten Weltkrieg, kein unkritisches Verhältnis zum Sozialismus, gehörte sie doch 1929 gemeinsam mit Jaroslav Seifert, S. K. Neumann und Vladislav Vančura zu den Unterzeichnenden des manifest sedmi [Manifest der Sieben]. In dem Flugblatt wendeten sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegen Stalinisierung, Bolschewisierung und die Machtübernahme innerhalb der Kommunistischen Partei durch Klement Gottwald. Dana Hůlková Nývltová analysiert in ihrer Monographie Femme fatale české avantgardy – Marie Majerová – česká komunistka ve víru feminismu (2011) [Eine Femme fatale der tschechischen Avantgarde – Marie Majerová – eine tschechische Kommunistin im Sog des Feminismus] Majerovás schriftstellerisches und publizistisches Werk sowie ihr politisches Wirken aus der Perspektive der gender studies und zeichnet dabei zeitgenössische Diskurse um ein neues Frauenbild in der Moderne nach. In einem weiteren Aufsatz beleuchtet sie Majerovás besondere Stellung als Journalistin und Frauenrechtlerin zwischen Feminismus und Kommunismus (vgl. Nývltová 2015). Dabei zieht sie eine klare Trennlinie zwischen den Lebensabschnitten Majerovás in der Vor- bzw. Nachkriegszeit. Nývltová verfolgt die politische Entwicklung der Autorin, die sich schon in ihrer Jugend im Arbeitermilieu als Linke hervortat. Zunächst stand sie dem Anarchismus nahe, den sie in Paris entdeckte, wo sie von 1906 bis 1907 als Hausmädchen arbeitete und extern an der Sorbonne studierte. 1908 trat sie in die Sozialdemokratische Partei ein und im Jahre 1921 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der KSČ, bis sie 1929 nach Veröffentlichung des manifest sedmi aus der Partei ausgeschlossen wurde. Majerová bewegte sich vor allem auf der Achse Prag, Wien (wo sie von 1904 bis 1906 lebte) und Paris, bereiste 1919 Washington und 1924 auch die Sowjetunion. Laut Nývltová lässt sich ihr publizistisches Werk in drei Phasen einteilen: In der ersten Phase (1900-1918) schrieb sie vor allem für die Wiener Arbeiterblätter, während geprüft am 15.10.2020. In dem naturgemäß einigermaßen tendenziösen Artikel geht es um den Umgang mit der Erinnerung an Marie Majerová in ihrem Geburtsort Úvaly, der sehr kritisch dargestellt wird. Der unbekannte Verfasser beklagt, dass der früher nach Majerová benannte Platz heute náměstí Arnošta z Pardubic heißt und ihr Geburtshaus, eine Mühle, bereits vor langer Zeit abgerissen wurde. Weiter heißt es in dem Artikel, Majerová habe außerdem nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kulturhaus in Úvaly finanziert, das dann in den 1990er Jahren restituiert worden sei und in dem sich heute eine Markthalle befindet. Laut des Artikels sieht der Bürgermeister von Úvaly, Petr Borecký, darin kein Problem und argumentiert damit, dass Majerovás schriftstellerisches Schaffen nicht von ihrer Unterstützung des brutalen kommunistischen Regimes der 1950er Jahre zu trennen sei. Der KSČM-Politiker Zdeněk Štefek hingegen betont Majerovás Bedeutung für die Zwischenkriegsavantgarde, ihren Einsatz für eine gerechte Gesellschaft sowie für die Frauenrechte. Seiner Meinung nach sollte daher die Erinnerung an Majerová im öffentlichen Raum einen festen Platz haben. Der Artikel ist ein aktuelles Beispiel für die Aushandlungsprozesse rund um Erinnerungskulturen im öffentlichen Raum.
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der zweiten Phase (1918-1929) veröffentlichte sie hauptsächlich in der kommunistischen Frauenpresse, prägend für die dritte Phase (1929-1936) waren dann vor allem die Zeitschriften Čin und Eva (vgl. Nývltová 2015: 153). Aus ihrem literarischen Schaffen ist neben Přehrada die Erzählsammlung Mučenky (1921) [Passionsblumen] hervorzuheben, in deren Zentrum weibliche Hauptfiguren in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stehen und für die Majerová 1922 (ebenso wie zehn Jahre später für Přehrada) den Tschechoslowakischen Staatspreis für Literatur erhielt.3 Als ihr bekanntestes Werk gilt der Generationenroman Siréna (1935) [Sirene] um eine Arbeiterfamilie aus Kladno.
1.
Das Panorama der Großstadt zwischen sozialistischer Utopie und modernistischen Darstellungsformen
Der Roman Přehrada, an dem Majerová bereits seit 1926 gearbeitet hatte, erschien im Jahr 1932. Die Handlung ist in einer unbestimmten Zukunft angesiedelt und umfasst 24 Stunden, in denen die titelgebende Talsperre fertiggestellt wird und zeitgleich eine sozialistische Revolution vorbereitet und umgesetzt wird. Um einen möglichst gewaltfreien politischen Umsturz zu gewährleisten, streuen die Akteure der Revolution das Gerücht, der beim Bau der Talsperre verwendete Beton sei korrumpiert worden und werde der Flutung nicht standhalten. Daraufhin wird Prag evakuiert und die Revolutionäre können im fast menschenleeren Stadtzentrum die Macht übernehmen. Am Ende stellt sich heraus, dass der Beton einwandfrei war und es sich nur um ein Gerücht handelte, was lediglich einem kleinen eingeweihten Kreis der Revolutionäre von Beginn an bekannt war. Am Schluss des Romans stehen die gelungene Revolution und die Aufnahme der Tschechoslowakei in die Gemeinschaft der Sozialistischen Republiken. Der Roman ist in 39 Kapitel gegliedert, in denen über 50 handelnde Figuren auftreten. Majerová webt darin ein Netz aus Begegnungen und Beziehungen zwischen den Figuren, deren Wege sich kreuzen und wieder auseinandergehen. Der primäre Handlungsort ist Prag, weitere Handlungsorte sind die Gegend um Cholín, der Böhmerwald und Černá Hora, wo die Moldau entspringt. Die handelnden Figuren bilden einen Querschnitt durch alle sozialen Schichten – von Kindern, die in einem Elendsquartier im Prager Stadtteil Podskalí hausen, über Arbeiter und Ingenieure, die am Talsperrenbau beteiligt sind, bis hin zu einem amerikanischen Milliardär. Dabei werden die einzelnen Milieus präzise beschrieben und das Geschehen wird
3
Vgl. die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger auf den Seiten des Instituts für tschechische Literatur der Tschechischen Akademie der Wissenschaften (Ústav pro českou literaturu AV ČR): www.ucl.cas.cz/ceny/?c=2, zuletzt geprüft am 15.10.2020.
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meist aus Sicht der einzelnen Figuren geschildert. Mittels dieser Polyphonie zeichnet Majerová ein kaleidoskopartiges Bild Prags. Außerdem überträgt sie filmische Stilmittel in das Medium der Literatur und so ist es nicht verwunderlich, dass Majerovás Roman wiederholt mit John Dos Passos’ Opus Magnum Manhattan Transfer (1925) verglichen worden ist (vgl. Holý 2003: 115; Lantová 2000: 67). Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung soll nicht das leicht auszumachende politische und ideologische Programm Majerovás stehen, vielmehr wird nach Repräsentationen des Urbanen, Konfigurationen der Moderne sowie nach modernistischen Darstellungsformen gefragt. Dabei ist das poetologische Programm Majerovás von Interesse, das in Beziehung gesetzt wird zu Diskursen über Moderne und Modernität. Die Raum-Repräsentationen (vgl. Lefebvre 2006) und ihre Implikationen sowie der Gegensatz von Stadt vs. Land bzw. Natur vs. Zivilisation und Technik stehen dabei im Zentrum der Betrachtung. Marie Majerová selbst hat auf die Bedeutung dieser Themenkomplexe für ihren Roman hingewiesen: »Das Werk hat drei Teile, die organisch verbunden sind: die Natur, die Moldau und ihr Gebiet, die Zivilisation, die Technik, die die Natur fesselt. Diese zwei Motive sind organisch mit dem Motiv des sozialen Aufstandes der Arbeiterklasse verbunden« (Majerová 1933: 3). Die folgende Analyse ist anhand der hier genannten Aspekte lose gegliedert, so dass dem Fluss als räumlichem Strukturelement sowie dem Themenkomplex Natur vs. Zivilisation/Technik jeweils ein Unterkapitel gewidmet ist. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Talsperre, »die von der Autorin selbst in Geist und Wort auf dem Papier des Romans erschaffen wurde« (Majerová 1933: 3), später zwischen 1938 und 1944 ebenso wie das Wasserkraftwerk Štěchovice tatsächlich als Teil der Moldau-Kaskade gebaut wurde.
1.1
Die Transformation des Raumes oder der Weg zur Moderne
Im Folgenden wird das erste Kapitel »Technika povstání« [»Die Technik des Aufstandes«]4 in einem close reading untersucht, um aufzuzeigen, wie die Umwälzungen des modernen Lebens im Medium der Literatur räumlich ausgestaltet werden. Anhand eines alten Barockpalais‹ werden der Lauf der Zeit und die Entwicklung modernen städtischen Lebens veranschaulicht. Um den Titel eines für die 4
Marie Majerová (2010): Přehrada. Hg. v. Jiří Holý. Prag: Host. Im Folgenden wird hierfür die Sigle »P« verwendet. Die deutschen Übersetzungen sind, falls nicht anders angegeben, entnommen aus: Marie Majerová (1956): Die Talsperre. Aus dem Tschechischen übersetzt von Jana Nowaková. Berlin: Aufbau-Verlag. Hierfür wird nachfolgend die Sigle »T« verwendet. Die deutsche Übersetzung von 1956 beruht nicht auf der tschechischen Erstausgabe von 1932, sondern auf der von Majerová selbst überarbeiteten Fassung von 1950. Außerdem ist die deutsche Übersetzung nicht immer wortgetreu, weswegen sich, wo es notwendig erschien, Anmerkungen zur Übersetzung in eckigen Klammern finden.
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deutschsprachigen Theorieansätze des spatial turn paradigmatisch gewordenen Buches von Karl Schlögel5 zu entlehnen: Die Zeit wird im Raume lesbar gemacht. »Einst« [»Kdysi«] stand hier ein prachtvoller Palast mit »riesenhafte[n] Räume[n], Parkettfußböden und stuckgeschmückte[n] Decken, in deren Mitte Kristalllüster hingen wie schimmernde Blütenzweige« (T 9) [»řady obrovských prostorů, na podlahách parkety, na stropě štuky a uprostřed průsvitná květina křišťálového lustru« (P 5)]. Ausgestattet mit überbordendem Luxus diente er als Repräsentationsraum adeliger Herrschaften, die nur alle paar Jahre hier ihre Wohnung bezogen. Rund um den Palast jedoch wächst und wandelt sich die Stadt: Anstelle von Kutschen und Fahrrädern bevölkern nun laute Motorfahrzeuge und Automobile die Straße und bedrohen das Gebäude: »Blatníky vozů narážely o jeho kamenné sokly a hlavy žulových patníků, chránící vjezd mezi vykrouženými ozdobami portálů, nesly stopy železných pohlavků.« (P 5) [»Die Kotflügel von Lastwagen schrammten an seinen Steinsockeln entlang; die Kuppen der granitenen Ecksteine, die beiderseits der Einfahrt das mit geschwungenen Ornamenten verzierte Portal hütete, waren von den metallenen Anrempelungen mit Narben übersät.« (T 10)]. Wie ein »Brand der Zeit« (ebd.) [»sněť doby« (P 5)] dringt das moderne städtische Leben in den Palast ein. Zunächst in Form von Handel und Konsum: Waren werden ausgelegt und mit einem Bankhaus zieht die Geldwirtschaft in die alten Räumlichkeiten ein. Dem Handel folgt die Industrie. Das anthropomorphisiert geschilderte Haus »se proměnil jako kněžna trůnu, která opouští konzervativní kroj za módní přepjatost, neboť jsouc nyní, v emigraci, přednostkou salonu krásy, musí dávat dobrý příklad svým klientkám. Ale ve způsobu, jakým nosí průbojný účes, dovede si zachovati pikantní špetku vznešeného konzervatismu« (P 6) [»verwandelte sich wie eine ihres Thrones beraubte Fürstin, die modischer Überspanntheit zuliebe ihre konservative Tracht abgelegt hat, da sie in der Emigration die Leiterin eines Schönheitssalons geworden ist und ihren Kundinnen das beste Vorbild bieten muß. In der Art und Weise aber, wie sie die neue Frisur trägt, gelingt es ihr, sich einen pikanten Rest konservativer Vornehmheit zu bewahren« (T 10)].
5
Zur Herkunft des mittlerweile vielfach als Diktum gebrauchten Schlögel-Titels Im Raume lesen wir die Zeit merken Döring und Thielmann kritisch an: »Das Ratzel-Zitat, das Schlögels Buch zu seinem schönen programmatischen Titel verhalf, hat Schlögel an keiner Stelle wörtlich nachgewiesen. Seine Karriere in der spatial-turn-Diskussion hat das geflügelte Wort seither als unbelegtes angetreten. Viele Historiker übernehmen es, auch bei den Geographen kursiert es bislang nur als Schlögel-Referenz. Wo es zu finden sein könnte, darüber gibt bislang nur der legendäre Zettelkasten von Hans-Dietrich Schultz, dem Polyhistor der deutschen Geographiegeschichte, Auskunft. (Die Rückfrage bei Schlögel blieb ergebnislos.) Und diese Auskunft überrascht: Nachweisen konnte Schultz nicht etwa den klangvollen Wortlaut ›Im Raume lesen wir die Zeit‹, sondern zugespitzt gesagt – eine Prosavariante des Satzes. Bei [Friedrich] Ratzel steht: ›Wir lesen im Raum die Zeit‹. (Ratzel: ›Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive‹, S. 28)« (Döring/Thielmann 2008: 22).
VIII. Polyphones Panorama der modernen Großstadt
Das alte Palais wird als weiblich gekennzeichnet und mit Diskursen über Mode und die Ökonomie der Schönheit in Bezug gesetzt. Es existiert ein enger Konnex zwischen Mode und Moderne, der sich in materiellen Prozessen, gesellschaftlichen Praktiken, medialen, wirtschaftlichen und technischen Zusammenhängen offenbart: »Der Mode inhärente Wirkungsmechanismen wie Dynamisierung, Abwechslung, Rhythmisierung, Flüchtigkeit oder Serialität [sind] strukturelle Kennzeichen gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse« (König/Mentges/Müller 2015: 8). Die Verknüpfung von Mode und Weiblichkeit wiederum lässt sich bereits bei Georg Simmel finden: »Wenn die Mode den Egalisierungs- und den Individualisierungstrieb, den Reiz der Nachahmung und den der Auszeichnung zugleich zum Ausdruck bringt und betont, so erklärt dies vielleicht, weshalb die Frauen im allgemeinen der Mode besonders stark anhängen« (Simmel 1995 [1905]: 22). Simmel begründet dies mit der »Schwäche der sozialen Position nämlich, zu der die Frauen den weit überwiegenden Teil der Geschichte hindurch verurteilt waren« (ebd.).6 Die Transformation des städtischen Raumes weitet sich auch auf die umliegenden Gassen aus. Benachbarte Häuser werden abgerissen, die Erde ringsum wird ausgeschachtet und »[d]as alte Haus erzitterte zutiefst unter den galoppierenden Hufschlägen der Zeit« (T 11) [»Střeva domu se otřásala odrazy cválajícího koně.« (P 6)]. Schließlich stürzt es ein. Damit ist der Untergang der alten Zeit besiegelt und die moderne Stadt nimmt Form an. Von den Grundstücksbesitzern, die sich an der Abtragung des Palastschutts bereichern, wird auf die »Ärmsten« der Bevölkerung fokussiert, die sich »an der Peripherie« aus den Schuttresten »ihre elenden Hütten« (T 12) bauen [»Na periferii vyváželi zdarma. Odtud si vybírali cihly chudáci bez bytu na stavbu ubožáckých chatrčí uprostřed pole nebo pod křídlem lomu« (P 7)]. Zum einen wird hier ein weites Panorama von den reichen zu den ärmsten Stadtbewohnern aufgespannt, das prägend auch für den weiteren Verlauf des Romans ist, zum anderen wird gezeigt, wie sich das Wesen der Stadt wandelt und historische Bestandteile des Barockpalais aus ihrem bisherigen Kontext gelöst und in den Elendshütten neu zusammengesetzt werden. Darin kommt der Palimpsestcharakter der Stadt zum Ausdruck: Im städtischen Raum verschmelzen Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges miteinander und es kommt zu einer sichtbaren Überlagerung verschiedener historischer Schichten, was Majerová an dieser Stelle anschaulich vorführt. Auch in der wissenschaftlichen Literatur ist immer wieder die Rede vom Palimpsestcharakter der Stadt.7 Die rasante Transformation in eine (hyper-)moderne Großstadt wird noch deutlicher dadurch, dass an der Stelle des barocken Gebäudes »im Handumdrehen
6 7
Vgl. dazu auch die Analyse von Max Brods Weiberwirtschaft in Kap. II.2. der vorliegenden Arbeit. Stellvertretend seien hier genannt Assmann 2007, Huyssen 2009. Und auf Prag bezogen Thomas 2010.
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ein gläserner Wolkenkratzer« emporwächst, »Chrom und Marmor faßten die breiten Fenster ein; Lichtreklamen zwinkerten wie Augen« (T 13) [»Než se kdo nadál, vyrostl skleněný mrakodrap; kolem skla umělý kámen a nikl, mžikavé oči světelných návěští« (P 7)]. Hier gibt es ein Theater, eine Bar, ein Kino, einen Wintergarten und die exotischsten und teuersten Delikatessen zu kaufen. Die Episode um das einstige Barockpalais lässt sich mit Bachtins Konzept des Chronotopos lesen: »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. […] Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert« (Bachtin 2008: 7). Bachtin zeigt in seiner Studie, wie die gothic novel des ausgehenden 18. Jahrhunderts ›historische Zeit‹ konzipiert, indem sie die Vergangenheit z. B. anhand von Ahnenbildern innerhalb des Handlungsortes Schloss präsent macht. Eine solche »Materialisierung der Zeit im Raum« (Bachtin 2008: 188) kommt in der von Majerová geschilderten Metamorphose eines Stadtviertels zum Ausdruck. Dieses Stadtviertel »um den Palast«, die Bezeichnung ist nur mehr eine ironische Reminiszenz an den nicht mehr existierenden Barockpalast, lebt im Luxus: »Girls mit schlanken Storchenbeinen, exzentrische Neger [sic: Schwarze, U.M.], Kulissenschieber, japanische Jongleure, Fakire, Hypnotiseure, Dirigenten, Reinemachfrauen und alte Herren in protzigen Pelzen sowie allerlei Individuen fremder Rassen [eigentlich: allerlei bunte Individuen, U.M.]« stellen das Personal, »um die übersättigte Vergnügungssucht der wachsenden Stadt zu befriedigen« (T 13) [»[…] girls na čapích nohách, excentričtí černoši, kulisáci, japonští žongléří, fakirové a hypnotizéří, dirigenti, uklizečky, stary v honosných kožisích a mnoho barevných individuí, protože domorodné síly dávno již nestačily k zábavě pro přesycený vkus rostoucího města« (P 8)]. Dieses als international vorgestellte Viertel um den Wolkenkratzer ist also gleichzeitig ein Zentrum des Hedonismus. Unten im Hochhaus befindet sich das kleine Theater Bouffes8 , wo Majerová eine konspirative Zusammenkunft der Revolutionäre stattfinden lässt. Der Vorsitzende, der Moldauschiffer, der Elektromonteur Michal, der Chauffeur, der Student Agari und der unsichere Píro sind die Hauptakteure des Umsturzes und erhalten letzte Anweisungen des »Zentralkomitees zum Talsperrenbau« (T 16) [»ústřední[…] výbor[…] k přehradě« (P 10)]. Während des Treffens wird deutlich, dass der für die Talsperre verwendete Beton korrumpiert ist und der Flutung des Beckens nicht standhalten wird. Später stellt sich heraus, dass es sich hierbei um ein Gerücht handelt, das in Umlauf gebracht wurde, um die Evakuierung Prags und damit den
8
Das Théâtre des Bouffes-Parisiens (auch kurz Bouffes-Parisiens) wurde 1855 durch den Komponisten Jacques Offenbach gegründet. Als »Opéra-bouffe« bezeichnete Offenbach viele seiner Werke, und zwar im Sinne der Opéra-comique, der komischen Oper. Vgl. weiterführend dazu Friedrich 2016, der das Verhältnis des Komponisten zu dem Pariser Opernhaus beleuchtet.
VIII. Polyphones Panorama der modernen Großstadt
Umsturz herbeizuführen. Das Komitee plant, in der wegen vermeintlicher Baumängel evakuierten, menschenleeren Stadt möglichst friedlich die Macht zu übernehmen. Im Verlaufe des Romans kehrt der erzählerische Fokus immer wieder zu den einzelnen Figuren des Komitees zurück, aus deren Sicht dann das Geschehen geschildert wird.
1.2
Poetologische Reflexionen I. Das Schreiben, der Dichter und der Ort
Das zweite und das letzte Kapitel, die beide recht kurzgehalten sind, bilden den Rahmen des Romans. Nach der Analyse des ersten Kapitels, das als eine Art Auftakt gelesen werden kann, wird nun der Versuch einer poetologischen Standpunktbestimmung Majerovás unternommen, der an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen und präzisiert wird. Interessanterweise ist die Reihenfolge der ersten beiden Kapitel in der deutschen Übersetzung, die Majerovás eigener Umarbeitung von 1950 folgt, umgekehrt, so dass die Rahmung durch das Anfangs- und Schlusskapitel noch deutlicher ins Auge fällt. Es ist Mitternacht, »Zeit der Mythen« [»doba mýtů«] und »Genossin des Geheimnisses« (T 5) [»samadruhá tajemstvím« (P 15)]. Diese Stunde an der Grenze zwischen Tag und Nacht wird mit der Dichtung assoziiert: Půlnoc dodává strašidla, což je poslání výchovné, jsou-li určena dětem, a poetické, jsou-li určena baladám. Půlnoc zastihla básnika oddechujícího pod břemenem nového díla, bránícího se s pošetilostí větrného mlýna naléhání jeho hrdinů. Básníci nespávají o půlnoci ze starého zlozvyku. Proto asi zachycují ze života jen děje podstatné. […] Syntetizující noc zná pravé ocenění života, ve tmě mizejí podrobnosti a ze stínu nicoty se vybavuje věčnost: velkolepé, oproštěné linie a v nich rozpíná křídla architektura jeho díla. Sbohem, realito, která koloruješ fotografie! Tvůrce, používej syrové hmoty, tvoř jako Bůh z tmy a světla, z mlhy bez tvarů kromě tech, které v nich vidí tvá vlastní fantazie! (P 15f.) Die Mitternacht gebiert Gespenster; setzen sie Kinder in Schrecken, dienen sie erzieherischen Zwecken, und geistern sie durch Balladen, erfüllen sie eine poetische Sendung. Die Mitternacht ertappte den Dichter, wie er unter der Bürde eines neuen Werkes ächzte und sich, gleich einer törichten Windmühle, des Ansturms seiner Helden zu erwehren suchte. Aus alter lasterhafter Gewohnheit schlafen Dichter nicht um Mitternacht. Daher erfassen sie vom Leben wohl das wesentliche Geschehen. […] Die zur Synthese treibende Nacht aber kennt den Wert des Lebens, Details verschwinden im Dunkeln, die Ewigkeit tritt hervor aus den Schatten des Nichts: großzügig, frei fließende Linien, und darin spannt die Architektur ihre Schwingen aus zu großem Werk. Lebe wohl, Realität, die du Photographien kolorierst! Schaffender, gebrauche Rohstoffe, schaffe wie Gott aus Dunkel und
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Licht, aus formlosem Nebel alles das, was deine eigene Phantasie darin erblickt! (T 5f.) In dieser Passage vertritt Majerová eine romantische Auffassung des dichterischen Schaffens, die traditionelle Vorstellungen wie die Inspiration des Dichtersubjekts, die Nachtseite, den Glauben an eine Ewigkeit hinter den Dingen des alltäglichen Lebens und die Idee vom Dichter als Seher und Demiurg aufgreift. Diese stehen zunächst in enger Verbindung mit der Dimension der Zeit: die Mitternacht als Stunde des Dichters, der hier gar als Figur auftritt. Der schöpferische Prozess wird außerdem mit einer Geburt verglichen, wenn es weiter heißt, der Dichter habe die Gestalten seines Werks schon fast so lange mit sich getragen »wie ein Elefantenweibchen ihr Junges austrägt« und diese drängten nun »zum Leben« (T 6) [»Nosil je v sobě již dlouho, skoro tak dlouho jako slonice mladé. Nyní byly konečně jejich osudy zralé a tížily ho.« (P 16)]. Dadurch wird dem Dichten eine weibliche Komponente eingeschrieben. Geburt und Mutterschaft spielen auch in Majerovás publizistischem Schaffen und ihrer Konzeption der Femme moderne eine wichtige Rolle.9 Neben der Zeit wird außerdem der Raum thematisiert. Das Schreiben ist an einen bestimmten Ort gebunden; Prag, genauer: die Prager Altstadt wird als genius loci der Dichtung markiert: Záviselo to patrně také na místě, zvláště vhodném pro takovou romantiku. Viz plán Prahy, oficielní vydání, čtvereček A3, Radniční schody se srázem dravě pobřežním, se stopami příbojů vltavských mlh, se všemi mrzkostmi obsaženými v slově zákoutí. Středověk ve zbytcích karmelitského kláštera a v ježatině kostelních věží. Rythmus chvíle doprovázený pohyblivou hladinou řeky, velmi hluboko pod nohama, jejíž lesky se oblejí půvabem plujících černých labutí. Klid spoutaného živlu, líbeznost vodních břehů s topoly. Nad šedou hmotou města kus dlažby bez nervózy. Zde je místo, kde si metafyzická spekulace podává ruku se střízlivou realitou. (P 16) Offensichtlich hing es mit dem Ort zusammen, der besonders für solche Romantik geschaffen schien. Siehe den Stadtplan von Prag, offizielle Ausgabe, Quadrat A3; Rathausstufen wie Steilufer abstürzend zu reißenden Wassern, gezeichnet von den Spuren der Brandung aller Moldaunebel und versehen mit den Häßlichkeiten, die der Begriff ›abgeschiedener Winkel‹ enthält. Mittelalter mit Überbleibseln eines Karmeliterklosters und einem ragenden Gestrüpp von Kirchtürmen. Zeitweilig wird der Rhythmus untermalt von der beweglichen tief unter 9
Vgl. dazu z. B. Marie Majerová: »O jamarce« in Právo lidu 22, 1913c, č. 204 (27.7.), S. 2-4. »Budoucnost matek« in: Právo lidu 24, 1915, č. 120 (1.5.), S. 1-2. »Panímáma« in: Ženské noviny 1, 1919, č. 35 (28.8.), S. 3. »Stabat Mater« in: Právo lidu 26, 1917 (1.5.), S. 1-2. »Život pohlavní a mateřství« in: Rozsévačka 1, 1926, č. 30 (18.11.), S. 6-7. Die Texte sind auch zu finden in der Anthologie von Nývltová 2011: 351-402.
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Straßenniveau liegenden Wasserfläche des Flusses, dessen Gefunkel wogend mit der Anmut schwimmender schwarzer Schwäne kreist. Ruhe des gefesselten Elements, Lieblichkeit pappelgesäumter Ufer. In der grauen Masse der Stadt ein Stück Pflaster ohne Nervosität. Hier ist der Ort, wo sich metaphysische Spekulation und nüchterne Realität die Hand reichen. (T 6) Diese Textpassage wird im letzten Kapitel teilweise wörtlich wiederholt, wodurch die Rahmung des Romans akzentuiert wird (vgl. T 309; P 283). Auch begegnen wir dort noch einmal der Figur des Dichters, die sonst an keiner weiteren Stelle des Romans auftritt. Das mittelalterliche Erbe der Stadt, die mittelalterliche Bausubstanz wird angegriffen mit der Kraft des »gefesselten Elements« [»spoutaný živel«] Wasser, das im Zuge des Talsperrenbaus zum Symbol für zivilisatorischen Zukunftsglauben und Optimismus, ja letztlich zum Vehikel des revolutionären Umsturzes wird und die alte Ordnung buchstäblich hinwegschwemmt, was hier bereits angedeutet wird. Am Ufer, nah am Wasser liegt also der Ort, dem die Kraft zur Synthese von »metaphysische[r] Spekulation und nüchterne[r] Realität« zugeschrieben wird. Hier hält der Dichter Zwiesprache mit den Figuren seines Werkes: »Es ist ein privater Verkehr, bei dem es eigentlich nur eine wirkliche Person gibt« (T 6f.) [»Je to styk velmi soukromý, při němž je vlastně jen jedna skutečná osoba« (P 16)].10 Der für den Roman charakteristische polyphone Erzählmodus ist bereits auf den ersten Seiten angelegt. Nach dem konspirativen Treffen im ersten Kapitel, bei dem einige der wiederkehrenden Figuren eingeführt werden, treten auch im zweiten Kapitel eine Reihe von Figuren auf, die über den geplanten sozialistischen Umsturz reden. Dabei wird das Sprechen selbst bzw. die verschiedenen Stimmen und Redeweisen thematisiert: »Každý měl již plný obličej své řeči a čekal jen, až přijde jeho chvíle« (P 17) [»In jedem Gesicht spiegelte sich eine eigene Rede wider, und jeder wartete nur darauf, daß die Reihe zu antworten, an ihn komme« (T 7)]. Für ihre Figuren erschafft Majerová eine jeweils eigene Stimme mit eigener Prosodie: Jeho jazyk byl čistý, s nepatrnými fonetickými úchylkami, ale podobal se češtině, kterou mluví učitelé občanských škol před inspektorem, zatímco první mluvil s
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An dieser Stelle ist der Einschätzung von Inge Seehase zu widersprechen, die die »Abnabelung« der Romanhelden vom »Autor« als »extrem« bezeichnet, mit dem Ziel, das »Menschenkollektiv« als Träger der Revolution hervorzuheben (Seehase 1977: 780). Abgesehen davon, dass die Dichterfigur nicht mit dem Autor-Subjekt gleichzusetzen ist, macht die oben zitierte Textstelle deutlich, dass Majerová ihren Roman klar als dichterische Fiktion, als Utopie, ausweist, die ihren Ursprung in der »eine[n] wirkliche[n] Person« (T 6f.) der Dichterfigur hat. Freilich ließe sich in einem nächsten Schritt nach der Inszenierung von Autorschaft hinter dieser ›Maske‹ der Dichterfigur fragen.
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pražskou nedbalostí. Tato nedbalost však neznamenala přezírání nebo nedostatek zdvořilosti, byl to jen zvyk. Pečlivost druhého toliko chvilkami prozrazovala cizince, zatímco nedbalost prvního ani na chvilku nezradila dítěte Prahy. (P 18) Seine Aussprache war rein, wies unauffällige phonetische Abweichungen auf, glich aber dem Tschechisch, das Volksschullehrer bei einem Inspektionsbesuch anwenden. Der erste Sprecher hatte mit Prager Nachlässigkeit gesprochen. Diese Nachlässigkeit bedeutete nicht etwa Unkenntnis oder ein Sichhinwegsetzen über die Gebote der Höflichkeit, sie war Gewohnheit. Die Sorgfalt des zweiten verriet sofort den Fremden, während die Lässigkeit des ersten keinen Augenblick zweifeln ließ, daß er ein Kind Prags war. (T 8)11 Der erste Sprecher ist Michal, der zweite John Fer, ein amerikanisch-tschechischer »Gentleman« (T 7; P 17) und der für den Bau der Talsperre verantwortliche Ingenieur. Der dritte Sprecher ist ein »Mann körperlicher Arbeit« (T 8) [»muž[…] tělesné práce« (P 18)], der als Vertreter eines Kollektivs auftritt, was durch den Gebrauch der 1. Person Plural zum Ausdruck kommt. Er fordert von den anderen eine klare Sprache: »Je nás hodně. […] Jen nám do hesel nedávejte nesrozumitelná cizí slova, a předem si zakazujeme všechnu koktavou poezii skomírající buržoazie, kterou mladé pokolení sbírá na ulici jako nedokouřené cizí smotky, aby s nimi dělalo pokusy. To jsou doutnáky, pro jejichž revolučnost musí pracně shledávat vábné přídomky. Mluvte s námi po našem, a dostanete hbitou odpověď.« (P 18) »Wir sind viele. […] Mischen Sie bloß nicht wieder unverständliche fremde Ausdrücke in die Losungen; wir verbitten uns im voraus alle stammelnde Poesie, womit die absterbende Bourgeoisie die junge Generation auf der Straße sammelt wie halbgerauchte fremde Zigarrenstummel, um ihre Versuche mit ihr anzustellen. Für den revolutionären Geist solcher Raucher müssen extra lockende Prädikate gesucht werden. Reden Sie mit uns auf unsere Art, und Sie werden schnelle Antworten erhalten.« (T 8) Die Verwendung einer klaren und verständlichen Sprache war für Majerová, besonders auch in ihrer publizistischen Tätigkeit, ein erklärtes Ziel. Alle Menschen sollten Zugang zu Wissen und Informationen haben als Voraussetzung »zur Selbstbildung, die das wertvollste Gut des Menschen ist« (Majerová 1920, zit. n. Nývltová 2015: 155). 11
Die beschriebenen sprachlichen Eigenheiten finden ihre Entsprechung in der direkten Figurenrede. So spricht etwa Michal, der erste Sprecher, das sogenannte obecná čeština [Gemeintschechische], das sich von der tschechischen Schriftsprache unterscheidet, die z. B. John Fer, der zweite Sprecher, verwendet.
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Die vierte Stimme gehört der werdenden Mutter Greta, John Fers Frau, die auf Grund der bevorstehenden Geburt zur Eile mahnt. Ihr sind später die letzten Worte des Romans in den Mund gelegt, wodurch die Rahmung des Romans durch das zweite und das letzte Kapitel mit der darin auftretenden Mehrstimmigkeit noch einmal unterstrichen wird. Für Majerovás Poetik ist die Gestaltung der Figuren Dreh- und Angelpunkt. Analog zu der Schilderung des Dialogs zwischen dem Dichter und seinen Figuren schreibt sie in einer auf Deutsch verfassten Selbstbiographie für die Wiener Arbeiter-Zeitung über die Gestaltung der Figuren, »wie sie in ihm [dem Autor] leben« (Majerová 1933: 3): »Mit einemmal gehen sie mit dem Dichter, sprechen mit ihm, streiten mit ihm und überzeugen ihn so lange von ihrer Wichtigkeit, bis er sie zu Papier bringt« (ebd.). Die Säulen des Künstlers sind laut Majerová »Talent, Inspiration, Phantasie« (ebd.). Über sich selbst und ihr Programm für Přehrada bemerkt sie außerdem in der dritten Person: Sie wollte nicht die ausgetretenen Wege realistischer Prosa weitergehen und suchte den Ausdruck der Zeit, in der sie lebte. Sie suchte nach ihrem Rhythmus, nach den Tagesfragen, nach ihren Ausdrucksmöglichkeiten. Jetzt ist es an der Zeit, einiges zu erwähnen, was das Romanschreiben betrifft. Der Schöpfer literarischer Werke besitzt wohl ein Organ, das dem nichtschreibenden Menschen mangelt. Dieses innere Organ hilft ihm, den Traum zur Wirklichkeit zu wandeln, den unsteten, visuellen Eindruck in einen konstanten umzusetzen, ihn in einem Werk zu verewigen. Der Dichter ist ein Filter, durch den die Masse des Lebens mit all ihrem Schaum fließt, die er in seinem Werk als klare Flüssigkeit ohne Trübung und ohne Satz wiedergeben muß. (Ebd.)12
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Die hier vertretene Kunstauffassung lässt sich an das Kunst- und Literaturverständnis der deutschen Frühromantik anschließen. Im Roman Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter (1801) lässt Clemens Brentano seinen Titelhelden in einem Gespräch über die Kunst folgenden Satz sagen: »Das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases« (Brentano 1973: 258f.). Es ist also kein objektiver Blick, sondern der subjektive Blick des Dichters, »die Form des Glases«, die den Gegenstand bestimmt: »[D]enn die romantischen Dichter haben mehr als bloße Darstellung, sie haben sich selbst noch stark« (a.a.O.: 260), heißt es bei Brentano weiter. In der Nachfolge Fichtes und seiner Radikalisierung des subjektiven Autonomieanspruchs hatten bereits die Jenaer Frühromantiker, allen voran Friedrich Schlegel und Novalis, das subjektive Moment künstlerischer Gestaltung betont. Die sich daraus ergebende ästhetische Autonomie des Dichters, nämlich »daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide« (Schlegel 1964: 39), formulierte Schlegel im Athenäums-Fragment 116 als oberste Priorität romantischer Dichtung. Novalis betonte im 16. Blüthenstaub-Fragment (1798) die Innerlichkeit des Dichters, der Seher und Demiurg ist (vgl. hierzu auch Novalis: Heinrich von Ofterdingen 1802), als den Ursprung poetischen Schaffens: »Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft« (Novalis 1983: 510). Kurz gesagt, den Frühromantikern ging es nicht um den Bezug zu einer
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Majerová distanziert sich in ihrer Selbstbeschreibung vom Realismus, den sie als nicht mehr zeitgemäß ansieht. Die Rede vom Traum, der Wirklichkeit werden soll, erklärt, warum Majerová den utopischen Roman gewählt hat. Außerdem misst Majerová dem Gefühl einen hohen Stellenwert im Schaffensprozess bei: Das Gefühl ist die Masse, aus der er [der Künstler] schöpft, mit Hilfe seines Talents. Das Gefühl ist das Instrument, auf dem der Künstler, ohne gelernt zu haben, spielt. Den Verstand benützen, muß erst erlernt werden. Gefühl aber ist angeboren. Gefühl führt zum Mitleiden mit den erniedrigten und rechtlosen Menschen. (Ebd.) Hier verbindet sich die romantische Konzentration auf das fühlende Subjekt mit dem Humanismus der Aufklärung. Man denke an Lessings Forderung, Mitleid zu erregen, um einen kathartischen Effekt beim Publikum zu erzielen. Majerovás Poetik fügt dem romantischen Konzept des Künstlers, der das Gefühl in den Mittelpunkt stellt, allerdings eine weitere entscheidende Komponente hinzu: Ihrer Auffassung nach soll der Schriftsteller einen politischen Standpunkt einnehmen, nämlich »die Seite der Barrikade« (ebd.). Die erste Aufgabe des Romanschriftstellers sei es, »den Menschen [zu] suchen« (ebd.). Majerová zitiert Marx (»Die Welt erklären, heißt die Welt verändern«) und schließt daran an mit ihrem Credo: »Der Romanschriftsteller, der die Welt schildert, hilft, sie zu verändern. Wer die Welt gut schildert, verändert sie auf friedliche Weise. Große Reiche vergehen13 und ein gutes Buch besteht« (ebd.). In ihrer Selbstbiographie bezieht sie sich auch auf ihren Kinderroman Bruno, čili dobrodružství německého hocha na české vesnici (1930) [dt. Bruno. Erlebnisse eines deutschen Knaben im tschechischen Dorf ], in dem sie die damals durchaus übliche Praxis des Kinderaustausches zwischen deutschen und tschechischen Familien thematisiert. In dem Jugendbuch verbringt der deutsche Junge Bruno ein Jahr in einer tschechischen Familie, um Tschechisch zu lernen, während der Sohn der tschechischen Familie Jaroslav ein Jahr in Brunos Familie verbringt, um Deutsch zu lernen. In der Arbeiter-Zeitung formuliert Majerová ihre Motivation: »In diesem Buche wird gezeigt, daß nationale Verträglichkeit die Bedingung der Klassensolidarität ist« (Majerová 1933: 3; Hervorhebung im Original gesperrt). Daran lässt sich ihr Standpunkt in Bezug auf nationale Identitätsdiskurse ablesen: Für sie steht der »gemeinsame[…] Zug der Menschheit zum Absoluten« (ebd.) im Vordergrund, der vollkommen abseits jeglicher nationalkultureller Zuordnungen liegt. Maßgeblich für Majerovás Schaf-
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vorgegebenen Wirklichkeit, sondern um die Erzeugung einer eigenen poetischen Wirklichkeit als Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen. Vgl. dazu die Kapitelüberschrift »Státy se boří a tvoří« [»Staaten vergehen und entstehen«] in Přehrada.
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fen in der Zwischenkriegszeit ist ihr sozialrevolutionärer Anspruch, die Welt und damit die Lebensbedingungen für die Schwächsten zu verbessern. Sowohl im zweiten als auch im letzten Kapitel wird das Radio als Medium der Moderne thematisiert. Zu Beginn werden Orgelklänge auf der »Welle von Cambridge« gesendet, »Paris-Tour-Eiffel« spielt Jazz und die Rufe der »Komintern« (T 6), seit 1924 die Rundfunkorganisation der Dritten Internationalen mit Sitz in Moskau, liegen in der Luft. Das Radio als Marker der Moderne verbindet Prag mit den Metropolen der Welt, wodurch Majerová die Stadt in den Kontext europäischer Modernezentren einschreibt. Im Schlusskapitel sind es erneut die Orgelklänge aus Cambridge, »die an die Atmosphäre der neunziger Jahre und an Wagneropern erinnerten« (T 310) [»připomínající atmosféru devatesátých let a Wagnerových oper« (P 283)], also als veraltet markiert werden. Die Pariser Radiostation »bezauberte die Jugend mit einem annamitischen Chor mit Trommelbegleitung« [»okouzlovala mládež anamitskými sbory«], wodurch die französische Hauptstadt als jugendlich, international und dem Vergnügen zugewandt erscheint. Im Gegensatz zu musikalischer Unterhaltung sendet Moskau ein Programm von politischer Tragweite, nämlich »eine siegreiche Proklamation über die Aufnahme eines neuen europäischen Staates in die Union der Sozialistischen Republiken« (ebd.) [»vítěznou proklamaci o přijetí nového evropského státu do Svazu socialistických republik« (ebd.)]. Das Radio als Medium spielte eine tragende Rolle für die Russische Revolution als »newspaper without paper« (Lommers 2013: 140). 14 Nach diesem Vorbild verkündet im Anschluss an die erfolgreiche Revolution auch der Prager Rundfunk die Nachrichten der neuen provisorischen Regierung über das Radio. Dadurch ist offensichtlich, welche moderne Metropole Majerová als Blaupause für Prag und für eine fortschrittliche Zukunft ansieht.
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Zur Rolle des Radios für die Russische Revolution vgl. Phillips (2000): »Radio had broadcast news of the Revolution in October 1917 in Morse code. Soviet scientists quickly developed voice radio and by 1921 programmes were being broadcast. The Spoken Newspaper of the Russian Telegraph Agency featured news and propaganda material with little emphasis on music. Radio receivers were expensive and in order to get their message to the people the Bolsheviks installed loudspeakers in public places, factories and clubs. Control of radio communications was centralised through the Commissariat for Posts and Telegraph and, as the government recognised the importance of this form of communication, resources were given to ensure rapid development. By 1922 Moscow had the most powerful broadcasting station in the world« (Phillips 2000: 68). Dazu bemerkt Lommers (2013): »Lenin, who had an interest in radio engineering, immediately wanted to create a global broadcasting network to ensure worldwide diffusion of the Socialist Revolution’s ideals. To Lenin, radio was ›a newspaper without paper and without distances‹« (Lommers 2013: 139f.).
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Der Fluss als (räumliches) Strukturprinzip
Der Fluss Moldau und eine ausdrucksstarke Wassermetaphorik haben für den Roman zentrale Bedeutung. Allgemein gesprochen stellen Flüsse eine Möglichkeit dar, anhand derer sich Raumvorstellungen ordnen und organisieren lassen. Einerseits können Flüsse Räume voneinander trennen (z. B. das linke vom rechten Ufer), sie können Grenzen bilden, im Falle der Oder sogar eine Staatsgrenze, die die Doppelstadt Frankfurt/Oder–Słubice durchfließt. Flüsse können aber auch verbinden, etwa in ihrer Eigenschaft als Verkehrswege. Ihre den Raum organisierende Funktion kommt z. B. in geographischen Bezeichnungen zum Ausdruck, so spricht man etwa vom »Rheinland« oder nennt das Habsburgerreich auch »Donaumonarchie«; Prag kennt man gemeinhin als »Stadt an der Moldau« oder »Moldaumetropole«. Die Geschichte der Menschheit ist immer schon aufs Engste mit Flüssen verknüpft, liefern sie doch Trinkwasser und Nahrung, dienen als Transportwege, ermöglichen Handel und Reisen. Darüber hinaus wird Wasserkraft zur Energiegewinnung genutzt. So wie Majerovás Talsperre, über die sie schrieb: »[D]ie Heldin dieses Romans ist weder ein Mädchen noch eine Frau, sondern die Heldin ist die Talsperre auf dem Fluss Moldau« (Majerová 1933: 3; Hervorhebung im Original gesperrt). Wie bereits erwähnt, werden zu Beginn der Fluss und das Ufer als »ein Stück Pflaster ohne Nervosität« in »der grauen Masse der Stadt« und als »Ort, wo sich metaphysische Spekulation und nüchterne Realität die Hand reichen« (T 6) [»Nad šedou hmotou města kus dlažby bez nervózy. Zde je místo, kde si metafyzická spekulace podává ruku se střízlivou realitou« (P 16)], attribuiert und mit dem dichterischen Prozess in Verbindung gebracht. Der Moldau kommen im Roman verschiedene Funktionen zu, so werden z. B. mit Hilfe des Flusses Milieus bzw. Stadträume und die darin lebenden Figuren charakterisiert. Gleichzeitig ist die Moldau Ort und Medium, anhand dessen das die Moderne stets begleitende Spannungsfeld zwischen Natur einerseits und Zivilisation und Technik andererseits verhandelt wird. Zudem spielt das Wasser eine wichtige Rolle für die Umsetzung der sozialistischen Revolution und verweist damit auf eine utopische Zukunft. Nicht zuletzt ist die Moldau durch intermediale Verweise auf Smetanas Má vlast Vehikel und Symbol nationalkultureller Gefühle. Diese diversen Aspekte werden im Folgenden näher beleuchtet. In Bezug auf die polyphone Struktur des Romans wirkt der Fluss als eine Art Ordnungsprinzip: Er ist die Konstante, die in immer neuen geographischen Kontexten und sozialen Milieus in Erscheinung tritt und als eng verbunden mit dem Leben der Menschen gezeigt wird. Dabei haben die gezeigten räumlichen Strukturen oftmals eine sozialkritische Komponente. Im Kapitel »Monolog eines Arbeitslosen« [»Monolog nezaměstnaného«] wird die Moldau zur Komplizin eines imaginierten Selbstmordes, wenn ein verzweifelter Arbeitsloser mit dem Gedanken spielt, sich von der Brücke zu stürzen (vgl. T 34f.; P 32f.). In seinem inneren Mono-
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log wird klar, dass der Arbeitslose am Bau der Talsperre mitgewirkt hat: »›Že jsem nestavěl? Sám ne, to se ví, vždyť jsem jen míchal beton, ale celá stavba je přece kolektivní dílo […] a každý z nás, může říci, že stavěl přehradu. A větším právem než ten, který ji jen nakreslil a určil, odkud a kam bude vedena.‹« (P 32) [»›Ich soll die Talsperre nicht gebaut haben? Allein nicht, das versteht sich, ich habe Beton gemischt, aber der ganze Bau ist ein kollektives Werk, und jeder von uns […] kann […] mit Recht sagen, er hätte die Talsperre gebaut. Und zwar mit größerem Recht als der, der nur die Zeichnung entworfen und die Anordnungen getroffen hat, woher und wohin der Damm geführt werden soll.‹« (T 34)]. Nach seiner Entlassung jedoch besitzt der Arbeitslose nichts mehr, ist vereinsamt und verelendet: »›Ich bin kein Sozialist, auch kein Kommunist; ich bin bloß ein armer Proletarier und Ausrangierter, bin solch ein Individuum, […] das kein Heim und kein Ziel hat.‹« (T 35) [»›Nejsem ani socialista, ani komunista, jsem jenom ubohý proletář a vyhoštěnec, takový člověk […], který nemá nikde domov a nikde cíl.‹« (P 33)]. Seine verzweifelte Lage, nicht seine politische Überzeugung, ist für ihn Motivation zum revolutionären Umsturz, der das alte Prag zerstören soll: »›To je nás, to je nás […], Praha nás vsákne jako houba a není nás vidět. Zalezem do děr, jako by nás nebylo. Ale zítra zmáčkne houbu ruka osudu a vyrazíme proudem. Smažeme starou Prahu, smažeme starý svět a starého člověka.‹« (P 34) [»›Wir sind viele, ungeheuer viele, […] Prag saugt uns auf wie ein Schwamm; wir sind nicht zu sehen. Wir verkriechen uns in unsere Löcher, als gäb’s uns nicht. Aber morgen drückt die Hand des Schicksals den Schwamm aus, und wir werden zu einem reißenden Strom. Wir werden das alte Prag, die alte Welt und den alten Menschen kochen und sieden [eigentlich: auslöschen; U.M.].‹« (T 37)]. Die moderne Großstadt wird als Ballungszentrum der Armut und des Elends gezeigt. Im Zuge der Industrialisierung zogen große Teile der ländlichen Bevölkerung auf der Suche nach Arbeit in die Städte. So wuchs etwa die Einwohnerzahl Prags von rund 454 000 im Jahr 1900 um fast das Doppelte auf 849 000 im Jahr 1930 an (vgl. Koeltzsch 2010: 10). Weiterhin fällt die Wassermetaphorik ins Auge: Prag wird mit einem Schwamm verglichen, die arme Bevölkerung mit einem »reißenden Strom«, der die alte Ordnung zugunsten einer neuen hinwegfegen wird. Im Kapitel »Hadi poledne« [in der dt. Übersetzung: »Kinder suchen den Wald«] wird auf die Elendsquartiere im Stadtteil Podskalí fokussiert. Podskalí ist der Name einer untergegangenen Ortschaft am rechten Moldauufer, die sich zwischen der heutigen Jirásek-Brücke und der Železniční most (Vyšehrader Eisenbahnbrücke) befand. Die damaligen Bewohner lebten vornehmlich von der Flößerei und vom Holzhandel in meist ärmlichen Verhältnissen. Majerová schildert auf drastische Weise das Leben einer zehnköpfigen Familie in einer Kellerwohnung, »in der Unterwelt« [»Plazí se podzemím« (P 115)]. Sie hausen in einem feuchten, halb verfallenen Haus, in dem die Schwindsucht und andere Krankheiten umgehen, und leben in ständiger Angst vor der Zwangsräumung (vgl. T 121f.; P 115f.). Die drei
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jüngsten Kinder der Familie haben eine eigene Sprache, den »Kellerjargon« (T 124) [»sklepní hantýrka« (P 117)], in der sie sich gegenseitig träumerische Geschichten erzählen, um für kurze Zeit ihren Hunger zu vergessen. Zwei der älteren Brüder arbeiten auf dem Wasser, vermutlich als Flößer, die Mutter ist Bedienerin und die ältere Schwester Ida arbeitet in einer Druckerei, der Großvater ist Nachtwächter auf einem Neubau und ein anderer Bruder Page in der Bar »Modrý pavouk« [»Blaue Spinne«], die sich im Wolkenkratzer aus dem ersten Kapitel befindet. Dennoch lebt die Familie in Armut. Die drei kleinen Kinder Rudla, Mařena und Gusta machen sich eines Tages auf den Weg in den Wald, von dem sie nur eine vage Vorstellung haben; so glauben sie etwa, dort wüchsen Erdbeeren und Pilze auf Bäumen. Damit wird die Entfremdung der Stadtkinder von der Natur unterstrichen, die auch darin zum Ausdruck kommt, dass sie statt von Lerchen vom Großstadtlärm geweckt werden und in ihrem Kellerverschlag so gut wie nie das Sonnenlicht sehen (vgl. T 121; P 115). Die Verbundenheit der Bewohner von Podskalí mit dem Fluss wird durch ein altes Lied, das aus einem der Häuser ertönt, akzentuiert: »›Vltavóó ty modrookááá, proč tak rychle pospícháš? Kvapíš kolem Vyšehráádů…‹« (P 120) [(»›Moldaaau mit den blauen Aaaaugen, warum eilest du so sehr? Tänzelst um den Vyšehraaad…‹« (T 127)]. Auch lassen sich die Kinder vom Fluss leiten auf ihrem Weg dorthin, wo sie den Wald vermuten. Am Ufer werden sie Zeuge, wie ein ertrunkenes Baby aus der Moldau gefischt wird. Einer der umstehenden Fischer bemerkt dazu lakonisch: »›Plave to tu kolikrát v papíru, s cárem sukně anebo cíchy, s pupeční šňůrou anebo bez ní. Za tmy svítí mrtvolky jako bludičky. Hledají mámu.‹« (P 122) [»›Alle Augenblicke wird so was angeschwemmt, in Papier, in einen Rockfetzen oder in ein Stück Bettzeug gewickelt, mit oder ohne Nabelschnur. Im Dunkeln schimmert so eine kleine Leiche wie ein Irrwisch. Es sucht die Mutter.‹« (T 130)]. Die Kinder können in ihrer Unbekümmertheit die Tragweite dessen nicht ermessen und setzen ihren Weg fort. Indem der Kindsmord, hinter dem ein tragisches Schicksal steht, erzählerisch im wahrsten Sinne en passant abgehandelt wird, ist die Wirkung auf den Leser besonders drastisch. An dieser Stelle ebenso wie im »Monolog des Arbeitslosen«, der sich um seinen imaginierten Selbstmord dreht, wird der Fluss markiert als Ort des Übergangs vom Leben zum Tod und erinnert an den antiken Mythos des Unterweltflusses Styx, der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich Hades bildete. Entlang der Moldau, die den Kindern endlos erscheint, bewegen sie sich aus der Stadt hinaus: »Mařeně připadalo, že tramvajová vozovka tvoří hranice známého světa. Za těmi hranicemi patrně již žijí docela jiní lidé než v městě, lidé neznámí a třeba nepřátelští, jako všecko, co neznáme.« (P 123) [»Mařena hatte gedacht, die Remise der Straßenbahn [eigentlich: die Straßenbahntrasse, U.M.] bilde die Grenze der bekannten Welt. Hinter der Grenze mußten ganz andere Menschen als in
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der Stadt leben, unbekannte Leute, die ihnen vielleicht feindlich waren, wie alles, was unbekannt ist.« (T 131)]. Der Fluss erfüllt hier eine transitorische Funktion, indem er einerseits Stadt und Land voneinander abgrenzt, sie aber gleichzeitig auch miteinander verbindet. Jurij M. Lotman zufolge vermag die Untersuchung literarisch gestalteter Räume immer auch etwas auszusagen über die zugrundeliegenden, räumlich organisierten Weltordnungen. Laut Lotman »erweist sich die Sprache räumlicher Relationen als eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit« (Lotman 1993: 313). Sein Kulturmodell der Semiosphäre zeichnet sich unter anderem aus durch »ein einheitliches Verhältnis zur Grenze, die den inneren Raum der Semiosphäre vom äußeren, ihr Innen von ihrem Außen trennt« (Lotman 2010: 173; Hervorhebungen im Original). Dabei fungiert die Grenzzone gleichzeitig als Kontaktzone. Es lässt sich also festhalten, dass Majerová einen Unterschied zwischen Stadt (Zivilisation) und Land (Natur) macht, wobei der Fluss als Grenz- und Kontaktzone gleichermaßen zwischen beiden fungiert. Ebendiese ambivalente Stellung der Moldau zwischen Zivilisation und Natur wird dann noch einmal durch die Dampfer unterstrichen, die den Fluss als Transportmittel in den (fremden) Naturraum außerhalb der Stadt nutzen. Sie erscheinen den Kindern wie »spolehlivými, známými strýci uprostřed davu cizoty a novot« (124) [»gute [eigentlich: verlässliche, U.M.] alte Bekannte [eigentlich: bekannte Onkel, U.M.] inmitten einer Masse von Fremdem und Neuem« (132)], das bald zu einem ländlichen Idyll wird, welches mittels einer Reihung von Komparativen in krassen Gegensatz zum Leben in der Stadt gesetzt wird: »Dětem se začal nejpůvabnější den, o jakém kdy snily. Měly tu doupě, řeku s travnatým břehem, zviřátka líbeznější než krysy, hmyz jiný než štěnice, měly tu bludiště se skrývačkami, a nebyli tu lidé! Žádní lidé! Nikde nikdo! Celý svět se zdál jejich, a obraznost pracovala na stvoření docela jiného světa« (P 125) [»Für die Kinder begann der wundervollste Tag, von dem sie je geträumt hatten. Sie hatten eine Höhle, den Fluß mit grasigem Ufer, lieblicheres Getier als Ratten, schönere Insekten als Wanzen, sie hatten ein Labyrinth mit versteckten Winkeln, und es waren keine Menschen da! Gar keine Menschen! Weit und breit niemand! Die ganze Welt gehörte ihnen, und ihre Phantasie arbeitete an der Schaffung einer neuen Welt« (T 134)]. Immer wieder kommt im Roman die enge Verflechtung zwischen Prag und der Moldau zum Ausdruck. Zwei der insgesamt 39 Kapitel sind mit musikalischen Motiven aus Bedřich Smetanas Vltava (1874) [Die Moldau] aus dem sinfonischen Zyklus Má vlast (UA 1882) [Mein Heimatland] übertitelt (s. Abbildung 7). Smetana selbst schrieb über seine wohl berühmteste Komposition: Skladba líčí běh Vltavy, začínaje od prvních obou praménků, chladná a teplá Vltava, spojení obou potůčků do jednoho proudu; pak tok Vltavy v hájích a po lučinách, krajinami, kde zrovna se slaví veselé hody; při noční záři lůny rej rusalek; na blízkých skalách vypínají se pyšně hrady, zámky a zříceniny, Vltava víří
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v proudech Svatojánských; teče v širokém toku dále ku Praze. Vyšehrad se objeví, konečně mizí v dálce v majestátním toku svém v Labi. (Zit. n. Holzknecht 1979: 347) Die Komposition schildert den Lauf der Moldau, angefangen bei den beiden kleinen Quellen, der kalten und der warmen Moldau, über die Vereinigung der beiden Bächlein zu einem Fluss, den Lauf der Moldau durch Haine und Fluren, durch Landschaften, wo gerade ein fröhliches Festessen gefeiert wird, beim nächtlichen Mondschein tanzen die Nymphen ihren Reigen. Auf den nahen Felsen ragen stolze Burgen, Schlösser und Ruinen empor. Die Moldau wirbelt in den Johannisstromschnellen; im breiten Zug fließt sie weiter gegen Prag, am Vyšehrad vorbei, und in majestätischem Lauf entschwindet sie in der Ferne schließlich in der Elbe.
Abbildung 7: Kapitelüberschrift aus »Přehrada« in Notenform
Quelle: Marie Majerová (2010): Přehrada. Hg. v. Jiří Holý. Brno: Host, S. 172.
Analog dazu schildert Majerová den Ursprung der Moldau bei Černá Hora, das Anwachsen des Baches zu einem Fluss und das Leben der Menschen an seinen Ufern (vgl. dazu T 186-195 [P 172-179]): »Obrazy krajů míjejí jako epochy dějin: hrad na skále, zřícenina kláštera na ostrohu, tlama odtokové štoly z továrny« (P 175) [»Landschaftsbilder ziehen wie Epochen der Geschichte vorbei: eine Felsenburg, eine Klosterruine auf einer Insel, das klaffende Maul eines Abflußrohres einer Fabrik« (T 190)]. Der Flusslauf veranschaulicht den Wandel vom Mittelalter hin zur Industrialisierung. Das Wasser wird zum Sinnbild für das Dahinfließen der Zeit und diese Zeit wird wiederum ablesbar im Raum, den die Moldau durchfließt, den sie geformt hat und formt. Das zweite ›Moldau-Kapitel‹ ist in Prag verortet und die Beschreibung der Moldau gerät darin zu einer Charakterisierung der Stadt. So wird mehrfach das »Staunen« (T 213f.) [»úžas« (P 196f.)] der personifizierten ländlichen Moldau angesichts der städtischen Pracht erwähnt. Die Gründung Prags auf dem Vyšehrad an einer Moldauschwelle – wovon sich vermutlich der Stadtname herleiten lasse (von »prah«
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= »Schwelle«), wie es im Roman heißt – und die fast tausendjährige Stadtgeschichte werden angesprochen. Daran Anteil hatte immer auch der Fluss, der über die Jahrhunderte das sich ständig wandelnde Bild Prags – sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – reflektiert hat. Einerseits wird die Stadt mit ihrer weit in die Vergangenheit zurückweisenden Geschichte dargestellt; gleichzeitig wird Prag als im ständigen Wandel sich befindend und damit fortschrittlich und zukunftsfähig präsentiert (vgl. T 213f.; P 196f.). Darüber hinaus wird Prag als Handelszentrum markiert, wo sich immer schon Kaufleute aus aller Welt begegnen. In einer solcherart interkulturell geprägten Stadt reden schon seit alten Zeiten »Franken, Ungarn und Wallonen in babylonischer Weise« (T 214) durcheinander [»[…] kde babylonili Frankové, Maďaři, Valoni«] (P 196)]. Dadurch wird eine lange Tradition plurikultureller Kommunikationszusammenhänge für Prag in Anspruch genommen. Zudem ist Majerovás Prag als zweisprachige Stadt charakterisiert: Die Flugblätter der Revolutionäre, die als Montagen in den Roman eingestreut sind, sind meist zweisprachig, deutsch und tschechisch, abgedruckt (P 59f.).15 Darüber hinaus findet sich der Verweis auf eine Prager deutschsprachige Tageszeitung (vermutlich das Prager Tagblatt), die der Tscheche Frank Kavalír, Direktor der Radotíner Zementwerke, liest: »Er warf eine Zeitung nach der anderen beiseite, bis er auf zwei Extrablätter des deutschen Tagblattes stieß.« (T 198) [»[…] až se zastavil u dvou listů zvláštního vydání německého deníku.« (P 183)]. Das Leben und Sterben der Menschen, ob reich oder arm, vom Sklaven bis zum Beichtvater der Königin (Johannes Nepomuk), ist wie auch die Stadt selbst aufs Engste mit dem Fluss verflochten. In dem Vergleich mit einem Liebespaar unterstreicht die Moldau die Schönheit Prags: V milostné přilnavosti se vinula Vltava ku Praze. Její láska vytvořila uprostřed města vzduchový prostor, odstup, který zdůrazňuje každou krásu, zjasňuje a povznáší. Dala městu radost nahoty. Říká mu od jara do podzimu : »Ó koupej se, živý tvore, obejmu tě a ponesu […].« (P 197) In liebender Zuneigung schmiegte sich die Moldau an Prag. Ihre Liebe bildete mitten in der Stadt einen luftigen Raum, eine Art Abstand, der jede Schönheit noch deutlicher betont und klarer hervorhebt. [Sie gab der Stadt die Freude der Nacktheit. Fehlt in der Übersetzung, U.M.]. Vom Frühjahr bis zum Herbst schien sie zu sagen: »Oh, sieh her [eigentlich: bade, U.M.], lebendes Geschöpf, ich umarme und trage dich […].« (T 214)
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In der deutschen Übersetzung geht diese Zweisprachigkeit leider verloren, da hier die Flugblätter und Parolen nur in deutscher Sprache abgedruckt sind (vgl. T 64).
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Das sonst kaum zu bändigende Element ist wie verzaubert von der Stadt, was ihre Erhabenheit hervorheben soll. Prag gelingt es einerseits auf Grund seiner Schönheit, aber auch durch seine Macht, dass sich ihm sogar die Natur in Gestalt der Moldau unterordnet: Její láska však je zároveň láska služebná. Řeka v městě pomáhá nosit a dopravovat. Vlatava v Praze nosí maňásky, kánoe, plachetky, parníky a nákladní lodi. A tisíc jiných prací řeka pokorně vykonává. Nevděčná Praha však nenechává Vltavu, aby ji milovala po svém. Tísní ji nábřežími. Překládá její tok podle své libosti. Poutá ji mosty, jimž řeka stále musí omývat kamenné nohy. […] Oddaná a plná údivu se prostírá Vltava u paty pražských strání a zdí […]. (P 197) Ihre Liebe ist voller Diensteifer. In der Stadt hilft sie tragen und befördern. Sie schleppt geduldig Paddelboote, Kanus, Segelschiffe, Dampfer und Lastkähne. Außerdem verrichtet der Fluß demütig tausendfach andere Arbeiten. Er läßt sich durch die Stadt vergewaltigen, die ihn auf ihre Weise verschönert [eigentlich: Das undankbare Prag lässt jedoch nicht die Moldau, dass sie es auf ihre Art liebt, U.M.]. Sie verengt den Strom, verlegt den Flußlauf nach Belieben, fesselt die Moldau mit Brücken, deren steinerne Füße sie unaufhörlich waschen muß. […] Trotzdem legt sich die Moldau ergeben und voll Bewunderung den Prager Hängen und Mauern zu Füßen […]. (T 214f.) In den beschriebenen ›Tätigkeiten‹ der Moldau hallen die Arbeiten beim Bau der Talsperre wider, gegen die sich die Moldau immer wieder zur Wehr setzt; in Prag allerdings toleriert sie diese Eingriffe in ihren natürlichen Lauf. Somit erscheint die Stadt als Kulminationspunkt der Zivilisation und geht aus dem Kampf Natur vs. Zivilisation als eindeutige Siegerin hervor. Immer wieder kreuzen sich Diskurse um das Spannungsverhältnis von Natur und Zivilisation mit Reflektionen über einen neuen Begriff des Schönen – um den auch in der modernen Architektur und Technik gerungen wird (teilweise in Abgrenzung zu einem romantischen Natur-Ideal). Auf diese Diskurse wird in den folgenden Seiten noch genauer eingegangen, jedoch lässt sich im Bild des Liebespaares (Prag = Zivilisation; Moldau = Natur) Prag als locus amoenus einer Versöhnung der im Roman extrapolierten Gegensätze Natur und Technik bzw. Zivilisation ausmachen. Zunächst aber möchte ich noch einmal auf die Moldau und Prag zurückkommen, und zwar auf den Aspekt ihrer Bedeutung für die Konstruktion einer nationalkulturellen Identität. Bedřich Smetanas Zyklus Má vlast, dem Majerová zwei musikalische Motive als Kapitelüberschriften entlehnt hat, ist im Kontext der tschechischen nationalen Wiedergeburt auch als Beitrag zur Herstellung nationalkultureller Gefühle zu betrachten. Durch die Bindung dieses evozierten ›Nationalgefühls‹ an die Natur, z. B. an Flüsse, Berge, »Böhmens Haine und Flure« (vgl. »Z českých luhů a hájů« = Titel der vierten sinfonischen Dichtung aus dem
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Zyklus Má vlast) wird es als quasi naturgegeben präsentiert. Dieselbe Strategie lässt sich auch in Majerovás Feuilleton-Sammlung Má vlast 16 beobachten. Die darin versammelten Texte tragen einzelne Orte und Landschaften im Titel, z. B. Lípa, Skřivan, Lesy, Na houbách, Vltava, Zelený chlum u Prahy, Na Karlštejně. Das kurze Prosastück Z luhů a hájů [Aus Fluren und Hainen] gibt das Gespräch zwischen einer Mutter und ihrem Sohn in einer lauen Sommernacht nach einem musikalischen Abend im Nationaltheater zu Ehren Smetanas wieder. Der Sohn, der an diesem Abend zum ersten Mal Smetanas Musik gehört hat, fragt seine Mutter, warum sie ihm trotzdem so bekannt vorkomme. Darauf antwortet sie: »›Ty vzpomínky na důvěrná setkání s českou přírodou v tobě ožily ve vláze Smetanovy hudby, jako jerišská růže ožívá v čerstvé vodě.‹« (Majerová zit. n. Nývltová 2011: 406f.). [Die Erinnerungen an eine vertrauliche Begegnung mit der böhmischen/tschechischen17 Natur werden in dir wieder lebendig in der Feuchte der Musik Smetanas, wie auch eine Jerichorose im frischen Wasser auflebt.] Die Verknüpfung von Smetanas Musik mit der tschechischen (oder böhmischen) Natur wird mittels einer Wassermetaphorik hergestellt. Erinnerungen an persönliche Naturerlebnisse werden durch die Musik im angesprochenen Subjekt (re-)aktualisiert. Im folgenden Textauszug setzt sich die Wassermetaphorik im Bild des Brunnens fort; durch ebendiese organische Semantik wird eine natürliche Verbundenheit des Individuums mit der tschechischen Landschaft postuliert. Dem Text zufolge artikuliere sich diese enge Verbindung von (Natur-)Raum und Subjekt in Smetanas Musik. »Toť všeobecné kreslení citů při pohledu na českou zem. […] Nyní i ty, můj chlapče, stal se každým, jedním ze všech, které Bedřich Smetana oslovuje. Stal se poslouchačem Mé vlasti. Našel jsi v ní sluchový doprovod ke všemu, co jsi kdy viděl v kraji, který se nazývá tvá vlast: na půdu, v niž kořeníš svým původem, na přírodu, která utvářela tvou povahu. Našel jsi v hudbě vysvětlení mnohého, co jsi jen tušil, a tušení mnohého, co je ti dosud neznámé. Těch šest symfonických básni ti bylo zatím jen nahlédnutím do velké a obsažné knihy, k niž se po celý život stále budeš vraceti jako k studánce, v niž budeš znova a znova uhášet žízeň, a její voda tě vždy osvěží a vždycky v ní najdeš posilující doušek.« (Zit. n. Nývltová 2011: 408)
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Unter diesem von Smetana übernommenen Titel erschienen Majerovás Feuilletons, die sie für die sozialdemokratische Zeitschrift Právo lidu verfasst hatte. Darin schreibt sie über ihre Eindrücke aus den ländlichen Regionen Böhmens zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Die gesammelten Feuilletons erschienen erstmals 1919 als Z luhů a hor [Aus Fluren und Bergen] und in überarbeiteter Form als Má vlast 1934 (vgl. Lantová 1995: 577). Hier sei noch einmal angemerkt, dass das tschechische Adjektiv »český« im Deutschen sowohl mit »tschechisch« als auch »böhmisch« übersetzt werden kann.
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»Es ist das allgemeine Zeichnen der Gefühle beim Anblick des tschechischen Landes. […] Jetzt bist auch du, mein Junge, einer der vielen geworden, den Bedřich Smetana anspricht. Du bist zu einem Zuhörer von ›Mein Heimatland‹ geworden. Du hast darin die auditive Begleitung zu allem gefunden, was du jemals in dem Land gesehen hast, das sich dein Heimatland nennt: in der Erde, in der du durch deine Herkunft verwurzelt bist, in der Natur, die dein Wesen geformt hat. Du hast in der Musik die Erklärung für vieles gefunden, was du nur geahnt hast, und die Ahnung von vielem, was dir bisher noch unbekannt ist. Diese sechs symphonischen Gedichte waren dir bis jetzt nur ein Einblick in ein großes und inhaltsreiches Buch, zu dem du das ganze Leben lang immer wieder zurückkehren wirst wie zu einem Brunnen, an dem du wieder und wieder deinen Durst löschen wirst; und sein Wasser wird dich immer erfrischen und immer wirst du darin einen stärkenden Schluck finden.« Hier wird also nationale Identität zunächst durch die Natur legitimiert, um dann in der Kunst konstruiert und gewissermaßen naturalisiert zu werden. Der Kunst (»Musik«, »Buch«) wird explizit die Kraft zugesprochen, nationale Identifikationsangebote bereitzustellen und nationale Zugehörigkeit zu stiften. Vor diesem Hintergrund wird eine weitere Funktion deutlich, die der Fluss im Roman einnimmt. Nicht nur wirkt der Fluss als räumliches Strukturprinzip und wird die Moldau genutzt, um soziale Milieus und Figuren klarer hervortreten zu lassen, sondern sie steht auch für ein Gefühl des ›Tschechischseins‹ und suggeriert eine quasi-›natürliche‹ Bindung an das Land (und damit auch an Prag).
3.
Die Kunst der Moderne im Spannungsfeld von Natur und Technik
Als ein zentrales Thema des Romans wurde das Spannungsfeld zwischen Natur und Zivilisation, zwischen Land und Stadt herausgearbeitet: In einem breiten Spektrum werden technischer Fortschritt, Zukunftsentwürfe, aber auch Kunstauffassungen der Moderne diskutiert und mittels der Figuren einander gegenübergestellt. Im Kapitel »Jedenácté zastavení« [»Die elfte Haltesstelle«] steht das Landmädchen Božena im Mittelpunkt. Ihr Leben ist eng verbunden mit der Natur und der Moldau, auf der sie als Fährfrau arbeitet, wie es vor ihr schon Vater und Großvater taten. Božena sieht durch den Talsperrenbau ihr Zuhause bedroht und fühlt sich aus diesem Grund »zwischen der Vergangenheit und einer nebelhaften Zukunft hilflos festgehalten wie in einem luftleeren Raum« (T 85) [»tkvěti ve vzduchoprázdnu mezi cárem minulosti a obláčkem budoucnosti« (P 83)]. Das Moldautal als ihre Heimat ist mit Erinnerungen an eine glückliche Kindheit verbunden, in der der anthropomorphisierte Fluss eine wichtige Rolle gespielt hat:
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Řeka se dotýkala břehu laskavými, hravými prsty, škádlila dítě k smíchu a k rozkošnickému pištění. Později se přátelství upevnilo a dítě vysedávalo celé hodiny na břehu […]. Tam nacházela hračky: loďky z rozpůlených slávek, stavební materiál z oblasků, akvárium na mělčině zahuštěné rybkami s neuchopitelnými stříbrnými vabidly. (P 85f.) Der Fluß tastete mit liebevollen spielerischen Wellen nach dem Kind, er reizte es zum Lachen und zu beglückten Jauchzern. Später festigte sich die Freundschaft. Stundenlang konnte die Kleine am Ufer sitzen […]. Hier fand das Kind sein Spielzeug: Schiffchen aus halben Muscheln, Baumaterial aus Kieselsteinen, im seichten Wasser ein Aquarium, das dicht mit unbegreiflich verlockenden, silberschimmernden kleinen Fischen gefüllt war. (T 88) Der Fluss und die Landschaft in »völliger Sicherheit und seßhafter Ruhe« (T 86) [»ráz naprosté bezpečnosti a usedlého klidu« (P 84)] haben sie ihr gesamtes Leben lang begleitet und so fragt sie anklagend: »Jakým právem se do tohoto dosaženého klidu míchala lidská ruka? Boženě připadalo, že si příroda nedá líbit takovou zvůli. Něco se stane.« (P 85) [»Mit welchem Recht durfte Menschenhand diese erworbene Ruhe stören? Božena meinte, die Natur werde eine solche Vergewaltigung [eigentlich: solche Willkür, U.M.] nicht dulden. Etwas wird geschehen!« (T 87)]. Für sie ist die Moldau wie eine »Mutter« (T 87; P 85). In plastischen Schilderungen findet Boženas Liebe zum Fluss und zur Natur ihren Ausdruck: Jak měla ráda vrbiny, tu podobné obrovským travinám, tu liánovitě se pnoucí! A stromy do řeky tak zamilovaně, že kladly své pně vodorovně s hladinou řeky tak dlouho […]. Cestičky podle vody, které se náhle objevovaly a právě tak náhle mizely v houštinách, slunné planinky, vražené do zátočiny mezi dvěma kopci, skály spadající kolmo do tůně, která se zdála vražedně a odstrašivě hluboká. (P 87) Wie liebte sie die Uferweiden, die sich hier wie riesige Gräser, dort lianenartig ausspannten! Wie liebte sie die Bäume, deren Stämme sich waagerecht über das Wasser hinstreckten […]. Wie entzückten sie die Uferpfade, die plötzlich auftauchten und sich ebenso unmittelbar im Dickicht verloren, sonnige Plätze, in die Kerbe zwischen zwei Berge eingezwängt, steil zum Wasser abfallende Felsen. (T 90) Die Talsperre, die das Tal ihrer Kindheit überfluten soll, ist für Božena ein »moderne[s] Ungeheuer, das so tief in das Leben ihres Flußes eingreifen« (T 91) soll [»moderní nestvůrou, která tak hluboko zasáhla do života její řeky« (P 88)]. Ihre enge Beziehung zum Fluss spiegelt sich auch in der Beschreibung von Boženas äußerer Erscheinung wider: Ihre Augen haben einen Perlmuttglanz, so dass sie den Augen von Fischen ähneln (T 92) [(P 88)], an anderer Stelle werden sie mit Muscheln
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verglichen (T 101) [(P 96)]. Boženas Leben und das ihrer Familie verläuft »in gleicher Linie mit dem Kampf um die Talsperre« (T 94) [»A vlastně byl celý její život, i život jejich rodu souběžný s bojem o přehradu (P 91)]. Sie erinnert sich daran, wie die Bauherren in die Dörfer am Fluss kamen und die Landbevölkerung mit »verführerischen Schlagworten, dicken Zigarren und Süßigkeiten« (T 95) [»svůdnými hesly, tlustými doutníky a cukrlaty« (P 91)] überzeugten. »Die Vertreter Prags schritten selbstbewußt einher und betrachteten gönnerhaft die Landschaft« (T 95) [»Zástupci Prahy si vykračovali sebevědomě a spasitelsky se rozhlíželi po kraji« (P 91)]. Wiederum werden Stadt und Land kontrastiert, wobei die Prager Delegierten als hochmütige Eindringlinge in »die grüne und weiße Idylle der Choliner Einsamkeit« (T 97) [»cholínsk[é] samot[y] v zelené a bílé idyle« (P 92)] dargestellt werden. Im Laufe der Zeit wird zunächst eine Landstraße gebaut, darauf folgt der Anschluss an das Stromnetz und die Eisenbahnstrecke. Der Prozess der Technisierung und damit verbunden die Zurückdrängung der Natur wird aus der Perspektive Boženas als negativ dargestellt. Im Gegensatz dazu steht die Sichtweise des Erfinders Josef Král, der Hauptfigur im Kapitel »Všecko se mobilizuje – i elektřina« [»Alles wird mobilisiert – auch die Elektrizität«]. Hier ist es nicht die Natur, die besungen wird, sondern die Elektrizität als technische Errungenschaft des Menschen. Diese wird gar durch den Vergleich mit der Sonne quasi als ›zweite Natur‹ etabliert: Ze žhavého středu země vychází v kosmickém tanci elektronů druhé slunce, kníže noci, elektřina. […] Toto Slunce, pokrývající se mrtvolnými skvrnami, zajde možná dřív než Země, ale druhé slunce, jehož východ je rotaci elektronů, bude tak dlouho, jak dlouho Země potrvá. Rodí se z ní, a toto jeho krevní přbuzenstvo ho váže přilnavostí srostlých dvojčat. (P 61) Wie eine Königin der Nacht [eigentlich: Wie ein Fürst der Nacht, U.M.] entsteigt im kosmischen Tanz von Elektronen eine neue Sonne dem glühenden Mittelpunkt der Erde: die Elektrizität. […] Diese mit leichenhaften Flecken bedeckte Sonne vergeht vielleicht früher als die Erde; aber die Sonne der Technik, deren Anfang mit der Rotation der Elektronen beginnt, dauert solange, als die Erde besteht. Sie entstammt ihr, und diese Blutsverwandtschaft schmiedet sie aneinander wie siamesische Zwillinge. (T 65) Der Erfinder Král träumt davon, einen Akkumulator zu entwickeln, der die durch die Wasserkraft der Talsperre erzeugte Elektrizität verstärkt. Er möchte ein »neuer Edison« (T 68) [»novým Edisonem« (P 65)] werden.18 Während er mit seinem Hund
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Vgl. dazu auch Vítězslav Nezvals episches Gedicht »Edison« (1927). Darin feiert Nezval in hymnischem Gestus die Errungenschaften des menschlichen Schaffensdrangs, wobei Dichtung, also künstlerisches Schaffen, und Erfindertum, also technisches Schaffen, enggeführt wer-
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über die Felder spaziert, reflektiert er über die Elektrizität, die er als »Wunder der Zivilisation« [»zázrak civilizace«] bezeichnet, und die es verdient »daß der Mensch das Jahrhundert nach ihr benennt [eigentlich: benannte, U.M.]« (T 66) [»že podle ní člověk nazval celé století« (P 62)]. Der Ort seiner Reflexionen ist ein Hügel über dem Moldauufer, von dem aus er die Stadt überblickt: »Spící Praha byla pokryta rosou žárovek. Můž na ně shlédl z výše své tmy. Ovšem, vždyť i moji vrstevnící užili a uživají elektrického zázraku do lisbosti. […] Elektřina má sílu a moc živlu. Vládne člověku. Ale člověk, který ji spoutal, cítí se také vládcem.« (P 62) [»Das schlafende Prag war mit Lichtern übersät. Der Mann blickte von der dunklen Höhe darauf nieder. Gewiß, meine Zeitgenossen benützen und genießen das elektrische Wunder nach Lust und Gefallen. […] Die Elektrizität verfügt über Kraft und Macht der Elemente. Sie beherrscht den Menschen. Der Mensch aber hat sie gefesselt und fühlt sich als ihr Herrscher.« (T 65)]. An dieser Stelle wird das Verhältnis des Menschen zur Technik problematisiert: Die in der Stadt lebenden Menschen nutzen technische Errungenschaften im täglichen Leben und glauben, sie hätten Kontrolle über sie. In Wirklichkeit aber sind ihm zufolge die Menschen von diesen Technologien abhängig, so dass eigentlich diese den Menschen beherrschen. Vor allem kommt es darauf an, wie der Mensch die Technik nutzt: »Elektrické století, které ozdobilo svou kulturu smrticím křeslem popravním! Groteskní pomocnice v domácnosti lidstva! Elektřina, jako vše, čím vládne člověk, byla ponížena. Degradovali ji až na kata! Ten zázrak civilizace!« (P 62) [»Das Jahrhundert der Elektrizität, dessen Kultur von der Hinrichtung mittels elektrischen Stuhles gekrönt wird [eigentlich: gekrönt wurde, U.M.]! Eine groteske Gehilfin im Haushalt der Menschheit! Die Elektrizität ist wie alles, dessen sich der Mensch [im Zeitalter des Kapitalismus. Dieser Zusatz findet sich nicht im tschechischen Original von 1932, U.M.] bemächtigt hat, erniedrigt. Sie ist zum Henker degradiert! Dies Wunder der Zivilisation!« (T 66)]. Durch die polyphone Struktur des Romans werden in den beiden besprochenen Kapiteln so unterschiedliche Perspektiven wie die des Landmädchens Božena und die des »neuen Edison« Josef Král einander gegenübergestellt. Im Kapitel »Vy žertvoju pali«19 [»Unsterbliche Opfer…«] werden ebenfalls gegensätzliche Sichtweisen kontrastiert, und zwar im Gespräch zwischen der Hegersfrau und dem Förster, Gretas Vater. Das Kapitel beginnt zunächst damit, dass das Wasser als Symbol für
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den. Darüber hinaus werden die positiven und negativen Implikationen großstädtischer Zivilisation verhandelt (Nezval 1999: 83-103). Für eine ausführliche Gedichtanalyse vgl. Wutsdorff 2006: 163-178. »Vy žertvoju pali« [»Ihr fielt als Opfer«] ist ein russisches Trauerlied, das auf dem Motiv eines alten Begräbnismarsches basiert. Das Lied wurde ab August 1918 neben der »Internationalen« von der Turmuhr des Kremls gespielt (vgl. de Keghel 2008: 59, FN 177). Durch den Anklang der Kapitelüberschrift an einen militärischen Trauermarsch wird der Kampf zwischen Mensch und Natur als kriegsähnlich konnotiert.
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das Leben, für Veränderung und Wandel eingeführt wird: »Na vodách plodových vplouváme do světa, opouštíme jej, odnášeni proudy slz. Všecko je voda, všecko plyne. Není pohovy v ustrnutí a není odpočinku v klidu. Pevný bod břehů je jen iluze. Jsme proměnliví jako voda.« (P 103) [»Im Fruchtwasser schwimmen wir in die Welt hinein, und müssen wir sie wieder verlassen, begleiten uns Ströme von Tränen. Alles ist Wasser, alles fließt. Kein bequemes Verharren, kein Rasten in Ruhe. Der feste Uferrand ist nur Illusion. Wir sind veränderlich wie das Wasser.« (T 109)]. Für die Hegersfrau hingegen ist das Wasser ein Element »mit Raubtierseele« (T 110) [»dravčí duši« (P 104)], denn ihr einziger Sohn ist beim Bau der Moldautalsperre ums Leben gekommen, als er in einem Schacht verschüttet wurde. Ihr persönliches Leid gerät zu einer »Trauerfeier für alle Opfer der Talsperre« (T 110) [»na neustálou panychidu za všechny oběti přehrady« (P 104)]. Ihr erscheint »die Talsperre als mythischer Drache, als apokalyptisches Tier, das mit sturer [eigentlich: schwachsinniger/blöder, U.M.] Gefräßigkeit und rachsüchtiger Unersättlichkeit frißt und schlingt« (T 113) [»stála přehrada, mytický drak, apokalyptické zvíře, které žere a hltá s blbou žravostí a mstivou nenasytnosí« (P 107)]. Eindringlich warnt sie vor der Rache der vom Menschen unterjochten Natur. Im Unterschied dazu hat der Förster eine positive Einstellung zum Fortschritt und zur Zivilisation, die er als »Waffe gegen die Natur« [»zbraň proti přírodě« (P 105)] bezeichnet. Er beschreibt, wie die Menschen den Fluss nutzen, um ihr Vieh zu tränken, ihre Felder zu wässern und Mühlen anzutreiben. Der Förster artikuliert die Vorstellung eines Kampfes zwischen Mensch und Natur, den der Mensch für sich entscheiden müsse: »Civilizace je patrně takový boj člověka s přírodou. Myslím, že s ní musíme bojovat, musíme zavádět svůj zákon do jejího samoúčelného řadění. Celý lidský rod by zašel, kdybychom jí nedrželi ruce, vše uchvacující. Člověk s ní bojuje, třebaže bezpečně cítí svou nemohoucnost. Pravě na změnách, na plísni a rzi starých staveb může člověk zvážit svou nicotu před věčností, která trvá. Zatím si požijeme a mizíme, než si to pořadně uvědomíme. Stavíme-li přehrady, je to jen logické pokračování v boji.« (P 106) »Zivilisation ist der Kampf des Menschen mit der Natur. Meiner Meinung nach müssen wir mit ihr kämpfen, müssen wir ihrer selbstzweckhaften Ordnung unser Gesetz aufzwingen. Das ganze Menschengeschlecht müßte vergehen, wüßten wir nicht die gierig raffenden Hände der Natur festzuhalten. Der Mensch ringt mit ihr, selbst wenn er sich machtlos fühlt. [Gerade anhand der Veränderungen, anhand des Schimmels und des Rosts alter Bauwerke kann der Mensch seine Nichtigkeit vor der Ewigkeit, die fortdauert, erwägen. Dazwischen leben wir und verschwinden, ehe wir uns dessen richtig bewusst werden. Fehlt in der deutschen Übersetzung, U.M.]. Talsperren sind nur eine andere Form dieses Kampfes.« (T 112)
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Die vom Förster geäußerte Vorstellung vom Kampf des Menschen gegen die Natur lässt sich noch weiterverfolgen. Im Kapitel, das mit dem ersten Motiv aus Smetanas Moldau überschrieben ist, heißt es, die rurale Moldaulandschaft »wirkte mit ihrer Romantik auf den menschlichen Geist, belebte die dichterische Phantasie durch vollkommene Schönheit« (T 191) [»působila na lidského ducha romantismem, učinila se modlou poezie, tvarem dokonalé krásy« (P 176)]. In der Moderne tritt an die Stelle der Schönheit der Natur ein neues ästhetisches Ideal, wie die folgende Passage veranschaulicht: Vražedný zápas člověka se přírodou si také tvoří svou vidinu krásy: zázraky techniky. Eiffelova věž, zámořský parník Aquitainia, auto, které dostalo první cenu elegance, složité hydroplány a jednoplošní akrobati, ponorky, tanky a vodní přehrady jsou pomníky lidstva v boji s přírodou. (P 176) Im mörderischen Kampf mit der Natur hat sich der Mensch seine Vorstellung von Schönheit ausgebildet [eigentlich: […] bildet sich der Mensch seine Vorstellung von Schönheit, U.M.]: die Wunder der Technik. Der Eiffelturm, der Überseedampfer Aquitania, das preisgekrönte elegante Automobil, das komplizierte Wasserflugzeug, die akrobatischen Eindecker, Unterseeboote, Tanks und Talsperren sind denkwürdige Zeugen des Kampfes, den die Menschheit mit der Natur führt [eigentlich: […] sind Denkmäler/Mahnmale der Menschheit im Kampf mit der Natur, U.M.]. (T 191) Technik wird als moderne Form der Kunst vorgestellt, was sich anhand zahlreicher weiterer Textstellen belegen lässt.20 So gleicht beispielsweise für Greta der Bau der Talsperre einem »erlebte[n] Gedicht« (T 50) [»stavba přehrady jí byla básní« (P 47)]. An anderer Stelle heißt es, der »Techniker ist ein Künstler, der mit Fakten arbeitet« (T 81) [»Technik je umělec, který zachází s fakty« (P 78)] und John Fer, der Ingenieur und »Schöpfer der Talsperre« (T 195) [»tvůrce přehrady« (P 179)], wird mit einem Dirigenten verglichen (T 204; P 188]. Der führende Theoretiker der Zwischenkriegsavantgarde Karel Teige verlieh diesem neuen Ideal bereits Mitte der 1920er Jahre Ausdruck: »Flaubert napsal prorockou větu: ›Umění zítřka bude neosobní a vědecké‹. Bude to tedy ještě umění? Dnešní architektura, stavba měst, průmyslové umění je vědou. Není to umělecká tvorba, tryskající z romantického nadšení, ale prostá intensivní civilisační práce. Sociální technika.« (Teige 1924: 199) [Flaubert schrieb den prophetischen Satz: »Die Kunst von morgen wird unpersönlich und wissenschaftlich sein.« Wird es also noch Kunst sein? Die heutige Architektur, der Städtebau, die Industriekunst sind Wissenschaft. Nicht künstlerisches Schaffen, das
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An diesem Punkt sei noch einmal auf Nezvals Gedicht »Edison« verwiesen, in dem künstlerisches und technisches Schaffen zueinander in Beziehung gesetzt werden (Nezval 1999: 83-103).
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romantischer Begeisterung entspringt, sondern einfach intensive Zivilisationsarbeit. Sozialtechnik.]. Teige begreift Wissenschaft und Technik als neue Prinzipien des menschlichen Schaffens. Bemerkenswert ist außerdem, dass für ihn die moderne Stadt als Kristallisationspunkt der »Zivilisationsarbeit« im Zentrum einer neuen Kunstauffassung steht, die zudem eine soziale und politische Dimension hat: Nová, bezčetná a skvoucí krása světa je dcerou aktuelního života. […] Neusídlila se v katedrálách či galeriích; ven do ulic, v architektuře měst, v osvěžující zeleni parků, v ruchu přístavů a ve výhni průmyslu, jenž živí naše primérní potřeby, našla svůj domov. […] Obsáhla inženýrův výpočet a naplnila jej básnickou visí. Věda o stavbě měst, urbanismus, poskytla tak díla úchvatná a básnická; narýsován půdorys života, předobraz budoucnosti, utopie, jíž uskuteční rudá budoucnost. (Teige 1924: 198f.) Die neue, unermessliche und strahlende Schönheit der Welt ist die Tochter des gegenwärtigen Lebens. […] Sie hat sich nicht in Kathedralen oder Galerien angesiedelt; draußen in den Straßen, in der Stadtarchitektur, im erfrischenden Grün der Parks, im Trubel der Häfen und in der Esse der Industrie, die unsere primären Bedürfnisse nährt, hat sie ihr Zuhause gefunden. […] Sie hat die Berechnung des Ingenieurs erfasst und sie mit einer dichterischen Vision erfüllt. Die Wissenschaft vom Städtebau, der Urbanismus, hat uns Werke geliefert, die sowohl überwältigend als auch dichterisch sind; der Grundriss des Lebens ist gezeichnet, ein Vorbild für die Zukunft, eine Utopie, die eine rote Zukunft verwirklicht. Majerová zeigt Technik als Instrument des Menschen im Kampf mit der Natur, die in Gestalt der personifizierten Moldau auftritt und ihren ganz eigenen Willen hat: Vltava nad Štěchovicemi svedla s člověkem boj. Bránily se skály, a místo, kde stojí ohromná říční zdrž, stalo se hrobem mnoha lidí. Bránily se hlubiny země a zraňovaly ruce v nich pátrající. Bránila se voda úskočně a násilně, mobilizujíc leptající kapky i šílené obry vodní. Byly zatopeny kotle v elektrárnách, byly smeteny vesnice z povrchu země, pole byla svlečena oděvu prsti, ale neviditelné cosi bez tvaru a bez hmotné jsoucnosti, zvané lidský důmysl, rozdělilo tok řeky na dvě části a odvedlo je, pokorné ovečky na modré stuze, dvěma obloukovitými cestami do místa, kde se do útrob země vhryzává přehrada. (P 176f.) Von Štěchovice ab wehrte sich die Moldau gegen den Menschen. Die Felsen wehrten sich, und der Ort, an dem das ungeheure Staubecken entstand, wurde für viele Menschen zum Grabe. Die Tiefen der Erde wehrten sich gegen die Menschen, die in ihnen wühlten und forschten. Das Wasser wehrte sich arglistig und gewaltig, es mobilisierte sowohl seine ätzenden Tropfen als auch seine außergewöhnlichen Kräfte. Es überschwemmte die Kessel in den Elektrizitätswerken,
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es fegte ganze Ortschaften von der Erdoberfläche, es entkleidete die Äcker ihrer Schollen. Doch ein nicht wahrnehmbares Etwas ohne Form und materielle Gestalt, der sogenannte menschliche Scharfsinn, teilte den Lauf des Flusses in zwei Arme und führte sie gleich sanftmütigen Schäfchen am blauen Band auf gewundenen Wegen von der Stätte fort [eigentlich: an die Stätte, U.M.], wo die Grundmauer der Talsperre sich in die Tiefe der Erde fraß. (T 191f.) Der ewige Kampf zwischen Mensch und Natur wird dabei von Majerová durchaus ambivalent dargestellt. Einerseits durchziehen den Roman romantische Naturschilderungen, dieses Naturidyll wird jedoch im nächsten Moment durch den oft brutal wirkenden Eingriff des Menschen zerstört. Aber auch die Natur tritt als gewalttätiges, anthropomorphisiertes Wesen auf. Der Mensch und die Zivilisation tragen schließlich immer wieder den Sieg davon, d. h. durch seine Arbeit überwindet der Mensch die Natur (vgl. T 192; P 177). Die menschliche Arbeit wird idealisiert zum Sinn des Lebens und zum Kern der menschlichen Existenz: Je to pomyšlení trudné, nebo povznášející, že je zapotřebí práce, ustavičné práce, aby lidstvo udrželo, co si vymyslilo a vybudovalo? Požehnaná tvůrcí jiskra, jež v člověku znova a znova budí chuť do díla, do podnikání, do pochodů, do revolucí! Pravě na troskách straých světů, když všechno zklamalo a se zřítilo, nejlépe se pracuje elitě lidstva, nositelům životního optimismu. (P 178) Ist der Gedanke bedrückend oder erhebend, daß die Arbeit, unaufhörliche Arbeit vonnöten ist, der Menschheit zu erhalten, was sie erdacht und erschaffen hat? Gesegnet sei der schöpferische Funke, der im Menschen stets neu die Lust zum Werk, zu Unternehmungen, zum Vorwärtsschreiten, zur Revolution weckt! Gerade auf den Trümmern alter Welten, wenn alles enttäuscht ist und zerfällt [eigentlich: zerfallen ist, U.M.], kann die Elite der Menschheit am besten arbeiten, die Träger des lebenerhaltenen Optimismus. (T 193) Diese Elite ist nicht definiert durch gesellschaftlichen Status oder Reichtum, sondern durch ihre optimistische Einstellung zur Arbeit21 und eine Tatkraft, die sich nicht lähmen lässt. Dazu gehören »das ungeheure Getriebe von Arbeitermuskeln« [»mašinerii svalů«], das im »feinen Organismus des Baues« (T 192) wühlt [»v jemném ústrojí stavby« (P 177)]. Die »Spannung und Entspannung der Muskeln im wunderbaren Rhythmus [eigentlich: im wunderbaren Optimismus, U.M.] der Arbeit« wird zum »Boden, in dem das Leben am besten gedeiht« (T 193) [»Napínaní a smršťování svalů v zázračném optimismu práce, půda, v níž se životu nejlepé daří« 21
Als Gegensatz dazu ist die Figur des nihilistischen Milliardärssohnes aus den USA gestaltet, der keiner Arbeit nachgeht und erklärt: »Ale já jsem poznal marnost všech věcí příliš zblízka.« (P 193) [»Ich habe nur die Vergeblichkeit aller Dinge durch allzu große Nähe erkannt.« (T 210)].
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(P 177)]. Die Verflechtung von organischer und technischer Semantik deutet eine Möglichkeit zur Versöhnung der Gegensätze Zivilisation und Natur an, wie sie Majerová in der positiv gewerteten und freien Arbeit des Kollektivs verwirklicht sieht. Diese Arbeit bleibt unendlich, da der Kampf zwischen Mensch und Natur nie endgültig entschieden werden kann. Die unaufhörliche Arbeit dient dazu, die Errungenschaften der Menschheit zu erhalten und zu bewahren, die sich die Natur immer wieder zurückerobern will: »Zdá se, že této přestávky, kdy důmysl a technika opustily bojiště, využily všechny zosobněné síly přirodní, všechny mýty, aby se pomstily za svou porážku.« (P 178) [»Es schien, daß alle personifizierten Kräfte der Natur, alle Mythen diese Pause, in der Scharfsinn und Technik den Kampfplatz verließen, dazu benützten, sich für ihre Niederlage zu rächen.« (T 194)]. Der Mensch kann die Natur nur vorübergehend bezwingen und so bleibt es bei dem nie endenden Kampf zwischen beiden. Um dies zu illustrieren, schließt sich an die obige Textstelle die Beschreibung mythischer Naturwesen wie Dryaden, Undinen, Waldgeistern und Werwölfen an, die das Werk des Menschen während der winterlichen Baupause sabotieren. Wie in der griechischen Mythologie drohen demjenigen, der sie oder ihren Lebensraum stört, Rache und Strafe. Nichtsdestotrotz wird die Talsperre schließlich vollendet (vgl. T 194f.; P 179).
3.1
Exkurs. Zur stalinistischen »Wasserkultur«
Wie bereits erwähnt wurde, sieht Majerová in Moskau (bzw. Russland) das Vorbild für die sozialistische Revolution ihres fiktiven Prags. Es ist davon auszugehen, dass Majerová auch im Hinblick auf das Sujet des Romans von der sowjetischen Literatur und Kultur beeinflusst wurde. Eva Binder hat sich mit der Bedeutung des Wassers in der stalinistischen Sowjetunion beschäftigt und festgestellt, »dass der stalinistische Kult um das Wasser – Wasserkraftwerke, künstlich angelegte Kanäle und Bewässerungssysteme – über Fragen der ökonomischen Zweckdienlichkeit hinausging und weit in das Reich der Imaginationen und Jahrhunderte alter Träume hineinreicht« (Binder 2008: 319).22 Sie beruft sich auf den russischen Kultursemiotiker und Architekturhistoriker Vladimir Papernyj, der in diesem Zusammenhang von einer regelrechten »Wasserkultur« spricht. Deren Ausprägung untersucht Binder in Filmen, Propagandaplakaten, populären Liedern und literarischen Texten. Das Wasser sei eine Zielscheibe für den in der Sowjetunion ausgerufenen Kampf gegen die Natur gewesen, so Binder, und durch diesen Kampf mit dem Wasser seien natürliche und imperiale Räume in Kongruenz gebracht worden, indem Vorstellungen der Naturbeherrschung als Instrument politischer Herrschaft funktionalisiert worden seien. Der Bau der Talsperre, als ein solcher Kampf mit dem Wasser, 22
Vgl. dazu weiterführend auch Gestwa 2010 (vor allem S. 48-74), der sich mit den Stalinschen Großbauten im Kontext sowjetischer Technik- und Umweltgeschichte beschäftigt hat.
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tritt in Přehrada als eine Form des ewigen Kampfes des Menschen mit der Natur in Erscheinung, welcher als ein zentraler Topos des Romans identifiziert wurde. Dieser Antagonismus zwischen Mensch und Natur bleibt bei Majerová allerdings nicht unproblematisiert: Es finden sich beispielsweise immer wieder zivilisationskritische Passagen, ebenso ist die Natur in zahlreichen idyllischen Landschaftsschilderungen durchaus mit einer Eigenlogik ausgestattet. Letztendlich wird die Opposition zwischen Mensch und Natur nicht aufgelöst, sondern bleibt als produktives Spannungsfeld bestehen. Binder verweist in ihrer Studie auf den Schriftsteller und Wasserbauingenieur Andrej Platonov23 , der sich in einigen seiner Erzählungen und Romanen, z. B. in Die Epiphaner Schleusen (Епифанские шлюзы) (1926), Themen des Wasserbaus widmet. An dieser Stelle kann zwar keine vergleichende Untersuchung beider Autoren geleistet werden, allerdings wäre dies sicherlich ein interessantes und lohnenswertes Unterfangen. Die Diagnose jedenfalls, die Binder für Platonovs Werke stellt, kann auch für Majerovás Roman gelten: Dabei prägt den Erzähler Platonov eine Gespaltenheit zwischen dem Glauben an die Technik und grundlegenden Zweifeln an der konkreten Realisierbarkeit. In den Revolutionsjahren hing der junge Platonov der utopischen Vorstellung an, die Welt in kurzer Zeit durch Enthusiasmus und Organisation sowie mit Hilfe von Wissenschaft und Technik umgestalten zu können. Platonov gab diesen Glauben an die Umwandlung der Welt sowie auf wissenschaftlich-technischen Fortschritt später zwar nicht auf, doch die neu geschaffene Welt sollte nach Platonov auf ethisch-humanistischen und nicht auf wissenschaftlich-technischen Prinzipien basieren – es sollte eine Welt sein, die »von den Menschen im Mitgefühl füreinander geschaffen«24 wird. (Binder 2008: 333)
3.2
Poetologische Reflexionen II. Das Ringen um eine neue Kunst
Vor dem Hintergrund des diskutierten Spannungsfeldes zwischen Natur auf der einen und Zivilisation und Technik auf der anderen Seite soll nun noch einmal
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24
Übrigens erfuhr das Werk Platonovs in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit eine Wiederentdeckung. Platonovs lange als unübersetzbar geltender Roman Die Baugrube (entstanden 1929/30) wurde ins Deutsche übertragen und von der Kritik gefeiert. Im Frühjahr 2017 war Gabriele Leupold für ihre Übersetzung aus dem Russischen für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert (s. Andrej P. Platonov (2016): Die Baugrube. Übersetzt von Gabriele Leupold. Berlin: Suhrkamp). Binder zitiert an dieser Stelle Lola Debüser: »Die Utopien Andrej Platonows und seiner Helden (Novellen der zwanziger Jahre)«. In: Andrej Platonow (1987): Die Epiphaner Schleusen. Hg. v. Lola Debüser. München: Hanser, S. 334.
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nach Majerovás poetologischem Konzept gefragt werden. Ein entscheidendes Kapitel für den Kunstdiskurs im Roman ist »Oči bez panenek« [»Augen ohne Pupillen«], in dem zunächst wiederum der Gegensatz zwischen Stadt (Zivilisation) und Land (Natur) etabliert wird: Civilizace vytlačila přírodu z měst tak surově, že ji zesměšnila. Státi se v zápase směšným je nejkrutější druh porážky. […] Pod cihlovými galeriemi měst nikdy netušíš, chystá-li se na déšť; proto tě přívaly vždycky zkropí. Proto vláčíš, urbanisto, svůj deštník nepoužitý a mrzutě se rozpomínáš, kdes jej zase zapomněl. Za městem příroda tisícerým způsobem upozorňuje na přeháňku […]. (P 108) Die Zivilisation hat aus den Städten die Natur gewaltsam verdrängt und lächerlich gemacht. Beim Kampf lächerlich zu werden, ist die grausamste Art der Niederlage […] Unter den ziegelgemauerten Galerien der Stadt ahnst du niemals, ob Regen im Anzug ist; stets bist du in Gefahr, von einem Guß überrascht zu werden. Daher schleppst du, urbaner Mensch, deinen Regenschirm nutzlos mit dir herum und denkst verdrossen nach, wo du ihn wieder vergessen haben magst. Außerhalb der Stadt macht dich die Natur in tausenderlei Weise auf einen heranziehenden Regenschauer aufmerksam […]. (T 114) In dieser Beschreibung des naturfernen Großstadtlebens kommt ein zivilisationskritischer Impetus zum Ausdruck. Die Leseransprache innerhalb der in diesem Kapitel auktorialen Erzählsituation zielt darauf ab, eine als jedem großstädtischen Leser bekannt vorausgesetzte Erfahrung zu aktualisieren. Das großstädtische Leben, aus dem die Natur weitestgehend verdrängt ist, ist ganz konkret auf dem Wenzelsplatz situiert: »Na křižovatce Můstku jim ovšem připadá, že se vůl nenáležitě zachoval, a proto, opírajíce se o sedmipatrové pozadí, zachechtnou se mu jako anekdotě vypravované při sklenici piva« (P 108) [»In Prag an der Kreuzung Wenzelsplatz-Brückengasse [eigentlich: an der Kreuzung Můstek, U.M.] nähme er [der Ochse] sich jedoch ungehörig aus, und die vom Wolkenkratzer sich abhebenden Zuschauer amüsierten sich wie über eine wohlgelungene Anekdote [bei einem Glas Bier. Fehlt in der Übersetzung, U.M.]« (T 114)]. Es wird weiter beschrieben, wie der Großstadtmensch lediglich noch Hunde und Bäume als Überbleibsel von Natur in der als »Steinwüste« bezeichneten Stadt duldet und aus Profitgier durch Züchtung »Mißgestalten« aus ihnen macht (ebd.). Der Stadtraum ist voller Menschenmengen, morgens drängt man sich in überfüllte Straßenbahnwagen, am Abend verheißen Lichtreklamen, Neonröhren und Lichtspieltheater Vergnügungen für die Massen. Auch die Zeit ist bestimmt durch das städtische Leben, allerdings existiert sie nur noch mechanisch und sinnentleert in Form von Uhren: »Ráno, poledne a večer, tři půvabné prostocviky času, jsou v městech určovány toliko elektrickými orloji na věžích a na litých stojanech, strojky v kapsách u vesty a plochými šperky na něžných zápěstích.« (P 109) [»Morgen,
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Mittag, Abend, diese drei reizvollen Tageszeiten werden in den Städten allein von elektrischen Turm-, von gußeisernen Stand- und Wanduhren, von kleinen Uhrwerken in Westentaschen und flachen Kleinodien an zarten Handgelenken bestimmt.« (T 114)]. Ebenso ist das Denken der Menschen, sind ihre Anschauungen und Ideen, ganz und gar geprägt von der Stadt: »Civilizace zvítězila i nad pojmy. Venkovanu je obloha hodinami, měšťáku jsou hodiny oblohou.« (P 109) [»Auch über die Begriffe hat die Zivilisation gesiegt. Dem Landbewohner bedeutet der Himmel die Uhr, für einen Städter ist die Uhr zum Horizont [eigentlich: zum Himmel, U.M.] geworden.« (T 115)]. In der Stunde vor der Morgendämmerung jedoch, wenn kaum Passanten zu sehen sind und stattdessen Amseln und Drosseln in den Straßen singen, bietet sich ein ruhigeres, friedlicheres Bild der Stadt dar: Všecko spí anebo mře; průčelí činžáků a staré zahrady. Jen sochy nad vraty kostelů, na podstavcích náměstí, řadou podle mostu a nad záhony rovů žijí v nečasovém a neosobním světle, v jediné vhodné paspartě pro jejich existence. V perleťové atmosféře, spojující nenásilně skutečné s neskutečným, oblohu s městem, ptáka s pomníkem, zazněl v usedlosti zvané Fišerka přátelský hlas sochaře Jana […]. (P 110) Alles schläft oder stirbt; die Giebel der Mietskasernen und die alten Gärten. Nur die Statuen über den Kirchtoren, auf den Sockeln der großen Plätze, in der Reihe auf der Brücke und zu Häupten [eigentlich: und über den Beeten, U.M.] der Gräber leben in zeitlosem und unpersönlichem Licht, dem einzig schicklichen Passepartout ihrer Existenz. Im Perlmutterglanz der Atmosphäre, die das Wirkliche mit dem Unwirklichen sanft verbindet, den Himmel mit der Stadt, den Vogel mit dem Denkmal, ertönte in einem Gehöft, der sogenannten Fišerka, die freundschaftliche Stimme des Bildhauers Jan […]. (T 116) In der Morgendämmerung wird auf die Statuen im städtischen Raum fokussiert, die auf den Plätzen, der unschwer zu erkennenden Karlsbrücke und den Friedhöfen stehen – man denkt hier natürlich zuallererst an den Slavín auf dem Vyšehrad mit seinen kunstvollen Grabmälern. In diesem Setting zwischen Tag und Nacht verbindet sich »das Wirkliche mit dem Unwirklichen«; Natur und Kunst sind vorübergehend keine Gegensätze, sondern verschmelzen miteinander. Ausgehend von den Statuen und der Bildhauerei entspinnt sich ein ästhetischer Diskurs über das Wesen der Kunst. Die auftretenden Figuren, der »Löwe der tschechischen Bildhauerei« (T 117) Josef Václav Myslbek (1848-1922) und sein Schüler Jan Štursa (1880-1925), die als reale Personen zur Zeit der Romanentstehung schon nicht mehr lebten (deren Ansichten somit zunächst als in die Vergangenheit gehörend ausgewiesen werden), diskutieren über den Stellenwert der Kunst im öffentlichen Raum. Auf der Handlungsebene hat Jan Štursa von der schadhaften Talsperre und der daher bevorstehenden Evakuierung Prags gehört und warnt
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seinen Lehrer Myslbek. Štursa will seine Statuen, die in der Stadt verteilt sind, vor der drohenden Überflutung retten. Dabei wird Bezug genommen auf die von Myslbek tatsächlich geschaffenen Skulpturen in Prag, z. B. Záboj und Slavoj sowie Libuše (vgl. P 111), die sich heute noch auf dem Vyšehrad befinden, und das Denkmal für Karel Hynek Mácha auf dem Prager Petřín. Die Romanfigur Myslbek äußert in der folgenden längeren Textstelle Kritik an der modernen Kunst. Er macht eine Epochenschwelle aus, an der sich das ästhetische Verständnis gewandelt habe: »Odešli jsme právě včas. Svrchovaný čas, že jsme udělali fajrunt. Zavřeli jsme epochu. Kdo přišli po nás, nemají své sochy už kam dát. Už to stavějí doprostřed Vltavy! A jak nás pomlouvají! Sochy že jsou sochařská záležitost. Umělecký průmysl. Příležitostné umění. Sochař že se neinspiruje, dokud nedostane objednávku. Socha je pro ně dnes projev řemeslné schopnosti, a ne výbuch tvořivé vášně. […] Pak že nesmí malý národ hazardovat uměleckými díly! Neruda, Vrchlický, Smetana… už jim nedají nic… kam by to postavili? Nemají pro to místa v světě hmot, jako nemají místa v své duši pro pietu, symbol, krásu. Jako by každé umělecké dílo nebylo svědkem kulturního vývoje. A vlastně, je to pravda! Jaký vývoj, jaká tradice, jaký růst? Když se někdo v Paříži vydělal na talíř a bylo to moderní, hned se u nás někdo našel a dělal to po něm. Ale vono to nemělo ten čuch. […] Oni dnes nemohou včlenit pomník do výsavby města! Podívejte se na ně! Pomník už nemá mravní ani estetický význam! […] V dnešních velkoměstech jsou sochy vůbec anachronism. Stojí na náměstích jako žebráci. Natahují ruce, a nikdo si jich nevšímá. […] Dílo? Hračka v prostředí, kde stojí. Umění? Zbytečnost pro ty, kdož se hemží okolo! Gotika mezi mrakodrapy.« (P 111f.) »Wir sind gerade rechtzeitig abgetreten. Höchste Zeit, daß wir Feierabend gemacht haben. Wir haben die Epoche abgeschlossen. Wer nach uns kommt, wird nicht mehr wissen, wo er seine Statuen lassen soll! Mitten in der Moldau müßten sie sie aufstellen! Und wie sie uns verleumden! Statuen sollen Sache der Bildhauer sein! Kunstgewerbe. Gelegenheitskunst. Ein Bildhauer habe keine Inspiration, solange er keinen Auftrag erhalte. Heute ist eine Statue für sie Ausdruck handwerklicher Fähigkeiten und nicht der Ausbruch schöpferischer Leidenschaft. […] Eine kleine Nation sollte mit ihren Kunstwerken nicht hazardieren dürfen! Neruda, Vrchlický, Smetana… für die gibt’s nichts mehr… wo könnten sie aufgestellt werden? Dafür ist in ihrer materiellen Welt kein Platz, genauso wenig, wie in ihrer Seele Platz [für Pietät, für das Symbol. Fehlt in der Übersetzung, U.M.] für Schönheit geblieben ist. Als wäre nicht jedes Kunstwerk Zeuge der kulturellen Entwicklung! Und das ist eigentlich die Wahrheit! Was für eine Entwicklung, Tradition, Wachstum? Servierte man in Paris einen Dreck ›à la mode‹, fand sich gleich bei uns einer, der’s nachmachte. Nur hatte es nicht mehr den Reiz. [Eigentlich: Als jemand in Paris auf den Teller gemacht hat und es war modern, gleich fand sich bei uns je-
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mand, der es ihm nachgemacht hat. Aber es hatte nicht denselben Geruch. U.M.]. […] Heute versteht man nicht mehr, ein Denkmal in den Stadtplan einzugliedern! […] Ein Denkmal hat weder moralische noch ästhetische Bedeutung! […] Statuen sind in den heutigen Großstädten überhaupt ein Anachronismus. Sie stehen wie Bettler auf den Plätzen herum. Strecken einen Arm aus, und niemand beachtet sie. […] Das Werk? Ein Spielzeug in der Umgebung, wo es steht. Kunst? Unnütz für diejenigen, die da herumwimmeln! Gotik zwischen Wolkenkratzern. […]« (T 118f.) Für Myslbek ist der Übergang zur neuen Epoche durch eine veränderte Kunstauffassung, vor allem in der Bildhauerei, gekennzeichnet. Statt der künstlerischen Inspiration ist nun der Auftrag Anlass zur Schaffung eines Werks, kurzum: Auftragskunst statt künstlerischem Genius. Myslbek beklagt die damit verbundene Ökonomisierung der Kunst. Diese drückt sich in Begriffen wie »Gelegenheitskunst« und »Kunstgewerbe« aus, die er negativ beurteilt. Nicht mehr der schöpferische Akt steht im Vordergrund, sondern die handwerkliche Seite des Kunstwerks. Seiner Meinung nach hat die moderne materialistische Weltanschauung das Ideal der Schönheit verdrängt. Die Kommerzialisierung der Kunst schlägt sich auch im öffentlichen Raum nieder, wo es keinen Platz mehr für die Denkmäler von Künstlern wie Smetana oder Vrchlický gibt. Myslbek nimmt an dieser Stelle ganz deutlich Bezug auf die identitätsstiftende Funktion solcher Denkmäler für das Narrativ einer nationalen Idee. Der historische Myslbek, der vor allem als Schöpfer des Reiterdenkmals des Heiligen Wenzel (1912 auf dem Wenzelsplatz errichtet) bekannt geworden ist, gilt als einer der Begründer der modernen tschechischen Bildhauerei. Viele seiner Werke, die sich je nach Entstehungszeit dem Klassizismus, dem Jugendstil und später einem monumentalen Realismus zuordnen lassen, thematisieren den kulturellen Aufstieg Böhmens im Zuge der nationalen Wiedergeburt und strahlen nicht selten nationalkulturelles Pathos aus (vgl. Stehlík 1978). Majerovás fiktiver Myslbek bedauert, dass eine solche nationalkulturelle Bedeutungsebene der Kunst in der neuen Zeit nicht mehr existiere. Myslbek plädiert für die Bewahrung auch dieser ›alten‹ Kunstwerke, da sie Tradition ebenso wie Entwicklung sichtbar machen. Früher wurden diese Erinnerungsorte in Form von Denkmälern, die in das Stadtbild eingegliedert waren, präsent gehalten und trugen »moralische [und] ästhetische Bedeutung«. In den modernen Großstädten sieht Myslbek diese Erinnerungsträger nun nicht mehr zu ihrer Geltung kommen. Vor allem Paris als Inbegriff der Moderne wird mit dem Vorwurf der Mode um jeden Preis überzogen. Myslbek nennt Statuen einen »Anachronismus« und bedauert das Desinteresse, das ihnen von den Stadtbewohnern entgegengebracht wird. Kunst und Ästhetik haben im Gewimmel der Großstadt an Bedeutung verloren.
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»Měli jsme přestat u Svobody z novoyorského přistavu. To je poslední výhonek, elefantiasis evropského sochařství. Ostatně: architektura dneška se obejde bez sochaře. Zavrhla také ornament. Má ta vaše strašidelná přehrada nějaký basreliéf, hlavici na sloupu, orla na soklu? Že nemá nic, viďte? Je jistě holá jako zadnice.« (P 112f.) »Wir hätten mit der ›Freiheitsstatue‹ im New Yorker Hafen aufhören sollen. Das war der letzte Sprößling, Elephantiasis der europäischen Bildhauerei. Übrigens: Die Architektur kommt heutzutage ohne Bildhauer aus. Sie hat auch das Ornament verworfen. Hat eure gespensterhafte Talsperre etwa ein Basrelief, Köpfe auf Säulen, Adler auf Sockeln? Nichts hat sie, nicht wahr? Sie ist sicher kahl wie ein Hintern.« (T 119) Myslbek setzt seine Kritik an der modernen Bildhauerei fort, indem er sich gegen die Schmucklosigkeit der modernen Architektur wendet, die die Talsperre für ihn verkörpert. Als letztes Werk europäischer Bildhauerkunst lässt Myslbek die von dem Franzosen Frédéric-Auguste Bartholdi geschaffene neoklassizistische Freiheitsstatue (1886 eingeweiht) in New Yorker gelten und verwirft die moderne Architektur in Form der Talsperre als schmucklos und »kahl«. Daran wird die zeitgenössische Diskussion um das Neue Bauen virulent, welches bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erprobt wurde. Hildegard Kretschmer schreibt dazu in ihrer Einführung in Die Architektur der Moderne (2013): Die architektonische Diskussion wandte sich nun verschärft dem Widerspruch zwischen moderner Konstruktion und unzeitgemäßem Dekor zu. Dies ist vor dem Hintergrund der zahlreichen Reformansätze der Zeit, dem Postulat des Jugendstils nach der Totalität der Kunst, nach einer im Gesamtkunstwerk alle Lebensbereiche erfassenden Kunst zu sehen. Basis war das für das späte 18. und 19. Jh. typische Denken, für das sich der Ablauf der Geschichte in Epochen vollzog.25 […] Die Vertreter der Moderne zu Beginn des 20. Jh.s suchten dagegen nach neuen Ausdrucksformen, die aus den technischen und gesellschaftlichen Veränderungen abgeleitet wurden und zugleich mit dazu beitragen sollten, die negativen Auswirkungen dieser Umwälzungen zu beseitigen oder zumindest zu mildern. Ziel war eine bessere, gerechte Gesellschaft, die sich mit Hilfe der technischen Möglichkeiten von den alten Zwängen emanzipieren sollte. (Kretschmer 2013: 54f.) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konkurrierten demnach verschiedene architektonische Vorstellungen miteinander: Die avantgardistischen Bewegungen sahen in der Architektur ein Mittel zur Verbesserung der allgemeinen Lebenssituation, die 25
Vgl. dazu Myslbeks Einschätzung, an einer Epochenschwelle zu stehen, in oben zitierter Textpassage.
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mit den technischen Neuerungen Schritt halten musste. Demgegenüber hielten die konservativ geprägten Strömungen an den Werten und Idealen einer Überhöhung durch die Kunst fest. In der Tschechoslowakei repräsentierten diese beiden Pole ab den 1920er Jahren der architektonische Kubismus, der die künstlerische Kreativität und Subjektivität als maßgeblich ansah, auf der einen und der Funktionalismus, der die Architektur als objektive Wissenschaft etablieren wollte, auf der anderen Seite. Allen voran wurde Karel Teige zu dem Theoretiker des Neuen Bauens in der Tschechoslowakei. Die brennenden Fragen lauteten: Wie lassen sich Kunst und Technik miteinander verbinden? Und wie sieht eine zeitgemäße Ästhetik aus, die den realen Lebensumständen Rechnung trägt?26 Diese Fragen stellt auch Majerovás Přehrada. Die Figur des Architekten und Talsperren-Baumeisters John Fer kann als Vertreter des Neuen Bauens gesehen werden. So heißt es etwa über seine Idee zum Bau der Talsperre: »Formy zrozené z živlů, bez tradice, bez ornamentu.« (P 98) [»Formen, die aus der gegebenen Formation herauswuchsen, ohne Tradition, ohne Ornamente.« (T 103)]. Der Kerngedanke des Funktionalismus (bzw. des Konstruktivismus, was in den 1920er Jahren der gebräuchlichere Terminus war) bestand darin, dass der Zweck eines Bauwerks automatisch seine Form vorgibt. Damit ging notwendigerweise die Ablehnung der Vorstellung eines kreativen Schöpfer-Subjekts einher (vgl. Švácha 2000: 24). John Fer bezeichnet sich selbst als »Künstler, der mit Fakten arbeitet« (T 81) [»Technik je umělec, který zachází s fakty« (P 78)]. In einem Gespräch erwidert John Fer auf den Einwand, ein Künstler sei ohne Phantasie kein Künstler: »Ein Techniker darf Tatsachen weder übersehen noch unterschätzen. Er hat all seine Eigenschaften, Neigungen und Fehler in strenge Zucht zu nehmen, alles hat er dem Werk unterzuordnen.« (Ebd.) [»Technik nesmí přehlížet a nedoceňovat fakta, všechny své vlastnosti, sklony a chyby musí přísně ukáznit, podřídit všechno dílu.« (Ebd.)]. Das bedeutet, nicht die Phantasie des Künstlers, sondern das Werk als solches steht im Mittelpunkt. Karel Teige schreibt in seiner Abhandlung K theorii konstruktivismu (1928) [Zur Theorie des Konstruktivismus]:
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Hildegard Kretschmer bemerkt zusammenfassend: »Bloße Zweckerfüllung und Nützlichkeit wurden nun als alleinige Voraussetzung für Schönheit erachtet. Sie galten auch als ökonomisch sinnvoll und damit als moralisch vertretbar. Das, was der Historizismus unter Kunst verstand, war Dekoration, somit nicht wirklich nützlich, damit also unmoralisch. Im Bereich der Gestaltung wurde der Schwerpunkt weg von der Ansicht auf die Struktur verlagert – die Konstruktion, die Funktion, die Materialgerechtigkeit. Der Funktionalismus war geboren. Und eigentlich auch eine Architektur, die sich ähnlich wie die bildenden Künste der Zeit auf ihre eigenen Grundkonstanten besann. Zum neuen Leitbild wurden Fabrikbauten – vor allem amerikanische – und die Maschine, deren Präzision und Funktionsweise, deren durch und durch rational-logisches Prinzip, das auf viele Lebensbereiche übertragen wurde.« (Kretschmer 2013: 57).
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Architektura již dává naše doba absolutně novou techniku, nové materiály a konstruktivní způsoby a již táž doba postavila před úkoly odlišné od těch, jimž měla sloužiti v náboženském a feudálním středověku, vyděluje se rovněž ze svazku výtvarných umění, přestává býti uměním a dekorativním řemeslem, stává se vědou, technikou, průmyslem. (Teige 1928 zit. n. Švácha 2000: 16) Die Architektur, der unsere Zeit eine absolut neue Technik, neue Materialien und Konstruktionsmethoden gibt, und die dieselbe Zeit vor ganz andere Aufgaben gestellt hat als die, denen sie im religiösen und feudalen Mittelalter diente, trennt sich gleichermaßen aus dem Verbund der bildenden Künste heraus, sie hört auf, ein künstlerisches und dekoratives Handwerk zu sein und wird eine Wissenschaft, eine Technik, eine Industrie. Teige zufolge ist die neue Architektur also weniger eine Kunst als vielmehr eine Wissenschaft, bei der es um »exakte, rationale und methodische Arbeit geht« [»jde o práci exaktní, racionální a metodickou«] (Teige 1928, zit. n. Švácha 2000: 17). Dabei sieht Teige den Architekten der Avantgarde jedoch nicht als »Handwerker, der nach den Wünschen der Klientel arbeitet« [»řemeslníka, pracujícího podle přání klientely«], sondern als »Wissenschaftler, der die elementaren Probleme in ihrer Reinheit analysiert, ohne Rücksicht auf die Postulate der herrschenden Klasse« [»vědce, analyzujícího elementární problémy v jejich čistotě, bez ohledu na panující třídní postuláty« (Teige 1928, zit. n. Švácha 2000: 17)]. Damit steht auch bei Teige die Kritik an einer Auftragskunst, wie sie Majerovás Myslbek artikuliert. In Übereinstimmung mit anderen europäischen Avantgarden, die darum bemüht waren, die neue Architektur als Wissenschaft zu etablieren, ist Teiges Denken der 1920er und frühen 1930er Jahre beeinflusst vom Marxismus und der Zukunftsvision einer sozialistischen Gesellschaftsordnung: »Svět je dnes ovládán penězi, kapitalismem. Socialismus znamená, že svět má být ovládán rozumem a moudrostí, ekonomicky, cílevědomně, užitečně. Metodou této vlády je konstruktivismus« (Teige 1924: 203) [Die Welt wird heute vom Geld, vom Kapitalismus beherrscht. Sozialismus bedeutet, dass die Welt durch Verstand und Weisheit beherrscht werden soll, ökonomisch, zielbewusst, nützlich. Die Methode dieser Herrschaft ist der Konstruktivismus.]. Warum die Architektur sein Mittel der Wahl zur Veränderung der bestehenden Weltordnung ist, begründet Teige folgendermaßen: Architektura, která chce být vědou, která tedy chápe, že není jejím posláním práce na zakázku v mezích daných poměrů, nýbrž radikální a čisté řešení problémů, které posunuje vývoj vpřed a které směřuje právě k překonání těchto stávajících poměrů, vypracovává laboratorní prací návrhy obydlí a měst, jež jdou až na kořeny hospodářské struktury a které by v praxi a v realizaci znamenaly změnu společenských poměrů a způsobů a následovně i změnu ostatních oblastí životních, měly by svou odezvu v politice i v etice. (Teige 1928 zit. n. Švácha 2000: 18)
VIII. Polyphones Panorama der modernen Großstadt
Eine Architektur, die Wissenschaft sein will, die also versteht, dass ihre Mission nicht die Arbeit auf Bestellung im Rahmen der gegebenen Verhältnisse ist, sondern die radikale und klare Lösung von Problemen, die die Entwicklung voranbringt und die eben auf die Überwindung dieser bestehenden Verhältnisse abzielt, arbeitet mit Hilfe laboratorischer Arbeit Entwürfe für Wohnungen und Städte aus, die bis an die Wurzeln der ökonomischen Struktur gehen und die in der Praxis und in der Realisierung die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Formen bedeuten würden und in der Folge auch die Veränderung der übrigen Lebensbereiche, die ihren Widerhall in der Politik und der Ethik hätten. Die Überzeugung, das Leben der Menschen und die bestehenden Verhältnisse zu verbessern, äußert auch John Fer in dem Kapitel, das mit »Také Revoluce má své režiséry« [»Auch die Revolution hat ihre Regisseure«] überschrieben ist: »[T]echnika […] staví jen to, co se rentuje, tedy je lidstvu na prospěch! Jsem moderní technik a postavil jsem přehradu, protože jsem přesvědčen o jejím užitku a o tom, že se bude rentovat. […] Vám se nyní rentuje stavět přehrady, hydrocentrály a elektrizovat země. Váš Lenin řekl, že komunism je sovětská vláda plus elektrizace.« (P 79f.) »[Die Technik baut nur das,] was sich rentiert, das heißt der Menschheit von Nutzen ist! Ich bin ein moderner Techniker und habe die Talsperre gebaut, weil ich von ihrer Nützlichkeit überzeugt bin und weiß, daß sie sich rentieren wird. […] Für euch rentiert es sich, Talsperren zu bauen, Hydrozentralen einzurichten und das Land zu elektrifizieren. Euer Lenin hat gesagt, Kommunismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung.« (T 81f.) Nicht zuletzt hat also der Bau der Talsperre gerade auch für die sozialistische Utopie Majerovás zentrale Bedeutung. Das damals größte Wasserkraftwerk der Welt entstand zwischen 1927-1932 in der Sowjetunion und wurde am 1. Mai 1932 eingeweiht. Der Bau des Wasserkraftwerks war Teil des GOELRO-Plans, des Staatsplanes zur Elektrifizierung Russlands. Das Leninsche Wort »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes« wird im Roman mehrfach zitiert (vgl. T 81; T 82; T 303). Damit ist ein zentrales Anliegen des Romans beschrieben, der eben der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Technik sowie nach einer besseren Gesellschaftsordnung nachgeht. Allerdings gibt Majerová darauf keine einfachen oder eindeutigen Antworten. Ihr Roman ist ein Mit- und Gegeneinander verschiedener Stimmen und spiegelt vielmehr das Ringen um Antworten wider. So wird Myslbek und damit die von ihm vertretene Position teilweise ironisiert – allein schon durch den Umstand, dass die historische Figur beim Erscheinen von Přehrada bereits seit zehn Jahren tot war. Dadurch wird er zwar
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
einerseits als Anhänger einer alten, überkommenen Weltanschauung porträtiert, dennoch, so meine ich, sind einige seiner Äußerungen, in denen eine gewisse Nostalgie mitschwingt, durchaus ernst zu nehmen. Majerová greift in Přehrada die Diskussion um das Neue Bauen, um den Beitrag der Architektur und der Kunst zu einer neuen Gesellschaftsordnung ebenso auf wie die Suche nach einer gelingenden Verbindung von Kunst und Technik, die damals auch Strömungen wie den Russischen Konstruktivismus, das Bauhaus oder De Stijl beschäftigten. Allerdings ist sie weit davon entfernt, einem ›nackten‹ Rationalismus zu huldigen, denn in Přehrada finden sich ebenso zahlreiche Landschafts- und Naturschilderungen geradezu romantischer Couleur, beispielsweise in den beiden Moldau-Kapiteln. Dem rational-logischen Prinzip des Neuen Bauens steht außerdem wiederholt der Einbruch des Phantastischen in die Diegese entgegen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Szene, die sich an Myslbeks kritische Ausführungen anschließt: Tak se stalo, že přede dnem, v podivuhodném osvětlení prostoru, nečasovém a vyjadřujícím věčnost jako světlo v spodních vrstvách mořských vod, kde není hodin ani let, spustil hřebec pod knížetem Václavem na náměstí obě zdvižené nohy, podle vzoru svého slavného předka Šemíka skočil až k Vodičkově ulici a zvonivě kráčel po dlažbě. (P 113) So geschah es, daß vor Tag, in der seltsamen Beleuchtung der zeitlosen verklärten Ewigkeit, die wie Licht in den tiefsten Meeresgewässern schimmert [eigentlich: in der seltsamen Beleuchtung des zeitlosen Raumes, der die Ewigkeit ausdrückt wie Licht in den tiefsten Meeresgewässern, U.M.], wo weder Stunde noch Jahresablauf gilt [eigentlich: wo weder Stunden noch Jahre gelten, U.M.], der Hengst mit dem Fürsten auf dem Wenzelsplatz beide erhobenen Beine auf den Boden setzte und nach dem Vorbild seines Ahnen Šemík bis zur Wassergasse sprang und klingend über das Pflaster trabte [eigentlich: schritt, U.M.]. (T 120) Dem berühmten Reiterstandbild des tschechischen Nationalheiligen Wenzel schließen sich weitere zum Leben erweckte Statuen Myslbeks und Štursas an, um sich vor der drohenden Überflutung auf die Prager Anhöhen zu retten. Die Szene endet mit dem intertextuellen Verweis auf die in tschechischen Märchen gebräuchliche magische Formel »mlha přede mnou, mlha za mnou« (P 114) [»Nebel vor mir, Nebel hinter mir« (T 121)].27
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Zum Beispiel im Märchen »O Popelce« von František Ladislav Popelka. In: Pověsti a báchorky. Polička: Nakladatelství F. L. Popelky, 1888, S. 15-28.
VIII. Polyphones Panorama der modernen Großstadt
Resümee In Majerovás utopischem Roman Přehrada steht einem geradezu mystischen Pragbild, das einerseits das Phantastische integriert und das andererseits durch die Toponyme im realen Stadtbild konkret verortbar ist, die Wahrnehmung Prags durch den amerikanischen Milliardärssohn Sir Robins entgegen: »Úzké a křivé ulice v něm probouzely nepříjemný, dusivý pocit, jaký míval v přístavních nebo přistěhovaleckých čtvrtích. Štukatérské vzorníky na tvářích domů uváděly v zuřivost jeho smysl pro účelnou krásu.« (P 166f.) [»Die engen, krummen Gäßchen [eigentlich: Gassen, U.M.] weckten in ihm ein unangenehmes, erstickendes Gefühl, das ihn in Hafen- oder Auswanderervierteln (eigentlich: in Hafen- oder Einwanderervierteln, U.M.] zu überkommen pflegte. Die Stuckornamente der Häuserfronten brachten seinen Sinn für zweckhafte Schönheit in Raserei.« (T 180)]. Robins gehört also seinem ästhetischen Empfinden nach zu den Anhängern des Funktionalismus und des Neuen Bauens. Als Bewohner der ›Neuen Welt‹, wo bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert die ersten Wolkenkratzer der Chicago School entstanden, fühlen er und sein Begleiter sich im mit Geschichte aufgeladenen und durch die mittelalterliche Architektur geprägten Prag als Fremde. [A]le že si každým krokem uvědomují svou odlišnost od dláždění, domů, Iídí i vzduchu, cítí se cizími tělísky v organismu tohoto města. Připadalo jim jediným velikým hotelovým pokojem, kde nikdy nezdomácnějí […]. Proto se jim, když došli k řece, líbilo panoráma Hradčan jako hezká rytina, náhodou pověšená v průvanu veřejné chodby. (P 167f.) [S]ie waren sich auf Schritt und Tritt ihrer Überlegenheit [eigentlich: ihrer Andersartigkeit, U.M.] bewußt, die sie vom Straßenpflaster, den Häusern, den Menschen, ja selbst der Luft unterschied. Sie empfanden sich als Fremdkörper im Organismus dieser Stadt. Sie erschien ihnen wie ein einziges großes Hotelzimmer, in dem sie sich niemals heimisch fühlen könnten […]. Als [eigentlich: Deshalb, als, U.M.] sie zum Flußufer kamen, gefiel ihnen das Panorama der Burg wie eine schöne Radierung, die zufällig in einem öffentlichen Durchgang aufgehängt wurde. (T 181) Wiederum bleibt eine gewisse Offenheit des Textes festzustellen; die Fremdheitserfahrung, die Prag in den Figuren, die dem Konstruktivismus nahestehen, auslöst, lässt dennoch Raum für das ästhetische Erlebnis, das die Aussicht auf die Burg hervorruft. Sie kommt ihnen vor »wie eine schöne Radierung«, also wie ein Kunstwerk. Dadurch werden Prag und seine Architektur in die Diskurse um eine neue Kunst und eine neue Ästhetik einbezogen. In einem metapoetischen Kommentar hebt Majerová zudem die Bedeutung der Perspektive hervor: »I věci nejvelikolepější se musí zmenšit a zmalichernit, aby se
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přiblížily lidskému chápání; Montblank se smrskuje do několika milimetrů aby se vešel do lidského oka.« (P 61) [»Die wichtigsten Dinge [eigentlich: Auch die großartigsten Dinge, U.M.] müssen geringer gemacht werden, sollen sie dem menschlichen Begriffsvermögen faßlich sein; der Mont Blanc muß auf einige Millimeter zusammenschrumpfen, soll das menschliche Auge ihn ganz aufnehmen.« (T 64)]. Dies geschieht zum Beispiel, indem komplexe Problemfelder in individualisierte, an einzelne Figuren geknüpfte Aspekte zergliedert und auf diese Weise aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. In diesem Sinne kann die polyperspektivische Darstellungsweise des Romans, bei der teils widersprüchliche Aspekte durch verschiedene Figuren artikuliert werden, indem das Geschehen aus deren Sicht geschildert wird, als Prinzip verstanden werden. Um mit Bachtin zu sprechen, wird dadurch Dialogizität hergestellt. So können die teilweise konkurrierenden Äußerungen und Ansichten einzelner Figuren als »Mikrokosmos der Redevielfalt«, der die »sozioideologischen Stimmen der Epoche« (Bachtin 1979: 290) fächerartig ausbreitet, aufgefasst werden. In Majerovás polyphonem Roman ergänzen und brechen sich viele unterschiedliche Stimmen, Perspektiven, Weltanschauungen und eben auch Pragbilder. Die Perspektive des Fremden (Sir Robins) steht neben der Perspektive der ihre Stadt liebenden Prager Studentin Horná (vgl. T 150-154; P 141-144), ebenso wird die Sicht der armen Kinder aus Podskalí neben das Pragbild des reichen Industriellen Kesczemet (T 273f.; P 250f.) gestellt, der mehrere Villen in den besten Vierteln der Stadt besitzt. So ergibt sich kaleidoskopartig ein breit aufgefächertes Panorama der Stadt. Die Stadtdarstellungen reichen von präzisen Milieuschilderungen, über die Markierung Prags als Ort der Synthese von Vergangenheit und Zukunft sowie der Synthese von Natur und Zivilisation, bis hin zur Darstellung Prags als zweisprachige Stadt. Darüber hinaus ist Prag eingebunden in die Suche nach einer neuen Ästhetik, nach einem neuen Schönheitsbegriff. Nicht zuletzt wird die Stadt durch die sozialistische Revolution auch politisch aufgeladen. Es kann festgehalten werden, dass Majerovás poetologische Reflexionen und die Diskussion über eine moderne Kunstauffassung in engem Zusammenhang stehen mit der Utopie einer besseren Gesellschaft. Was sie als Autorin der Avantgarde auszeichnet, ist, dass sie diese Fragen stellt und dem Leser statt einer eindeutigen Antwort eine vielstimmige Diskussion vorlegt, die zudem zwischen verschiedenen literarischen Stilen und Traditionen changiert. Auf diese Weise entwirft Marie Majerová ein vielschichtiges Pragbild, das zwischen moderner Großstadt und geschichtsträchtigem Erinnerungsort, zwischen Technik und Phantasie, zwischen Stadt- und Landleben, zwischen Zivilisation und Natur oszilliert.
IX. Schluss
1.
Rückblick
Abschließend werden die zuvor in Einzeluntersuchungen analysierten ›Stadttexte und Selbstbilder‹ in Beziehung zueinander gesetzt, um sozusagen einen ›panoramatischen Blick‹ auf das Prag der Moderne zu werfen. Den Ausklang bildet schließlich eine Analyse von Franz Kafkas Prosastück Eine Kreuzung (1917), mit der ich noch einmal das Potenzial und das Anliegen der vorliegenden Arbeit herausstellen möchte. Ohne die einzelnen Autorinnen und Autoren auf einen spezifischen Standpunkt festlegen zu wollen, lassen sich ausgehend von der Modellierung Prags in den untersuchten Primärtexten Aussagen darüber treffen, wie sich die Autorinnen und Autoren innerhalb des interkulturellen Prager Kontexts zu den unterschiedlichen Identitätskonstruktionen in Beziehung setzen und wo sie sich mit ihrem spezifischen Text innerhalb der Moderne verorten. Dabei stehen die untersuchten, äußerst diversen Stadt- und Identitätsentwürfe gleichberechtigt nebeneinander und waren bzw. sind im städtischen Alltag immer wieder Aushandlungsprozessen unterworfen. Der Raum als Organisationsprinzip des Nebeneinanders bot die für die Untersuchung notwendigen Voraussetzungen, um die Vielfalt gleichzeitiger und zum Teil konkurrierender Pragbilder und Identitätsentwürfe zu beschreiben. Erst in ihrer Gesamtheit können die untersuchten Texte einen Eindruck davon geben, wie vielschichtig die literarischen Pragbilder und individuellen sowie kollektiven Identitätsdiskurse im ebenso vielschichtigen urbanen Raum beschaffen sind, wie ich nun noch einmal vor Augen führen möchte. Angesichts der Vielzahl von ›Stadttexten und Selbstbildern‹ innerhalb der Prager Moderne(n) muss sich eine Untersuchung wie die vorliegende freilich stets dessen bewusst sein, dass das daraus entstehende Bild zwangsläufig fragmentarisch bleiben muss. Oder um es mit Roland Barthes zu sagen: »Wir werden zahlreich sein müssen, um die Stadt, in der wir uns befinden, zu entziffern« (Barthes 1988: 208). Mit der vorliegenden Arbeit ist ein Anfang gemacht und je mehr Untersuchungen folgen, desto präziser wird sich das Bild von der Prager Literaturlandschaft der Zeit beschreiben lassen. In diesem Sinne möchte die Arbeit dazu anregen, durch
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die synoptische Betrachtung weiterer Pragtexte neue »Überschneidungen und Abgrenzungen«1 sowie weitere Netzwerke und Kontaktpunkte zu entdecken und aufzuzeigen. Im Trauerhaus (1927) zeigt Franz Werfel Prag als plurikulturelle Stadt im Kontext des österreich-ungarischen Vielvölkerstaates, dessen Vielfalt sich in den Bewohnerinnen und Bewohnern eines Prager Freudenhauses widerspiegelt. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird der Untergang des Hauses eingeläutet, der sinnbildlich ist für den Zusammenbruch Österreich-Ungarns. Aus der Retrospektive verfasst Werfel Ende der 1920er Jahre mit der Erzählung ein »respektvoll-melancholisches Requiem« (Abels 2001: 97) auf die Donaumonarchie. Noch deutlicheren Ausdruck findet seine Nostalgie einige Jahre später im Versuch über das Kaisertum Österreich (1936). Werfel lässt darin einen »Alt-Österreicher«, der nun heimatlos ist, die »unbeschreibliche Farbenfülle seiner [Österreichs] Landschaften und Menschenstämme« (Werfel 1975: 494) rühmen. »Einst war hier meine Welt, mit der ich eigentümlich verbunden war. Zu dem fernsten Huzelendorf [sic: Huzulendorf, U.M.) in den Karpathen fühlte ich noch irgendeine Verwandtschaft, unbekannt warum. Jetzt ist mir auch das Allernächste entfremdet, meine eigene Stadt, meine eigene Straße, mein eigenes Haus, unbekannt warum. Ich bin in einem sehr komplizierten Sinne heimatlos geworden.« (A.a.O.: 495) Werfel schreibt weiter: »Nur im Zeichen einer höheren Idee wurden und werden Reiche gegründet« (a.a.O.: 496; Hervorhebung im Original). Dem stellt er die Nationalstaaten als »dämonische Einheiten« (ebd.) gegenüber. Die »Idee ›Österreich‹« habe von jedem Bewohner des Vielvölkerstaates gefordert, »daß er nicht nur ein Deutscher, ein Ruthene, ein Pole sei, sondern etwas mehr, etwas darüber hinaus« (a.a.O.: 500). Sie »verwandelte […] eine[n] Deutschen oder Tschechen in den neuen Menschen, den Österreicher« (ebd.). Dieser sei ein »gelernter Österreicher« gewesen, der »alles Blutgebundene, Instinktmäßige, Dämonische« (a.a.O.: 517) überwunden habe. Mit dem »Unheil von Sarajewo« (a.a.O.: 510) sei diese »Welt untergegangen« (a.a.O.: 520): »Österreich war eine wunderbare Heimat, eine allmenschliche Heimat ohne Rücksicht auf Blut und Bekennen, auf Herkommen und Hinwollen ihrer Kinder. Der noch im alten Reich geborene Österreicher hat keine Heimat mehr« (Werfel 1975: 520). Sicherlich, der Versuch über Österreich wirkt ebenso wie das Trauerhaus
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Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt »Überschneidungen und Abgrenzungen in Raum und Zeit. Der literarische Diskurs der Prager Moderne(n)«, in dessen Rahmen diese Arbeit maßgeblich entstanden ist, war von 2015 bis 2018 unter der Leitung von Irina Wutsdorff am Slavischen Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen angesiedelt. Weitere Informationen unter: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/276124864, zuletzt geprüft am 15.10.2020.
IX. Schluss
nostalgisch verklärt, nichtsdestotrotz lässt sich aus beiden Texten ein Bekenntnis zu einer übernationalen österreichischen Identität herauslesen, die prägend für Werfels Selbstbild in der Zwischenkriegszeit war. Einige Zeit früher, 1913, entwirft Max Brod in seiner Erzählung Weiberwirtschaft mit dem Hutsalon einen Raum des ›Dazwischen‹ im Zentrum Prags, in dem sowohl interkultureller Austausch als auch Begegnungen zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten und Weltanschauungen stattfinden. Der Salon wird zu einem »Ort permanenten Dialogs« (Lotman 2010: 190) im Sinne von Lotmans Semiosphäre, was sich in einem »verschlampte[n] internationale[n] Ton« (Brod 2013: 291), also in einer gemeinsamen Sprache niederschlägt. Hier begegnen sich Frauen, ungeachtet ihrer national- und soziokulturellen Stellung, nurmehr als Pragerinnen. Gleichwohl ist auch das Zusammenleben dieser Frauengemeinschaft nicht frei von Konflikten, denen sie jedoch mit Verständnis und Versöhnung begegnen. Letztlich scheitert die ›Weiberwirtschaft‹ zwar in ökonomischer Hinsicht und die männlichen Figuren stellen die ›alte‹ Ordnung wieder her, in der die Frauen nicht auf wirtschaftlich eigenen Beinen, sondern dem damaligen konventionellen Rollenverständnis gemäß an der Seite ihrer männlichen Partner stehen. Allerdings wird zum Schluss angedeutet, dass die Frauenfiguren diese männlich dominierte Ordnung wiederum unterlaufen. In der vielzitierten Besprechung einer Ausstellung der tschechisch-deutschen Künstlergruppe Osma aus dem Jahr 1907 formuliert Brod seine Vorstellung von einer Prager Identität, die beinhaltet »daß in Prag kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation die Rede ist, sondern nur noch von Pragern, Bewohnern dieser herrlichen und geheimnisvollen Stadt« (Brod 1979: 61). Diese Idee findet fast ein Jahrhundert später ihre Entsprechung in der philosophischen Autobiographie Vilém Flussers: Das Charakteristische an Prag ist dabei, daß seine Persönlichkeit alle nationalen, religiösen und sozialen Unterschiede überwindet. Ob Tscheche, Deutscher oder Jude, ob Katholik, Protestant oder Marxist, ob Bürger oder Proletarier, man ist vor allem Prager. Eine so starke städtische Persönlichkeit läßt einen an vielen soziologischen Theorien mit ihren Infra- und Superstrukturen zweifeln. Prag ist ein existentielles Klima (oder war es zumindest bis zum Einbruch der Nazis), und alle gesellschaftliche Schichtung mit allen ihren Spannungen entfaltet sich in diesem Klima. […] Man war geborener Internationalist (nicht ideologischer), denn man fühlte am eigenen Dasein die Lächerlichkeit, scharfe Unterschiede zwischen Völkern zu machen. […] Die nationalen Unterschiede waren bereits durch das Pragersein überwunden. (Flusser 1992: 14-16) Eine solche Prager Identität, die nationale, religiöse und soziale Unterschiede nivelliert, führt Max Brod mit dem Hutsalon in nucleo vor. Ein weiterer Text, der um dieselbe Zeit wie Brods Weiberwirtschaft entstand, ist Paul Leppins Roman Severins Gang in die Finsternis (1914), der in der vorliegenden Ar-
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beit als Erzählung einer als krisenhaft erlebten Moderne untersucht wurde. Leppin porträtiert Prag als plurikulturellen Stadtraum und bringt verschiedene städtische Milieus zur Darstellung, zu denen der Protagonist allerdings keinen (dauerhaften) Zugang mehr findet. Durch die Sexualisierung und Feminisierung des ›Anderen‹ im Verhältnis zu dem Prager Deutschen Severin werden Diskurse geschlechtlicher und kultureller Alterität miteinander verschränkt und im literarischen Stadtraum ausagiert. Die fast ausschließlich tschechischen Frauenfiguren sind dabei als bloße Projektionsflächen Severins angelegt, wodurch ihnen jede Eigenständigkeit abgesprochen wird. Obwohl diese Darstellung gerade tschechischer Frauenfiguren im Gegensatz zu stehen scheint zu Leppins Engagement und seiner Vermittlertätigkeit für die tschechische Literatur, ist darin wohl eher ein zeitgenössisches Rollenstereotyp als ein nationalkulturelles zu vermuten. Indes ist die Ver(w)irrung des Protagonisten in Hinblick auf sein Selbstverständnis deutlich auszumachen, wenn er scheinbar ziellos durch das Labyrinth der Prager Gassen und Nächte taumelt. Im Roman wird ein krisenhaftes Moderneverständnis virulent, das in Bezug auf soziale und nationalkulturelle Zugehörigkeiten, Geschlechterdiskurse sowie religiöse und ästhetische Fragestellungen entfaltet wird. In der komparatistischen Analyse von Severins Gang in die Finsternis und Jiří Karáseks ze Lvovics Gotická duše (1900) im Kontext der Décadence konnten deutliche strukturelle, motivische und stilistische Ähnlichkeiten herausgearbeitet werden. Vor allem wurde die von der Forschung immer wieder vorgebrachte These vom ›goldenen‹, fortschrittsoptimistischen Prag in der tschechischen Literatur (als affirmative Bekräftigung der Moderne) und dem morbiden, vom Niedergang geprägten Prag in der deutschsprachigen Literatur (als Ausdruck der Skepsis gegenüber der Moderne) für diesen Fall eindeutig widerlegt. Die Pragbilder innerhalb beider Werke zeichnen sich durch eine hohe »Subjektivität als zentrales Konstruktionsprinzip der Ästhetischen Moderne« (Vietta 2001: 37) aus, wenn sich Severins bzw. Viléms subjektive Wahrnehmung der Stadt über konkret benannte Prager Orte legt und diesen eine phantastische oder unheimliche Atmosphäre verleiht. In meiner Analyse habe ich mich an dem von Irina Wutsdorff vorgeschlagenen Vorgehen orientiert, in den »jeweils zu extrapolierenden Konzeptionen von Moderne nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten [zu] suchen, wobei die Grenzlinie dann nicht mehr entlang der sprachlichen Zugehörigkeit verlaufen wird, sondern z. B. zwischen affirmativen und skeptischen Einstellungen zur Moderne« (Wutsdorff 2018a: 22). In ihrem Verhältnis zur literarischen Moderne oszillieren beide Texte zwischen Affirmation (radikale Subjektivität der Stadtdarstellungen) und Kritik (›tote‹ Stadt, als bedrohlich erlebter Stadtraum, retrospektiver bzw. nostalgischer Gestus), weshalb sich von einer Schwellensituation zwischen Tradition und Moderne – darin der Wiener Moderne ähnlich – sprechen ließe. Beide Texte greifen dabei auf Topoi und Motive der europäischen Décadence zurück.
IX. Schluss
Miloš Marten hingegen, der bis 1912 wie Karásek zu den führenden Autoren der tschechischen Décadence gehörte, wendet sich in Nad městem (1917) von der Décadence ab und hin zur katholischen Moderne. Marten stellt sich gegen die gängigen Narrative der nationalen Wiedergeburt, etwa indem er die sonst im tschechischen kulturellen Selbstbild positiv bewertete und als Identifikationspunkt dienende Reformation in einem kritischen Licht präsentiert. In seinem Dialog fragt er ausgehend vom Prager Stadtraum, auf den seine Figuren aus der Vogelperspektive hinabblicken, nach einem neuen tschechischen Selbstverständnis. Marten tut dies auf einer Vielzahl von Ebenen, indem er Diskurse über die Geschichte Prags und der Böhmischen Länder, über Religion, nationalkulturelle Zuschreibungen und Kunst miteinander verschränkt. Prag wird dabei als historisch aufgeladener Raum und moderne Metropole zugleich dargestellt – Marten ist bemüht um eine Synthese aus Vergangenheit und Gegenwart, um mit einem neuen Selbstverständnis, das auch das Erbe verschiedener nationalkultureller Prägungen Prags zu integrieren versucht, in die Zukunft blicken zu können. Der Stadtraum bildet für die Sprecher den Anlass zur Reflexion über das eigene Selbstverständnis im Kontext religiöser, nationaler, kultureller sowie ästhetischer Bezugssysteme. Dies geschieht vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten um ein tschechisches kulturelles Selbstbild, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem im sogenannten spor o smysl českých dějin [Streit um die Bedeutung der tschechischen Geschichte] niederschlugen. Um den Weg Prags zur Hauptstadt eines neuen Staates geht es im Slawenlied (1931). Darin erzählt Franz Carl Weiskopf »die letzten Tagen Österreichs und die ersten Jahre der Tschechoslowakei«, so der Untertitel, als Entwicklungsroman, in dem die Transformation des Prager Stadtraums und die sich herausbildende gesellschaftlich-politische Haltung des Prager deutschsprachigen Protagonisten eng aufeinander bezogen sind. Dabei ist sein Blick auf Prag jedoch keinesfalls mit dem Blick der Deutschprager auf ›ihre‹ Stadt gleichzusetzen, denn der Ich-Erzähler, der im Verlauf des Romans zu einem überzeugten Sozialisten wird, weist immer wieder darauf hin, dass die Deutschprager die Stadt inmitten des historischen Umbruchs, der zur Republikgründung führt, nicht mehr verstehen. In einer komparatistischen Betrachtung wurden dem Slawenlied Richard Weiners Feuilletons Třásničky dějinných dnů [Fragmente historischer Tage], die zwischen 1918 und 1919 erschienen und dieselben Ereignisse aus größerer zeitlicher Nähe schildern, zur Seite gestellt. In beiden Texten wird anhand der sich zur Hauptstadt eines neuen Staates entwickelnden Stadt der politische und gesellschaftliche Systemwandel literarisch inszeniert. Über die literarisch verarbeitete semiotische Einschreibung in den urbanen Raum – oder mit Lefebvre gesprochen, in der räumlichen Praxis und in den Repräsentationsräumen – werden Prozesse der Kollektivbildung und rivalisierende Erinnerungskulturen problematisiert. Dabei legt Weiskopf den Akzent darauf, seinen Protagonisten im Bemühen darum zu zeigen, sich inmitten dieser Gemenge-
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lage (neu) zu verorten. Weiners Feuilletons, die als »ein Ort der Vermittlung […], an dem sich Literatur, Publizistik, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wechselseitig durchdringen« (Kauffmann 2000: 12), charakterisiert werden können, bekräftigen mit Emphase die neue Republik und die »Autorität der bürgerlichen Institutionen, an denen du und ich Anteil haben: wir haben sie geschaffen, und wir respektieren sie« (Weiner 2005: 178) [»autorit[a] občanských zřízení, na nichž i ty, i já máme stejný podíl jako tvůrci a zároveň jako její poslušníci« (Weiner 2002: 23)]. Für Weiner, der eine bürgerliche Haltung einnimmt, steht also das gemeinsame Bekenntnis in Wort und Tat zur res publica über jeglichen nationalkulturellen Zugehörigkeiten oder Abgrenzungen. Im Unterschied dazu schreibt Weiskopf, der 1921 der KSČ beigetreten war, von einem kommunistischen Standpunkt aus und entwirft Prag als Ort einer noch zu verwirklichenden sozialistischen Gesellschaftsordnung, in der bisher geltende nationalkulturelle Zuschreibungen und Grenzen zugunsten eines internationalen Sozialismus aufgegeben werden. Das Ideal eines internationalen Sozialismus verbindet Weiskopfs Slawenlied mit Marie Majerovás Großstadtroman Přehrada (1932), der allerdings schon durch seine polyperspektivische Struktur sehr viel komplexer angelegt ist, so dass sich darin eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Stimmen, Weltanschauungen und Pragbilder ergänzen und brechen. Literaturhistorisch von Interesse ist der Roman hinsichtlich der Kombination aus ideologischer Ausrichtung und avanciert experimenteller Form. Durch präzise Milieuschilderungen entsteht ein differenziertes Bild der Stadt, die als zweisprachig sowie als von Geschichte durchtränkter Raum und moderne Großstadt gleichzeitig dargestellt wird. Zusätzlich wird Prag als Ort einer sozialistischen Utopie imaginiert. Darüber hinaus kreuzen sich in der Stadt nicht nur immer wieder die Wege der einzelnen Figuren, sondern auch Diskurse über Ästhetik, Technik, Wissenschaft und Politik. Was Majerová als avantgardistische Autorin auszeichnet, ist, dass sie statt auf eindeutige Antworten auf Dialogizität setzt und so in einer vielstimmigen Diskussion die »sozioideologischen Stimmen der Epoche« (Bachtin 1979: 290) abbildet. Auf diese Weise entwirft Marie Majerová ein vielschichtiges Pragbild, das ein breites Spektrum zwischen moderner Metropole und geschichtsträchtigem Erinnerungsort, zwischen Technik und Phantasie, zwischen Stadt und Land, zwischen Zivilisation und Natur aufspannt. Im Stadtpark (1935), dem Prag-Roman ohne Prag, zeigt Hermann Grab Prag nicht auf den ersten Blick als »Stadt der Tschechen, Deutschen und Juden« (Gruša/Kriseová/Pithart 1993), führt aber andere interkulturelle Konstellationen vor und stellt auf diese Weise das »Denken-wie-üblich« (Schütz 2015: 49), d. h. gruppenspezifische »Zivilisations- und Kulturmuster« (a.a.O.: 50) in Frage. Grab klammert zwar das deutsch-tschechisch-jüdische Mit-, Gegen,- und Nebeneinander aus, macht aber dennoch deutlich, wie unterschiedliche kulturell geprägte Wahrnehmungsmuster zu Missverständnissen und Konflikten führen können. Sowohl Georg Simmel und Alfred Schütz als auch Grab erklären in den
IX. Schluss
herangezogenen Texten ›den Fremden‹ bzw. den ›Outsider‹ zum Experten dafür, herrschende Denk- und Ordnungsmuster als solche freizulegen. Der Protagonist Renato, der in diversen sozialen Zusammenhängen immer wieder als Außenseiter charakterisiert wird, ist somit prädestiniert dafür, durch die bröckelnde Fassade der Oberfläche auf die »Hinterbühne« (Grab 1985: 81) zu blicken. In den poetologischen Reflexionen Grabs, wie er sie in seinem Proust-Vortrag zum Ausdruck gebracht hat, schreibt er dem jüdischen Künstler eine solche Außenseiterrolle zu. Die Abgelöstheit Renatos vom Alltagsleben und die Ausblendung der Stadt abseits des Stadtparkviertels veranschaulichen die räumliche sowie soziale Isolation des Protagonisten, die den zeitgenössischen Rezensenten zufolge bezeichnend für die porträtierte Prager deutschsprachig-jüdische Gesellschaftsschicht ist. Obwohl Pavel/Paul Eisners These vom »dreifachen Ghetto« mittlerweile vor allem durch die historische Forschung als widerlegt gelten kann (vgl. Čapková 2005; Koeltzsch 2012), bedeutet dies meines Erachtens nach nicht, dass nicht ein Gefühl der Isolation das Empfinden einiger Autoren und ihrer Zeitgenossen geprägt haben könnte, was sich zum Beispiel in den Aussagen von Willy Haas oder Franz Werfel niederschlägt.2 Ohne dass sich Eisners These soziologisch oder historisch belegen ließe, hat er zu ihrer Entstehungszeit 1933 damit möglicherweise das Gefühl mancher Prager jüdischer Autoren umschrieben, die erlebten, wie Juden im benachbarten Deutschland seit der nationalsozialistischen Machtergreifung Opfer von Ausgrenzung und Verfolgung durch antisemitische Hetze und Pogrome wurden. Als Grabs Roman 1935 erschien, hatten bereits viele jüdische Flüchtlinge in Prag Zuflucht gefunden und auch hier sahen sich die Juden zunehmend ins Abseits gedrängt, da sie ab den 1930er Jahren von den in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen eine immer radikalere Ablehnung erfuhren vgl. Krejčová 2006: 89). Grab schrieb den Stadtpark in den 1930er Jahren, zu einer 2
In seiner Rezension von Hermann Grabs Stadtpark betont Willy Haas die »životní filosofie ghetta, ne právě ghetta židovského, nýbrž ghetta v onom smyslu, v jakém je ›ghettem‹ i faubourg St. Germain u Prousta« (Haas 1935: 3) [die Lebensphilosophie des Ghettos, aber eben nicht des jüdischen Ghettos, sondern eines Ghettos in dem Sinne, in dem auch Faubourg St. Germain bei Proust ein Ghetto ist]. Dieses Ghetto habe das Viertel rund um den Stadtpark umfasst und große kulturelle Bedeutung gehabt. »Ale to všechno dnes už zmizelo a Hermann Grab je jen kronikář zapadlého a uzavřeného světa, z něhož neproniká už jediný zvuk. Tato německá Praha se silným židovským vrchním povlakem se od počátku isolovala sama« (ebd.) [Aber das alles ist heute längst verschwunden und Hermann Grab ist lediglich Chronist einer zerfallenen und abgeschlossenen Welt, aus der kein Laut mehr dringt. Dieses deutsche Prag mit dem jüdischen Überzug hat sich von Anfang an selbst isoliert.]. Ein weiteres Beispiel ist Franz Werfels Antwort auf die Umfrage »Warum haben Sie Prag verlassen?« der Zeitungen Bohemia und Prager Tagblatt aus dem Jahr 1922: »Für den Nichttschechen, so scheint es mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, sie ist ihm Tagtraum, der kein Erlebnis gibt, ein lähmendes Ghetto, ohne auch nur die armen Lebensbeziehungen des Ghetto zu haben, eine dumpfe Welt, aus der keine oder falsche Aktivität herkommt.« (Zit. n. Krolop 1966: 52).
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
Zeit, da es das Prag seiner Kindheit längst nicht mehr gab und die Situation im nationalsozialistischen Deutschland immer bedrohlicher wurde. In Richard Weiners Rovnováha (1914) tritt Prag zwar ebenfalls nicht explizit in Erscheinung, dennoch werden darin Kommunikationszusammenhänge und Fremdheitserfahrungen thematisiert, die sich auf die plurikulturelle Prager Situation beziehen lassen. So problematisiert Weiner Übersetzungsprozesse ebenso wie das Verhältnis zwischen ›Eigenem‹ und ›Anderem‹, indem etwa die japanische Heimat der Protagonisten mit ihren Auftritten in der ganzen Welt kontrastiert wird. Obwohl der Ich-Erzähler immer wieder seine Individualität betont, durch die allein seine akrobatische Kunst (vorgeblich) gelingt, erscheint er in dieser Hinsicht als unzuverlässig, denn erstens entsteht das titelgebende Gleichgewicht erst im Verbund mit seinem Vater und zweitens ist auch er »der Gesellschaft verhaftet« (Weiner 1968: 94) [»jsem zatknut ve společnosti« (Weiner 1996: 205)] und dadurch gezwungen, sich innerhalb soziokultureller Zusammenhänge zu verorten. Auf diese Weise stellt der Bericht des Ich-Erzählers das Bemühen um einen Dialog mit dem Publikum als ›dem Anderen‹ dar. Eine spezielle Form der Zwiesprache ist die »Augensprache« (Weiner 1968: 92) [»hovor očí« (Weiner 1996: 203)] zwischen Vater und Sohn, mit Hilfe derer das fragile Gleichgewicht hergestellt wird. Diese Art der Verständigung kommt ohne Worte aus. Darin scheint ein Bewusstsein für die Grenzen der Sprache(n), d. h. die für die Moderne charakteristische Sprachskepsis auf. Im Grenzbereich des Sag- bzw. Denkbaren bewegt sich auch der wohl bekannteste Autor der Prager Moderne Franz Kafka mit seinem kurzen Prosastück Eine Kreuzung, das ich im Folgenden mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit in Verbindung setzen möchte. Im Gegensatz zu den bereits behandelten Werken lassen sich in Kafkas Texten – ähnlich wie in Richard Weiners Rovnováha oder Hermann Grabs Stadtpark – kaum direkte Prag-Bezüge ausmachen. Dennoch können auch solche Texte etwas über die spezifische Prager Situation aussagen, in denen die Stadt nicht ausdrücklich in Erscheinung tritt. Mit der folgenden Lesart von Kafkas Kreuzung möchte ich außerdem mein Vorgehen in dieser Untersuchung anhand eines literarischen Beispiels noch einmal bekräftigen. Denn als wichtiges Ergebnis dieser Arbeit bleibt festzuhalten, dass in der Prager Literatur der Moderne keine scharfen Trennlinien entlang nationalkultureller Zugehörigkeiten haltbar sind. Eines der Hauptanliegen meiner Arbeit war es, durch die komparatistische Betrachtung der Werke mit einer solchen Fehleinschätzung aufzuräumen. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass sich nicht en gros von einer Prager Moderne oder einer »spezifische[n] Prager Perspektive«, nach der in der Einleitung gefragt worden war, sprechen lässt. Dafür sind die untersuchten Texte zu divers in Form und Inhalt. Es konnte aber der Nachweis erbracht werden, dass die nationalkulturelle Zugehörigkeit eben nicht entscheidend für das in der Literatur entworfene Pragbild ist. Vielmehr hat ein unvoreingenommener und der Individualität der jeweiligen Texte
IX. Schluss
Rechnung tragender Zugriff Gemeinsamkeiten auf der Ebene des literarischen Stils (Décadence: Karásek und Leppin) oder auch auf politisch-ideologischer Ebene (Sozialismus: Weiskopf und Majerová) offenbart. Durch die komparatistische Zusammenschau konnten dadurch ebenso vereinfachende wie beharrliche Forschungsmeinungen widerlegt werden. Stattdessen wurde untermauert, dass die Rede von den »Prager Moderne(n)« im Plural, wie sie der Tübinger Forschungsschwerpunkt und der Forschungsverbund »Prag als Knotenpunkt der Moderne(n)« vorschlagen, dem Phänomen angemessen ist, da die Positionen und literarischen Ausdrucksformen zu vielfältig sind, um vorschnell vereinheitlicht zu werden. Um diesen Beobachtungen Rechnung zu tragen, möchte ich zum Schluss Franz Kafkas Kreuzung (1917) heranziehen, denn darin wird auf mehreren Ebenen vorgeführt, wie Kategorisierungen, die dem menschlichen Denken nun einmal inhärent sind, nicht mehr greifen und eingezogene Grenzen aufgelöst werden.
2.
Franz Kafkas Eine Kreuzung (1917) im Kontext von ›Stadttexten und Selbstbildern‹
Es war ein Anliegen dieser Untersuchung, explizit weniger bekannte Pragtexte in den Blick zu nehmen. Dennoch kann auch eine Arbeit wie die vorliegende nicht umhin, Franz Kafka als den prominentesten Autor, der gemeinhin mit Prag verbunden wird, zu Wort kommen zu lassen. Obwohl es eine Vielzahl an Auseinandersetzungen zum Thema Kafka und Prag3 gibt, ist die »Bedeutung der spezifischen Interkulturalität Prags und der Böhmischen Länder für Leben und Werk Franz Kafkas […] bisher kaum thematisiert worden« (Höhne/Weinberg 2019: 11), wie Steffen Höhne und Manfred Weinberg jüngst feststellten. Mit ihrem Tagungsband Franz Kafka im interkulturellen Kontext wollen sie diese Lücke schließen und plädieren darin für eine »Fokussierung auf die tatsächlichen (inter-)kulturellen Zusammenhänge in Prag und den Böhmischen Ländern zu Kafkas Lebzeiten« (a.a.O.: 13).4 Ebendie3
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Stellvertretend seien an dieser Stelle genannt: Wagenbach (1993): Kafkas Prag. Ein Reiselesebuch; Krolop/Zimmermann (1994): Kafka und Prag; Engel/Robertson (2012): Kafka, Prag und der Erste Weltkrieg; Becher/Höhne/Nekula (2012): Kafka und Prag. Literatur-, kultur-, sozialund sprachhistorische Kontexte; Nekula (2017): Franz Kafka and his Prague Contexts. Studies on Language and Literature. Der Band versammelt u. a. Analysen Kafkascher Einzeltexte, die in den Prager (interkulturellen) Kontext eingebettet werden. Irina Wutsdorff untersucht die Prager Topographie in Kafkas Beschreibung eines Kampfes und geht interkulturellen Spuren im Text nach. Diese macht sie implizit in der »sprach- und erkenntniskritische[n] Reflexivität« (Wutsdorff 2019: 305) aus, durch die Kafka die »Vorstellung von Eindeutigkeit wie auch das Vertrauen in einen tragfähigen Nexus von Sprache und Identität […] mit und in seinem Schreiben ins Wanken« (a.a.O.: 307) bringe. Ebenso ins Wanken gerieten in Beschreibung eines Kampfes nationalkulturelle Codierungen innerhalb des Prager Stadtraums, wodurch ein Prag, »dem die Konflikte
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se (inter-)kulturellen Wechselbeziehungen und Verflechtungen in Bezug auf die Prager Stadttexte und Selbstbilder herauszustellen, war das Ziel dieser Arbeit. Vor dem literarischen Prager Panorama mit seinen vielfältigen Identitätskonstruktionen und -zuschreibungen, das in der Untersuchung aufgespannt wurde, möchte ich nun Kafkas Eine Kreuzung lesen. Aus dem kurzen Text lässt sich einiges für den Umgang mit Prager Stadttexten und Selbstbildern ableiten, wie ich zeigen will. In dem im Frühjahr 1917 entstandenen (vgl. Engel 2010: 86) Prosastück berichtet ein Ich-Erzähler von seinem Tier, das »halb Kätzchen, halb Lamm« (Kafka 1993: 372) ist. Dieses »eigentümliche[…] Tier« (ebd.) hat in der Forschung eine Vielzahl an Deutungen erfahren. Michael Müller beispielsweise sieht darin Kafka selbst porträtiert »als Erzählgegenstand und als Erzähler« (Müller 2008: 37), der auf Grund seiner »[g]enetische[n] Anlagen« (a.a.O.: 38) als »Sohn Hermann Kafkas und Julie Löwys […] etwas von der Kafka-Katze und dem Löwy-Lamm an sich hatte« (ebd.). Laut Stanley Corngold »stellt Kafka sich einen Körper vor, der fremde DNA in sich aufnimmt; das Produkt ist ein hybrides Wesen ohne Lebensanspruch, das nach dem Fleischermesser verlangt« (Corngold 2008: 160). Das eigenartige Tier identifiziert er als »Kreuzung von Mensch und Schriftsteller« (a.a.O.: 155), die nicht
wie auch Potentiale des Interkulturellen eingeschrieben waren […] uns hier als ein gelassen schwebendes präsentiert wird« (a.a.O.: 318). Manfred Weinberg legt eine Lektüre von Kafkas Schakale und Araber vor dem Hintergrund interkultureller Prager Zusammenhänge im Spannungsfeld individueller und kollektiver Identitätsdiskurse vor, ohne den Zugang zum Text durch eine konkrete Identifizierung der auftretenden Figuren mit außerliterarischen Referenten einzuschränken (vgl. Weinberg 2019). Weiterhin betrachtet Marek Nekula ›Odradek‹ aus Die Sorge des Hausvaters in etymologischer Sicht und setzt das Hybride des rätselhaften Odradek in Beziehung zu Fremdheitsdiskursen. Er kommt zu dem Schluss, Kafka beurteile in der »Figur des unauflösbaren hybriden Weder-Noch, das in der Majorität die Sorge auslöst und aus der Sicht des radikal verfremdenden Erzählers […] zur ungeheuren Last wird«, die »Kreativität eines mehrsprachigen, deutschschreibenden, westjüdischen Autors, der […] durch eine sprachliche und kulturelle Hybridität charakterisiert wird, äußerst zurückhaltend« (Nekula 2019: 336). Außerdem sei an dieser Stelle noch hingewiesen auf zwei weitere Studien, die Kafka in Beziehung zum Prager Kontext setzen: Manfred Weinberg spürt in einem close reading dem Pragbezug in Kafkas Das Stadtwappen nach und liest die Geschichte um den babylonischen Turmbau als Reflexion auf »die materielle wie imaginative Seite der Kultur« (Weinberg 2012: 318), in der Kafka den darin auftretenden Volksgruppen und Nationalismen eine »Vermischung und Verwirrung entgegen[stellt] sowie den Hinweis, dass alle solche Einheiten erst nachträglich und damit – bezogen auf die als fremd und feindlich verstandenen (besser: konstruierten) Anderen, als Legitimation der Kämpfe gegen sie – vorsorglich hervorgebracht werden« (ebd.). Irina Wutsdorff hat eine Parallellektüre von Kafkas Die Sorge des Hausvaters und Richard Weiners Erzählung Ela vorgelegt, in der sie die »Vielschichtigkeit wie Widersprüchlichkeit menschlichen Wahrnehmens, Erkennens und Imaginierens« (Wutsdorff 2018a: 48) ausmacht und »das tertium comparationis in der Bezugnahme auf die conditio humana […] unter jenen Bedingungen der Moderne, die in einer plurikulturellen, mehrsprachigen Stadt wie Prag besonders markant hervortreten« (a.a.O.: 49).
IX. Schluss
lebensfähig ist. Bernard Dieterle konzentriert sich auf das Phantastische, das »in der radikalen Entschärfung des an und für sich Unmöglichen« bestehe: »Das bewerkstelligt er [Kafka] durch die Erzählperspektive: Die abstruse Erscheinung wird durch einen Erzähler beschrieben, der ein durch nichts zu erschütterndes, ja an Wahn grenzendes stabiles Weltbild hat« (Dieterle 2010: 278). Kafka verwende dazu das »iterativ-durative Präsens eines sozusagen vor sich hin plaudernden Erzählers […], übrigens selber eine Art Kreuzung zwischen richtigem Erzählen und innerem Monolog« (ebd.), was zur Wirkung des Textes entscheidend beitrage. Daneben verweist die Forschungsliteratur zur Kreuzung immer wieder auf andere Tiergeschichten Kafkas wie Schakale und Araber, Der Bau, Forschungen eines Hundes, Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, Ein Bericht für eine Akademie, Die Sorge des Hausvaters, Die Verwandlung (vgl. u. a. Spector 2008: 191; Oschmann 2010: 61; Dieterle: 2010: 278). Tahia Reynaga beispielsweise sieht eine Gemeinsamkeit der Kreuzung und Odradek darin, dass es Erbstücke sind, die die Väter gleich einem Urteil an ihre Söhne weitergäben, was für sie »the son’s defeat by the father« (Reynaga 2010: 73) symbolisiert. Anna Glazova diskutiert Eine Kreuzung mit Blick auf die jüdischen Speisegesetze der Halacha und zeigt, dass das Mischwesen sich darin nicht klar einordnen lässt (vgl. Glazova 2016). Weiterhin stellt sie fest: »Kafka’s story about the lambcat-dog-human is an invention of a hybrid whose body as a whole encloses the demarcation between the human and the animal« (a.a.O.: 107). Eine klare Grenze zwischen Tier und Mensch lasse sich nicht mehr ziehen, ebenso sei es unmöglich, »to draw a separating line in one’s nature between what is Jewish and what is essentially human« (a.a.O.: 108). Bei aller Vielfältigkeit der Interpretationen herrscht unter nahezu allen Interpretinnen und Interpreten Einigkeit darüber, dass Kafka mit seiner Kreuzung bestehende Grenzen in Frage stellt. In diesem Sinne konstatiert etwa Hadea Kriesberg: »He ponders the nature of the separating boundary, whether the line of demarcation is obvious or hidden, whether the division feels fluid or impermeable, if the doubling feels enriching or a barrier to a strong self-identity« (Kriesberg 2010: 34). Statt auf eine Identifizierung des Erzählers oder der Kreuzung abzuzielen, beherzige ich in der nachfolgenden Analyse eine Feststellung Scott Spectors, um bestehende Polyvalenzen nicht von vorneherein in Eindeutigkeit zu überführen, sondern erst einmal ›auszuhalten‹. Anstatt sich auf eine symbolische Struktur zu verlassen, bei der literarische Figuren (Affe, Schakale, Araber, Erzähler) den Platz für Entsprechungen in der historischen Realität übernehmen, funktionieren die Geschichten auf einem allegorischen Raster, das sich stets wandelt, wo scheinbare Bezugnahmen zur Identität
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(ob Jüdisch, Tschechisch, Deutsch oder andere Arten von Identität) nur beschwört werden, um sie zu untergraben. (Spector 2008: 190) Dazu gehört, den Text zunächst einmal genau zu lesen und wörtlich zu nehmen. Dort heißt es: »Ich gebe mir auch keine Mühe zu antworten, sondern begnüge mich ohne weitere Erklärungen damit, das zu zeigen was ich habe« (Kafka 1993: 373). Ich habe ein eigentümliches Tier, halb Kätzchen, halb Lamm. Es ist ein Erbstück aus meines Vaters Besitz, entwickelt hat es sich aber doch erst in meiner Zeit, früher war es viel mehr Lamm als Kätzchen, jetzt aber hat es von beiden wohl gleichviel. Von der Katze Kopf und Krallen, vom Lamm Größe und Gestalt, von beiden die Augen, die flackernd und mild sind, das Fellhaar, das weich ist und knapp anliegt, die Bewegungen, die sowohl Hüpfen als Schleichen sind, im Sonnenschein auf dem Fensterbrett macht es sich rund und schnurrt, auf der Wiese läuft es wie toll und ist kaum einzufangen. Vor Katzen flieht es, Lämmer will es anfallen […]. (Kafka 1993: 372f.) So stellt der Ich-Erzähler in nüchterner Sprache und in medias res sein »eigentümliches Tier« (a.a.O.: 372) vor, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Es ist eine Kreuzung aus Herbivore und Karnivore, zugleich Beute- und Raubtier. Das Tier hat keinen Namen und es wird auch nicht mit einem Kompositum à la ›Katzenlamm‹ oder ›Lammkatze‹ benannt, denn dadurch würde de facto eine Seite überwiegen. Im Verlauf des Textes ist stets nur die Rede von dem »Tier«, das mit dem Pronomen »es« bezeichnet wird, d. h. es gibt ebenfalls keine Einordnung in das binäre Geschlechtermuster. In ihrer Lektüre der Kreuzung geht Sandra Summers unter anderem auf die religiöse Dimension der Tiersymbolik ein. Das Lamm als religiöses Symbol der Reinheit und Unschuld, z. B. als Opferlamm (vgl. das jüdische Pessachlamm sowie das christliche Osterlamm) kontrastiere mit der Katze als Symbol für Sündhaftigkeit und das Dämonische (vgl. Summers: 2015: 93). Daher sei das Tier nicht nur ein Hybrid zwischen Beute- und Raubtier, sondern auch eine Kombination aus »the pure and the impure, the holy and the unholy, the good and the evil« (ebd.). Mithilfe der biologischen Taxonomie werden sämtliche Lebewesen systematisch unterteilt anhand der Kategorien Ordnung (im Falle der Kreuzung stehen sich Raubtiere/Carnivora und Paarhufer/Artiodactyla gegenüber), Familie (Katzen/Felidae vs. Hornträger/Bovidae), Gattung (Echte Katzen/Felis vs. Schafe/Ovis) und Art (Wildkatze/Felis silvestris vs. Wildschaf/Ovis gmelini bzw. Unterart: Hauskatze vs. Hausschaf). Man bekommt also einen Eindruck, auf wie vielen Ebenen die Kreuzung für eine solche Ordnung ein (eigentlich unmögliches) Problem darstellt. In Die Ordnung der Dinge (1966) untersucht Michel Foucault Ordnungsmuster für die Organisation von Wissen und zeigt, wie sich die ihnen zugrunde liegenden Denksysteme über die Zeit gewandelt haben. Er macht deutlich, dass Wissen stets an
IX. Schluss
Kontexte gebunden ist, in denen sich immer auch soziale und kulturelle Machtverhältnisse widerspiegeln. Im Vorwort zu Die Ordnung der Dinge erklärt Foucault, den Anlass zu seinem Buch habe Jorge Luis Borges’ Essay Die analytische Sprache John Wilkins’ gegeben. Darin berichtet Borges von einer »gewissen chinesischen Enzyklopädie«, anhand derer Tiere wie folgt eingeteilt werden: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, [j) unzählbare,]5 k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen. (Borges 1966: 212) Diese Klassifizierung aus der (wahrscheinlich fiktiven) chinesischen Enzyklopädie erscheint uns absurd; nicht nur, weil darin reale und Phantasiewesen nebeneinanderstehen, sondern auch weil sie nichts mit der gängigen biologischen Taxonomie zu tun hat, die wir heute für selbstverständlich halten. Mit diesem Beispiel geht es Borges darum, zu demonstrieren, dass »keine Klassifikation des Universums [existiert], die nicht willkürlich und mutmaßlich wäre«, denn »wir wissen nicht, was das Universum ist« (ebd.).6 Davon ausgehend stellt für Foucault die Nomenklatur der chinesischen Enzyklopädie »die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken dar« (Foucault 1971: 17). Ebenso bewegt sich Kafkas ›eigentümliches Tier‹ an den Grenzen unseres Denkens; es ist eigentlich unmöglich zu denken. Dabei ist es lediglich das zugrunde gelegte Ordnungssystem, durch das den einzelnen Tieren ein fester Platz zugewiesen wird und in dem sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede besitzen, welches ein solches Tier undenkbar macht. Das Unterscheiden wiederum ist nach Pierre Bourdieu ein erkenntnistheoretischer und raumgebundener Akt: Ein Unterschied, ein Unterscheidungsmerkmal, […] wird nur dann zum sichtbaren, wahrnehmbaren, nicht indifferenten, sozial relevanten Unterschied, wenn es von jemandem wahrgenommen wird, der in der Lage ist, einen Unterschied zu machen – weil er selber in den betreffenden Raum gehört […] und weil er über die Wahrnehmungskategorien verfügt, die Klassifizierungsschemata, […] die es ihm erlauben, Unterschiede zu machen. (Bourdieu [1989] 2006: 361) Foucault führt weiter aus:
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Libuše Moníková hat in einem Essay zu Borges darauf hingewiesen, dass sowohl in Foucaults Zitat als auch in der deutschen Übersetzung von Karl August Horst die Kategorie »j) innumerables« fehlt (vgl. Moníková 1990: 95). An dieser Stelle sei darauf aufmerksam gemacht, dass Borges zwischen 1938 und 1967 18 Texte Kafkas ins Spanische übersetzt hat, darunter auch Eine Kreuzung (vgl. Roger 2014: 145).
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Was unmöglich ist, ist nicht die Nachbarschaft der Dinge, sondern der Platz selbst, an dem sie nebeneinandertreten könnten. Die Tiere, »die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind« könnten sich nie treffen, außer in der immateriellen Stimme, die ihre Aufzählung vollzieht, außer auf der Buchseite, die sie wiedergibt. Wo könnten sie nebeneinandertreten, außer in der Ortlosigkeit der Sprache? (Foucault 1971: 90) In der Literatur entsteht also ein diskursiver Raum, in dem Disparates miteinander in Beziehung gesetzt werden kann, wodurch sich neue (Denk-)Möglichkeiten abseits konventionalisierter Ordnungen eröffnen. Daher fragt Foucault: »[G]emäß welchem Raum an Identitäten, Ähnlichkeiten, Analogien haben wir die Gewohnheit gewonnen, so viele verschiedene und ähnliche Dinge einzuteilen?« (a.a.O.: 22). Und er gibt die Antwort: »Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird« (ebd.). Ebendiese Ordnungen stellt Kafka mit seiner Kreuzung aus Lamm und Katze in Frage, d. h. er zeigt auf, »daß diese Ordnungen vielleicht nicht die einzig möglichen oder die besten sind« (Foucault 1971: 23). Indem er mit seinem eigentümlichen Tier Irritation beim Leser hervorruft, fordert er das »Denken-wie-Üblich« (Schütz 2015: 49) heraus. Wie ich deutlich machen möchte, tut er dies auf mehreren Ebenen, indem er das Tier ins Verhältnis zu unterschiedlichen Gruppen(-identitäten) setzt und immer wieder seine Nichtzugehörigkeit demonstriert. Das Tier ist ein echtes Faszinosum für die Kinder der Nachbarschaft, die sich jeden Sonntag zur »Besuchsstunde« (Kafka 1993: 373) im Haus des Ich-Erzählers einfinden und Fragen stellen, die »kein Mensch beantworten kann« (ebd.). Aus diesem Grund schweigt er: »Ich gebe mir auch keine Mühe, sondern begnüge mich ohne weitere Erklärungen damit, das zu zeigen, was ich habe« (ebd.). Weder bei der Begegnung mit Katzen noch mit Lämmern kommt es zu »Erkennungsscenen«, »die Tiere sahen einander ruhig aus Tieraugen an und nahmen offenbar ihr Dasein als göttliche Tatsache gegenseitig hin« (ebd.). Im Widerspruch dazu hieß es zuvor noch: »[V]or Katzen flieht es, Lämmer will es anfallen« (ebd.). Das Tier lässt sich also nicht einmal auf ein einheitliches Verhalten festlegen. In jedem Fall gehört es zu keiner der beiden Tierarten oder Gruppen. Dennoch nehmen sowohl die Kreuzung als auch die anderen Tiere die Existenz ihres Gegenübers gelassen zur Kenntnis. Manfred Weinberg hat unlängst eine Lektüre der Kafka-Erzählung Schakale und Araber vorgelegt, in der er sich davon abgrenzt, die darin auftretenden Figuren mit außertextuellen Referenten zu identifizieren und stattdessen zeigt, dass die ›Leistung‹ der Erzählung vielmehr in der Reflexion der Relation von Einzelnen und Gruppen besteht, für die es zuletzt reichlich gleichgültig ist, auf welche
IX. Schluss
Instanzen bezogen sich diese Reflexion vollzieht. In der klaren Identifizierung geht somit das verloren, was die Erzählung vor allem auszeichnet: dass sie die Frage nach Gruppen und Einzelnen nicht als ein für alle Mal beantwortbare Frage und feste Konstellation (auch der jeweiligen Gruppen selbst) zeigt, sondern ihre andauernde situative Verschiebung, die die Begründungen in immer neue Konstellationen bringt, vorführt. (Weinberg 2019: 299). In der Kreuzung wird ebenfalls das Verhältnis des (einzelnen) Tieres in Bezug auf eine bzw. zwei Gruppen thematisiert, denn die »Katzen« bzw. »Lämmer« treten im Text stets im Plural auf, während es das Tier nur ein einziges Mal gibt. Das schwankende Verhalten des Tieres gegenüber den anderen Tiergruppen spricht also dafür, dass Manfred Weinbergs Diagnose auch auf die Kreuzung übertragbar ist, nämlich dass hier fluide Konstellationen und situative Relationen zwischen Einzelnem und Gruppen zur Darstellung gebracht werden. Als Haustier des Ich-Erzählers vergisst die Kreuzung die für Lamm und Katze in freier Wildbahn je überlebenswichtigen Instinkte: »In meinem Schooß kennt das Tier weder Angst noch Verfolgungslust« (Kafka 1993: 373). An deren Stelle tritt ein neuer Instinkt: Es »hält zur Familie, die es aufgezogen hat«, was laut des Erzählers nicht Treue ist, sondern der »richtige Instinkt eines Tieres, das auf der Erde zwar unzählige Verschwägerte, aber vielleicht keinen einzigen nahen Blutsverwandten hat, und dem deshalb der Schutz, den es bei uns gefunden hat, heilig ist« (a.a.O.: 374). Daraus spricht eine existenzielle Einsamkeit des Tieres, die aber durch den Schutz des Ich-Erzählers und seiner Familie gemildert wird. An dieser Stelle wird die traditionelle Vorstellung von Familie in Frage gestellt, die eigentlich auf Verwandtschaftsbeziehungen beruht, die allerdings im Falle des Tieres nicht gegeben sind. Es hat vermutlich »keinen einzigen Blutsverwandten«, wurde aber von der Familie des Ich-Erzählers als Familienmitglied aufgenommen, aufgezogen und beschützt. Besonders eng ist seine Beziehung zum Erzähler: »An mich angeschmiegt fühlt es sich am wohlsten« (a.a.O.: 373f.). Es bringt ihn zum Lachen, wenn es ihn anhänglich umschnuppert: »Nicht genug damit, daß es Lamm und Katze ist, will es fast auch noch ein Hund sein« (a.a.O.: 374). Das Tier ist, wenn es sich hundeähnlich zwischen den Beinen des Ich-Erzählers hindurchwindet, »gar nicht von mir zu trennen« (ebd.). Insofern wird hier durch das Tier, das nicht nur Katze und Lamm ist, sondern auch noch Hund sein will, eine weitere Grenze aufgelöst, und zwar die zwischen Mensch und Tier. Zugleich wird auf diese Weise die personale Identität des Ich-Erzählers in Zweifel gezogen. Das Tier hat »beiderlei Unruhe in sich, die von der Katze und die vom Lamm, so verschiedenartig sie sind«, weshalb ihm »seine Haut zu eng« (ebd.) ist. Deshalb fragt sich der Erzähler dann auch im letzten Absatz, ob nicht das »Messer
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des Fleischers« eine »Erlösung« für das Tier wäre, muss ihm diese aber »als einem Erbstück« (ebd.) versagen.
3.
Ausblick
Kafka erprobt mit der Kreuzung eine neue Denkform im Medium der Literatur – ein ›Sowohl-als-auch‹ statt eines ›Entweder-oder‹. Er mutet seinen Lesern zu, sich eine Welt jenseits gängiger Kategorisierungen und Ordnungssysteme vorzustellen. Diese Art und Weise ein Nebeneinander zu denken, lässt sich auch auf die Prager Literatur der Moderne, wie sie in dieser komparatistischen Arbeit verstanden wird, übertragen: Die »absolute Scheidewand« (Jodl 1920: 117) zwischen Deutschen und Tschechen, die Friedrich Jodl während seiner Prager Zeit beobachtete und die die einzelnen Philologien allzu oft aufrechterhalten haben, wurde zugunsten eines komparatistischen Zugangs eingerissen. Statt also etwa Texte und Autorinnen und Autoren entlang sprachlicher, religiöser oder nationalkultureller Zuschreibungen zu kategorisieren, war mein Vorgehen dadurch geprägt, die Primärtexte in ihrer Individualität nachzuverfolgen und davon ausgehend Positionen im Kontext der Prager Moderne(n) herauszuarbeiten. Bezogen auf die Prager Lebenswelt in der Moderne finden sowohl diese Arbeit als auch Kafkas Text einen Gewährsmann in Vilém Flusser: »Man dachte spontan in den Kategorien zweier für andere nicht zu vereinbarenden Welten. Spontan, denn dieses war eben das Denken der Prager« (Flusser 1992: 15), bemerkt er in seiner philosophischen Autobiographie. Flusser verweist auf kulturelle, intellektuelle und wissenschaftliche Errungenschaften als Ergebnis »produktive[r] Spannungen« (ebd.) der drei Kulturen, die »einander in Kampf und Zusammenarbeit so gewaltig« (a.a.O.: 14) befruchtet hätten. Daneben geht er auf die »bevorzugte Lage« Prags zwischen der west- und osteuropäischen Welt ein, was sich auch darin zeige, dass man »zwei Muttersprachen, das Tschechische und das Deutsche« (a. a: O.: 15), gehabt habe. Hinter Kafkas Denken des Nebeneinanders, des ›Sowohl-als-auch‹, wie er es in der Kreuzung vorführt, scheint darüber hinaus die Idee auf, dass jedem Subjekt etwas eignet, das sich nicht kategorisieren und schematisieren lässt. In Bezug auf Identitätsdiskurse bedeutet dies, dass die Komplexität einer Persönlichkeit sich nicht durch (wie auch immer geartete) kollektive Zuschreibungen fassen lässt.7 Die Feststellung, dass sich die Vielschichtigkeit eines Individuums nicht auf biologische, religiöse, genealogische/genetische Kategorisierungen oder nationale, kulturelle oder soziale Gruppenidentitäten reduzieren lässt, nimmt wiederum
7
Vgl. dazu auch die einleitenden Seiten von Kap. VII. der vorliegenden Arbeit.
IX. Schluss
Vilém Flusser auch für die »städtische Persönlichkeit« Prags in Anspruch, die »alle nationalen, religiösen und sozialen Unterschiede überwindet« (Flusser 1992: 14). Indem Kafka in Eine Kreuzung als verbindlich geltende Ordnungen und Grenzen in Zweifel zieht, macht er Ambivalenz sozusagen zum Programm. In der vorliegenden Untersuchung habe ich versucht zu zeigen, wie prägend Heterogenität und Ambivalenz für die untersuchten Pragtexte und die in ihnen verhandelten Stadtund Selbstbilder sind. Einen Hinweis darauf, dass Kafka, obwohl er Prag nicht explizit nennt, die Stadt dennoch gewissermaßen vor Augen hatte, gibt das Oktavheft. Darin findet sich direkt im Anschluss an Eine Kreuzung folgende Notiz, die als thematisch verbunden mit dem Prosastück angesehen werden kann (vgl. Dierks 2003: 50): »Ein kleiner Junge hatte als einziges Erbstück nach seinem Vater eine Katze und ist durch sie Bürgermeister von London8 geworden. Was werde ich durch mein Tier werden, mein Erbstück? Wo dehnt sich die riesige Stadt?« (Kafka 1993: 374; meine Hervorhebung, U.M.). Die Stadt dehnt sich – auch ihr wird die Haut zu eng, will man sie auf Eindeutigkeit festlegen. Gleiches gilt für die Vielzahl von literarischen Stadt- und Selbstbildern, die »in der Ortlosigkeit der Sprache« (Foucault 1971: 90) nebeneinanderstehen und die sich eben nicht mittels nationalkultureller Festlegungen ihrer Autorinnen und Autoren kategorisieren lassen. In diesem Sinne habe ich in der vorliegenden Untersuchung die Stadttexte und Selbstbilder der einzelnen Autorinnen und Autoren herausgearbeitet, um sie schließlich als ein Nebeneinander, ein ›Sowohl-als-auch‹ verstanden zu wissen – als verschiedene Ausprägungen von Stadttexten und Selbstbildern vor dem Hintergrund des gemeinsamen Erfahrungsraumes Prag: »Die Erfahrung des ›Wirs‹ in einer Stadt und als Stadt bedeutet nicht, dass diese Stadt Erfahrung homogenisiert. Ein ›Wir‹ als konstitutiv zu setzen, negiert nicht die Existenz der Vielfalt der Lebenswelten« (Löw 2018: 135).
8
Vermutlich spielt Kafka hier auf die englische Volkssage The famous story of Dick Whittington and his cat an. Richard Whittington (1358-1423) war ein englischer Kaufmann und Bürgermeister von London. Im Eintrag zu Richard Whittington in der Online-Version der Columbia Encyclopedia ist zur Volkssage zu lesen: »The famous story of Dick Whittington and his cat is far removed from the actual life of the lord mayor, who was born the son of a Gloucestershire knight. According to the story, Dick was an orphaned kitchen boy who put his one possession, a cat, on his master’s ship in the hope that it might be traded. He then ran away but turned back when he heard the prophetic ringing of Bow Bells (›Turn again, Whittington, lord mayor of London‹) and found that his cat had been purchased, for a large fortune, by the ruler of Morocco, whose kingdom was plagued with rats and mice. Dick was thus able to marry his master’s daughter and become a successful merchant. The story was first recorded in a play, now lost, that was licensed in 1605« (Columbia Electronic Encyclopedia 2019). Allerdings ist in den verschiedenen Versionen der Sage nicht die Rede davon, dass der Sohn die Katze von seinem Vater erbt.
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Im Medium der Literatur führt Kafka ein solches Denken vor, das Vielfalt ›aushält‹ und jeder Homogenisierung widersteht. Dazu ist eine offene Haltung nötig, die Vielfalt nicht nur toleriert, sondern vielmehr zur Maxime erhebt, um dem Phänomen Stadt, ja, dem Phänomen Prag in der Literatur gerecht zu werden. Erst in der Zusammenschau offenbart sich die Vielfalt der Pragtexte mit ihren Entwürfen von Stadt- und Selbstbildern. In diesem Sinne will ich diese Arbeit mit einem Plädoyer für Offenheit und Vielfalt schließen und dazu anregen, weitere deutsch-, tschechisch-, aber auch anderssprachige Stadttexte zu untersuchen, um ein noch differenzierteres Bild der Literatur der Prager Moderne(n) zu erhalten, die sich dann in einem nächsten Schritt anhand thematischer, stilistischer oder auch ideologischer Ähnlichkeiten clustern ließen.
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2.
Abbildungen
Abbildung 1: Plán Pražské asanace [Plan der Prager Assanierung]. Quelle: Václav Houfek: Plán Pražské asanace, CC-BY-SA 3.0. Online abrufbar unter: https://cs.wikipedia.org/wiki/Pra%C5%BEsk%C3%A1_asanace#/med ia/Soubor:Pl%C3%A1n_Pra%C5%BEsk%C3%A9_asanace.jpg. Zuletzt geprüft am 15.10.2020. Abbildung 2: Radierung von Zdenka Braunerová. Quelle: Miloš Marten (1917): Nad městem [Über der Stadt]. Dialog. Praha: Ludvík Bradáč na Král. Vinohradech. Abbildung 3: Der Weg durch Prag in F. C. Weiskopfs Das Slawenlied. Quelle: Esri, Maxar, Earthstar Geographics, CNES/Airbus DS, USDA FSA, USGS, Aerogrid, IGN, IGP, and the GIS User Community.
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Stadttexte und Selbstbilder der Prager Moderne(n)
Abbildung 4: Der Weg durch Prag in Richard Weiners Třásničky dějinných dnů. Quelle: Esri, Maxar, Earthstar Geographics, CNES/Airbus DS, USDA FSA, USGS, Aerogrid, IGN, IGP, and the GIS User Community. Abbildung 5: Umschlag der Erstausgabe von Přehrada (1932). Quelle: Marie Majerová (1932): Přehrada. Praha: Čin. Umschlag von Slavoboj Tusar. Das Originalwerk wird verwahrt in der Nationalbibliothek der Tschechischen Republik [Národní knihovna České republiky]. Abbildung 6: Von Karel Svolinský gestalteter Umschlag der Ausgabe von 1950. Quelle: Marie Majerová (1950): Přehrada. Praha: Družstevní práce. Umschlag von Karel Svolinský. Das Originalwerk wird verwahrt in der Nationalbibliothek der Tschechischen Republik [Národní knihovna České republiky]. Abbildung 7: Kapitelüberschrift aus Přehrada in Notenform. Quelle: Marie Majerová (2010): Přehrada. Hg. v. Jiří Holý. Brno: Host.
Literaturwissenschaft Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen September 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Ulfried Reichardt, Regina Schober (eds.)
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Literaturwissenschaft Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)
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Claudia Öhlschläger (Hg.)
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